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Plenarprotokoll 16/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 32. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 Inhalt: Wahl des Abgeordneten Dirk Becker als Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 25 a und b Begrüßung des Präsidenten der Assemblée nationale, Herrn Debré . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Jörg Rohde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006 (Drucksachen 16/794, 16/1004, 16/1078) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: 1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpassung herausnehmen (Drucksachen 16/826, 16/1078) . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen (inkl. 13686/05 ADD 1) KOM (2005) 507 endg.; Ratsdok. 13686/05 (Drucksachen 16/150 Nr. 2.265, 16/1155) d) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Keine Renten- versicherungspflicht für geschäftsfüh- rende Alleingesellschafter einer GmbH (Drucksache 16/966) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, ins- besondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nach- haltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren (Renten- versicherungsbericht 2005) und Gutachten des Sozialbeirats zum Ren- tenversicherungsbericht 2005 und zum Alterssicherungsbericht 2005 (Drucksache 16/905) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversi- cherungsbericht 2005 (Alterssiche- rungsbericht 2005) und Gutachten des Sozialbeirats zum Ren- tenversicherungsbericht 2005 und zum Alterssicherungsbericht 2005 (Drucksache 16/906) . . . . . . . . . . . . . . . . g) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Nationaler Strategiebericht Alterssicherung 2005 (Drucksache 15/5571) . . . . . . . . . . . . . . . 2587 A 2587 B 2588 C 2608 B 2621 D 2588 C 2588 D 2588 D 2589 A 2589 A 2589 B 2589 C

Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16032.pdf · 2020. 5. 25. · Plenarprotokoll 16/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 32. Sitzung Berlin, Donnerstag,

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Plenarprotokoll 16/32

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

32. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

I n h a l t :

Wahl des Abgeordneten Dirk Becker alsSchriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung der Tagesordnungspunkte 25 a und b

Begrüßung des Präsidenten der Assembléenationale, Herrn Debré . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord-neten Jörg Rohde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes über die Weitergeltung deraktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006(Drucksachen 16/794, 16/1004, 16/1078)

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Arbeit und Soziales zudem Antrag der Abgeordneten VolkerSchneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,Katja Kipping, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der LINKEN: 1-Euro-Jobsaus der Berechnungsgrundlage für dieRentenanpassung herausnehmen(Drucksachen 16/826, 16/1078) . . . . . . . .

c) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Arbeit und Soziales zuder Unterrichtung durch die Bundesregie-rung: Vorschlag für eine Richtlinie desEuropäischen Parlaments und desRates zur Verbesserung der Portabilitätvon Zusatzrentenansprüchen (inkl.13686/05 ADD 1)KOM (2005) 507 endg.; Ratsdok. 13686/05(Drucksachen 16/150 Nr. 2.265, 16/1155)

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2588 D

d) Antrag der Abgeordneten Dr. HeinrichL. Kolb, Jens Ackermann, Dr. KarlAddicks, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Keine Renten-versicherungspflicht für geschäftsfüh-rende Alleingesellschafter einerGmbH(Drucksache 16/966) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Unterrichtung durch die Bundesregie-rung: Bericht der Bundesregierung überdie gesetzliche Rentenversicherung, ins-besondere über die Entwicklung derEinnahmen und Ausgaben, der Nach-haltigkeitsrücklage sowie des jeweilserforderlichen Beitragssatzes in denkünftigen 15 Kalenderjahren (Renten-versicherungsbericht 2005) undGutachten des Sozialbeirats zum Ren-tenversicherungsbericht 2005 und zumAlterssicherungsbericht 2005(Drucksache 16/905) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) Unterrichtung durch die Bundesregie-rung: Ergänzender Bericht derBundesregierung zum Rentenversi-cherungsbericht 2005 (Alterssiche-rungsbericht 2005)und Gutachten des Sozialbeirats zum Ren-tenversicherungsbericht 2005 und zumAlterssicherungsbericht 2005(Drucksache 16/906) . . . . . . . . . . . . . . . .

g) Unterrichtung durch die Bundesregie-rung: Nationaler StrategieberichtAlterssicherung 2005(Drucksache 15/5571) . . . . . . . . . . . . . . .

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

h) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Bericht der Bundesregierung über diegesetzliche Rentenversicherung, insbe-sondere über die Entwicklung derEinnahmen und Ausgaben, der Nachhal-tigkeitsrücklage sowie des jeweils erfor-derlichen Beitragssatzes in den künftigen15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI(Rentenversicherungsbericht 2004)und Gutachten des Sozialbeirats zum Ren-tenversicherungsbericht 2004(Drucksache 15/4498) . . . . . . . . . . . . . . . .

Franz Müntefering, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . .Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Peter Weiß (Emmendingen)

(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . .Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . .Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . .Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:Antrag der Fraktion der LINKEN: FürSelbstbestimmung und soziale Sicherheit –Strategie zur Überwindung von Hartz IV(Drucksache 16/997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 2:Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer,Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Hartz IVweiterentwickeln – Existenzsichernd, indi-viduell, passgenau(Drucksache 16/1124) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . .

2589 C

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2599 C2600 D2601 D2602 B2603 D2604 C2605 D2606 A2606 A2606 D2607 C

2609 A

2609 A2609 B2611 A

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . .

Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU) . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . .

Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 32:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Artikel-10-Gesetzes(Drucksache 16/509) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Umsetzung der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 21. April 2004 be-treffend Übernahmeangebote (Über-nahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz)(Drucksache 16/1003) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Vertrag vom 27. Mai 2005zwischen dem Königreich Belgien, derBundesrepublik Deutschland, demKönigreich Spanien, der FranzösischenRepublik, dem Großherzogtum Luxem-burg, dem Königreich der Niederlandeund der Republik Österreich über dieVertiefung der grenzüberschreitendenZusammenarbeit, insbesondere zurBekämpfung des Terrorismus, dergrenzüberschreitenden Kriminalitätund der illegalen Migration(Drucksache 16/1108) . . . . . . . . . . . . . . .

d) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Umsetzung des Vertrags vom

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 III

27. Mai 2005 zwischen dem KönigreichBelgien, der Bundesrepublik Deutsch-land, dem Königreich Spanien, derFranzösischen Republik, dem Großher-zogtum Luxemburg, dem Königreichder Niederlande und der RepublikÖsterreich über die Vertiefung dergrenzüberschreitenden Zusammenar-beit, insbesondere zur Bekämpfung desTerrorismus, der grenzüberschreiten-den Kriminalität und der illegalenMigration(Drucksache 16/1109) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Agrarstatis-tikgesetzes und des Rinderregistrie-rungsdurchführungsgesetzes(Drucksache 16/1023) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) Antrag der Abgeordneten RainderSteenblock, Winfried Hermann, PeterHettlich, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN: Notschleppkonzept angestiegene Herausforderungen anpassen(Drucksache 16/685) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 3:

a) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKEN: Die Beziehungen zwischenEU und Lateinamerika solidarischgestalten – Kein Freihandelsabkom-men EU-Mercosur(Drucksache 16/1126) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten SibylleLaurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Zwangsheirat wirksam bekämp-fen – Opfer stärken und schützen –Gleichstellung durch Integration undBildung fördern(Drucksache 16/1156) . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 33:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung despatentrechtlichen Einspruchsverfah-rens und des Patentkostengesetzes(Drucksachen 16/735, 16/1153) . . . . . . . .

b) Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu demInternationalen Übereinkommen von2001 über die zivilrechtliche Haftungfür Bunkerölverschmutzungsschäden(Drucksachen 16/736, 16/1154) . . . . . . . .

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c) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Öl-schadengesetzes und anderer schiff-fahrtsrechtlicher Vorschriften(Drucksachen 16/737, 16/1160) . . . . . . . .

d) Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 8. Dezember 2004über den Beitritt der TschechischenRepublik, der Republik Estland, derRepublik Zypern, der Republik Lett-land, der Republik Litauen, der Repu-blik Ungarn, der Republik Malta, derRepublik Polen, der Republik Slowe-nien und der Slowakischen Republik zudem Übereinkommen über die Beseiti-gung der Doppelbesteuerung im Fallevon Gewinnberichtigungen zwischenverbundenen Unternehmen (Drucksachen 16/914, 16/1143) . . . . . . . .

e) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom2. März 2005 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und der RepublikJemen zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung von Luftfahrtunternehmenauf dem Gebiet der Steuern vom Ein-kommen und vom Vermögen (Drucksachen 16/915, 16/1144) . . . . . . . .

f) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung und Berei-nigung des Lastenausgleichsrechts(Drucksachen 16/916, 16/955, 16/1145)

Zusatztagesordnungspunkt 4:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung der Vor-schriften über die Luftaufsicht und dieLuftfahrtdateien(Drucksachen 16/958, 16/1159) . . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus-schusses: Übersicht 2 über die demDeutschen Bundestag zugeleitetenStreitsachen vor dem Bundesverfas-sungsgericht (Drucksache 16/1141) . . . . . . . . . . . . . . .

c) – j)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 28, 29, 30,31, 32, 33, 34 und 35 zu Petitionen(Drucksachen 16/1132, 16/1133, 16/1134,16/1135, 16/1136, 16/1137, 16/1138,16/1139) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Zusatztagesordnungspunkt 5:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bei-trag des Energiegipfels zur Energieversor-gungssicherheit und zur Verringerung derGefahren durch Atomkraft und Klima-wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . .

Ute Kumpf (SPD) (zur Geschäftsordnung) . .

Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Müller, Parl. Staatssekretär BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU) . . .

Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. Rainer Tabillion (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Einsetzung eines Parla-mentarischen Beirats für nachhaltigeEntwicklung(Drucksache 16/1131) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Unterrichtung durch den Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung:Bericht des Parlamentarischen Beiratsfür nachhaltige Entwicklung (Berichtszeitraum: 11. März 2004 bis29. Juni 2005)(Drucksache 15/5942) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Heinz Schmitt (Landau) (SPD) . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 6:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundes-rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Buchpreisbindungs-gesetzes(Drucksachen 16/238, 16/1118) . . . . . . . . . . .

Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Waitz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Monika Griefahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . .

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

Antrag der Abgeordneten Dr. ReinhardLoske, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nie wie-der Tschernobyl – Zukunftssichere Ener-gieversorgung ohne Atomkraft(Drucksache 16/860) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . .

Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes über die Deutsche Nationalbiblio-thek (DNBG)(Drucksachen 16/322, 16/896) . . . . . . . . . . . .

Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Christoph Waitz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . .

Kai Boris Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 V

Tagesordnungspunkt 9:

a) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp,Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Ordnungspolitischer Kompass fürdie deutsche Energiepolitik(Drucksache 16/589) . . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill,Dr. Gesine Lötzsch, Eva Bulling-Schröter,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKEN: Die zukünftige Ener-gieversorgung sozial und ökologischgestalten(Drucksache 16/1082) . . . . . . . . . . . . . . . .

Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zurSicherung von Werkunternehmeransprü-chen und zur verbesserten Durchsetzungvon Forderungen (Forderungssicherungs-gesetz – FoSiG)(Drucksache 16/511) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Geert Mackenroth, Staatsminister (Sachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi,Oskar Lafontaine, Werner Dreibus, Petra Pauund der Fraktion der LINKEN: Gegen dieSchließung von 45 Standorten bei derDeutschen Telekom AG(Drucksache 16/845) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . .

Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2680 B

2680 B

2680 C

2681 C

2683 C

2684 B

2685 D

2686 B

2687 C

2687 C

2688 B

2689 C

2691 B

2692 B

2693 A

2693 D

2694 C

2694 D

2695 D

2697 C

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei-digungsausschusses zu der Unterrichtungdurch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht2004 (46. Bericht)(Drucksachen 15/5000, 16/909) . . . . . . . . . . .

Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . .

Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . .

Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Rolf Kramer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . .

Hedi Wegener (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 13:

Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender,Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Dem Soli-darsystem eine stabile Grundlage geben –für eine nachhaltige Finanzierungsreformder Krankenversicherung(Drucksache 16/950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . .

Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeuregelung der Besteuerung von Energie-erzeugnissen und zur Änderung des Strom-steuergesetzes(Drucksache 16/1172) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . .

Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . .

Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2697 D

2698 C

2700 B

2700 C

2701 D

2702 D

2704 B

2705 B

2706 B

2707 B

2708 A

2708 D

2708 D

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2711 A

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2715 A

2715 D

2716 A

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2720 C

2721 B

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VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Tagesordnungspunkt 15:

Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper,Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDP: Vorausset-zungen für Entwicklung, Bau und Betriebeiner Europäischen Spallations-Neutronen-quelle in Deutschland schaffen – DeutscheBewerbung vorantreiben(Drucksache 16/386) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Fünften Geset-zes zur Änderung des Urheberrechtsgeset-zes(Drucksache 16/1107) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . .

Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab-geordneten Dr. Norman Paech, WolfgangGehrcke, Monika Knoche, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der LINKEN: Weiterverhandeln – kein Militäreinsatz gegen denIran(Drucksachen 16/452, 16/962) . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 6:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab-geordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei,Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN: Für ein friedliches Vorgehen im Kon-flikt über das iranische Atomprogramm –Demokratische Entwicklung unterstützen(Drucksachen 16/651, 16/1157) . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 18:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurEinführung der Europäischen Genossen-schaft und zur Änderung des Genossen-schaftsrechts(Drucksache 16/1025) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2722 C

2722 D

2723 A

2723 C

2724 B

2726 A

2726 D

2727 D

2727 D

2728 B

Tagesordnungspunkt 19:

a) Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,Ulrike Höfken, Cornelia Behm, UndineKurth (Quedlinburg) und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ver-bot der Käfighaltung für Legehennenab 2007 beibehalten(Drucksache 16/839) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Kirsten Tackmann,Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der LINKEN: Ar-beitsplätze durch artgerechte Legehen-nenhaltung in Deutschland sichern –Verbot der Käfighaltung ab 2007durchsetzen(Drucksache 16/1128) . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 7:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz zu dem Antrag der Abge-ordneten Hans-Michael Goldmann,Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. EdmundPeter Geisen, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Keine Wettbewerbsver-zerrungen für Landwirte durch die Umset-zung der EU-Richtlinie zur Haltung vonNutztieren in nationales Recht(Drucksachen 16/590, 16/1142) . . . . . . . . . . .

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . .

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . .

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . .

Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . .

Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

a) Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz,Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Gegen rechtsstaatsfreie Räume –Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen

2728 C

2728 C

2728 D

2729 A

2729 C

2730 C

2731 A

2732 D

2733 C

2735 B

2736 D

2737 C

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 VII

von Akkreditierungsverfahren bedür-fen einer Rechtsgrundlage(Drucksache 16/577) . . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Silke Stokar vonNeuforn, Volker Beck (Köln), MonikaLazar, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN: Kein Generalverdacht beiden Sicherheitsüberprüfungen zur Fuß-ballweltmeisterschaft 2006(Drucksache 16/686) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:

Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, JosefPhilip Winkler, Marieluise Beck (Bremen),weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kinder-rechte in Deutschland vorbehaltlos umset-zen – Erklärung zur UN-Kinderrechtskon-vention zurücknehmen(Drucksache 16/1064) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung desAntrags: Gegen die Schließung von 45 Stand-orten bei der Deutschen Telekom AG (Tages-ordnungspunkt 11)

Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Voraussetzungen für Entwick-lung, Bau und Betrieb einer EuropäischenSpallations-Neutronenquelle in Deutschlandschaffen – Deutsche Bewerbung vorantreiben(Tagesordnungspunkt 15)

2738 C

2738 C

2738 D

2739 A

2739 C

2740 C

2742 A

2743 A

2744 C

2745 A

2745 C

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung desEntwurfs eines Fünften Gesetzes zur Ände-rung des Urheberrechtsgesetzes (Tagesord-nungspunkt 16)

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

– Weiter verhandeln – kein Militäreinsatzgegen den Iran

– Für ein friedliches Vorgehen im Konfliktüber das iranische Atomprogramm – De-mokratische Entwicklung unterstützen

(Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-nungspunkt 5)

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Einführungder Europäischen Genossenschaft und zurÄnderung des Genossenschaftsrechts (Tages-ordnungspunkt 18)

Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2746 B

2748 A

2749 A

2749 D

2750 C

2751 B

2752 B

2753 B

2754 A

2754 C

2755 B

2756 D

2757 D

2759 A

2759 D

2761 B

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VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

– Gegen rechtsstaatsfreie Räume – Sicher-heitsüberprüfungen im Rahmen vonAkkreditierungsverfahren bedürfen einerRechtsgrundlage

– Kein Generalverdacht bei den Sicherheits-überprüfungen zur Fußballweltmeister-schaft 2006

(Tagesordnungspunkt 20 a und b)

Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

2762 A

2763 D

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung desAntrags: Kinderrechte in Deutschland vorbe-haltlos umsetzen – Erklärung zur UN-Kinder-rechtskonvention zurücknehmen (Tagesord-nungspunkt 21)

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

2765 A

2766 A

2766 C

2767 C

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2587

(A) (C)

(B) (D)

32. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Sitzung ist eröffnet.

Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unseren heutigenBeratungen.

Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, erbitte ichIhre Aufmerksamkeit für einige kurze Mitteilungen.

Die Kollegin Mechthild Rawert hat ihr Amt alsSchriftführerin niedergelegt. Als Nachfolger schlägt dieFraktion der SPD den Kollegen Dirk Becker vor. SindSie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist offenkundigder Fall. Dann ist der Kollege Becker zum Schriftführergewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Bundespolitische Folgerungen aus den Vorgängen an derRütli-Hauptschule in Berlin(siehe 31. Sitzung)

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer,Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Hartz IV weiterentwickeln – Existenzsichernd, individu-ell, passgenau– Drucksache 16/1124 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er-gänzung zu TOP 32)a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel,

Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der LINKENDie Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika so-lidarisch gestalten – Kein Freihandelsabkommen EU-Mercosur– Drucksache 16/1126 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten SibylleLaurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPZwangsheirat wirksam bekämpfen – Opfer stärkenund schützen – Gleichstellung durch Integration undBildung fördern– Drucksache 16/1156 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er-gänzung zu TOP 33)a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungder Vorschriften über die Luftaufsicht und die Luft-fahrtdateien– Drucksache 16/958 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) – Drucksache 16/1159 –Berichterstattung:Abgeordnete Dorothee Menzner

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschus-ses (6. Ausschuss)Übersicht 2über die dem Deutschen Bundestag zugeleitetenStreitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht – Drucksache 16/1141 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 28 zu Petitionen– Drucksache 16/1132 –

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 29 zu Petitionen– Drucksache 16/1133 –

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 30 zu Petitionen– Drucksache 16/1134 –

Redetext

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2588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 31 zu Petitionen– Drucksache 16/1135 –

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 32 zu Petitionen– Drucksache 16/1136 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 33 zu Petitionen– Drucksache 16/1137 –

i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 34 zu Petitionen– Drucksache 16/1138 –

j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 35 zu Petitionen– Drucksache 16/1139 –

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Beitrag des Energiegipfels zur Energieversorgungssicher-heit und zur Verringerung der Gefahren durch Atomkraftund Klimawandel

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-geordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe,weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENFür ein friedliches Vorgehen im Konflikt über das irani-sche Atomprogramm – Demokratische Entwicklung un-terstützen– Drucksachen 16/651, 16/1157 –Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Hörster Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer Wolfgang Gehrcke Jürgen Trittin

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenHans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPKeine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch dieUmsetzung der EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztierenin nationales Recht– Drucksachen 16/590, 16/1142 – Berichterstattung:Abgeordente Dr. Peter Jahr Dr. Wilhelm Priesmeier Hans-Michael Goldmann Dr. Kirsten Tackmann Bärbel Höhn

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Hirsch,Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saarbrücken), weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der LINKENAnforderungen an die Gestaltung eines europäischen undeines nationalen Qualifikationsrahmens– Drucksache 16/1127 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, Monika Lazar, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NENMenschenhandel bekämpfen – Opferrechte weiter aus-bauen– Drucksache 16/1125 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 25 a und b sollen abgesetztwerden. Es wird allein über den Antrag der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen – Tagesordnungspunkt 25 c –beraten. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 34 – da-bei handelt es sich um die Abstimmung über die Be-schlussempfehlung zum Antrag auf Einsetzung einesUntersuchungsausschusses – unmittelbar im Anschlussan die Wahl einer Vizepräsidentin aufgerufen werden.Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Wir kommen nun zur Tagesordnung. Ich rufe dieTagesordnungspunkte 3 a bis 3 h auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Weitergeltung der aktuellen Renten-werte ab 1. Juli 2006

– Drucksachen 16/794, 16/1004 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)

– Drucksache 16/1078 –

Berichterstattung:Abgeordneter Anton Schaaf

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenVolker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und derFraktion der LINKEN

1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlagefür die Rentenanpassung herausnehmen

– Drucksachen 16/826, 16/1078 –

Berichterstattung:Abgeordneter Anton Schaaf

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch dieBundesregierung

Vorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates zur Verbesserungder Portabilität von Zusatzrentenansprüchen(inkl. 13686/05 ADD 1)

KOM (2005) 507 endg.; Ratsdok. 13686/05

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2589

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

– Drucksachen 16/150 Nr. 2.265, 16/1155 –

Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)

d) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. KarlAddicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Keine Rentenversicherungspflicht für ge-schäftsführende Alleingesellschafter einerGmbH

– Drucksache 16/966 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Bericht der Bundesregierung über die gesetzli-che Rentenversicherung, insbesondere überdie Entwicklung der Einnahmen und Ausga-ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des je-weils erforderlichen Beitragssatzes in denkünftigen 15 Kalenderjahren (Rentenversiche-rungsbericht 2005)

und

Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi-cherungsbericht 2005 und zum Alterssiche-rungsbericht 2005

– Drucksache 16/905 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Ergänzender Bericht der Bundesregierungzum Rentenversicherungsbericht 2005 (Al-terssicherungsbericht 2005)

und

Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi-cherungsbericht 2005 und zum Alterssiche-rungsbericht 2005

– Drucksache 16/906 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Nationaler Strategiebericht Alterssicherung2005

– Drucksache 15/5571 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Bericht der Bundesregierung über die gesetzli-che Rentenversicherung, insbesondere überdie Entwicklung der Einnahmen und Ausga-ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des je-weils erforderlichen Beitragssatzes in denkünftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154SGB VI (Rentenversicherungsbericht 2004)

und

Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi-cherungsbericht 2004

– Drucksache 15/4498 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-regierung dem Bundesminister für Arbeit und Sozialord-nung, Herrn Franz Müntefering, das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Menschen müssen und sollen Vertrauen in die sozia-len Sicherungssysteme haben. Deshalb haben wir in die-sen Tagen entschieden, dass die Alleingeschäftsführervon GmbHs, die keine Beschäftigten haben, nicht ren-tenversicherungspflichtig werden. Das war eine wich-tige, nötige und schnelle Entscheidung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Ihr solltet den FDP-Anträgen öfter folgen,Herr Minister!)

Es gab ein einsames Urteil des Bundessozialgerichtsdazu und es gab bei über 500 000 davon Betroffenengroße Sorgen. Sie müssen nicht einzahlen und sie müssen

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Bundesminister Franz Müntefering

vor allen Dingen auch nicht nachzahlen. Das haben wirschnell miteinander klargestellt.

Zentrale Themen heute sind der Rentenversiche-rungsbericht und der Alterssicherungsbericht. Damitverbunden sind natürlich auch die Entscheidungen zudem speziellen Gesetz über die Weitergeltung der aktu-ellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006. Dazu will ich zu-nächst ein paar Worte sagen.

Dieses Gesetz über die Weitergeltung der aktuel-len Rentenwerte ab 1. Juli 2006 ist von uns veranlasstund auf den Weg gebracht worden, weil lange Zeit un-klar war, ob zum 1. Juli 2006 eine Kürzung der Rentengemäß der geltenden gesetzlichen Regelung erforderlichwerden würde. Mit dieser Initiative haben wir klarge-stellt: Die große Koalition will, dass die Renten nicht ge-kürzt werden – nicht in diesem Jahr und auch in denkommenden Jahren nicht. Es war aber lange Zeit nichtganz klar, wie die Grundvoraussetzungen für die Ent-scheidung sein würden.

Ihnen ist bekannt, dass sich die Erhöhung der Rentennach der Entwicklung der Einkommen der aktiv Be-schäftigten richtet. Das Ergebnis ist nun, dass wir inzwi-schen wissen, dass die Zunahme der anpassungsrelevan-ten Einkommen der aktiv Beschäftigten im Westen0,2 Prozent beträgt, während es im Osten minus 0,4 Pro-zent sind. Wir wissen auch, dass die Renten nicht ganzso stark erhöht werden, wie die Einkommen steigen,sondern dass sich die Erhöhung um die Riester-Treppeund um den Nachhaltigkeitsfaktor reduziert. Das sindetwa 1,1 Prozent. Wenn man dies abgezogen hätte, dannhätte es auf beiden Seiten eine Kürzung gegeben. Aberes gibt drei Schutzklauseln: Die Rente darf wegen derRiester-Treppe nicht sinken; die Rente darf wegen desNachhaltigkeitsfaktors nicht geringer werden; die Rentedarf sich in den neuen Bundesländern nicht schlechterals in den alten Bundesländern entwickeln. Das heißt un-ter dem Strich: Es bleibt bei null. Die Tatsache, dass wirdies mit einem Gesetz regeln und dafür keine Verord-nung erlassen – das wäre sonst der Fall gewesen –, hatauch den positiven Nebeneffekt, dass die Deutsche Ren-tenversicherung Bund nicht 20 Millionen Bescheide andie Rentnerinnen und Rentner verschicken muss, son-dern dass mit dem vorliegenden Gesetz die Situation ge-regelt wird und damit Rechtsverbindlichkeit eintritt.

Aus den Erkenntnissen der letzten Wochen ziehen wirfolgende Konsequenz: Wir werden dafür sorgen – dienötigen Vorbereitungen dazu laufen –, dass die 1-Euro-Jobs in Zukunft nicht mehr in die Lohnentwicklung ein-gerechnet werden.

(Beifall bei der SPD)

Diese haben die Berechnungsgrundlage in erheblichemMaße verzerrt. Wir möchten, dass die 1-Euro-Jobs inZukunft nicht mehr in den Schnitt der Lohnentwicklungeinbezogen werden.

Bei dem Rentenversicherungsbericht und dem Alters-sicherungsbericht hat es Vorlauf gegeben. Der Alterssi-cherungsbericht – ihn gibt es in jeder Legislaturperiodenur einmal – macht deutlich: Angesichts der demografi-

schen Entwicklung in unserem Land besteht Handlungs-bedarf. Dazu gehört ganz entscheidend, dafür zu sorgen,dass die älter werdende Generation nicht so früh aus demErwerbsleben gedrängt wird oder dass sie in den Fällen,in denen sie ausgeschieden ist, wieder in das Erwerbsle-ben einsteigen kann.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Auf dem letzten Treffen des EU-Ministerrats ist unterHinweis auf die Lissabonstrategie vereinbart worden, zuerreichen, dass bis zum Jahre 2010 50 Prozent der55-Jährigen und Älteren in Europa in Beschäftigungsind. Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt.42 Prozent der 55-Jährigen und Älteren sind berufstätig,58 Prozent nicht. Das hängt damit zusammen, dass50 Prozent der Unternehmen in Deutschland niemandenbeschäftigen, der älter als 50 Jahre ist. Diese Tendenz istschlecht. Diese Mentalität hat dazu geführt, dass inDeutschland – nicht in allen Unternehmen, aber in vie-len; manche sind auch vorbildlich – 55-Jährige und Äl-tere als nicht mehr zu gebrauchen angesehen werden.Das ist falsch. Diese Generation kann noch etwas und siewird auch gebraucht. Wir in dieser Koalition wollen da-für sorgen, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt unddass die Chancen dieser Generation auf dem Arbeits-markt besser werden. Deshalb haben wir die Initiative50 plus gestartet.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das geht nicht schnell und einfach. Aber diese Schrittewollen wir gehen.

Damit verbunden wird das faktische Anheben desRenteneintrittsalters. Es liegt heute im Schnitt, wennman die Erwerbsminderungsrente hinzunimmt, bei60 Jahren und mehr, das heißt bei 39 Lebensarbeitsjah-ren. Mit 21 Jahren steigt man in den Beruf ein und mit60 Jahren und einem bisschen scheidet man aus. Da wirlänger leben – das ist gut; wir hoffen, Sie alle sind beiguter Gesundheit mit dabei; das ist das Schöne an derdemografischen Entwicklung –, bedeutet das aber auch,dass wir deutlich länger Rente zahlen müssen als nochvor Jahrzehnten. Daraus wiederum resultiert angesichtsder aktuellen Bevölkerungsstruktur, dass sich die Zahlder beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,bezogen auf die Rentnerinnen und Rentner, immer wei-ter verschiebt.

Das Verhältnis betrug einmal 8 : 1; in den 50er-Jahrenkamen auf einen Rentner acht Beschäftigte. Heute be-trägt das Verhältnis etwa 1 : 3,2 bis 3,5; also 3,5 Be-schäftigte auf eine Rentnerin oder einen Rentner. ImJahre 2030/40 wird das Verhältnis bei etwa 2 : 1 liegen.Zwei Arbeitnehmer müssen also Steuern oder Sozialver-sicherungsbeiträge zahlen, um einen Rentner zu finan-zieren. Das zeigt die Notwendigkeit, diese Gesellschaftdarüber zu informieren. Wir müssen klar machen, dasswir hier etwas tun müssen. Das Erste, das getan werdenmuss, ist, mit der Initiative 50 plus dafür zu sorgen, dassdie Menschen mit 50 Jahren und mehr nicht aus dem Jobgedrängt werden, sondern dass sie länger arbeiten kön-nen und sie dann, wenn sie keinen Job mehr haben, wie-

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Bundesminister Franz Müntefering

der eine altersgerechte Arbeit aufnehmen können. Daswollen wir erreichen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir werden die hier vorbildlichen Betriebe auszeich-nen. Immer mehr haben längst begriffen, dass ein ver-nünftiger Altersmix im Betrieb wichtig ist. Die Altenlaufen nicht mehr so schnell wie die Jungen; aber ihr Er-fahrungswissen ist ein hohes Gut.

Damit verbunden wird die Entscheidung – in diesemHerbst wird das gesetzlich fixiert –, dass das Rentenein-trittsalter von 65 Jahren auf 67 Jahre steigt. Damit ist dasAlter gemeint, von dem an die Rente ohne Abschlägebezogen wird. Es gibt kein festes Renteneintrittsalterund damit keine Fixierung auf einen bestimmten Tag, andem jemand aus seinem Job ausscheiden muss; das kanner früher oder später tun. Dies ist bereits heute so gere-gelt. Es gibt einen Korridor zwischen 60 und 65, in demjemand aus dem Erwerbsleben ausscheiden kann. Wenner dies mit 60 mit einem Abschlag in Höhe von0,3 Prozent im Monat tut, entspricht das 18 Prozent be-zogen auf die fünf Jahre bis 65.

Der Korridor von 60 bis 65 wird sich bis zum Jahr2029 auf 63 bis 67 verschieben. Dabei werden diejeni-gen, die auf 45 Rentenversicherungsjahre kommen,ihre Rente unverändert mit 65 ohne Abschlag bekom-men. Die anderen werden bis zum Alter von 67 Jahrenzu arbeiten haben oder vorher mit einem Abschlag inRente gehen können, wie es auch heute üblich ist.

Es ist keine leichte Entscheidung; aber wir sind derMeinung, dass dies rechtzeitig deutlich gemacht werdenmuss, damit sich die Menschen in ihrer persönlichenBiografie – und übrigens auch die Tarifparteien – recht-zeitig darauf einstellen und entsprechende Entscheidun-gen treffen können.

Eines ist sicher: Die gesetzliche Rentenversiche-rung bleibt das Kernstück der Alterssicherung in diesemLand. Bei allen Einsparungen macht sie auch weiterhineinen beträchtlichen Anteil der Alterssicherung aus.Aber sie muss um zusätzliche private Vorsorge ergänztwerden. Diese besteht insbesondere aus den beiden Säu-len betriebliche Altersvorsorge und Riesterrente. Inbeiden Bereichen ist ein starker Zuwachs zu verzeich-nen. Inzwischen sind mit steigender Tendenz insgesamt15,7 Millionen Menschen – einschließlich der Beschäf-tigten im öffentlichen Dienst – an einer Form der be-trieblichen Altersvorsorge beteiligt.

