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suhrkamp taschenbuch 4102
Der Winter des Commissario Ricciardi
Kriminalroman
Bearbeitet vonMaurizio de Giovanni, Carla Juergens
Deutsche Erstausgabe 2009. Taschenbuch. 247 S. PaperbackISBN 978 3 518 46102 0
Format (B x L): 11,8 x 18,9 cmGewicht: 266 g
schnell und portofrei erhältlich bei
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Leseprobe
Giovanni, Maurizio de
Der Winter des Commissario Ricciardi
Kriminalroman
Aus dem Italienischen von Carla Juergens
© Suhrkamp Verlag
suhrkamp taschenbuch 4102
978-3-518-46102-0
Suhrkamp Verlag
Neapel, Anfang der dreißiger Jahre. Commissario Ricciardi, ein intelligenter, melancholischer Einzelgänger aus reichem Elternhaus, besitzt eine Gabe, die sein Schicksal bestimmt: Er hört die letzten Gedanken der Toten, sieht sie gefangen im Augenblick ihres Sterbens. Auch als der große Arnaldo Vezzi, Star der Opernszene und Lieblingstenor des Duce, tot in seiner Garderobe liegt, wird er gerufen, um den Fall so schnell wie möglich zu lösen. Doch nicht immer ist alles so einfach, wie es scheint – und nicht immer ist der Ermordete das unschuldige Opfer. Commissario Ricciardi und sein treuer Begleiter Brigadiere Raffaele Maione tauchen ein in die schillernde Welt der Oper, in der Schein und Wirklichkeit miteinander verschmelzen und die tiefsten Abgründe durch Kostüme überdeckt werden.
Maurizio de Giovanni wurde 1958 in Neapel geboren, wo er bis heute lebt. Der Winter des Commissario Ricciardi ist sein erster Krimi.
Maurizio de GiovanniDer Winter Des
Commissario riCCiarDiKriminalroman
Aus dem Italienischen vonCarla Juergens
Suhrkamp
Die italienische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Il senso del dolore. L’inverno del commissario Ricciardi
bei Fandango Libri s.r.l., Rom.
© Fandango Libri s.r.l., 2007
Umschlagfoto: Paul Knight, Trevillion Images
suhrkamp taschenbuch 4102
Erste Auflage 2009
Deutsche Erstausgabe© der deutschen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009
Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das
der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany
Umschlag: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur,München – Zürich
ISBN 978-3-518-46102-0
2 3 4 5 6 – 14 13 12 11 10 09
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i Das tote Kind stand aufrecht an der Kreuzung zwischen Santa Teresa und dem Museum. Es schaute
zwei Jungen zu, die am Boden saßen und mit ihren Murmeln den Giro d’Italia nachfuhren. Es schaute ihnen zu und sagte immer wieder: »Soll ich runterkommen? Ja?« Der Mann ohne Hut wusste schon von der Gegenwart des toten Kindes, bevor er es sah; wusste, dass die linke Körperhälfte, der sein Blick zuerst begegnen würde, unversehrt geblieben war, während auf der rechten durch die Wucht des Aufpralls der Schädel eingedrückt war, die Schulter sich in den zerschmetterten Brustkorb geschoben und das Becken sich um die zertrümmerte Wirbelsäule gedreht hatte. Er wusste auch, dass im dritten Stock des Eckhauses, das an jenem frühen Mittwochmorgen einen kalten Schattenstreifen auf die Straße warf, ein kleiner Balkon verrammelt war, auf dessen niedrigem Geländer ein schwarzes Tuch hing. Den Schmerz der jungen Mutter hingegen, die im Gegensatz zu ihm ihren Sohn nie mehr sehen würde, konnte er sich nur vorstellen. Besser so für sie, dachte er. Was für eine Qual. Das tote Kind, das zur Hälfte vom Schatten verdeckt war, blickte auf, als der Mann ohne Hut vorbeikam. »Soll ich runterkommen? Ja?«, fragte es ihn. Ein Sprung über drei Stockwerke, ein durchdringender Schmerz, so kurz wie ein Blitz. Er senkte den Blick und beschleunigte den Schritt. Die beiden Jungen, die mit ernsten Gesichtern ihr Radrennen weiterfuhren, ließ er hinter sich. Arme Kinder, dachte er. Luigi Alfredo Ricciardi, der Mann ohne Hut, war Kom
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missar für öffentliche Sicherheit beim Überfallkommando des Königlichen Polizeipräsidiums von Neapel. Er war einunddreißig Jahre alt, genau wie das Jahrhundert. Neun Jahre zählte die faschistische Ära.
