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Der Zorn Der Lordrichter

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Atlan - Minizyklus 07 -Flammenstaub

Nr. 08

Der Zorn der Lordrichter

von H. G. Ewers

Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr1325 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft inder Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Er fliegt zur Intrawelt, umdort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen.

Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich. Aber je intensiver er ihn benutzt, destoverheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kanner den Großteil der lebensgefährlichen Substanz loswerden. Anschließend findet dasscheinbar zufällige Treffen mit den Cappins statt.

Der Arkonide wird per Pedopeiler nach Schimayn befördert, einem der GalaxisGruelfin vorgelagerten Kugelsternhaufen. Dort gerät er in die kriegerische Auseinan-dersetzung zwischen Ganjasen, Takerern und Juclas. Um Letztere vor den Lordrich-tern zu warnen, reist er zur Thein-Versammlung, die von den Zaqoor blutig niederge-schlagen wird. Im Zuge der Flucht entdecken Atlan und seine Begleiter einen vergra-benen Sammler, das gigantische Robotschiff MITYQINN. Zusammen mit der Jucla-Flotte verfügt Atlan nun über beträchtliche Machtmittel. Was fehlt, sind Informationen.Aus diesem Grund sucht er die Sternenstation BOYSCH in der FreihandelszoneSusch auf, deren Neutralität durch den ZORN DER LORDRICHTER gefährdet ist …

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Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide verteidigt die Freihandelszone.Symaltin - Der Autokrat von BOYSCH gibt seine Neutralität auf.Samptasch - Die Hohe Ganjo-Interpretatorin erweist sich als Gegenspielerin.Persenpo Zasca - Der stellvertretende Leiter der Mythothek liefert brisante Informationen.

1.Der Tod kam aus dem All

Die Bordsirenen gaben ROTALARM.Das schrecklich schrille Pfeifen ging

durch Mark und Bein. Die Ortungsanzeigenbildeten einen Pulk von siebzig großenRaumschiffen ab, der soeben aus dem Li-nearraum ins normale Kontinuum zurückge-fallen war.

Rator Shogasch, Kommandant des Pa-trouillenschiffes SHINEIRA, fuhr in seinemKontursessel hoch. Die Zeit der Langeweilewar schlagartig vorbei. Er blickte in die er-schrockenen Gesichter der anderen siebenRaumfahrer in der Zentrale.

Kampfkreuzer!Die Messdaten der Hyperortung waren

eindeutig: Es handelte sich um mittelschwe-re Kampfkreuzer mit einer Bewaffnung, dieeinen ganzen Planeten sekundenschnell zuStaub zerblasen konnte.

Und das war nicht alles.Innerhalb weniger Zeiteinheiten stürzten

nacheinander weitere drei Pulks zu je sieb-zig Kampfkreuzern in den Normalraum zu-rück.

»Unsere Schutzschirme haben sich auto-matisch hochgeschaltet!« meldete der Waf-fenoffizier.

Jemand lachte.Aber nicht lange, denn im nächsten Au-

genblick brach der Schutzschirm mit grell-weißer Entladung zusammen. Einen Augen-blick später verwandelte sich die SHINEI-RA in einen blitzartig expandierenden Glut-ball.

Der schon wenige Augenblicke später er-losch.

*

Raumalarm!Großadmiral Nogger Shogasch sprang aus

seinem Sessel im Kommandobunker desPräsidentenpalastes im Zentrum von Tonta-rasch, der Hauptstadt des PlanetenD'Oranon.

Fassungslos starrte er auf die Anzeigender Ortungs-Auswertungs-Schirme der pla-netaren Sicherheit, die sich soeben aktivierthatten.

Sie zeigten an, dass vier Pulks mittel-schwerer Kampfraumer auf der Bahn desvierten Planeten aus dem Linearraum in denNormalraum zurückgestürzt waren.

Und der vierte Planet war der Nachbar-planet von D'Oranon, dem dritten Planeten.

Kein Wunder, dass sich der Raumalarmautomatisch eingeschaltet hatte, denn derRücksturz von Kampfraumschiffen mitten ineinem Sonnensystem war eine eindeutigekriegerische Handlung. Aber das war nichtalles. Soeben wurde angezeigt, dass in derNähe der Pulks die Hochenergie-Hybrid-schirme eines Schiffes mit bekanntem Ener-gieabdruck aktiviert wurden. Nur wenigeZeiteinheiten später wurde von einem derPulkschiffe eine Salve aus mehreren Initial-Punktatoren abgefeuert – woraufhin dereben erst aktivierte Schutzschirm ver-schwand und mit ihm der Energieabdruckdes betreffenden Schiffes.

»Auswertung!«, rief eine aufgeregte Stim-me links von Nogger Shogasch. »Die Positi-on der aufgebauten und wieder erloschenenAbwehrschirme ist identisch mit der Positi-on unseres Patrouillenschiffes SHINEIRA.«

Der Großadmiral sank in seinen Sesselzurück. Seine Augen wirkten wie tot.

»Rator …!«, flüsterte er.Sein Stellvertreter wusste, dass Nogger

Shogasch durch den Tod seines Sohnes vor-übergehend nicht mehr handlungsfähig war.

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Er steuerte seinen Schwebesessel nebenShogaschs Platz und gab bekannt, dass erdas Amt des Regierenden Großadmiralsübernommen hatte. Dann aktivierte er alleSicherheitsschaltungen, die beim bevorste-henden Angriff aus dem All den Schutz derZivilbevölkerung einleiten und einen Hilfe-ruf in die Weite der Galaxis Gruelfin sendensollten.

*

Die überall in den bewohnten Zonen vonD'Oranon verteilten Sirenen intoniertenRaumalarm, woraufhin sich in der Haupt-stadt sowie allen anderen Wohngebieten desPlaneten das Bild abrupt veränderte: DieEingänge zu den Tiefbunkern öffneten sichautomatisch. Von allen Seiten strömtenFrauen, Männer und Kinder herbei. Aberdort, wo sich die Schutzsuchenden stauten,kam es zu teilweise schrecklichen Szenen.Mütter und Kinder schrien – und wann im-mer jemand stürzte, häuften sich dort baldTote und Schwerverletzte.

Lediglich die zentralgesteuerten Lufttaxisund -busse kurvten geordnet, weil im Griffder automatischen Steuerungen, in die ihnenzugewiesenen Notlandebahnen.

Die dreißig Patrouillenkreuzer vonD'Oranon zogen sich fluchtartig in die fürsolche Fälle vorgesehenen Warteräume zu-rück und schalteten auf Energie-Ver-dunkelung. Sie hofften, dadurch wenigstensihre eigene Existenz zu retten.

Weit außerhalb des Systems wartete einkleines Kurierschiff. Es war dort stationiertworden, weil die Regierung des PlanetenD'Oranon in letzter Zeit immer wiederNachrichten über den Angriff und die Beset-zung von friedlichen Kolonialwelten durchmysteriöse Angreifer empfangen hatte, dieaus unerfindlichen Gründen ganjasischeWelten angriffen und nach dem Nieder-kämpfen jeglichen Widerstands die Bevöl-kerungen versklavten.

Dieses Kurierschiff empfing einen kodier-ten Hyperkomspruch und reagierte wei-

sungsgemäß. Es sandte zehn Zeiteinheitenlang offene Hyperkomsprüche ins All, in de-nen von dem brutalen Überfall auf D'Oranonberichtet und um militärische Hilfe gebetenwurde.

2.Atlan

»Ein Notruf geht ein!«, rief Ypt Karma-syn, ihres Zeichens Funk- und Ortungsoffi-zierin der AVACYN. »Ein Flottenverband,bestehend aus Zaqoor- und Urogh-Schiffensowie ein paar Takerern, hat den ganjasi-schen Kolonialplaneten D'Oranon angegrif-fen und wahrscheinlich die Ganjasen mitPräventivschlägen zur Kapitulation aufge-fordert.«

Es ist wie eine Lawine, kommentiertemein Extrasinn. Die Lordrichter wollen dieabsolute Herrschaft über alle Kolonialwel-ten Gruelfins.

»Position?«, rief ich der schwarzhaarigenGanjasin zu, die mit ihren ausgeprägtenWangenknochen und den leicht geschlitztenAugen Ähnlichkeit mit einer Japanerin oderauch mit einer Indianerin von den GroßenSeen besaß, aber wahrscheinlich vom Plane-ten Systasch in einem südöstlichen Sternen-arm von Gruelfin stammte, wie ihre nahezubronzefarbene Haut verriet.

Ypt Karmasyn nannte mir die Koordina-ten.

Das war nur knapp fünfhundert Lichtjahrevon der jetzigen Position der AVACYN ent-fernt – die noch immer in der Nähe von Ep-tascyn lag, also innerhalb des Kugelstern-haufens Eschnat im Nordwestteil des gigan-tischen Halos, der sich über und unter dergalaktischen Ebene der Spiralnebel Gruel-fins Tausende von Lichtjahren wölbte – mitdem mächtigen Staubring der Sombrero-Gala-xis als Äquator.

»Wie viele Schiffe hat der Angreifer?«,wollte Kaystale wissen.

»Schätzungsweise dreihundert«, antwor-tete Ypt Karmasyn und schlürfte wieder malan ihrem Symbiontengetränk.

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»Und hinter uns stehen mehr als vierzig-tausend Kampfschiffe!«, trumpfte Kaystaleauf und knackte mit den drei Metallfingernan der rechten Hand, die nicht das einzigeErsatzteil an ihr waren. Die 1,80 Metergroße und muskulöse Takererin war wie fürden Kampf geboren, doch in diesem Fallewäre blindes Dreinschlagen problematischgewesen.

»Wir haben im Grunde genommen nur dieAVACYN«, widersprach ich. »Was sichhier bei uns herumtreibt, sind zirka zweiund-vierzigtausend Jucla-Einheiten, deren Kom-mandanten und Besatzungen noch verstörtvon den Ereignissen auf Eptascyn und demwahnwitzigen Kampfgetümmel rings umdiesen Mond der Heimtücke sind.«

Vergiss den Sammler nicht!, mahnte derLogiksektor.

»Ganz sicher nicht. Ich glaube, ich werdein den nächsten tausend Alpträumen in die-sem Wahnsinnsgebilde umherirren. – Undob ich mich auf Florymonthis verlassenkann, muss sich erst noch herausstellen«, er-widerte ich versehentlich laut.

Myreilune wälzte ihren massigen Körperin ihrem Kontursessel herum und sah michan. Sie konnte natürlich nichts von meinemExtrasinn ahnen, sondern musste annehmen,ich würde Selbstgespräche führen.

»Wenn du vom Sammler sprichst, Atlan… Wie wäre es, wenn du ihn allein insGosch'ar-System schicken würdest? Dannwürden wir sehen, ob er wirklich auf unsererSeite steht.«

Ich musterte das stark geschminkte Ge-sicht unserer Pilotin.

»Sicher würden wir das. Und wenn er unsenttäuschte, könnten wir ihn nicht zurückbe-ordern.«

Du hast es auf den Punkt gebracht, wis-perte mein Extrasinn. Aber das ist noch kei-ne Entscheidung.

Ich musste mich eindeutig und klar ent-scheiden. Schließlich wusste ich aus vieltau-sendjähriger Erfahrung, dass die bloße Re-aktion auf ein Geschehen nur einen Auf-schub brachte, aber keine endgültige Lösung

des Grundproblems.Und das Grundproblem waren die fehlen-

den Informationen über das Gesamtgesche-hen in Gruelfin und über die wirklichen Zie-le der Lordrichter. So, wie ich diese Gegnereinschätzte, waren die Eroberungen von Ga-njasenwelten und die Vernichtungsschlägegegen gegnerische Raumstreitkräfte nur Me-thoden, aber nicht das eigentliche Ziel derAktivitäten.

Es würde absolut nichts bringen, wenn ichden Ganjasen von D'Oranon half und sie vonihren Unterdrückern befreite. Die Lordrich-ter würden zurückkehren, sobald ich meineStreitkräfte von dort abgezogen hätte, undD'Oranon würde eine von Rache bestimmteSchreckensherrschaft ertragen müssen.

Nein, das war der falsche Weg.Ich würde den Ganjasen von D'Oranon

nicht helfen – so schwer es mir fiel, sie inihrer Not allein zu lassen. Nur mit geballterMacht konnte den Lordrichtern Paroli gebo-ten werden. Es wäre unverantwortlich, sichzu verzetteln und dadurch zu verausgaben.

Ganz abgesehen davon musste ich zuerstdafür sorgen, eine schlagkräftige Streitmachtzusammenzustellen, auf die ich mich hun-dertprozentig verlassen konnte. Die rund42.000 Jucla-Einheiten in unmittelbarer Nä-he der AVACYN waren zurzeit alles andereals meine Truppe. Ihre Besatzungen warendurch die vergangenen Ereignisse verwirrtund ihre Clans untereinander zerstritten.

Besondere Sorge bereitete mir dabei derSchamenhyn-Clan, der unter der Führungvon Clanchef Aptosch-Imayls 1049. Verratbegangen hatte, als er sich aus purer Dumm-heit und Geltungssucht mit den Zaqoor ver-bündete. Ich wusste von Zamptasch, der sichauf tragische Weise in den Tod manövrierthatte, dass die Juclas normalerweise nichtlange fackelten, wenn ein Clan Verrat be-gangen hatte. In der Regel wurde dieserClan aus der Gemeinschaft ausgestoßen unddie Verwandten des schuldigen Clanchefs inSippenhaft genommen.

Das musste verhindert werden, denn er-stens würde es unnötig böses Blut geben und

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zweitens die Einigkeit der Clangemeinschaftverletzen.

Weiterhin musste ich mir Klarheit übermein Verhältnis zu dem Sammler MITY-QINN und Florymonthis verschaffen, damitich sicher sein durfte, dass ich mich in jederLage und bei jedem Unternehmen auf sieverlassen konnte. Zwar hatte der Sammlerdie Raumschlacht rings um den Mond Epta-scyn zu unseren Gunsten entschieden, dochwaren seine Manöver dabei so unkontrolliertund verwirrend gewesen, dass von einerstraffen Führung nicht die Rede sein konnte.

Wie dieses Problem zu lösen war, wussteich noch nicht. Auf gar keinen Fall wollteich in den Sammler zurückzukehren. Zufrisch waren meine Erinnerungen an die alp-traumhaften Erlebnisse dort. Ich war heil-froh, endlich wieder an Bord der AVACYNzu sein.

Du musst einfach Florymonthis vertrauen.– Und das Problem der Juclas ließe sichvielleicht mit Hilfe von Abenwosch lösen,wisperte der Extrasinn.

Natürlich führte kein Weg an ihm vorbei.Außerdem hatte der Chef des Ercourra-Clans während der turbulenten Ereignisseim Sammler bewiesen, dass er ein echtesKämpferherz und ausreichend Verstand be-saß.

»Stelle bitte eine Verbindung mit Aben-wosch her!« wandte ich mich an Ypt Kar-masyn. »Ich muss etwas Grundsätzlichesklären. Allerdings habe ich entschieden,dass wir für D'Oranon nichts tun können.Wir dürfen und werden unsere Kräfte nichtverschwenden.«

*

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis esYpt gelang, eine Funkverbindung zu Aben-wosch-Pecayl 966. herzustellen. Das warmehr als ungewöhnlich. Und ich war begie-rig zu erfahren, was der Grund dafür gewe-sen war. Allerdings würde ich mir meineWissbegierde nicht anmerken lassen. Wermit einem Jucla sprach, spielte immer auch

eine Art Psycho-Schach.»Ich grüße dich, Abenwosch-Pecayl

966.!«, sagte ich freundlich und beobachtetejede Regung seines Gesichts. Inzwischenkannte ich mich mit der Mimik von Juclasaus. »Ich hoffe, du hast dich von den Strapa-zen im Sammler erholt.«

Er schlug klackend seine beachtlichenZähne aufeinander, was mich aber nur überdas Triumphgefühl hinwegtäuschen sollte,das ihm förmlich aus den Augen sprang.

»Das ist schon fast vergessen«, erwiderteer, während sich seine ohnehin breite Brustvor wölbte.

Triumph!, wisperte der Extrasinn war-nend. Er fühlt sich großartig und dir überle-gen. Offenbar war er erfolgreich bei seinenArtgenossen.

Ausgezeichnet!, dachte ich. Dann taktierter wenigstens nicht unnötig lange.

»Das freut mich«, sagte ich. »Ich habelange nachgedacht und bin zu dem Schlussgekommen, dass wir eng kooperieren soll-ten, um unsere Strategie und Taktik gegen-über den Lordrichtern zu bündeln. Hiermitlade ich dich zu entsprechenden Gesprächenauf die AVACYN ein.«

»Du weißt Bescheid, dass die Lordrichterdas Gosch'ar-System überfallen haben unddie Ganjasen auf D'Oranon versklaven wol-len?« Er grinste. »Natürlich weißt du Be-scheid. Aber du weißt nicht, dass ich jetztdie Führung aller anwesenden Clans über-nommen habe. Ich bin also jetzt Krand'haraller Jungen Clans – mit rund zweiundvier-zigtausend Kampfschiffen.«

Beinahe hätte ich durch die Zähne gepfif-fen.

Das war wirklich eine gute Neuigkeit. Ichmusste nicht länger mit Hunderten vonClanchefs verhandeln und mühsam versu-chen, sie auf eine gemeinsame Linie zu brin-gen, sondern nur mit einem. »Krand'har«,was sinngemäß so viel bedeutete wie Her-zog. Das sparte nicht nur immens viel Zeit,sondern ermöglichte überhaupt erst wichtigeEntscheidungen.

Meine Achtung gegenüber Abenwosch

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stieg ganz erheblich. Aber auch meine Vor-sicht, denn die Einigung aller anwesendenClans auf einen Nenner war ganz sicher nurmit viel List und Heimtücke möglich gewe-sen. Gleichzeitig dachte ich darüber nach,wie ich verhindern konnte, dass Abenwoschsich haushoch überlegen fühlte und sich ein-bildete, ich würde nach seiner Pfeife tanzen.

»Meine Hochachtung, ich bin erfreut underleichtert!« rief ich.

»Erleichtert? Warum?«, wollte er wissen.Schon schwang unterschwellig Unsicherheitin seiner Stimme.

Nicht schlecht!, lobte mich der Extrasinn.»Weil das helfen wird, ein Problem aus

der Welt zu schaffen, das sich vor kurzemergeben hat«, erklärte ich. »Von allen Juclasweißt nur du über die Verhältnisse imSammler Bescheid. Und nur du weißt, dassdiese ungeheuerliche Maschine eure ganzeFlotte zu Staub zerblasen kann.«

Das hatte gesessen. Der Krand'har wirkteplötzlich nachdenklich.

Er zögerte für einen Moment. »Aber wirsind ja nicht die Feinde dieses mondgroßenMonstrums.«

»Sondern die natürlichen Verbündeten«,führte ich weiter aus. »Aber er besteht dar-auf, dass ihr euch alle ihm unterordnet. An-dernfalls würde seine Hauptpositronik euchebenfalls als seine Feinde einstufen.«

»Wir sind doch nicht die Sklaven einesRoboters!«, empörte sich Abenwosch.

»Das werden wir auch nie sein«, be-schwichtigte ich ihn. »Der Sammler hört aufmich. Wenn ich mit euch zufrieden bin, wirder auch euch als seine Freunde einstufen.Aber es reicht nicht, wenn ich nur so tue.Florymonthis würde das durchschauen. Sieist gerissen und manchmal unberechenbar.«

Es dauerte ein paar Sekunden – eigentlichverwunderlich bei der schnelllebigen Art derJuclas –, bis er reagierte. Doch dann bewieser wieder einmal, wie flink er um mehrereEcken denken konnte.

»Raffiniert! Wir Juclas brauchen also nurzu tun, als wären wir deine Kampftruppe –und der Sammler ist unser Freund.«

»Nicht nur so zu tun, sondern das zu seinund es durch Taten zu beweisen«, korrigier-te ich ihn. »Und wir als Verbündete werdenunsere gemeinsamen Feinde bekämpfen undbesiegen.«

Er maulte ein wenig, schien sich aberdann damit abzufinden. Selbstverständlichwürde er versuchen, sich aus dieser Abhän-gigkeit zu befreien. Das war logisch. Aberich war sicher, dass die Ereignisse, die aufuns zukamen, uns zusammenschweißenwürden.

*

»Wenn es gegen die Takerer geht, werdenmeine Clans mitmachen«, versicherte Aben-wosch-Pecayl 966.

Vergiss den Schamenhyn-Clan nicht!, er-innerte mein Extrasinn an das Problem, dasmir Kopfzerbrechen bereitete.

Ich vergesse es nicht!, gab ich zurück.Falls die Juclas dieses Problem nicht selberlösen können, sollte ich vielleicht noch ein-mal den Flammenstaub einsetzen …

Kaum hatte ich das gedacht, erschauderteich. Mir schien, als würde das durch meineAdern fließende Blut plötzlich eiskalt. DerFlammenstaub war nicht irgendeine Sub-stanz, sondern das teuflische Erzeugnis einerunheilvollen Wissenschaft.

Du siehst es also selber ein, wisperte derExtrasinn. Dieses Teufelszeug würde dichumbringen, falls du es wagtest, es erneuteinzusetzen. Ein totaler Zusammenbruchsollte dir genug sein, auch wenn er einigeZeit zurückliegt.

Du hast Recht, es war sowieso arrogantvon mir, mich über Tuxits Warnung hinweg-zusetzen, indem ich mir einbildete, durchmeinen Zellaktivator eine Art Halbgott zusein.

»Wie sieht deine Planung aus, Arkoni-de?«, holte mich Abenwoschs Stimme ab-rupt in die Gegenwart zurück.

»Ich denke die ganze Zeit darüber nach«,erklärte ich, meine Verlegenheit durchForschheit überspielend. »Was ich als näch-

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sten Schritt plane, wird davon abhängen, obdu als Krand'har das Problem des Schamen-hyn-Clans meisterst.«

Abenwosch sah mich überrascht an underklärte: »Das ist kein Problem mehr, dennich habe sofort nach Antritt meines Amtesdafür gesorgt, dass der Bann über den Scha-menhyn-Clan aufgehoben wurde. Und ichhabe auch einen neuen Clanchef eingesetzt.Maßgebend für mich war, dass alle Angehö-rigen dieses Clans sich für den bösen Miss-griff ihres toten Chefs schämten – und dassunsere Clans in der derzeitigen Situation je-den Jucla als Kämpfer für unsere gemeinsa-me Sache brauchen werden. Logisch, dassder Schamenhyn-Clan deshalb für michdurchs Feuer gehen wird.«

Er ist ein Ass!, dachte der Extrasinn.Weil er auch ein Aas ist!Laut sagte ich: »Gratuliere, Abenwosch.

Wir werden uns aufeinander verlassen kön-nen. Ich muss nur noch ein paar Dinge klä-ren, dann werde ich dir mitteilen, wie unsereweiteren Pläne aussehen.«

»Tue das!«, sagte der Krand'har fordernd.»Und lass mich nicht zu lange warten. Mei-ne Clans fiebern neuen Taten entgegen –und ihre Geduld wird nicht lange vorhal-ten.«

Typisch Juclas!, durchfuhr es mich. Ichmuss immer bedenken, wie schnell die Zeitfür sie vergeht.

»Du hörst bald wieder von mir«, erwider-te ich.

»Diese Juclas sind ein Problem«, erklärteMyreilune mit unterschwelliger Harne.

»Nicht, wenn wir diese Flotte, die dadraußen wartet, in einen richtigenKampfeinsatz schicken«, stellte Kaystalefest. »Ein Schwert nützt nur dann etwas,wenn es gegen den Feind geschwungenwird.«

»Und wenn es Köpfe abschlägt«, ergänzteCarmyn Oshmosh mit unverhohlener Ironie.Ihre sonst meist leise Stimme wurde kraft-voll und eindringlich: »Aber Köpfe sindnicht zum Abschlagen da, sondern zumDenken. Ist es so, Atlan, dass du dir den

Kopf darüber zerbrichst, welcher verbinden-de Sinn zwischen den Aktivitäten der Lord-richter in Dwingeloo, Gruelfin und deinerMilchstraße besteht?«

Ich staunte erneut über die Intelligenz derKommandantin. Sie hatte Schlüsse gezogen,von denen ich vor wenigen Sekunden nochnicht ahnte, dass sie die dafür erforderlichenInformationen auch nur andeutungsweisebesaß.

»Das ist richtig«, gab ich unumwundenzu. »Genau diese Frage wirft Rätsel auf.Nur, woher bekomme ich die notwendigenInformationen, um die Antworten zu fin-den?«

»Ich habe die ganze Zeit darüber nachge-dacht«, erwiderte Oshmosh.»Wahrscheinlich müssen wir dorthin gehen,wo wir am ehesten diese Informationen fin-den.«

»Und wohin wäre das?«, fragte ich, fie-bernd vor Spannung, denn ich ahnte, dassdie Kommandantin mich auf die richtigeSpur bringen würde.

»Zur Freihandelszone Susch in der Stern-wolke Samtan«, antwortete Oshmosh selbst-sicher. »Das regierende Konsortium rundum den Autokraten Symaltin hat ganz sicherein fundiertes Wissen über die Verhältnissein Gruelfin. Ganz zu schweigen von derZentralen Informationsbörse in der Kernsta-tion. Ich kenne mich dort aus, denn ich wur-de in der dortigen Akademie von BOYSCHausgebildet und für meine Aufgaben vorbe-reitet – genauso wie ein Großteil meinerSchiffsbesatzung.«

»In der Akademie von BOYSCH?«»BOYSCH ist eine Kunstwelt – und die

Kernzentrale von Susch«, erklärte Oshmoshmit breitem Lächeln.

Schon oft hatte ich von einer Freihandels-zone namens Susch gehört – und auch voneinigen Akademien für Raumfahrer, in de-nen anscheinend Angehörige vieler VölkerGruelfins ausgebildet wurden. Aber ich hattenicht geahnt, dass meine Leute von derAVACYN dort ausgebildet worden waren.

»Die Sternwolke Samtan«, sagte ich nach-

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denklich. »Wo in Gruelfin liegt sie genau?Ich weiß nur ungefähr Bescheid. Und ist sieeine Art Kugelsternhaufen?«

Carmyn Oshmoshs dunkle Augen schie-nen zu glühen, als sie mich anstarrte.

»Samtan ist ein irregulärer Sternhaufen«,erklärte sie schließlich in einem Tonfall, indem ich so etwas wie Heimweh, zumindestaber Sehnsucht herauszuhören glaubte. »Erliegt eingebettet in den Sternenarm Wutha-nas Leib im Nordostsektor von Gruelfin.«

»Wuthanas Leib«, wiederholte ich nach-denklich. »Den Sektor kenne ich. Wie soviele in Gruelfin. Viel zu viele! Ich weiß je-denfalls, wo Wuthanas Leib liegt. VomSternhaufen Samtan sieht man hinter einemdichten Sternenmeer das rund 19.000 Licht-jahre entfernte Zentrum Gruelfins mit derwabernden Energieballung rings um ein ex-trem großes Schwarzes Loch aus rund einerMilliarde Sonnenmassen.« Ein einzigerBlick darauf genügt, um die Nichtigkeit dereigenen Existenz im Vergleich zum Univer-sum einzusehen.