Ich begrüße sehr, dass die Tarifparteien sehr daraufbedacht sind; denn wir haben in diesem Bereich eineChance, etwas zu erreichen, was auf anderem Wegenicht so einfach ist: nämlich dass auch diejenigen mitniedrigem Einkommen in die betriebliche Vorsorge miteinbezogen werden. Denn bei der Riesterrente, von derinzwischen schon 5,6 Millionen Menschen Gebrauchmachen, gibt es das Problem, dass sich diejenigen ausunteren Einkommensgruppen zu stark zurückhalten. Wirmüssen ihnen Hilfe geben und dafür werben. Es muss inDeutschland selbstverständlich sein – sowohl innerhalbder Familien als auch in der Gesellschaft insgesamt –, injungen Jahren, also frühzeitig, damit zu beginnen, sich

über die gesetzliche Rentenversicherung hinaus über zu-sätzliche private Vorsorgeinstrumente zu versichern. Dasist auch möglich. Wir werden dafür sorgen, dass derInsolvenzschutz für Betriebsrenten noch verbessertwird. Dies wird zusätzliche Sicherheit schaffen.

Ich möchte mich abschließend auf eine Kabinettsent-scheidung beziehen, die wir gestern getroffen haben,auch wenn sie nicht unmittelbar mit dem Thema zu tunhat. Seitens der Bundesregierung wurde ein 6-Milliar-den-Euro-Programm für Forschung, Entwicklungund Innovation beschlossen, die in den nächsten Jahrensehr gezielt gefördert werden sollen. Dabei soll versuchtwerden, die Wirtschaft mit einzubeziehen und deutlichzu machen, dass wir diesen Weg einschlagen müssen,um ein Wohlstandsland zu bleiben.

Wer eine dauerhafte Alterssicherung will, muss einInteresse daran haben, dass der Wohlstand in Deutsch-land mindestens auf dem derzeitigen Niveau erhaltenbleibt. Wenn er im Jahr 2030 dem heutigen Stand ent-spricht, dann werden die Alten und die Jungen in Wohl-stand leben können. Dann muss man allenfalls über einpaar Prozentpunkte streiten.

Wenn der Wohlstand zurückgeht, dann wird es – wasauch immer wir gegenwärtig in die Gesetze aufnehmen –weniger zu verteilen geben. Wenn man aber Wohlstandwill, dann muss man berücksichtigen, dass wir heute ei-nen gehörigen Teil der Investitionen in die Wirtschaft, indie Herzen und Köpfe der jungen Menschen investierenmüssen. Was wir in Vorschule, Schule, Ausbildung,Qualifizierung und Weiterbildung investieren, bildet dieentscheidende Grundlage für eine vernünftige Alterssi-cherung auch in der Zukunft. Das ist das Wichtigste, wases in diesem Land zu tun gibt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Es ist nicht immer leicht, entsprechend zu argumen-tieren, weil man im Grunde denen, die heute auf Leistun-gen hoffen, die sie auch verdient haben und die wir ih-nen geben möchten, sagen muss, dass ein gehöriger Teildessen für andere Zwecke genutzt werden muss, um da-für zu sorgen, dass die Rente auch für die kommendenGenerationen noch sicher ist.

Der Rentenniveausatz sagt wenig aus, wenn mannicht sicher ist, dass der gleiche Wohlstand, den wirheute haben, auch in die Zukunft transportiert wird. Des-halb verbindet sich an dieser Stelle das Thema „Renteund Zukunft der Alterssicherung“ in der eben geschil-derten Weise mit dem Thema „Bildung, Ausbildung undQualifizierung“.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb,

FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Altersvorsorge ist ein ebenso wichtiges wie sensibles

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Dr. Heinrich L. Kolb

politisches Feld. Die Menschen in unserem Land erwar-ten zu Recht – und sie vertrauen darauf –, dass sie nacheinem langen Arbeitsleben eine ausreichende Versor-gung im Alter aus den drei Säulen gesetzliche Renten-versicherung sowie private und betriebliche Vorsorgehaben. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause einig,dass die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin denKern der Altersvorsorge bilden wird.

Wichtig ist dabei Verlässlichkeit. Deswegen möchteich Ihnen, Herr Minister Müntefering, für Ihre Ankündi-gung danken, der Forderung im FDP-Antrag auf Bun-destagsdrucksache 16/966 zu folgen und Geschäftsfüh-rer einer GmbH, die zugleich Gesellschafter sind, vonder Rentenversicherungspflicht freizustellen. Damitbewegen Sie sich nach einigem Zögern nun doch bei ei-nem Problem, das für zahlreiche mittelständische Unter-nehmer zu einem K.-o.-Kriterium hätte werden können.Sie sind an dieser Stelle nicht der Versuchung erlegen– das ist zu begrüßen –, Kasse zu machen, und das wohlauch deswegen nicht, weil ganz offensichtlich die zu er-wartenden Mehreinnahmen in einem krassen Missver-hältnis zu dem erwartenden volkswirtschaftlichen Scha-den gestanden hätten. Vielen Dank dafür.

(Beifall bei der FDP)

Die heutige umfassende Diskussion über die Rentesollte man mit einer nüchternen Bestandsaufnahme be-ginnen. Die Lage der Rentenkasse ist kritisch. Das ist,Herr Minister, kein Schlechtreden, sondern es ist ein not-wendiger realistischer Blick auf die Verhältnisse. Wirhaben seit Jahren aufgrund einer schleppenden konjunk-turellen Entwicklung und eines schon dramatisch zunennenden Verlustes an sozialversicherungspflichtigerBeschäftigung ein jährliches Defizit der gesetzlichenRentenversicherung in einer Größenordnung von4 Milliarden bis 5 Milliarden Euro. Das hat im Ergebnisdazu geführt, dass trotz des Zuschusses aus den Einnah-men der Ökosteuer an die Rentenversicherung, der An-hebung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung auf19,5 Prozent, der Erhöhung der Beitragsbemessungs-grenze, bislang zwei Nullrunden für die Rentner – so wiees aussieht, kommt noch eine dritte hinzu –, des Ver-kaufs der Gagfah, also des Immobilienvermögens derRentenversicherung, sowie der Verbeitragung derDirektversicherung und der Zusatzversorgung – was dieBetroffenen 2 Milliarden Euro jährlich kostet – am Endedes letzten Jahres die Nachhaltigkeitsrücklage – frühernannte man sie Schwankungsreserve; seitdem sie nach-haltig sein soll, ist sie beileibe nicht mehr so tragfähigwie vorher – mit gerade einmal 1,8 Milliarden Euro denunteren Sollwert von 3 Milliarden Euro nicht erreichthat. Nur durch Inanspruchnahme der Bundesgarantiekonnte unterjährig die Auszahlung der Renten gesichertwerden. Ein ebenso einmaliger wie bemerkenswerterVorgang!

Angesichts dessen muss man eines festhalten, HerrMüntefering: Ohne eine Wende am Arbeitsmarkt, ohneden Aufbau neuer sozialversicherungspflichtiger Be-schäftigungsverhältnisse und ohne eine Zunahme derZahl der Beitragszahler wird die Zukunft der Rente un-

sicher bleiben und werden Spielräume für nennenswertepositive Rentenanpassungen nicht entstehen.

(Beifall bei der FDP)

Aufgabe und Leitlinie der Politik muss es daher sein,alles zu tun, was eine Wende zum Besseren begünstigt,und alles zu unterlassen, was eine positive Entwicklunggefährdet. Deswegen ist es fatal, wenn Sie, wie geplant,am 1. Januar des kommenden Jahres die Mehrwert-steuer um 3 Prozentpunkte anheben; denn das wird einedeutliche Dämpfung der konjunkturellen Entwicklungzur Folge haben.

(Beifall bei der FDP)

Statt mit entschiedenen Reformen die Voraussetzun-gen für mehr Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen,kurieren Sie an den Symptomen. Eine – allerdings sehrbegrenzte – Entlastung erfährt die Rentenkasse in die-sem Jahr durch das Vorziehen der Fälligkeit der Sozial-versicherungsbeiträge. Faktisch 13 Monatsbeiträgewerden im laufenden Jahr 9,6 Milliarden Euro mehr anLiquidität in die Rentenkasse spülen. Aber um welchenPreis, Herr Minister! Der Wirtschaft und vor allem denmittelständischen Betrieben werden in der Summe20 Milliarden Euro Liquidität entzogen. Das ist eingigantisches Konjunkturdämpfungsprogramm, das daszarte Pflänzchen Aufschwung massiv bedroht. Hinzukommen ein erheblicher Umstellungsaufwand sowie einebenfalls erheblicher laufender Aufwand für die monat-lichen Vorabschätzungen der Beitragsschuld, der die Un-ternehmen selbst dann noch drücken wird, wenn der Ent-lastungseffekt dieser Maßnahme längst nicht mehrbesteht.

Ich sage Ihnen voraus: Die Koalition schießt sich andieser Stelle in das eigene Bein. Genauso wenig wie dieRechnung der Vorgängerregierung bei der Tabaksteuerwird diese Kalkulation aufgehen. Das Vorziehen der Fäl-ligkeit kostet Arbeitsplätze und wird die Probleme derRentenversicherung verschärfen. Sie handeln so kurz-sichtig wie ein Bauer, der in einer Hungersnot das Saat-gut zum Brotbacken verwendet. Eine nachhaltige Politikist das jedenfalls nicht.

(Beifall bei der FDP)

Ohnehin haben Sie die nächste Anhebung des Bei-tragssatzes in der Rentenversicherung auf 19,9 Pro-zent am 1. Januar 2007 beschlossen. Das soll 4 Milliar-den Euro zusätzlich bringen. Aber selbst dann muss – imBundeshaushalt 2008 – mit 600 Millionen Euro ausge-holfen werden, um erkennbare Löcher in der Rentenver-sicherung zu schließen. Eine geordnete Rentenpolitiksieht anders aus.

Nun versuchen Sie, Herr Müntefering, den aus der be-schriebenen Entwicklung entstandenen Vertrauensscha-den zu begrenzen, indem Sie vollmundig ankündigen, eswerde wenigstens in dieser Legislaturperiode keine Ren-tenkürzungen geben.

(Peter Weiß [Emmendingen] CDU/CSU: Das ist doch gut!)

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Dr. Heinrich L. Kolb

Das mag gut gemeint sein; aber es ist sachlich falsch.Was glauben Sie denn, wie die Rentner in diesem Landees empfinden müssen, wenn die Rente nicht erhöht wird,sie aber ab dem 1. Januar 2007 eine um 3 Prozent höhereMehrwertsteuer zahlen müssen? Von der in Aussicht ge-stellten Senkung der Arbeitslosenversicherungsbei-träge profitieren diese Menschen ja überhaupt nichtmehr. Ich kann Ihnen sehr deutlich sagen: Diese Men-schen empfinden das als eine Dreistigkeit; sie empfindenes als eine weitere deutliche Kürzung ihrer verfügbarenRenten. Es ist unehrlich, zu behaupten, es gebe keineRentenkürzung, wenn man sie in Wahrheit doch längst inKoalitionsrunden beschlossen hat.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist auch nicht das erste Mal, dass dies geschieht.Schon zweimal haben die Rentner Nullrunden hinneh-men müssen und wurden gleichzeitig zusätzlich belastet:mit dem vollen Pflegeversicherungsbeitrag, mit dem Zu-satzbeitrag zur Krankenversicherung und mit der Verbei-tragung der Zusatzversorgung/Direktversicherung. HerrMüntefering, es kann vor diesem Hintergrund nichtwirklich verwundern, dass das Vertrauen der Rentner inIhre Politik nachhaltig gestört ist.

Weil das so ist, macht es keinen Sinn, sozusagen zurBestärkung einer behaupteten Nichtkürzungsabsicht dasheute hier vorliegende Gesetz über die Weitergeltung deraktuellen Rentenwerte zu beschließen. Hier soll denRentnern ein X für ein U vorgemacht werden. Dieschmerzliche dritte Nullrunde in Folge soll den Betroffe-nen jetzt sogar noch als Erfolg und als Wohltat verkauftwerden. Ich sage sehr deutlich: Eine Absenkung derRenten nach der Rentenformel ist 2006 auch ohne diesesGesetz nicht zu befürchten. Auch die Regierung selberging nie von einer negativen Lohnentwicklung aus, wiesich im Rentenversicherungsbericht zeigt. Die nun vor-liegenden offiziellen Zahlen bestätigen das.

Es ist daher heute das erste Mal, seit ich diesem Ho-hen Haus angehöre – das sind jetzt immerhin schon15 Jahre –, dass der Bundestag ein Gesetz beschließensoll, dessen Regelungsgegenstand zum Zeitpunkt derzweiten und dritten Lesung weggefallen ist. Ich findedas – ich sage es deutlich, Herr Müntefering – unzumut-bar. Hier soll Regierungshandeln vorgetäuscht werden,wo Regierungsversagen festzustellen ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wie auch der Sozialbeirat fordere ich Sie auf, dieses Ge-setz zurückzuziehen, weil es inhaltsleer ist. Es ist einNullum. Das „Handelsblatt“ hat vollkommen zutreffendgeschrieben: „Koalition führt Rentner hinters Licht.“Die Regierung verhindert öffentlichkeitswirksam eineRentenkürzung, die ohnehin nicht gekommen wäre. –Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Nach alledem kann das Vorgehen der Bundesregie-rung bei der Aufstellung des Rentenversicherungsbe-

richtes nicht mehr wirklich überraschen. Ich will hier garnicht mehr auf die zeitlichen Aspekte eingehen, sondernmich ganz auf den Inhalt konzentrieren. Dessen Bewer-tung lautet: Um den Korridor des Rentenversiche-rungs-Nachhaltigkeitsgesetzes mit seinen Niveau- undBeitragszielen einhalten zu können, wird die Entwick-lung der Jahre bis 2019 – also der mittelfristigeBereich – systematisch überschätzt. Der Sozialbeirat hathier von sehr ambitionierten Annahmen gesprochen.

Herr Müntefering – er hört jetzt nicht zu; aber er wirdes hoffentlich nachlesen –, ich finde es in der Tat sehrmutig, wenn im Durchschnitt dieses Zeitraums 2007 bis2019 ein Lohnwachstum von 2,5 Prozent angenommenwird, wo wir doch im Schnitt der letzten zehn Jahre ge-rade einmal 1 Prozent Wachstum der Löhne und Gehäl-ter hatten, wenn im Durchschnitt dieses Zeitraums 2007bis 2019 eine Beschäftigungszunahme von jährlich0,6 Prozent unterstellt wird, wo wir im Schnitt der letz-ten fünf Jahre einen Rückgang um durchschnittlich1,6 Prozent per annum hatten, und wenn im Durch-schnitt dieses Zeitraums ein Wachstum des Bruttoin-landsproduktes angenommen wird, wo wir im Durch-schnitt der letzten fünf Jahre nur 0,8 Prozent, imDurchschnitt der letzten zehn Jahre gerade einmal1,4 Prozent hatten. Mit konkreter Politik unterlegt wur-den diese sehr positiven Annahmen über die Wirtschafts-entwicklung bisher nicht. Es regiert allein das PrinzipHoffnung. Es ist mehr als fraglich, ob alles das Realitätwerden kann, was Sie hier niedergeschrieben haben.Aber Papier ist bekanntermaßen geduldig.

Doch nur mit diesen „mutigen“ Annahmen, der ange-kündigten Anhebung des Renteneintrittsalters auf67 Jahre und dem angekündigten Nachholfaktor – ob dasalles so kommt, wird man sehen müssen – wird es über-haupt möglich sein, im Korridor des Rentenversiche-rungs-Nachhaltigkeitsgesetzes zu bleiben. Das zeigt:Auch mittelfristig ist die gesetzliche Rentenversicherungauf Kante genäht. Es muss schon einiges richtig gut lau-fen, damit die Naht hält.

Gerade weil das so ist, dürfen die betriebliche und dieprivate Vorsorge nicht vernachlässigt werden, sondernmüssen weiter ausgebaut werden. Der Sozialbeirat hat inseinem Gutachten daher zu Recht gefordert, dass dieabgabenfreie Entgeltumwandlung nicht 2008 ausläuft.Die Regierung plant aber genau dies. Wir, die FDP-Bun-destagsfraktion, fordern die Verlängerung der sozialab-gabenfreien Entgeltumwandlung über das Jahr 2008 hi-naus, weil sie sich bewährt hat.

(Beifall bei der FDP)

Die Rente wird in diesem Haus sicher auch in Zu-kunft ein wichtiges Thema sein. Entscheidend ist, dassman mit einer nüchternen Bestandsaufnahme der Ver-hältnisse beginnt. Die Regierung hat bisher versagt, weilsie am Arbeitsmarkt keine Weichenstellung zugunstenvon mehr Beschäftigung und mehr Beitragszahlern vor-genommen hat.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe,

CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten heute abschließend über den Entwurf einesGesetzes über die Weitergeltung der aktuellen Renten-werte ab 1. Juli 2006. Die Bundesregierung hat diesenEntwurf vor zwei Monaten auf den Weg gebracht, umfrühzeitig klarzustellen: Es wird für die Rentner in die-sem Jahr keine Rentenkürzung geben, so wie wir es imKoalitionsvertrag festgelegt haben. Die große Koalitionhält, was sie verspricht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben dieses Gesetz vorsichtshalber in der Tatfrühzeitig eingebracht. Wir stehen für Vertrauen und fürVerlässlichkeit. Wir werden die beitragsfinanzierte ge-setzliche Rentenversicherung als wichtigste Säule derAlterssicherung in Deutschland erhalten. Die Rentnerkönnen sich darauf verlassen, dass sie ihre Altersbezügeweiter erhalten.

Das bedeutet nicht – das wissen auch alle hier imHause –, dass wir etwa die gesetzliche Rentenversiche-rung unter Naturschutz stellen wollen. Es gehört zurWahrheit, festzustellen, dass die heute Jungen den Le-bensstandard durch die gesetzliche Rente allein im Alternicht sichern können. Für sie ist eine kapitalgedeckteErgänzung der gesetzlichen Rente durch betrieblicheund private Altersvorsorge unerlässlich.

Umgekehrt gilt aber auch, dass sich die heutigen Ren-tenbezieher trotz langjähriger Beitragszahlung nicht nurmit Rentenansprüchen in Höhe des Sozialhilfeniveausbegnügen müssen. Die finanziellen Lasten der Alterungmüssen zwischen den Generationen fair und gerecht ver-teilt werden. Genau das ist die Maxime, die Richtschnuraller Entscheidungen der großen Koalition in der Ren-tenpolitik. Diese Entscheidung ist richtig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben dies mit einem rentenpolitischen Maßnah-menpaket verbunden. Vor vier Wochen haben wir diesesPaket mit der Vorlage des Rentenversicherungsberichts2005 mit Zahlen untermauert. Wir beschreiten mit die-sem Zahlenwerk den Weg in die Realität. Lassen Siemich dies an einem Beispiel deutlich machen: Im letztenRentenversicherungsbericht der rot-grünen Bundesregie-rung ging man noch davon aus, dass die Renten bis zumJahr 2018 um gut 30 Prozent steigen. Schön wärs gewe-sen. Nach unserem Bericht liegt der vergleichbare Wertbei 17 Prozent. Das ist zwar weniger, aber es ist ein rea-listischer Wert. Die Zeit der Schönfärberei ist vorbei.Die große Koalition geht mit realistischen Zahlen an dieLösung dieser Probleme heran.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Zuhören, Ge-nossen! Damit seid Ihr gemeint!)

Wahr ist natürlich auch: Wir werden den Rentenver-sicherungsbeitrag im nächsten Jahr von heute 19,5 Pro-zent auf 19,9 Prozent anheben. Ich habe noch keinen se-riösen Vorschlag gehört, wie wir darauf verzichtenkönnen. Ich will daran erinnern: Wir werden gleichzeitigden Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2 Pro-zentpunkte senken. Das bedeutet: Unter dem Strich wer-den Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei den Sozialabga-ben entlastet. Im nächsten Jahr sinkt der Gesamtsozial-versicherungsbeitrag auf unter 40 Prozent. Das ist daserste Mal seit dem Jahr 1995. Das ist ein beachtlicher Er-folg der Konsolidierungspolitik dieser großen Koalition.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Gleichzeitig werden wir – auch das geht aus den Be-richten hervor und ist politisch klar geäußert worden –die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre be-schließen. Auch dazu gibt es, wie wir wissen, keine seri-öse Alternative. Klar ist auch: Das muss mit besonderenAnstrengungen für die Verbesserung der Beschäfti-gungschancen Älterer einhergehen. Diesen Weg wer-den wir beschreiten. Wir legen hier ein Gesamtkonzeptvor.

Es hätte die Möglichkeit bestanden, dass auch die Op-position hier einmal ihr Konzept darlegt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir müssen soviel kritisieren an Ihrer Politik und wir habenso wenig Redezeit!)

Stattdessen betreiben die Oppositionsfraktionen nichtsals Rosinenpickerei. Es ist klar: Die Linken stellen denAntrag, die 1-Euro-Jobs bei der Rentenberechnung nichtzu berücksichtigen. Dieser Antrag ist völlig überflüssig,weil die 1-Euro-Jobs in die Rentenberechnung bisher garnicht einfließen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Der Mann hat keine Ahnung!)

Wir werden sie auch in Zukunft nicht einbeziehen. Dasist politisch klar.

Nun wundert es mich nicht, wenn ein solcher Antragvon den Linken kommt, aber ich muss schon sagen, HerrKollege Kolb: Ich mache mir Sorgen um die FDP undum die Seriosität Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Butter bei die Fische!)

Sie beantragen hier allen Ernstes, wir sollten unserenGesetzentwurf über die Weitergeltung der aktuellenRentenwerte zurückziehen. Was ich hier in Händenhalte, Herr Kollege Kolb, ist die erste von 17 Seiten derVerordnung der vorigen Bundesregierung aus dem letz-ten Jahr, in der festgelegt wurde, dass es im Jahr 2005keine Rentenerhöhung gibt. Dies wollen Sie durch die-ses Papier hier ersetzen und das soll dann, wie derMinister schon gesagt hat, 20 Millionen Mal verschicktwerden, um das den Leuten mitzuteilen. Das ist Ihr Bei-trag zum Bürokratieabbau. Es kann doch wohl wirklich

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2595

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Dr. Ralf Brauksiepe

nicht Ihr Ernst sein, Herr Kollege Kolb, dass Sie uns dashier auch noch als seriöse Alternative verkaufen wollen.Ich verstehe es wirklich nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Herr Kollege Kolb, wir haben vor zwei Tagen Profes-sor Ruland verabschiedet. Ich habe bei der Gelegenheiteinmal mit Norbert Blüm gesprochen und ihn gefragt:Wie war das denn eigentlich mit dem Herrn Kolb, der jaeinmal Staatssekretär war? Ich habe gedacht, er würdemir sagen: Der war immer gegen CDA-Politik, ein ganzschwieriger Fall. – Das hat Norbert Blüm aber gar nichtzum Ausdruck gebracht, sondern er hat gesagt: Mit demHerrn Kolb konnte man sehr gut zusammen regieren.Das war ein sehr guter Mann.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! – Zu-rufe von der FDP)

Herr Kolb, Sie können es doch eigentlich. Von daherbitte ich Sie wirklich: Gehen Sie von diesem unseriösenKurs ab! Wir brauchen in diesem Land eine seriöse libe-rale Opposition, die seriöse Anträge stellt und nicht sol-che, die Sie, meine Damen und Herren, nur stellen kön-nen, weil Sie wissen, dass Ablehnung gesichert ist.Gehen Sie von diesem Weg ab, liebe Kolleginnen undKollegen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir halten fest:Blüm lobt Kolb!)

Ähnliches gilt für Ihren Antrag zur Rentenversiche-rungspflicht für geschäftsführende Alleingesellschaf-ter. Den haben Sie nicht eingebracht, weil Ablehnunggesichert war. Den haben Sie am 15. März vorgelegt, alsErfüllung schon gesichert war, lieber Herr Kolb.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L.Kolb [FDP]: Wie wir es machen, ist es ver-kehrt!)

Hierbei geht es in der Tat um ein ernstes Problem. Ichbin dem Kollegen Max Straubinger aus unserer Fraktiondankbar. In den regelmäßigen Gesprächen, die wir in derKoalition haben, hat er als Erster dieses Thema ange-sprochen und darauf gedrungen, dafür eine Lösung zufinden.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Guter Mann!)

Ich kann erfreut feststellen: Unsere sozialdemokrati-schen Partner

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Freunde! Die sozialdemokratischen Freunde!)

sind für unsere guten Argumente meistens offen, so auchin diesem Fall. Deshalb sind sie unseren Argumenten ge-folgt. Wir haben uns vor Wochen auf diese Regelungverständigt. Nachdem das politisch klar war, haben Siediesen Antrag gestellt in dem Wissen, dass das sowiesopassiert. Das ist keine seriöse Oppositionspolitik, liebeKolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Weil ich gerade dabei war, wollte ich eigentlich auchnoch etwas Unfreundliches zu den Grünen sagen,

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Gib uns noch mehr!)

musste aber feststellen: Wir beraten die Tagesordnungs-punkte 3 a bis h, aber Sie von den Grünen haben leiderüberhaupt nichts vorgelegt. Es liegt kein Gesetzentwurf,kein Antrag, nicht einmal ein Entschließungsantrag vonIhrer Fraktion vor.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Rente interessiert die nicht!)

Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass es von Ihnen kei-nen Beitrag zu dieser Debatte gibt. Deswegen muss ichSie heute leider aussparen. Vielleicht kommt von Ihnenin der Zukunft wieder etwas, wenn Sie mit Ihren inter-nen Problemen fertig sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich komme zu dem Konzept der Rentenpolitik dergroßen Koalition zurück.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Zu den Freun-den in der großen Koalition!)

Wir werden die Maßnahmen sinnvoll aufeinander aufge-baut fortführen. Im nächsten Jahr wird es eine moderateErhöhung des Rentenbeitragssatzes geben. Wir werdendie in diesen Jahren nicht durchgeführten Rentenkürzun-gen durch den Einbau eines Nachholfaktors in der Ren-tenanpassungsformel nachholen, weil die Jungen aufDauer nicht allein die Lasten tragen können.

(Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU])

Vielmehr muss jede Generation ihren Beitrag leisten.Darum werden wir das so machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Alle diese Maßnahmen gehen mit einem moderat stei-genden Bundeszuschuss an die Rentenkasse einher.Wenn man sich die Mühe macht, die Zahlen aus demBundeshaushaltsplanentwurf 2006 mit denen der letztenJahre zu vergleichen, wird man feststellen: Der Anstiegdes Bundeszuschusses ist heute deutlich geringer als inder Vergangenheit. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, auch zusagen: Ohne eine solche moderate Steigerung geht esnicht. Neben den Beitragszahlern und den Rentnernmuss auch der Steuerzahler seinen Beitrag zum Erhaltdes Systems der gesetzlichen Rentenversicherung leis-ten.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dassuns das Thema Rente in der gesamten Wahlperiode be-gleiten wird. Das gilt für die gesetzliche Rente genausowie für die kapitalgedeckte Altersvorsorge.

Lassen Sie mich, weil das angesprochen worden ist,noch ein Wort zur sozialabgabenfreien Entgeltum-wandlung bei der betrieblichen Altersvorsorge sagen.Es ist doch völlig klar, dass man es, wenn man in Zeitenvon 5 Millionen Arbeitslosen, leeren Rentenkassen undeiner geringen Quote von Menschen – etwa jeder siebte

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2596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Dr. Ralf Brauksiepe

bis achte –, die die Riester-Förderung in Anspruch neh-men, die Regierungsgeschäfte übernimmt, mit Ziel-konflikten zu tun hat. Aber ich finde, es ist selbstver-ständlich, dass man bei den Dispositionen, die man trifft,von der geltenden Rechtslage ausgeht. Die Rechtslageist ganz klar die, dass diese sozialabgabenfreie Entgelt-umwandlung, die die Sozialkassen an anderer Stelle eineMenge Geld kostet, im Jahr 2008 ausläuft. Jeder, derseine Dispositionen verantwortlich trifft, wird erst ein-mal von dieser bestehenden Rechtslage ausgehen.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Werden Sie das ändern?)

Wir haben uns gleichwohl vorgenommen, vor demHintergrund der positiven Entwicklung seit dem In-Kraft-Treten des Alterseinkünftegesetzes im vergange-nen Jahr bis zum nächsten Jahr zu prüfen, wie die Ent-wicklung weiter verläuft. Im Jahr 2007 werden wir dannentscheiden, welche Maßnahmen wir zur weiteren För-derung der betrieblichen und privaten Altersvorsorgeergreifen. Damit ist im Jahr 2006 das zu diesem Themagesagt, was dazu zu sagen ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schieben, schie-ben, schieben! Alles Wiedervorlage!)

Wir werden die Entscheidungen vor dem Hintergrundder Erkenntnisse, die wir bis zum nächsten Jahr gewon-nen haben, verantwortlich treffen.

Damit wird insgesamt deutlich, liebe Kolleginnen undKollegen: CDU/CSU und SPD stellen sich den Proble-men in der Rentenversicherung. Wir haben beim ThemaRente wichtige Entscheidungen getroffen. Wir betreibenkeine Rosinenpickerei wie die Opposition, sondern wirhaben ein in sich geschlossenes, wenn auch nicht popu-läres Konzept, das es nunmehr in Gesetzesform zu gie-ßen gilt. Das haben wir uns für die Zukunft vorgenom-men. Jeder ist herzlich eingeladen, dabei konstruktivmitzuwirken.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber keinermuss! Man muss nicht jeden Quatsch mitma-chen!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Ernst von

der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Der Oberpopulist!)

Klaus Ernst (DIE LINKE): Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Man soll ja positiv denken. Ich möchte dasheute einmal versuchen, auch wenn es mir angesichtsdes Rentenberichts der Bundesregierung äußerst schwerfällt. Aber das Positive zuerst: Man nimmt richtiger-weise künftig die 1-Euro-Jobs aus der Berechnung desRentenwertes heraus.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist wichtig und gut. Es freut mich, dass Sie unsereAnregung aufgenommen haben.

(Lachen bei der CDU/CSU und der SPD)

Zum Zweiten. Es geht um ein Gesetz über die Weiter-geltung der aktuellen Rentenwerte, das die Bundesregie-rung eingebracht hat. Jetzt hören wir, dass dieses Gesetzeigentlich überhaupt nicht notwendig sei,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)

weil die Renten gar nicht sinken würden, da nämlich dieLohnerhöhung offensichtlich doch noch so hoch sei,dass es für eine Nullrunde reiche und keine Rentensen-kung vorgenommen werde. Jetzt frage ich mich natür-lich: Warum macht die Bundesregierung ein Gesetz, daseigentlich überflüssig ist?

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man sich diesem Gedanken nähern will, dannist es hilfreich, ab und zu im „Handelsblatt“ zu blättern.Dort heißt es:

Da liegt nicht nur der Verdacht nahe, dass sich diePolitik mit einer Shownummer brüsten will. Ganznebenbei spart sie sich per Gesetz auch die Infor-mation der Ruheständler über die Entwicklung ihrerBezüge, auf die diese eigentlich ein Anrecht haben.

Meine Damen und Herren, ich glaube, es geht sogarnoch um ein bisschen mehr. Jeder weiß, dass diese Bun-desregierung den Rentnern in unerträglicher Weise andie Wäsche geht.

(Beifall bei der LINKEN)

Jeder weiß, dass die gesetzlichen Maßnahmen, die ge-plant sind, zu massiven Einschnitten bei den Rentnernführen würden. Wenn man jetzt ein Gesetz veröffent-licht, über das die Presse schreiben kann, dass die Bun-desregierung diejenige ist, die die Rente eigentlichsichert, dann deutet das darauf hin, dass sich die Bundes-regierung damit möglicherweise einen Imagevorteil ver-schaffen will. Das ist ein Etikettenschwindel genau wievor der Bundestagswahl, Herr Müntefering. So betreibenSie hier in diesem Hause Politik.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun kommen wir zum eigentlichen Punkt, nämlichzum Rentenversicherungsbericht. Alte und neue Bun-desregierung haben seit Jahren ihre Finger in den Geld-börsen der Rentner. Da wird das Sicherungsniveau auf46,3 Prozent reduziert. Es gibt von 2005 bis 2009 fak-tisch Nullrunden. Herr Müntefering, eigentlich sind eskeine Nullrunden. Denn Sie wissen ganz genau, dass wirgleichzeitig Inflation und dass wir gleichzeitig eineMehrwertsteuererhöhung haben. Wenn man dies übervier Jahre summiert, dann ergibt sich in den nächstenvier Jahren real eine Rentenkürzung von mindestens8 Prozent.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie glauben, dass das sozialdemokratische Politikist, dann glauben Sie auch, dass Zitronenfalter Zitronenfalten, Herr Müntefering.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

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Klaus Ernst

Wenn Sie gleichzeitig auch noch den Bundeszuschusssenken, wenn Sie gleichzeitig die Heraufsetzung desRenteneintrittsalters auf 67 Jahre einführen wollen, dannkann ich nur sagen, dass das mit einer vernünftigenSozialpolitik überhaupt nichts mehr zu tun hat. DieSchwankungsreserve ist inzwischen aufgebraucht; sie isteigentlich gleich null. Reden Sie also nicht mehr vonSchwankungsreserve! Was nicht mehr vorhanden ist,kann doch auch nicht mehr schwanken. Das ist dochweg, meine Herren und Damen.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch dieser Etikettenschwindel wird von der Bundes-regierung betrieben.