Das Kind, das ein Vierteljahrhundert zuvor an einem Julimorgen allein in einem Hof des Herrenhauses von Fortino in der Provinz Salerno spielte, war nicht arm. Der kleine Luigi Alfredo war der einzige Sohn des Barons Ricciardi di Malomonte; an seinen Vater, der sehr jung gestorben war, würde er später keine Erinnerung haben. Seine Mutter, seit jeher nervenleidend, starb in einer Privatklinik, während er als Heranwachsender in einem Jesuitenkolleg zur Schule ging; von ihr bewahrte er sich das letzte Bild: der dunkle Teint, das mit achtunddreißig Jahren bereits weiße Haar, die fiebrig glänzenden Augen. Ihre zierliche Gestalt in dem viel zu großen Bett. Es war ein Julimorgen, der sein Leben unwiderruflich änderte. Er hatte ein Stück Holz gefunden, das sich in seinen Händen in den Säbel Sandokans, des Tigers von Malaysia, verwandelte; es brauchte nicht viel, und schon wurden sie Wirklichkeit, die Erzählungen des Pächters Mario, der von Salgaris Romanen begeistert war und dem Luigi Alfredo mit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem stundenlang lauschte. Mit seiner Waffe in der Hand fürchtete er weder wilde Tiere noch grausame Feinde, allerdings brauchte er einen Dschungel. Neben dem Hof lag ein kleiner Weinberg, in den der Junge gehen durfte. Er mochte den Schatten, den die großen Weinblätter spendeten, und das Summen der Insekten. Der kleine, kühne Sandokan mit seinem Säbel drang in die Dunkelheit vor, schlich
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geräuschlos in seinen imaginären Wald: An Stelle der Zikaden und Hornissen sah er bunte Papageien und hörte beinahe schon ihre exotischen Lockrufe. Eine Eidechse stürzte sich auf den Pfad und lief über den Kies, er folgte ihr, leicht nach vorne gebeugt, die Zungenspitze zwischen den Lippen, die grünen Augen konzentriert. Doch die Eidechse schlug einen Haken und nahm einen anderen Weg. Dann sah er den Mann: Er saß im Schatten eines Weinstockes am Boden, als suchte er in der unerbittlichen Hitze jenes schrecklichen Julitages im Dschungel nach Abkühlung. Sein Kopf war vornüber gekippt, die Arme hingen schlaff am Körper, die Hände lagen am Boden. Er sah aus, als würde er schlafen, aber sein Rücken war steif und seine Beine ragten seltsam verdreht über den Pfad. Er war angezogen wie ein Tagelöhner im Winter: eine Wollweste, ein kragenloses Flanellhemd und Hosen aus dickem Stoff, die in der Taille von einer Schnur zusammengehalten wurden. Der kleine Sandokan mit seinem Säbel in der Hand nahm all das wahr, ohne den Widerspruch zu bemerken. Dann sah er das Heft eines Messers, wie man es zum Stutzen der Weinstöcke benutzte, links aus dem Brustkorb des Mannes hervorstehen wie ein Ast aus einem Baum. Eine dunkle Flüssigkeit befleckte das Hemd und war auf den Boden getropft, wo sich eine kleine Pfütze gebildet hatte. Die sah der Tiger von Malaysia jetzt genau, trotz des Schattens der Weinstöcke. Ein Stück weiter vorne verharrte die Eidechse und beobachtete ihn, fast als wäre sie traurig über die unterbrochene Verfolgungsjagd. Der Mann, der augenscheinlich tot war, hob langsam den Kopf, drehte ihn mit einem leichten Knirschen der