»Von BOYSCH aus sind es 18.500 Licht-jahre bis zum galaktischen Zentrum«, sagteCarmyn Oshmosh. »Susch umfasst übrigensaußer der Kernstation BOYSCH die sechsam nächsten stehenden assoziierten Sonnen-systeme. Doch das Herzstück ist BOY-SCH.«

3.Der Mann von Extosch

Symaltinoron wusste, dass ihm der Todim Nacken saß. Doch obschon er in derAkademie Kakastaun gelernt hatte, dass nie-mand den Tod fürchten musste, weil durchden Tod nichts Existierendes verloren ging,sondern sich nur veränderte – was auch dererste Hauptsatz der Thermodynamik war –,war er nicht bereit, dieses Schicksal wider-standslos hinzunehmen.

Nicht zuletzt, weil er sich damit der Mög-lichkeit beraubt hätte, seinen Vater vor derGefahr zu warnen, die er im Irmanglide-Sy-stem entdeckt hatte; seinen Vater, den Auto-

kraten Symaltin, der die Verantwortung füralles trug, was sich in und um die Sternen-station BOYSCH ereignete.

Symaltinoron bewegte den Steuerstickseines Raumjägers und sah, wie der PlanetCranicorr, der einzige Planet der grünenSonne Irmanglide, in die Zielerfassung wan-derte.

Er sah das allerdings ein bisschen andersals andere Intelligenzen, denn als Nachkom-me eines Umweltangepassten vom PlanetenFortyn war er fast blind. Aber durch jahre-langes Training hatte er gelernt, alle opti-schen Reize unbewusst zu verstärken undfaktisch genauso gut zu sehen wie alle Gan-jasen. Fortyn war ein so genannter Sandpla-net, gänzlich überzogen von einer Wüste,über die fast ständig orkanstarke Sandstürmetobten. Dennoch sahen die Bewohner es alsGlück an, auf dieser Welt leben zu dürfen.

Die Sicht- und Ortungssysteme des klei-nen, überlichtschnellen und äußerst wendi-gen Raumjägers verstärkten und verbesser-ten selbstverständlich alle Wahrnehmungen.Es war ein technisch hochgerüstetes Raum-fahrzeug, mit dem Symaltinoron von derRaumakademie Kakastaun ausgerüstet wor-den war, um den mysteriösen Planeten Cra-nicorr zu inspizieren, eine Art Vorerkun-dung. Genauer: die Befriedigung seiner per-sönlichen Neugierde. Was man ihm nur ge-währt hatte, weil sein Vater der Autokratvon BOYSCH und damit Herrscher über dieFreihandelszone Susch war.

Kakastaun war eine der vier berühmtestenRaumakademien der Freihandelszone Susch,die von der Raumstation BOYSCH verwal-tet wurde. Symaltinoron arbeitete dort alsAstrophysiker und Planetenforscher undhielt außerdem Vorlesungen in Ethik undMoral für angehende Raumfahrer, die dortausgebildet wurden.

Cranicorr galt als gefährlich, doch das ge-nau war es, was den Sohn Symaltins dazubewogen hatte, sich ihn vorzunehmen. Al-lerdings war ihm die Sehnsucht nach Aben-teuern und Forschungserfolgen gleich nachdem Linearraum-Austritt innerhalb des Ir-

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manglide-Systems vergangen, denn er warunmittelbar vor einem riesigen Energiegebil-de, das es hier nicht geben durfte – ja, dasüberhaupt nicht existieren konnte –, in denNormalraum zurückgekehrt. Es sah aus wieein pulsierender Stern, wenn auch »nur« mitungefähr dreitausend Metern Durchmesser.

Am schlimmsten aber war, dass diesesGebilde nach ihm gegriffen und ihn gepackthatte – und dass er seinem Gefühl nach halbentstofflicht worden war. Und das, obwohldie Positronik seines Fahrzeugs noch vorherden Paratronschirm aktiviert hatte. Er erin-nerte sich daran, dass er sich in einer ArtMausoleum wiedergefunden hatte, in einervon hellen Wänden umgebenen Halle vonden Ausmaßen eines Sportfeldes – und dassin den zahllosen Nischen der Halle Gebildestanden, die vom Aussehen her gänzlich ver-schiedenartig waren. Aber sie alle waren sohoch wie Kathedralen und fast so durchsich-tig wie farbloses Glas.

Und sie strömten einen »Geruch« nachgewaltsamem Tod aus, der eiskalt durchMark und Bein ging.

Symaltinoron fror innerlich, vor allem beider Erinnerung daran, dass er in dieser Hallegestanden hatte, mit nichts als seinem leich-ten Raumanzug. Sein Raumjäger war ver-schwunden gewesen, wie von Geistern weg-gezaubert. Und Geister schienen im Spiel zusein, denn Symaltinoron hatte mit seinemBewusstsein Kontakt zur Positronik des ver-schwundenen Raumjägers gehabt – aller-dings, ohne Informationen mit ihr austau-schen zu können.

Stattdessen hatte in wenigen Metern Ent-fernung ein Ganjase vor ihm gestanden: et-was größer als er selber, zwar stämmig,doch nicht halb so breit wie ein Fortynier,mit der Tätowierung eines Dakkar-Dreiecksauf dem kahl rasierten Schädel, gekleidet inein flammend rotes Habit, das durch ein Zin-gulum gehalten wurde, sowie mit spitzengrünen Stiefeln.

Symaltinoron wollte ihn ansprechen, kamaber nicht dazu, denn der Ganjase wurdeplötzlich durchsichtig. Deutlich waren sein

blankes Skelett und sein bleicher Schädel,ein hochgewölbtes Cranium, zu sehen. Dannverschwand er, als hätte er sich in Luft auf-gelöst.

Im nächsten Moment fand sich Symalti-noron im Pilotensitz seines Raumjägers wie-der. Die Ortung zeigte an, dass sein Gerätmit rasender Geschwindigkeit haltlos durchdas All taumelte, während die riesige Ener-gieballung pulsierte und dabei immer wiedermit Eruptionen nach ihm zu greifen schien.

Der Fluchtinstinkt hatte Symaltinoronveranlasst, sich von der von grellen Turbu-lenzen erfüllten Ballung so schnell wie mög-lich zu entfernen. An sich war der Raumjä-ger vom Typ Zoreh dafür prädestiniert, dochin diesem Falle kam er einfach nicht vondem unheimlichen Energiegebilde los.

Logischerweise hatte Symaltinoron mitMaximalwerten beschleunigt und dann, alsdie erforderliche Geschwindigkeit erreichtwar, den Linearantrieb aktiviert.

Doch anstatt in das übergeordnete Konti-nuum des Zwischenraums einzugehen, wardie Geschwindigkeit auf nahe null zurückge-fallen.

Symaltinoron war entsetzt, hatte aber fol-gerichtig reagiert und die Impulstriebwerkewieder hochgeschaltet. Gleichzeitig hatte erein paar Figuren geflogen, wie sie für Welt-raumgefechte mit feindlichen Jägern oderZerstörern vorgesehen waren. Der positroni-sche Komplex hatte selbstverständlich seineSchaltungen praktisch ohne Zeitverzögerungin die zweckentsprechenden und sicherenSchaltungen umgewandelt, denn organischeIntelligenzen waren dafür zu langsam undmit zu vielen Fehlern behaftet.

Das Energiegebilde wurde abgehängt undblieb ein Stück zurück, doch dann beschleu-nigte es ebenfalls und holte nach und nachwieder auf. Symaltinoron verzweifelte zu-erst, dann entschloss er sich, auf dem Plane-ten Cranicorr zu landen – in der Hoffnung,dass ihm die Energieballung nicht dorthinfolgen würde.

Bisher hatte sich diese Hoffnung aller-dings nicht erfüllt. Die Energieballung folgte

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dem Raumjäger. Sie kam zwar nicht an ihnheran, aber sie blieb nur wenige tausend Me-ter hinter ihm.

Und das war es, was Symaltinoron Angstmachte.

Denn sobald der stromlinienförmige hell-graue Raumjäger mit den gepfeilten Tragflä-chen und den stark ausgeprägten Seiten- undHöhenleitwerken in die Atmosphäre Crani-corrs eintauchte, würde er langsamer wer-den, und die Energieballung konnte ihn ein-holen. Sie würde ihn abermals von seinemGerät trennen und in einen Raum und eineZeit schleudern, von wo es womöglich keineRückkehr gab.

*

Trotz seiner Angst empfing der Forscherdie vom Raumjäger erfassten Ortungsdatenmit großem Interesse.

Er stellte fest, dass Cranicorrs Masse ei-ner typischen 1-Gravo-Welt entsprach. Al-lerdings betrug die Schwerkraft 0,93 Gra-vos, doch das konnte an der Gravitationswir-kung des luftleeren Mondes liegen, der mitCranicorr um einen gemeinsamen Schwer-punkt kreiste.

Der Planet besaß auch eine Atmosphäre,obwohl die Ortung keine Spur irgendeinerBiomasse anzeigte, ohne die eine Plane-tenatmosphäre sich nicht regenerieren konn-te. Die gesamte Oberfläche des Planeten be-stand aus einer dicken Schicht Metallplastik,aus deren glatter Ebene in bestimmten Ab-ständen stadtähnliche Gebilde herauswuch-sen: teils wuchtige, teils filigrane Gebäude-Ansammlungen.

Und Symaltinoron staunte, denn es gabdort unten keinerlei Spuren von Verfall, janicht einmal Flugsand oder Staub. Allesschien regelmäßig gesäubert zu werden.Selbstreinigungseffekt wie bei manchenWasserpflanzen?

Er schüttelte diese Überlegung ab, dennjetzt kam der Augenblick des Eintritts in dieAtmosphäre. Sein Raumjäger bremste vonselbst ab, denn seine Positronik war so pro-

grammiert, dass sie Risiken für Gefährt undPilot vermied und immer sozusagen aufNummer Sicher ging.

Die ultrahelle Feuerlanze des Impulstrieb-werks stach kilometerweit in Flugrichtung,und ein Prallfeldschirm bewahrte den Jägervor Überhitzung. Ringsum waberte hoch er-hitzte, verglühende Luft.

Kurzzeitig siegte das Interesse des Plane-tenforschers, als ihm die Positronik die vonder Ortung erfassten Messwerte der Atmo-sphäre übermittelte.

Demnach betrug die Zusammensetzungdes Gasgemischs dicht über der Planeteno-berfläche rund 75 Prozent Stickstoff, 20 Pro-zent Sauerstoff, Kohlendioxid 0,03 Prozentund Argon 0,04 Prozent sowie Spuren allerEdelgase. Der Wasserdampfanteil allerdingsbetrug nur 0,01 Prozent. Die Werte lagendemnach verblüffend dicht an denen natur-belassener Planeten.

Symaltinoron riss sich von diesen Wahr-nehmungen los, als die Positronik ihm dieoptischen Eindrücke von seinem Verfolgerins Gehirn einspielte. Die Energieballungverfolgte ihn immer noch und hatte aufge-holt. Sie musste jeden Augenblick ebenfallsin die Atmosphäre eintauchen.

Der junge Forscher drückte den Raumjä-ger tiefer und fluchte unterdrückt, weil diePositronik sich gegen ein zu abruptes Sinkensträubte und gleichzeitig die Geschwindig-keit verringerte.

Das ist das Ende!, durchfuhr es ihn, alsdie Energieballung in die obersten Atmo-sphäreschichten eindrang und den Abstandzu ihm verringerte.

Im nächsten Moment schien die Ballungzu explodieren und in allen Farben desSpektrums aufzuleuchten. Dabei dominier-ten die Farben Grün, Rot, Blau und Violett.Heftiges Krachen und Knattern zeigte starkeelektromagnetische Störungen an.

Polarlicht!, dachte Symaltinoron.Unwillkürlich hielt er die Luft an, als das

Polarlicht sich mit rasender Geschwindigkeitausbreitete und seinen Raumjäger ein-schloss. Doch im Unterschied zu der Ener-

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gieballung durchdrang es den Prallschirmnicht – und wenige Minuten später schwäch-te es sich ab und erlosch schließlich.

Eine Zeit lang rührte sich Symaltinoronnicht, sondern beschränkte sich auf dieWahrnehmung, die die Positronik ihm zu-spielte und die weiter nichts zeigte als einenimmer langsamer werdenden Raumjäger,der sich durch die unteren Schichten der Pla-netenatmosphäre bewegte. Links und rechtstauchten zwei stadtähnliche Gebilde auf. Sieschienen ihm förmlich zuzurufen, dass er sieerforschen sollte.

Aber die Wissbegierde und der For-schungsdrang, die Symaltinoron nach Crani-corr getrieben hatten, waren erloschen. Jetzt,da die unmittelbare Gefahr vorbei und dasGrauen abgewendet war, hatte der jungeMann nur noch das Bedürfnis, diesen Raum-sektor zu verlassen.

Nach Hause!, war alles, was er noch den-ken konnte. Nach Hause zu BOYSCH und zuPapa!

Er zog den Stick der Steuerung langsaman sich heran und holte befreit Luft, als dieNase des Raumjägers sich allmählich auf-richtete.

Sekunden später erstarrte er.Denn der Hyperkom hatte sich automa-

tisch aktiviert, was bedeutete, dass er eineSendung aufgefangen hatte (die die Positro-nik als bedeutungsvoll einstufte, was eineÜberspielung an den Piloten erforderlichmachte).

Her damit!, dachte er.

*

»Hilfe, Hilfe!«, waren die ersten ganjasi-schen Worte, die er hörte.

Es folgte eine Serie undeutbarer Ge-räusche, dann rief jemand mit klarer Stim-me: »Hier spricht Persenpo Zasca, dritterDirektor der Mythischen Infothek von Exto-sch. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich spürenur, dass ich gefangen bin. Helft mir! Exto-sch wurde überfallen. Helfershelfer der Lor-drichter haben die Mythische Infothek er-

obert! Hilfe, Hilfe!«»Von wo kommt die Sendung?«, erkun-

digte sich Symaltinoron bei der Positronik.»Von einer Art Gebäudekomplex hinter

uns«, antwortete die Positronik. »Ungefährunterhalb der Stelle, an der die Energiebal-lung abgeschossen wurde.«

»Wie?«, schrie Symaltinoron ungläubig.»Die Energieballung wurde abgeschossen?«

»Das schloss ich aus der Art und Weise,wie sie verging«, antwortete die Positronik.»Willst du auf den Hilferuf antworten? Undsoll ich abbremsen, damit du eventuell derbetreffenden Person Hilfe leisten kannst?«

»Was soll ich?«, entfuhr es dem Forscher,dann besann er sich und antwortete: »Ja, ab-bremsen – und ich will antworten.«

Als die Positronik ihm Bereitschaft mel-dete, sagte er: »Hier spricht Symaltinoron,der Sohn von Symaltin. Persenpo Zasca, wiebist du auf den Planeten Cranicorr gekom-men?«

»Der Trigonometrischen Gottheit seiDank!«, ertönte ein Ruf. »Symaltinoron, ichweiß nicht, wer du bist, aber unsere Schick-sale müssen von den Göttern miteinanderverknüpft worden sein. Als die Banditen inunsere heilige Mythische Infothek eindran-gen und sie schändeten, versuchten die My-thokarin und ich, die geheimen Transmitter-zugänge zu desaktivieren beziehungsweiseauf Ausweichziele umzuschalten. Dabeimüssen sich unsere Schaltfelder mit denender Banditen überlagert haben. Es kam zuFehltransmissionen. Auch andere Mitarbei-ter der Mythischen Infothek müssen das Op-fer von Fehltransmissionen geworden sein.Wer weiß, wohin es sie verschlagen hat.«

Symaltinoron hob unwillkürlich eineHand, um den Redefluss Persenpo Zascas zustoppen. Natürlich funktionierte das nicht,da Zasca ihn nicht sehen konnte. Doch dieBordpositronik reagierte und forderte denFremden zum Schweigen auf.

Symaltinoron packte den Steuerstick fe-ster und leitete erst ein Bremsmanöver unddanach eine Kehrtwendung ein.

»Ich ahne etwas, Persenpo Zasca«, erklär-

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te er dann. »Durch die Fehltransmission ver-suchte sich offenbar ein Wiederverstoffli-chungsfeld aufzubauen. Das geschah in derNähe des Planeten Cranicorr – und zwarausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als ich mitmeinem Raumjäger dort nach einem Linear-flug in den Normalraum zurückkehrte. Ichwurde in das Wiederverstofflichungsfeld ge-rissen, aber genau wie du nur halb verstoff-licht – und zwar in einer Art Halbraum. Dortsah ich dich kurz, bevor du wieder entmate-rialisiertest.«

»Bei der Trigonometrischen Gottheit!«,rief Persenpo Zasca. »Und ich sah dich ganzkurz. Wo bist du denn jetzt? Irgendwo aufdiesem unheimlichen Planeten?«

»Ich bin in meinem Raumjäger«, antwor-tete Symaltinoron. »Und ich bin auf demWege zu dir. Da meine Positronik dich an-gepeilt hat, wird sie mich so nahe wie mög-lich an dich heranbringen. Sag mir, ob dudich in einem Gebäude befindest, und sprichweiter!« Was soll das Gefasel von einer Tri-gonometrischen Gottheit?

»Ich bin in einer schmalen, aber hohenHalle«, antwortete Persenpo Zasca. »DieWände scheinen aus einer Art hellgrauemMetallplastik zu bestehen – sehr hellem Me-tallplastik. Darin sind Linien eingraviert, dieHunderte von fremdartigen Gesichtern zei-gen – nein, Tausende Gesichter. Um sie her-um gibt es fremdartige Zeichen, vielleichteine Art Schrift. Nein …!« Die Stimmebrach ab.

»Was ist los?«, rief Symaltinoron. »Bistdu in Gefahr, Persenpo?«

Schweigen.»Sende ihm einen starken Impuls!«, for-

derte Symaltinoron die Positronik auf.»Wurde gesendet«, meldete die Positronik

gleich darauf.Einige Atemzüge lang blieb es still, dann

ertönte die Stimme Persenpo Zascas – diestark verfremdete Stimme Persenpo Zascas–, und sie sang:

»Du bist zu Gast hier bei Gorgonion,wacht nicht auf, unwürdiger Thanaon!Es redet selbst der Toten Abbild.

Die ins Grab gestiegenUnd rückgekehrt aus tiefer Gruft.Wir alle, die das Leben lieben,Sind hier und atmen keine Luft.«Symaltinoron stockte der Atem, als er das

hörte. Doch er riss sich gewaltsam zusam-men und besann sich darauf, dass er Wissen-schaftler war und sich vom alten Geister-glauben seines Volkes losgesagt hatte.

Und er entschied, nicht dem Fluchtin-stinkt nachzugeben, sondern dem Extoscherzu helfen. Anscheinend war er in eine ArtFalle geraten, wie sie auf dem unheimlichenPlaneten Cranicorr wohl zu erwarten waren.Doch da er seine Umgebung eigentlich ratio-nal beschrieben hatte, konnten die dort lau-ernden Gefahren nicht von bösen Geisternoder sonstigem Humbug ausgehen. Sie mus-sten sich folglich auch überwinden lassen.

»Cranicorr!«, murmelte er zornig. »Ichhabe keine Angst vor dir – jedenfalls nichtallzu viel!«

Die Positronik seines Raumjägers ließsich von den Impulsen des fremden Hyper-koms leiten und landete das Gerät auf demglatten, hellgrauen, aber nicht das Sonnen-licht reflektierenden Boden dicht bei einemtür- und fensterlosen Turm vom gleichenMaterial, der mit einem Durchmesser vonsiebenundvierzig Metern etwa siebenhundertMeter in den blauen, wolkenlosen Himmeldes Planeten ragte.

»Was nun?«, fragte Symaltinoron ratlos.»Keine Tür, kein Fenster. Persenpo Zasca istanscheinend von einem irregulären Trans-mitterfeld in dem Haus abgesetzt worden.Positronik, wir werden wohl unseren heißenNachschlüssel einsetzen müssen.« Er stelltesich vor, wie die Impulskanone seinesRaumjägers ein torgroßes Loch in die Ge-bäudewand riss, und kam zu dem Schluss,dass diese Methode nicht akzeptabel war.Erstens konnte sie den Ganjasen töten, dener befreien wollte, und zweitens konnte sieirgendwelche Defensivwaffen der Stadt akti-vieren, die den Raumjäger zu einem handli-chen Stück Schrott verarbeiteten.

»Impulse!«, rief er. »Positronik, bearbeite

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die Wand dieses Bauwerks mit der ganzenPalette der dir zur Verfügung stehendennicht zerstörerischen Impulse! Vielleicht ak-tiviert einer von ihnen so etwas wie eine To-rautomatik.«

»Verstanden«, antwortete die Positronik.»Ausführung erfolgt.«

Symaltinoron wartete mit klopfendemHerzen. Die Impulse waren selbstverständ-lich weder zu hören noch zu sehen, aberauch von irgendeiner Wirkung war nichts zubemerken.

Bis es in Symaltinorons Ohren knackte –und eine hohle Stimme sprach, doch nicht inseinem Ohr:

»Der Tag war hell, die Nacht war kalt,Von oben kam ein Wimmern durch die

Luft.Ein dunkler Vogel schrie die ganze

Nacht.Kein Leben mehr, doch wir sind aufge-

wacht.«Der Forscher zog die Schultern hoch. Er

fror. In seine Seele kam die Ahnung, dassviele andere Seelen ihre Trennung von demLeben in ihren Körpern beklagten. Ihm däm-merte, was das alles zu bedeuten hatte unddass Cranicorr der Schrein war, in den sichein ganzes Volk geflüchtet hatte, um Un-sterblichkeit zu erlangen – und dass dieseWesen todunglücklich darüber waren. Undwahrscheinlich auch psychisch krank.

»Ich höre euch«, flüsterte er fast tonlos.»Und ich ahne, welches Schicksal ihr euchbereitet habt. Glaubt mir, ich fühle mit euch.Doch kann ich euch heute nicht helfen. Viel-leicht ein andermal. Aber ich bitte euch:Gebt den Ganjasen frei, den es in euer Hausverschlagen hat.«

»Ein andermal ist keinmal«, klang es inseinem Bewusstsein zurück. »Alle verspre-chen, und niemand kehrt zurück. Früher sün-digten wir oft im Zorn. Aber wir bereuenund haben resigniert. Deshalb geben wir denGanjasen frei. Geht in Frieden!«

Symaltinoron war halb betäubt. In ihmstritten sich Mitleid und Abscheu. Er ahnte,dass frühere Besucher von den im Stahlpla-

stik gefangenen Seelen in Wahnsinn undTod getrieben worden waren, weil Ver-zweiflung Hass geboren hatte.

Er fuhr zusammen, als er schräg untersich außerhalb des Raumjägers dieselbe Ge-stalt sah, die ihm schon in einer Art Halb-raum begegnet war: nicht größer als er selbstund schmaler. Ein hochstirniger Kopf mit ei-nem tätowierten Dakkar-Dreieck auf demnackten Schädeldach, ein schmales, durch-geistigtes Gesicht mit einer Haut in hellemBronzeton – gekleidet in eine flammend roteTunika mit breitem Zingulum, eine schwar-ze Röhrenhose und grüne Schaftstiefel mitSchnallen.

Die ganze Kleidung sah allerdings argstrapaziert aus, und das Gesicht blickte er-schöpft und ängstlich wirkend nach oben.

Symaltinoron ließ die Steuerkanzel auf-fahren und aktivierte das Liftfeld. Mit einerHandbewegung gab er dem Extosch-Ganja-sen zu verstehen, was er tun sollte.

Persenpo Zasca bewies, dass er von einerhochtechnisierten Welt kam. Er vertrautesich wie selbstverständlich dem Liftfeld anund ließ sich in den zweiten Sitz der Steuer-kanzel heben. Die Sicherheitsautomatik ließden obligatorischen Raumschutzanzug ausdem Sessel ausfahren und sich um den Pas-sagier schließen.

»Willkommen an Bord!«, begrüßte Sy-maltinoron ihn über die automatisch akti-vierte Helm-zu-Helm-Verbindung. »Wiegeht es dir? Brauchst du eine medotechni-sche Versorgung?«

»Nein, mir geht es gut«, antwortete Zasca.»Ich habe das Wappen der FreihandelszoneSusch an deinem Raumjäger gesehen …«

»Richtig, und dorthin fliegen wir jetzt«,erklärte der Forscher. »Genau gesagt, zurKernstation BOYSCH.«

»Das ist gut«, flüsterte Zasca, offenbarhocherfreut. »BOYSCH ist bestimmt in derLage, uns Extoschern zu helfen.«

Symaltinoron verzichtete darauf, seinemPassagier zu erklären, dass die strikte Neu-tralität der Freihandelszone Susch jeglicheEinmischung in Konflikte außerhalb ihrer

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Interessensphäre ausschloss. Außerdemdurfte er dabei sowieso nicht mitreden.

Er aktivierte den Antrieb seines Raumjä-gers und startete.

4.Sternenstation BOYSCH

Symaltin verschloss Augen und Ohrenvor dem schrillen Gekreische, mit dem derhoch erhitzte Sand innerhalb der auf 1,8Gravos hochgeschalteten Schwerkraft imSamokar ihn umtobte. Er fühlte sich so wohlwie selten in letzter Zeit, denn sein Körperund sein Geist brauchten ab und zu den Auf-enthalt in einer Umgebung, die den Umwelt-bedingungen auf seiner Herkunftswelt For-tyn entsprach.

Er entspannte sich und versuchte, wenig-stens vorübergehend die Sorgen zu verges-sen, die ihn plagten, seit er als Autokrat denVorsitz im neunköpfigen Konsortium vonBOYSCH übernommen hatte.

Es waren unzählige Sorgen, die ihn plag-ten und die niemals abrissen. BOYSCH warja nicht nur eine Sternenstation, sondern inerster Linie das Zentrum der Freihandelszo-ne Susch, das innerhalb des irregulärenSternhaufens Samtan der Garant zu sein hat-te für eine Freihandelszone, die für alle Völ-ker Gruelfins zugänglich war und darumstrikte Neutralität wahren musste.

Es würde schon schwer genug sein, diedivergierenden Interessen der Angehörigenaller Völker Gruelfins unter einen Hut zubringen. Um überhaupt erst die wirtschaftli-chen Voraussetzungen dafür zu schaffen,mussten kräftige schwarze Zahlen geschrie-ben werden, denn beim Wirtschaftssystemvon Susch handelte es sich um ein prinzipi-ell kapitalistisches System, das nur durchseine Profitorientierung bestehen konnte.