Sie denken darüber nach, wie Sie in dem Ausmaß, indem die Renten in diesem Lande aufgrund Ihrer Berech-nungsmethoden sinken, die Diäten für die Abgeordnetennach einer anderen Berechnungsmethode erhöhen könn-ten.

(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Das würde dazu führen, dass ein Abgeordneter 1,3 Pro-zent mehr Diäten bekommen soll. Das kann zwar uns alsAbgeordnete freuen. Aber draußen versteht das keinMensch mehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Hier wird eine Politik betrieben, die immer andere be-trifft, aber die eigenen Taschen füllt. Das ist verwerflichund nicht zu akzeptieren, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Müntefering, bei Ihren Berechnungen bauen Sieauf Sand. Die Zahl der Arbeitslosen, so lese ich in IhremBericht, soll von 2005 bis 2009 um 650 000 sinken. Wiewollen Sie dies, bitte schön, erreichen? Die Vorschläge,wie Sie die Arbeitslosigkeit reduzieren wollen, bleibenSie schuldig. Jeder weiß, dass Ihre Politik eher dazu füh-ren wird, dass die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt.Diese Milchmädchenrechnung, die Sie hier aufmachen,glaubt Ihnen doch keiner mehr. Woher nehmen Sie bei-spielsweise Ihre Annahme, dass die Entgelte ab 2010statt um 3 Prozent immer noch um 2,5 Prozent steigensollen? Ich habe den Eindruck, Sie haben sich zum Kaf-feesatzlesen getroffen und dann Ihren Bericht veröffent-licht.

Mit Ihrer Politik zerstören Sie die Grundlagen diesesSozialstaats. Sozialstaat ist nämlich nicht nur Armen-küche, Sozialstaat ist nicht nur die Verteilung von Sup-pen an Bedürftige. Sozialstaat hat auch etwas mit Orga-nisation zu tun. Wenn man eine Versicherung hat, dannentsteht ein Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistungdadurch, indem man einzahlt. Sie haben aber letztend-lich vor, dieses Niveau so weit nach unten zu drücken,dass jeder, der irgendwann in seinem Leben einHartz-IV-Empfänger wurde und nicht privat vorsorgenkonnte, an die Armutsgrenze gedrückt wird. Das istkeine Sozialpolitik, sondern eine gezielte Verarmungkünftiger Generationen.

(Beifall bei der LINKEN)

Um es noch einmal deutlich zu machen, will ich je-manden zitieren, der zumindest in der CDU noch be-kannt sein müsste, auch wenn es einigen von Ihnenschwer fällt, sich an ihn zu erinnern. Er hat nämlich ge-sagt:

Wenn Armutsvermeidung zur Hauptaufgabe desSozialstaates wird, verwandelt sich dieser in eineBedürfnisprüfungsanstalt, weil er – bevor er Hilfeleistet – ständig fragen muss: „Bist du reich, bist duarm?“

Das war Ihr Herr Blüm, der das gesagt hat.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)

Wo er Recht hat, hat er Recht, auch wenn Sie ihn heute,wie Herrn Kirchhof, am liebsten wegsperren würden. Soist doch die Realität.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Rente hat schon jetzt ein Niveau erreicht, vondem viele nicht mehr vernünftig leben können. Sie ma-chen Politik nicht für die Menschen, sondern offensicht-lich für Zahlen. Ihr oberstes Ziel ist die Beitragssatz-stabilität. Aber Sie vergessen dabei, wie es den Leutengeht, die von ihrer Rente letztendlich leben müssen.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Von den Arbeitnehmern reden Sie nicht!)

Ihr Ziel ist übrigens – das ist der nächste Etiketten-schwindel – nicht Beitragssatzstabilität. Sie können esnoch so oft behaupten: Das glaubt Ihnen kein Menschmehr. Denn die einzige Gruppe, für die der Beitragssatztatsächlich stabil bleibt, sind die Unternehmen. Aber fürdie Arbeitnehmer bleibt der Beitragssatz nicht stabil,wenn sie privat vorsorgen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Private Vorsorge bedeutet, dass zwar die Arbeitgeberbei-träge auf unterem Niveau eingefroren werden, dass abergleichzeitig die Arbeitnehmer durch ihre private Zusatz-versicherung, die sie abschließen müssen, weniger in derTasche haben als vorher. Beitragssatzstabilität findet nurfür die Arbeitgeber statt, aber nicht für die Bevölkerungund nicht für die Versicherten. Deshalb sage ich: WennSie das so machen, ist das, was Sie der Bevölkerung sug-gerieren, Etikettenschwindel. Sie entlasten die Arbeitge-ber, ohne dass es einen Effekt hat.

Ich sage Ihnen: Die eigentliche Ursache für die Pro-bleme in der Rentenversicherung liegt darin, dass dieLöhne in diesem Lande nicht mehr steigen. Sie steigenunter anderem deshalb nicht, weil Sie durch Ihre Politikdazu beigetragen haben, dass die Gewerkschaften in ei-ner Art und Weise geschwächt werden, dass Lohnerhö-hungen kaum noch durchsetzbar sind. Ein Arbeitslosen-geld-II-Empfänger weiß, was er bekommt. Diejenigen,die noch keine Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind, dienoch in Arbeit sind, wissen, was ihnen blühen würde,wenn sie Arbeitslosengeld II bekommen würden. Des-halb ist es natürlich so, dass die Widerstandskraft in denBetrieben bzw. bei den Beschäftigten gesunken ist. Des-halb haben wir Nullrunden und letztendlich auch einProblem in der Rentenversicherung. Weil es inzwischen

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Klaus Ernst

6 Millionen Menschen gibt, die mit prekären Arbeitsver-hältnissen, mit Billigjobs abgespeist werden, wird unzu-reichend in die Sozialkassen eingezahlt. Wenn Sie dasändern, würden Sie das Übel tatsächlich an der Wurzelpacken und nicht permanent die kleinen Leute schröp-fen, Herr Müntefering.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme damit zum Schluss. Sie haben gesagt: DieMenschen sollen Vertrauen haben. Herr Müntefering,worin denn? Ihrer Politik zu vertrauen ist so, als würdeman den Würger von Boston um eine Halsmassage bit-ten. Das wäre genau dasselbe.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –Veronika Bellmann [CDU/CSU]: So einSchwachsinn!)

Wer Ihnen traut, hat künftig dafür zu sorgen, dass er ir-gendwie über die Runden kommt. Mit der Rente wird esjedenfalls bei dieser Politik der Bundesregierung nichtmehr klappen. Die Rente wird von dieser Regierung ka-puttgemacht.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard Schewe-

Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Ernst, ich beneide Sie: Es ist schön, wennman ein so einfaches Weltbild hat, wie Sie es haben. Dakann man sich zufrieden zurücklehnen.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPDund der FDP)

Wir diskutieren heute über eine Reihe rentenpoliti-scher Vorhaben. Ich beginne mit dem Entwurf eines Ge-setzes zur Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte. Zieldieses Gesetzentwurfes war es, mögliche Rentenkür-zungen aufgrund niedriger Lohnsteigerungen zu vermei-den. Dieses Ziel hat meine Fraktion voll und ganz unter-stützt. Da das Ministerium selbst jetzt aber bestätigt,dass es aufgrund der Lohnentwicklung nicht zu einerRentenkürzung kommen wird, ist dieser Gesetzentwurfabsolut überflüssig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man kann es auch anders ausdrücken: Stell dir vor, dieRegierung macht ein Gesetz und keiner braucht es.

Herr Minister Müntefering, man sollte die Sauerlän-der nicht unterschätzen: Sie sind ein Fuchs. Sie habenvor den Landtagswahlen den Robin Hood der Rentnerund Rentnerinnen gespielt und ihnen gesagt, dass SieRentenkürzungen per Gesetz ausschließen. Die Men-schen sind froh und akzeptieren scheinbar dankbar eineneue Nullrunde. Doch nun, da Sie wissen, dass die Ren-ten nicht gekürzt werden müssen, fordere ich Sie auf:Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

Machen Sie keine Symbolpolitik mit einem Gesetz, dasniemals zur Anwendung kommen wird!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-KEN)

Ich komme zum nächsten Punkt, zu den Rentenversi-cherungsberichten 2004 und 2005. Was die Menschenbei der sozialen Sicherung und gerade bei der Rentedringend brauchen, sind Vertrauen und Verlässlichkeit.Ich glaube, dass Ihre Annahmen bezüglich der Lohnent-wicklung und des Wirtschaftswachstums viel zu opti-mistisch sind. Ich erinnere an die Fehlprognosen von1995. – Herr Kollege Brauksiepe, 1995 gab es leidernoch keine rot-grüne Bundesregierung.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da waren die Zahlen auch noch gut!)

Natürlich wünsche auch ich mir, dass die Gewerk-schaften endlich wieder bessere Tarifabschlüsse durch-setzen können; denn das ist gut für die Beschäftigten, dieBinnennachfrage und letztendlich auch für die Renten.Aber ein Rentenversicherungsbericht ist nun einmal keinWunschkatalog. Wir brauchen eine realistische Vorschauauf die nächsten 15 Jahre.

Die gesetzliche Rente hat in den letzten Jahren durch-aus schmerzhafte Reformen durchlebt. Niveausenkun-gen und der Nachhaltigkeitsfaktor sind in diesem Zu-sammenhang nur zwei Stichworte. Aber dadurch ist siezukunftsfähig geworden. Durch sie werden die meistenMenschen vor Armut geschützt. Sie wird aber nicht aus-reichen, um den Lebensstandard im Alter zu sichern. Pri-vate und betriebliche Vorsorge tut zusätzlich Not.

Der ehemalige Geschäftsführer des Verbandes Deut-scher Rentenversicherungsträger, Franz Ruland, der„Rentenpapst“, hat am 3. April dieses Jahres in einemInterview mit der „FAZ“ die Einschätzung vertreten:

Was im Rentensystem kürzbar war, ist gekürzt wor-den.

Ich schließe mich dieser Einschätzung explizit an underweitere sie um die Bemerkung: Innerhalb des bisheri-gen Umlagesystems der gesetzlichen Rentenversiche-rung sind alle Reformen durchgeführt worden, die ver-tretbar sind. Die schrittweise Heraufsetzung desRenteneintrittsalters, die noch zu verabschieden ist,schließe ich in diese Bemerkung ausdrücklich ein. HerrMinister, wir unterstützen Sie bei der Heraufsetzung desRenteneintrittsalters; denn das ist eine logische Konse-quenz des längeren Lebens. Heute beziehen die Men-schen 17 Jahre lang Rente, 1960 waren es zehn Jahreweniger. Ich fordere Sie aber auf, bei der Umsetzungnicht zu stümpern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Be-schäftigung Älterer in den Unternehmen sind wie einGespann. Beides muss parallel und im gleichen Tempolaufen; ansonsten geht es schief. Hier ist die Wirtschaftin der Verantwortung. Ohne Arbeitsplätze für Ältere ist

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Irmingard Schewe-Gerigk

die Rente mit 67 eine Rentenkürzung und das lehnen wirab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wird gern verschwiegen, aber wir haben ein struk-turelles Problem bei den Einnahmen der Rentenversi-cherung. Diese Schwierigkeit ist nicht kurzfristiger Na-tur. Sie wird in den nächsten Jahren andauern, wenn wirnicht an den Ursachen ansetzen. An dieser Stelle ist diegroße Koalition blind; denn sie ignoriert die Analysenamhafter Experten. Bereits im Gutachten zum Renten-versicherungsbericht 2004 hat der Sozialbeirat auf dieProbleme bei der Entwicklung der Beitragseinnahmenaufmerksam gemacht. Er hat die Diskrepanz zwischendem gestiegenen Bruttoinlandsprodukt und sinkendenEinnahmen der Rentenversicherung benannt. Die Ursa-chen liegen auf der Hand: gedämpfte Lohnentwicklung,weniger sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige,weniger Pflichtversicherte, mehr Selbstständige, mehrgeringfügig Beschäftigte und mehr Arbeitslose mit ei-nem niedrigeren Beitrag. Doch obwohl CDU/CSU undSPD das Gutachten bekannt war, haben sie keine adä-quaten Konsequenzen daraus gezogen, sondern dieSchlussfolgerung im Koalitionsvertrag ins Gegenteilverkehrt. Im Gutachten zum Rentenversicherungsbericht2005 bewertet der Sozialbeirat die Annahmen zur kurz-und mittelfristigen Beschäftigungs- und Entgeltentwick-lung an mehreren Stellen als ambitioniert. Offensichtlichwollte sich der Sozialbeirat diplomatisch ausdrückenund die positiven Konjunkturerwartungen nicht dämp-fen.

Schauen Sie aber in die neueste Studie „PrognosDeutschland Report 2030“. Darin steht, dass in dennächsten 25 Jahren mit einem massiven Rückgang vonArbeitsplätzen im traditionellen Industriebereich zurechnen ist. Daneben wird von einer starken Zunahmeder Zahl der Selbstständigen gerechnet. Aufgrund derletzten Jahre wissen wir, dass Selbstständigkeit in vielenFällen eine selbst gewählte Notlösung ist, um der Ar-beitslosigkeit zu entgehen. Sorge bereiten uns vor allemjene Selbstständige, die nicht in der Lage sind, sich aus-reichend sozial abzusichern.

Herr Minister Müntefering, in der Haushaltsdebatteder letzten Woche haben wir Ihnen vorgeworfen, dassSie den Bundeshaushalt zulasten der Versicherten sanie-ren, zum Beispiel durch die Erhöhung der Sozialabga-ben für Minijobs. Ihr Sozialbeirat wird da sehr vieldeutlicher – ich zitiere –: „Die Erhöhung von Sozialbei-trägen mit dem ausdrücklichen Ziel, den Bundeshaushaltzu entlasten, ist verfassungsrechtlich problematisch.“

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als Beispiel für diesen verfassungsrechtlich bedenkli-chen Eingriff in die Finanzierungsgrundlagen der Ren-tenversicherung wird im Gutachten die Halbierung desMindestbeitrags von 78 auf 40 Euro für Langzeitarbeits-lose kritisiert. Während jede Existenzgründerin undjeder freiwillig Versicherte den Mindestbeitrag von78 Euro entrichten muss, macht der Bund in seinem ei-genen Gestaltungsbereich selbstherrlich Ausnahmen. Ichempfinde das als Politik nach Gutsherrenart.

Ich komme zu den Betriebsrenten. Wer ein Gesamt-rentenniveau erreichen will, das den Lebensstandard si-chert, muss rechtzeitig auch privat und betrieblich vor-sorgen. Gerade durch die Entgeltumwandlung hat sichdie Betriebsrente enorm etabliert. Wir begrüßen daherden Entwurf der europäischen Richtlinie zur Portabili-tät von Zusatzrentenansprüchen.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Dashat aber mit Entgeltumwandlung nichts zutun!)

– Ich komme gleich darauf, Herr Kollege. – ModerneArbeitsmärkte fordern auch mobile Beschäftigte. Des-halb muss die betriebliche Altersvorsorge flexibler wer-den. Sie darf nicht als Finanzierungsmasse der Arbeitge-ber verwendet werden und muss stärker vor Insolvenzgeschützt werden.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Weiß?

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Kollege Weiß, es ist mir eine Freude.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es ist mir eine Freude,

dass ich Ihnen heute Morgen eine Freude machen kann.

(Heiterkeit)

Sie haben soeben ausgeführt, dass die Grünen die Be-triebsrenten in Deutschland stärken und weiter ausbauenwollen – was, wie ich glaube, die Zustimmung des gan-zen Hauses findet – und dass die Entgeltumwandlungeine sehr gute Grundlage bildet. Das ist vollkommenrichtig. Dann haben Sie aber einen Schlenker zu dereuropäischen Richtlinie zur Portabilität von Zusatzren-tenansprüchen gemacht. Ich weiß nicht, wie das zusam-menpassen soll, Frau Kollegin Schewe-Gerigk. Alle Ex-perten des Betriebsrentensystems in Deutschland sagenuns: Wenn wir diese EU-Richtlinie, so wie sie ist, akzep-tieren würden, würde dadurch das System der Betriebs-renten in Deutschland keinen Aufschwung erleben, son-dern zusammenbrechen. Viele Betriebe würden sich ausdem Betriebsrentensystem verabschieden. Die Zusatz-versorgung für Angehörige des öffentlichen Diensteswäre am Ende. Deswegen kann ich nicht verstehen, wiedas zusammenpassen soll. Erklären Sie uns einmal, wiediese EU-Richtlinie mit ihren negativen Auswirkungenfür das Betriebsrentensystem zu Ihrer Aussage passensoll, dass Sie die Betriebsrenten fördern wollen!

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Wir haben gesagt, dass wir die Entgeltumwandlungnicht weiter sozialversicherungsmäßig und steuerlichfördern wollen. Denn in dem betreffenden Gesetz wurdeeine Laufzeit bis 2008 beschlossen. Dazu kommt, dassdiese Maßnahme die Sozialkassen ziemlich plündert. Sie

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Irmingard Schewe-Gerigk

war als Anschubfinanzierung vorgesehen und dieses Zielhat sie erreicht.

Bei der EU-Richtlinie handelt es sich doch ganz ein-deutig darum, dass diejenigen, die mobil sind, jungeMenschen, nicht erst ab einem Alter von 30 Jahren, son-dern bereits ab 21 Jahren geschützt werden sollen. Esgibt junge Leute, die ins Ausland gehen und ihre Renten-ansprüche mitnehmen wollen. Sie möchten ferner, dassdas nicht erst nach einer Betriebszugehörigkeit von fünfJahren möglich sein soll, sondern bereits nach zwei Jah-ren. Das ist doch eine wichtige Sache. Ich finde, eineMaßnahme, die steuerlich begünstigt ist und von der dieArbeitnehmer auch etwas haben, gehört in das Eigentumder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn solcheZusagen vorliegen. Es ist absolut richtig, dass diese An-sprüche mitgenommen werden können und sie den Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch zustehen.Aber ich werde darauf gleich in meiner Rede noch inten-siver eingehen, Herr Kollege.

Ich habe dank Ihrer Zwischenfrage meine Redezeitnoch etwas verlängern können.

Wir wollen aber auch, dass Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen die betriebliche Altersvorsorge bei einemWechsel des Arbeitgebers generell und uneingeschränktweiterführen können. Bereits bestehende Ansprüche fürausscheidende Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnenmüssen dynamisiert werden, damit sie sich nicht mit derZeit entwerten.

Was tut die Regierung? Jetzt komme ich auf die Stel-lungnahme der Bundesregierung zu dieser EU-Richt-linie zurück; wir haben es gestern im Ausschuss disku-tiert. Da sagt die große Koalition: Eigentlich wollen wiruns von der EU gar nichts sagen lassen.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Richtig!)

Ich dachte immer, wir seien ein Mitgliedsland der Euro-päischen Union. Aber Sie meinen: Eigentlich hat die EUin diesen Dingen nichts zu sagen. Die Stellungnahme derBundesregierung ist sehr einseitig an den Interessen derArbeitgeber ausgerichtet. Auch wir wollen, dass die be-triebliche Altersvorsorge für die Arbeitgeberinnen undArbeitgeber interessant bleibt. Aber aus lauter Arbeitge-berfreundlichkeit die Flexibilisierung der betrieblichenAltersvorsorge gleich ganz abzulehnen, das wäre unseresErachtens ein kapitaler Fehler. Damit schaden Sie derbetrieblichen Altersvorsorge.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Esist gerade umgekehrt!)

Ich komme zum Schluss. Betrachte ich die Rentenpo-litik der großen Koalition – wir haben darüber ja in denletzten Wochen und Monaten viel gehört und hier disku-tiert –, dann kann ich nur sagen: Der Zickzackkurs gehtweiter. Sie machen jeden Tag neue Vorschläge, die Siedann wieder zurücknehmen; ich nenne nur: die Erhö-hung des Bundeszuschusses im nächsten Jahr mit600 Millionen Euro, die Reduzierung der Rentenbeiträgeab dem Jahre 2014 – wo Sie genau wissen, dass da ge-

rade die Babyboomer in Rente gehen – und viele andereDinge, etwa die Ausnahmeregelung bei der abschlag-freien Rente, bei der Sie sagen: Die Dachdecker müsseneigentlich schon früher in Rente. Im Rentenversiche-rungsbericht findet man davon überhaupt nichts wieder.Dann wenden Sie sich den Betriebsrenten zu und sagen:Hier wollen wir Einschnitte vornehmen. – Am nächstenTag ist das alles wieder nicht richtig. Es ist ein Hin undHer und da fällt auf: Von der Kanzlerin ist in diesem Zu-sammenhang überhaupt nichts zu hören. Haben Sie vonder Kanzlerin mal etwas zur Rentenpolitik gehört, zudem wichtigsten Thema, das wir derzeit diskutieren?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jede Menge!)

Herr Müntefering, manchmal tun Sie mir ja auch et-was Leid; denn Ihre Fraktion hat sich in dieser Fragevollkommen weggeduckt. Ich finde, das ist keine verant-wortliche Politik. Hier müssen Sie endlich den Men-schen verlässliche Konzepte vorlegen, damit sie sichdarauf einstellen können. Denn gerade diejenigen, diekurz vor der Rente stehen oder die schon im Rentenbe-zug sind, können doch in ihrem Leben nichts mehr ver-ändern; sie sind auf Verlässlichkeit angewiesen. Sie wol-len im Alter eine auskömmliche Rente und ein Leben inWürde haben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Jetzt hat das Wort der Kollege Peter Friedrich für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Peter Friedrich (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir diskutieren heute über die Weitergeltungder aktuellen Rentenwerte und den Rentenversiche-rungsbericht 2005. In der Debatte wurde die Generatio-nengerechtigkeit mehrfach angesprochen. Ich bin dank-bar, dass ich als jüngerer Abgeordneter die Möglichkeithabe, für meine Fraktion ein paar Anmerkungen dazu zumachen.

Erste Anmerkung. Es ist das Verdienst und die Ver-antwortung einer realistischen Reformpolitik, dass dieBewältigung der demografischen Entwicklung nicht imKonflikt zwischen den Generationen stattfindet. EinKrieg der Generationen findet in Deutschland nicht statt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Die Bürgerinnen und Bürger aller Generationen sind zueinem solidarischen Beitrag bereit.

(Vorsitz: Vizepräsident Wolfgang Thierse)

Wir haben Korrekturmechanismen in das System ein-gebaut, die der veränderten Altersstruktur der Bevölke-rung Rechnung tragen. Diese würden kurzfristig zu Ren-tensenkungen führen. Malen Sie sich einmal aus, wasdas für die Menschen bedeuten würde: Das hätte einen

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Peter Friedrich

gravierenden Vertrauensverlust in die gesetzliche Rentezur Folge, den kein Mensch ernsthaft wollen kann; es seidenn – das ist der einzige Grund, diesen Vertrauensver-lust in Kauf zu nehmen –, er hofft darauf, dass Alterssi-cherung ein rein privates, persönliches Risiko wird.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das will niemand!)

Wer aber glaubt, Generationengerechtigkeit durch we-niger Solidarität zu erreichen, der irrt, Herr Kolb.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Deshalb ist der Entwurf eines Gesetzes über die Weiter-geltung der aktuellen Rentenwerte richtig.

Die Anstrengungen, die wir jetzt im Bereich Renteunternehmen, müssen von Reformen der anderen großensolidarischen Sicherungssysteme flankiert werden. Wirstehen gegenüber den Menschen in der Verantwortung,ihnen eine längere reale Lebensarbeitszeit zu ermögli-chen. Das gilt – das wurde schon angesprochen – für dasEnde des Erwerbslebens, das heißt, dass die Menschendas Renteneintrittsalter tatsächlich im Erwerb stehenderleben müssen. Das gilt aber auch für den Anfang desErwerbslebens. Die Gesamtarbeitszeit der Menschenmuss zunehmen.

Wir müssen auch die Auswirkungen der Demografieauf die anderen Sicherungssysteme berücksichtigen. Des-halb diskutieren wir momentan über die Frage, wie dieGesundheitsreform weitergehen kann. Wer glaubt – wiedas mehrfach in die Diskussion geworfen wurde –, mankönne eine Reform auf höhere Zu- und Aufzahlungengründen, der irrt. Das hieße nämlich nichts anderes, alsdass wir von den Rentnerinnen und Rentnern an der Apo-theke das zurückfordern, was wir ihnen vorher gegebenhaben. Das hieße, die Kranken müssten mit den Gesun-den solidarisch sein. Auch das können wir nicht wollen.

Zweite Anmerkung. Bei der Rentenfrage muss mannicht über zwei, sondern über drei betroffene Generatio-nen sprechen. Wir diskutieren viel und emsig über dieBeitragszahler und die Leistungsempfänger. Generatio-nengerechtigkeit ist aber mehr als eine reine Zahlungs-bilanz. Es geht auch um die Frage, in welchem Zustandsich die Solidargemeinschaft befindet, in die zukünftigeBeitragszahler hineingeboren werden, in der sie auf-wachsen. Daher sind für die zukünftige Struktur derRente folgende Fragen von Bedeutung: Wie schaffen wirnachhaltiges Wachstum? Wie schaffen wir eine dauer-hafte Steigerung der Qualität unseres Bildungssystems?Wie schaffen wir die Integration zugewanderter Bürge-rinnen und Bürger? Wie ist der Wohlstand zwischen denGenerationen und innerhalb einer Generation verteilt?

(Beifall bei der SPD)

Herr Ernst, in Ihrer Rede spielten all diese Themenkeine Rolle. Deshalb möchte ich mir einen Hinweisnicht verkneifen: Wer in der Debatte immer wieder be-tont, man müsse den Wohlhabenden endlich einmal anden Kragen, um das finanzieren zu können – in dieserVerbalität tragen Sie das vor –, und gleichzeitig Vor-schläge zur Vermögensteuer auf den Tisch legt, die eine

Besteuerung ab 300 000 Euro vorsehen, der sollte einerEisenbahnerwitwe, die sich zum Beispiel in Radolfzellam Bodensee – meinem Wahlkreis – zusammen mit ih-rem Mann in Eigenarbeit ein Häuschen gebaut hat, er-klären, was das für sie bedeuten würde. Die Häuser ha-ben einen Wert, der weit über diesen Beträgen liegt.Wollen Sie tatsächlich über die Vermögensteuer von die-ser Frau Solidarbeiträge einfordern?

(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)

Das steht tatsächlich in Ihrem Konzept. Sie sollten ein-mal schauen, wen Sie damit eigentlich treffen und wel-che Leute Sie für die Wohlhabenden dieses Landes hal-ten.

(Beifall der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Ernst?

Peter Friedrich (SPD): Ja.

Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Friedrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-

men, dass bei unseren Vorschlägen zur Vermögensteuerein Häuschen im Wert von 300 000 Euro unter den Frei-betrag fallen würde?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn so ein Häuschen in Stuttgart wert?)

Peter Friedrich (SPD): Herr Ernst, ich nehme das zur Kenntnis. Allerdings

stelle ich Ihnen anheim, zur Kenntnis zu nehmen, dassSie in meinem Wahlkreis für 300 000 Euro wahrschein-lich kein Häuschen finden werden. Das ist das Problem.Die Leute sehen ihr Eigenheim als Altersvorsorge an. Esist für sie mehr als nur in Haus. Trotzdem wollen Sie– so steht es in Ihrem Konzept – da heran.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine dritte Anmerkung: Der wichtigste Beitrag zueiner erfolgreichen Rentenpolitik in Zukunft ist eine er-folgreiche Familienpolitik. Natürlich können wir nichtbinnen weniger Jahre die Ergebnisse einer seit Jahrzehn-ten laufenden gesellschaftlichen Entwicklung korrigie-ren. Aber so zu tun, als sei Demografie gottgegeben undein Naturgesetz, bedeutet, sich vor der politischen Auf-gabe zu drücken. Deutschland braucht mehr Kinder. Eskommt häufig der Einwand, diese Kinder müssten dannja auch Arbeit haben und Beiträge zahlen, um der Renteüberhaupt zu nutzen. Der Einwand ist natürlich richtig.Aber es heißt, den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun.Kinder sind mehr als nur persönliches Glück. Sie sindauch ein Wachstumsimpuls für die Gesellschaft und fürdie Wirtschaft eines Landes. Damit wir mehr Kinder be-kommen, brauchen wir in Zukunft für die Menschen dieVerlässlichkeit, dass die Betreuung der Kinder gewähr-leistet ist und dass Beruf und Familie dauerhaft mit-einander vereinbar sind.

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Peter Friedrich

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vierte Anmerkung: Ebenso wie Geld eine zentraleRessource für die Rente ist, ist Vertrauen eine zentraleRessource für die Rente. Deswegen ist meine Bitte analle hier im Haus, insbesondere an die, die an den Rän-dern sitzen: Hören Sie auf, bei den Menschen bezüglichder Rente Ängste zu schüren. Hören Sie damit auf! Hö-ren Sie auf der einen Seite damit auf, den Beitragszah-lern Angst zu machen, sie würden überfordert, und hörenSie auf der anderen Seite auf, ihnen Altersarmut einzure-den und den Systemkollaps zu propagieren.

(Zuruf von der LINKEN)

Dies beschreibt nicht die Realität der Rente in Deutsch-land. Sie wissen ganz genau, dass wir bei der Altersar-mut so gut dastehen wie noch nie zuvor.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wenn Sie dies nicht berücksichtigen, machen Sie denMenschen Angst. Sie treiben sie aus einem solidarischenSicherungssystem. Mit dieser Propaganda verringern Siedie Solidarität in unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen ist es gut, dass die große Koalition für die,die darauf angewiesen sind, dass ein solidarisches Siche-rungssystem existiert und für sie da ist, wenn sie es brau-chen, eine verlässliche Grundlage schafft und sich nichtaus populistischen Gründen vor der Verantwortungdrückt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kollege Friedrich, dies war Ihre erste Rede im Deut-

schen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle gutenWünsche für Ihre weitere Arbeit!

(Beifall)

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Peter Weiß,CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir führen ja manchmal eine eher kurzatmige Renten-debatte über viele Einzelfragen. Die Oppositionsrednerverstehen es meisterhaft – zumindest versuchen sie es –,noch ein paar zusätzliche Kampfschauplätze aufzuma-chen

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Danke! Danke!)

und sich an Einzelpunkten festzuklammern. Man fragtsich: Was soll das Ganze, was Sie hier vorführen, eigent-lich? „Bild“ und „Super Illu“ machen das auch. Sie spre-

chen von einer Schrumpfrente und machen den Leutenschlichtweg Angst, was ihre Sicherheit im Alter betrifft.

Ich finde, dass solche Debattenbeiträge, die deneigentlichen Kern des Themas vermeiden, nur dafür sor-gen, dass Rentnerinnen und Rentner wie auch Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich verunsichertwerden. Aber die Menschen in unserem Land wollenkeine hysterischen Schlagzeilen, sondern sie wollen wis-sen, wie es um ihre Altersversorgung wirklich bestelltist. Das wird im Rentenversicherungsbericht und im Al-terssicherungsbericht der Bundesregierung in aller Klar-heit dargelegt. Darüber sollten wir miteinander reden.

Deswegen steht im Koalitionsvertrag: Mit der großenKoalition wird es selbst dann, wenn sich die Löhneschlecht entwickeln, keine Rentenkürzung geben. Übri-gens wird es, Herr Kolb, auch keine Rentenkürzungdurch die Hintertür geben. Sie haben ja nicht über dieseLegislaturperiode gesprochen, sondern über die vergan-gene Regierung; Ihre Rede war sehr rückwärtsgewandt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Damals war der Minister Fraktionsvorsitzender!)

Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land könnensich darauf verlassen, dass wir dieses Versprechen einlö-sen. Ein Gesetz, wie wir es heute beschließen, ist diestärkste Form der Einlösung unseres Versprechens. Esgibt mit Schwarz-Rot keine Rentenkürzung. Das istFakt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Bei all diesem Gerede, das nichts anderes als Verun-sicherung schafft, muss man einfach noch einmal klarund deutlich sagen: Grundsätzlich gilt für die Rente zu-allererst die Mathematik. Wer Adam Riese außer Kraftsetzen will, wird bei der Rente eine Bauchlandung erle-ben.

Die Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesell-schaft, die Zunahme der Zahl älterer Mitbürgerinnen undMitbürger und die steigende Lebenserwartung, zwingenuns dazu, mit unserer umlagefinanzierten Rentenversi-cherung auf diese Herausforderung zu antworten, aller-dings nicht mit Wehgeschrei, sondern mit einemAusgleichsmechanismus, der für eine solidarischeGenerationengerechtigkeit sorgt. Darum geht es beider gesetzlichen Rentenversicherung.

Das war auch schon das Kennzeichen aller bisherigenRentenreformen, angefangen von Norbert Blüm imJahr 1992. Wären diese Reformen nicht durchgeführtworden, würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung,den die jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer inunserem Land im Jahr 2030 voraussichtlich zahlenmüssten, zwischen 36 und 41 Prozent liegen. Das würdefür die jungen Leute das endgültige Aus der Solidaritätbedeuten. Genau das wollen die Linken:

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ui! Ui!)

den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutsch-land noch mehr Geld von ihrem sauer verdienten Lohnwegnehmen.

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Peter Weiß (Emmendingen)

(Lachen bei der LINKEN)

Das, was die Linken wollen, bedeutet unter dem Strich:Alle werden gleich arm gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: So ein Blödsinn!)

Um eine solidarische Generationengerechtigkeit her-zustellen, müssen wir konsequenterweise auch dieRegelaltersgrenze schrittweise auf 67 Jahre erhöhen.Im Rentenversicherungsbericht wird deutlich, dass esgelingen kann – das ist unser Wille –, den Beitragssatzzur gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2030unter 22 Prozent zu halten. Ein Beitragssatz von 22 Pro-zent ist wesentlich geringer als ein Beitragssatz von36 bis 41 Prozent. Das könnte die junge Generation nochtragen.

Am Dienstag dieser Woche ist der „Papst“ der deut-schen Rentenversicherung, Professor Ruland, offiziell inden Ruhestand verabschiedet worden. In einem Inter-view mit der „FAZ“ vom 3. April dieses Jahres hat ernoch einmal trotz des bestehenden Reformbedarfs diegroße Anpassungsfähigkeit und die Krisenfestigkeit desUmlagesystems hervorgehoben.

Man kann, so glaube ich, heute in der Tat feststellen:Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt auch in Zu-kunft das wesentliche und prägende Element der Alters-vorsorge in Deutschland. Aber die Botschaft an die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und vor allem an diejunge Generation muss lauten: Die gesetzliche Renten-versicherung allein reicht zur Sicherung des Lebensstan-dards im Alter nicht mehr aus. Sie muss zwingend umdie betriebliche und die private, kapitalgedeckte Alters-vorsorge ergänzt werden, wenn man nicht in Altersarmutgeraten will.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Deshalb ist die politisch spannende und zentrale Auf-gabe, die vor uns liegt, eigentlich nicht so sehr die Frage,wie es mit der gesetzlichen Rente aussieht, sondern:Schaffen wir es, dafür zu sorgen, dass möglichst jederArbeitnehmer eine betriebliche und eine private Alters-vorsorge aufbaut?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das muss mansich aber auch leisten können, Herr Weiß! –Zuruf von der LINKEN: Und was ist mit denHartz-IV-Beziehern? Wie soll das denn ge-hen?)

Die Finanzwirtschaft vermeldet, dass mittlerweile5,6 Millionen Riesterverträge abgeschlossen wurden.Das ist schön. Aber das sind noch immer viel zu wenige.Deswegen müssen wir uns bemühen, die Attraktivitätder privaten Altersvorsorge zu steigern. Wir tun das, in-dem wir noch in diesem Jahr ein Gesetz beschließenwerden, durch das selbst genutztes Wohneigentum in dieFörderung der Riesterrente aufgenommen wird. Da-rüber hinaus werden wir den Betrag, mit dem der StaatFamilien mit Kindern fördert, deutlich erhöhen.

An dieser Stelle will ich noch Folgendes erwähnen:Es ist bereits heute möglich, dass eine Familie mit zweiKindern, die einen jährlichen Eigenbetrag von 64 Euroin eine Riesterrente einzahlt, zusätzlich 336 Euro vomStaat geschenkt bekommt. Ich finde, das ist ein großzü-giges Angebot des Staates, um die Menschen zur priva-ten Altersvorsorge zu motivieren. Das wollen wir alsgroße Koalition sogar noch verbessern. Deswegen binich überzeugt: Wenn wir nicht schlecht über das ThemaAltersvorsorge reden, sondern den Leuten erklären, wasin diesem Land möglich ist, dann werden wir es schaf-fen, dass in ausreichendem Maße private und betrieb-liche Altersvorsorge betrieben werden, sodass das Ge-samtversorgungsniveau der Menschen im Alter nichtsinkt, sondern zumindest so hoch bleibt, wie es gegen-wärtig ist. Der Alterssicherungsbericht der Bundesregie-rung zeigt: Wenn es uns gelingt, die Kombination ausgesetzlicher Rente, betrieblicher Altersvorsorge undRiesterrente für alle so attraktiv zu machen, dass sie sienutzen, steigt das Alterseinkommen in Zukunft sogar.Deswegen sage ich: Wir brauchen kein Untergangsge-schrei, wie es hier zum Teil aufgeführt wird, sondernPlanbarkeit und Verlässlichkeit – dann bleibt Altersar-mut in Deutschland auch in Zukunft ein Fremdwort.

Vielen Dank!

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Anton Schaaf (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

schon bei der letzten rentenpolitischen Debatte in diesemHause gesagt: Wir haben es mit einer Gemengelage zutun: zwischen gnadenlosem Populismus auf der einenSeite

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, na, na!)

und gnadenloser Klientelpolitik auf der anderen Seite.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Realismus, Herr Schaaf!)

Auf der linken Seite dieses Hauses hat sich nicht viel ge-ändert, auf der rechten Seite ist allerdings gnadenloserPopulismus hinzugekommen; das muss man in allerDeutlichkeit feststellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L.Kolb [FDP])

– Herr Kolb, ich bin gerne bereit, den Nachweis anzutre-ten. Sie haben gerade gesagt, wir würden den Rentnerin-nen und Rentnern mit verschiedensten Instrumentenmassiv in die Tasche greifen,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, sicher!)

also real Rentenkürzungen vornehmen. Ich gebe unum-wunden zu, dass es in den letzten Jahren zusätzliche

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Anton Schaaf

Belastungen für die Rentnerinnen und Rentner gegebenhat – als ihr Solidarbeitrag zum Erhalt der sozialen Si-cherungssysteme,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na also!)

insbesondere bei der Gesundheitsvorsorge – und dass dieMehrwertsteuererhöhung nicht kompensiert werdenkann.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na also!)

Das gestehe ich Ihnen zu.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Aber jetzt will ich den Menschen draußen im Landemal sagen, was Sie vorschlagen: Die FDP schlägt vor,den Rentenversicherungsbeitrag nicht von 19,5 Prozentauf 19,9 Prozent zu erhöhen, sondern ihn sogar abzusen-ken: auf 19 Prozent.

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Im Klartext geht es um 5 bzw. 9 Milliarden Euro. Sie sa-gen aber nicht, wer das finanzieren soll. Das heißt, esgeht um Kürzungen bei den Rentnerinnen und Rentnern.So steht es in Ihrem Konzept: reale Kürzungen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unser Konzeptsieht anders aus! Was Sie da in der Hand hal-ten, ist eine Fälschung!)

Das wollen wir den Menschen nicht zumuten. Und Siewerfen uns vor, dass wir den Rentnerinnen und Rentnernin die Tasche greifen! Das ist unlauter, um das ganzdeutlich zu sagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Kolb, in all Ihren Papieren betonen Sie, dass diegesetzliche Rentenversicherung auch in Zukunft die zen-trale Säule der Altersversorgung sein wird. Dieser Über-zeugung bin auch ich, und wir müssen alles dafür tun,damit das auch in Zukunft so bleibt. Aber dann liest manin einem mir vorliegenden Papier der Jungen Liberalen– die hoffentlich nie in die Verantwortung kommen –,dass die Julis die umlagefinanzierte Versicherung ab-schaffen wollen. Das ist die Realität in der FDP. Und Siestellen sich hier hin und klagen laut über das, was dieVorgängerregierung getan hat und die große Koalitiontut, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zumachen!

(Beifall bei der SPD)

Das ist die Gemengelage.

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kolb?

Anton Schaaf (SPD): Aber selbstverständlich.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Kollege Schaaf, würden Sie mir zustimmen,

dass Sie jetzt demselben Denkfehler unterliegen wie inder letzten Legislaturperiode bei der Tabaksteuererhö-hung, als Sie die Steuersätze erhöht haben und dann erle-ben mussten, dass unter dem Strich sogar geringere Ein-nahmen erzielt werden? Können Sie sich vorstellen, dassniedrigere Rentenbeiträge zu mehr sozialversicherungs-pflichtiger Beschäftigung und damit zu mehr Beitragszah-lern führen können und dass das am Ende der wirksamereWeg ist, um die Rentenkasse und die Rentenzahlungenzu stabilisieren?

Mit Ihrer Politik der permanenten Mehrbelastung derMenschen durch permanente Beitragserhöhungen be-schreiten Sie den falschen Weg: Sie haben mit Ihrer Poli-tik den massiven Verlust von anderthalb Millionen Ar-beitsplätzen in fünf Jahren zu verantworten; das sage ichbesonders an Sie als SPD-Kollegen gerichtet. HöhereBeiträge sind der falsche Weg. Beitragssenkungen undder Aufbau von Beschäftigung, das ist die Lösung desProblems. Da sollten Sie mir doch eigentlich zustimmen,oder?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Anton Schaaf (SPD): Herr Kolb, wir haben diese Diskussion an anderer

Stelle schon geführt. Ich sage Ihnen noch einmal: DerWiderspruch liegt bei Ihnen. Auch ich war der Meinung,dass man die Mehrwertsteuer nicht erhöhen sollte.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)

Aber man kann das tun, wenn damit die Lohnnebenkos-ten gesenkt werden. Genau da widersprechen Sie sichdoch, wenn Sie jetzt fordern, dass die Mehrwertsteuernicht erhöht wird.

Also, wir haben uns auf den Weg gemacht und einenschwierigen Kompromiss gefunden: um die Lohnneben-kosten abzusenken, um die Beitragszahlerinnen und Bei-tragszahler zu entlasten und übrigens auch – das sage ichan die FDP gerichtet –, damit private Vorsorge überhauptmöglich wird. Was private Vorsorge angeht, argumentie-ren Sie ja gerne, die Arbeitslosengeld-II-Empfänger hät-ten bei der Riesterrente ja gar keine Chance und deswe-gen drohe Altersarmut. Da liegen Sie aber falsch. Diedrohende Altersarmut resultiert daraus, dass die Men-schen keine Arbeit haben, und nicht daraus, dass sienicht privat vorsorgen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Unser Interesse muss also zunächst einmal darin liegen,dass die Menschen in Brot und Arbeit kommen. Das istdoch die entscheidende Frage. Die Argumentation aufIhrer Seite würde ich also noch einmal sehr deutlichüberprüfen.

Herr Kolb, lassen Sie mich noch etwas zur Sozialab-gabenfreiheit bei der Entgeltumwandlung sagen.Auch das ist natürlich ein Punkt, über den man diskutie-ren kann. Ich weise nur darauf hin: Wenn uns die Ein-nahmen aus diesem Bereich in der gesetzlichen Renten-

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versicherung fehlen, dann trifft das im Nachgang imWesentlichen die, die nicht privat vorsorgen konnten.Das ist eine ganz einfache Geschichte. Diese Einnahmenwerden im sozialen Sicherungssystem, in der Rentenver-sicherung, fehlen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei den Interes-sen der Hartz-IV-Empfänger seid ihr nicht sozimperlich!)

Von daher muss man sehr genau hinschauen, was man ander Stelle tun will.

Noch einmal an die linke Seite des Hauses gerichtet:Ich halte es für eine Verkürzung der Diskussion, wennman sagt, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf67 Jahre bedeute eine massive Rentenkürzung. Wennman sich die Historie der gesetzlichen Rentenversiche-rung anschaut, dann erkennt man, dass es eine giganti-sche Steigerung bei der Rente gab. Als wir die gesetzli-che Rentenversicherung eingeführt haben, betrug diedurchschnittliche Bezugsdauer der Rente acht Jahre;mittlerweile sind wir bei 18 Jahren. Wenn man das eineso nicht fassen möchte, dann kann man es aus meinerSicht andersherum auch nicht fassen. Wir reden hier ausmeiner Sicht nicht über eine Rentenkürzung, sonderndarüber, dass die Lebensarbeitszeit länger sein muss alsbisher, damit die sozialen Sicherungssysteme auf Dauererhalten werden können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst?

Anton Schaaf (SPD): Nein, danke.

Lassen Sie mich noch drei inhaltliche Punkte sagen.

Erstens. Wir haben gesagt, dass mit der Gesetzesini-tiative zur Anhebung des Renteneintrittsalters auf67 Jahre ein Programm für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer über 50 Jahre einhergehen muss. Es kannnicht sein, dass viele Betriebe in unserem Lande ältereArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor dem Hinter-grund, dass sie relativ teuer und eventuell nicht mehr soleistungsfähig sind, entlassen und das Problem in dieVerantwortung der Allgemeinheit stellen. Für die Be-schäftigung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer tragen auch die Unternehmer in diesem Landihre Verantwortung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es kann nicht sein, dass die Unternehmen im Lande nachIngeneurinnen und Ingenieuren rufen, während gleich-zeitig 20 000 Ingenieure arbeitslos sind. Die Verantwor-tung für Qualifizierung und Weiterbildung liegt hier beiden Unternehmen, nicht bei der Allgemeinheit. DieseVerantwortung muss man noch einmal in aller Deutlich-keit zuweisen.

(Beifall bei der SPD)

Der zweite Punkt ist die Altersteilzeit. Wenn wirmeinen, dass die Menschen später in Rente gehen sollen,dann sollten wir allerdings auch über flexible Modelledafür miteinander diskutieren können. Wir wissen ja,dass die Förderung der Altersteilzeit 2009 ausläuft. Wirsollten uns noch einmal Gedanken darüber machen. Ichhalte es eigentlich für unsinnig, dass es zwei große Brü-che im Leben gibt, nämlich einmal den, wenn wir vonder Schule in den Beruf gehen, und einmal den, wennwir aus dem Beruf in die Rente gehen. Wir sollten dieseÜbergänge flexibler gestalten und Möglichkeiten dafürsuchen, dass die Menschen flexibler mit diesen Über-gängen umgehen können, damit es keine Brüche mehrsind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht zulas-ten der Beitragszahler, Herr Schaaf!)

Der dritte und letzte Punkt, den ich noch ansprechenmöchte, ist die Frage der Erwerbsminderung. Wennwir sagen, dass die Menschen länger arbeiten sollen,dann müssen wir sicherlich auch individualisierte Instru-mente für diejenigen haben, die nicht mehr oder nicht solange arbeiten können. Deswegen bitte ich, in den De-batten, die wir jetzt zu führen haben, insbesondere auchnoch einmal die Frage der Erwerbsminderung auf dieAgenda zu nehmen. Eine Überlegung wäre zum Bei-spiel, das Alter, ab dem die Möglichkeit eines abschlags-freien Zugangs besteht, nicht gleichzeitig mit dem Ren-teneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen, sondern es bei63 Jahren zu belassen. Ich denke, das ist ein überlegens-werter Ansatz.

Meine Damen und Herren, ich will mit einem Satzschließen, der da lautet: Auch in Zukunft ist die Rente si-cher – sicher die zentrale Säule der Altersvorsorge. WirSozialdemokraten werden uns darum bemühen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem

Kollegen Klaus Ernst.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Dulieber Gott! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Er kann es nicht lassen!)

Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Schaaf, ich möchte Ihnen nur zur Kenntnis ge-

ben – ich gehe davon aus, dass Sie das nicht wussten –,dass das Leben eines Gerüstbauers in der Bundes-republik im Durchschnitt nach 64 Jahren endet. Wennder Plan der Bundesregierung, ihn bis 67 Jahre arbeitenund erst dann in Rente gehen zu lassen, zur Umsetzunggelangt, wird er drei Jahre vor Rentenbezug ableben. –Das nur als Hinweis!

(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-mendingen] [CDU/CSU]: Sie kennen das Sys-tem überhaupt nicht! Das war ein tolles Bei-spiel!)

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Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kollege Schaaf.

Anton Schaaf (SPD): Das ist genau das, was ich mit „gnadenlosem Populis-

mus“ meine. Man kann damit zwar auf die erste Seiteder „Bild“-Zeitung kommen, aber mit Sicherheit keineseriöse Debatte führen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Fuchs,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt derVorschlag zum Bürokratieabbau in der Sozial-versicherung!)

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Ernst, ichkann nur sagen: Man kann Sie nicht ernst nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ihrem Namen machen Sie überhaupt keine Ehre.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann wollen wir mal bei Ihnen gucken, Herr Fuchs!)

Ihre Rede hatte mit dem, was heute Thema ist, nichts zutun.

Gerade Ihrer Partei verdanken wir doch einen Groß-teil der Misere in unserem Land.

(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na ja!)

Es ist die SED gewesen, die Vorgängerpartei der PDS,die im gesamten Osten, einem großen Teil unseres Lan-des, den Karren in den Dreck gefahren hat. Wir sindnunmehr bemüht, dies mit den Gesetzen, die wir ma-chen, zu korrigieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Es ist Ihnen Gott sei Dank nicht gelungen, in den altenBundesländern Fuß zu fassen. Ihre Partei ist bei den letz-ten Landtagswahlen kläglich gescheitert. Das wird soweitergehen, weil man Sie weiterhin nicht ernst nehmenkann. Das, was Sie hier machen, ist Klamauk; nichts an-deres.

Lieber Herr Kollege Kolb, von Ihnen hätte ich aller-dings etwas anderes erwartet.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau!)

Ich war von Ihrer Rede ziemlich entsetzt. Kennen Sie ei-gentlich das Märchen von dem berühmten Wettlauf zwi-schen Hase und Igel?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kenne ich!)

Mir kommt es langsam so vor, als sei die FDP der Hase,der erratisch über das politische Feld in Berlin rennt undnicht weiß, wohin. Dabei drückt er sich in die Furcheund fällt in die Stacheln des Igels. Ich will Ihnen genauerklären, warum.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin gespannt!)

Ich bin ein wenig enttäuscht darüber, dass Sie immerwieder Anträge stellen, die sich im Prinzip schon vonselbst erledigt haben.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: So ist es! –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo ist denn IhrGesetzentwurf? Stimmen Sie unserem Antragzu?)

Halten wir einmal Folgendes fest: Unser Bundes-arbeitsminister hat hervorragende Arbeit geleistet. Wirhaben ihn vor drei Wochen angeschrieben und ihn gebe-ten, klarzustellen, dass die Geschäftsführer einer „Regel-GmbH“ keine Scheinselbstständigen sind. Noch bevorIhr Antrag vorlag, hatte er – das konnten Sie in der Zei-tung nachlesen – reagiert. Sie brauchen keine Sorge zuhaben, dass diese Regierung schläft. Sie brauchen unsauch nicht zu helfen. Wir handeln schnell. Dafür bin ichdem Bundesarbeitsminister ausgesprochen dankbar.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Kolb?

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Darauf freue ich mich.

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Heißt das, Herr Kollege Fuchs, dass Sie unserem An-

trag heute zustimmen werden? Wenn Sie das nicht tun,frage ich Sie: Wo ist denn Ihr Antrag, mit dem dasProblem, wonach GmbH-Gesellschafter durch Sozial-versicherungsbeiträge in fünfstelliger Größenordnungbedrückt werden können, gelöst wird? Solange Sie nurdavon reden, ist es notwendig und richtig, dass die FDPSie mit konkreten Anträgen und auch Gesetzentwürfentreibt. Davon werden wir uns auch in Zukunft nicht ab-bringen lassen, Herr Fuchs.

(Beifall bei der FDP – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das können Sie gar nicht!)

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Es ist Ihr gutes Recht, Herr Kollege Kolb, dass Sie

versuchen, uns zu treiben. Aber gehen Sie bitte davonaus, dass wir das gar nicht nötig haben; denn wir reagie-ren schon vorher.

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Dr. Michael Fuchs

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Wo ist denn Ihr Antrag?)

Diese Treibjagd werden Sie genauso verlieren, wie Sieauch jetzt mit Ihrem populistischen Ansatz verlierenwerden. Der Bundesarbeitsminister hat bereits klarge-stellt, dass eine solche Regelung – wie von Ihnen be-fürchtet – für die GmbH-Geschäftsführer nicht geltenwird.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo ist denn die Umsetzung?)

– Erst einmal reicht eine solche Klarstellung. Anschlie-ßend werden wir im Sozialgesetzbuch – Herr Bundesar-beitsminister, ich denke, das sehe ich richtig – die ent-sprechenden Änderungen vornehmen. Dafür brauchenwir Ihre Hilfe nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ichsehe mich bestätigt!)

Wir halten es für dringend notwendig, dass die Selbst-ständigen geschützt werden und sie die Chance haben,eine private Altersvorsorge abzuschließen.

(Jörg van Essen [FDP]: Ich bin entsetzt! Keine Umsetzung!)

Das ist für uns selbstverständlich. Das sieht die Regie-rung ganz genauso.

Das Beispiel zeigt, dass die Regierung gerade die As-pekte der mittelständischen Unternehmen – im Wesentli-chen betrifft es die Mittelständler – im Auge hat. DerenProbleme nehmen wir ernst und wir werden ihnen aufdiese Art und Weise schnell und ordnungsgemäß helfen.Es ist nun einmal so: Vor Gericht und auf hoher See istman in Gottes Hand. Das Urteil des Bundessozialge-richts betrifft aber einen Einzelfall – auch von den Ren-tenversicherungsträgern wird das so gesehen – und wirdnicht dazu führen, dass sofort etwas passieren muss.

Aber jetzt zum eigentlichen Thema. Wir sind schonso weit, dass wir 32,5 Prozent unseres Bruttoinlandspro-dukts für Soziales ausgeben.

Die Sozialleistungsquote beträgt mittlerweile32,5 Prozent und ist damit unglaublich hoch. Der Zu-schuss zur Rentenversicherung aus dem Bundeshaushaltbeträgt 77,4 Milliarden Euro. Das ist gut so. Wir müssendas Rentensystem auf diese Weise stabilisieren. Wir wis-sen aber auch, dass das hohe Belastungen für den Bundbedeutet. Deswegen ist es richtig, dass der Bundesar-beitsminister – auch hierfür möchte ich ihn loben – ge-sagt hat, wir steigen mit der Rente ab 67 in den Umbauder Rente ein. Das war notwendig. Wenn Sie meinen,Herr Ernst, hier mit Populismus, wie Sie ihn eben bewie-sen haben, Klamauk treiben zu können, dann geht das ander ernsten Problematik dieses Themas völlig vorbei.

Ich finde es traurig, dass es darüber keinen Konsensgibt. Wir können doch nicht so tun, als wäre die demo-grafische Entwicklung an diesem Land komplett vor-beigegangen. Sie hat sich nun einmal so ergeben. DerKollege Schaaf hat völlig Recht, dass früher bei Renten-

beginn die Lebenserwartung noch maximal acht Jahrebetragen hat, während es heute durchschnittlich 18 Jahresind. Dass das nicht auf die gleiche Weise finanziert wer-den kann, ist selbstverständlich. Es kommt heute vor,dass jemand mit 29 oder gar 30 Jahren nach dem Stu-dium endlich ins Berufsleben einsteigt und mit 52 inFrührente geht. Da kann man ja kaum noch von ver-schiedenen Gruppen reden.

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Wie wollen wir die Rentenversicherung finanzieren,

wenn sich die Lebensarbeitszeit so verkürzt hat? Das istdoch nur über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeitmöglich. Ich denke, es ist völlig richtig, dass wir an die-ser Stelle angesetzt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Seifert von der Linksfraktion?

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Gerne.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Lieber Herr Kollege, Sie sprechen – wie auch der

Vorredner schon – zum wiederholten Mal davon, dasssich die Rentenbezugsdauer insgesamt erhöht hat. Ichgehe davon aus, dass Sie sich darüber genauso freuenwie ich und einige andere im Hause auch.

(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich hoffe, dass ich das selbst habe!)

Aber warum reden Sie nie davon, dass sich in dersel-ben Zeit die Produktivität in unserem Lande viel stärkererhöht hat als die Rentenbezugsdauer insgesamt unddass die Produktivität der entscheidende Faktor ist?Entscheidend ist doch nicht, wie viele Rentner zu finan-zieren sind, sondern wie viel Produktivität in diesemLand besteht, um den Mehrwert zu erzeugen, damit wirauch den Rentnerinnen und Rentner angemessene Leis-tungen bieten können. Warum äußern Sie sich dazu garnicht? Warum blenden Sie das völlig aus und bezeichnenuns als Populisten?

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Ohne diese Produktivität wären wir nicht in der Lage,

die Renten zu finanzieren. Nur aus diesem Grund kön-nen wir sie noch finanzieren. Wir haben doch eben vomBundesarbeitsminister gehört, welche Entwicklung sichergeben hat, nämlich dass sich die Finanzierung derRentner auf viel weniger Köpfe verteilt als früher. Dassollten wir zur Kenntnis nehmen. Das spielt doch auchbeim Produktivitätszuwachs eine Rolle.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Dr. Michael Fuchs

Dennoch müssen wir bei den Lohnzusatzkosten vor-ankommen. Mittlerweile zahlen nur noch 26,2 MillionenMenschen in die Sozialversicherungssysteme ein, denenaber 72 Millionen Leistungsempfänger gegenüberste-hen. Hierbei ist es die zentrale Aufgabe unserer Politik,dafür zu sorgen, dass es weniger Leistungsempfängerund mehr Einzahler in die Sozialversicherungssystemegibt. Nur dann, wenn wir es hinbekommen, zusätzlichesozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zuschaffen, werden wir auch in der Zukunft in der Lagesein, die gesamten Systeme zu finanzieren. Deswegenmuss sich unsere Politik daran orientieren.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unserenKoalitionsvertrag, in dem klar und deutlich steht:

Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist zentrale Ver-pflichtung unserer Regierungspolitik. Wir wollenmehr Menschen die Chance auf Arbeit geben.

Deswegen ist es auch richtig, dass wir nächstes Jahr ge-meinsam erste Ansätze verfolgen, die Lohnzusatzkostenzu senken. Deswegen ist es richtig, im nächsten Jahr dieBeiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozent-punkte zu senken. Wir müssen auch alle anderen zusätz-lichen Wege beschreiten, um dieses System zu verbes-sern. Dazu hätte ich gerne konkrete Vorschläge, aber siedürfen nicht populistisch sein. Denn wir können unsweitere Kürzungen nicht leisten. Deswegen werden wirdaran arbeiten und gemeinsame Vorschläge vorlegen.

Wir müssen auch über das Thema Altersarbeitszeitsprechen. Ich finde es völlig richtig, was der Ministereben gesagt hat, nämlich dass wir älteren MenschenChancen bieten müssen, im Arbeitsleben zu bleiben oderwieder hineinzukommen. Dazu müssen sämtliche Rege-lungen – zum Vorruhestand etc. – auf den Prüfstand. Esist auch eine Aufgabe der Tarifpolitik, dafür zu sorgen,dass Menschen nicht so schnell frühverrentet werden.Das darf nicht mehr möglich sein. Regelungen zur Früh-verrentung wie die 58er-Regelung müssen schnell abge-schafft werden. Ansonsten werden wir unser gemeinsa-mes Ziel nicht erreichen, das System zu erhalten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Bevor wir zur Abstimmung kommen, habe ich dasVergnügen, sehr angenehme Gäste zu begrüßen. Auf derEhrentribüne haben soeben die Mitglieder des Präsi-diums der Assemblée nationale Platz genommen. HerrPräsident Debré, ich begrüße Sie und Ihre Delegationsehr herzlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegendes Deutschen Bundestages.

(Beifall)

Wir freuen uns sehr, dass Sie unserer Einladung zurdiesjährigen gemeinsamen Präsidiumssitzung und zu derVerleihung des zweiten Deutsch-Französischen Parla-mentspreises in Berlin gefolgt sind. Die beiden Präsidienhaben soeben, einer bewährten Tradition folgend, in ei-

ner gemeinsamen Sitzung die hervorragenden bilateralenKontakte unserer beiden Parlamente und die intensiveZusammenarbeit – auch bei europäischen Themen – er-örtern und vertiefen können.

Herr Präsident Debré, liebe Kolleginnen und Kolle-gen der Assemblée nationale, es freut uns, dass Sie trotzdes dichten Programms heute Gelegenheit finden, unse-rer Debatte kurz beizuwohnen. Wie ich weiß, werden Sieund auch einige deutsche Kolleginnen und Kollegengleich zur Verleihung des zweiten Deutsch-Franzö-sischen Parlamentspreises erwartet.

Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufent-halt in Berlin. Herzlichen Dank für Ihr Kommen.

(Beifall)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzesüber die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab1. Juli 2006. Das sind die Drucksachen 16/794 und16/1004. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/1078, den Gesetzentwurf anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU undSPD gegen die Stimmen der drei anderen Fraktionen an-genommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie inder zweiten Beratung angenommen worden.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 b. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/1078 die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf der Drucksache16/826 mit dem Titel „1-Euro-Jobs aus der Berech-nungsgrundlage für die Rentenanpassung herausneh-men“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPDund FDP gegen die Stimmen der Linkspartei und desBündnisses 90/Die Grünen angenommen.

(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])

Tagesordnungspunkt 3 c. Wir kommen zur Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Arbeit und Soziales zu der Unterrichtung durch dieBundesregierung über einen Vorschlag für eine Richtli-nie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ver-besserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen,Drucksache 16/1155. Der Ausschuss empfiehlt unterNr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zurKenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses ge-

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Vizepräsident Wolfgang Thierse

gen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD gegen die Stimmen der FDP, der Linken undder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom-men.

Tagesordnungspunkt 3 d bis h. Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/966,16/905, 16/906, 15/5571 und 15/4498 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 sowieZusatzpunkt 2 auf:

4 Beratung des Antrags der Fraktion der LINKEN

Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit –Strategie zur Überwindung von Hartz IV

– Drucksache 16/997 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Hartz IV weiterentwickeln – Existenzsichernd,individuell, passgenau

– Drucksache 16/1124 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 1 ¼ Stunden vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin KatjaKipping, Fraktion Die Linke, das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

hier eine kleine Broschüre, die den Titel „Hartz IV –Menschen in Arbeit bringen“ trägt. Im Dezember 2004diente sie zur Information. Inzwischen taugt diese Bro-schüre nur noch für die Märchenstunde. Denn von„Menschen in Arbeit bringen“ kann leider nicht allzuviel die Rede sein. Man muss sich nur die aktuellen Ver-lautbarungen der Bundesagentur anhören, um deutlich

mitzubekommen: Die Realität spricht eine andere Spra-che.

(Beifall bei der LINKEN)

So war in den aktuellen Mitteilungen der Bundesagenturzu lesen, nach dem Saisonbereinigungsverfahren er-rechne sich für März eine Zunahme der Arbeitslosenzahlum 30 000.

Erwerbslose erleben immer weniger wirkliche Hilfebei der Suche nach einem Job, sondern leider zuneh-mend Demütigungen. In meinem Wahlkreis hat michneulich ein über 50-jähriger Mann angesprochen, dersein Leben lang gewohnt war, von seiner Hände Arbeitzu leben, und zwar im Baubereich. Ihm hatte man nuneinen 1-Euro-Job gegeben. Seine Tätigkeit bestand da-rin, Unkraut zu jäten, allerdings im Winter. Was habendie 1-Euro-Jobber gemacht? Sie haben – mir wurdendiese Bilder gezeigt – erst den Schnee weggeschippt, umdann zu versuchen, in dem gefrorenen Boden Unkraut zujäten.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oje!)