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Wirbel zu Luigi Alfredo hin und sah ihn mit trüben und halb geschlossenen Augen an. Die Zikaden hörten auf zu zirpen. Die Zeit stand still. »Herrgott noch mal, ich hab deine Frau ja gar nicht angerührt.« Als Luigi schreiend davonlief, war es nicht wegen der unerwarteten Begegnung, wegen des Messers oder des vielen Blutes, sondern um den Schmerz abzuschütteln, den die Leiche des Tagelöhners ihm aufgebürdet hatte. Niemand sagte ihm, dass das Verbrechen im Weinberg bereits fünf Monate zurücklag und das Resultat der Eifersucht eines anderen Tagelöhners war, der floh, nachdem er auch seine junge Frau umgebracht hatte; es hieß, er habe sich einer Räuberbande in Lukanien angeschlossen. Den Schrecken und die Angst des Kindes schrieb man seiner stark ausgeprägten Phantasie, seinem eigenbrötlerischen Wesen und dem Geschwätz der Weiber zu, die ihre Näharbeiten unter dem Fenster seines Zimmers verrichteten, da der Hof ein wenig Abkühlung versprach. Wenn es um das ging, was geschehen war, sprachen sie nur von seiner »Gabe«. Luigi Alfredo gewöhnte sich daran, sein Erlebnis in Gedanken ebenfalls so zu sehen: als seine »Gabe«. Seit sich seine »Gabe« zum ersten Mal gezeigt hatte … Als er die Botschaft seiner »Gabe« begriffen hatte … Die »Gabe«, die seinem Dasein eine Richtung gegeben hatte. Nicht einmal »Tata« Rosa, seine Kinderfrau, die ihm ihr ganzes Leben gewidmet hatte und immer noch bei ihm lebte, hatte ihm geglaubt; er hatte die Traurigkeit in ihren Augen gesehen und die Angst, es sei ihm bestimmt, an derselben Krankheit zu leiden wie die Mutter. Damals begriff er, dass er nie mit jemandem darüber sprechen konnte, dass
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er allein diese Narbe auf seiner Seele trug: ein Urteilsspruch, ein Fluch. In den darauf folgenden Jahren erschlossen sich ihm nach und nach die Dimensionen seiner »Gabe«. Er sah die Toten. Nicht alle und nicht lange: nur jene, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren, und nur so lange, wie ihre letzte Emotion, die unerwartete Energie ihres letzten Gedankens andauerte. Er sah sie wie auf einer Fotografie, die den abschließenden Augenblick ihrer Existenz festhielt und deren Umrisse allmählich verblassten, bis sie schließlich verschwanden. Wie in den Filmen, die er im Kino gesehen hatte, nur dass sich hier der immer gleiche Ausschnitt wiederholte: das Bild des Toten, seine Wunden, sein letzter Gesichtsausdruck vor dem Ende; und die letzten Worte, die er unaufhörlich wiederholte, als wollte er eine Arbeit beenden, die seine Seele begonnen hatte, bevor sie fortgerissen wurde. Am deutlichsten spürte er die Gefühle der Toten: ihren Schmerz, ihre Überraschung, ihre Wut, ihre Melancholie. Sogar Liebe: Wenn nachts der Regen an sein Fenster schlug und er nicht einschlafen konnte, dachte er oft an das Bild des Kindes, das in seinem Badewännchen ertränkt worden war und die Hand nach der Mutter ausstreckte, um ausgerechnet bei seiner Mörderin Hilfe zu suchen. Er hatte die ganze Liebe des Kindes gespürt. Bedingungslos und rein. Ein andermal hatte er vor der Leiche eines Mannes gestanden, den seine vor Eifersucht wahnsinnige Geliebte im Augenblick des Orgasmus erstochen hatte: Die Intensität der Lust dieses Mannes traf ihn mit voller Wucht, und er musste in aller Eile das Zimmer verlassen, ein Taschentuch auf den Mund gepresst.