Allerdings wurde das Negative, das nuneinmal wie ein Naturgesetz charakteristischfür alle kapitalistischen Wirtschaftssystemeist, durch die Autokraten abgemildert, diedafür sorgten, dass soziale Gerechtigkeit undcappinwürdige Moral herrschten. Die so ge-

nannten Weichenwärter, die die beherr-schende Unternehmerkaste Suschs darstell-ten, strichen zwar fette Profite ein, finanzier-ten über das innerstaatliche System aber ingroßem Umfang alle möglichen Forschungs-projekte – zum Beispiel technischer, medizi-nischer, wirtschaftlicher und historischerArt. In den Raumakademien aber dominiertedie beste Aus- und Weiterbildung vonRaumfahrern, die es überhaupt in ganzGruelfin gab – soweit diese Galaxis er-forscht war, was noch viel zu wünschen üb-rig ließ, weil sich die bekannten Zivilisatio-nen immer wieder gegenseitig zerfleischthatten.

Symaltins Nerven vibrierten, als es ihmnicht mehr gelang, die schwersten Sorgen zuverdrängen, die ihm seit einiger Zeit soschwer zusetzten, dass er fast jede Nachtvon Alpträumen geplagt wurde.

Es rumorte in Gruelfin. An allen Eckenund Enden brachen Kämpfe aus. Extragalak-tische Invasionsstreitkräfte zogen im Ver-bund mit den Takerern großmaßstäblicheEroberungsfeldzüge durch. Von Friedenkonnte fast nirgends mehr gesprochen wer-den.

Und trotz aller Informationen, die Suschdurch ein riesiges Netz von Agenten sam-melte, gab es keinen Hinweis auf die Gründefür die überall aufflammenden Kämpfe.

Die Freihandelszone war allerdings bishernicht angetastet worden. Symaltin schriebdas der immerwährenden Neutralität zu, dievom neunköpfigen Konsortium der 220Weichenwärter und von ihm selbst mit allerStrenge gewahrt worden war.

Er war sich allerdings klar darüber, dasses keine Garantie dafür gab, in keinen derzahlreichen Konflikte hineingezogen zuwerden. Für einen solchen Fall patrouillierteständig eine kleine, aber schlagkräftigeWachflotte in unmittelbarer Umgebung vonBOYSCH, wo auch einige PediaklastenDienst taten, um für den unwahrscheinlichenÜberfall eines Pedo-Angriffs gerüstet zusein. Und im Falle eines Falles klammertesich Symaltin an die Hoffnung, von den vie-

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len tausend Cappins, die in der Vergangen-heit in den Raumakademien Suschs ausge-bildet und moralisch indoktriniert wordenwaren, würden Hunderte ihre Kampfschiffenach BOYSCH lenken und den Feind zu-rückschlagen. Dass das eher unwahrschein-lich war, verdrängte er immer wieder ausseinem Bewusstsein.

Symaltin brüllte erschrocken und wütendauf, als der heiße Sandsturm sich ohne Über-gang in einen eiskalten Wasserschwall ver-wandelte – und ihm wurde klar, dass er da-bei gewesen war, sich Träumen hinzugebenund die Realitäten zu beschönigen.

Vorerst allerdings musste er erst einmalaus dem Samokar herauskommen, wenn ernicht erfrieren wollte. Und er musste sich fürdiese Untat rächen.

»Abstellen! Alles abstellen!«, brüllte eraus Leibeskräften, um das Tosen der Was-serfluten zu übertönen.

Als das Wasser verebbte, stürzte er un-sanft flach auf den Boden, der glücklicher-weise aus Hartschaum bestand, so dass er le-diglich geprellt wurde und sich sein Nasen-bein brach.

Grunzend und schnaubend rappelte ersich auf und stürmte auf allen vieren durchdas Tor, das sich an der einen Seite des Sa-mokars geöffnet hatte.

»Welcher verfluchte Idiot hat am Samo-kar herumgeschaltet?«, schrie er und richtetesich auf, um sich auf den Verursacher zustürzen.

Er erstarrte halb aufgerichtet, als er dieÜbeltäterin erkannte.

Es handelte sich um die einzige Personder ganzen Freihandelszone, der er absolutvertraute und der er grenzenlosen Respektentgegen brachte.

Samptasch, die Hohe Ganjo-In-terpretatorin!

Eine Ganjasin unschätzbaren Alters mittiefen Falten im bronzefarbenen Gesicht,aber von aufrechter Gestalt. Ihr schulterlan-ges Haar war schwarz und voll, ihre Brustglatt. Sie stützte sich auf einen derben Stockaus rotbraunem Hartplastik. In der anderen

Hand hielt sie eine winzige Fernschaltung.Der Blick ihrer hellblauen Augen richtete

sich strafend auf Symaltin.»Wie kannst du der Muße pflegen, Auto-

krat, während draußen die Wölfe heulen undnur darauf warten, in die Herde einzubre-chen?«, sprach sie mit leiser, aber eindringli-cher Stimme, die keinen Widerspruch zudulden schien.

»Die Wölfe?«, stammelte Symaltin.»Der Name spielt keine Rolle«, entgegne-

te sie. »Ich besitze viel von Ovarons Wissen– und du weißt das. Was wirst du dagegenunternehmen, Autokrat?«

»Ich, ich weiß noch nicht, Ganjo-Interpretatorin«, erwiderte Symaltin. »Wirmüssen vor allem strikte Neutralität wah-ren.«

»Genau das müssen wir«, erklärte sie.»Niemand, der nicht in die Freihandelszonegehört, darf einfliegen. Hörst du? Nie-mand!«

»Selbstverständlich nicht«, sagte Symal-tin, während er sich sammelte, um sich ge-genüber Samptasch zu behaupten, obwohl eszu seiner religiösen Einstellung gehörte,dass er der Ganjo-Interpretatorin blindlingsvertraute und sich nach ihren Ratschlägenrichtete, als wären es göttliche Befehle.

Er winkte seinem persönlichen Servo, dersich wie immer unsichtbar in seiner Näheaufhielt.

Der Servo projizierte einen Teil von sich:eine kleine Formenergieplatte, auf der einMassagetuch und eine Art Kilt aus schwarz-blauem Mikrofaserstoff lagen, und ließ siezu Symaltin schweben.

Der Autokrat warf sich das Tuch über,ließ sich warm massieren und wickelte da-nach den Kilt um die Huften. Als der Servoihm ein Pflaster schickte, presste er es überdie Bruchstelle unter der Nasenhaut. Dannprustete er das Wasser, das ihm im Samokarin Nase und Stirnhöhle gedrungen war,durch die schwarz behaarten Nasenlöcherwieder aus.

»Nimm dir ruhig Zeit!« sagte Samptasch.»Zeit ist das Einzige im Universum, was im-

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mer wieder nachwächst.«»Aber auch das Einzige, was man nicht

greifen kann«, gab Symaltin in einem Ver-such zu scherzen zurück.

»Was weißt du schon von der Zeit«, erwi-derte Samptasch. »Ovaron könnte dir Dingeüber die Zeit und über Zeitreisen erzählen,bei denen dir die Augen übergehen würden.Einmal, in einer anderen Galaxis und tief inder Vergangenheit, ist er sich sogar selbstbegegnet. Zwei Zeitbrüder standen sich da-mals gegenüber – jeder von einer anderenZeitebene stammend.«

»Wie ist das möglich?«, fragte der Auto-krat zweifelnd und platschte mit den nassenFüßen auf dem Boden.

Es war eine gegen den Servo gerichteteRüge – und das multifunktionale Energiege-bilde besann sich endlich und zog seinenHerrn fertig an. Danach trug Symaltin außerseinem Kilt eine kurze schwarze Jacke mitgoldfarbenen Gelenkpolstern, eine purpurro-te enge Hose und knöchelhohe schwarzeStiefel mit dicken Titansohlen, die ihm einbisschen das Gefühl gaben, sich auf seinemHeimatplaneten zu befinden, auf dem eineSchwerkraft von 1,8 Gravos herrschte, wäh-rend es in BOYSCH mit Rücksicht auf diemeisten Beschäftigten und Besucher (diemehrheitlich von Welten mit geringererSchwerkraft stammten) 1,1 Gravos waren.

»Das werden Leute wie du niemals be-greifen«, sagte Samptasch. »Aber um aufdas Kernproblem zu kommen: Dein Sohn istvor kurzem von einer Expedition zurückge-kehrt und hat einen Fremden mit nach BOY-SCH gebracht, einen Extoscher. Der PlanetExtosch befindet sich auf Kriegsfuß mit denDrenktosch-Takerern, hinter denen die Lor-drichter zu stehen scheinen. Das ist meineSchlussfolgerung, denn auf Extosch gibt esdie Mythothek. Da die Angreifer dieses In-formationszentrum erobert haben, könnensie nur von den Lordrichtern dazu angestiftetworden sein.«

»Mein Sohn tut nichts, was unsere Neu-tralität gefährden könnte«, wiegelte der For-tynier ungehalten ab, obwohl er insgeheim

ein flaues Gefühl im Leib spürte.»Er hat es schon getan, auch wenn er es

nicht begreift«, entgegnete Samptaschstreng. »Bei dem Extoscher handelt es sichnämlich um keinen Geringeren als um Per-senpo Zasca, einen stellvertretenden Leiterder Mythischen Infothek von Extosch – under wird hier nicht lockerlassen, bis er Hilfezugesagt bekommt.«

»Niemals!«, schnaubte der Autokrat.»Wir mischen uns nicht in die Händel zwi-schen anderen Völkern ein – und mein Sohnwürde es niemals wagen, so ein Ansinnen anmich heranzutragen. Ha, ich bin sicher, dasser ihn nicht in seiner Funktion als Abge-sandter hierher gebracht hat, höchstens alsSchiffbrüchigen.«

»Du kennst Symaltinoron gut«, erklärteSamptasch begütigend. »Er hat tatsächlichnicht gegen unsere Gesetze verstoßen. So-viel ich erfahren habe, handelt es sich beiPersenpo Zasca um einen Schiffbrüchigen,den dein Sohn auf dem Planeten Cranicorrauflas.«

»Auf Cranicorr?«, fragte der Autokrat er-schrocken. »Ausgerechnet auf dem Geister-planeten, vor dem in allen Infos gewarntwird! Ist er denn heil und gesund zurückge-kehrt?«

»Offenkundig ja«, sagte Samptasch. »Inder Kantine des Nebensektors prahlt er mitseinen Heldentaten.«

Symaltin schlug sich die flachen, teller-großen Hände an die Brust und reckte sich.

»Tüchtiger Junge!«, röhrte er gerührt.»Ich habe immer gewusst, dass er mir nach-schlägt.«

»Na ja!«, meinte die Frau. »Aber vergissnicht den Extoscher!«

»Das kriegen wir hin!«, versicherte Sy-maltin. Er ahnte nicht, wie sehr er sich irrte…

*

Symaltin begab sich in seine Kommando-zentrale, wie er seinen Bürotrakt tief im In-nern von BOYSCH zu nennen pflegte.

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Es handelte sich um einen großen Saalmit kreisförmigem Grundriss, der von zahl-reichen positronischen Ablegern der Zentral-positronik umgeben war: Hunderte röhren-förmige Elemente, die vom Boden bis zurfünfzehn Metern hohen Decke reichten undbei manchen Intelligenzen einen Vergleichmit Orgelpfeifen provoziert hätten.

Der beinahe vierschrötige Autokrat be-wegte sich tänzerisch leicht durch den Saal.Er bemühte sich stets, nicht zu fest aufzutre-ten, um wegen der geringen Schwerkraftkeine Sprünge zu tun.

Hinter seinem geschwungenen Arbeit-stisch sank er auf den breiten Schwebeses-sel.

Dort blieb er eine Weile still sitzen, bevorer die plump wirkenden Finger der großen,fleischigen Hände spielerisch leicht über dieSchalttastatur gleiten ließ.

Ein Trivideokubus schräg über und hinterder Tastatur erhellte sich und zeigte ein Ab-bild des Vorzimmers. Symaltins Gesicht rö-tete sich, als er seinen einzigen Sohn sah,der mitten im Vorzimmer stand und auf-merksam die Bildflächen beobachtete, aufdenen die Andockstationen von zirka dreißigausgefahrenen der insgesamt 220 Weichenzu sehen waren. Der Autokrat war stolz aufseinen Sohn, auch wenn er sich fast immerbemühte, es nicht zu zeigen.

»Symaltinoron, du kannst jetzt herein-kommen!«, sagte er.

Symaltinoron lächelte und trat durch dassich automatisch vor ihm öffnende Schott.Er hatte noch nie eine politische Funktioninnegehabt und zeigte deshalb seine Gefühlemeistens offen.

»Vater!«Er streckte beide Hände über den Arbeit-

stisch, und sein Vater ergriff sie kurz, bevorer seinem Sohn mit einem Wink zu verste-hen gab, sich in den Besuchersessel zu set-zen, der ihm direkt gegenüberstand.

»Wie ich erfuhr, bist du von einer Missionnach Cranicorr zurückgekehrt, mein Sohn«,sagte er. »Dort sollen unbekannte Gefahrenlauern.«

»Ich hatte den Auftrag meiner Akade-mie«, erklärte Symaltinoron. »Ich sollte miteiner ersten vorsichtigen Erkundung mehrüber diese Gefahren herausbringen. Crani-corr gehört zu unserem Raumsektor. Wirmüssen wissen, wie wir ihn einzustufen ha-ben.«

»Und wie würdest du ihn einstufen?«»Als geheimnisvoll«, antwortete sein

Sohn ernst. »Und als eine Art Kommunikati-onspartner, denn die dort existierenden Intel-ligenzen haben der Gewalt abgeschworen.Sie sollten allerdings zurückhaltend undachtungsvoll behandelt werden.«

»Dort existierende Intelligenzen?«, staun-te Symaltin und presste sekundenlang dieharthäutigen Lippen seines breiten Mundeszusammen. »Darüber steht nichts in den Be-richtsbüchern.«

Symaltinoron lächelte unwillkürlich, alssein Vater den Begriff »Berichtsbücher« ge-brauchte, obwohl damit positronische Spei-chersektoren gemeint waren. Aber er wareben ungewöhnlich konservativ eingestellt.

»Ich weiß, worüber du dich lustig machst,Sohn«, sagte Symaltin. »Du musst noch ler-nen, warum ich mich oft so konservativ aus-drücke. Es ist, weil BOYSCH immer in Ge-fahr schwebt, seine allseits respektierte ga-laktopolitische Position zu verlieren, wennes sich nicht immer wieder auf die altenWerte besinnt. Und nur das drücke ich mitBegriffen wie ›Berichtsbücher‹ aus.«

»Entschuldige bitte, Vater!«, bat Symalti-noron. »Ich weiß, dass ich von dir lernenmuss – und das werde ich auch. Was die aufCranicorr existierenden Intelligenzen an-geht: Sie existieren nur noch als Bewusstsei-ne, die in irgendwelchen metallenen Spei-chern eingesperrt sind.«

»Haben sie dir das gesagt?«, fragte derAutokrat atemlos. »Ich weiß von anderen In-telligenzen, ganz woanders. Die hatten ver-sucht, ihre Bewusstseine in Metall zu spei-chern, um ewig zu leben. So etwas endetstets in Verzweiflung, weil das kein Lebenmehr ist.«

»Sie haben es nicht gesagt, Vater«, ant-

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wortete der Sohn. »Jedenfalls nicht direkt.Wohl aber indirekt. Hör mal! ›Wir alle, diedas Leben lieben – sind hier und atmen kei-ne Luft.‹ Oder: ›Kein Leben mehr, doch wirsind aufgewachte.‹ Das ist doch eindeutig,oder?«

»Ich denke, ja«, brummte Symaltin be-drückt. »Aber das macht sie zu seelischenKrüppeln und damit zu einer Gefahr.«

»Nicht mehr, denke ich«, erwiderte Sy-maltinoron. »Sie sagten: ›Früher sündigtenwir oft im Zorn. Aber wir bereuen und ha-ben resignierte.‹«

»Das klingt, als wären diese Wesenheitenwirklich keine Gefahr mehr«, stellte seinVater fest. »Vielleicht können wir ihnen ir-gendwann einmal helfen.«

»Vielleicht bald, Vater!«, rief der Sohneifrig.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Sy-maltin düster. »Vielleicht steht uns schonbald Unheil ins Haus.«

»Woran denkst du speziell?«, fragte Sy-maltinoron.

»An einen Extoscher namens PersenpoZasca«, antwortete sein Vater.

»Oh!«, rief Symaltinoron. »Aber wiesohat er mit Unheil zu tun? Er ist ein Flücht-ling.«

»Den du gerettet und hierher gebrachthast«, ergänzte Symaltin ernst. »Das wardurchaus ehrenhaft. Aber ich habe erfahren,dass Zasca sein Gastrecht missbraucht. Ergeht von Abteilung zu Abteilung und ver-sucht alles, um BOYSCH zur militärischenHilfe für Extosch zu bewegen. Dabei berufter sich auf Zusagen von dir.«

»Das ist absurd«, widersprach sein Sohn.»Ich habe auf seine entsprechenden Bemer-kungen überhaupt nicht reagiert. Das stehtmir ja auch nicht zu.«

Symaltin atmete grunzend auf.»Das ist gut. Demnach handelt es sich um

Eigenmächtigkeiten dieses Extoschers. Ichwürde ihn am liebsten ausweisen. In irgend-einen neutralen Handelsraumer stecken undtausend Lichtjahre weit fortschaffen. Leidergeht das nicht, denn Zasca ist einer der stell-

vertretenden Leiter der Mythischen Infothekvon Extosch. Damit genießt er diplomati-sche Immunität. Ich wollte, du hättest ihnauf Cranicorr gelassen.« Er winkte ab. »Ichweiß, dann hättest du dich moralisch ins Un-recht gesetzt. Aber was machen wir jetzt mitihm? Er bringt Unruhe in die Kernstation.«

»Warum beschäftigen wir ihn nicht ein-fach?«, fragte Symaltinoron verschmitzt.

»In der Akademie Billtosch gibt es eineFraktion, die sich mit der wissenschaftlichenErgründung der religiösen und mythologi-schen Strömungen innerhalb Gruelfins be-schäftigt. Wenn wir Zasca in einen der be-treffenden Studienzirkel bringen, wird er mitunendlich vielen Fragen eingedeckt, so dasser an nichts anderes mehr denken kann. Je-denfalls für eine lange Zeit.«

Sein Vater blickte ihn aus seinen Augen-schlitzen an, als wollte er ihn mit Blickendurchbohren, dann öffnete er den breitenMund und lachte glucksend.

»Mein Sohn, du bist nicht von schlechtenEltern!«, rief er. »Das ist die Idee. So wer-den wir es machen. Kümmere dich bitte dar-um! Du kennst dich in den Führungszirkelnder Akademien besser aus als ich. Äh, nureine Frage noch. Wo hast du den Raumjägerhingebracht, mit dem du unterwegs warst?Er muss doch bestimmt überprüft und ge-wartet werden.«

»Er muss demontiert, peinlich genauüberprüft und repariert und dann wieder zu-sammengebaut werden«, berichtete Symalti-noron. »Ich habe ihn zur Weiche 189 ge-schickt, nachdem ich mit Kamoschan allesbesprochen habe. Er sorgt für die General-überholung.«

»Gut!«, erwiderte Symaltin. »Dann bringjetzt den Extoscher unter! Wir sehen unsspäter wieder.«

Sein Sohn stand auf, verneigte sich höf-lich und ging.

5.Atlan

»Katana!« Ich war von dem Bild des Ster-

Der Zorn der Lordrichter 19

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nennebels dermaßen überrascht worden, alswir nach unserem Linearmanöver bei BOY-SCH in den Normalraum zurückgefallen wa-ren, dass ich unwillkürlich einen Vergleichmit etwas Vertrautem gezogen hatte, das tiefin meiner Seele gespeichert lag.

Einen Vergleich mit dem Katana, dem Sa-muraischwert mit der ganz bestimmten ge-schwungenen Form, das ich mehr als einmalgeführt hatte – um zu töten.

Genauso sah aus unserem Blickwinkel derSternennebel aus, der sich weit hinter BOY-SCH in einem fernen Raumsektor abbildete:scharf und gekrümmt, geformt aus dem hel-len Nebel von Sternenstaub, in dem zahlloseSonnen darauf warteten, geboren zu werden.Und mit glühend roten Blutstropfen, die anihm herniederrannen.

Ein Zeichen der Vorsehung?»Du meinst den Sternennebel, Atlan?«,

fragte Carmyn Oshmosh mit seltsam wei-cher Stimme. »Er ist so ähnlich geformt wieein Schwert, allerdings nicht mit geraderKlinge, sondern mit gekrümmter.«

»Er sieht aus wie das Schwert, das der al-te Schmied Munechika im zehnten Jahrhun-dert in Matsuyama schmiedete«, brach esheiser aus mir heraus. »Warum durfte ichnirgends bleiben?«

»Alte Erinnerungen?«, fragte Carmynmitfühlend. »So geht es mir auch manch-mal.«

»Aber mir so oft, viel zu oft«, erwiderteich bitter. »Niemals konnte ich bleiben, woich glücklich war.«

»Niemand kann den Lauf des Schicksalsaufhalten, Atlan«, versuchte die Komman-dantin mich zu trösten.

Ich riss mich zusammen.Nichts, was Vergangenheit war, durfte

mich daran hindern, hier und jetzt meinePflicht zu erfüllen.

»Wir sind da?«, fragte ich.»BOYSCH voraus!«, rief Myreilune und

hob ihren breiten Hintern hoch.»Dort ist es«, stellte Carmyn Oshmosh

fest. In ihrer Stimme schwangen hörbar star-ke Emotionen mit. Offenbar dachte die

Kommandantin der AVACYN an die Zeitzurück, die sie auf den Akademien der Frei-handelszone Susch verbracht hatte. »Sagenwir ›Raumsektor Katana‹, Atlan? Obwohlder Sternennebel nur aus diesem einen ganzbestimmten Blickwinkel als Schwert zu se-hen ist.«

»Einverstanden«, antwortete ich.»Raumsektor Katana voraus!«

Aberglaube!»Starke einfallende Ortungsimpulse!«,

rief Ypt Karmasyn. »Die stärksten kommenaus der Position von BOYSCH. Außerdemwerden wir von zwanzig Großkampfschiffender ABENASCH-Klasse angepeilt, die in ei-nem Nahbereich rings um BOYSCH ste-hen.«

»Logisch«, erklärte ich. »Die Leute sindbeunruhigt und wollen wissen, ob wir ihnengefährlich werden können.«

Um ihre Beunruhigung in Grenzen zu hal-ten, hatte ich entschieden, dass wir nur miteinem kleinen Verband nach BOYSCH flo-gen. Vorerst jedenfalls.

Außer meiner AVACYN waren nur derSammler MITYQINN und ein kleiner Kon-voi von dreißig Jucla-Schiffen, der haupt-sächlich aus Aufklärern bestand, bis in dieNähe von BOYSCH geflogen. Meine Haupt-streitmacht war bei einer namenlosen Sonnein Bereitschaft gegangen und hatte ihreEnergieaggregate heruntergeschaltet, um un-bemerkt zu bleiben. Der betreffende Raum-sektor war von mir mit dem Kodenamen In-schayem benannt worden.

»Hol bitte die Kernstation heran!«, wand-te ich mich an die Chefin von Funk und Or-tung.

»Ich bin schon dabei«, gab Ypt Karmasynzurück.

Im größten Trivideoschirm der AVACYNformte sich hellgrau das dreidimensionaleAbbild eines eiförmigen Gebildes von rundfünfzehn Kilometern Durchmesser. In sei-nem Innern maß unsere Ortung viele waben-förmige Räume sowie starke Energieerzeu-ger.

Diese Kernstation hatte zahlreiche Kon-

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struktionen ausgefahren, die den Andocksta-tionen von früheren Flughäfen glichen. Eswaren so viele, dass sich mir der Vergleichmit einem stachelbewehrten Igel aufdrängte.Sie glichen sich in der Breite, unterschiedensich aber in der Länge. An vielen warenganz außen Raumschiffe unterschiedlicherGröße angedockt. Bei den meisten handeltees sich offenkundig um unbewaffnete Han-delsschiffe. An ihnen spielten sich Be- undEntladungsvorgänge ab. Andere wurde repa-riert oder generalüberholt.

»Das sind die Weichen«, erklärte Osh-mosh. »Es gibt zweihundertzwanzig davon.Sie können bis zu einer Länge von sechs Ki-lometern ausgefahren werden und dienen inerster Linie dem Warenumschlag, aber auchder Wartung oder Instandsetzung vonRaumschiffen. Sie werden aber mit ihrenTransmittern auch zum Personentransportvon und zur Kernstation benutzt.«

»Wir werden per Hyperfunk von derKernstation aus angerufen«, meldete Karma-syn. »Gerichtet natürlich, so dass niemandaußer uns sie empfängt.«

»Sollten wir uns nicht melden?«, fragteMyreilune.

»Ja, aber nicht sofort«, antwortete ich.»Sie sollen erst mal im eigenen Saft schmo-ren, weil sie fürchten werden, wir wolltensie angreifen.«

Ich hatte mir diese Taktik gut überlegt.Natürlich war mir klar, dass das moralischnicht einwandfrei war, aber ich wollte ihnenbeibringen, dass strikte Neutralität in diesenZeiten keinen Schutz bot – und dass sie bes-ser daran taten, sich Freunde zu suchen. Unsbeispielsweise.

»Was wird alles in BOYSCH abge-wickelt?«, wandte ich mich an Oshmosh.

Die Kommandantin sah mich mit ihrendunklen Augen »durchbohrend« an und kne-tete nervös ihre Hände. Logisch: Sie hegtefreundschaftliche Gefühle gegenüber denBetreibern von BOYSCH – und es missfielihr, sie so auf die Folter zu spannen.

Dennoch antwortete sie mir sofort: »Inden Werften von BOYSCH werden Repara-

turen an Schiffseinheiten aller Art erledigt.Auch werden Neubauten auf Kiel gelegt.Vor allem aber wird Handel getrieben, so-wohl mit Waren aller Art als auch mit Infor-mationen. Dazu gibt es eine Informations-börse, in der gegen gutes Geld alles über je-den in Erfahrung gebracht werden kann.«

Ich pfiff vielsagend, was ihr ein verlege-nes Lächeln entlockte.

»Na ja«, sagte sie. »Das mag etwas zwie-lichtig sein, aber es ist auch profitabel. Vorallem aber sorgt es dafür, dass es nur seltenjemand wagt, unsaubere oder betrügerischeGeschäfte abzuwickeln. Er wäre für immergebrandmarkt.«

Gar nicht übel, wisperte mein Extrasinn.So musste es überall gehandhabt werden.

»Es gibt aber auch einen normalen Bör-senbetrieb«, fuhr Oshmosh fort.»Unmoralische Spekulationsgewinne wer-den allerdings nicht geduldet. Geschäftewerden übrigens unter der Sicherheit inter-stellarer Rechtsstaatlichkeit getätigt. Es wirdzudem auch Recht gesprochen, das vonmehr als zweitausend lose, aber dennochverbündeten Planetenregierungen anerkanntwird. Und das unter dem Schirm absoluterNeutralität – die wir verletzen, seit wir hierangekommen sind, bei den Geistern desHalbraums!«

Die letzten Worte hatte sie sehr heftighervorgestoßen, um ihre Entrüstung übermein Verhalten deutlich zu machen.