Meine Damen und Herren, noch vor einigen Jahren hätteman gedacht, das seien Geschichten aus Absurdistan,das seien Geschichten aus der Kategorie Schildbürger-streiche. Aber nein, das ist leider die traurige Realität mitHartz IV. Hier muss sich etwas ändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Doch nicht nur die Erwerbslosen gehören zu den Ver-lierern von Hartz IV. Wohlfahrtsverbände haben errech-net, dass die Zahl der Kinder, die in Armut leben, mitHartz IV um 500 000 zugenommen hat. Frauen erlebeneine zivilisatorische Rückwärtsrolle. Neulich erst bei ei-ner Montagsdemo in Weißenfels hat mich eine Frau an-gesprochen. Sie war es immer gewohnt, auf eigenen Bei-nen zu stehen. Nun ist sie arbeitslos und hat das Pech,dass ihr Mann nur wenige Euro über der Bemessungs-grenze verdient und sie keinerlei Anspruch auf eigeneLeistungen hat. Sie muss nun zu ihrem Mann gehen unddie Hand aufhalten.

(Rolf Stöckel [SPD]: Das ist bedarfsorientierte Grundsicherung!)

Das ist für sie eine unzumutbare Demütigung.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber auch die Beschäftigten gehören zu den Verlie-rern von Hartz IV. Die Erpressbarkeit hat zugenom-men.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Vielleicht ist auch Ihnen der Bericht einer Arbeitsge-richtsdirektorin zu Ohren gekommen, die beispielsweisevon einem dreifachen Vater berichtet hat, der ohne Wi-derspruch von heute auf morgen eine Lohnreduzierungum 20 Prozent akzeptiert hat. Diese Arbeitsgerichtsdi-rektorin meinte, es sei die Existenzangst, die Leute dazuzwinge, auf ihre Rechte zu verzichten.

(Beifall bei der LINKEN)

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Katja Kipping

Die Liste der Verlierer geht weiter. Handwerk undHandel klagen über fehlende Binnenkaufkraft. In mei-nem Wahlkreis

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie ha-ben gar keinen Wahlkreis!)

gibt es in einer früher florierenden Ladenstraße immermehr leere Schaufenster, weil wieder einmal ein FrisörPleite gemacht hat, weil die Leute sich die Produkte undDienstleistungen nicht mehr leisten können.

Das Fazit ist: Kinder, Frauen, Handwerker, Beschäf-tigte und Erwerbslose gehören zu den Verlierern vonHartz IV. Es ist höchste Zeit, dass sich hier etwas ändert.

(Beifall bei der LINKEN)

Hartz IV folgt grundsätzlich der falschen Ideologie.Das können kosmetische Schönheitskorrekturen nichtändern. Wir meinen also: Hartz IV muss grundsätzlichüberwunden werden. Das Arbeitslosengeld II in seinerjetzigen Form muss dabei durch eine soziale Grund-sicherung ersetzt werden, die repressionsfrei erfolgt, diediesen Namen verdient und die gesellschaftliche Teil-habe wirklich ermöglicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Die 1-Euro-Jobs müssen durch sozialversicherungs-pflichtige Arbeitsverhältnisse ersetzt werden. Das Mottokönnte lauten: Ordentliche Schulsozialarbeiter statt vielzu kurze und schlecht bezahlte 1-Euro-Jobs.

(Beifall bei der LINKEN – WolfgangMeckelburg [CDU/CSU]: Stellt doch euer Ver-mögen zur Verfügung!)

Auch die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I musslänger werden. Wir schlagen hier vor: Für jedes JahrBeitragszahlung hat man Anspruch auf einen Monat Ar-beitslosengeld I. Natürlich gibt es da auch für uns eineMindestfrist.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft sollte im21. Jahrhundert endlich überwunden werden. Die gegen-seitige finanzielle Inhaftnahme innerhalb einer Familieerhöht nur die Anzahl der negativen Aspekte, nämlichökonomische Abhängigkeit. Wir meinen, es ist Zeit, ei-nen Individualanspruch einzuführen.

(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder[CDU/CSU]: Solidarischer Zusammenhalt ei-ner Familie, Frau Kipping! So etwas kennenSie nicht!)

Wir meinen auch: Schutz vor Wohnungslosigkeitmuss gewährleistet werden. Uns allen wird immer schönwarm ums Herz, wenn wir in der Weihnachtszeit Be-richte im Fernsehen darüber sehen, wie Obdachlosen ge-holfen wird. Aber Wohnungslosigkeit, die sich durchHartz IV wahrscheinlich verschärfen wird, ist eben nichtnur zu Weihnachten ein Problem, sondern das ganze Jahrüber. Deswegen sagen wir: Das Menschenrecht aufWohnen muss gewahrt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Um das zu finanzieren, ist natürlich eine Neuausrich-tung in der Steuerpolitik notwendig. Die Großzügigkeitgegenüber Vermögenden und Unternehmen mit Gewin-nen können wir uns tatsächlich nicht mehr leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer also Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hö-ren, der kann feststellen: Hartz IV muss gekippt werden.

Nun kann ich verstehen, dass es Ihnen, meine Damenund Herren von der SPD, schwer fällt; es ist immerhineinmal Ihr Referenzprojekt gewesen. Es gibt einige Pro-bleme, vor denen auch Sie die Augen nicht verschließenkönnen. Meine Damen und Herren von der SPD, es gibteinige Verbesserungen, die müssten Sie mit uns jetztendlich gemeinsam in Angriff nehmen können. Ich emp-fehle Ihnen die aktuellen Untersuchungen der Caritas zurLektüre. Diese Untersuchungen besagen: Der Kranken-versicherungsschutz ist das Mindeste, was für jeden Er-werbslosen gewährleistet sein muss.

(Rolf Stöckel [SPD]: Genau das haben wir eingeführt!)

Die heutige Situation sieht so aus, dass Frauen, die ineiner eheähnlichen Gemeinschaft leben – das betrifftauch Männer; aber in den meisten Fällen sind doch eherdie Frauen betroffen, weil die Männer mehr verdienen –und die das Pech haben, dass das Einkommen ihrer Part-ner nur wenige Euro über der Beitragsbemessungsgrenzeliegt, keinerlei Anspruch auf eine gesetzliche Kranken-versicherung haben. Versuchen Sie einmal als Frau über50, sich bei einer privaten Krankenversicherung zu ver-sichern! Dafür sind Beträge nötig, die ein Arbeitslosernicht aufbringen kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch Ihnen muss doch verständlich sein, dass es nichtangeht, dass das Pflegegeld und die EU-Renten für Be-hinderte bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes IIberücksichtigt werden.

(Rolf Stöckel [SPD]: Das ist bei einer bedarfs-orientierten Grundsicherung aber so!)

Vor einer Sache kann man die Augen nicht verschlie-ßen: Widersprüche gegen belastende Bescheide müssenendlich eine aufschiebende Wirkung haben. Das istzum einen ein Gebot des Rechtsstaates. Wir sehen doch,dass es bei der Bearbeitung der Widersprüche tatsächlichenorme Probleme gibt. Ich habe neulich in einer Rundevon Erwerbslosen gesagt: Ja, ich weiß, auf die Bearbei-tung mancher Widersprüche wartet man schon seit sechsMonaten. Da bin ich ausgelacht worden und die Leutehaben gesagt: Wir warten leider schon seit einem Jahrdarauf, dass unser Widerspruch bearbeitet wird.

(Rolf Stöckel [SPD]: Aber es bleibt keiner ohne Hilfe!)

– Das ist schöne Theorie, was Sie sagen. Die Praxis siehtleider anders aus.

Wir haben uns in den einzelnen Kommunen umge-hört. Fast überall ist bisher erst jeder zweite Widerspruchbearbeitet worden. Die Tatsache, dass von den bearbeite-

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Katja Kipping

ten Widersprüchen mindestens jedem dritten Wider-spruch stattgegeben worden ist, zeigt doch, dass es not-wendig ist, dafür zu sorgen, dass Widersprüche eineaufschiebende Wirkung haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ansonsten werden Menschen Leistungen unrechtmäßigvorenthalten. Wir reden dabei nicht von Menschen, dieein Polster haben, sondern von Menschen, die ohnehinschon wenig haben.

Die Probleme, die Menschen mit Hartz IV haben,sind so ernst, dass wir als Gesetzgeber reagieren müssen.Wir können es uns nicht mehr leisten, uns einfach mitMärchenstunden zu begnügen.

Meine Damen und Herren, wenn Sie unserem Antragaus Prinzipienreiterei nicht zustimmen wollen, so neh-men Sie unseren Antrag wenigstens zum Anlass, umüber die dringend notwendigen Veränderungen bezüg-lich Hartz IV mit uns gemeinsam zu beraten.

Besten Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Gerald Weiß, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Man muss eigentlich nicht um Worte streiten,Frau Kipping, aber manchmal lohnt es sich schon, umBegriffe zu streiten. Wir reden hier nicht über Hartz IV– das ist Ihr Kampfbegriff –; wir reden über dasSozialgesetzbuch II und die Grundsicherung für Arbeit-suchende. Das und nicht Hartz IV ist das Thema.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Katja Kipping [DIE LINKE]:Das steht auf einem Buch der Bundesregie-rung!)

Von Ihnen, Frau Kipping und Genossen, brauchen wirauch keine Belehrung des Inhalts, dass wir die Reformauf dem Sektor des Sozialgesetzbuches II fortsetzenmüssen. Wir haben das mit einem ersten Änderungsge-setz zum Sozialgesetzbuch II zur Beseitigung schwererFehlanreize in diesem Gesetz bereits begonnen. Das wardie erste Reformstufe. Jetzt kommt die zweite Reform-stufe – die Grundlagen dafür hat der Minister gestern imAusschuss dargelegt –, ein Optimierungsgesetz für dasSozialgesetzbuch II, für die Grundsicherung, mit demwesentliche weitere wichtige Reformschritte umgesetztwerden sollen. Wir brauchen weder Ihre Belehrungennoch Ihre Rezepte, Frau Kipping.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Natürlich wäre es das Beste, wir könnten dasArbeitslosengeld II abschaffen. Das würde nämlich be-deuten, dass es uns gelungen wäre, die Langzeitarbeits-losigkeit in Deutschland zu überwinden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-wie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Aber solange es nicht so ist, brauchen wir Hilfen für diebetroffenen Langzeitarbeitslosen, für die betroffenenMenschen. Hilfe muss vor allem natürlich darin beste-hen – das ist richtig –, Brücken zur Arbeit und zur wirt-schaftlichen und sozialen Selbstständigkeit, zur Autono-mie des Einzelnen zu bauen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Klaus Uwe Benneter [SPD] und des Abg. RolfStöckel [SPD])

Ihr Gesellschaftsbild, Ihr Weltbild ist ein völlig ande-res. Sie wollen die Menschen in monetärer Abhängigkeitvom Staat, von der Gemeinschaft halten. Statt die Kräftedes Einzelnen und die Kräfte seiner Familie zu fördern,

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Eine Unterstel-lung!)

was Ihre Verantwortung ist, wollen Sie das Kollektiv he-ranziehen. Das ist eine ganz falsche Vorstellung; jeden-falls haben wir eine deutlich andere Vorstellung von derSubsidiarität unserer Staats- und Gesellschaftsordnung.

Wie Sie sich von der Knappheit der Ressourcen lösen,wie Sie die Kanne der Großzügigkeit ausgießen undWohltaten mit nicht vorhandenem Geld austeilen wollen,das nötigt schon Bewunderung ab. So kann man keineverantwortliche Politik machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-wie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Man muss die Begrenztheit der Ressourcen imAuge behalten und man muss die knappen Mittel zielge-richtet einsetzen. Minister Müntefering hat es gestern er-läutert. Eine Politik, die die Grundsicherung effektiverund effizienter gestaltet, wird auch sinnvolle Einsparun-gen möglich machen. Die beiden Reformschritte der Ko-alition werden in diesem Jahr Ersparnisse in Höhe von300 bis 400 Millionen Euro und im nächsten Jahr inHöhe von 1,2 Milliarden Euro ermöglichen. Das sindGelder, die wir sinnvoller, an der richtigen Stelle, und ef-fektiv einsetzen müssen. Wir müssen den Sozialstaatzielgerichteter ausgestalten. Das ist der Sinn der Re-form, die wir uns vorgenommen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit dem SGB II ist Neuland betreten worden. Es isteine große und auch komplizierte Reform. Hilfe aus ei-nem Guss für alle Langzeitarbeitslosen, das ist ein richti-ger Ansatz. Wenn man sich jetzt in der Praxis ansehenmuss, dass es Fehlentwicklungen und Fehlanreize gibt,dann muss doch die Konsequenz sein: Das SGB II musssozusagen ein lernendes System sein.

(Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] und des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Wenn es das nicht ist, muss es ein lernendes System wer-den.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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2612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Das heißt, es gilt, aus der Praxis zu lernen undFolgerungen aus den Fehlentwicklungen zu ziehen. Ichsagte schon: Den ersten Schritt haben wir mit demSGB-II-Änderungsgesetz getan.

Jetzt kommt die zweite Reformstufe. Da brauchen wirweder Peitschenknallen noch Stinkbomben von der Op-position. Wir werden auch diese zweite Reformstufe biszum Sommer umsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

In der Erkenntnis, dass Reformbedarf besteht, gibt esÜbereinstimmung. Das ist aber ein Minimalkonsens.Schon darüber, wie sich dieser Reformbedarf definiert,gibt es ganz erhebliche Divergenzen, Frau Kipping, zwi-schen Ihnen, aber auch den Grünen und uns. Die Linkewill zum Beispiel die Sanktionen praktisch abschaffen,denen jemand unterworfen ist, der eine angebotene Ar-beit nicht annimmt. Wenn Sie das machen, dann machenSie ein ganz wichtiges Steuerungsmittel gegen unge-rechtfertigte Inanspruchnahme des Sozialstaates kaputt.Wir brauchen dieses Steuerungsmittel. Wir müssen för-dern und fordern. Das Fördern steht am Anfang.

(Zurufe von der LINKEN: Wo?)

Dieses Steuerungsmittel trifft die Minderheit der Unge-rechten. Wer eine angebotene Beschäftigung ablehnt, dermuss auch gerechten Sanktionen unterworfen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-wie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Wir können keine Ausbeutung zulassen, indem wirknappe Steuermittel, für die die Unternehmer, die Selbst-ständigen und die Arbeitnehmer arbeiten müssen und fürdie auch die kommenden Generationen über die Staats-verschuldung einstehen müssen, bedenkenlos ausschüt-ten.

(Beifall des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU] und des Abg. Rolf Stöckel [SPD] – Jörgvan Essen [FDP]: Völlig richtig!)

Da haben wir ein wesentlich anderes Menschen- und Ge-sellschaftsbild.

Wir müssen in dem genannten Optimierungsgesetzim Grunde vier Ziele realisieren: erstens größere Ziel-genauigkeit bei den Leistungen, zweitens notwendigeKlarstellungen in der Verwaltungspraxis, wo es heuteRechtsunklarheiten gibt, drittens bessere Vorbeugunggegen den Leistungsmissbrauch und viertens Verwal-tungsvereinfachung. Das sind die vier Kernziele, um diesich die Reformen, die wir uns vorgenommen haben,ranken müssen.

Ich sehe nur zum Teil – ich habe heute meinen höfli-chen Tag – übereinstimmende Ansätze in den Anträgender Linken und der Grünen und uns. Der Handlungsbe-darf tritt deutlich zutage, zum Beispiel bei den eheähn-lichen Gemeinschaften. Wir sind dafür, dass die Partnerin einer solchen Verantwortungsgemeinschaft weiter für-einander einstehen. Aber wir wissen doch, welch einKontrollaufwand nötig ist und welche Probleme bei-spielsweise im Zusammenhang mit der Frage erwach-sen, ob es sich tatsächlich um eine eheähnliche Gemein-

schaft handelt oder nicht. Den Weg, das zu klären,müssen wir vereinfachen. Das wäre ein Aspekt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ähnliches gilt für den Aspekt der Vermögensbeiträge.Die Koalition hat sich vorgenommen, die Schonbeträgefür die Alterssicherung anzuheben. Selbst wenn wir imGegenzug die Freibeträge für das übrige Vermögen sen-ken müssten, wäre es ein sinnvoller Schritt, Altersver-mögen in einem machbaren Rahmen als Schonvermögenfreizustellen, wobei wir uns allerdings nicht so weit vonden Finanzierungsgrundlagen emanzipieren können, wiees die Caritas vorschlägt. Sie fordert einen Betrag ein,den man nicht realisieren kann. Aber der Vorschlag gehtin die richtige Richtung.

Lassen Sie uns über diesen qualitativen Reformbedarfreden und entsprechend handeln. Dann werden wir unse-ren Dienst an den Menschen erfüllen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe[CDU/CSU]: Hoffentlich wird es jetzt besserals eben!)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

muss zunächst einmal feststellen – ich befinde mich dasicher in Übereinstimmung mit dem KollegenBrauksiepe –, dass die Idee von Fordern und Fördern,die hinter dem Sozialgesetzbuch II steht, ein absolutrichtiger und notwendiger Ansatz ist.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Richtig!)

Aber das SGB II hat, wie wir heute feststellen müssen,noch zahlreiche Konstruktionsfehler. Es sollten ja eineschnellere Vermittlung in Beschäftigung, eine bessereBetreuung von Arbeitslosen und eine deutliche Kosten-senkung erreicht werden. Aber keines dieser gestecktenZiele konnte bisher realisiert werden.

(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)

Das lag nicht daran, dass wir etwa zu wenig Geld in dieHand genommen hätten. Denn im Haushaltsentwurf,über den zurzeit beraten wird, werden in diesem Jahr30 Milliarden Euro – darunter fallen direkte Transfers,das Wohngeld, der Wohngeldzuschuss des Bundes unddie Mittel für die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen –in Ansatz gebracht. Das zeigt, am Geld kann es sicher-lich nicht liegen.

Wir haben gestern gelesen und auch vom Minister imAusschuss gehört, dass derzeit eine dramatische Ent-wicklung zu beobachten ist. Die Wohnungskosten fürEmpfänger von Arbeitslosengeld II liegen im ersten

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Dr. Heinrich L. Kolb

Quartal 2006 um 25 Prozent über den Kosten im ver-gleichbaren Vorjahreszeitraum. Die vorläufige Zahl derBedarfsgemeinschaften, die ALG II beziehen, stieg imMärz auf 3,92 Millionen. Das sind 600 000 mehr als imJanuar 2005. Wenn sich diese Entwicklung verfestigt,dann wird es erneut ein böses Erwachen mit Blick aufden Haushaltsvollzug geben.

Es besteht kein Zweifel: Die handwerkliche Umset-zung von Hartz IV war mangelhaft. Es gab vielfältigenWildwuchs und auch Mitnahmeeffekte. Ich nenne bei-spielsweise den rapiden Anstieg der Zahl der Ein-Perso-nen-Bedarfsgemeinschaften. Auch der gleichzeitigedeutliche Anstieg der Zahl der erwerbsfähigen Hilfebe-dürftigen unter 25 Jahren seit Beginn des letzten Jahresist weder Zufall noch gottgegeben, sondern er entstandaufgrund von Fehlanreizen. Hier hätte schnellstens ge-gengesteuert werden müssen. Sie sind unserem Vor-schlag aber nicht gefolgt, auch jetzt noch im Rahmen deralle sechs Monate stattfindenden Überprüfung der An-spruchsvoraussetzungen zu prüfen, ob die Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften nach Möglichkeit wieder in dieFamilie eingegliedert werden können.

Frau Kipping, Sie schreiben in Ihrem Antrag, dassvon Telefonbefragungen abzusehen sei. Ich will einmalfesthalten, dass bei den zwischen Juli und September2005 stattgefundenen Telefonbefragungen 45 Prozentder Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht erreicht wer-den konnten. Teilweise lag das an falschen Telefonnum-mern. Bei 10 bis 30 Prozent der erfolgreich durchgeführ-ten Telefonate ergab sich ein weiterer Klärungsbedarf.Aber – jetzt kommt es – bei den seit Januar 2006 durch-geführten Telefonbefragungen hat sich bei 4,1 Prozentder Fälle eine Änderung beim Status der Arbeitslosigkeitergeben, bei den unter 25-Jährigen sogar in 9,8 Prozentder Fälle. Frau Kipping, das zeigt doch, dass die von derFDP geforderte Meldepflicht keine Schikane, sondernein Instrument gegen massiven Missbrauch ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich denke auch, Frau Kipping, das Prinzip des For-derns und Förderns wird von der breiten Mehrheit derBevölkerung nicht infrage gestellt. Das Gleiche gilt auchfür das Solidarprinzip. Wer die solidarische Hilfe derGemeinschaft in Anspruch nehmen möchte, der mussauch bereit sein, zumutbare Arbeit und Qualifikations-angebote anzunehmen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. RolfStöckel [SPD] – Katja Kipping [DIE LINKE]:Unkrautjäten im Winter!)

Ich sage sehr deutlich: Der von Ihnen vorgelegte An-trag ist schädlich. Dadurch schaffen Sie keine zusätzli-chen Arbeitsplätze, sondern gefährden vorhandene sozi-alversicherungspflichtige Beschäftigung.

(Jörg Rohde [FDP]: Genau so ist es!)

Der Antrag geht von falschen Voraussetzungen aus. Ar-beitsplätze werden nämlich von Unternehmen geschaf-fen und nicht aufgrund von Anträgen oder Beschlüssendes Deutschen Bundestages.

(Jörg van Essen [FDP]: Altes sozialistisches Den-ken, das das Land in den Ruin geführt hat!)

Wenn man damit das Problem der Arbeitslosigkeit lösenkönnte, hätte sich dafür sicher schon eine Mehrheit ge-funden.

Die Politik ist verantwortlich dafür, Rahmenbedin-gungen zu schaffen, die es den Unternehmen ermögli-chen, zu investieren und sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung zu schaffen. Nur eine gut funktionierendeWirtschaft sorgt dafür, dass die sozialen Sicherungssys-teme überhaupt unterhalten werden können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Das haben wir auch bei der Debatte über den vorange-gangenen Tagesordnungspunkt sehr deutlich gesagt.

Wir wollen – ich sage auch: wir müssen – die Men-schen zurück in sozialversicherungspflichtige Beschäf-tigung bringen. Das ist das Ziel jeder Arbeits- undSozialpolitik. Dazu braucht man eben auch einen funk-tionierenden Niedriglohnsektor, in dem die Anreize zurAufnahme einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarktgesetzt werden.

Ihre Forderung, die Grundsicherung auf 420 Euro zuerhöhen, ist angesichts der Summen, die schon heute fürdas Arbeitslosengeld II aufgewendet werden, absurd.Ebenso fatal ist auch die Forderung nach Einführung ei-nes Mindestlohns. Ich sage Ihnen noch einmal sehr deut-lich: Gesetzliche Mindestlöhne führen zur Verdrängungvon Arbeitsplätzen, insbesondere im Bereich der gerin-ger Qualifizierten.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Man könnte noch viel zu diesem Antrag sagen, derein ganzes Sammelsurium von Maßnahmen enthält.Schon der darin enthaltene Ansatz ist verkehrt. DieserAntrag wird in den Beratungen wahrscheinlich nicht ineine vernünftige Form zu bringen sein. Wir werdengleichwohl im Ausschuss über ihn beraten. Aber manmuss hier eine Ablehnung am Ende wohl schon in Aus-sicht stellen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär

Gerd Andres.

(Beifall bei der SPD)

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Arbeit und Soziales:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der linkenSeite,

(Klaus Brandner [SPD]: Das ist die rote Karte!)

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Parl. Staatssekretär Gerd Andres

ich hätte es gut gefunden, wenn die Verfasser des vorlie-genden Antrages die Broschüre „Hartz IV – Menschenin Arbeit bringen“ nicht nur erwähnt, sondern sie auchgelesen hätten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wer Ihren Antrag nämlich liest – ich habe ihn gelesenund ihn mit vielen Anmerkungen versehen; ich finde,man sollte ihn sich wirklich aufheben –, stellt fest, dasser an vielen Stellen fachlich falsch und schlecht ist.

(Zuruf von der LINKEN: Das ist eine Unter-stellung!)

Er unterschlägt an einer ganzen Reihe von Stellen ge-setzliche Regelungen. Er ist nach einem „Wünsch-dir-was-Populismus“ gestrickt. Wenn ich ihn aus finanzpoli-tischer Perspektive betrachte, komme ich zu dem Ergeb-nis: Er ist verheerend.

(Zuruf von der LINKEN: Das müssen Sie beweisen!)

– Ich kann Ihnen das gerne beweisen. Ich sage Ihnen:Wenn man die Leistungsverbesserungen, die Sie vor-schlagen, also Verbesserungen beim Kindergeld undÄhnliches, zusammenzählt, kommt man überschlägigauf eine Summe von 35 Milliarden Euro. Wer sagt, dassei bei der gegenwärtigen Haushaltslage einigermaßenseriös – Sie haben gestern den Haushalt beraten –,

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: GroßeSteuerreform! Ein Minus von 60 MilliardenEinnahmen!)

blendet die Leute. Sie können zwar ab und zu IhrenWeltökonomen Lafontaine von der Kette lassen; der er-klärt dann, wie man das alles macht. Aber wie man Ar-beit schafft – verehrte Frau Kipping, Sie haben ja gesagt,es werde keine Arbeit geschaffen –, steht nicht in IhremAntrag.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die Erfahrung, die wir über viele Jahre gemacht ha-ben, ist: Wir haben den Leuten zu viel Geld gezahlt undsie zu wenig gefordert. Die Erfahrung, die wir mit derSozialhilfe gemacht haben, war: Wir haben den Leutendie Sozialhilfe gezahlt und sie aus dem Arbeitsmarktausgegrenzt.

(Beifall bei der SPD)

In einem Konzept eines aktivierenden Sozialstaatesmuss man sich Gedanken darüber machen, wie die Ba-lance von Transferleistungen, Arbeitsanreizen, Anstren-gungen, Menschen in Arbeit zu bringen und sie bei derArbeitssuche zu unterstützen, vernünftig geregelt wer-den kann.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Andres, erlauben Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Kipping?

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Arbeit und Soziales:

Gerne, Herr Präsident.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte, Frau Kipping.

Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Andres, da Sie so großen Wert auf das Prinzip

des Förderns legen, möchte ich Sie fragen, ob Sie nichtzumindest einen Aspekt unseres Antrages bestätigenkönnen. Es handelt sich um Folgendes: Das Problem ist,dass Personen, die erwerbslos werden, aber keinen An-spruch auf eine geldliche Leistung haben, weil ihr Part-ner zu viel Geld verdient, in der Praxis leider keinerleiArbeitsförderung mehr nach SGB III erfahren. Wirfordern die Bundesregierung auf, ihre Dienstaufsichtwahrzunehmen und dafür Sorge zu tragen, dass auchPersonen, die erst einmal keine Kosten verursachen, inden Genuss von Arbeitsförderungsmaßnahmen kom-men. Ist das nicht ein Punkt, zu dem Sie sagen müssten:„Ja, das hätten wir als Bundesregierung längst tun müs-sen. Danke, dass Sie uns darauf hingewiesen haben!“?

(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge-ordneten der CDU/CSU)

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Arbeit und Soziales:

Frau Kipping, darf ich Ihnen in aller Freundlichkeitetwas sagen? Sie werden es nicht glauben: Die Bundes-regierung teilt Ihre Position und hat sie, lange bevor Siesie formuliert haben, eingenommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht im SGB II darum, festzustellen, ob jemandbedürftig ist. Es geht darum, ihn so schnell wie möglichaus dem Bedarf herauszubringen. In dem von Ihnen ge-schilderten Fall, wenn also jemand Arbeit hatte, dann ar-beitslos wird und er aufgrund des Partnereinkommensoder deswegen, weil die Bedarfsgemeinschaft gut ausge-stattet ist, keine Leistung bekommt, hat er dennoch einAnrecht darauf, beraten zu werden, bei der Arbeitssucheunterstützt zu werden und bestimmte Maßnahmendurchzuführen. Das steht sogar im Gesetz, verehrte FrauKipping. Wir brauchen nicht Sie dazu, um das festzustel-len.

(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird aber leidernicht umgesetzt! – Abg. Katja Kipping [DIELINKE] meldet sich zu einer weiteren Zwi-schenfrage)

– Vielleicht könnten Sie sich ein bisschen später nocheinmal melden. Ich gestehe Ihnen gerne eine oder fünfZwischenfragen zu; denn es macht Spaß, sich auszutau-schen und zu diskutieren.

Um in meiner Rede fortzufahren: Ich möchte nichtmissverstanden werden: Da, wo es um inhaltliche Kritik

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Parl. Staatssekretär Gerd Andres

und um Verbesserungen geht, ist diese Kritik nicht nurberechtigt, sondern sogar erwünscht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dass wir Defizite bei der Umsetzung des Systems unddabei haben, Menschen in Arbeit zu bringen, muss unskeiner sagen. Da müssen wir viel besser werden; das isteine völlig klare Sache. Sie müssen mir aber einmal er-klären, wie man, indem man überall die Leistungen ver-bessert, die Menschen unterstützen will, wieder erwerbs-tätig sein zu wollen.

Wenn man sich Ihren Antrag ansieht, muss man Ihnenfolgenden Vorwurf machen: Sie blenden völlig aus – dasist eine schiefe Darstellung, die Sie gerne gewählthaben –, dass die Transferleistung der Grundsicherungfür Arbeitsuchende im Jahr 2005 höher war, als sie esnach altem Recht gewesen wäre. Dieses Kunststückmüssen Sie mir einmal erklären: Der Staat wendet sehrviel mehr Mittel auf und Sie sagen, alles sei viel schlech-ter geworden. Wenn das frühere Hilfesystem fortgeführtworden wäre, würde es heute vielen Menschen schlech-ter gehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Zu Ihrem konkreten Beispiel bezogen auf die Kran-kenversicherung: Die Menschen, die nach altem Rechtim Sozialhilfesystem waren, waren nicht in die Renten-versicherung einbezogen. Manche waren nur über dieFamilienversicherung mit krankenversichert oder überdie Krankenhilfe nach dem SGB. Was haben wir ge-macht? Mit dem neuen System haben wir die betroffe-nen Menschen in die sozialen Sicherungssysteme ein-bezogen.

Sie gehen übrigens auch darüber hinweg, dass wirAnfang dieses Jahres die Regelleistung für Arbeitsloseim Osten auf 345 Euro angehoben haben. Das interes-siert Sie anscheinend nicht mehr. Sie ignorieren auch,dass wir die Freibeträge für Erwerbseinkommen erst voreinem guten halben Jahr erhöht haben. Sie schieben völ-lig beiseite, dass es großzügige Freibetragsregelungengibt – ich könnte Ihnen das alles vorrechnen –, ein-schließlich Hauseigentum, Wohneigentum und einemPkw für jeden Betroffenen. Es gibt viele Modellfälle; Siekönnen sie gerne nachrechnen.

Ich habe ein weiteres Problem, Frau Kipping. Es istrichtig, zu sagen: Wir wollen die Menschen fördern, aberwir müssen sie auch fordern. – Es führt überhaupt keinWeg daran vorbei, die Menschen auch zu fordern. Beider Zahlung von Transferleistungen gibt es aber immerein Problem. Dies wird deutlich, wenn man denjenigen,der sich im Transferleistungssystem befindet, mit demvergleicht, der arbeiten geht. Es geht um das Lohn-abstandsgebot. Wir haben zum 1. Oktober des vergan-genen Jahres die Zuverdienstmöglichkeiten bei Minijobsverbessert. Wer also einen Minijob hat, darf höhere Be-träge behalten. Das hat gemäß unserem System die ver-rückte Folge, dass in Deutschland angeblich die Armutsteigt. Ich kann Ihnen das erklären: Wenn Sie die Zuver-dienstmöglichkeiten verbessern, weiten Sie gleichzeitigden Kreis der Personen aus, die in das Leistungssystemfallen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutli-chen: Ein verheirateter Arbeitslosengeld-II-Bezieher mitzwei Kindern im Alter von acht und zwölf Jahren be-kommt für die monatlichen Kosten für Unterkunft undHeizung zusätzlich 542 Euro. Nebenbei hat er einenMinijob für 400 Euro; davon darf er – das habe ich vor-hin erläutert – 160 Euro anrechnungsfrei behalten. DieseFamilie kommt auf ein durchschnittliches Einkommenvon 1 737 Euro. Wenn er einen Midijob hätte, also zwi-schen 400 und 800 Euro hinzuverdienen würde, betrügedas Familieneinkommen sogar 1 817 Euro.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Netto!)