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Das war seine »Gabe«, dazu war er verurteilt: Es überkam ihn wie das Gespenst eines galoppierenden Pferdes; nichts kündigte sie an, keine körperliche Empfindung folgte ihr. Nur die Erinnerung blieb. Eine weitere Narbe auf seiner Seele.
ii Luigi Alfredo Ricciardi war mittelgroß und schlank. Ein dunkler Typ mit auffallenden grünen Augen;
aus dem schwarzen, mit Brillantine zurückgekämmten Haar löste sich mitunter eine Strähne und fiel ihm über die Stirn, zerstreut brachte er sie dann mit einer raschen Geste wieder in Ordnung. Seine Nase war gerade und fein, ebenso seine Lippen. Er hatte kleine, fast schon weibliche Hände, die immerzu nervös in Bewegung waren. Er steckte sie in die Hosentaschen, weil ihm bewusst war, dass sie seine Erregung und Anspannung verrieten. Er hätte nicht arbeiten müssen – die Zinsen des Familienvermögens, für das er sich nicht sonderlich interessierte, hätten ihm zum Leben gereicht. Und er hätte, wie ihm bei den höchst seltenen sommerlichen Familientreffen in seinem Heimatdorf der eine oder andere Verwandte zu verstehen gab, in einer Gesellschaft verkehren sollen, die seiner Herkunft angemessener war. Aber er hielt die Zinsen wie den Adelstitel geheim, um so unscheinbar wie möglich zu sein und das Leben zu führen, das er gewählt hatte, oder besser: das ihn gewählt hatte. Versucht einmal, hätte er gesagt, wenn er gekonnt hätte, diesen Schmerz zu spüren: fortwährend, und ein Leben lang, in jeder Form. Seit eh und je und jeden Tag aufs Neue um Frieden zu bitten, Gerechtigkeit zu fordern. Er hatte beschlossen, Ju
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ra zu studieren, und war nach einer Promotion in Strafrecht in den Polizeidienst gegangen; das schien ihm die einzige Möglichkeit, die an ihn gestellte Forderung anzunehmen, die Last erträglicher zu machen. In der Welt der Lebenden die Toten zu begraben.
Er hatte keine Freunde, verkehrte mit niemandem, ging abends nicht aus, hatte keine Frau. Seine Familie bestand nur aus der alten, mittlerweile schon siebzigjährigen Kinderfrau, Tata Rosa, die mit absoluter Treue für ihn sorgte und ihn zärtlich liebte, ohne aber je zu versuchen, seine Blicke und Gedanken zu verstehen. Er arbeitete bis spät, isoliert von den Kollegen, die ihn tunlichst mieden. Seine Vorgesetzten fürchteten seine Tüchtigkeit, seine außerordentliche Fähigkeit, unlösbare Fälle aufzuklären, seine absolute Hingabe an die Arbeit: alles Faktoren, die an einen ungebremsten Ehrgeiz, an die feste Entschlossenheit, sich hervorzutun, aufzusteigen und andere auszustechen, denken ließen. Seinen Untergebenen waren sein Schweigen und sein düsteres Wesen nicht geheuer: nie ein Lächeln oder ein überflüssiges Wort. Er verfolgte die ungewöhnlichsten Spuren, hielt sich nicht an die üblichen Prozeduren, aber am Ende hatte er immer recht. Die Abergläubischen, und das waren in dieser Stadt nicht wenige, witterten etwas Übernatürliches hinter Ricciardis Lösungen: als liefen seine Ermittlungen verkehrt herum, als folge er dem Lauf der Ereignisse von ihrem Ende her. Polizisten, die direkt mit dem Kommissar zusammenarbeiten mussten, verzogen meist das Gesicht. Bei ihm gab es keine Pausen: Einmal begonnen, endeten seine Ermittlungen erst mit der Lösung des Falls. Weder
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tagsüber noch nachts gab es ein Innehalten, auch sonntags nicht – bis der Schuldige im Gefängnis saß. Man hätte glauben können, jedes Opfer sei ein Verwandter von ihm; ein persönlicher Bekannter. Manche schätzten es, dass er zu Gunsten seiner Männer konsequent auf alle Sonderprämien verzichtete, die für die Auflösung wichtiger Fälle vergeben wurden; außerdem war er immer da, er gab seine Urlaubstage ab, er deckte persönlich die Fehler der Untergebenen vor den Augen der Vorgesetzten, um sich den Verantwortlichen dann ohne Umschweife vorzuknöpfen und ihn zu größerer Aufmerksamkeit zu ermahnen. Trotzdem war ihm nur einer seiner Mitarbeiter wirklich zugetan: der Brigadiere Raffaele Maione.