»In der Absicht, den Leuten in BOYSCHklar zu machen, dass ihre Neutralität derzeiteinen feuchten Lehm … äh, dass es in die-sen unsicheren Zeiten keine Garantien fürNeutrale gibt«, stellte ich fest. »Ypt, stelleeine Richtfunkverbindung zu dieser Kernsta-tion her! Ich werde darum bitten, mit derAVACYN an BOYSCH andocken zu dür-fen.«

Während unsere Funkerin die erforderli-chen Schaltungen vornahm, wies ich überdie permanent stehenden Verbindungen diedreißig Jucla-Schiffe an, wie geplant auszu-schwärmen und Aufklärung zu betreiben.MITYQINN wurde von mir angewiesen,

Der Zorn der Lordrichter 21

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siebenhundert Lichtjahre vor BOYSCH inParkstellung zu gehen und keinerlei Aktivi-täten zu entwickeln, die Anstoß erregenkönnten.

Schließlich kam die Verbindung mitBOYSCH zustande.

Ich sah eine breit und massig wirkendePerson, die ich als einen an eine lebensun-freundliche Umwelt angepassten Takerereinstufte: Sein grobhäutiges, ledern wirken-des Gesicht wurde von einem breiten Mundwie von einem Froschmaul richtiggehendgespalten. Ein grauschwarzer Bart reichtebis zur breiten und vorgewölbten Brust. Aufdem Schädeldach dagegen gab es nur weni-ge Haarsträhnen.

Die Augen sahen gar nicht gut aus. Sieschienen von harthäutigen Lidern fast ver-schlossen zu sein. Die Augäpfel waren vondicken, wulstigen Nickhäuten beinahe ganzverdeckt. Der Mann kam mir vor, als wäreer blind. Aus den beiden großen Nasenöff-nungen ragten dicke, verfilzte Haarbüschel.

Ein umweltangepasster Takerer vom Pla-neten Fortyn, teilte mir mein Extrasinn mit.

Was du nicht sagst, spottete ich, denn ichwar selbst zu dieser Einschätzung gekom-men, obwohl ich bisher nur wenige Forty-nier kennen gelernt hatte.

»Ich heiße Symaltin und bin der Autokratvon BOYSCH«, sagte der Fremde mit dröh-nender Bassstimme. »Und wer bist du, derdu es wagst, unsere Neutralität zu verlet-zen?«

»Mein Name ist Atlan«, antwortete ich.Seit wir vor BOYSCH angekommen warenund mir Oshmosh erklärt hatte, welchegroße Bedeutung diese Station und die ge-samte Freihandelszone Susch für den Han-del und die Zusammenarbeit der Völker vonGruelfin hatten, war mir klar geworden, dassdas für die Lordrichter so bedeutsam war,dass sie wahrscheinlich längst eine Invasiongeplant hatten. »Du weißt natürlich, welchezerstörerischen Umtriebe Gruelfin erschüt-tern, Symaltin. Die Lordrichter und ihreVerbündeten verbreiten durch ihre Aktivitä-ten Furcht und Misstrauen in dieser Galaxis.

Sie werden sich in Kürze auch gegen euchwenden. Ihr seid zu schwach, um euch zuverteidigen. Ich biete euch ein Bündnis ge-gen unsere gemeinsamen Feinde an.«

Der Fortynier schnaubte durch die Nase.»Atlan!«, sagte er abschätzig. »Wer bist

du, weißhaariger Mann? Und wie könnte ichdir vertrauen? Habt ihr doch dreißig Jucla-Schiffe mitgebracht – Juclas, die Herumtrei-ber und Marodeure Gruelfins.«

»Ich bin ein Arkonide und komme aus derGalaxis Milchstraße«, antwortete ich wahr-heitsgemäß und dachte dabei, dass ich michwohl geirrt hatte, als ich den Autokraten fürblind hielt. Wie hätte er sonst sehen können,dass ich weißes Haar habe. »Und ich war einKampfgefährte Ovarons, vor sehr langerZeit, als es wie heute darum ging, für Frie-den in Gruelfin zu sorgen.«

»Ovarons?«, rief Symaltin, von gurgeln-den Geräuschen begleitet. »Dem Ganjo? Dasglaube ich dir nicht, denn das ist so langeher, dass niemand aus dieser Zeit noch lebenkann.«

»Die Zeit ist ein Phänomen«, erwiderteich, denn wenn ich meine relative Unsterb-lichkeit erwähnt hätte, wäre ich dem Forty-nier noch unglaubwürdiger vorgekommen.»Ihre Verschlingungen überschneiden undüberlagern sich mannigfach.«

Du hättest Ovaron noch nicht ins Spielbringen sollen!, raunte mein Logiksektor.

Ich lächelte innerlich, verzichtete aber aufeine Begründung, obwohl ich Ovaron mitBedacht jetzt schon erwähnt hatte.

Symaltin kniff den Mund zusammen. Essah aus, als würde sein Gesicht geteilt. Wie-der schnaubte er durch die Nase, dann sog erdie Luft tief ein. Wahrscheinlich eine in-stinktive Reaktion. Sein Geruchssinn schienstark ausgeprägt zu sein, was ihm über Funknatürlich nichts nützte.

Ich seufzte verstohlen.Der Fortynier wurde mir immer sympathi-

scher. Ich konnte aufgrund meiner mehrtau-sendjährigen Erfahrungen Intelligenzenschnell und sicher beurteilen. Für mich warSymaltin ein »guter Mensch«: ehrlich, bo-

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denständig, von positivem Denken durch-drungen, in positivem Sinne konservativ,grundanständig, pragmatisch und ein wenigstur.

Es tat mir Leid, dass ich ihn unter Drucksetzen musste.

»Ich weiß nicht, wer eure Feinde und wereure Freunde sind«, erklärte Symaltin nachkurzer Denkpause. »Ich erkenne auch keineGemeinsamkeiten zwischen uns.« Er holtetief Luft. »Es ist besser, wenn du von hierverschwindest – du und deine Jucla-Banditen und dieses Monstrum von Riesen-schiff, das du BOYSCH vor die Nase gesetzthast.«

»Das, was du Monstrum nennst, ist einSammler«, sagte ich bedeutungsvoll.

»Es gab diese Schiffe schon in ferner Ver-gangenheit.«

»Das weiß ich!«, gab der Fortynier barschzurück. »Ich stufe dieses Monstrum trotz-dem als eine Bedrohung ein.«

Er kam mir entgegen, ohne es zu ahnen.Es war meine Absicht gewesen, dass man inBOYSCH den Sammler als Bedrohung ein-stufte. Das würde die AVACYN als wenigergefährlich erscheinen lassen. Und es gab mirdie Möglichkeit, einzulenken.

»Wenn du MITYQINN für bedrohlichhältst, ziehe ich ihn zurück«, erklärte ich.»Mir würde es genügen, wenn ich mit mei-ner AVACYN an BOYSCH andocken dürf-te.«

»Abgelehnt!«, beschied mich Symaltinschroff. »Wir sind absolut neutral. Deshalbwerde ich hier niemanden dulden, der für ir-gendeine kriegerische Macht Partei er-greift.«

»Wir ergreifen Partei für den Frieden«,erklärte ich und winkte Carmyn Oshmosh zumir – in den Aufnahmebereich der Funkver-bindung zwischen uns und BOYSCH. »Oderzweifelst du daran, dass jemand, der auf ei-ner eurer Akademien erzogen und ausgebil-det wurde, für den Frieden in Gruelfin ist?«

Symaltin öffnete seinen Mund – undschloss ihn mit lautem Klacken wieder.

»Carmyn Oshmosh!«, gurgelte er und

fuchtelte mit den tellergroßen Händen vorseinem Gesicht herum. »Unser Wunderkind!Viele haben dich früher unterschätzt, aberich wusste immer, dass du deinen Weg ma-chen würdest. Bist du die Kommandantinder AVACYN?«

»Ja, das bin ich«, antwortete die Ganjasinbescheiden. »Und ich versichere dir bei demEid, den ich auf die Ziele von BOYSCH ge-schworen habe, dass Atlan auf unserer Seitesteht. Aber er braucht bei seinem Kampf ge-gen die Lordrichter und ihre Mordgesellenalle Unterstützung, die möglich ist. Von dirbraucht er vor allem Informationen. Ich bittedich, ihm zu vertrauen und unser Schiff an-docken zu lassen.«

»Unmöglich!«, gurgelte er. »Ich glaubedir, aber ich würde gegen die Regeln derNeutralität verstoßen, wenn ich euch hierandocken ließe. Dann wäre der Frieden ge-fährdet. Die besondere Integrität der Frei-handelszone ist seit Jahrzehnten fester Be-standteil cappinscher Lebenskultur. Nie-mand, ich betone, niemand, würde es auchnur in Betracht ziehen, diesen Ort des fried-lichen Handels, der Forschung und derHochtechnologie zu attackieren.«

Ich musste an mich halten, um angesichtsdieser Naivität nicht aus der Haut zu fahren.Aber ich war darauf vorbereitet und nickteder Kommandantin zu, damit sie Symaltinweiter bearbeitete. Ihr vertraute er ganz of-fensichtlich.

Und sie berichtete, wie wir abgesprochenhatten, was bei Eptascyn, dem friedlichenVersammlungsort der Jungen Clans, gesche-hen war. Sie spielte Bild- und Tonmaterialab, das wir zusammen mit Abenwosch-Peca-yl 966. aufgenommen hatten, um die Unta-ten der Zaqoor zu dokumentieren – und siespielte die Hilferufe ab, die wir unter ande-rem vom Planeten D'Oranon empfangen hat-ten.

Ich sah, wie der Widerstand des Autokra-ten aufgeweicht wurde – und als CarmynOshmosh an ihn appellierte, wenigstens dieAVACYN andocken zu lassen und in denPositroniken von BOYSCH nach Informa-

Der Zorn der Lordrichter 23

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tionen über alles suchen zu lassen, was mitBegriffen wie Lordrichter, Schwert der Ord-nung, Dwingeloo, Flammenstaub und ver-wandten Dingen zusammenhing, gab er end-lich nach.

»Ich erteile für die AVACYN Andocker-laubnis für die Weiche fünfundsechzig«, er-klärte er. »Aber nur unter der Bedingung,dass der Sammler zurückgezogen wird unddass die Aufklärer der Juclas sich BOYSCHnicht weiter als zweihundert Lichtjahre nä-hern.«

»Das akzeptiere ich«, versicherte ich ihm.»Ich hoffe sehr, wir könnten nach dem An-docken in persönlichen Kontakt treten.«

»Ich denke darüber nach«, sagte Symaltinungewöhnlich leise.

6.Symaltin

Nach dem Funkkontakt mit Atlan unddem Gespräch mit Carmyn Oshmosh saß derFortynier lange Zeit reglos in seinem Sessel.

»Ich weiß nicht, was ich davon haltensoll«, sagte er im Selbstgespräch.

»Der Fremde gehört einer unbekanntenSpezies an. Er sagte ja selbst, dass er aus ei-ner anderen Galaxis kommt – aus der Gala-xis Milchstraße. Andererseits hat er so of-fenkundig Charisma, als wäre er von denGöttern gesandt. Oder als wäre er ein Abge-sandter Ovarons, den es ja noch immer ge-ben soll.«

Er schrak zusammen, als sich einer seinerkleineren Trivideokuben vor ihm erhellte.

Darin war plötzlich das Gesicht Samp-taschs zu sehen, so deutlich, als wäre siekörperlich präsent. Symaltin hielt für einenMoment die Luft an. Immer wenn er Samp-tasch begegnete – und sei es nur im Video-kubus –, fühlte er eine deutliche Ahnungvon etwas Höherem. Er erklärte es sich da-mit, dass Samptasch als Ganjo-In-terpretatorin etwas von dem unvergängli-chen Seelenatem Ovarons ausstrahlte.

»Hohe Interpretatorin!«, rief der Fortynierrespektvoll und erschrak, als sein Mund ei-

genmächtig ein lautes Schmatzen intonierte.»Großer Autokrat!«, sagte Samptasch mit

einem Anflug von Ironie. Dennoch wirktesie irgendwie gehetzt »Hast du mir etwas zuberichten?«

»Ich wollte mich gerade mit dir in Ver-bindung setzen«, erklärte Symaltin. »Es istetwas geschehen, was mich beunruhigt. Einganjasisches Schiff der NAMEIRE-Klasseist vor der Station angekommen und hat dar-um gebeten, andocken zu dürfen.«

»Das Schiff hat darum gebeten?«, fragteSamptosch ironisch.

»Nein, natürlich nicht das Schiff, sondernein Arkonide namens Atlan – und mit ihmist Carmyn Oshmosh gekommen, die in un-seren Akademien ausgebildet wurde.«

»Ein Arkonide ist es also …!«, flüstertedie Interpretatorin heiser. »Hat er behauptet,ein Vertrauter Ovarons zu sein?«

»Ein ehemaliger KampfgefährteOvarons«, korrigierte Symaltin unsicher.

»Du hast also Zweifel daran, dass dieserAtlan die Wahrheit sagt«, stellte Samptaschfest. »Sie sind berechtigt. Wenn sich jemandauf den Ganjo berufen darf, dann bin ichdas. Oder hast du vergessen, dass diesesganze System, wie es auf BOYSCH und derFreihandelszone Susch herrscht, auf denRatschlägen Ovarons beruht, die du von mirerhalten hast?«

»Selbstverständlich nicht«, versicherteSymaltin. »Du allein verkörperst das Restbe-wusstsein Ovarons und kannst den Willendes Ganjos interpretieren.«

»Gut!«, sagte Samptasch. »Dann bleibeauf Distanz zu Atlan und höre nicht auf sei-ne Ratschläge! Nur Ovaron ist der Ganjo –und ich bin seine Prophetin.«

Symaltin knirschte mit seinen Zahnstum-meln und wand sich vor Verlegenheit. Er at-mete befreit auf, als er sah, dass der Trivi-deokubus dunkel geworden war und sichSamptasch zurückgezogen hatte.

»Nur Ovaron ist der Ganjo – und ich binseine Prophetin«, wiederholte er die letzteAussage der Interpretatorin, denn er wolltesie sich einprägen.

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Er zweifelte nicht daran. Nur wunderte ersich ein wenig darüber, dass Samptasch soablehnend gegenüber Atlan eingestellt war.Seiner Meinung nach hätte sie eigentlichüber die Ankunft Atlans erfreut sein müssen,denn wenn auch nur ein Hauch von Ovaronan dem Arkoniden war, wäre es nur logischgewesen, wenn sie versuchen würde, mitihm in Kontakt zu treten.

Symaltin verspürte zum ersten Mal denWunsch, keine Verantwortung für das Wohlund Wehe der Freihandelszone Susch tragenzu müssen …

7.Atlan

Ich verfolgte in der Hauptzentrale derAVACYN das Docking-Manöver und beob-achtete dabei ganz genau die von der Ortung»herangeholten« Details der KernstationBOYSCH.

Alles klappte wie am Schnürchen, wieTerraner zu sagen pflegten. Die halb ausge-fahrene Weiche, an der wir andockten, warnur eine von zahlreichen Weichen. Überallringsum fuhren solche Andockstationen imZeitlupentempo vor und zurück. Auf vielenschwebten Container voller Güter zu den of-fenen Schleusen von Handelsschiffen, wäh-rend auf anderen Weichen beladene Contai-ner in die offenen Mäuler der Kernstationglitten. Andere Weichen, die in Größe undForm verschieden waren, beförderten Raum-fahrer und Passagiere von und zu ihrenSchiffen.

»Da staunst du, was?«, fragte Myreilune.Ich sah der Pilotin mit den hellblauen

Kontaktlinsen und dem stark geschminktenGesicht an, wie stolz sie darauf war, dass siehier ihre Ausbildung zur Raumfahrerin ab-solviert hatte.

»Ich bin wirklich beeindruckt«, gab ichzu.

»Man traut uns nicht über den Weg«, riefYpt Karmasyn und deutete auf die Bildflä-chen der Hyperortung.

Ich lächelte nur.

Auf zwei Bildflächen waren eiförmigeRaumschiffe zu sehen, die nahe der Stationpatrouillierten. Es waren Großkampfschiffeder ABENASCH-Klasse, achthundert Meterlang und mit modernsten Angriffs- und Ab-wehrsystemen ausgerüstet. Eines allein hätteunsere AVACYN »hinwegpusten« können.

Doch meine Erheiterung war von kurzerDauer. Ich brauchte mir nur vorzustellen,wie Hunderte feindlicher Schiffe in die Frei-handelszone Susch einbrachen. Die zwanzigGroßkampfschiffe von BOYSCH würden inkonzentrischem Feuer vergehen. Sie hättengegen die Übermacht keine Chance.

Ich hoffte, dass es nie so weit käme, aberich war auch auf einen solchen Fall vorbe-reitet. Mein Funkbefehl an Florymonthis,sich zum Sammelplatz Inschayem zurückzu-ziehen, war in Wahrheit die vereinbarte ko-dierte Anweisung, die Umgebung der Frei-handelszone intensiv zu überwachen und je-derzeit zur Abwehr einer Invasion bereit zusein. Was kriegerische Handlungen anging,hatte ich eine so umfangreiche Ausbildungund so viele Erfahrungen gesammelt, dassich immer auf alles vorbereitet war.

Der Ewige Krieger!, meldete sich der Ex-trasinn.

Ich zuckte nur die Achseln.Ich musste tun, was getan werden musste.

Natürlich würde ich lieber den Sonnenunter-gang auf einem paradiesischen Planeten be-obachten, zusammen mit einer bezaubern-den Frau, deren Augen mir nächtliche Freu-den versprechen, und mit anregender Musik,feinsten Speisen und goldenem Wein …

Ich riss mich zusammen.Mir war ja nicht einmal klar, ob Flory-

monthis sich tatsächlich nach meinen Wei-sungen richten würde. Ich konnte es nur hof-fen. Notfalls würden die 42.000 Kampf-schiffe der Juclas unter dem Oberbefehl vonAbenwosch-Pecayl 966. BOYSCH alleinverteidigen müssen. Was ihnen furchtbareOpfer abverlangen würde.

Die Juclas sind definitiv das unglücklich-ste cappinsche Volk, wisperte mein Extra-sinn. Ich nickte unwillkürlich. Die Juclas

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waren wirklich arm dran.Mir kam ein Gedanke, aber ich versenkte

ihn sofort wieder in die Tiefe meines Be-wusstseins.

Nicht schlecht!, meinte der Extrasinn.Aber noch nicht genügend durchdacht.»Anruf!«, meldete Ypt Karmasyn.

»Jemand verlangt dich zu sprechen, Atlan.«»Dann gib ihn rüber!«, erwiderte ich.Der kleine Bildschirm an meinem Pult

leuchtete auf. Das Gesicht eines Fortynierserschien darin. Schon wollte ich den neuenGesprächspartner mit Symaltin ansprechen,als mir auffiel, dass das Gesicht im Kubuserheblich schmaler war als das des Autokra-ten – und dass das, was vom Oberkörper zusehen war, mit einer Art Overall bekleidetwar.

»Ich grüße dich!«, sagte er mit gutturalerStimme, aber ohne die glucksenden undschmatzenden Nebengeräusche Symaltins.»Mein Name ist Symaltinoron. Du bist At-lan?«

»Symaltinoron?«, entfuhr es mir. »Alsoder Sohn des Symaltin.«

Ich fragte mich, wie er mich sah. SeineAugen schienen genauso zugeschwollen zusein wie die seines Vaters.

Was du den Autokraten nicht fragen woll-test, den Sohn darfst du fragen, ohne gegendie Etikette zu verstoßen, bemerkte mein Ex-trasinn.

Es geht nichts über einen Flaschengeist.Schutzengel!, korrigierte mich der Logik-

sektor.»Worüber denkst du nach, Atlan?«, fragte

Symaltinoron. Er war also ein guter Beob-achter.

»Deine Augen«, antwortete ich freiheraus.»Ich bemerkte es schon bei deinem Vater.Sie sehen verschwollen oder zugewachsenaus. Anscheinend hat das mit eurer Um-weltanpassung zu tun. Aber könnt ihr denndamit überhaupt sehen?«

Symaltinoron prustete erheitert durch diegroßen, verfilzten Nasenlöcher, die man ei-gentlich »Nüstern« nennen konnte.

»Wir können sehr gut damit sehen«, er-

klärte er. »Erstens infolge natürlicher An-passung und zweitens durch spezielles Trai-ning. Das Licht fällt durch die schmälstenRitzen.« Er prustete abermals.

Ich verspürte Sympathie. Er war bestimmtnicht so stur wie sein Vater. Möglicherweiseerleichterte das meine Aufgabe.

»Danke für den Willkommensgruß, Sy-maltinoron«, sagte ich. »Ich bin sehr froh,dass du mir dabei helfen willst, meine Missi-on zu erfüllen.«

»Das kommt darauf an, was das für eineMission ist, Atlan«, erwiderte er höflich.»Ich muss dir leider sagen, dass alles, wasgegen die Neutralität BOYSCHS und derganzen Freihandelszone verstieße, wedervon mir noch von sonst wem hier unterstütztwürde.«

Das war offen und geradeheraus – undundiplomatisch. Ich hätte gern genausogeantwortet, aber dann würde ich mir nurselbst eine Mauer aufbauen.

»Das ist gut«, erklärte ich deshalb. »Ichdenke, wenn ich um Zugang zur Informati-onsbörse bitte, verstößt das nicht gegen eureNeutralität.«

»Das denke ich auch«, antwortete derFortynier. »Worum geht es dir, Atlan?«

»Ausschließlich um frei zugängliche Da-ten«, antwortete ich. »Vor allen Dingen umalles, was mit den Lordrichtern, demSchwert der Ordnung und Dwingeloo zu tunhat.« Dass ich auch nach Informationen überden Flammenstaub suchte, verschwieg ichlieber.

»Alles, was frei zugänglich ist, wird auchdir zugänglich sein«, versicherte Symaltino-ron.

Er verzog das derbhäutige Gesicht, wasseinen Mund noch mehr in die Breite klaffenließ. Ein Lächeln.

»Keine Sorge, Atlan«, erklärte er. »AlleDaten sind frei zugänglich – bis auf einigewenige, die als GEHEIM eingestuft sind.«

Wie auf Arkon und überall in diesem Uni-versum!, spottete der Extrasinn.

Wir werden sehen.»Wann können wir die Informationsbörse

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aufsuchen?«, fragte ich den Sohn des Auto-kraten. »Ich nehme an, du wirst mich beglei-ten.«

»Das werde ich«, bestätigte er. »Ich wer-de euch an der Bodenschleuse eures Schiffeserwarten.«

Ich fing einen bittenden Blick der Kom-mandantin auf und nickte.

»Ich komme in Begleitung meinerSchiffskommandantin«, teilte ich Symaltino-ron mit. »Carmyn Oshmosh heißt sie – undsie dürfte in BOYSCH wie zu Hause sein.«

Der junge Mann lächelte abermals.»Sie ist willkommen. Ich weiß Bescheid,

dass sie hier ausgebildet wurde.«»Aha!«, erwiderte ich. Demnach hat der

Junge sich besser vorbereitet, als ich dachte.»Also, bis gleich!«

*

Die Informationsbörse von BOYSCH wareine Überraschung.

Insgeheim hatte ich erwartet, einen ge-heimnisumwitterten Ort in einem mehrfachabgesicherten Sektor der Kernstation zu fin-den. Stattdessen führte mich Symaltinoronin eine Halle, die sich in beinahe nichts vonder Informationsbörse auf einer Großhan-delswelt unterschied und anscheinend für al-le Interessenten frei zugänglich war.

Tausende Anschlüsse von Positronikenbeziehungsweise einer Zentralpositronik zo-gen sich in konzentrischen Reihen durch ei-ne Kuppelhalle von zirka dreißig MeternHöhe und einem Durchmesser von vierhun-dert Metern. Über ihnen leuchteten ebensoviele Trivideo-Projektionen, die teils dunkelwaren, teils flimmernde und huschende Da-ten zeigten, die von zahlreichen Gruppenvon Ganjasen, Takerern und Angehörigenanderer Volksgruppen aus Gruelfin abgeru-fen beziehungsweise bearbeitet wurden. DieGeräusche, die dabei entstanden, erinnertenan das Donnern der Flut.

»Das ist ja wie in einem Bienenstock!«,entfuhr es mir.

»Bienenstock?«, wollte Symaltinoron

wissen.Ich erklärte es ihm.Er lachte.»Wir bekommen selbstverständlich einen

separaten Zugang, Atlan.«Er führte Carmyn und mich über Durch-

gänge zwischen mehreren Anschlussreihenzu einem kleinen Sektor, über dem keineProjektionen leuchteten.

Nachdem er ein Kodewort aufgesagt hat-te, bauten sich drei Trivideo-Projektionenüber dem Anschlusspult auf.

»Jetzt könnt ihr eure Fragen stellen!«,sagte Symaltinoron.

Er schaltete mit einem schmalen Arm-bandgerät eine schalldichte Separationszoneein. Schlagartig wurde es still.

Ich zögerte ein paar Sekunden, denn dieEingabeschaltungen kamen mir fremdartigvor.

Carmyn Oshmosh lachte erheitert undlehnte sich an meine rechte Schulter.

Ich widerstand der Versuchung, meinenArm um sie zu legen, und wunderte michdarüber, dass ich plötzlich mehr als nurSympathie für die schwarzhaarige Ganjasingespürt hatte. Einbildung, Arkonhäuptling!,dachte ich selbstironisch.

Du bist ein Mann – und sie ist eine Frau!,stellte der Extrasinn lakonisch fest.

Unwillkürlich versteifte ich mich und at-mete unauffällig auf, als Carmyn wieder vonmir abrückte. Es war wohl doch nur eine zu-fällige Bewegung gewesen, vielleicht einimpulsives Empfinden angesichts meinesZögerns vor den unbekannten Schaltungen.

Ich schloss für einen kurzen Moment dieAugen. Als ich sie wieder öffnete, war ichbereit, mich auf meine Arbeit zu konzentrie-ren.

Bald befand sich mein Bewusstsein in dergeheimnisvollen Welt der hiesigen Positro-niken. Anders ließ sich nicht beschreiben,was mit meinem Geist geschah, während erin rascher lautloser Folge in ein Meer vonInformationen – Bilder, Daten und Formeln– eintauchte und sich suchend darin herum-trieb.

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Ich ließ mich dabei hauptsächlich vonStichwörtern wie »Lordrichter«, »Schwertder Ordnung«, »Dwingeloo« und»Flammenstaub« leiten.

Doch obwohl die Speicher unendlich vie-le Informationen bargen, kam ich einfachnicht nahe genug an das heran, was michbrennend interessierte.