– Netto. – Im Vergleich dazu erhält ein gering qualifi-zierter verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindernim Alter von acht und zwölf Jahren, der als Hilfsarbeiterim produzierenden Gewerbe arbeitet, einschließlich Kin-dergeld und Wohngeld durchschnittlich 2 108 Euro. Erhat damit durchschnittlich nur etwa 290 Euro mehr zurVerfügung als ein verheirateter Arbeitslosengeld-II-Be-zieher mit Midijob.

Bei einer Erhöhung der Regelleistung, wie von Ihnenvorgeschlagen, auf 420 Euro, würden uns die Wohl-fahrtsverbände, die Sie eben benannt haben, schreiben,dass die Zahl der Bedürftigen und Armen noch weitergestiegen ist. Ich weiß auch gar nicht, warum Sie sich dazurückhalten. Warum fordern Sie nicht gleich 450 oder500 Euro? Ihr ganzer Antrag verfolgt diese Philosophie.Das Spannende daran ist, dass, wenn man dies umsetzenwürde, die Zahl der Bedürftigen und Armen in unseremLand immer weiter steigt. Sie müssen also umgekehrt er-klären, warum der Arbeitnehmer für rund 200 Euro mehrnoch arbeiten gehen soll.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt doch praktische Beispiele dafür. Die Men-schen, die diese Leistungen mit ihren Steuern finanzie-ren, stellen doch die Frage, warum sie eigentlich arbeitengehen, wenn jemand auf dem Flur gegenüber ALG II be-kommt und durch die Familienförderung faktisch dasGleiche herausbekommt. Das müssen Sie diesen Men-schen einmal erklären.

Wenn Sie das machen, haben Sie das zusätzliche Pro-blem, ein Problem, mit dem wir uns gerade herumschla-gen: Je höher die Leistungen sind, die Sie gewähren,umso mehr Menschen haben Anspruch auf diese Leis-tungen. Das heißt, der Hilfsarbeiter, den ich gerade ge-nannt habe, erhält dann auch noch ergänzende Leistun-gen nach dem SGB II. Denn wenn das unterBerücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eine Be-darfsgemeinschaft handelt, berechnet wird, kann sichmöglicherweise ein Anspruch auf ergänzende Leistun-gen ergeben.

Ich komme jetzt zu einer weiteren Position, FrauKipping. Ich sage ganz offen: Darüber werden wir unsstreiten; Sie werden auch keine Chance haben, das hiermehrheitlich durchzusetzen. Das ist das Beruhigende

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Parl. Staatssekretär Gerd Andres

dabei. Sie sagen, man müsse das alles jetzt repressions-frei ausgestalten.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Solidari-tät bei den Linken!)

Ja, mein Gott! Sie wollen ferner die Bedarfsgemein-schaften auflösen und es soll einen individuellen An-spruch geben. Das ist ja ganz wunderbar, wenn man sichdas anschaut. Ich halte das alles für Ammenmärchen. Esist gnadenloser Populismus, den Sie hier abziehen. DasGleiche gilt für die praktischen Beispiele, die Sie brin-gen. Auch das ist gnadenloser Populismus.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Dass es Unsinn ist, jemanden bei gefrorenem Boden Un-kraut jäten zu lassen, müssen Sie im Bundestag nicht er-zählen.

(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])

Wenn Sie mir diesen Fall geben, dann wird das ganzschnell – ruck, zuck! – abgestellt. Das sage ich Ihnen.

(Zurufe von der LINKEN)

Dass Sie aber solche Einzelfälle anführen, um den Un-sinn zu begründen, den Sie in Ihrem Antrag zusammen-geschrieben haben, das müssen Sie uns, glaube ich, nichtantun.

Ich bitte um Entschuldigung, meine sehr verehrtenDamen und Herren. Ich habe nur noch ganz wenig Rede-zeit und bin bis jetzt nicht dazu gekommen, mich mitdem Antrag der Grünen näher auseinander zu setzen. Esgibt ja auch Menschen, mit denen wir über viele Jahrezusammengearbeitet haben. Dieser Antrag hebt sich inseiner Qualität wohltuend von dem Antrag der Linkenab.

(Lachen des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] –Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Er ist abernicht gut genug!)

Darin sind eine Reihe von Vorschlägen enthalten, die ichsehr spannend finde, insbesondere wenn es um die Be-treuung geht. Es gibt aber auch Positionen, zu denen dieBundesregierung sagt: Da werden wir Ihnen nicht fol-gen. – Das wundert niemanden. Wir sind gegenwärtig ineinem Prozess, das SGB II weiter zu optimieren. Daswerden wir in den nächsten Wochen tun. Bei einer solchgroßen Reform ist es unvermeidlich, dass man nach-steuert. Ich sage noch einmal ganz in Ruhe und vollerStolz – das sage ich; ich war daran nämlich beteiligt –:Die steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe und die steuerfi-nanzierte Sozialhilfe zu einem neuen System zusammen-zufassen, dem die Vorstellung des aktivierenden Sozial-staats zugrunde liegt, ist des Schweißes aller Edlen wertgewesen. Es ist ein großes Verdienst, dass wir das, mitAusnahme der FDP und des ganz linken Flügels, durch-setzen konnten, hier und im Bundesrat.

(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Wir hatten noch bessere Vorschläge!Dann wäre nicht so viel Missbrauch gewesen!)

Dass die Liberalen und die Vertreter des ganz linken Flü-gels hier gefehlt haben, macht mich nicht traurig. Dennes gibt eine breite Mehrheit hier im Parlament, die einesolche Entwicklung für richtig und notwendig hält. Wirmachen bei diesem Prozess weiter. Wir werden einzelnePunkte optimieren und es weiter vorantreiben. Ichglaube, dass wir, auch im europäischen Vergleich, denrichtigen Weg eingeschlagen haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin

Katja Kipping das Wort.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die hat doch vorhin gerade geredet!)

Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Andres, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie

noch einmal auf das Problem der Working Poor, also derMenschen, die wirklich von früh bis spät arbeiten undtrotzdem in Armut leben, hingewiesen haben. Für michist das allerdings kein Argument dafür, die Sozialleistun-gen zu kürzen; vielmehr ist es eher ein Argument, dasuns in unserer Absicht bekräftigen sollte, endlich einengesetzlich garantierten Mindestlohn einzuführen.

(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder[CDU/CSU]: Dann würden Sie noch mehr Ar-beitslosigkeit kriegen!)

In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht: Die Berech-nung der Armut, wenn sie allein prozentual und relativerfolgt, kann zu gewissen statistischen Effekten führen,die nicht unproblematisch sind. Nun ist aber die Art undWeise, wie Armut berechnet wird, nicht von der Links-partei erfunden worden; vielmehr ist sie von der Wissen-schaft, von der EU-Kommission und auch von derOECD so festgelegt worden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich finde, wir sollten die Probleme, die Sie zu Recht ge-nannt haben, zum Anlass nehmen, uns darüber zu ver-ständigen, inwieweit man sich bei der Berechnung desRegelsatzes allein auf die relativen, prozentualen Zahlenstützen sollte oder ob man nicht lieber einen Warenkorb,in dem das Mindeste von dem enthalten sein müsste, wasMenschen brauchen, damit sie am gesellschaftlichen Le-ben teilhaben können, als Grundlage der Berechnungnimmt.

(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-mendingen] [CDU/CSU]: Ja, wollt ihr einenRückschritt im Sozialhilferecht? Wir warendoch froh, dass der Warenkorb wegkam! –Rolf Stöckel [SPD]: Das ist Paternalismus!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Andres, zur Erwiderung.

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Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Arbeit und Soziales:

Frau Kipping, herzlichen Dank. – Ich will Ihnen nursagen: Über Armut reden wir im Rahmen einer anderenDebatte. Ich glaube nämlich, dass wir das System, wiewir es im SGB II vorgesehen haben, vorzeigen können.Dieses System ist bedarfsgerecht; es unterstellt, dass Be-dürftigkeit vorliegt und dass es ein solidarisches Einste-hen füreinander in der Bedarfsgemeinschaft gibt. All dassind Prinzipien – Sie beschreiben sie in Ihrem Antrag –,an denen wir festhalten.

Der gesetzliche Mindestlohn ist ein anderes Problem.Spannend sind nicht die Fragen ob oder ob nicht und wieman das konstruiert; spannend ist doch die Frage derHöhe. Die Umsetzung Ihres wunderbaren Vorschlagsvon der Pfändungsfreigrenze würde bedeuten, dass ichden ganzen Leistungsapparat des SGB II auf diese Höheschrauben müsste. Ob die Pfändungsfreigrenze vernünf-tig ist, lasse ich völlig außen vor.

Sie merken, ich habe sehr viel Spaß an einer fachli-chen, sachlichen und vernünftigen Debatte. Das ist über-haupt kein Problem; die können wir gerne führen. Siemuss aber fachlich und sachlich fundiert sein. – Das einehat mit dem anderen nichts zu tun. Man kann nicht ein-fach Äpfel mit Birnen vergleichen. Beim gesetzlichenMindestlohn und der Leistungshöhe nach dem SGB IImuss ich immer beachten, dass es einen Anreiz gebenmuss, aus dem System heraus in Arbeit zu gehen. In die-sem Land haben wir unglaublich viel Arbeit, die gegen-wärtig nicht gemacht wird. Eine Aufgabe dieses Hauses,des Gesetzgebers, ist es, dafür zu sorgen, dass die inDeutschland vorhandene Arbeit, die zurzeit nicht von le-gal in Deutschland lebenden Menschen gemacht wird, inZukunft von diesen erledigt wird. Auch das ist ein Pro-blem, dem wir uns stellen müssen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von

Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht

hilft es der Debatte, wenn wir uns in Erinnerung rufen,was das eigentliche Ziel der Arbeitsmarktreform in derletzten Legislaturperiode war – Herr Andres hat das zumTeil angerissen –: Ziel war es, ein Transfersystem, dasdie Lebensstandardsicherung in den Mittelpunkt stellt,abzuschaffen, weil es diesen Anspruch bei wachsenderMassenarbeitslosigkeit nicht mehr erfüllen konnte, dieWiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt abertrotzdem nur am Rande als Aufgabe begriff. DiesesTransfersystem sollte abgeschafft werden, weil es dieLangzeitarbeitslosigkeit zementiert hat. Es ging darum,die Chancen von Langzeitarbeitslosen, Zugang in denersten Arbeitsmarkt durch umfangreiche Betreuung,passgenaue Hilfsangebote und eine effektive Vermitt-lung zu finden, zu verbessern.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es!)

Das war und ist ein richtiges Ziel, das auch in dieser Le-gislaturperiode verfolgt werden sollte.

Die Umsetzung ist in vielerlei Hinsicht mangelhaft.Das will ich gar nicht bestreiten.

(Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrü-cken] [DIE LINKE])

Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfemit dem Ziel der Schaffung einer Grundsicherung waraber ein erster, richtiger Schritt. Wir haben die entmün-digende Sozialhilfe abgeschafft und den entwürdigendenVerschiebebahnhof zwischen Sozial- und Arbeitslosen-hilfe abgeschafft.

Frau Kipping, es muss noch einmal in Erinnerung ge-rufen werden, dass die Sozialhilfeträger in der Vergan-genheit Langzeitarbeitslose in großem Umfang in ir-gendwelche Maßnahmen geschleust haben, um sie beider Bundesanstalt für Arbeit abzugeben. Das war teuerund für die Betroffenen verdammt schlecht und entwür-digend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sozialhilfeempfänger haben jetzt erstmals einen Zu-gang zu den Instrumenten der Bundesanstalt für Arbeitund damit einen Zugang zur Vermittlung in Arbeit undAusbildung.

(Zuruf von der LINKEN: Das hatten sie auch vorher!)

Wenn man Sie so hört, vor allem, wenn man Ihren An-trag liest, könnte man den Eindruck gewinnen, das allessei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ihr Frak-tionsvorsitzender Oskar Lafontaine hat im Wahlkampfsogar von „Schandgesetzen“ geredet. Ich finde das in je-der Hinsicht instinktlos.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Sie rufen „Hartz IV muss weg! Hartz IV muss über-wunden werden!“. Die Frage ist, was dabei herauskom-men soll. Wohin wollen Sie eigentlich? Vorwärts in dieVergangenheit? Den Eindruck habe ich, wenn ich IhrenAntrag lese. Sie versprechen den Menschen eine Erhö-hung der Transferleistungen in einer Größenordnung– das entspricht auch unseren Berechnungen – von unge-fähr 35 Milliarden Euro.

Sie machen falsche Versprechungen und versuchendamit, ihnen den Verzicht auf einen Arbeitsplatzschmackhaft zu machen. Das ist die falsche Politik.

Sie haben im Wahlkampf Plakate geklebt, auf denenstand: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit ge-kommen ist.“ – Frau Kipping, ich sage Ihnen mit Blickauf die Forderungen, die Sie hier heute erheben: Nichtsist hilfloser als eine Idee, die nicht mehr in die Zeit passt,weil sie keiner bezahlen kann, aber vor allen Dingenauch, weil sie an den Problemen vorbeigeht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP – Zuruf von der LINKEN:Das passt in die Zeit!)

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2618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Brigitte Pothmer

Sie spielen, wie ich finde, immer gern ein bisschenKlassenkampf. Offen gestanden: Es ist höchste Zeit,dass Sie Ihre politischen Ideale einmal mit den gesell-schaftlichen Realitäten im Jahr 2006 abgleichen. DieGesellschaft ist heute ein bisschen komplexer, als KarlMarx sie noch beschrieben hat. Die „taz“ hat das im letz-ten Jahr sehr anschaulich dargestellt. Die Frage warnämlich: Wer ist denn heute das Kapital? Dies wurde amBeispiel Daimler-Chrysler verdeutlicht: 6,9 Prozent ge-hören der Deutschen Bank, 7,2 Prozent dem Emirat Ku-wait und der Rest ist Streubesitz. 25 Prozent davon wer-den von Privatinvestoren gehalten und 60,9 Prozent voninstitutionellen Investoren. Frau Kipping, wer ist da jetztder Boss? Dann noch einmal von der anderen Seite ge-fragt: Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger?Die Bürger in einem entwickelten Kapitalismus befindensich in einem vielfältigen Rollenkonflikt. Als Kundenprofitieren sie von dem gnadenlosen Wettbewerb. AlsAnleger freuen sie sich über Kurssprünge und hoheDividenden. Doch als Angestellte sind sie Opfer dieserVerhaltensmuster, denen sie selbst unterliegen. Das be-deutet stagnierende Löhne und kann auch bedeuten, dassihre Jobs bedroht sind.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Pothmer, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Dehm?

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Schon die SPD-Kollegen haben von mir, als ich noch

in dem Verein war, folgende Frage gehört. Auch Ihnenstelle ich jetzt diese Frage, weil Sie die Deutsche Bankals an Daimler-Chrysler Beteiligte erwähnt und gesagthaben, dass unsere Politik nicht mehr in die Zeit passt,da sie nicht finanzierbar sei: Wie erklären Sie dann, dass– auch unter der Ägide von Rot-Grün – die DeutscheBank 16 Jahre lang keine Großbetriebsprüfung hatte undkeinen Cent Körperschaftsteuer gezahlt hat? Wärendiese beiden Instrumente nicht eine Möglichkeit – übri-gens auch mit einem ähnlichen Ergebnis für Daimler-Chrysler –, um sehr viel für die Finanzierung unseresSozialstaates zu tun?

(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mindestge-winnbesteuerung! Das haben wir gemacht!)

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Steuerpolitik unter Rot-Grün habe ich nicht in je-

dem Punkt für richtig gehalten. Das haben wir im Übri-gen immer sehr deutlich formuliert. Aber Ihre einfachenMuster, die sich in Ihren Anträgen widerspiegeln, wer-den der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht. Dassind ranzige Weisheiten, mit denen Sie hier immer wie-

der auftauchen. Sie machen es sich verdammt noch malzu einfach!

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin, erlauben Sie eine weitere Zwischen-

frage der Frau Kollegin Dr. Hendricks?

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU], zu der Abg.Dr. Barbara Hendricks [SPD] gewandt: WarenSie für die rot-grüne Steuerpolitik?)

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte.

Dr. Barbara Hendricks (SPD): Frau Kollegin, sind Sie bereit, den Herrn Kollegen

Dehm darauf hinzuweisen, dass nach den in der Bundes-republik Deutschland geltenden Bedingungen Konzernenahtlos im Anschluss, also etwa alle vier Jahre, für dievergangenen vier Jahre geprüft werden und dass dazuselbstverständlich auch ein Bankkonzern gehört?

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich glaube, das hat der Kollege Dehm jetzt gehört, als

Sie es uns allen hier noch einmal deutlich dargestellt ha-ben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)

Wissen Sie, was ich für das eigentliche Problemhalte? Das eigentliche Problem ist, finde ich, dass Sie esmit Ihrer Politik dieser Regierung so einfach machen,weil Sie Ihre Forderungen nicht belegen, weil sie nichtfinanzierbar sind und weil sie deswegen so einfach vomTisch zu wischen sind. Dabei braucht diese große Koali-tion eine Opposition, die ihr Feuer unter dem Hinternmacht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn diese Koalition ist dabei, auf ihre ganz eigeneArt Hartz IV zu überwinden. Meine Damen und Herrenvon Union und SPD, ich darf Ihnen vielleicht noch ein-mal in Erinnerung rufen: Das Motto von Hartz IV war„Fordern und Fördern“.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Richtig!)

Es scheint aber so, dass Sie das Prinzip des Fördernsnicht mehr so richtig in Erinnerung haben.

(Rolf Stöckel [SPD]: Das ist eine Frage der Umsetzung vor Ort!)

Seit Ihrem Amtsantritt wollen die Zumutungen, mit de-nen Sie die Hartz-IV-Empfänger überziehen, kein Endenehmen. Mir scheint, Sie folgen nach einer Druckkessel-theorie der Vorstellung: Je mehr Forderungen an die Ar-beitslosen gestellt werden und je höher der Leidensdruck

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Brigitte Pothmer

ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieMenschen in Arbeit kommen. Ich sage Ihnen: Das trägtnicht gerade zur Motivation bei, einen Arbeitsplatz an-zunehmen. Das provoziert vielmehr die Abkehr der Be-troffenen von der Gesellschaft.

Mit Ihren elendigen und durch keine Zahlen belegtenMissbrauchsdebatten schüren Sie, wie ich finde, zu-nehmend ein Klima des Misstrauens und der Stigmati-sierung. Dies tun Sie nur, um Rückenwind für dieDurchführung von Leistungskürzungen, die Sie schonangedeutet haben, zu bekommen. Das ist wirklich einschäbiges Vorgehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aus diesem Grunde haben wir uns entschlossen, ei-nen eigenen Antrag zur Weiterentwicklung von Hartz IVeinzubringen. Aus unserer Sicht enthielt der Hartz-IV-Kompromiss, der ja im Wesentlichen ein großkoalitionä-rer war, von Anfang an erhebliche Zumutungen. Aberich sage deutlich: Wir haben diese Zumutungen mitge-tragen, weil wir der Auffassung waren und im Übrigennach wie vor sind, dass Leistungszahlungen mit demZiel der Integration in den ersten Arbeitsmarkt ver-bunden sein müssen. Allerdings sind wir auch der Mei-nung, dass sowohl bei den Regelungen zu unterschiedli-chen Personengruppen als auch auf einzelnen Feldernder Arbeitsmarktpolitik nachjustiert werden muss.

Ich will nur einige Punkte unseres Antrags nennen: Esgeht auch uns um eine Entkopplung des Hilfebezugsvom Partnereinkommen; hier muss im Interesse derFrauen eine bessere Regelung gefunden werden. Wirhalten es vor dem Hintergrund der Entwicklung der ge-setzlichen Rentenversicherung für dringend notwendig,das Altersvorsorgevermögen besser zu schützen. Wirwollen vor allen Dingen die Integration in den ersten Ar-beitsmarkt verbessern, indem wir Langzeitarbeitslosenermöglichen, ihre gesamten Transferleistungen in einBeschäftigungsverhältnis einzubringen. Wir wollen alsoArbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Und wir wol-len, dass mindestens geduldeten Ausländerinnen undAusländern endlich Zugang zu Eingliederungsleistungeneingeräumt wird.

Meine Damen und Herren, Hartz IV schafft keine Ar-beitsplätze. Das haben zumindest wir Grüne auch nie be-hauptet. Hartz IV konzentriert sich auf die bessere Ver-mittlung und Integration von Arbeitslosen. Dass dies ineiner Situation, in der es massenhaft an Arbeitsplätzenfehlt, nur begrenzt eine Hilfe ist, gebe ich gerne zu. Aberes wird nicht leichter, wenn Sie zu alten Konzepten zu-rückkehren, die sich bei der Bekämpfung der Massen-arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten als untauglich erwiesenhaben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Lenin soll ja immer als erste und entscheidende Frageformuliert haben: „Wem nützt das?“ Ich sage Ihnen: IhrAntrag nützt weder den Arbeitslosen noch der Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Schiewerling von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Brandner [SPD])

Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An-

trag der Fraktion der Linken ist im Wesentlichen nichtsanderes als eine Zusammenstellung von Positionen, dieim Parlament auch in der Vergangenheit keine Mehrheitgefunden haben – und das aus gutem Grund. Sie wollendas Arbeitslosengeld II und viele andere Leistungen,zum Beispiel das Sozialgeld, anheben. Doch dazu, wieSie das finanzieren wollen, äußern Sie sich in Ihrem An-trag mit keinem Wort; die Größenordnung, um die es da-bei geht, hat Herr Andres vorhin erwähnt. Geld auszuge-ben, ist einfach. Es zu erwirtschaften und es danngerecht zu verteilen, ist allerdings schwer. Ich sage Ih-nen: Ihre Position ist populistisch und unredlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Der Druck auf dem Arbeitsmarkt, den Sie gleich zuBeginn in Ihrem Antrag beschreiben, ist keine Folge derEinführung der Grundsicherung, sondern unter anderemeine Konsequenz der gesamtkonjunkturellen Entwick-lung. Wir wären international nicht so wettbewerbsfähig,wie wir es sind, hätten wir nicht hoch qualifizierte Inge-nieure, Meister und Facharbeiter. Allerdings – das istrichtig –: Menschen ohne berufliche Qualifikation habenes schwer. Einen Qualifikationsdruck nach unten, wieSie ihn beschreiben, kann ich nicht erkennen.

In Ihrem neun Seiten umfassenden Antrag gehen Siemit keinem einzigen Wort auf das Fordern und Fördernder Menschen ein. Sie zeigen auch keinen Weg auf, wieSie Bezieher von Leistungen nach dem SGB II in Be-schäftigung bringen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist aber der Kern des SGB II.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Sie behaupten in der Präambel Ihres Antrags, dass dasArbeitslosengeld II keine soziale Grundsicherung sei.Diese Behauptung ist schlichtweg falsch: Das Arbeits-losengeld II ist eine soziale Grundsicherung, allerdingsist es keine Hängematte, sondern ein gespanntes Netz.Mit dem Optimierungsgesetz wollen wir dieses Netzüberprüfen und weiter straffen, damit es seinen Zweckals Grundsicherung erfüllen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

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Karl Richard Schiewerling

Mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sindwir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip desSGB II trägt dazu bei, dass Menschen ohne Arbeit gefor-dert werden, ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wie-der aus eigener Kraft zu bestreiten. Schließlich wollenwir Menschen in Arbeit bringen und sie somit aus demBezug staatlicher Leistungen herausholen. Von diesemZiel steht nichts in Ihrem Antrag; Sie machen dazu kei-nen einzigen Vorschlag. Sie wollen die Menschen imBezug von Transferleistungen nach dem SGB II belas-sen, ja Sie bestärken sie noch, indem Sie noch mehrGeld draufpacken wollen. Das entspricht übrigens IhremStaatsverständnis, demzufolge der Staat für alles und je-dermann verantwortlich ist. Das aber führt zu Abhängig-keit und Unfreiheit und letztendlich dahin, dass der Staatfinanziell an seine Grenzen stößt – was wir überdeutlicherleben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Abg. Katja Kipping [DIELINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Wohlgemerkt – damit ich nicht missverstanden werde –:Wir brauchen einen starken Staat, der die Schwachenschützt. Aber wir brauchen keinen Staat, der die Men-schen entmündigt. Zur Freiheit gehört natürlich derSchutz, aber auch die Verantwortung eines jeden Einzel-nen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Kipping?

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die ist ja unersättlich heute!)

Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU): Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Kipping.

Katja Kipping (DIE LINKE): Da hier wiederholt behauptet wird, wir würden uns in

unserem Antrag überhaupt nicht mit dem Bereich Ar-beitsmarktpolitik auseinander setzen, möchte ich Sieeinfach fragen, ob Sie unseren Antrag überhaupt bis zurSeite 5 gelesen haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegensatz zu euch lesen wir was!)

Dann müsste Ihnen aufgefallen sein, dass wir einenPunkt 5 in unserem Antrag haben, der da heißt:

Die Arbeitsförderung ist durch zukunftsweisendeLösungen zu verändern.

Dazu fordern wir die Schaffung eines öffentlich geförder-ten Beschäftigungssektors und wir machen ganz konkreteVorschläge, wie man 1-Euro-Jobs in reguläre sozialversi-cherungspflichtige Arbeitsverhältnisse umwandeln kann,und wir schlagen weitere arbeitsmarktpolitische Maßnah-men vor.

(Beifall bei der LINKEN)

Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich habe nicht nur Ihre ersten fünf Sei-

ten gelesen, sondern alle neun. Ähnliche Allgemein-plätze, wie Sie sie eben benannt haben, durchziehen dengesamten Antrag.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist ein Konzept!)

– Wollen Sie zuhören? – Sie wissen ganz genau, dass zu-sätzliche Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor und dieUmwandlung von 1-Euro-Jobs – auch dies sind Jobs, dieim öffentlichen Sektor angesiedelt sind – angesichts derGesamtsituation, in der wir uns befinden, keine Lösungunserer Arbeitsplatzprobleme sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wenn jemand eine vom steuerzahlenden Bürger – ichhalte das für einen wichtigen Punkt – finanzierte Grund-sicherung erhält, dann kann man von ihm verlangen,dass er eine Gegenleistung erbringt und sich anstrengt;das hat etwas mit Freiheit und Würde zu tun. Das stehtim Unterschied zu Ihrem Verständnis: Sie lehnen dieseAnforderungen an die Hilfebedürftigen ab. Sie schrei-ben:

Niemand soll zur Ausübung einer Beschäftigunggezwungen werden, die für ihn kein existenzsi-cherndes Einkommen schafft …

Diese Position halte ich rundweg für unsozial: Denn Siemissachten die Krankenschwester, den Polizisten, dieFriseuse, den Landwirt, alle, die einer Erwerbsarbeitnachgehen und Steuern aufbringen, um nach Ihrer Defi-nition dem Arbeitslosengeld-II-Empfänger die Freiheitzu geben, darüber zu entscheiden, ob er arbeiten willoder nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP – Zuruf von derCDU/CSU: Ungeheuerlich!)

Mit Ihrem Staatsverständnis dienen Sie nicht demMenschen. „Sozial“ kann nicht daran gemessen werden,wie hoch die Transferleistungen sind.

(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Für uns ist sozial – das sage ich sehr deutlich –, wenn derEinzelne mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeitenmit seiner eigenen Hände und seines eigenen Kopfes Ar-beit den Lebensunterhalt für sich und seine Familie ver-dienen kann. Wenn das nicht ausreicht, dann hat er einAnrecht auf Unterstützung. Ich sage das so deutlich:Personalität, Subsidiarität und Solidarität sind ausunserer Sicht die entscheidenden Grundlagen unsererVerfassung: Jeder leistet seinen Teil. Sie sagen, dass nie-mand einen 1-Euro-Job – sie sind übrigens durchaus be-gehrt –, der bis zu 160 Euro im Monat zusätzlich bringt,annehmen müsse. Dies entspricht nicht der notwendigenMitwirkung und auch nicht der Stärkung der Eigeninitia-tive und der Selbstverantwortung.

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Karl Richard Schiewerling

Nichtsdestotrotz habe ich in dem Antrag der Linkenauch etwas Sinnvolles entdeckt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh!)

– Ja. – So heißt es in Ihrem Text: „Die Freibeträge fürAltersvorsorge sind … anzuheben“. – Das ist eine primaIdee. Das haben wir auch schon im Koalitionsvertrag sofestgehalten und das werden wir auch umsetzen. Siekönnen sich dem dann ja anschließen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, wir wollen das SGB II op-timieren, das heißt: weniger Verwaltung, gezielter Ein-satz der Mittel und eine Verbesserung der Eingliederung.Ich gestehe zu: Hier kann noch mehr geschehen. Davonsteht in Ihrem Papier aber noch nichts.

Ich glaube übrigens auch, dass wir darüber redenmüssen, wie wir präventiv gerade auch den Jugendli-chen in Bedarfsgemeinschaften, die einer Familie an-gehören, die sich in der dritten Generation im Sozialhil-febezug befindet, helfen können, aus dieser Situationauszubrechen und neue Wege zu finden. Ich halte das füreine wichtige neue Herausforderung, vor der wir stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dafür müssen im SGB II aber die notwendigen An-reize für Arbeitslose geschaffen werden, eine reguläreBeschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt anzustre-ben. Arbeit muss sich lohnen. Das Institut für Weltwirt-schaft in Kiel hat festgestellt:

Kritische Lohnabstände, die eine Vollzeitbeschäfti-gung auf dem ersten Arbeitsmarkt unattraktiv er-scheinen lassen, bestehen insbesondere bei ALG-II-Beziehern, die eine geringe Qualifikation aufwei-sen, Kinder haben und deren Partner nicht erwerbs-tätig sind. Verstärkt werden diese Anreizprobleme,wenn ein potenzieller Arbeitsplatz im Dienstleis-tungssektor … liegt.

Momentan erzielen 34 Prozent der Erwerbstätigen inden neuen Bundesländern einen monatlichen Brutto-lohn von unter 1 600 Euro. Sie zahlen Steuern und fi-nanzieren so einen Mehrpersonenhaushalt, der sich imLeistungsbezug des SGB II befindet und gegebenenfallsAnspruch auf passive Leistungen in Höhe von1 600 Euro bis 2 000 Euro hat. Dass hier ein eigener An-reiz zum Arbeiten fehlt, ist wohl klar. Ich verkenne aller-dings auch nicht, dass es Regionen in Deutschland gibt,in denen die wirtschaftliche Situation insgesamt durch-aus problematisch ist und wo sich dies auch auf die Ar-beitsplätze auswirkt.

Wir müssen auch der Frage nachgehen – das ist einwichtiges Anliegen –, was wir mit den Menschen tun,die aufgrund ihrer persönlichen Voraussetzungen nichtweiter qualifizierbar sind. Auch sie sollen ihren Beitragleisten können. Es müssen Möglichkeiten geschaffenwerden, dass auch die Menschen, die nicht mehr weiterqualifizierbar sind oder leichte Behinderungen haben,für sich selbst sorgen können. Das ist nicht nur einestaatliche Aufgabe, hier sind auch die Wirtschaft und dieTarifpartner gefordert. Genau an dieser Stelle wird die

Diskussion um den wie auch immer zu gestaltendenKombilohn einsetzen.

Meine Damen und Herren, mit dem Antrag der Lin-ken, der nun vor uns liegt, wollen sich die Linken malwieder als Schutzpatrone der ALG-II-Empfänger prä-sentieren und sie streuen den Menschen doch nichts an-deres als Sand in die Augen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage?

Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU): Nein, ich bin jetzt gleich fertig.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Keine Zwischenfrage.

Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU): Nicht die Grundsicherung macht arm, sondern die Ar-

beitslosigkeit. Wer die Menschen in ihrer Situation be-lässt und sie nicht fordert, der entmutigt sie. Wir brau-chen aber Mut und keinen Sozialneid.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich erteile jetzt dem Kollegen Jörg Rohde von der

FDP-Fraktion das Wort und nutze die Gelegenheit, Ih-nen, Herr Rohde, im Namen des Hauses zu Ihrem heuti-gen 40. Geburtstag zu gratulieren.