Maione hatte erst vor kurzem die Klippe des fünfzigsten Geburtstages umschifft und war froh, noch am Leben und im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein. Beim Abendessen wiederholte er gern vor seiner Frau und seinen fünf Kindern: »Dankt dem Herrgott, dass ihr was zu essen habt. Und dem Glück, dass euer Papa noch lebt.« Aber sofort füllten sich seine Augen mit Tränen, denn er dachte an Luca, seinen Ältesten, der wie er zur Polizei gegangen war, aber nicht so viel Glück gehabt hatte. Nach nur einem Dienstjahr war er im Viertel Sanità bei einer Durchsuchung erstochen worden. Der Schmerz war noch frisch, auch wenn seitdem schon drei Jahre vergangen waren. Seine Frau hatte nie wieder von ihm gesprochen, als habe es diesen schönen, starken Sohn, der immer lachte, der sie in die Arme nahm, in die Luft warf und »meine Braut« nannte, nie gegeben. Aber er war da, mitten in ihrem Herzen,
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wo er den Brüdern und Schwestern den Platz wegnahm und sie den ganzen Tag begleitete. Maione war Ricciardi zugetan, seitdem sein Sohn umgekommen war. Ricciardi, damals noch Kommissaranwärter, war einer der Ersten am Tatort gewesen. Taktvoll hatte er Maione gebeten, den Keller zu verlassen, wo die Leiche seines Sohnes in einer Blutlache und mit einem Messer im Rücken aufgefunden worden war. Er war einige Minuten allein geblieben: Als er aus dem Dunkel hervortrat, schienen seine grünen Augen von innen her zu leuchten, wie Katzenaugen, aber sie waren voller Tränen. Während die anderen verlegen schweigend um den trauernden Vater herumstanden, ging Ricciardi auf Maione zu, streckte eine Hand aus und drückte dessen Arm. Maione erinnerte sich noch an die unerwartete Kraft, die er gespürt hatte, die Wärme dieser Hand durch den Stoff der Uniform hindurch. »Er hat dich geliebt, Maione. Er hat dich sehr geliebt. Seine letzten Gedanken galten dir. Er wird dir immer nahe sein, dir und seiner Mutter.« Obwohl unermesslicher Schmerz ihn benebelte, spürte Maione, wie ihm ein Schauder den Rücken hinunterlief. Weder damals noch in den späteren Jahren, als sie gemeinsam Verdächtige beschatteten oder bei langen Fahrten, die manche Ermittlungen mit sich brachten, hatte er Ricciardi je gefragt, woher er das gewusst und warum ausgerechnet er ihm die letzte Botschaft seines geliebten Sohnes überbracht hatte. Aber er wusste, was er gesehen und gehört hatte und dass es nicht die üblichen tröstlichen Phrasen gewesen waren, die auch er selbst hundertmal zu Hinterbliebenen gesagt hatte.
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Seitdem war Maione Ricciardi zugetan. In den schrecklichen Tagen danach arbeiteten sie pausenlos, Tag und Nacht, ohne Ruhe und ohne Nachsicht, ohne zu essen, zu trinken oder nach Hause zu gehen; Stück für Stück rissen sie die fest gefügte Mauer des Schweigens ein, die das Viertel umgab, tauschten Informationen, versprachen sogar, bei gewissen Geschäften wegzuschauen, nur um den feigen Mörder aus dem Keller zu fassen zu kriegen. Schließlich wurde sogar Maione, trotz seiner Wut, von der Müdigkeit überwältigt. Nicht so Ricciardi, der war besessen, als hätte ihn ein Feuer erfasst. Und sie fanden ihn, den Mörder: in einem anderen Stadtviertel, noch im Lager des Diebesguts, umgeben von seinen Leuten. Er lachte, als sie hereinstürmten, nachdem Ricciardi die Wachposten am Ende der Gasse schon gefesselt und streng bewacht zurückgelassen hatte. Ein Dutzend Polizisten war an dem Zugriff beteiligt, es gab keinen, der den Mörder von Luca Maione nicht hätte fassen wollen. Und als der Mann in dem von Komplizen und Diebesgut geleerten Raum allein vor