Immerhin bekam ich eine dreidimensiona-le Karte jener Gebiete überspielt, in die dieZaqoor und Takerer während der letzten Ta-ge eingefallen waren. Ich erfuhr, dass es denInvasoren dabei auch um die Suche nach In-formationen ging. Sie interessierten sichdemnach besonders für Morschatztas (ein al-tes Rückzugsgebiet der Ganjasen), dieHauptwelten der Wesakenos, strategischwichtige Knotenpunkte im Geflecht der be-wohnten oder nur bekannten SonnensystemeGruelfins, um Planeten mit einer überdurch-schnittlichen Fülle von Rohstoffen, um wirt-schaftsstrategisch wichtige Handelsweltenund um einsam durchs All treibende Aste-roiden voller 6-D-Kristalle.

Das alles war zwar interessant, aber esverriet mir nichts Entscheidendes über dieMotivation, die hinter den von den Lordrich-tern gesteuerten Aktionen steckte.

Nach ein paar Stunden erst schrak ich auf.Ich hatte, halb vor mich hin dämmernd in

der wahnsinnigen Flut nebensächlicher In-formationen, einen extrem hell markiertenPunkt in der 3D-Projektion der Karte ent-deckt.

Augenblicklich ahnte ich, dass ich endlichetwas überragend Wichtiges gefunden hatte.

Es handelte sich dabei um die Positiondes Sonnensystems Absamoyn, einer Sonneder Spektralklasse G7, die von sieben Plane-ten umkreist wurde. Von diesen sieben Pla-neten war nur die Nummer drei namens Ex-tosch kolonisiert, eine Welt mit einerSchwerkraft von 1,2 Gravos und erdähnli-chen Umweltbedingungen. Ein einzigerMond, Gash, umkreiste Extosch auf einerkünstlichen Bahn, die der Stabilisierung derDrehachse des Planeten diente.

Diese Angaben waren natürlich bloß mit

nüchternen Daten dokumentiert; die Verglei-che mit Terra stellte nur ich an – und wun-derte mich hinterher, warum ich zum Ver-gleich nicht Arkon herangezogen hatte.

Weil du dich den Terranern stärker ver-bunden fühlst als den Arkoniden, du heimat-loser Vagabund!, wisperte der Extrasinn ein-dringlich.

Extosch!Es war dieser Name, der mich alarmierte.Und dann kam der Hammer. Denn die

Zaqoor und Takerer hatten ganz gegen ihresonstige Vorgehensweise anscheinend dar-auf verzichtet, Extosch zur Kapitulation zuzwingen, um danach die Bevölkerung zuversklaven.

»Aber was hatten sie dann dort gewollt?«,überlegte ich laut, denn ich wusste zufällig,dass Extosch eine mythologische Bedeutungfür die Gesamtheit der Cappins besaß.

Ich erfuhr, dass sich die Erfüllungsgehil-fen der Lordrichter mit brutaler Gewalt Zu-gang zur unterirdischen Mythotek verschaffthatten, nachdem sie das Mythoseum ohneRücksicht auf das Leben seiner Besucherzerstört hatten.

»Das ist es!«, rief ich.»Was ist es?«, fragte Symaltinoron und

musterte die im Trivideokubus leuchtendenDaten.

»Extosch!«, erklärte ich. »Die Feinde sindmit Extosch völlig anders umgesprungen alsmit den anderen Welten, die sie okkupierten.Offenbar hatten sie es nicht darauf abgese-hen, die Bevölkerung zu versklaven, son-dern waren hauptsächlich an der Mythothekinteressiert.«

»Das ist richtig«, sagte Symaltinoron.»Das ist richtig?«, wiederholte ich ver-

wundert. »Woher weißt du das?«»Ach so!«, rief der junge Mann. »Das ist

ganz einfach. Einer der obersten Mitarbeiterder Mythothek hat es uns berichtet, ein ge-wisser Persenpo Zasca, den ich aus Raumnotrettete und mit hierher brachte.«

Ein Wink des Schicksals, kommentierteder Extrasinn.

»Du hast ihn aus Raumnot gerettet?«, ver-

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gewisserte ich mich. »Aber wieso ausRaumnot? Hat er denn von Extosch fliehenkönnen?«

»Sozusagen«, erklärte Symaltinoron mitdem für Fortynier breiten Lächeln. »Auf Ex-tosch beziehungsweise in der dortigen My-thothek muss es beim Eindringen der Feindezu verschiedenen Versuchen gekommensein, Transmissionen durchzuführen: teilsdurch die Extoscher verursacht, die den An-greifern eine Rematerialisierung nach einemTransmitterdurchgang verwehren wollten,und teils durch die Transmitterschaltungender Angreifer. Zasca wurde durch eine Fehl-transmission in das System der grünen Son-ne Irmanglide verschlagen und auf dem Pla-neten Cranicorr rematerialisiert. Ich befandmich zu der Zeit mit einem Forschungsauf-trag dort und geriet zeitweise in die Wieder-verstofflichungswirren hinein. Ich hatteGlück und kam mit dem Schrecken davon –und rettete Zasca.«

»Symaltinoron!«, rief ich laut. »Hast dudiesen Zasca nach BOYSCH gebracht?«

»Ja«, antwortete der Fortynier auf meineFrage. »Worüber regst du dich so auf, At-lan?«

»Persenpo Zasca ist wahrscheinlich derSchlüssel zur Motivation der Lordrichter«,antwortete ich. »Ich muss ihn sprechen. So-fort!« Tatsächlich tränten meine Augen, einsicheres Zeichen großer Erregung: Die Spurwar kochend heiß.

»Ich denke, das lässt sich arrangieren«,meinte er. »Mal sehen, wo er zurzeit steckt.Soviel ich weiß, wollte er bei gewissen poli-tischen Foren auf BOYSCH vorstellig wer-den, um Hilfe für Extosch zu erbitten. Wo-mit er selbstverständlich kein Glück habenwird. Wir üben strikte Neutralität.«

Er schaltete ein Armbandgerät ein undsprach mit mehreren Abteilungen innerhalbvon BOYSCH, dann wandte er sich wiederan mich und sagte: »Ich weiß jetzt, wo Zas-ca ist. Wenn du möchtest, bringe ich dichhin.«

»Ich wäre dir sehr dankbar«, antworteteich mühsam beherrscht.

8.Symaltin

Der Autokrat schrak unwillkürlich zu-rück, als ihm in dem zum Ovaron-Saal füh-renden Korridor plötzlich Samptasch aus ei-ner Nische entgegentrat.

»Entschuldige bitte, Ganjo-Inter-pretatorin!«, sagte er, nachdem er sich wie-der gefangen hatte. »Ich bin in Eile. DasKonsortium ist zu einer Sitzung zusammen-getreten.«

Samptasch stampfte mit ihrem Stab auf.»Deshalb habe ich hier auf dich gewartet,

Symaltin. Ich habe erfahren, dass einKampfschiff der Ganjasen bei uns ange-dockt hat und dass ein Fremder namens At-lan auf ihm den Ton angibt.

Dieser Atlan mischt sich in unsere Ange-legenheiten ein. Er trifft sich zurzeit mit ei-nem führenden Mitglied der Mythotek vonExtosch – und er versucht, deinen Sohn fürseine finsteren Ziele zu gewinnen.«

Symaltin wurde ärgerlich. Er versuchte,sich an der alten Frau vorbeizudrängen, abersie verstellte ihm jedes Mal den Weg.

»Du wirst mir jetzt zuhören, Autokrat!«,giftete sie und hieb mit ihrem Stock durchdie Luft. Allerdings so, dass sie Symaltinnicht treffen konnte. »Einzig und alleinOvaron ist der Ganjo – und er spricht ausmeinem Mund zu dir. So war es immer –und nur so konnte die FreihandelszoneSusch aufgebaut werden und die KernstationBOYSCH entstehen. Ich erlaube dir nicht,das alles zu gefährden, indem du diesem At-lan die Einmischung in unsere Angelegen-heiten gestattest.«

»Aber das tue ich ja gar nicht!«, wider-sprach der Autokrat und trat von einem Fußauf den anderen.

»Dann rufe deinen Sohn zurück!«, befahldie Interpretatorin – und schaumiger Spei-chel spritzte auf ihre Kleidung. »Und ver-hindere, dass dieser Extoscher die führendenLeute der Station mit seinen Schauerge-schichten bedrängt! Notfalls lass ihn ver-

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schwinden!«»Was?«, rief Symaltin entsetzt.Doch da hatte sich Samptasch schon wie-

der in die Nische zurückgezogen – und waranscheinend durch die dahinter befindlicheTür verschwunden …

9.Atlan

»Das ist der mit der roten Kutte«, sagteSymaltinoron und zeigte mit einer Kopfbe-wegung auf eine Gruppe von Frauen undMännern, in deren Mitte ein stämmiger Gan-jase stand und irgendeine These vortrug.

»Es ist ganz leicht«, erklärte er. »DerAufenthaltsort Gottes lässt sich durch trigo-nometrische Berechnungen lokalisieren.«

»Dann hast du Gott schon gesehen?«,fragte einer seiner Zuhörer.

»Gott kann man nicht sehen«, belehrte ihnPersenpo Zasca. »Alles, was man erreicht,ist, sich den jeweiligen Aufenthaltsort gei-stig verinnerlichen zu können.«

»Das ist ja ein richtiger Schlauberger«,kommentierte ich den offenkundigen Blöd-sinn. »Hoffentlich hat er nicht nur solche Irr-läufer in seinem Gehirn.«

In diesem Augenblick sah Zasca uns; je-denfalls erkannte er seinen Lebensretter wie-der. Freudestrahlend kam er auf uns zu.

Symaltinoron stellte uns gegenseitig vor,dann sagte er: »Atlan kann dir vielleicht hel-fen. Aber dazu braucht er gewisse Informa-tionen von dir.«

»Nur zu!«, rief der Extoscher. »Was willstdu wissen, Atlan?«

»Die Invasoren, die eure Mythothek über-fielen, haben im Auftrag der Lordrichter ge-handelt«, erläuterte ich erst einmal. »Siemüssen bei euch ganz bestimmte Informa-tionen gesucht haben. Kannst du mir etwasdarüber sagen?«

Zasca runzelte die Stirn und fuhr sich mitder flachen Hand über das Dakkardreieckauf seiner Schädelplatte.

Ob er wohl etwas darüber weiß, dass esvor langer Zeit mal einen Dakkar-

Tastresonator gab, mit dessen Hilfe die Ter-raner mit ihrem Nullzeit-Deformator tief indie Vergangenheit vorstießen, wo sieOvaron fanden? Das alles hatte die Ge-schichte zweier Galaxien und ihrer Völkertiefgreifend beeinflusst.

»Suche kann man das nicht mehr nennen.Eine sinnlose Orgie der Gewalt und der Zer-störung«, antwortete er langsam, als mussteer sich jedes Wort überlegen, bevor er esaussprach. »Es war ein Alptraum. Sie sindauf brachialste Weise vorgegangen. Uner-setzliche Schätze sind rücksichtslos zerstörtworden. Sie töteten …« Er brach ab.

»Persenpo, ich kann sehr gut nachempfin-den, dass es ein fürchterlicher Schock fürdich gewesen sein muss mitzuerleben, wieMitarbeiter und Freunde ermordet wurden.Vor nicht allzu langer Zeit war ich selbstZeuge eines erbarmungslosen Massakers je-ner Zaqoor. Um diese gemeine Bande zustoppen, ist es von großer Wichtigkeit zuwissen, wonach genau sie dort gesucht ha-ben!« Ich drückte Zascas Arm.

»Wir befürchteten, dass sie es auf unserwertvollstes Stück abgesehen hatten, denHochenergietresor mit dem Wuthana-Dos-sier, aber …«

Mir schwindelte bei dem Gedanken, waswohl dabei herauskommen würde. Ich hattedie dunkelsten Ahnungen, die mir jemalsuntergekommen waren. Ich riss ihm fast denArm heraus, so fest zog ich an ihm. Zascaschien es nicht zu spüren.

»… aber sie ignorierten ihn und hieltenauf einen abgelegenen Datenkiosk zu. Darinwurden uralte Fundstücke verwahrt, mit de-nen sich selbst Symbilasch nur ansatzweisebefasst hatte.«

»Was sind das für Fundstücke, PersenpoZasca?«

»Atlan!«Plötzlich wurde ich in die unmittelbare

Realität zurückgerissen.Carmyn Oshmosh!Gleichsam durch grauen Nebel kehrte

mein Bewusstsein in die Gegenwart zurück.Ich sah die Kommandantin der AVACYN

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vor mir stehen – und neben ihr Symaltinoronund Persenpo Zasca.

»Carmyn?«, flüsterte ich – noch nichtganz Herr meiner Stimme.

»Vollalarm!«, schrie sie mir zu – laut,aber doch beherrscht, wie es sich für dieKommandantin eines Raumschiffs gehörte.»Florymonthis meldet feindliche Kampfver-bände, die in Pulks zu durchschnittlich hun-dert Einheiten aus dem Linearraum kom-mend in den Normalraum zurückfallen. Ent-fernung zu BOYSCH zwischen sechshun-dert und vierhundertdreißig Lichtjahren. Siesammeln sich offenkundig zum letztenSprung vor dem Angriff.«

Schlagartig war ich wieder voll da.Schließlich war ich nicht nur für die Arbeitals Chefstratege eines arkonidischen Admi-ralstabs ausgebildet worden, sondern hatteals Kommandeur von Raumflotten allerGrößenordnungen zahllose Raumschlachtengeschlagen.

Einmal ein Krieger – immer ein Krieger!Ganz automatisch aktivierte ich mein

Kommandoarmband und stellte die selbst-verständlich hochkodierte Hyperkomverbin-dung zu Florymonthis her, die das Gigan-traumschiff MITYQINN befehligte.

In der Zwischenzeit instruierte ich denExtoscher darüber, was ich suchte, und batihn darum, der Sache nachzugehen, währendich mich um die Vorbereitungen der Raum-schlacht kümmerte.

Gleich darauf erschien in dem flachenHoloschirm die – verkleinerte – Abbildungeines vier mal sechs Meter großen Mon-strums mit kugelförmigem Körper, tonnen-förmigen Beinen und zwei kurzen, dickenArmen, die aus der Mitte des Körpers her-vorragten. Der große runde Kopf saß direktauf den breiten Schultern. Ballförmige Au-gen hingen an Tentakeln einen halben Meterweit heraus. Das breite, fischähnliche Maulbefand sich unter der flachen, wie platt ge-schlagen aussehenden Nase. Die syntheti-sche grüne Haut hing in wellenförmigen»Speckfalten« am Körper.

»Position?«

Florymonthis antwortete mir mit brummi-ger, tiefer Stimme. Sie nannte mir die Koor-dinaten des Sammlers. Seine Entfernung zuBOYSCH betrug danach knapp dreihundertLichtjahre. Seine Ortungstaster überstricheneine Raumkugel von mindestens tausendLichtjahren Durchmesser. Das war natürlichnicht die maximale Reichweite.

»Hast du Verbindung zu Abenwosch-Peca-yl 966.?«, fragte ich.

»Permanent«, gab das Monstrum zurück.»Er ist ein lieber Kerl. Aber ich bin auchganz lieb – und völlig harmlos. Atlan, ichbrauche deine Hilfe. Die Hauptpositronikdes Sammlers muss ersetzt werden.«

»Das habe ich dir versprochen – und ichhalte meine Versprechen«, erklärte ich ge-duldig. Mit Florymonthis musste man Ge-duld haben, wenn man etwas erreichen woll-te.

»Ja, ich glaube dir, prachtvoller Mann!«,antwortete das Monstrum überschwänglich.»Was kann ich für dich tun?«

»Vernetze mich mit Abenwosch-Pecayl966.! Danach fliege mit der MITYQINN bisdicht vor BOYSCH zurück und informiereden Krand'har der Vereinigten Jucla-Flottendarüber! Bist du bereit, auf meinen Befehlhin den Kampf mit den Invasoren aufzuneh-men und dich nach allen meinen Befehlenzu richten?«

»Ich werde tun, was notwendig ist«, gabFlorymonthis zurück. »Ansonsten bin ichnur Ovaron gegenüber verantwortlich.«

Immerhin befolgte Florymonthis meinenBefehl, mich mit Abenwosch-Pecayl 966. zuvernetzen, und schaltete eine kodierte Ver-bindung zwischen seiner TIA und der AVA-CYN.

Ich fühlte mich gleich viel besser, als ichden Jucla sah. »Hat Florymonthis dich überdie Lage unterrichtet?«

Er grunzte und klapperte ungeduldig mitden Zähnen.

»Du fragst zu viel, Atlan!«, stieß er be-bend vor Tatendurst hervor. »Wenn du mirnicht endlich den Angriffsbefehl gibst, lasseich meine Bluthunde von der Leine!« Er

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lachte meckernd über seinen Vergleich.»Hahaha!«, lachte ich mit, dann kam ich

zur Sache. »Wenn du ohne Befehle von mirhandelst oder gegen Befehle von mir ver-stößt, hetze ich den Sammler auf dich. Wirbefinden uns im Krieg – und vor einer Ent-scheidungsschlacht. Ist das klar?«

Er schwieg und versteifte sich, aber er be-griff endgültig, wer das Sagen hatte.

»Klar, Atlan!«, bestätigte er. »Deine Be-fehle! Sollen wir uns auf den Feind stür-zen?«

»Ja, aber nach einer klaren Strategie undTaktik«, erwiderte ich. »Teile deine Flotte indrei gleich große Verbände auf! Die ersteFlotte zieht sich bis dicht vor BOYSCH zu-rück und wartet dort in der bekannten Halb-kugelformation auf den Feind. Die zweiteFlotte sammelt sich unter deiner direktenFührung bei seinen derzeitigen Bereitstel-lungen. Sobald die Zaqoor und Takerer indie letzte Linearetappe gehen, folgt ihr ih-nen! Da wir ihr Ziel kennen, können wir esso einrichten, dass ihr unmittelbar hinter ih-nen vor BOYSCH ankommt. Dann formierteuch zu zwei Ketten – ich wiederhole: zuzwei Ketten – und stoßt so in die feindlicheFormation hinein!«

»Zu zwei Ketten?«, wiederholte der Juclaverständnislos. »Du meinst, ein Schiff sollhinter dem anderen fliegen?«

»Ja – und zwar in zwei Reihen ganz dichthintereinander und so weit auseinander, dassjede Reihe an Steuerbord und an BackbordFeindberührung hat!«

»Aber dann können die Feinde uns vonallen Seiten beharken, oder?«

»Oder!«, gab ich hart zurück, denn ichwusste, dass meine Strategie nicht auf denersten »Blick« verständlich war, doch ichhatte sie schon einmal angewandt – und so-gar ein Terraner hatte etwas Ähnlichesschon einmal getan: Horatio Nelson in derSeeschlacht von Trafalgar. Zwar hatte ernicht nur deswegen gesiegt, sondern auch,weil der Gegner mehrere schwere Fehler be-gangen hatte, aber diese klassische»Nelson-Strategie« verleitete eigentlich alle

Gegner zu ähnlichen Fehlern.»Vertraue mir! Ihr werdet Breitseiten

nach zwei Seiten austeilen, während diemeisten unserer Feinde immer nur in eineRichtung schießen können. Und wenn sieeuch ausweichen wollen, geraten sie in dasFeuer eurer halbkugelförmigen Formation,die sich anfangs langsam zurückzieht, damitder Feind denkt, sie verfolgen zu müssen.Das ist nan tian gno hai.«

»Häh?«Ich lachte trocken.»Alte chinesische Weisheit: das Gesetz

der Massen; die Auswahl entscheidenderZiele; die eigenen Kräfte schonen; und nichtzuletzt: militärische Operation beinhaltetTäuschung.«

»Ja, das leuchtet mir ein«, sagte er, ob-wohl ihm das mit der chinesischen Strategieund Taktik nicht bekannt war. »Ich fange anzu begreifen. Aber was soll unsere dritteFlotte machen?«

»Die dritte Flotte geht bis auf ein paarLichtstunden an den Kampfschauplatz heranund desaktiviert alle Energieerzeuger! Ener-getische Verdunkelung!«, befahl ich. »Dasschützt nicht total vor Ortung, doch ich den-ke, dass die Reservestreitmacht des Gegnerssich so sehr auf das Gemetzel bei BOYSCHkonzentriert, dass sie eure Anwesenheit alsvernachlässigbar einstuft.«

»Reservestreitmacht?«, fragte der Jucla.»Das ist doch logisch nach Sun Tsu!«, er-

klärte ich. »Der Feind hält einen Teil seinerFlotte zurück, um uns den Gnadenstoß zuversetzen, sobald der Kampf seinen Höhe-punkt erreicht hat. Mit Gnadenstoß meineich …«

»Oh, das weiß ich!«, kreischte der Juclabegeistert. »Jetzt begreife ich, wie genialdein Plan ist, Atlan. Wir werden die Feindezerschmettern und liquidieren – und Gruel-fin wird uns gehören! 6-D-Kristalle, Schiffe,Pelze, ganze Städte und Weiber! Weiber!«

»Wir werden aus dieser Schlacht als Sie-ger hervorgehen, jedenfalls die von uns, diedas Gemetzel überleben, Abenwosch!«, kor-rigierte ich ihn. »Das genügt uns vorläufig.

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Danach sehen wir weiter. Aber um zu dei-nem dritten Flottenverband zurückzukom-men: Er muss sich mit aller Wucht auf diefeindliche Reservestreitmacht stürzen, so-bald sie sich anschickt, in die Raumschlachteinzugreifen. Das soll völlig überraschendgeschehen. Aus diesem Grund wird euredritte Flotte nicht wie üblich in Schussent-fernung vor dem Feind in den Normalraumzurückkehren, sondern ›hautnah‹ und dannsofort in den feindlichen Verband eindrin-gen!«

Der Jucla gab etwas von sich, was sichwie ein wölfisches Knurren anhörte. »Dasgibt ein Blutbad, wie es Gruelfin noch nichterlebt hat!«

»Und wie es die Moral unserer Feindezerbrechen wird«, ergänzte ich. Nicht ohnedie Mahnung meines Gewissens, dass meinBefehl vielen Feinden, aber auch vielen mei-ner Leute das Leben kosten würde. Nachdem Gesetz der Massen musste mit einerVerlustrate von 1:1 gerechnet werden. Weilwir jedoch dem Feind die Initiative nehmenund mit Täuschung, Wagemut und Verwe-genheit kämpfen würden, durften wir mit ei-ner Halbierung der Verlustrate rechnen. Daswar nicht übel.

Der Zynismus des Strategen!, bemerkteder Extrasinn.

Ich ignorierte seinen Einwand, denn ichfühlte mich nicht schuldig. Wie ein Chirurgübte ich nur mein Handwerk aus, umSchlimmeres zu verhindern.

»Gruelfin wird uns gehören!«, frohlockteder Krand'har.

Versprich ihnen etwas!, wisperte der Lo-giksektor drängend. Das, woran du schoneinmal dachtest!

Es ist noch unausgegoren!, gab ich zu-rück.

Doch ich sah ein, dass ich zumindest eineAndeutung machen musste. Die Juclas wür-den im Überschwang des Sieges mehr wol-len – und sie würden die falschen Ziele ver-folgen, wie fast immer, wenn eine Flotte imSiegestaumel war.

»Es gibt Ziele, die erstrebenswerter sind

als die Beherrschung einer Galaxis«, erklärteich. »Denk einmal darüber nach! Die Aka-demien von Susch haben die wissenschaftli-che Elite Gruelfins in sich versammelt. Viel-leicht können dort einige Träume realisiertwerden.«

»Ich verstehe nicht …«, stammelte derJucla – und schien doch schon ahnungsvollin die Zukunft zu denken.

»Du wirst verstehen«, sagte ich. »Aberhier und heute muss die Schlacht um BOY-SCH geschlagen werden.«

»Und der Sieg errungen werden!«, er-gänzte er begeistert.

»So ist es!«, stimmte ich ihm zu. »Kampfund Sieg!«

»Kampf und Sieg!«, jubelte er.Als die Verbindung unterbrochen war,

fragte Symaltinoron bebend: »Hast du nichtsoeben deine Kompetenzen überschritten,Atlan? Ich meine, BOYSCH gehört dirnicht. Was wird wohl mein Vater dazu sagen– und die Interpretatorin erst?«

»Mit deinem Vater spreche ich jetzt – so-fort«, antwortete ich. »Aber ich konnte mitmeinen Befehlen nicht warten, bis ich mitihm alles durchgehechelt habe. Und washeißt hier Interpretatorin?« Ich ahnte es –und es verschlug mir fast den Atem. Aberjetzt und hier war es zweitrangig. »Gibt eseinen Transmitter in der Nähe, der unsschnellstens zu deinem Vater bringt?«

»Ja, komm mit!«, antwortete er halb gei-stesabwesend. Er hatte noch immer nichtverstanden, dass ich schon jetzt praktisch dieKommandogewalt über BOYSCH ergriffenhatte.

Immerhin handelte er und stürmte los.Nach etwa sechzig Metern benutzten wireinen kleinen Personentransmitter.

Nach der Rematerialisierung nahm ichCarmyn Oshmosh am Arm und flüsterte ihrzu: »Geh in die AVACYN, schnell! Haltedich dann mit einem Stoßtrupp bereit undwarte auf ein Zeichen von mir!«

»Was vermutest du?«, flüsterte sie zu-rück.

»Vertraue mir einfach!«, bat ich.

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»Dir immer«, gab sie mir zu verstehen.»Jetzt!«, sagte ich, ließ sie los.»Persenpo, wir sprechen uns später«, rief

ich voller Hast und eilte Symaltinoron nach,der ungeduldig auf mich wartete.

Nach einem Spurt von kaum einer Minuteöffnete er ein Schott. Dahinter lag eineKammer mit einem weiteren Personentrans-mitter. Wir stiegen ein. Der Sohn des Auto-kraten legte die Hand auf eine Schaltflächeund sprach einen Befehl.

Wirbelndes Nichts, Schwindel und auf-tauchende Konturen.

Wir stiegen aus dem Empfangstransmit-ter, der ebenfalls in einer kleinen Kammerstand. Dann ging es in den Nebenraum: einegroße, prunkvoll ausstaffierte Halle mit ge-schichtlichen Reliefs an den Wänden – undmit zwölf Fortyniern mit breiten Hintern aufbreiten Sesseln.

Der dreizehnte Fortynier stand auf, als eruns sah.

Symaltin!»Was geht hier vor?«, rief er und starrte

seinen Sohn wütend an.»Es ist Krieg, Autokrat!«, sagte ich

schneidend. »BOYSCH wird von Raum-streitkräften der Zaqoor angegriffen. Es warkeine Zeit, die Lage vorher mit dir zu be-sprechen und deine Entscheidung abzuwar-ten. Angesichts der kritischen und gefährli-chen Situation habe ich die notwendigenstrategischen Maßnahmen ergriffen. Das istaber nicht genug. Ich verlange, dass du mirdie absolute Kommandogewalt über die Sta-tion überträgst! In BOYSCH müssen Maß-nahmen anlaufen, die alle Unwägbarkeiteneiner großen Raumschlacht berücksichti-gen.«

Symaltin stand breitbeinig da, als wäre erdie Statue eines ehemaligen Staatsmannes.In seinem lederartigen Gesicht arbeitete es.Die Haut wurde abwechselnd dunkel undbleich – und die sonst fast ganz verborgenenAugen quollen halb aus ihren Höhlen.