Maione und Ricciardi stand, um sein Leben winselnd und bar jeglicher Ganovenehre, schaute Ricciardi Maione an. Maione starrte den Mann an und sah seinen Sohn vor sich, wie er ihm als Kind lachend einen aus Lumpen geschnürten Ball brachte, mit schmutzigem Gesicht und seinen schönen Augen. Dann drehte er sich um und verließ wortlos den Raum. Seitdem war auch Ricciardi Maione zugetan. Seit damals war Maione Ricciardis treuer Begleiter: Jedes Mal, wenn der Kommissar aus dem Haus ging, war er es, der seine Mannschaft anführte. Er wusste, dass Ricciardi bei der ersten Besichtigung des Tatorts allein gelassen
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werden musste; Maiones Aufgabe war es, die anderen Polizisten, die Zeugen, die wehklagenden Angehörigen und die Schaulustigen fernzuhalten, während Ricciardi in den langen ersten Augenblicken das Opfer kennen lernte, seine legendäre Intuition walten ließ, die Hinweise aufspürte, die nötig waren, um die Jagd aufzunehmen. Mit seiner angeborenen Gutmütigkeit, seiner Fähigkeit, direkt mit den Leuten zu sprechen, spielte Maione den Gegenpart zu Ricciardis Zurückhaltung und Einsilbigkeit; er war an seiner Seite, wenn der Kommissar sich, aus Prinzip unbewaffnet, den Gefahren mit einem Wagemut aussetzte, der mindestens verantwortungslos war, wenn nicht sogar selbstmörderisch. Maione hatte den Verdacht, Ricciardi sei dem Tod selbst auf der Spur, mit einer Erkenntniswut, als wolle er ihn enttarnen, bloßstellen – ohne besonderes Interesse an seinem eigenen Überleben. Maione aber wollte nicht, dass Ricciardi starb, schon deshalb, weil er in seiner gutmütigen, einfachen Art davon überzeugt war, dass in dem Kommissar ein Teil seines toten Sohnes weiterlebte. Außerdem waren ihm mit der Zeit das Schweigen, das flüchtige Lächeln und der Widerhall des Schmerzes, der durch die Gesten der gequälten Hände sichtbar wurde, ans Herz gewachsen. So wollte er weiter über das Wohlergehen des Kommissars wachen, in der Erinnerung an Luca und in dessen Namen.
iii Im kalten Wind jenes Mittwochmorgens ließ Ricciardi die Piazza Dante hinter sich. Die Hän
de in den Taschen des dunkelgrauen Mantels vergraben, den Kopf ein wenig zwischen die Schultern geduckt, den
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Blick auf den Boden gerichtet. Zügig ausschreitend spürte er die Stadt, ohne sie zu sehen. Er wusste, dass er auf dem Weg von der Piazza Dante hinauf zur Piazza del Plebiscito eine unsichtbare Grenze zwischen zwei verschiedenen Welten überschreiten würde: unterhalb die reiche Stadt der Adeligen und der Bürgerlichen, der Kultur und der Justiz; oberhalb die Viertel, wo das niedere Volk wohnte und wo andere Gesetze und Regeln galten, die aber ebenso streng oder vielleicht noch strenger waren. Die satte Stadt und die hungrige, die Stadt der Festtage und die der Verzweiflung. Zwei Seiten derselben Medaille – wie oft war Ricciardi Zeuge des Widerspruchs zwischen ihnen gewesen. Die Grenze: Via Toledo, alte Paläste, stumm zur Straße hin, aber schon nach hinten hinaus voller Geräusche, die Fenster über den Gassen weit geöffnet, die ersten singenden Hausfrauen. Die Portale der Kirchen, deren Fassaden zwischen die anderen Gebäude gezwängt waren, öffneten sich, um die Gläubigen einzulassen, die ihren Tag in Gottes Hand legten. Über die großen Steine des Straßenpflasters rollten die Räder der ersten Omnibusse. Am frühen Morgen vollzog sich eine seltene Osmose zwischen den Vierteln: Aus dem Gassengewirr der Quartieri Spagnoli kamen die fliegenden Händler mit ihren Karren, gefüllt mit Waren aller Art; ihre Rufe klangen hell über die Via Toledo. Aus dem dicht bevölkerten Hafenviertel und den Vorstädten machten sich die Handwerker mit ihren geschickten Händen, die Schuhmacher, Handschuhmacher und Schneider auf den Weg hinauf zum Labyrinth, in das neu entstehende Wohnviertel des Vomero oder die Werkstätten in den dunklen Gassen. Ricciardi