»Vater!«, rief Symaltinoron.»Verräter!«, röchelte der Autokrat. »Wie

konntest du es diesem Fremden erlauben,

meine Autorität zu untergraben?«»Aber Vater!«, flehte sein Sohn.Ich stoppte ihn mit einer energischen

Handbewegung und erklärte: »Ich sagte be-reits: Es ist Krieg. Niemand, Symaltin, un-tergräbt deine Autorität. Aber bis zum Endeder Kämpfe habe ich hier ohne Wenn undAber die Kommandogewalt. Es wird nur ge-tan, was ich befehle oder erlaube! Wer dage-gen verstößt oder dagegen hetzt, wird inhaf-tiert. Wir haben keine Zeit zum Diskutieren.Ist das klar? Symaltin, ich verlange von dir,dass du mich offiziell zum Regenten vonBOYSCH ernennst, damit alles seine Rich-tigkeit hat!«

Der Autokrat schnappte nach Luft. Docher schwankte nicht – und ihm fielen auchnicht die Augen aus.

Dann deutete er mit ausgestreckten Ar-men auf mich und rief: »Das ist unannehm-bar!«

»Das reicht nicht, Autokrat!«, kreischteeine hysterische Stimme. »Atlan muss besei-tigt werden!«

Als ich herumfuhr, sah ich eine ältereFrau mit weißem Haar und einem weitenGewand, die mir ein wutverzerrtes Gesichtzuwandte und mit einem derben Stock, densie in der rechten Hand hielt, mehrfach aufden Boden stampfte. Sie stand dort, woherich mit Symaltinoron gekommen war, alsoin der Tür zur Transmitterkammer.

»Du bist ein Verräter, Autokrat!«, schriesie mit fast überschnappender Stimme unddeutete mit dem Stock auf mich. »Dieser At-lan ist das Böse. Er muss vernichtet werden– genau wie alle seine Leute! Du weißt, dassdu auf mich hören musst, Autokrat, denn ichbin die Stimme Ovarons.«

Die Interpretatorin?, wisperte der Extra-sinn zweifelnd.

Ich musterte die Erscheinung.Kann das eine Ganjo-Interpretatorin

sein? Falls ja, musste sie doch etwas vonmeiner Seelenverwandtschaft mit Ovaronspüren.

»Wir werden angegriffen, Samptasch«,erklärte Symaltin energisch. Er sah wieder

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normal aus, wirkte ruhig und entschlossen.»Atlan wollte helfen. Natürlich akzeptierenwir das nicht.

Aber wir werden weiter anhören, was eruns zu sagen hat.«

»Nein, nein, nein!«, kreischte Samptaschund hämmerte mit ihrem Stock auf der Plat-te des Tisches herum.

Eifersucht!, wisperte mein Logiksektor.Sie fürchtet deine Konkurrenz. Wahrschein-lich hat sie in Susch nicht selbstlos gearbei-tet, sondern in die eigene Tasche gewirt-schaftet.

Wer hat das nicht! Außer vielleicht Sy-maltin. Er ist durch und durch Idealist, abermit ausgeprägtem Sinn fürs Praktische –und deshalb gefährlich.

Samptasch kam auf mich zu – und ichdachte schon, sie wollte mit ihrem Stock aufmich eindreschen. Symaltinoron dachte daswohl auch, denn er stellte sich vor mich.

Der Autokrat aber handelte konsequent,auch wenn er ganz zappelig vor Nervositätund ihm anzumerken war, dass er sich über-winden musste.

»Ich erkläre Samptasch für geistig nichtzurechnungsfähig. Verhaftet sie und bringtsie in eine Isolierzelle der Raumklinik!Sperrt sie dort ein, aber behandelt sie gut!«

Aus einem Nebenraum, in dem anschei-nend die ganze Zeit über Wachen gestandenhatten, kamen drei Fortynier. Sie packten dietobende Interpretatorin und steckten sie ineine Art Zwangsjacke. Danach trugen sie siehinaus. Symaltins Gesichtsausdruck wurdeunergründlich.

»Danke, Symaltin!«, sagte ich.»Du hast nichts verstanden, Atlan«, er-

klärte der Autokrat. »Ich habe früher fünfJahre auf der Raumakademie Theorien stu-diert und schmutzigste und härteste Praxisgeübt und einiges gelernt. Zum Beispiel,dass strategisches Handeln langfristig ist,taktisches Handeln mittelfristig und operati-ves Handeln kurzfristig – so wie jetzt!«

Er klatschte in die Hände.Aus zwei sich plötzlich öffnenden Türen

in den Wänden des Saales stürmten je sechs

Fortynier – und mir war klar, dass sie sichauf mich stürzen würden. Denn so etwashatte ich erwartet. Alles war von langerHand vorbereitet. Symaltin ist ein voraus-schauender Mann par excellence.

Mir war auch klar, dass mir Widerstandnichts nützen würde. Ich konnte vielleichtzwei oder drei Fortynier außer Gefecht set-zen oder, wenn es dumm lief, sogar töten,aber damit würde ich nur erreichen, dass ichals hochgradig gefährlich eingestuft und de-mentsprechend verwahrt wurde. Dann wäreich absolut handlungsunfähig und aus demSpiel. Denn für mich war es ein Spiel, wennauch eines, das ich vermieden hätte, wenn esmöglich gewesen wäre.

Und noch eine Möglichkeit gab es. Sy-malton ahnte nichts. Er konnte nichts ahnen,weil er nichts von Carmyn wusste. Außermir wusste von uns hier nur Symaltinoronvon der Kommandantin der AVACYN.Aber er schwieg. Nur ein schneller Blick zumir verriet, dass er etwas ahnte – und es bil-ligte.

Die sechs Fortynier verstanden ihr Hand-werk. Sie verschnürten mich mit Robotfes-seln, die auf jeden Befreiungsversuch kom-promisslos reagieren würden. Damit kannteich mich aus.

Ich wehrte mich nicht – auch nicht, als ichin eine Stahlkammer gesperrt wurde und daseinzige Panzerschott sich hinter mir schloss.

Ich konnte nur warten und die eigenenKräfte schonen …

Ganz kurz erwog ich wieder einmal, obich etwas von dem restlichen Flammenstaubeinsetzen sollte. Ich verwarf es. Es wäre zugefährlich für mich gewesen. Vielleichtkonnte ich den Rest dieses Teufelszeugsnoch zwei- bis dreimal verwenden. Aber daswäre erstens mit Lebensgefahr verbundenund war zweitens und jetzt unnötig, da ichanderweitig vorgesorgt hatte …

*

Nachdem ich eine Stunde lang in meinemKerker ausgeharrt hatte, fragte ich mich, ob

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ich nicht zu optimistisch gewesen war, alsich Carmyn Oshmosh zugetraut hatte, meineBefreiung zu organisieren.

Nein!, übermittelte mir der Logiksektor.Carmyn Oshmosh ist dir treu ergeben. Siehat gelernt, umsichtig und zielstrebig zu pla-nen und zu handeln.

Ihre Lehrmeisterin war die Akademie Ka-kastaun. Und Kakastaun befindet sich inBOYSCH.

Die Robotfesseln schnitten mir schmerz-haft in Arme und Beine. Ihre schlangenarti-gen Schnüre aus metallischen Gliedern wur-den von mikroskopisch kleinen Positronikenbeherrscht, die sich unsichtbar für organi-sche Augen durch ihre Leiber schlängelten.So war das jedenfalls hier in BOYSCH; an-derswo gab es wahrscheinlich abweichendeKonstruktionen. Nur die Wirkungsweisenwaren sich gleich.

Da ich ein beinahe perfektes Zeitgefühlhatte, wusste ich, wann ich meinen Befreiernentgegenarbeiten musste. Dieser Zeitpunktwar jetzt gekommen.

Ich aktivierte das positronische Element,das der Ganjase Evaron Salto auf der AVA-CYN nach meinen Vorgaben konstruiert undgebaut hatte. Die zirka sechzig Mikroteil-chen befanden sich in meinem Blutkreislauf.Sie waren keineswegs der Nanotechnik ent-sprungen, wie ich anfangs vermutet hatte.Nach den Angaben des Sextadim-Forschersgehörten sie zu so genannten Halbraumex-ponaten. Quitrane hatte er sie genannt.

Einmal aktiviert, fügten sie sich zu Funk-tionseinheiten zusammen, die die Positroni-ken der Robotfesseln so programmierten,dass sie ihre Funktionen veränderten.

In diesem Falle wirkte sich das so aus,dass die Robotfesseln sich öffneten.

Meine Arme und Beine waren frei.Aber ich war es noch nicht, denn die

Stahlkammer, in die man mich gesperrt hat-te, besaß keine Positroniken, deren Funktio-nen man beeinflussen konnte. Sie würdesich nur mit Hilfe der außen angebrachtenHandräder öffnen lassen.

Doch das hatte ich in meine Planung ein-

gezogen. Ich aktivierte meinen im Körperversteckten Q-Sender, nach dem meineÜberwältiger nicht einmal gesucht hatten.Jetzt durfte ich damit rechnen, dass CarmynOshmosh innerhalb der nächsten dreißig Mi-nuten mit dem von ihr organisierten Stoß-trupp hier sein würde – draußen vor derStahltür.

Wie ich Symaltin einschätzte, würde ermit so etwas rechnen. Der alte Fuchs wardurchtrieben. Doch er war auch eine ehrli-che Haut – und deshalb angreifbar.

Er hatte mich matt gesetzt, um vor denGanjasen innerhalb von BOYSCH sein Ge-sicht zu wahren. Das war die eine Seite.

Aber er hatte sich zweifellos ausgerech-net, dass er allein mit den Mitteln der Kern-station – und dazu gehörten außer den zwan-zig Großkampfschiffen nur ein paar DutzendRaumforts und Paratronschirmprojektoren –nicht lange den Flottenverbänden, die dieLordrichter geschickt hatten, widerstehenkonnte. Und weder der Sammler noch die42.000 Kampfschiffe der Juclas würden ihmgehorchen. Das war die andere Seite.

Dazu brauchte er mich – und das wussteer.

Folglich hatte er meine Fesselung auf dieantiquierten Robotfesseln beschränkt undgehofft, dass ich mich von ihnen befreienwürde.

Er hatte selbstverständlich auch mit einerBefreiungsaktion der mit meiner AVACYNangedockten Raumfahrer gerechnet undwürde einen Hinterhalt vorbereiten, um siegefangen zu nehmen – und um mir dann inseiner Gnade die Freiheit zu schenken undmir großherzig zu gestatten, die Invasorenmit Hilfe meiner Streitkräfte abzuwehren.

Denn sie waren ja nur deshalb nach BOY-SCH geflogen, weil ich sie auf meinerFlucht vor ihnen hinter mir hergezogen hat-te.

Dachte er …

10.Carmyn Oshmosh

36 H. G. Ewers

Page 37: Der Zorn Der Lordrichter

Carmyn Oshmosh führte den Stoßtruppan.

Es war eine fünfköpfige Gruppe: Außerihr selbst gehörten ihr Ypt Karmasyn,Evaron Salto, Kaystale und unsere Pilotinan.

Für den Weg zu Atlans Gefängnis hattensie vierzig Minuten gebraucht, denn siedurften, um keinen zufälligen Verdacht zuerwecken, weder Transmitter noch dieHauptkorridore mit ihren Transportbändernbenutzen. Sie hatten sich über Nebenkorri-dore und durch Notschächte an ihr Ziel ge-schlichen.

Jetzt befanden sie sich nur noch eine Eta-ge davon entfernt und schickten sich an, denletzten Notschacht auf ihrem Weg zu bestei-gen.

Carmyn, die den Anfang machte, zucktezusammen, als sie sah, dass jemand imSchacht auf sie gewartet hatte: Symaltino-ron.

Der Sohn des Autokraten trug keine Waf-fe. Dafür hielt er einen knopfgroßen Alarm-geber zwischen den Fingern.

»Wenn ich ihn fallen lasse, vollführt ereinen solchen Lärm, dass die Komman-doeinheit meines Vaters im Nu hier ist«, flü-sterte er. »Sie wartet in einem Korridor mitgetarntem Zugang auf dem Deck unter uns.«

»Und warum lässt du ihn nicht jetzt fal-len?«, flüsterte Carmyn lächelnd.

»Weil ich eigentlich auf eurer Seite ste-he«, antwortete Symaltinoron.

»Eigentlich?«»Es gibt eine Einschränkung: Wenn ihr

etwas vorhabt, was gegen die Ehre und dasAnsehen meines Vaters verstößt, werde ichgegen euch sein. Ich bin aber mit euch,wenn ihr mir versprecht, dass ihr nichts tut,was gegen Ehre und Ansehen meines Vatersverstieße.«

»Deine Forderung ist nicht leicht zu erfül-len«, sagte Carmyn. »Es geht nämlich auchum die Ehre und das Ansehen Atlans. Er sollniemals durch die Gnade deines Vaters denOberbefehl über BOYSCH erhalten, sonderner muss seine Autorität durch seine Überle-

genheit beweisen. Andernfalls halten ihn dieJuclas für einen machtlosen Blender undfliegen in ihr Verderben, weil sie glauben,alles besser machen zu können.«

Symaltinoron wischte sich über die Au-gen, als wollte er einen unsichtbaren Schlei-er entfernen.

»Wieso in ihr Verderben?«, erkundigte ersich verständnislos. »Ich habe doch mitge-hört, was Atlan dem Obersten Jucla befoh-len hat – und diese Strategie führt auf jedenFall zum Sieg über die Invasoren.«

»Wenn sie realisiert wird«, gab Carmynzurück. »Falls aber Atlans Autoritätbröckelt, werfen diese unvernünftigen undmanchmal hirnlos erscheinenden Juclas alleseine Anweisungen in den Wind und stürzensich frontal auf den Feind. Dadurch hättendie Zaqoor die Möglichkeit, ihnen hohe Ver-luste zuzufügen. Ich schätze, dass dann min-destens die Hälfte der Jucla-Flotte vernichtetwürde.«

»Das wäre Wahnsinn!«, hauchte Symalti-noron. »Dann mussten Tausende dieser oh-nehin vom Unglück Verfolgten sterben. Ver-fügt über mich!«

»Du musst nicht viel tun«, erklärte Car-myn. »Wir gehen jetzt eine Etage tiefer unddamit in die Falle, die dein Vater uns gestellthat. Selbstverständlich werfen wir die Waf-fen weg, damit niemand zufällig verletztoder getötet wird. Aber wir werden noch einkleines Gerangel mit den Leuten deines Va-ters veranstalten. Dadurch hast du Zeit, dieHandräder am Panzerschott von Atlans Ge-fängnis aufzukurbeln. Weder dein Vaternoch seine Leute werden damit rechnen.Überhaupt sind sie völlig ahnungslos.«

»Wie meinst du das?«»Lass dich überraschen. Sobald Atlan frei

ist, wird er die Lage bereinigen.«»Und dann?«, fragte Symaltinoron atem-

los.»Dann wirst du die wahre Größe Atlans

kennen lernen«, antwortete Carmyn.

*

Der Zorn der Lordrichter 37

Page 38: Der Zorn Der Lordrichter

Sie gab ihren Leuten das vereinbarteHandzeichen.

Daraufhin aktivierten sie die Antigravs ih-rer leichten Outdoor-Anzüge und sprangenin den letzten Schacht, der sie noch von derEbene trennte, auf der Atlan gefangen gehal-ten wurde.

Wie sie erwartet hatten, öffneten sich un-ten drei Schotten. Aus jeder Öffnung tratenje zwei schwerbewaffnete Ganjasen und Ta-kerer. Einer von ihnen war der Fortyn-Ta-kerer Symaltin.

»Waffen fallen lassen!«, befahl der Auto-krat und winkte seinen Sohn zur Seite, derkurz nach den Raumfahrern der AVACYNankam.

Carmyn und ihre Leute ließen die Waffenfallen. Als die Ganjasen sie fesseln wollten,sträubten sie sich allerdings – und da sie ineiner Akademie der Freihandelszone Suschim waffenlosen Kampf ausgebildet wordenwaren, gab es ein wüstes Gerangel.

Diese Gelegenheit benutzte Symaltinoron,die beiden Handräder an Atlans Gefängnisaufzudrehen.

Als der Arkonide heraustrat und die un-brauchbaren Robotfesseln demonstrativ vonsich schleuderte, hob der Autokrat eineHand und gebot ein Ende des unblutigenKampfes.

»Nur eine Frage noch!«, wandte er sich anseinen Sohn. »Warum hast du Atlan be-freit?«

»Weil Atlan frei sein und frei handelnmuss, um BOYSCH und Susch zu retten«,antwortete Symaltinoron.

Der Autokrat bewegte schmatzend dieLippen seines großen Mundes, dann gluck-ste er und sagte: »Gar nicht schlecht ge-dacht, mein Sohn«, erklärte er darauf.»Vielleicht erteile ich Atlan die Erlaubnis,vorübergehend an meiner Stelle handeln zudürfen.«

In diesem Moment landeten zahlreicheKadetten der Akademie Kakastaun aus meh-reren Schachtröhren. Die Leiterin der Aka-demie, Admiralin Nogo Tankan, trat vor undsagte: »Eine bloße Erlaubnis reicht nicht

aus, Autokrat.«Symaltin rollte mit den Augen, die Au-

gäpfel quollen ein Stück aus ihren Höhlen.»Was wollt ihr denn noch?«, rief er gur-

gelnd. »Und warum stellt ihr euch gegenmich, Admiralin Tankan? Die Leute meinerAkademie üben Verrat! Ich fasse es nicht.«

»Es ist kein Verrat, in einer Zeit der höch-sten Gefahr mitzuhelfen, damit alles in dierichtige Richtung geht«, sagte Nogo Tankan.»Wir von Kakastaun stehen hinter dir, wenndu dich mit Atlan einigst.«

»Eigentlich ist es nicht viel, was ich will:absolute Handlungsfreiheit in einem ganzbestimmten Fall«, erklärte Atlan. »Ich er-kenne dich ausdrücklich als den regierendenAutokraten von BOYSCH an – und du er-teilst mir den Auftrag, die Kernstation unddie ganze Freihandelszone Susch gegen alleAngriffe zu verteidigen, wie ich das für rich-tig halte. Darf ich dich noch daran erinnern,dass die Zeit bis zum Angriff der feindlichenVerbände immer schneller abläuft. Wennwir siegen wollen, muss ich mich mit mei-nem Schiff ohne weitere Verzögerung an dieSeite der Jucla-Flotte begeben und denSammler unter Kontrolle halten, weil unsereVerluste nur mit seiner Unterstützung in er-träglichen Grenzen gehalten werden kön-nen.«

Symaltins Augen kehrten in ihre Höhlenzurück. Die Lider ließen wieder nur schmaleSchlitze frei – und der Fortynier trat von ei-nem Bein auf das andere. Jeder Tritt hallteals wuchtiger Schlag von den Wänden desOvaron-Saales wider.

»Meine Autorität …«, begann er.»Bleibt erhalten«, fiel der Arkonide ihm

ins Wort. »Aber auch meine Autorität bleibterhalten und wird verstärkt. Das ist notwen-dig, damit die Juclas mir blind gehorchen.«

»Dann soll es so sein«, sagte der Autokratleise. »Nie hätte ich gedacht, dass ich einmalso entscheiden müsste.

Aber ich hatte auch nie damit gerechnet,dass unsere Freihandelszone von feindlichenFlotten überfallen würde.« Er hob die Stim-me zu einem dumpfen Poltern an. »Schlage

38 H. G. Ewers

Page 39: Der Zorn Der Lordrichter

den hinterhältigen Angriff zurück, Atlan –und vernichte unsere Feinde! Und wenn dieJuclas ihr Leben so heldenhaft für uns ein-setzen, sollen sie dafür fürstlich belohntwerden.«

»Vergessen wir das nicht«, sagte der Ar-konide. »Und nun lässt uns handeln, wie essich für Verbündete gehört. Du, Autokrat,machst in BOYSCH alles für euren Schutzund unsere Unterstützung mobil – und sorgstdafür, dass die ganze Freihandelszone in denVerteidigungszustand versetzt wird. Ich aberwerde mich mit meinen Freunden zur AVA-CYN aufmachen und meine Flotte in dieSchlacht führen.«

Kampf und Sieg!, wisperte der Extrasinn.Kampf und Sieg!, dachte Atlan – und

spürte, wie eine Gänsehaut sich über seinenKörper ausbreitete …

11.Atlan

Als die AVACYN sich von BOYSCHlöste und mit Unterlichtgeschwindigkeit indie Finsternis des Alls »segelte«, hatte ichfür kurze Zeit das Gefühl, als segelte ichwirklich an Bord eines vorzeitlichen Linien-schiffs über das scheinbar unendliche Meer.Ich roch das Salzwasser und hörte das Groß-bramsegel im Wind ächzen.

Was ich hoch über mir sah, unterschiedsich nicht grundsätzlich vom Nachthimmelüber der irdischen See. Weit über der AVA-CYN spannte sich ein ungeheuer dichterSternenhimmel, dichter als über einem irdi-schen Ozean.

Der Gedanke an die Ozeane der Erde undan die Zeiten, in denen ich mit Winden undStürmen auf Linienschiffen, Karavellen undeine Zeit lang auch an Bord von Sklavenga-leeren über diese Wasser gefahren war, ließmeine Phantasie mit den Erinnerungen darandurchgehen – und ich sah …

Beteigeuze, Sirius, Orion, Antares …Lass deine Sehnsüchte nicht überhand

nehmen!Die Plejaden, Cassiopeia, das Sternbild

des Stieres, der Steinbock …Es war nicht eitel Lust, sondern meistens

von Kampf, Not und Tod begleitet …Ich spürte, wie mir etwas die Kehle hoch-

stieg – und schüttelte alle Sehnsüchte undErinnerungen ab.

Ich bin hier – und hier muss ich handeln!Da wir uns auf der Northeastside von

Gruelfin befanden, sah man hinter demSchiff in weiter Ferne den Ring aus Staubund Sternen, der den Äquator dieser Galaxisbildete – und vor dem Bug die furchterre-gende Sternenballung des galaktischen Zen-trums, hinter deren gleißender Hohlkugelsich ein Schwarzes Loch aus rund einer Mil-liarde Sonnenmassen verbarg.

Und – schräg davor noch weiter in Rich-tung Nordost – drohte der riesige, langge-streckte und gebogene bluttriefende Sternen-nebel, den ich wegen seiner VerblüffendenÄhnlichkeit mit einem Samuraischwert Ka-tana getauft hatte.

Das weit dahinter liegende SchwarzeLoch – genau wie das im Zentrum derMilchstraße – stellte keine Bedrohung fürdie gruelfinschen Zivilisationen dar. Dasmochte sich in einigen Milliarden von Jah-ren ändern, aber die kosmischen Zeiträumewaren für kurzlebige Intelligenzen nichtwirklich nachvollziehbar. Ich war da keineAusnahme, trotz meines Zellaktivator, dennim Vergleich zum Kosmos hatte ich gerademal einen Herzschlag lang gelebt.

»Atlan!«, flüsterte Carmyn Oshmosh.Ich fühlte mich erneut seltsam berührt.

Die Kommandantin dachte nicht nur ähnlichwie ich, sondern schien auch so zu fühlen.Sie verstand, was in mir vor ging.

Ich riss mich zusammen, straffte dieSchultern und kehrte in die raue Wirklich-keit zurück.

Selbstverständlich herrschte»Verdunkelung«, das hieß, alle Quellen vonHyperenergie waren ausgeschaltet. Die nor-male Energie konnte uns nicht verraten; eswürden Tage oder Wochen vergehen, bis sievon der Ortung feindlicher Schiffe angemes-sen wurden.

Der Zorn der Lordrichter 39

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»Passiv-Ortung!«, befahl ich. »Auf dieGalerie!«

Ypt Karmasyn schaltete mit einer Hand.In der anderen Hand hielt sie wie üblich dieFlasche mit dem süßlich riechenden Symbi-ontengetränk.

Die Bildschirme der Ringsum-Galerie inder Hauptzentrale wurden dunkel, als dieAbbildungen des Sternenmeeres ausgeblen-det wurden. Im nächsten Augenblick warauf einem Schirm die zirka 500 MillionenKilometer durchmessende halbkugelförmigeAnordnung von rund 14.000 Jucla-Schiffenzu sehen. Die erste Flotte hatte demnach ihreGefechtsposition schon eingenommen. Nurkleine Grüppchen von Lichtpunkten beweg-ten sich noch und woben das Netz fester, indem sich die Angreifer fangen sollten.

Ein anderer Bildschirm zeigte eine Stellean einer der halb ausgefahrenen WeichenBOYSCHS, an der in unregelmäßigen Ab-ständen Hunderte von extrem strahlendenLichtflecken aufleuchteten und wieder erlo-schen. Die meisten von ihnen wurden vonHyperenergie erzeugt, erreichten uns alsozeitverlustfrei. Sie kamen von an- und abge-schalteten Aggregaten, die mit Hyperenergiebetrieben wurden. Teilweise mochte es sichum Versuche des Sammlers handeln, das Di-mesexta-Triebwerk wieder einsatzfähig zumachen.

»Das Ding schert sich nicht um Verdun-kelung«, bemerkte Ypt Karmasyn undschlürfte eklig laut. »Es fühlt sich absolut si-cher.«

»Immerhin ist es so groß wie ein kleinerMond«, warf Myreilune ein und kicherte.»Ein Mond aus Hyperstahl und mit Parat-ronschirmen, die das Feuer einer ganzenFlottille mit links abwehren.«

»Aber für uns ein falscher Freund, auf denwir uns nicht verlassen können«, wandteKaystale ein und klirrte wieder einmal mitihren Metallfingern der rechten Hand.

Sie hatte den wunden Punkt in meinerStrategie erwähnt. Solange ich nicht sichersein konnte, dass die MITYQINN voll undganz auf unserer Seite stand und sich wäh-

rend der kommenden Raumschlacht hun-dertprozentig für unsere Sache einsetzte,würde ich mich nicht auf den Sammler ver-lassen können. Dementsprechend musste ichmeine Strategie so ausarbeiten, als gäbe esden Sammler nicht.

»Linearraum ist durchlässig!«, meldeteYpt Karmasyn erregt.

Selbstverständlich war der Linear- oderZwischenraum niemals durchlässig. Das ge-hörte nur zu den Redensarten vieler Raum-fahrer (weil es umständliche Erklärungen er-sparte), wenn sie dimensional übergeordneteEnergie der Art orteten, die von den Relief-strahlen der übergeordneten Funkmessor-tung von Raumschiffen geortet werdenkonnte, sobald diese die Rückkehr aus demLinear- in den Normalraum eingeleitet hat-ten.

Niemand antwortete darauf. Alle blicktennur voller Spannung auf die Anzeigen derMessgeräte. Natürlich hatten wir keine aufHyperenergie basierenden Geräte aktiviert.Der Feind hätte uns sonst orten können.Aber wir konnten mit der Normalortungfremde Hyperenergie anmessen.

»Jetzt!«, flüsterte Ypt und krümmte sichin einem Hustenanfall, weil sie sich an ih-rem Symbiontengetränk verschluckt hatte.

»Sie kommen, die Verfluchten!«, sagteMyreilune und rutschte nervös hin und her.

Die Messgeräte zeigten in diesem Augen-blick an, dass ganze Pulks der Golfballrau-mer aus dem Linear- in den Normalraum zu-rückstürzten.

»Entfernung zur Kugelschale der Juclasbeträgt zweieinhalb Lichttage«, meldete YptKarmasyn und rülpste ungeniert.

»Sechzig!«, zählte Carmyn. »Hundert.Hundertachtzig. Dreihundert, Dreihundert-fünfzig. Vierhundertzwanzig. Sie sind da.Sie beschleunigen für die Überwindung derrestlichen Distanz mit einem letzten Linear-manöver!«

»Starker Hyperfunkverkehr zwischen deneinzelnen Schiffen – und von einem derSchiffe mit einem anderthalb Lichtjahre ent-fernten Sektor, von dem wir keine hype-

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renergetische Ortung hereinbekommen.«»Dort wartet die Reservestreitmacht der

Zaqoor«, erklärte ich. »Wir bekommen sieauf der Normalortung erst in anderthalb Jah-ren herein, aber Abenwoschs Streitmachtwird sie schon geortet haben. Die Juclasmüssen und werden ihre Hyperortung ein-setzen.«

»Die vierhundertzwanzig beschleunigenin Richtung der Kugelschale«, sagte Karma-syn.

»Ausgezeichnet!«, triumphierte ich. Siegehen in die Falle.

Ich blickte zu Karmasyn, denn jetzt mus-ste ein gerichteter Hyperfunkspruch vonAbenwosch-Pecayl 966. kommen. So war esvereinbart. Abenwosch, der sich bei demJucla-Verband der Kugelschale aufhielt,sollte die zweite Streitmacht benachrichti-gen, sobald die Zaqoor Anlauf für die Linea-retappe zur Kugelschale nahmen. Und dashatten sie getan.

»Richtspruch vom Krand'har!«, meldeteKarmasyn auch schon. »Er hat der zweitenFlotte befohlen, sich in Marsch zu setzen.Wir haben die Kopie dieses Spruchs erhal-ten.«

Ich bedankte mich.Die Spannung stieg. Sie war fast zu grei-

fen. Die Besatzung der AVACYN fieberteförmlich, denn sie hatte bisher erst eineRaumschlacht mitgemacht – und das nur amRande. Ich dagegen wurde immer ruhiger. Inungezählten Kampfeinsätzen hatte ich ge-lernt, mich in emotionaler Distanz zu übenund nicht an das Grauen zu denken, das überFreund und Feind hereinbrechen würde. DieNerven wurden dennoch zum Zerreißen ge-spannt; sie würden sich entspannen, sobalddie Schlacht begonnen hatte.

»Flotte der Zaqoor ist in den Linearraumgegangen«, meldete Ypt Karmasyn und zer-biss nervös ihren Trinkhalm. »Hoffentlichkönnen die Orter der Juclas die Energie desReliefstrahls anmessen und dadurch denZielpunkt ermitteln. Eigentlich hätten wirdas tun sollen.«

»Immer mit der Ruhe!«, mahnte ich. »Die

Juclas mögen psychisch oft unreif sein, abersie leben seit Jahrtausenden im Weltraumund wissen mehr über ihn, als wir manchmaldenken.«

Ganz so sicher, wie ich mich gab, war ichallerdings nicht. Beim Linearflug erfolgtedas Anmessen von Zielsternen oder anderenZielobjekten mit dem so genannten Relief-strahl. Diese Art der Funkmessortung funk-tionierte in erster Linie auf der Hyperkom-basis – und dazu auf der parastabilen Feld-kompensation des Kompensatorfeldes (dasin der Milchstraße von Professor Kalup er-funden und deshalb dort Kalupsches Kom-pensatorfeld genannt wurde). Inzwischen ar-beiteten fortgeschrittene Zivilisationen auchin Gruelfin längst mit einer besonderenForm der Hyperortung, die den Reliefstrahlanmaß und von seinem Energiegehalt aufdas Zielgebiet schloß. Einige Jahrhundertelang war das mit Hilfe des so genannten Li-brationstarners verhindert worden, aber wieimmer war darauf eine Verbesserung derHyperortung gefolgt, die den Librationstar-ner unwirksam gemacht hatte.

Von Karmasyn kam ein gurgelnder Laut.Wegen ihres zerbissenen Trinkhalms hattesie direkt aus der Flasche getrunken und sichKinn und Hals mit dem breiartigen Symbi-ontengetränk bekleckert – kein schöner An-blick.

Auf Karmasyns Anzeigen traf ein Hyper-kom-Richtstrahl von Abenwoschs Flagg-schiff ein.

Die Juclas hatten das Zielgebiet derZaqoor ermittelt. Es befand sich exakt vorder Öffnung der Halbkugelformation des er-sten Jucla-Kampfverbandes.

Der Krand'har hatte uns aber nicht nur dasübermittelt, sondern uns auch mitgeteilt,dass er seine zweite Kampfflotte so in Mar-sch gesetzt hatte, dass sie kurz nach demRücksturz der Zaqoor in den Normalraumhinter ihnen aus dem Linearraum kam.

Hoffentlich kopiert er tatsächlich deineTrafalgar-Aufstellung!, meldete sich der Ex-trasinn. Wenn er sie begriffen hat …

Ich denke schon! Der Krand'har hat eine

Der Zorn der Lordrichter 41

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schnelle Auffassungsgabe und ist sehr lern-fähig.

Carmyn und Myreilune beobachteten, wieYpt das zähe Zeug mit dem Lappen weg-wischte.

»Sieht gar nicht wie ein Getränk aus.« DiePilotin fuhr sich mit der Zungenspitze überdie lila geschminkten Lippen.

»Eher wie eines dieser Gallertwesen vonYachon. Für manche Ganjasen eine Delika-tesse …« Carmyn schnitt eine angewiderteGrimasse.

Jetzt!Die vierhundertzwanzig Golfballschiffe

der Zaqoor waren dicht vor dem weit ge-spannten Hohlkugelnetz der Juclas in denNormalraum zurückgefallen. Wie ich erwar-tet hatte, versuchten sie nicht, die Kugel-schale in ihrem Hintergrund zu durchstoßen,weil sie vermuteten, dass die Juclas nur dar-auf warteten und dann ihre Kugelschale hin-ter ihnen zu einer Hohlkugel schließen wür-den.

Sie formierten sich so um, wie ich es er-wartet hatte. Ihre Angriffsspitze bremste ab,und alle anderen Schiffe verteilten sich invierfach aufgefächerten Reihen nach linksund rechts.

Diese Formation hatte die Krümmung ei-nes Sportbogens, so dass seine rückwärtsversetzten Flanken fast an den Rand der Ku-gelschale stießen.

Als ich ungeduldig wurde, fiel auch diezweite Flotte der Juclas in den Normalraumzurück. Kaum mehr als 10 Millionen Kilo-meter hinter der Zaqoor-Flotte, die sich im-mer noch auffächerte. Die Ortungsdatenwurden uns von der TIA, AbenwoschsFlaggschiff, übermittelt – und unsere Or-tungspositronik erzeugte daraus in Sekun-denschnelle eine bildhafte Darstellung desGefechtsraumes.

Worauf wartet die zweite Flotte noch?,wisperte mein Extrasinn.

Ich ballte die Hände.Die zweite Flotte der Juclas hätte seit

mindestens einer Minute mit voller Kraft be-schleunigen und die Zaqoor sehr bald einho-

len müssen. Stattdessen schlich sie hinter ih-nen her und fing noch immer nicht damit an,sich zu zwei Reihen zu formieren.

»Das läuft nicht gut«, sagte Oshmosh, dieschräg hinter mir stand und alle Anzeigenmitverfolgte. »Der Krand'har hat anschei-nend im letzten Moment den Schwanz ein-gezogen. Jetzt müssen wir die Führungselbst übernehmen.«

Ich atmete einmal tief durch, dann traf ichmeine Entscheidung.

»Schluss mit der Verdunkelung!«, befahlich. »Start und Linearetappe bis dicht überden Rand der Kugelschale, so dass wir vonden Jucla-Schiffen dort gedeckt sind! Ypt,wirf den Hyperkom und die Hypertasteran!«

Als sie nicht reagierte, wurde ich wütend.»Befehl bestätigen, Ypt!«, schrie ich sie

an. »Sofort! Sonst wirst du abgelöst!«»Das hat sie von ihrem Schleimionten!«,

flüsterte Myreilune und kicherte.Ypt Karmasyn erschauderte und warf der

Pilotin einen vernichtenden Blick zu, dannschrie sie: »Bestätige Befehl, Atlan! Endeder Energieverdunkelung. Ich aktiviere Hy-perkom und Hypertaster. Soll ich unserenBegleitschutz herbeordern!«

Ich atmete auf.»Tu das, Ypt!« Ich klopfte ihr versöhnlich

auf die Schulter, dann wandte ich mich derPilotin zu. »Warum sind wir noch nicht gest-artet, Myreilune?«, fragte ich scharf.

Die Pilotin starrte mich aus weit aufgeris-senen Augen eine Sekunde an, dann schalte-te sie die leer laufenden Normaltriebwerkeso abrupt hoch, dass die AVACYN förmlichin den Weltraum über BOYSCH katapultiertwurde.

*

Nach einer kurzen Linearetappe kamenwir über dem Zielgebiet an. Drei Minutenspäter fielen ein paar Millionen Kilometerneben uns die dreißig Jucla-Raumer, die ichnach dem ersten Disput mit Symaltin aus derNähe BOYSCHS dirigiert hatte, in den Nor-

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malraum zurück.Der Autokrat hatte damals nicht gemerkt,

dass meine Eskorte sich in den Ortungs-schutz zurückzog, den der Sammler ihr bot,und dass sie während der Vorbereitungenzur Schlacht, mit Energieklammern an demGiganten festgezurrt, nach BOYSCH zu-rückgekehrt war und jetzt mit dem Sammleran einer Weiche der Kernstation angedockthatte.

Jetzt waren sie jedenfalls wieder bei uns –und dienten als Eskorte zum Schutz derAVACYN.

»TIA anfunken!«, befahl ich.»TIA antwortet nicht«, meldete Karma-

syn. »Aber unser Hyperkomsignal kommtdort an.«

Ich überlegte.Wenn die zweite Flotte der Juclas entge-

gen der strategischen Planung hinter denZaqoor im Raum herumhängt und ihr Be-fehlshaber nicht auf meinen Anruf reagiert,dann kann das nur bedeuten, dass er tot,sterbenskrank oder kaltgestellt ist.

Er war wohl zu optimistisch gewesen, wasdie Wirkung seiner Intrigen und seines Cha-rismas auf seine Brüder aus zahllosen zu-sammengewürfelten Clans betrifft!, wispertemir der Extrasinn zu.

»Soll ich eine Enterung der TIA vorberei-ten?«, erkundigte sich Carmyn Oshmosh miternstem Gesicht.

»Nein!«, entschied ich. »Was sich auchabspielen mag, es handelt sich um eine inne-re Angelegenheit der Juclas. Niemand vonuns erreicht etwas, wenn er sich einmischt.Wir würden alles nur schlimmer machen.Ganz abgesehen davon würden wir paarLeute von der AVACYN nicht viel gegenvielleicht hundert Juclas auf der TIA aus-richten.«

Ypt Karmasyn stieß einen unartikuliertenSchrei aus, dann deutete sie mit ausgestreck-tem Arm auf den Hyperkom.

Ich atmete auf, spielte aber den Ahnungs-losen.

»Habe ich dich geweckt, Abenwosch?«,erkundigte ich mich gelangweilt.

»Geweckt, ha!«, röhrte der Jucla, dannriss er sich die schwarze Kappe ab, die erganz gegen seine Gewohnheit trug.

Meine Augen weiteten sich, als ich dengroßflächigen Sprühverband bemerkte, unterdem auf der rasierten Kopfhaut eine lange,frisch geklammerte Wunde zu sehen war.

»Also eine Rebellion«, stellte ich fest.»Da du offenbar Sieger geblieben bist, gra-tuliere ich dir. Hast du die Rebellen verhaf-tet, damit sie es nicht wieder versuchen?«

»Tote versuchen nichts wieder«, gab ermir mit dumpfer Stimme zu verstehen.»Unser Plan gilt wieder. Auch auf demFlaggschiff der zweiten Flotte wurden dieVerräter liquidiert. Ich hoffe, wir könnenden Zeitplan einhalten.«

»Das hoffe ich auch«, versicherte ich ihm.»Wenn die Schiffe sich jetzt sofort in Bewe-gung setzen.«

»Zweite Flotte beschleunigt und formiertsich zur Trafalgar-Aufstellung«, meldeteKarmasyn. Danach öffnete sie eine neueFlasche mit Symbiontengetränk, steckte einRöhrchen hinein und verdrehte die Augen,während sie die sämige Flüssigkeit in sichhineinsog.

Ich sah die Flottenbewegung auf denKontrollschirmen. Unwillkürlich schloss ichdie Augen und dachte an die Vergangenheit.Als ich sie wieder öffnete, sah ich, dass diebeiden Angriffsreihen der zweiten Flotte indie feindliche Formation hineinstießen.

Auf beiden Seiten explodierten die erstenSchiffe.

Bald schon zeigte sich, dass die Jucla-Flotten im Vorteil waren. Nicht nur, weil siedie meisten Schiffe hatten, denn das wurdeteilweise durch die technische und waffen-wirksame Überlegenheit der meistenZaqoor-Raumer ausgeglichen, sondern weilihre Aufstellung ihnen das wirkungsvollsteFeuer auf den Feind ermöglichte.

»Wir gehen höher!«, befahl ich.»Maschinen an!«

Das Schiff beschleunigte und stieg schnellund lautlos empor, gefolgt von den dreißigeskortierenden Jucla-Schiffen.

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Die Flotte der Zaqoor geriet sichtlich inBedrängnis, weil die beiden Stoßformatio-nen der Juclas sich zwischen ihre Golfball-raumer drängten und aus allen Geschützenfeuerten.

Anscheinend fanden die Zaqoor daraufkeine passende Antwort. Ihre Formationbröckelte. Immer mehr ihrer Schiffe zogensich notgedrungen tiefer in die Halbkugel-formation der ersten Jucla-Flotte zurück. Esdauerte nicht lange, bis sie nicht nur von ih-ren Verfolgern beschossen wurden, sondernzusätzlich von den Schiffen der Halbkugel-formation. Immer mehr ihrer Schiffe gerie-ten in konzentrisches Feuer und zerbarstenin wahnsinnig schnell expandierenden Glut-bällen.

Doch auch die Juclas mussten schwereVerluste hinnehmen. Es zeigte sich, dass ih-re Schiffskommandanten oft noch sehr jungwaren und über entsprechend wenig Kamp-ferfahrung verfügten. Sie manövrierten sichimmer wieder in das Feuer mehrererZaqoor-Schiffe und wurden regelrecht zu-sammengeschossen. Unsere Hyperortung er-fasste im Kampfgebiet immer mehr Ret-tungskapseln. Allzu oft wurden sie zu To-desfallen, denn die Schiffe beider Seitenschossen sie ab, wenn sie in den Erfassungs-bereich ihrer Geschütze gerieten.

»Was ist mit dem Sammler?«, unterbrachCarmyn Oshmosh nach ein paar Minutenmeine Betrachtungen. »Warum greift ernicht in den Kampf ein?«

»Wir werden ihn fragen«, antwortete ich.»Anfunken, Ypt!«

Die Funkorterin schaltete am Hyperkomund nuckelte dabei an dem Trinkhalm ihrerSymbiontenflasche.

Sekunden später erhellte sich ein Trivi-deokubus und zeigte uns das Abbild desgrünhäutigen Monstrums, das sich Flory-monthis nannte.

»Oh, du bist es, Atlan!«, rief Florymon-this mit brummiger, tiefer Stimme. »Dumusst mir helfen! Das PositronengehirnMITYQINNS funktioniert noch nicht zufrie-den stellend. Komm zu mir! Ich bin harm-

los.«»Ich werde kommen, sobald ich kann«,

erwiderte ich. »Vorher aber muss die Flotteder Zaqoor geschlagen werden, die uns an-greift und die BOYSCH sturmreif schießenwill. Die Juclas kämpfen mutig gegen sie,aber wenn du ihnen nicht hilfst, werden ihreVerluste sehr groß sein. Das muss verhindertwerden, weil wir bestimmt noch mehrKämpfe zu bestehen haben.«

»Oh, oh!«, orgelte das Monstrum. »Dasist schlimm. Warum kommt Ovaron nichtund sagt mir, wie ich mich verhalten soll?«

»Ovaron kann jetzt nicht kommen«, er-klärte ich. »Deshalb hat er mich beauftragt,in seinem Sinne zu handeln.«

»Aber du bist nicht Ovaron. Nur ihm ge-genüber bin ich verantwortlich«, brummteFlorymonthis.

»Ich handle in Ovarons Auftrag!«, rief ichso energisch, wie ich nur konnte. »Wenn dumir hilfst, hilfst du auch Ovaron. Ich will,dass du die MITYQINN wie abgemacht inden Kampf gegen die Zaqoor führst – undzwar sofort!«

Florymonthis wedelte mit ihren dicken,kurzen Armen und schrie: »Ich helfe dir,weil ich dich brauche, mein Liebster! Dumusst mir die Adresse eines Schönheitspla-sturgen beschaffen, damit er mich liftet.Aber vorher befehle ich den Sammler in dieSchlacht. Bleib mit deinem Schiff, wo dubist! Aktiviere alle Schutzschirme! Fahre ih-re Leistungen bis über maximal. Ich orteeinen großen Flottenverband der Zaqoor, dersich im Linearflug auf dem Wege zu deinerPosition befindet. Gleich wird er kommen –aber ich auch!«

Ich zweifelte keinen Augenblick daran,dass Florymonthis mir die Wahrheit gesagthatte.

»Alle Schutzschirme an!«, befahl ich mei-ner Kommandantin. »Ypt, Hyperfunkverbin-dung zu unserer Eskorte!«

Beide reagierten, ohne Fragen zu stellen.Sie hatten begriffen, dass es jetzt auch füruns um Tod oder Leben ging.

Das Führungsschiff der Eskorte hieß BO-

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BAK, sein Kommandant Trufont. Er rea-gierte sofort auf meine Anordnung, alleSchutzschirme zu aktivieren und einen Ku-gelschild um die AVACYN zu bilden.

»Die Schutzschirme hatten wir allerdingsschon aktiviert – und auch die Kugelschalesteht«, erklärte er. »Und wir orten auch denZaqoor-Verband, der sich im Linearraum imAnflug auf unsere Position befindet. Es han-delt sich um dreihundert große Kugelrau-mer. Sie wollen bestimmt nicht uns angrei-fen, sondern werden auf dem Weg zumHauptkampfraum hier nur einen Zwischen-stopp einlegen, um sich genauer über die La-ge zu informieren.«

»Na klar«, erwiderte ich wegwerfend.»Ihr sollt eure Schutzschirme auf höchsteBelastung schalten!«

Wieder einmal wurde mir klar, dass aucheine noch so perfekte Strategie zum Schei-tern verurteilt war, wenn etwas geschah, wo-mit vorher nicht gerechnet werden konnte.

»Du Symbiontenschlürferin hast ver-sagt!«, schrie Kaystale unsere Funkorterinan. »Warum hast du die Zaqoor nicht geor-tet, als sie im Linearraum waren?«

Karmasyn machte ein hilfloses Gesichtund stellte sogar die Flasche weg.

»Sie kann nichts dafür«, stellte ich fest.»Der Eskortenführer sagte mir, dass seinedreißig Schiffe ihre Schutzschirme schonvor meiner Anordnung eingeschaltet hatten.Da ihre Formation zudem sehr eng war, ha-ben die Paratronschirme miteinander einenso genannten Beinahe-Kontakt, das heißt,ihre Wirkungszonen verschmelzen so weit,dass sie um unser Schiff eine Hülle bilden,die keinen Reliefstrahl aus dem Linearraumdurchlässt.«

»Also konnten sie die Zaqoor im Zwi-schenraum aufspüren und ihr Ziel ermitteln,wir aber nicht?«, fragte Karmasyn.

»Genau so war es«, bestätigte ich. »Undjetzt bereitet euch auf das Schlimmste vor:Wenn der Sammler nicht vor den Zaqoor beiuns ankommt, steht es einunddreißig gegendreihundert, dass wir nicht überleben.«

Da hilft auch kein Zellaktivator!, wisperte

mein Extrasinn.»Du meinst, wir werden sterben?«, fragte

Myreilune.»Lass dich überraschen!«, spottete ich.Das war sehr zynisch!, rügte mich der Ex-

trasinn.Galgenhumor!Im nächsten Moment fühlte ich mich wie

ein Vogel auf der Glutwolke eines ausbre-chenden Vulkans. Gleißende, grelle Hellig-keit raste in die Hauptzentrale der AVA-CYN. Dann flog ich tatsächlich. Ein ohren-betäubender Donnerschlag schien den Welt-untergang anzukündigen.

Dann wurde es still – totenstill …

*

In meinen Ohren hallte der Donnerknallnach. Ich lag wie paralysiert auf irgendeinerUnterlage. Meine Augen tränten so stark,dass ich nichts sah. Ich wurde wie in einemverrückten Karussell herumgewirbelt.

Es ist vorbei!Wer spricht da? Was ist vorbei?Dumme Frage. Und der Weltuntergang

ist vorbei.»Es ist weg!«, jammerte jemand.Ypt Karmasyn.Diese Erkenntnis machte mich munter.

Ich rieb mir die Augen, schlug auf das Sam-melschloss meiner Sicherheitsgurte, richtetemich sitzend auf und sah mich um.

Ich lag nicht in irgendeiner Ecke der Zen-trale, sondern gurtgesichert auf meinem an-scheinend von der Sicherheitsautomatik zu-rückgeklappten Kontursitz – und meine Leu-te lagen ebenfalls auf ihren zurückgeklapp-ten Kontursitzen. Sie stöhnten und fingenan, sich zu bewegen.

Auf den Flächen der Rundum-Galerie wa-ren fünf zersiebte und halb glühende Jucla-Raumer zu sehen. Sie trieben langsam vonder Kugelschale fort, die aus den restlichenfünfundzwanzig Schiffen der Eskorte immernoch gebildet wurde. Sieben von ihnen wie-sen allerdings solche Schäden wie halb ver-schmorte Außenhüllen auf. Bei ihnen hatte

Der Zorn der Lordrichter 45

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schwerer Beschuss die Paratronschirmekurzzeitig kontrahieren lassen.

Die Zaqoor allerdings hatte es schlimmererwischt. Auf den Ortungsschirmen warensiebenundzwanzig verformte Glutbälle zusehen, außerdem Trümmerwolken von min-destens weiteren acht Golfballraumern.

Wer das geschafft hatte – besser, was dasgeschafft hatte, hing als riesiger, fast mond-großer dunkler Schatten dicht über unsererFormation: MITYQINN, der Sammler.

»Florymonthis ruft Atlan!«, dröhnte dietiefe Stimme meiner »Freundin« in meinenOhren.

Ich sah, dass die Hyperkomverbindungzum Sammler immer noch stand. Auf demTrivideokubus war das klobige Gesicht vonFlorymonthis zu sehen.

»Hier bin ich!«, rief ich. »Danke für deineHilfe. Du hast ja ganz schön zugeschlagen.«

»Es war ein Vergnügen, mein Schatz«, er-klärte Florymonthis. »Die Zaqoor-Schiffewurden gebeutelt. Habe ich genug abge-schossen, Atlan?«

»Du hättest ruhig alle abschießen kön-nen«, gab ich zurück. »Falls dir das möglichgewesen wäre.«

»Vielleicht wäre es mir möglich gewe-sen«, sagte das Monstrum. »Aber ich wollteden Juclas auch noch etwas zum Spielen las-sen. Die Zaqoor sind nämlich mit einemweiteren Linearmanöver direkt zum Haupt-spielfeld geflogen – und dort wurden sie vonder dritten Jucla-Flotte in Empfang genom-men.«

»Warte mal!«, rief ich, dann gab ich YptKarmasyn ein Zeichen.

Die Funk-Orterin blickte mit tränendenAugen vom Boden hoch, auf dem sie herum-gekrochen war. Dann begriff sie, dass ihreArbeit gefragt war. Sie schnellte hoch undschaltete wieder auf die Fernortung zumHauptgefechtsfeld.

Ich sah, dass die Raumschlacht keines-wegs entschieden war, wie ich gehofft hatte.Zwar war die erste Zaqoor-Flotte halb vonder Kugelschale der ersten Jucla-Flotte um-zingelt worden, doch sie hatte ihre Schiffe

zu einem riesigen Pulk zusammengezogenund war durch die Mitte der Kugelschale ge-stoßen.

Dabei hatte sie mindestens siebzig Schiffeeingebüßt, doch die Juclas hatten ebenfallsrund siebzig Schiffe verloren. Der Raumdort war voller Trümmer und expandieren-der Glutbälle.

Und die Reserve-Streitmacht der Zaqoor,die uns beinahe zum Verhängnis gewordenwäre, war soeben schräg über der zweitenJucla-Flotte angekommen und veranstalteteeine Art Scheibenschießen. Die dritte Flotteder Juclas war zwar soeben auch angekom-men, aber sie hatte sich mit der letzten Li-nearetappe verkalkuliert und würde zwanzigMinuten brauchen, um der Zaqoor-Streitmacht die Suppe zu versalzen. Fallsnicht bald so etwas wie ein Wunder geschah,brach die Trafalgar-Aufstellung zusammen.Zwar würden die Juclas aufgrund ihrergroßen zahlenmäßigen Übermacht auf jedenFall als Sieger aus der Schlacht hervorge-hen, aber ihre Verluste würden so gewaltigsein, dass es beinahe ein Pyrrhussieg wäre.

»Florymonthis!«, rief ich beschwörend.»Du musst uns helfen! Die Raumschlachtvor BOYSCH wird uns Verluste einbringen,von denen sich die Juclas nicht wieder erho-len können. Wenn dir etwas an mir undOvaron liegt, fliege dorthin und hilf denJuclas! Vernichte so viel dieser Golfballrau-mer, wie du nur kannst!«

»Golfballraumer?«, echote das Monstrum.»Was soll das sein?«

»Damit meinte ich die Zaqoor-Schiffe derReserve-Streitmacht«, erklärte ich.»Vernichte sie!«

»Wenn mir etwas an dir und Ovaronliegt«, wiederholte Florymonthis meine vor-letzten Worte. »Aber wo ist Ovaron?«

»Hier!«, rief ich und schlug mir mit derFaust an die Brust. »Hier in meinem Her-zen!«

»Das wüsste ich aber«, brummte Flory-monthis. »Aber wir werden sehen, was sichmachen lässt. Bis später, Atlan.«

»Bis später!«, flüsterte ich und wischte

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mir den Schweiß von der Stirn. Dieses Ding,das offenbar die besondere Ausprägung ei-nes Vasallen an Bord der MITYQINN war,ließ sich noch immer nicht unter meine Kon-trolle bringen. Dabei wäre seine von mirkontrollierte Hilfe der Faktor gewesen, derdie finsteren Pläne der Lordrichter zumScheitern verurteilt hätte.