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stellte sich gern vor, dies sei ein Augenblick der Befriedung und des Austausches, bevor das Bewusstsein der Ungleichheit und der Hunger die einen dazu brachte, sich vor Neid zu verzehren und auf Verbrechen zu sinnen, während die anderen einen Angriff fürchteten und die Repression verschärften. An der Ecke des Largo della Carità sah Ricciardi, wie schon seit einigen Tagen, die Gestalt eines Mannes, der Opfer eines Taschendiebstahls geworden war: Er hatte sich gewehrt und war grausam mit einem Stock erschlagen worden. Aus dem aufgebrochenen Schädel rann Hirnmasse, und das Blut verdeckte ein Auge, während das andere immer noch wütende Blitze aussandte und der Mund mit den abgebrochenen Zähnen unaufhörlich wiederholte, er werde seine Sachen niemals hergeben. Ricciardi dachte an den nun schon unauffindbaren Dieb, den die Quartieri Spagnoli verschluckt hatten, an den Hunger und den Preis, den Opfer und Henker bezahlt hatten. Wie gewöhnlich war er der Erste im Polizeipräsidium. Der Wachtposten am Eingang grüßte in Habachtstellung, Ricciardi erwiderte mit einer kurzen Kopfbewegung. Er drängelte sich nicht gern durch die Menge, wenn im Palazzo San Giacomo schon Lärm und Unordnung herrschten, und er mochte es nicht, sich seinen Weg zwischen den giftigen Schmähreden der Verhafteten, den lautstarken Zurechtweisungen der Polizisten und den hallenden Diskussionen der Rechtsanwälte zu bahnen. Da war ihm der frühe Morgen viel lieber, wenn die Treppe noch sauber war und man sich fühlte wie im 19. Jahrhundert. Als er die Tür seines Büros öffnete, wehte ihm der vertraute Geruch entgegen: alte Bücher und Druckerschwär
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ze, die Patina der Zeit und der Erinnerungen. Das Leder des alten Sessels und der zwei Stühle auf der anderen Seite seines Schreibtisches, die abgenutzte olivgrüne Schreibunterlage. Die Tinte im kristallenen Tintenfass, das in den Briefhalter eingelassen war. Das helle Holz des Schreibtisches und des vollgestopften Bücherschranks. Der Bleisplitter einer Granate, den der alte Mario als Kriegsheimkehrer nach Fortino gebracht und der viele Phantasieschlachten seiner Kindheit ausgelöst hatte, war jetzt ein wackeliger Briefbeschwerer. Sonnenlicht fiel durch die staubige Fensterscheibe und traf auf die Wand, wo es zwei Porträts erhellte, als handelte es sich um eine göttliche Amtseinsetzung. Hübsch die beiden, dachte Ricciardi ironisch und lächelte kaum merklich. Der kleine König ohne Macht, der große Kommandant ohne Schwächen. Die beiden Männer, die beschlossen hatten, das Verbrechen per Dekret auszulöschen. Er erinnerte sich noch an die Worte des Polizeipräsidenten, eines aufgeputzten Diplomaten, der sein Leben zum absoluten Wohlgefallen der Mächtigen einrichtete: Es gibt keinen Selbstmord mehr, es gibt keinen Mord mehr, es gibt keine Überfälle mehr und keine Opfer, es sei denn, es ist unvermeidlich oder notwendig. Nichts für die Leute und vor allem nichts für die Presse: Die faschistische Stadt ist sauber, gesund und frei von Verbrechen. Das Bild des Regimes ist aus Granit, der Bürger hat nichts zu befürchten; wir sind die Wächter seiner Sicherheit. Aber Ricciardi hatte begriffen, schon bevor er es in den Büchern las, dass das Verbrechen die dunkle Seite der Gefühle ist: Dieselbe Energie, welche die Menschheit bewegt,