»Hier, Atlan!«, flüsterte jemand rechts ne-ben mir.

Als ich den Kopf drehte, erkannte ichCarmyn Oshmosh. Sie hielt in jeder Handeinen Becher. Ich roch Alkohol.

»Trink das!«, sagte die Ganjasin. »Duhast es dir verdient.«

»Ich? Wieso?«, fragte ich, nahm aber dasGlas und roch daran.

Riecht wie guter alter Kognak.»Ohne dich wären wir jetzt alle tot«, er-

klärte sie. »Wenn du nicht den Sammler ge-rufen hättest, gäbe es uns jetzt nur noch alsim Raum verwehende kalte Atomschleier.«

»Ich habe den Sammler nicht gerufen«,sagte ich. »Er hat uns gewarnt und ist dannaus eigenem Antrieb hergekommen, um unszu retten. Aber das soll uns nicht davon ab-halten, dieses gut riechende Gebräu zu trin-ken. Prost!« Ich hob meinen Becher.

Carmyn sah mich fragend an, dann hobsie ihren Becher und sagte auch: »Prost!«

Es schmeckte tatsächlich wie Kognak.Leider ließ die Lage es nicht zu, mehr alseinen Becher zu genießen. Anschließend sa-hen wir uns wieder das Geschehen derRaumschlacht an.

Soeben war der Sammler dort in den Nor-malraum zurückgefallen, genau zwischender schon arg zerfledderten Trafalgar-Aufstellung und der Reserveflotte derZaqoor.

Sein Feuer ließ die Golfballraumer fast imSekundentakt zerplatzen.

Das war die Entscheidung.Die Zaqoor-Formationen brachen ausein-

ander, als ihre Schiffe sich dem neuen Feindentgegenstellten oder zu fliehen versuchten.Für die Flotten der Juclas war das ein gefun-denes Fressen. Sie stürzten sich von allen

Seiten auf die Zaqoor.Jegliche Ordnung und alle strategischen

Aufstellungen waren vergessen. Sie warenauch nicht mehr erforderlich, denn dieRaumschlacht verwandelte sich innerhalbvon Minuten in eine gnadenlose Hetzjagdauf die Invasoren. Mindestens zweihundertihrer Schiffe zerbarsten und verglühten imkonzentrischen Feuer.

Es wären noch mehr gewesen, hätte derSammler sich nicht aus dem Getümmel ge-löst und alle seine Systeme heruntergeschal-tet. Er legte einfach eine Pause ein.

Ich verzichtete auf den Versuch, ihn zumWeiterkämpfen zu bewegen. Erstens hättedas bei ihm zu unvorhergesehenen Reaktio-nen führen können – und zweitens war denZaqoor die Lust am Kämpfen gründlich ver-gangen. Sie zogen sich in heilloser Fluchtzurück, verbissen verfolgt und vielfach ab-geschossen von meinen Juclas.

Sie taten mir fast Leid.Das änderte aber nichts daran, dass ich

jetzt entschlossener denn je war, hinter diewahren Ziele der Lordrichter zu kommenund ihnen Einhalt zu gebieten.

12.Atlan

23. Oktober 1225 NGZ …

Meine Füße fühlten sich so schwer an wieBlei, als ich gemeinsam mit Carmyn Osh-mosh und Abenwosch-Pecayl 966. die priva-ten Räumlichkeiten Symaltins betrat. DerSohn des Autokraten würden etwas späterkommen.

Nur wir drei waren eingeladen. Symaltinwollte die dramatischen Geschehnisse nurim engsten Kreis auswerten. Ich konnte ihmdas nicht verdenken. Er musste sein Gesichtwahren.

Der Autokrat hatte den Sieg im SektorBOYSCH ohne erkennbare große Gefühlsre-gung hingenommen. In Wahrheit war er biszum Innersten seiner Seele aufgewühlt. Soetwas spürte ich mit meinen jahrtausendeal-ten Erfahrungen.

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Allerdings war von ihm in der gesamtenFreihandelszone Susch eine Siegesfeier mitVolksfesten, Militärkonzerten und Raum-schiffsparaden angeordnet worden. DasVolk sollte wissen, dass Susch starke Freun-de hatte. Es sollte aber auch dazu angehaltenwerden, größere Anstrengungen zu unter-nehmen, um die Kriegsproduktion auf Hoch-touren zu treiben.

Denn wir hatten zwar eine Schlacht ge-wonnen, aber nicht den Krieg.

Nachdem auch Symaltinoron eingetroffenwar, nahmen wir an der massiven Tafel imPalastraum Symaltins Platz. Servos teiltenGetränke aus, servierten Suppen, Fleischge-richte, Süßspeisen und Eis.

»Ich bin angenehm überrascht, Autokrat«,sagte ich. »Das sind Speisen und Getränke,die eigentlich nur in meiner Heimatgalaxisaufgetragen werden. Woher wusstest du …«

Er tatschte die breiten Hände auf denTisch, dass das Geschirr klirrte.

»In der Freihandelszone Susch gibt es ei-ne unbegrenzte Palette von Speisen und Ge-tränken!«, versicherte er stolz.

Typisch Umweltangepasster!, wispertemein Extrasinn.

»Liebe Freunde!«, sagte der Fortyn-Ta-kerer und lächelte, wobei sein breiter Mundvon einem Ohr zum anderen reichte. »Ichdarf doch Freunde sagen? Ich weiß nicht,womit ich anfangen soll, so viel hat sichwährend der letzten Tage hier ereignet – undzu sehr hat sich alles gewandelt, was vorkurzem noch stabil und in sich gefestigtschien.

Die Freihandelszone Susch und die Kern-station BOYSCH sind keine neutrale Inselder Freiheit, der Gerechtigkeit und des Frie-dens mehr. Zu lange haben wir uns der Illu-sion hingegeben, dass niemand uns angrei-fen würde, weil wir niemanden bedrohen.«

Er strich sich gedankenverloren über denschwarzen Bart, der ihm bis zur Brust reich-te, und seufzte durch die haarverfilzten Na-senöffnungen, die eigentlich Nüstern ge-nannt werden sollten, so groß waren sie.

»Wir alle haben es einem Mann zu ver-

danken, der aus einer fremden Galaxis zuuns kam und uns lehrte, dass die glücklichenZeiten vorbei sind. Es tut mir Leid, dass ichihm anfangs aggressiv begegnete, aber heutemuss ich gestehen, dass ohne seine Einmi-schung und seine Hilfe barbarische Fremdeüber uns herrschen würden.«

Er blickte den Krand'har an und erklärte:»Mein Dank gilt auch den Juclas, die wirfrüher falsch einschätzten und die sich unterAtlans Führung für unsere Freiheit und Si-cherheit mit den Truppen der Lordrichterschlugen und dabei große Opfer brachten.«

»Wir sind unschlagbar«, prahlte Aben-wosch. »Die Jungen Clans sind die tapfer-sten Kämpfer gegen alle dreckigen Takerer…« Verlegen schaute er Symaltin von untenherauf an, denn der Autokrat war ja auch einTakerer, wenn auch ein an die Umwelt vonFortyn angepasster. Symaltin schnaubtelautstark.

»Wie ich bemerke, hast du begriffen, dassTakerer nicht gleich Takerer sind«, erklärteer. »Und mein Sohn und ich haben begrif-fen, dass ihr Juclas keine mordgierigen Ma-rodeure seid, sondern ein Volk in Not, dasvor Urzeiten mehr als ungerecht behandeltwurde.«

»Wir sterben früh«, sagte Abenwosch be-trübt. Seine Augen verschleierten sich.

Ich wechselte einen Blick mit dem Auto-kraten, dann sagte ich zu dem Jucla:»Abenwosch-Pecayl 966. Symaltin und ichhaben uns Gedanken über euer Verhängnisgemacht und sind zu dem Schluss gekom-men, dass wir die wissenschaftliche Elite derFreihandelszone und die hervorragendenForschungseinrichtungen auf BOYSCH da-zu benutzen wollen, um die genetischen Ma-nipulationen, die man euch angetan hat,rückgängig zu machen.«

Der Krand'har riss den Mund weit auf undließ ihn offen stehen. Dann klappte er ihn zuund flüsterte heiser: »Ich werde nicht so frühsterben, sondern ein normales Alter errei-chen?«

»Das ist leider nicht möglich«, erklärteSymaltinoron. »Genetische Manipulationen,

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wie sie vor Jahrtausenden an euch Juclasvorgenommen wurden, lassen sich nicht in-nerhalb einer Generation rückgängig ma-chen. Wir haben entsprechende Berechnun-gen angestellt und meinen, dass frühestenseure übernächste Generation ein normalescappinsches Alter erreichen kann.«

Der Jucla gab einen undefinierbaren Lautvon sich und ließ den Kopf sinken. Es wurdestill im Raum. Auch die Fortyn-Takererschwiegen.

Nach ein paar Minuten hob der Jucla denKopf und sagte: »Es ist gut. Ich werde baldsterben – und alle meine Verwandten wer-den bald sterben. Aber die Kinder meinerKinder werden das große Glück erleben, ei-ne normale Lebensspanne vor sich zu haben.Wenn ihr in BOYSCH das ermöglicht, ge-hören wir Juclas euch für immer und ewig.Wir werden für euch kämpfen – und auchunser Blut vergießen, wenn es notwendigist.«

»Ihr solltet nicht nur uns in der Freihan-delszone dankbar sein, sondern auch und vorallem Atlan«, wandte Symaltin ein. »Denner hat die Idee gehabt, euch von dem altenFluch zu befreien.«

»Ich ahnte, dass das Atlans Werk war!«,rief der Jucla enthusiastisch. Er blickte michbewundernd an. »Atlan, ich wusste schonimmer, dass der Ganjo dich geschickt hat.Hiermit nehme ich dich als Ehrenmitglied indie vereinten Clans auf.«

Er beugte sich über den Tisch und stupstedie Brust Symaltins mit den gestreckten Fin-gern der linken Hand an. »Und dich auch,Symaltin, denn du gabst uns das Gefühl, ei-ne Heimat zu haben – uns, den ewig Hei-matlosen von Gruelfin!«

Der Autokrat hob die Hände.»Danke, Abenwosch!« Er wischte sich

mit einem Handrücken über die plötzlichnassen Haarbüschel der Nasenlöcher. »Ichmuss leider gestehen, dass ich nicht so vielLob verdiene, wie ihr mir spendet. Denn ichhabe mich anfangs gesträubt, die Neutralitätder Freihandelszone aufzugeben und meineBefehlsgewalt an Atlan zu übergeben.«

»Du musst verrückt gewesen sein!«, riefder Krand'har erregt. »Entschuldige, bitte!Aber ich verstehe das nicht.«

»Ich verstehe es selbst nicht mehr«, ge-stand der Autokrat ein.

»Samptasch!«, flüsterte sein Sohn.Symaltin fuhr sich mit einer Hand über

den Kopf.»Ja, so könnte es gewesen sein«, erklärte

er leise. »Ich war so sehr von der Ganjo-Interpretatorin eingenommen, dass ich man-ches Mal gegen besseres Wissen entschie-den habe. Allerdings muss ich feststellen,dass ohne Samptasch die FreihandelszoneSusch niemals das heute bestehende starkesoziale Element bekommen hätte. Ihr Ein-fluss war es, auch schon bei meinen Vorgän-gern, der die Macht des schmutzigen gruel-finschen Raubtier-Kapitalismus endgültigbrach und die Freiheitsbrigaden entstehenließ und die Ausbeuter und Unterdrücker indie Minen des Höllenmondes Zepholoss ver-bannte.

Aber vielleicht ist diese Frau ja eineSchwindlerin, die nichts anderes wollte alsdie Macht, die Geschicke der Freihandelszo-ne zu lenken? Anders kann ich mir nachträg-lich ihre Abneigung gegen Atlan nicht erklä-ren.«

»Alles ist möglich«, warf Oshmosh ein.»Warum fragst du sie nicht nach ihren Grün-den, Autokrat? So, wie die Lage jetzt ist,wird sie vielleicht reden.«

Symaltin schien verlegen zu sein. Erkratzte sich mit den Fingern beider Händeauf dem Kopf und bewegte seine Lippen hinund her, so dass seine kantigen Mahlzähnesichtbar wurden.

»Sie steht noch unter Hausarrest«, erklärteSymaltinoron. »Mein Vater vertraut ihr nichtmehr.«

»Das verstehe ich«, sagte ich. »Aber ichtrage ihr nichts nach. Symaltin, ich bitte dichdarum, Samptasch sehen und sprechen zudürfen. Vielleicht klärt sich dann manchesRätsel auf.«

Symaltin ließ die Hände flach auf dieTischplatte fallen und erklärte: »So soll es

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sein, Atlan.«Er klatschte in die Hände und rief einen

Befehl an seine Sicherheitskräfte …

*

Eine Viertelstunde später kamen sie.Vier kräftige Fortyn-Takerer in hellgrauen

Monturen. Sie führten Samptasch zwischensich, wendeten aber keine körperliche Ge-walt an.

Die alte Frau hatte sich verändert. Sie sahnicht mehr so kraftvoll-energisch aus wiebei unserer ersten Begegnung, sondern umJahre gealtert.

Und sie ging gebeugt und mit auf den Bo-den gesenktem Blick.

Als ihre Begleiter und sie stehen blieben,sagte ich leise: »Ich grüße dich, Sampta-sch!«

Sie zuckte zusammen, blickte hoch. IhreAugen weiteten sich, als sie mich erkannte.

Es sah aus, als wollte sie etwas sagen,doch stattdessen brach sie wie vom Blitz ge-fällt zusammen – und lag so kraftlos hinge-worfen da wie eine alte Puppe.

Einen Moment lang stand ich steif undstarr da. Vielleicht wartete ich darauf, dassmein Extrasinn sich meldete und mir irgen-detwas riet.

Dann sprang ich vor, kniete neben Samp-tasch nieder und fühlte nach dem Puls an ih-rem Hals.

Nichts!Ich drehte ihren Kopf zur Seite und wie-

der zurück.Die Augen verweilen starr in einer Rich-

tung.Hirnstammschädigung!Ich erteilte ihr einen Stimulus durch Knei-

fen der Haut.Keinerlei Reaktion!Ich rief sie laut an.Keine verbale Reaktion!Und auch keine Augenöffnung! »Tiefes

Koma!«, gab ich bekannt: »Sie stirbt, bevorwir sie in einen Überlebenstank bringenkönnen.«

In diesem Moment atmete die Frau zwei-mal tief durch, dann fiel ihr Kopf schwer zurSeite.

Und endgültig!»Exitus!«, sagte ich bedauernd.

*

Es war Nacht.Über mir spannte sich der Sternenhimmel

eines Planeten. Der Wüstenwind blies kaltund ließ mich erschauern.

Und plötzlich bohrte sich etwas in meinGenick. Nichts Materielles – und doch mehrals nur ein Blick.

Ich versteifte mich und hielt unwillkürlichdie Luft an. Aber dann überwand ich meineScheu und drehte mich langsam um.

Und da stand er im Schein des vollenMondes der Erde.

Ovaron!Die fast zwei Meter große, athletisch ge-

baute Gestalt mit den breiten Schultern, denlangen Armen und Beinen sah mich aus ih-ren braunen Augen an.

Augen in einem scharf geschnittenen Ge-sicht mit hoher Stirn, langer, gekrümmterNase, hoch vorstehenden Wangenknochenund dem kraftvollen Kinn und Mund. Zu-sammen mit dem langen schwarzen Haar,das von einem breiten Band mit seltsamenSymbolen zusammengefasst wurde, erinnerteer an die Abbildung eines Kriegers aus ei-nem Stamm terranischer Indianer. Die leich-te hellgraue Raummontur, die er trug, passteallerdings nicht zu diesem Eindruck.

»Du siehst richtig, alter Freund!«, sagteder Ganjo. »Allerdings bin ich nur in dei-nem Bewusstsein – mit einem Teil meinesBewusstseins. Viele Splitter meines Geistessind in Gruelfin verstreut – und ich warschwach, bis jetzt. Der Kontakt mit deinemBewusstsein, Atlan, gibt mir Kraft, vielKraft.«

»Du warst – in Samptasch?«, dachte ich.»Ja, aber ich war schwach. Lange Zeit

triumphierte der ehrgeizige und machtbeses-sene Geist der Frau über mich. Aber wir

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fanden einen Weg zueinander und zu einerPattsituation, wie ihr sagt.

Aber ich will nicht mit dem Schluss be-ginnen.

Ich kann mich nicht an alles erinnern,was tief in der Vergangenheit ruht. Ich weißjedoch, dass ich nach Tornybred suchte unddass ich lange unterwegs war, unendlichlange. Wenn ich zurückblicke, sehe ich nurwogende Nebel. Ich weiß aber genau, dassich Erfolg hatte.

Danach trieb ich durch die Unendlich-keit. Ich hatte kein Ziel und wäre beinaheerloschen. Doch irgendwann zog mich ir-gendetwas hierher. Später rechnete ich aus,dass es vor hundertneunundzwanzig Jahrenwar – Cappin-Jahren.

Irgendwann unterwegs gingen Splittermeines Bewusstseins verloren. Doch derRest erreichte das Bewusstsein einer damalsjungen Frau: Samptasch. Sie spürte, dass ir-gendetwas mit ihr geschah, was ihr Be-wusstsein stärkte und sie anderen Intelligen-zen überlegen machte.

Nach vielen Irrungen und Wirrungen ver-schmolzen unsere Bewusstseine zu einerZweckgemeinschaft. Ich setzte sie als Ganjo-Interpretatorin ein. Sie benutzte die von un-serer Vereinigung herrührende Macht überandere Intelligenzen, um das damals brutal-kapitalistische System der FreihandelszoneSusch nach und nach zu zerstören und einkleines Handelsimperium auf sozial-kapitalistischer Basis aufzubauen.

Ich habe es allerdings nie geschafft,Samptaschs Bewusstsein voll unter meineKontrolle zu bekommen. Ich schaffte es auchnicht, sie zu verlassen. Erst als du auftauch-test, Atlan, strömte neue Kraft zu mir über.

Sie muss gefühlt haben, dass dein Auftau-chen ihre Macht über mich schwächen wür-de. Deshalb hasste sie dich und wollte nichtnur den Kontakt mit dir vermeiden, sondernplante auch, dich ermorden zu lassen.«

»Das war ihr Tod!«, stellte ich erschüt-tert fest. Ich trug ihr nichts nach – nicht,weil man Toten nichts nachtragen soll, son-dern weil ich Verständnis für sie hatte, für

eine arme Seele, die das Gute wollte undauch erreichte, aber sich nie von der Hab-gier befreien konnte, die das Merkmal sovieler Intelligenzen war.

»Das war ihr Tod, weil sie ihre Machtzerbrechen sah und die Zeichen der NeuenZeit nicht erkannte«, bestätigte Ovaron.

»Willkommen!«, sagte ich nicht ganz freivon Befangenheit, denn mein Geist würdenicht frei sein, solange ich einen Teil vonOvarons Geist beherbergte.

»Ich verstehe dich, Atlan.« In OvaronsGedanken schwang Traurigkeit mit, abervor allem Freude darüber, dass wir – zumin-dest eine Zeit lang – vereint waren.»Übrigens habe ich einen Uralt-Kode anFlorymonthis übermittelt. Ab sofort unter-wirft er sich absolut und endgültig deinerFührung.«

»Ich danke dir!«, dachte ich intensiv.»Damit verfüge ich über einen Hammer, mitdem ich die Macht der Lordrichter zer-schmettern kann, wenn es sein muss.«

»Wenn das Universum es will«, korri-gierte mich Ovaron milde. »Ich hatte vielZeit und drang tief in uraltes Wissen ein.Auch wenn das meiste vergessen ist, so weißich doch, dass es etwas gibt, was die Zei-chen setzt und die Weichen stellt.«

Er lachte leise.»Sei vorsichtig mit dem Flammenstaub,

Atlan. Ich erkenne einen gewissen Frem-deinfluss durch ihn. Gib Acht, dass er nichtan der Substanz deines Geistes zehrt undihm zusetzt!«

Es wurde hell.Und ich befand mich wieder in der ver-

trauten Umgebung.

*

An diesem Tag, dem 25. Oktober 1225NGZ, standen der Fortyn-Takerer Symaltinund ich in einer kuppelförmigen Halle, diesich dreißig Meter hoch und sechzig Meterdurchmessend aus der Außenhülle vonBOYSCH herauswölbte.

Von hier aus war mit bloßem Auge nur

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der umgebende Weltraum mit seinen unzäh-ligen Sternen zu sehen. Irgendwo ließ sichdas hell strahlende Zentrum Gruelfins aus-machen.

Aber das war es nicht, was Symaltin undich beobachteten.

Wir sahen auf den riesigen Trivideo-Schirmen der Kuppel einen Ausschnitt vonBOYSCH mit zahlreichen ausgefahrenenWeichen. An allen waren eiförmige Raum-schiffe unterschiedlicher Größe und mit un-terschiedlichen Konstruktionsmerkmalen an-gedockt: die Schiffe der Jucla-Flotte, diewegen ihrer Beschussschäden repariert wur-den beziehungsweise neue, bessere Aggre-gate installiert bekamen.

Das alles geschah aufgrund des zwischenSymaltin und mir im Namen der Bewohnergeschlossenen Abkommens, das das Lebenaller dieser Intelligenzen grundlegend verän-derte.

Anstatt wie bisher nur für den eigenenWohlstand zu arbeiten und strikte Neutrali-tät zu wahren, waren sie alle in einem gigan-tischen Aufrüstungsprogramm eingespannt.Vorbei war es mit dem Genießen eines trü-gerischen Wohlstands. Die hochmodernenIndustrien würden für lange Zeit ebenso mitVerlusten arbeiten müssen wie das Konsorti-um und die reichen Weichenwärter.

*

Alles, was militärisch nutzbar war, unter-stand ab sofort ausschließlich mir. Dazu ge-hörten auch die Akademien mitsamt dendarin auszubildenden Raumfahrern sowiedie kleine Abwehrflotte von BOYSCH.

Es war nicht leicht gewesen, Symaltin dievollständige Zustimmung zu all diesen Ver-änderungen abzuringen. Er litt noch immerdarunter. Doch ich spürte auch seine emotio-nale Zuwendung. Früher hatte sie Samptaschgegolten. Jetzt galt sie eindeutig mir. Daswar zweifellos darauf zurückzuführen, dassdie Ausstrahlung Ovarons, die früher vonSamptasch gekommen war, nun von mirkam.

Als der mondgroße Sammler von seinerbisherigen Position über die Weichen flogund für Minuten die Sterne verdunkelte,seufzte der Autokrat.

»Mir ist, als wären wir in ein anderes Uni-versum versetzt worden«, flüsterte er kaumhörbar.

»Es ist immer dasselbe Universum, nurändert es sich ständig«, erwiderte ich. »Unddie Zukunft wird noch stärkere Veränderun-gen mit sich bringen.« Sekundenlang warmir schwindlig. Es schien mir, als hätte eineunvorstellbare Wesenheit nach meinem Be-wusstsein gegriffen. Etwas geschieht!

»Durch die Lordrichter?«, fragte Symal-tin.

Als hätte er ein Stichwort ausgesprochen,öffnete sich die Tür. – Herein kamen Symal-tinoron und der Extoscher Persenpo Zasca,dessen Befragung ich vor einigen Tagen un-terbrechen musste, weil die Truppen derLordrichter zum Sturm auf BOYSCH ange-setzt hatten.

Ich winkte sie herbei. Sofort machte sichein beklemmendes Gefühl im Magen breit.Statt einer Begrüßung schleuderte ich Zascadie Frage entgegen, deren Beantwortung ichmit seltener Gier entgegenfieberte: »… undwas haben die Truppen der Lordrichter inder Mythothek von Extosch gesucht?«

»Ja, es kann keinen Zweifel daran geben«,sagte Symaltinoron. »Die Lordrichter such-ten Informationen über den Aufenthalt einesVolkes der Rhoarxi.«

»Des vierten Volkes der Rhoarxi«, er-gänzte Persenpo Zasca.

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.Sie haben keine Ahnung!, wisperte mein

Extrasinn.Nein, das können sie nicht. Sie wissen

nicht, was ich weiß. Die Rhoarxi waren frü-her einmal die Hüter des Flammenstaubesund konnten damit ausgezeichnet umgehen.Andererseits waren sie total süchtig danachgeworden.

Deshalb wurden sie von ihren Auftragge-bern, den Kosmokraten, wie heiße Kartof-feln fallen gelassen. Daraufhin zogen sie

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Page 53: Der Zorn Der Lordrichter

sich in die Intrawelt zurück.Bis auf den vierten Stamm.Jener vierte Stamm trägt den Namen

»Anarii«, wie Tuxit berichtete. Er verwei-gerte aus unbekannten Gründen jedwedeZusammenarbeit und verließ die Gemein-schaft. Seitdem wurde nichts mehr von ihmgehört.

Wenn er jetzt wieder aufgetaucht war –beziehungsweise wenn die Lordrichter sei-nen Aufenthaltsort erfahren hatten, schweb-ten Gruelfin und alle darin existierenden Zi-vilisationen in allergrößter Gefahr. Dennfalls es den Lordrichtern gelang, die Kombi-nation Flammenstaub/Rhoarxi zu manipulie-ren, würden sie in die Lage versetzt, alleVölker Gruelfins unter ihre Gewalt zu brin-gen.

Die Folge wäre ein Unheil unermessli-chen Ausmaßes …

»Was ist mit dir, Atlan?« fragte Symaltin.»Für die Völker Gruelfins bahnt sich eine

Katastrophe an, wenn es uns nicht gelingt,die Lordrichter zu besiegen«, flüsterte ich.

»Aber wir sind stärker« sagte der Auto-krat. »Wir haben hier über die Streitkräfteder Lordrichter gesiegt.«

Ich lachte humorlos, denn ich hatte zu vielerlebt.

»Das war gar nichts. Das Schlimmstesteht uns noch bevor. Für uns gilt das, wasich bei einem Volk in einer weit entferntenGalaxis hörte: ›Nach dem Sieg binde denHelm fester.‹«

Er antwortete nicht, aber ich sah, wie ererschauderte.

Es war nichts gegen das, was mich auf-wühlte …

ENDE

E N D E

Eschens Weltvon Christian Schwarz

Der vierte Stamm der Rhoarxi stellt also das »Missing Link« zwischen Gruelfin und Dwin-geloo dar. Eine äußerst brisante Erkenntnis für unseren Arkoniden, der neben dem Flammen-staub mit Ovarons Bewusstseinssplitter nun einen weiteren »Gast« beherbergt.

Atlan muss sich nun auf den Weg machen, den Exilplaneten jener ominösen Vogelwesen zufinden. Und möglichst vor den Lordrichtern. Wer den »Wettlauf« gewinnt, verrät ChristianSchwarz.

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