(Beifall)

Jörg Rohde (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! 15 Monate nach In-Kraft-Treten von Hartz IV ste-hen wir heute in diesem Hause vor dem Scherbenhaufenrot-grüner Arbeitsmarktpolitik. Die Hartz-Gesetze, dievor einigen Jahren wortreich als moderne Dienstleistun-gen am Arbeitsmarkt ins Rennen geschickt wurden, ha-ben sich als Totalausfall erwiesen: Sie haben keine Ar-beitsplätze geschaffen, die Arbeitslosigkeit nicht gesenktund bis heute auch nicht zu einer besseren Qualifizie-rung Arbeitsuchender geführt. 5 Millionen Arbeitslosewarten nicht auf Hartz-Reformen, sondern auf Arbeits-plätze und den Wirtschaftsaufschwung – bisher leidervergeblich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Nach wie vor bestehen doppelte Strukturen für dieVerwaltung von Arbeitslosen. Das daraus folgendeKompetenzwirrwarr, die Zeitverzögerung durch nicht ab-gestimmte Software und die mangelnde Transparenzbeim Datenaustausch haben die Situation der Arbeitslo-sen keinesfalls verbessert. Zusätzlich prallen hier zweivöllig unterschiedliche Verwaltungskulturen aufeinander.Anstatt aber deshalb heute Vorschläge vorzulegen, wiedie Konstruktionsfehler der Hartz-Gesetze zu korrigieren

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Jörg Rohde

sind, richtet sich die Linke in der Arbeitslosigkeit ein undwill aus Hartz IV eine soziale Vollversorgung machen.Höhere Leistungen, keine Missbrauchskontrollen undkeine Anreize zur Arbeitsaufnahme – dafür ist dasArbeitslosengeld II nicht gedacht.

Primäres Ziel von Hartz IV ist die individuelle Über-windung des Bezuges von ALG II durch den einzelnenArbeitssuchenden hin zur Wiedereingliederung in denArbeitsmarkt. Insoweit ist die Überschrift des Antragsder Linken „Strategie zur Überwindung von Hartz IV“durchaus berechtigt. Eine Überwindung von Hartz IV ineine dauerhafte soziale Absicherung ohne das vorran-gige Ziel der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarktwäre aber völlig kontraproduktiv.

(Beifall bei der FDP)

Der Grundsatz von Fordern und Fördern ist rich-tig. Aber in beiden Punkten ist die alte rot-grüne Bun-desregierung auf halbem Wege stehen geblieben. DieKontrolle des Leistungsmissbrauchs lässt zu wün-schen übrig. Mein Kollege Heinrich Kolb hat bereits aufdie erschreckenden Ergebnisse der Telefonumfrage hin-gewiesen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh ja!)

Auch der automatisierte Datenabgleich ist mit Hartz IVfür die Stellen vor Ort nicht einfacher, sondern aufwen-diger geworden und Missbrauch damit leichter. OhneFordern ist Hartz IV kein Anreiz zur Arbeitsaufnahme.

Beim Fördern sieht es nicht besser aus. Am bestenfunktioniert dieses Instrument bei der Ausnahme, näm-lich bei den Optionskommunen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)

Herr Staatssekretär Andres, die FDP hat damals nichtzugestimmt, weil es bei der Umsetzung bessere Alterna-tiven gibt.

(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Wir hätten das mit den Kommunen flä-chendeckend gemacht!)

Die Stadt Erlangen in meinem Wahlkreis macht esvor. Hier werden bereits über 50-Jährige, welche aufdem allgemeinen Arbeitsmarkt als kaum vermittelbargebrandmarkt sind, erfolgreich in Arbeit vermittelt. Daserfahrene und motivierte Team vor Ort in Erlangen hatzum Beispiel mit dem lokalen Projekt „Fifty up“ zu-sätzliche Fördermittel aus dem Hause von HerrnMüntefering erhalten und an einem bundesweiten Wett-bewerb erfolgreich teilgenommen.

Aber auch aus den 68 anderen Optionskommunen istviel Positives zu vernehmen. Das zeigt, dass besondersdie Kommunen in der Lage sind, der Situation derLangzeitarbeitslosen gerecht zu werden. Sie haben be-wiesen, dass sie bei der Arbeitsvermittlung flexibleWege gehen können. Die Kommunen sind näher an denProblemen der Betroffenen und können eher passgenaueund flexible Wege für eine Integration in den Arbeits-markt entwickeln als die zentralistisch organisierte Bun-desagentur für Arbeit. Die FDP-Fraktion fordert daherweiterhin, dass die Verantwortung für die Vermittlung

und Integration von Arbeitslosen allein den Kommunenübertragen wird.

(Beifall bei der FDP)

Dies erfordert jedoch eine Grundgesetzänderung zurfinanziellen Absicherung der Kommunen bei Über-nahme der Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Hierzuwar Rot-Grün nicht bereit. Auch bei Schwarz-Rot sindhierfür keinerlei Anzeichen zu erkennen. Vor ziemlichgenau zwei Jahren haben FDP und CDU/CSU in einemgemeinsamen Bundestagsantrag gefordert,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das waren noch Zeiten!)

das kommunale Optionsgesetz so umzugestalten, dassauch die optierenden Kreise und kreisfreien Städte tat-sächlich Träger der Arbeitsvermittlung sind und die Auf-gaben nach dem SGB II in Eigenverantwortung erfüllenkönnen.

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Rohde, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Kurth?

Jörg Rohde (FDP): Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Kurth.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erst einmal gratulieren, Herr Kurth!)

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Den Hinweis, dass ich Herrn Rohde gratulieren soll,

hätte ich nicht gebraucht. Natürlich gratuliere ich HerrnRohde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jörg Rohde (FDP): Danke schön.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Kollege Rohde, Sie fordern, dass den Kommu-

nen die Durchführung der Leistungen aus dem SGB II,vulgo Hartz IV, und die Eingliederung in den Arbeits-markt vollständig übertragen werden. In diesem Zusam-menhang haben Sie auch die Optionskommunen ge-nannt.

Nun sind Sie auch behindertenpolitischer SprecherIhrer Fraktion. Ist Ihnen bekannt, dass die optierendenKommunen in geradezu sträflicher Weise in den erstensechs Monaten des Jahres 2005 die Integration vonMenschen mit Behinderungen verweigert haben, ob-wohl sie dazu eindeutig einen rechtlichen Auftrag hat-ten? Ist Ihnen bekannt, dass die damalige rot-grüne Bun-desregierung vor den Fakten kapitulieren und dieseAufgabe an die Bundesagentur für Arbeit zurückgeben

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Markus Kurth

musste – diese macht sie auch nicht so gut, wie sie siemachen sollte –, weil sich die Kommunen einfach ge-weigert haben, für Menschen mit Behinderung Angebotebereitzustellen? Wie kann man vor diesem Hintergrundbehaupten, dass die Kommunen besser befähigt wären,diese Leistungen alleine durchzuführen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Jörg Rohde (FDP): Herr Kollege Kurth, uns allen ist bekannt, dass es da-

mals große Probleme bei der Einführung von Hartz IVgegeben hat. Das bezieht sich auf alle Bereiche, nichtnur speziell auf den Bereich der Menschen mit Behinde-rungen.

(Klaus Brandner [SPD]: Wir reden von jetzt!)

Ich kann eben nur aus meiner Optionskommune in Er-langen berichten, dass dort sehr wohl Maßnahmen ge-troffen worden sind, um die Integration von Behindertenin den Arbeitsmarkt zu fördern. Ich habe mich dort per-sönlich vergewissert. Vielleicht kann das nicht auf alle68 Optionskommunen ausgedehnt werden – an dieserStelle können wir gerne noch nacharbeiten –, abergrundsätzlich halte ich es für besser, vor Ort anzusetzen,weil dort auch die Behinderten bekannter sind als bei ei-ner zentralen Bundesagentur, die von außen eingreifenmöchte. Ich komme später noch einmal auf diesen Punktzurück.

Ich appelliere an die Union, sich an die damals vorge-legten Anträge zu erinnern. Ich denke, wir werden beimLeistungssystem noch stärker auf die Grundsätze der So-zialhilfe zurückkommen müssen. Fehlsteuerungen müs-sen beseitigt und die Leistungen auf die wirklich Bedürf-tigen konzentriert werden.

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

Vor allem jugendliche Arbeitslose haben das Gesetz aus-genutzt und sind auf Kosten der Allgemeinheit bei ihrenEltern ausgezogen. Für die Zukunft wurde diesem Miss-brauch nun ein Riegel vorgeschoben. Von einer Haus-haltssanierung auf Kosten arbeitsloser Jugendlicher, wiees die Grünen nennen, kann aber nicht die Rede sein.

Als behindertenpolitischer Sprecher der FDP möchteich ausdrücklich auf einen Punkt des Antrags der Grüneneingehen. In Punkt 9 Ihres Antrages fordern Sie einebessere Verzahnung von SGB II und SGB IX, um dieVermittlung von arbeitslosen Menschen mit Behinderun-gen in Arbeit zu optimieren. In diesem Punkt stimme ichIhnen ausdrücklich zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Mittelfranken – aber nicht nur dort – ist infolge ei-ner Änderung des SGB IX die bis dahin ausgesprocheneerfolgreiche Vermittlung von Schwerbehinderten insStocken geraten.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Also doch!)

Insbesondere vor dem Hintergrund einer überproportio-nal steigenden Arbeitslosigkeit unter Schwerbehindertenmuss hier schnell gehandelt werden.

Zu Ihrem Zwischenruf: In Mittelfranken gibt es eineOptionskommune neben vielen anderen; es geht vor al-lem um die Argen. Das ganze Problem ergibt sich ausdem SGB IX; es liegt nicht an den Personen, die es vorOrt ausführen müssen. Ich kann mir gut vorstellen, dassauch mein Kollege Hubert Hüppe von der CDU, der be-reits im Mai letzten Jahres in einer Kleinen Anfrage aufProbleme bei der Vermittlung behinderter Arbeitsloserhingewiesen hat, nun als Mitglied der Regierungskoali-tion schnell Korrekturen einfordern wird.

Ich fasse zusammen: Wenn die Gesetze Hartz I bis IVso umgesetzt worden wären, wie ursprünglich einmalvon Peter Hartz geplant, dann wären wir den Zielen ei-ner arbeitsmarktpolitischen Reform sicherlich näher ge-kommen. Es gibt großen Reformbedarf bei der Arbeits-marktpolitik. Aber die beiden Anträge der Fraktionender Linken und der Grünen gehen größtenteils in die fal-sche Richtung.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das stimmt nur bei einem!)

Deswegen muss man beide Anträge ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner

von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Angelika Krüger-Leißner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Seit gut einem Jahr ist die Arbeitsmarktreformzum SGB II in Kraft. Ganz folgerichtig haben wir es mitSchwierigkeiten sowohl in der Akzeptanz und der Um-setzung als auch hinsichtlich der spürbaren Wirksamkeitzu tun. Darum ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass esweitere Vorschläge neben denen der Regierungskoalitiongibt, den Prozess der Umsetzung des SGB II zu optimie-ren.

Dass der Schritt der Zusammenlegung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe zur neuen Grundsicherungrichtig war, bestreitet heute kaum noch jemand. UnsereZielsetzung orientierte sich an den Bedürfnissen von er-werbsfähigen arbeitslosen Menschen. Es ist für michnach wie vor richtig, daran festzuhalten, die Zugangs-chancen von Langzeitarbeitslosen in Beschäftigungdurch passgenaue individuelle Vermittlung und Ange-bote zu verstärken, ihren Verbleib in Arbeitslosigkeit zuverringern und ihnen eine die Existenz sichernde Grund-sicherung zu bieten. An dieser Zielsetzung müssen wirjeden Vorschlag messen, der vorgelegt wird.

Wenn wir als richtig erkannt haben, dass wir gleicheChancen für alle Arbeitslosen und eine schnelle undnachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt erreichen

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Angelika Krüger-Leißner

wollen und dass wir Menschen von Betroffenen zu Be-teiligten an einem System machen, sie also aktivierenund ihre Eigenverantwortung stärken wollen, dannkönnen wir nur den bereits eingeschlagenen Kurs weiter-verfolgen, einschließlich aller notwendigen Weiterent-wicklungen, die wir aber entschlossen angehen müssen.In dieser Phase befinden wir uns gerade.

Heute liegen zwei Anträge vor, die wir meines Erach-tens unterschiedlich gewichten müssen. Der Antrag derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sollte uns auchweiterhin beschäftigen. Ich finde, dass er wichtige undrichtige Ansätze enthält. Das Streiten um gute Lösungenin den nächsten Wochen wird sich, glaube ich, lohnen.

Lassen Sie mich aber einige Ausführungen zu demAntrag der Fraktion Die Linke machen. Ich glaube, die-ser Antrag bringt uns mit seinen Vorschlägen in keinerWeise voran. Vielmehr soll mit ihm der eingeleitete Pro-zess zurückgedreht werden. Ich habe große Zweifel, obdie Antragsteller die Dimension der vor uns liegendenProbleme in ihrer Gesamtheit überhaupt erfasst haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Er liest sich wie ein Wunschzettel, fernab jeder Realitätin unserem Land, kurzum: eine soziale Utopie. Dabeigebe ich zu, dass sich seit einem Jahr für viele MenschenGravierendes verändert hat. Manche Einschnitte sindschwer zu verkraften. Auf die neue Situation musste sichjeder erst einstellen.

Ich hätte mir gewünscht, dass wir – genauso wie an-dere Länder – rechtzeitig auf die veränderte Wirt-schafts- und Arbeitsmarktlage reagiert hätten. Dannwäre vieles leichter geworden. Aber wir haben geschla-fen oder wir hatten nicht den Mut dazu. Letztendlich tra-gen wir alle die Verantwortung dafür. Andere Länder ha-ben in den 90er-Jahren – ähnlich wie wir – Reformen aufden Weg gebracht. Ich erinnere nur an Dänemark. 1993hat die sozial-liberale Regierung Reformen durchge-führt, die sie allerdings mehrmals nachbessern musste.Auch diese Regierung stand unter sehr hohem Druck.Ich erinnere nur daran, dass sie 2001 abgewählt wurde.Das kann passieren. Wenn wir uns aber heute die Erfolgedes Förderns und Forderns vor Augen führen, könnenwir eines erkennen: Die Arbeitslosigkeit in Dänemark istvon 11 auf 5 Prozent gesunken. Die Dänen sind ganz be-sonders erfolgreich bei der Integration gering qualifizier-ter Menschen auf dem Arbeitsmarkt und beim Abbau derJugendarbeitslosigkeit. Genau das muss auch unser Zielsein.

Wir müssen uns mit der Umsetzung der Hartz-Ge-setze beschäftigen, sie analysieren und, wo nötig, än-dern. Aber Sie werden mir, glaube ich, zustimmen, dassder uns vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke nichtgeeignet ist, Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen. LiebeKolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, IhreStrategie zur Überwindung von Hartz IV besteht darin,die Menschen zu verunsichern, wieder einmal Schwarz-malerei zu betreiben und irreale Hoffnungen zu wecken.Sie beginnen schon mit einer falschen Behauptung,wenn Sie sagen, Hartz IV sei Armut per Gesetz. Ich erin-nere an die Worte von Staatssekretär Andres. Er hat sehr

genau ausgeführt, dass es vielen in dem neuen Systemgar nicht schlechter geht. Natürlich hat derjenige Ein-schnitte hinzunehmen, der vorher eine hohe Arbeitslo-senhilfe bekommen hat. Wir haben das nie bezweifeltund offen ausgesprochen. Aber für die Vielzahl der ehe-maligen Sozialhilfeempfänger, die in den letzten Jahrengar keine Chance auf Arbeitsvermittlung bekommen ha-ben, hat sich die Situation verbessert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach der neuen Grundsicherung kommt eine Familiemit zwei Kindern auf einen Grundsicherungsbetrag ein-schließlich Wohnungskosten in Höhe von 1 759 Euronetto im Monat. Das ist sicherlich nicht viel Geld. Aberdas ist weiß Gott nicht Armut per Gesetz. Viele Men-schen in unserem Land arbeiten für viel weniger. Wennich mir Ihre Vorschläge genauer anschauen, dann stelleich fest, dass Sie eigentlich gar keine Überwindung vonHartz IV wollen. Sie wollen vielmehr eine unendlicheAufstockung bei Hartz IV. Das mag zunächst einmalwünschenswert erscheinen. Aber wer die Rechnung be-zahlen soll, die hier aufgemacht wird, bleibt offen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Wenn man sich nur drei Ihrer Vorschläge genauer an-schaut – die Erhöhung der Regelleistung auf 420 Euro,die Erhöhung der Freibeträge für Vermögen und die Er-höhung des Kindergeldes, den dicksten Brocken in Ih-rem Antrag –, dann stellt man fest, dass die Mehrkostenunter dem Strich 26 Milliarden Euro betragen. Das wirdeinfach so dahingeworfen, ohne zu überprüfen, ob dasüberhaupt umsetzbar ist. Das spielt bei Ihnen ohnehinkeine Rolle. Diese Kosten müssten andere in diesemLand mit ihrem Arbeitseinkommen bezahlen. Das sindKosten einer sozialen Utopie, die gar nicht mehr aktivie-ren will. Genau dieser Punkt in Ihrem Antrag machtmich richtig wütend. Arbeit kommt in Ihren Vorschlägenkaum noch vor. Ihre vorgebliche Strategie handelt vomWeg zu einer Vollkaskogesellschaft. Beschäftigung istzweitrangig. Das ist der Geist Ihres Antrages.

Wir können gut erkennen, dass die Linke zurück zudem Verschiebebahnhof will, den wir früher in der So-zialhilfe hatten,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

nun aber für alle Arbeitslosen, damit wir uns in Zukunftbloß nicht weiter mit ihren Problemen beschäftigen müs-sen.

Es gibt einen Punkt, bei dem wir übereinstimmen: Beider Umsetzung des SGB II gibt es viel zu verbessern.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit!

Angelika Krüger-Leißner (SPD): Danke, Frau Präsidentin. – Vor allen Dingen müssen

wir Verbesserungen für die Menschen erreichen, die Ar-beit als Teil ihrer gesellschaftlichen Partizipation sehen.

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Angelika Krüger-Leißner

Für sie müssen wir mehr tun. Ihnen fühle ich mich ver-pflichtet. Lassen Sie uns das in den nächsten Monatentun! Lassen wir uns nicht durch solche utopischen An-träge wie von der Fraktion Die Linke aufhalten!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Als Hartz IV an den Start ging, waren großeErwartungen an ein derartig großes Reformvorhaben ge-knüpft.

(Zuruf von der LINKEN: Sie wurden enttäuscht!)

– Enttäuschung Ihrerseits ist nicht verwunderlich. Siesind öfter enttäuscht und werden auch öfter enttäuschtwerden. – Als es dann an Art und Umfang der Umset-zung ging, wurden, wie fast zwangsläufig bei derartigenReformprojekten, viele enttäuscht – auch die Linken,zum Glück. Hartz IV ist heute unverdientermaßen zumUnwort geworden.

Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen – ge-nau darum ging es im Kern –, war unbedingt notwendigund seit langem eine zentrale Forderung der Union. Des-halb haben wir vor zwei Jahren dem Reformvorhabender damaligen Bundesregierung in Bundestag und Bun-desrat zugestimmt. Wie Herr Staatssekretär Andres aus-geführt hat, war es den Schweiß aller Edlen wert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich habe die Formulierung sehr schön gefunden, weil Sieauch uns als Edle bezeichnet haben.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber schwitzen ist trotzdem eine unangenehme Sache!)

Es war uns wichtig, den Schwerpunkt von der Zah-lung des Lebensunterhalts auf die Wiedereingliederungder erwerbsfähigen Hilfebezieher in den Arbeits-markt zu verlagern. Oberstes Ziel musste sein, die Be-troffenen wieder aus den Transfersystemen herauszufüh-ren, sei es durch neue Hinzuverdienstmöglichkeiten, seies durch eine passgenaue Förderung bei der Wiederein-gliederung in Arbeit, sei es durch eine intensivere Be-treuung durch einen persönlichen Ansprechpartner.Dazu gehören auch die unmissverständliche Androhungund die Durchsetzung von Sanktionen, wenn der Hilfe-bedürftige die notwendigen Eigenbemühungen nichtleistet. Nicht umsonst heißt es „fordern und fördern“.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Das Arbeitslosengeld II steht für uns im Einklang mitdem Auftrag, den das Grundgesetz dem Staat gegebenhat: diejenigen zu unterstützen, die sich ohne eigenes

Verschulden nicht aus eigener Kraft helfen können. Dasgibt aber keinem das Recht, auf Kosten der Gemein-schaft zu leben, wenn er eigentlich selbst arbeitenkönnte. Es geht nicht darum, so viel Steuergeld wiemöglich in die Transfersysteme zu pumpen, wie es dieLinksfraktion, ihrem Antrag nach zu schließen, gernehätte. Staatssekretär Andres hat eine erschreckende Zahlgenannt: 35 Milliarden Euro würde die DurchführungIhres Antrages kosten. Das sind traumtänzerische Zahlenohne solide Gegenfinanzierung. Ich hätte von der Links-partei zumindest eine unsolide Gegenfinanzierung er-wartet.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nicht einmal das!)

– Von einer soliden Gegenfinanzierung kann man bei ihrohnehin nicht ausgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben in der vergangenen Woche einen Haushaltmit einer dramatischen Neuverschuldung von 38 Milliar-den Euro im laufenden Jahr beschlossen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dehm?

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich würde liebend gern, aber die heutige Sitzung ist

bereits jetzt bis 23.55 Uhr geplant. In Anbetracht der ge-ringen Qualität der zu erwartenden Zwischenfrage ver-zichte ich darauf.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Kipping, hier auf der Tribüne ist eine große An-zahl Jugendlicher. Wir zahlen bereits jetzt jeden Tag100 Millionen Euro Zinsen. Ihr Weg wäre gewesen, dieVerschuldung in dramatischer Weise weiter zu steigern.Die Generation, die uns von den Tribünen zuschaut,hätte keinerlei Bewegungsraum mehr, wenn wir IhrenWeg in die soziale Irre gingen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wer theatralisch den Sozialstaat untergehen sieht undHartz IV am sozialen Kältepol verortet, sollte sich ein-mal den Einzelplan „Arbeit und Soziales“ desBundeshaushaltes 2006 ansehen. Wir geben derzeitmehr als 51 Prozent der gesamten Haushaltsmittel fürsoziale Leistungen aus. Allein für das Arbeitslosen-geld II sind im Haushalt 2006 24,4 Milliarden Euro an-gesetzt. Für Eingliederungshilfen sind 6,5 MilliardenEuro und für Verwaltungskosten 3,5 Milliarden Eurovorgesehen. Darüber hinaus werden 267 Millionen Eurofür Beschäftigungspakte zugunsten älterer Menschenveranschlagt. 2006 beteiligt sich der Bund zudem mit29,1 Prozent an den Unterkunftskosten. Die Kommunenwerden so um 2,3 Milliarden Euro jährlich im Vergleichzu dem vor dem 1. Januar 2005 geltenden Recht entlas-tet. Dieses Geld kann in die Betreuung vor Ort investiertwerden, zum Beispiel in Kinderkrippen. Sieht es so aus,wenn – so schreiben Sie es, liebe Kolleginnen und

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Paul Lehrieder

Kollegen der Linksfraktion – „Kosten auf die Kommu-nen abgewälzt werden“? Beileibe nicht!

Apropos Kommunen: Frau Kipping, Sie haben denProspekt „Hartz IV“ vorgezeigt und auf Ihren Wahlkreisverwiesen. Ich habe mich kundig gemacht: Das Bundes-tagshandbuch weist aus, dass Sie über die LandeslisteSachsen in dieses Hohe Haus gewählt worden sind. Ichgehe davon aus, dass Sie gleichwohl Verantwortung fürdie Menschen Ihrer Region tragen wollen.

Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreisnennen. Mein Wahlkreis Würzburg hat sich 2004 für dasso genannte Optionsmodell entschieden.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Im Wahlkreis Erlangen des Kollegen Rohde war es ähn-lich. Im Laufe des ersten Halbjahres 2005 wurden dieFälle der Agentur für Arbeit sukzessive übernommen.Das „Beratungs- und Eingliederungszentrum für Arbeit-suchende des Landkreises Würzburg“ vermerkt für dasgesamte vergangene Jahr, dass trotz schwieriger Aus-gangslage 511 Menschen in den ersten Arbeitsmarkt ver-mittelt werden konnten, und das bei 1 300 Arbeitslosenbzw. 2 230 Bedarfsgemeinschaften. Das ist eine Quote,mit der wir uns nicht zu verstecken brauchen. Gegenüberden Jahren 2003 und 2004 mit jeweils etwa 200 Vermit-telten ist das ein deutlicher Erfolg.

Frau Kipping, legen Sie Ihren Laptop einmal zurSeite! Vielleicht können Sie mir einmal etwas lauschen.

(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])

– Das befürchte ich. Alles, was realitätsbezogen ist, istfür Sie uninteressant.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Besonders erfreulich ist in diesem Zusammenhang,dass 26,4 Prozent der im vergangenen Jahr vermitteltenArbeitnehmer unter 25 Jahre alt sind. Damit dürfte klarwerden, dass die Reformen allmählich zu greifen begin-nen.

Bei alledem müssen wir in Rechnung stellen, dass essich erst um einen Anfang der Reformen der Arbeits-markt- und Sozialgesetzgebung handelt. Viel muss nochjustiert werden. Genau in dieser Phase befinden wir unsjetzt. Unter anderem mit der Angleichung der ALG-II-Regelsätze in Ost und West auf 345 Euro wollen wir fürmehr Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen sorgen.Hier sehen wir auch die Grenzen, die uns gesetzt sind.Diese Angleichung wird bei Bund und Ländern mitMehrkosten von 260 Millionen Euro zu Buche schlagen.Dadurch fehlt Geld an anderer Stelle. Da wir leider nichtunbegrenzt Geld drucken können und es uns nicht leistenkönnen, über unsere Verhältnisse zu leben, müssen wirin Verantwortung vor dem Steuerzahler die knappen so-zialstaatlichen Mittel zielgenau einsetzen.

Ich erinnere an Folgendes: Beim ALG II handelt essich grundsätzlich um eine bedürftigkeitsabhängigeLeistung, die nur in der Höhe der tatsächlichen Hilfe-bedürftigkeit gewährt wird. Sie muss das so genannte so-ziokulturelle Existenzminimum sicherstellen. Es geht

um Hilfe zur Selbsthilfe, die das uneffektiv gewordenesoziale Netz in eine neue Balance bringen soll.

Die überplanmäßigen Ausgaben von mehr als11 Milliarden Euro, die uns einzelne Kostenblöcke desHartz-IV-Gesetzes gebracht haben, können wir uns aufDauer nicht leisten. Es geht um den effizienten Einsatzknapper Mittel. Es geht nicht darum, denen zu helfen,die das Geld nicht brauchen. Fehlanreize sind deshalb zubekämpfen, und zwar im Interesse aller.

Ein besonders prägnantes Beispiel der letzten Zeit istder sprunghafte Anstieg der Zahl von Ein-Personen-Be-darfsgemeinschaften unter 25-Jähriger. Diesen Anstiegkonnten wir vor einigen Wochen in diesem Hohen Hausmit großer Mehrheit – gegen die Linksfraktion – zumGlück unterbinden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)

Mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz wird die Koali-tion diese Linie fortführen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt,neue Akzente bei der Ausgestaltung des Schonvermö-gens zugunsten der Altersvorsorge zu setzen und die De-finition eheähnlicher Gemeinschaften zu überprüfen, dieZuständigkeiten der Arbeitsgemeinschaften und optie-renden Kommunen gesetzlich klarzustellen und einigesmehr.

Wir befinden uns mitten im Reformprozess. UnserZiel ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Wir habenbegrenzte Mittel und sind kein Selbstbedienungsladen.Leben wir über unsere Verhältnisse, leiden am Ende dieganze Gesellschaft und insbesondere unsere Jugend.

Wer uns bei diesem schwierigen Vorhaben mit kon-struktiven Vorschlägen unterstützen will, ist uns herzlichwillkommen. Wer die Bürger mit pathetischem Tonfall,Bärbeißigkeit und ideologischer Verblendung gegen ihreeigenen Interessen mobilisieren und notwendige Maß-nahmen im Keim ersticken will, ist allerdings fehl amPlatz. Hier würde man den Bock zum Gärtner machen.Wir sind froh, dass eine große Mehrheit der Vernünfti-gen die Anträge der Linkspartei zurückweist.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

Rolf Stöckel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch

von mir herzliche Glückwünsche, Herr Rohde. Wir wis-sen jetzt, dass Sie 40 Jahre alt sind – das tut nicht weh;ich kann mich noch daran erinnern, wie das bei mir da-mals war –, aber wir wissen leider sehr wenig über dieOptionskommunen,

(Jörg Rohde [FDP]: Oh!)

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Rolf Stöckel

über die Qualität der Eingliederungsvereinbarungen, deraktiven Arbeitsmarktangebote und der Qualifizierungs-angebote in den Optionskommunen. Sie wissen das viel-leicht in Bezug auf Erlangen. Wir wüssten gerne mehr.Ich kann Ihnen nur berichten, dass die Arge bei mir imKreis Unna einen Spielraum hat, in dem sie auch eigen-ständig Entscheidungen treffen kann, und dass die Praxisdort auch nicht unbedingt schlechter ist als in Erlangen;das Beispiel kenne ich zufällig auch.

Wir haben natürlich ein Interesse daran – das möchteich prinzipiell einmal sagen; deswegen spreche ich dasan –, dass die Verhältnisse, was die Qualität, die Sozial-standards, die Qualifizierung und die Vermittlung an-geht, in der Bundesrepublik Deutschland nicht zersplit-tert werden, sondern dass es für eine eigenständigePraxis in den Arbeitsgemeinschaften vor Ort einen ein-heitlichen Rahmen gibt, sodass man die Einheitlichkeitder Lebensverhältnisse für die Betroffenen auch insofernsicherstellen kann. Das ist eine sozialdemokratischePosition, die wir auch weiterhin vertreten werden.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. PaulLehrieder [CDU/CSU] und des Abg. PeterWeiß [Emmendingen] [CDU/CSU])

„Hartz muss weg“ – so richtig ernst meint die PDSdas auch nicht. Wenn alle Punkte ihres Antrages – essind 40 Punkte, die ich hier nicht in sieben Minuten be-werten kann; ich biete an, das einmal zu tun, wenn SieInteresse haben – erfüllt würden, hätte die PDS alsTransferleistungsgewerkschaft gar keine Daseinsberech-tigung mehr.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Eben!)

Das ist auch der Grund dafür, dass sie hier im Parlamentsitzt.

Ich sage zu den Kollegen in der Koalition einmal: Dasgilt vielleicht auch für Herrn Rüttgers, der jetzt im Düs-seldorfer Stadttor sitzt. Er konnte sich auch nicht klarentscheiden, ob er sich zu dem Ergebnis des Vermitt-lungsausschusses bekennt oder ob er dagegen demons-triert. Da hat er so ähnliche Verhaltensweisen wie HerrBöhmer an den Tag gelegt. Aber darum geht es nicht.

Wenn wir erreichen wollen, dass erwerbsfähige Men-schen nicht mehr dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausge-grenzt werden – ohne Chancen auf persönliche Hilfenund Förderung, auf Qualifizierung und auf Kinderbe-treuung –, dann darf Hartz IV nicht weg. Es kann erstdann weg, wenn die Langzeitarbeitslosigkeit – der Kol-lege Weiß hat das zu Recht gesagt – erfolgreich be-kämpft ist. Ich gehörte aufgrund eigener Erfahrung – ichhabe 15 Jahre in der Sozialverwaltung gearbeitet – kei-nesfalls zu denen, die glaubten, die sagenhafte deutscheVerwaltung brauchte nur einen Hebel umzulegen, dannwürde schon alles klappen. Niemand kann ernsthaft be-haupten – das ist auch schon von mehreren Vorrednerin-nen und Vorrednern gesagt worden –, dass die größte So-zialreform der Bundesrepublik nach einem guten JahrPraxis bereits optimal läuft.

Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, mit einigenMythen aufzuräumen, die hier auch schon angesprochenworden sind. Eine Behauptung ist, dass die Leistungen,nämlich 345 Euro plus Übernahme der Miet- und Heiz-kosten, für Einzelpersonen nicht das menschenwürdigeExistenzminimum absichern würden. Es gibt kein Landder Welt, in dem diese Leistungen höher sind und in demdie Arbeitslosigkeit erfolgreicher bekämpft worden wäre

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das stimmt aber so auch nicht! Däne-mark zum Beispiel!)

oder mehr Integration geleistet worden wäre dadurch,dass diese Leistungen höher sind. Die Regelsätze wer-den auf einer gesetzlichen Grundlage angepasst undnicht mehr nach einem paternalistischen Warenkorb, derauch schon bei der damaligen Sozialhilfe nicht dazu bei-getragen hat, dass es objektiver oder für die Betroffenenbesser gewesen wäre.

Das ist übrigens nicht nur besser für die ehemaligenerwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger oder für die ehe-maligen Arbeitslosenhilfeempfänger, die ergänzende So-zialhilfe bekommen haben; es ist auch besser für dieKommunen, denen über viele Jahre die Massenarbeitslo-sigkeit mit allen Konsequenzen sozusagen in die Kassegeschoben worden ist. Sie sagen in Ihrem Antrag jaauch, dass Sie die Kommunen entlasten wollen. Als je-mand, der aus dem Ruhrgebiet kommt, sage ich Ihnen:Bitte nicht nur die Kommunen in Ostdeutschland entlas-ten. Das muss insbesondere für unsere Kommunen imRuhrgebiet auch gelten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ist es linke Politik – das habe ich mich gefragt, als ichden Antrag gelesen habe –, ist es menschenwürdig, wennMenschen dauerhaft zur Passivität, zur Ausgrenzungvom Arbeitsmarkt und zur Abhängigkeit von staatlichenTransferleistungen verdammt werden? Die klare Ant-wort von uns Sozialdemokraten ist: Nein. Ich frage Sie:Ist es linke Politik, wenn sich Großunternehmen aufKosten der Solidargemeinschaft, nämlich mithilfe hoherund langer Arbeitslosenhilfezahlungen, massenhaft vonihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auchvon ihrer sozialen Verantwortung verabschieden können,wie das jahrelang passiert ist? Die klare Antwort von unslautet: Das ist keine linke Politik.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])

Es wird behauptet – das hat der ParlamentarischeStaatssekretär Andres hier bereits aufgenommen –, dassmit der zunehmenden Zahl der Bedarfsgemeinschaftenund der Kinder in Bedarfsgemeinschaften die Armutsteigt. Dieser Vorwurf, auch der Armutskonferenz in derletzten Woche, ist absurd. Wenn Leistungen verbessertwerden – ich sage es hier noch einmal – und der Berech-tigtenkreis ausgeweitet wird, dann ist das ein Beweis da-für, dass die Armutsbekämpfung im deutschen Sozial-staat weitgehend funktioniert.

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2628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Rolf Stöckel

Ich nenne Ihnen eine Zahl aus dem Armuts- undReichtumsbericht: Wenn es diese Leistungen nicht gäbe– sowohl die beitragsfinanzierten als auch die steuerfi-nanzierten Sozialleistungen einschließlich der Grund-sicherung –, dann wären nicht 13,5 Prozent der Men-schen vom Armutsrisiko bedroht – das sind vor allenDingen Ausländer, Alleinerziehende und Familien mitmehr als zwei Kindern –, sondern 41 Prozent. Das heißt,der Sozialstaat funktioniert bei der Armutsbekämpfung.Er ist weiterzuentwickeln; denn er ist verbesserungswür-dig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten ver-teidigen auch die Rechtsansprüche der Betroffenen anunseren Sozialstaat. Ein großer Teil der Kostensteige-rungen ist nicht durch Missbrauch verursacht worden,sondern resultiert aus der legalen Inanspruchnahme vonRechten und gesetzlichen Regelungen. Wir Sozialdemo-kraten wollen keinen Almosenstaat; wir wollen keineGesellschaft, in der letztendlich die Armenspeisungenim Vordergrund stehen. Ich glaube, dass wir insofernklar positioniert sind.

Deshalb sage ich auch ganz klar: Ich halte es für linkePolitik, wenn wir einen präventiven, aktivierendenSozialstaat des Förderns und Forderns entwickeln. NachÜberzeugung der sozialen Wissenschaften und Praxis– seit über 25 Jahren vollziehe ich das nach – ist diesesPrinzip dem Prinzip des konservativen, nachsorgendenund vor allem Problemlagen konservierenden Wohl-fahrtsstaates weitaus überlegen. Das zeigen alle interna-tionalen Vergleiche.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mir ist es völlig unverständlich, warum PDS undWASG, die sich Linke nennen, mit ihren Sozialstaatsvor-stellungen so konservativ und weit entfernt von emanzi-patorischen Ansätzen agitieren und so tun, als würdensie damit auch noch die Interessen der Betroffenen ambesten vertreten.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die sind so reaktionär, reaktionärer geht es nicht!)

Das Gegenteil ist der Fall, meine Damen und Herren.

Wem der Erhalt des Sozialstaats und nicht nur kurz-sichtige populistische Parteitaktik am Herzen liegt, dermuss mithelfen, diesen Sozialstaat umzubauen

(Zuruf von der LINKEN: Aber nicht ab-bauen!)

und zukunftsfest zu machen. Das ist allein deshalb unab-dingbar, weil soziale Ängste weit verbreitet sind undweil es Vertrauensverluste gegenüber der Demokratie,der Marktwirtschaft und dem Rechtsstaat gibt. Sie be-schreiben das ja in Ihrem Antrag. Ich befürchte nur, dassSie die Lehren aus der Weimarer Republik, vor allenDingen aus dem Ende der Weimarer Republik nicht rich-tig verstanden haben und das auch gar nicht wollen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Stöckel, Sie müssen zum Ende kom-

men.

Rolf Stöckel (SPD): Eine moderne linke Sozialpolitik, die einen wirklich

emanzipatorischen Anspruch hat, kann Sozialpolitiknicht ohne eine nachhaltige, die Demografie und Globa-lisierung einbeziehende Wirtschafts- und Zukunftspoli-tik denken. Wir haben mit der Agenda 2010 die erstenWeichenstellungen in die richtige Richtung vorgenom-men und dafür viel Prügel eingesteckt. Ich versichere Ih-nen: Wir werden diesen Weg mit der großen Koalitionerfolgreich weitergehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufdem Drucksachen 16/997 und 16/1124 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Vorlage auf Drucksache 16/997, Tagesordnungs-punkt 4, soll zusätzlich an den Ausschuss für Kultur undMedien sowie an den Haushaltsausschuss überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 f sowieZusatzpunkte 3 a und 3 b auf:

32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Artikel-10-Gesetzes

– Drucksache 16/509 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie 2004/25/EG des Europäi-schen Parlaments und des Rates vom21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote(Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz)

– Drucksache 16/1003 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demVertrag vom 27. Mai 2005 zwischen demKönigreich Belgien, der BundesrepublikDeutschland, dem Königreich Spanien, derFranzösischen Republik, dem Großherzog-tum Luxemburg, dem Königreich der Nieder-lande und der Republik Österreich über dieVertiefung der grenzüberschreitenden Zusam-menarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2629

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kri-minalität und der illegalen Migration

– Drucksache 16/1108 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung des Vertrags vom 27. Mai 2005 zwischendem Königreich Belgien, der BundesrepublikDeutschland, dem Königreich Spanien, derFranzösischen Republik, dem Großherzog-tum Luxemburg, dem Königreich der Nieder-lande und der Republik Österreich über dieVertiefung der grenzüberschreitenden Zusam-menarbeit, insbesondere zur Bekämpfung desTerrorismus, der grenzüberschreitenden Kri-minalität und der illegalen Migration

– Drucksache 16/1109 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Agrarstatistikgesetzes und des Rin-derregistrierungsdurchführungsgesetzes

– Drucksache 16/1023 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Innenausschuss

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten RainderSteenblock, Winfried Hermann, Peter Hettlich,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Notschleppkonzept an gestiegene Herausfor-derungen anpassen

– Drucksache 16/685 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-KEN

Die Beziehungen zwischen EU und Lateiname-rika solidarisch gestalten – Kein Freihandels-abkommen EU-Mercosur

– Drucksache 16/1126 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten SibylleLaurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP

Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Opferstärken und schützen – Gleichstellung durchIntegration und Bildung fördern

– Drucksache 16/1156 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkt 33 a bis 33 f sowieZusatzpunkte 4 a bis 4 j auf. Es handelt sich umBeschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 33 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des patentrechtlichen Ein-spruchsverfahrens und des Patentkostengeset-zes

– Drucksache 16/735 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/1153 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Günter Krings Dirk Manzewski Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Nešković Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/1153, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Mir ist das Abstim-mungsverhalten der Fraktion der Linken nicht klar. –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSUund FDP bei Enthaltung der Fraktion der Linken ange-nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –

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2630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) (C)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit mit demselben Stimmenverhältnis wie in derzweiten Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 33 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Internationalen Über-einkommen von 2001 über die zivilrechtlicheHaftung für Bunkerölverschmutzungsschäden

– Drucksache 16/736 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/1154 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marco Wanderwitz Dirk Manzewski Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/1154,den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an-genommen.

Tagesordnungspunkt 33 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Ölschadengesetzes und an-derer schifffahrtsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/737 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/1160 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marco Wanderwitz Dirk Manzewski Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/1160, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan-zen Hauses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 33 d:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom8. Dezember 2004 über den Beitritt der Tsche-chischen Republik, der Republik Estland, derRepublik Zypern, der Republik Lettland, derRepublik Litauen, der Republik Ungarn, derRepublik Malta, der Republik Polen, der Re-publik Slowenien und der Slowakischen Repu-blik zu dem Übereinkommen über die Beseiti-gung der Doppelbesteuerung im Falle vonGewinnberichtigungen zwischen verbunde-nen Unternehmen

– Drucksache 16/914 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 16/1143 –

Berichterstattung:Abgeordneter Manfred Kolbe

Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/1143,den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an-genommen.

Tagesordnungspunkt 33 e:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 2. März 2005 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland undder Republik Jemen zur Vermeidung der Dop-pelbesteuerung von Luftfahrtunternehmenauf dem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen

– Drucksache 16/915 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 16/1144 –

Berichterstattung:Abgeordneter Manfred Kolbe

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/1144, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan-zen Hauses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an-genommen.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2631

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Tagesordnungspunkt 33 f:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung und Bereinigung des Lastenaus-gleichsrechts

– Drucksachen 16/916, 16/955 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 16/1145 –

Berichterstattung:Abgeordneter Manfred Kolbe

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/1145, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan-zen Hauses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung der Vorschriften über die Luft-aufsicht und die Luftfahrtdateien

– Drucksache 16/958 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)

– Drucksache 16/1159 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dorothee Menzner

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/1159, den Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der Fraktionen der Linken, derSPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung derGrünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit mit dem Stimmenverhältnis wie in der zweitenBeratung angenommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 2

über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht

– Drucksache 16/1141 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.

Zusatztagesordnungspunkt 4 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 28 zu Petitionen

– Drucksache 16/1132 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 28 ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 29 zu Petitionen

– Drucksache 16/1133 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 29 ist ebenfalls mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 30 zu Petitionen

– Drucksache 16/1134 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 30 ist mit den Stimmender SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmender Fraktion Die Linke und Enthaltung der Grünen ange-nommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 31 zu Petitionen

– Drucksache 16/1135 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 31 ist damit mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.

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2632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Zusatztagesordnungspunkt 4 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 32 zu Petitionen

– Drucksache 16/1136 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 32 ist damit mit denStimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Ge-genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenund der Linken angenommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 33 zu Petitionen

– Drucksache 16/1137 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 33 ist mit den Stimmender SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bünd-nisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 34 zu Petitionen

– Drucksache 16/1138 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 34 ist mit den Stimmender SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und der Linken ange-nommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 35 zu Petitionen

– Drucksache 16/1139 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 35 ist mit den Stimmender Koalition bei Gegenstimmen der Fraktionen der Lin-ken, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP ange-nommen.

Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde

Beitrag des Energiegipfels zur Energieversor-gungssicherheit und zur Verringerung der Ge-fahren durch Atomkraft und Klimawandel

Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat dieseAktuelle Stunde beantragt.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte

der Koalition zu diesem Energiegipfel als prominentemEreignis gerne Glückwunsch gezollt. Als ich ans Pultging, hieß es: Jetzt bekommen wir bestimmt Lob. – Ichmuss der Ehrlichkeit halber sagen: Lob bekommen Sieallenfalls für die mediale Inszenierung. Die Ergebnissewaren aber doch eher dünn, falls es neben der Gründungvon Arbeitsgruppen überhaupt Ergebnisse gab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es war ein Gipfel der Aussparung, eine Art Spiegelbilddes Minimalkonsenses innerhalb der Koalition. Mankönnte auch sagen: Sie sind als Gipfelstürmer angetre-ten, aber irgendwo im märkischen Sand stecken geblie-ben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich könnte auch sagen: Das war ganz im merkelschenSinne.

Der Gipfel hat eines gezeigt: viel Wind, aber wenigerneuerbare Energien. Die Gästeliste verwundert einendann auch nicht. Vertreten waren die Besitzstandswahrerder Energiewirtschaft, die vier großen Monopolisten,aber wenige Verbraucher und überhaupt keine Umwelt-gruppen. So macht man keinen der Zukunft zugewand-ten Energiegipfel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])

Sie sind die energiewirtschaftlichen Fragen nicht an-gegangen. Dabei geht es um die Fragen: Wie kann un-sere Energieversorgung langfristig sicher sein? Wie kannman sie langfristig wirtschaftlich gestalten und nicht nuram Tropf halten? Wie kann man sie nachhaltig gestal-ten? – Dazu ist gar nichts gesagt worden. Sie haben auchdie Kernthemen des Energiebereichs vollkommen außenvor gelassen. Wie kann man eigentlich behaupten, einenEnergiegipfel zu veranstalten, wenn man nicht über denVerkehr diskutiert?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt doch: Sie haben das halbe Problem schlichtund einfach ignoriert. Der Löwenanteil unserer Erdöl-importe wird nämlich im wahrsten Sinne des Wortes ver-fahren. Wir machen hier vollkommen unsinnig Ge-brauch von einer limitierten und teuren Ressource. Inkeinem anderen Bereich sind wir so abhängig vom Erdölwie im Verkehr und Sie machen einen Energiegipfel,ohne über dieses Thema zu reden!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn sich an dieser Stelle nichts bewegt, bewegt sichdemnächst auch im Verkehr nichts mehr. Stattdessen ha-ben Sie auf diesem Gipfel ein gefährliches Spiel mit derDebatte über den Ausstieg aus der Atomenergie getrie-ben. Der Dissens, den Sie so munter zwischen denKoalitionsfraktionen pflegen, stellt mittlerweile eineBlockade für Innovationen und dringend nötige Investi-tionen in Deutschland, zum Beispiel im Mittelstand, dar.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2633

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Renate Künast

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich frage mich auch: Was ist jetzt eigentlich mit demKoalitionsvertrag? Gilt er nur ein bisschen oder nur biszu einem bestimmten Punkt? Das riecht mir verdammtnach: Wir sind ein bisschen schwanger. – Genau so agie-ren Sie bei diesem Thema. Im Ergebnis tun Sie nichts fürdie Schaffung von Arbeitsplätzen und für Innovationenin diesem Land. Mit Ihrem Gerede auf dem Gipfel habenSie allenfalls den Kraftwerksbetreibern geholfen, großeProfite zu machen. Sie haben aber mittelfristig nicht ein-mal einem Verbraucher in diesem Land geholfen unddazu beigetragen, dass er auf seiner nächsten Stromrech-nung sieht, dass die Kosten sinken und nicht weiter stei-gen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie lassen sich durch vermeintliche Investitionszusa-gen zu Zugeständnissen bringen. Was wir in Wahrheitbrauchen, ist eine Regierung, die sich nicht erpressenlässt, gerade beim anstehenden Thema „Emissionshan-del und Zertifikate“. Was Ihnen da an Geldern angebotenwird, ist das statistische Mittelmaß dessen, was sie so-wieso investieren müssen. Wir brauchen etwas anderes.Wir brauchen einen Anschub, der zu Überkapazität undneuen Akteuren auf dem Markt führt, damit Wettbewerbentsteht, zugunsten einer anderen Zukunft und zuguns-ten der Verbraucherhaushalte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man muss jetzt umsteuern; man darf das nicht wiedervertagen. Man muss jetzt einsteigen beim Primat derEnergiepolitik in eine Zukunft der Einsparungen. Wirwissen, dass die meisten Industriestaaten, wenn sie einegute Strategie verfolgen, mit der besten verfügbarenTechnologie problemlos 20 bis 30 Prozent des jetzigenEnergieverbrauchs einsparen könnten. Dann brauchenSie aber ehrgeizige Anforderungen, in Bezug auf denWärmeschutz bei Neubauten, Höchstverbrauchstandardsfür Klima- und Lüftungsanlagen, und Sie brauchen Ver-bote für Stand-by-Geräte in der Unterhaltungselektronik.Wir können bis 2020 unseren Verbrauch quasi halbieren.

Der Energiegipfel hat uns eines gezeigt: Sie habenkeine Ziele; Sie arbeiten weiter für die großen Anbieter.Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden dem ein grünesweiterentwickeltes Energieszenario entgegensetzen.

(Martin Zeil [FDP]: Bitte keine Drohung!)

Daran werden wir Sie messen. Wir werden Sie beimEmissionshandel –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – ich bin beim letzten Wort – fragen: Wie vergeben

wir Zertifikate? Ich sage Ihnen eines: Die 10 Prozentmüssen wirklich versteigert werden. Wir dürfen einesnicht tun: uns von den großen Wirtschaftsunternehmen –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – erpressen lassen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Beck, zur Geschäftsordnung, bitte.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Keiner

der für dieses Thema, Energie, zuständigen Minister isthier anwesend. Ich verstehe ja, dass man sich angesichtsdes Outputs dieses Energiegipfels hier im Parlamentnicht stellen will. Ich habe Verständnis bei Herrn Glos:Er ist in den USA; wenn er kommen sollte, wäre das einbisschen schwierig. Aber der Bundesumweltminister istim Haushaltssausschuss.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Der Staats-sekretär ist da!)

Ich meine, das geht nicht. Bei einem so wichtigenThema muss die Bundesregierung auch durch Ministerhier im Plenum vertreten sein.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein, muss sie nicht!)

Wenn sie so nicht vertreten ist, ist das eine Missachtungdes Parlaments. Wir beantragen die Herbeizitierung desBundesumweltministers.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Davonkann doch überhaupt nicht die Rede sein! Dasist völlig albern! Der Staatssekretär ist anwe-send!)

– Es gehört sich, dass beim Thema Energiegipfel auchder zuständige Minister hier spricht oder dass er, wenn ernichts zu sagen hat, wenigstens hier anwesend ist undsich eine solche zentrale Debatte des Parlaments anhört.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-KEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kumpf, bitte.

Ute Kumpf (SPD): Herr Kollege Beck, ich glaube, Ihr Einwand und Ihr

Antrag sind eine Farce. Es ist ein sehr bekannter, sehrausgewiesener Experte auf der Regierungsbank anwe-send, der dieses Thema exzellent für uns vertreten wird.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wer denn? – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie HerrnNeumann?)

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2634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Ute Kumpf

– Ich rede von unserem Kollegen Michael Müller, derden Minister vertritt. Er ist ein ausgewiesener Fachmann

(Martin Zeil [FDP]: Für was?)

in der Angelegenheit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dass Minister Gabriel vor dem Haushaltsausschuss vor-stellig werden muss, ist das höchste Recht und auch einparlamentarisches Recht des Haushaltsausschusses. Dasist auch Ihnen sehr wohl bekannt. Ich denke, es ist genü-gend Kompetenz auf der Regierungsbank vertreten.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wieso bezahlen wir überhaupt Minis-ter, wenn wir sie nicht brauchen?)

Daher ist Ihr Antrag abzulehnen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich lasse über den Geschäftsordnungsantrag des Kol-

legen Beck abstimmen. Wer für die Herbeizitierung desMinisters ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Ge-genprobe! – Letzteres war die Mehrheit. Deshalb, HerrKollege Beck, ist Ihr Antrag abgelehnt.

Das Wort hat der Parlamentarische StaatssekretärHartmut Schauerte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Renate Künast [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, HerrMüller spricht! – Gegenruf von der CDU/CSU: Zuhören!)

Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär beim Bun-desminister für Wirtschaft und Technologie:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin zweimaldankbar, einmal dafür, dass die Bundeskanzlerin diesenEnergiegipfel organisiert und durchgeführt hat, und zumZweiten dafür, dass die Grünen diese Aktuelle Stundebeantragt haben. Denn so können wir hier erklären, wo-rum es wirklich geht.

Dieser Energiegipfel war absolut notwendig. Das ha-ben alle Beteiligten auch so gesehen. Was die Beteiligtenangeht, Frau Künast: Es waren natürlich Vertreter derSolarenergiewirtschaft, Klaus Töpfer und weitere Perso-nen aus dem entsprechenden Bereich anwesend.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Klaus Töpfer ist ja keine deutscheNGO!)

Der Kreis war also intelligent und der Sache angemessenzusammengesetzt. Ein Energiegipfel ist auch kein Klein-Klein, kein Hin-und-Her und kein Springen von einemThema zu anderen. Denn er sollte ein strategischer Neu-anfang sein. Schließlich haben wir seit vielen Jahrennicht mehr über die Energiepolitik und die Lage derEnergiewirtschaft in Deutschland geredet,

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Jedenfalls Sie nicht!)

jedenfalls nicht umfassend und im Rahmen eines ge-samtstrategischen Konzepts. Damit sollte auf diesemEnergiegipfel begonnen werden. Das ist unter volkswirt-schaftlichen, internationalen und technologischen Ge-sichtspunkten nötig. Das ist eine absolut runde Angele-genheit.

Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten nichts zumVerkehr gesagt. Ich will nur ein Beispiel nennen: DieBrennstoffzelle ist eine ganz wichtige technologischeAntwort auf die vor uns liegenden Herausforderungen.Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie während Ih-rer Regierungszeit Entscheidendes für die Brennstoff-zelle geleistet hätten.

(Ulrich Kelber [SPD]: Natürlich! – RenateKünast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dasnennt man retrograde Amnesie! Quatsch! Daprotestiert schon die SPD!)

Wir legen ein Forschungsprogramm mit einem Volumenvon 155 Millionen Euro und einer Laufzeit von drei Jah-ren auf. Eine so massive Forschungsförderung hat es indiesem Bereich noch nicht gegeben. Wir begrüßen, dasswir das gemeinsam beschließen können. Frau Künast,unter Ihrer Regierungsverantwortung wurde ein solchesProgramm nicht aufgelegt.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wieso fahren die Autos jetzt schon mitBiodiesel?)

Eine Diskussion über die strategische Ausrichtungunserer Energiepolitik ist notwendig. Sie kann einenBeitrag zur Verbesserung der Energieversorgungssicher-heit anstoßen. In diesem Zusammenhang sind Fragen derWirtschaftlichkeit, der Umweltverträglichkeit, der inter-nationalen Sicherheit und der Versorgungssicherheit zuberücksichtigen. Es lohnt, über grundsätzliche Fragen zureden.

Frau Künast, in der Energiepolitik brauchen wir vorallen Dingen Rationalität, ein Wissen über die Faktenund Zusammenhänge sowie möglichst wenig Ideologie.Von den ideologischen Ansätzen grüner Energiepolitikhaben wir uns auf diesem Gipfel verabschiedet. Daswird Deutschland ausgesprochen gut tun.

(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind dochder Oberideologe! Ohne Sie wären wir schonviel weiter!)

Mit dem Statusbericht, den Bundesminister Glos zusam-men mit Bundesminister Gabriel vorgelegt hat, habenwir eine gute Grundlage für die Neuorientierung und dieVersachlichung der Energiepolitik gelegt.

Energiepolitische Entscheidungen müssen immer diedrei energiepolitischen Ziele im Blick haben: Wirtschaft-lichkeit und Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicher-heit sowie Umweltverträglichkeit. Ich habe die Wirt-schaftlichkeit bewusst an den Anfang gestellt. Gerade

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2635

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Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte

auf diesem Gebiet wurden in der Vergangenheit schwereFehler gemacht.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Atomkraft!)

Der grüne Ansatz bei der Wirtschaftlichkeit, den dieBürger heute teuer bezahlen, war: Energie kann ruhigteuer sein; denn nur, wenn Energie teuer ist, gehen dieBürger sparsam damit um. Das war ein Kern Ihrer Ener-giepolitik, der natürlich enorme Auswirkungen auf dieEntwicklung der Energiepreise in Deutschland hatte.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Während Atomkraft noch in hundertJahren kostet!)

Aufgrund der hohen Kosten für Energie in Deutsch-land haben wir erhebliche wirtschafts- und arbeitsmarkt-politische Probleme. Die Kosten für Energie in Deutsch-land wurden von Ihnen aus ideologischen, aus sogenannten pädagogischen Gründen kraftvoll erhöht. Beider Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit des Energie-preises – Sie haben den Energiepreis nicht mehr ernstgenommen – haben wir eine erhebliche Korrektur vorge-nommen. Ich hoffe, dass sie sich mittelfristig auf denStandort Deutschland im Wettbewerb der Nationen posi-tiv auswirkt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen in aller Sachlichkeit immer wieder analysie-ren, ob die angestrebten Ziele auch tatsächlich erreichtwerden. Auch das soll ein Ergebnis der verstärkten Dis-kussion über unsere energiepolitische Ausrichtung sein.

Der Energiegipfel ist als Auftakt einer Debatte überdie mittel- und langfristige Energiepolitik gedacht. Keinlaufendes Projekt wird gestoppt. Es gibt keinen Still-stand. Insofern können wir uns die Zeit nehmen, gründ-lich darüber nachzudenken. Alle Projekte, die sich jetztin der Pipeline befinden, werden weitergeführt. All das,was im Energiewirtschaftsgesetz festgelegt ist – die not-wendigen Neujustierungen, die Aufstellung der Netz-agentur –, läuft unbeeinflusst weiter. Die Ergebnisse desEnergiegipfels zeigen langfristige Planungsansätze auf,sie zeigen, wie wir uns energiepolitisch in der Zukunftaufstellen sollten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden – das haben Sie den Medien entnommen –drei Arbeitskreise einrichten. Einer beschäftigt sich mitden internationalen Aspekten, einer mit den nationalenAspekten und einer mit Forschung und Energieeffizienz.Diese drei Arbeitskreise sollen Vorlagen erarbeiten.Dann soll ein weiteres Spitzentreffen stattfinden. Zieldieses Prozesses ist die Erarbeitung eines Gesamtkon-zeptes, das die Bundesregierung in der zweiten Hälftedes Jahres 2007 vorlegen will. Diese Zeit nehmen wiruns. In der Zwischenzeit wird das getan, was aktuell an-liegt. Es herrscht also kein Stillstand. Wir arbeiten kon-kret in den aktuellen Bezugsfeldern und erstellen gleich-zeitig eine mittel- und langfristige Strategie.

Die praktische Energiepolitik geht weiter und die Er-gebnisse und Erkenntnisse fließen in das Gesamtkonzept

ein. Mit einfließen sollen auch die Ergebnisse der deut-schen EU-Ratspräsidentschaft und der G-8-Präsi-dentschaft im Jahr 2007. Wir wollen das internationalaufstellen. Frau Merkel hat ja bekanntlich die Energie-politik als einen der drei Schwerpunkte der deutschenEU-Ratspräsidentschaft genannt. Wir bereiten uns da-rauf vor und hoffen, daraus Erkenntnisse für die strategi-sche Ausrichtung der deutschen Energiepolitik zu ge-winnen.

Wichtig ist natürlich der Energiemix, für den wir auchErkenntnisse gewinnen wollen. Wie können wir ihn opti-mieren? Dabei fallen als erstes die Kohle und die fossi-len Brennstoffe ins Auge. Wir wollen neue Ansätze inTechnik und Forschung entwickeln bis hin zum CO2-freien Kraftwerk. Dafür nehmen wir richtig Geld in dieHand. Wir schließen nichts aus. Wir wollen möglichstbreit auch unter dem Gesichtspunkt der Energiesicher-heit aufgestellt sein.

Wir begrüßen ausdrücklich die beim Energiegipfelgegebenen Zusagen der Energiewirtschaft zu umfangrei-chen Investitionen in Kraftwerke und Stromnetze.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])

Frau Künast, das hat es in Ihrer Zeit auch schon einmalgegeben, aber sehr vage, unbestimmt und nicht belast-bar. Man wollte 20 Milliarden Euro in ein Investitions-programm investieren. Dieser Gipfel hat dazu geführt,dass aus den 20 Milliarden Euro 30 Milliarden Euro ge-worden sind. Er hat eine neue Sicherheit in die Gesprä-che gebracht. Ich halte die Zusagen, die jetzt gemachtworden sind, für belastbarer als das, was vorher hin undwieder einmal erörtert worden ist. Wir sind also auchhier ein gutes Stück weitergekommen.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden Sie alles noch merken!)

– Ja, das wird sich zeigen. Haben Sie ein bisschen Ge-duld! Das ist sicher eine Tugend, die Ihnen ziemlich ab-geht. Üben Sie sie einmal ein bisschen.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sonst wäre ich nicht hier!)

Bei uns geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Bei Ihnenwar und ist das offensichtlich immer noch umgekehrt.Wir wählen den anderen, den seriöseren Weg.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die erneuerbaren Energien sind wichtig. Das habendie Teilnehmer des Energiegipfels einhellig unterstri-chen. Sie sind ein wichtiger und wachsender Teil desEnergiemixes. Lassen Sie mich dazu zum Abschlussnoch ein paar Zahlen vortragen, weil ich glaube, dass siebeeindruckend sind. So etwas hat es in der Energiefor-schungspolitik bisher nicht gegeben. Für rationelle Ener-gieumwandlung haben wir im Jahr 2005 104 MillionenEuro ausgegeben; für das Jahr 2009 planen wir 203 Mil-lionen Euro ein. Das ist fast eine Verdoppelung und dassind 36 Prozent der Finanzmittel, die wir für die Ener-gieforschung und -optimierung ausgeben. Bei den erneu-erbaren Energien gibt es ebenfalls eine Erhöhung von

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2636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte

135 Millionen Euro Ist in 2005 auf 154 Millionen Euroin 2009. Wir sind also in diesen Bereichen gut drauf. Inkeinem Bereich des Haushalts ist ein solcher Aufwuchszu verzeichnen wie in diesem forschungs- und energiere-levanten Bereich. Ich meine, wir sind intelligent aufge-stellt. Der Energiegipfel war gut. Wir bedanken uns fürdie Gelegenheit, mit Ihnen hier im Plenum des Deut-schen Bundestages eine Stunde darüber diskutieren zukönnen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP)

Gudrun Kopp (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und

Damen! „Gut drauf“ ist die Bundesregierung – HerrStaatssekretär, das nehmen wir gern zur Kenntnis. Wahr-scheinlich hat der Energiegipfel dazu beigetragen. InWahrheit aber war er ein selbsttherapeutischer Ge-sprächskreis und ohnehin ein Milliardenpoker. Mehr hater nicht gebracht. Substanz kann ich wirklich nicht er-kennen.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich muss Sie daran erinnern: Wir haben gestern imWirtschaftsausschuss versucht, auszuloten, wie sich die33 bis 40 Milliarden Euro, die Sie an Investitionen imBereich der erneuerbaren Energien zugesagt haben, zu-sammensetzen und woher sie kommen, also wie belast-bar diese Summe ist. Sie konnten uns nicht erläutern,wie sich diese Summe zusammensetzt. So klar scheintden Regierungsteilnehmern also nicht zu sein, was ei-gentlich passieren soll.

(Beifall bei der FDP)

Die notwendigen Investitionen in Kraftwerke undNetze haben Sie angesprochen; sie sind in der Tat wich-tig und richtig. Aber die Unternehmen investieren nur,wenn sie wissen, wie die Rahmenbedingungen aussehen.Auch hierzu haben Sie manche Fragen völlig offen ge-lassen: Welche Vorgaben machen Sie mit Blick auf denNationalen Allokationsplan II? Was kommt hier auf unsalle, auf die Verbraucher wie auf die Unternehmen, zu?Diese Fragen haben Sie sträflich vernachlässigt.

In Vorbereitung dieses fulminanten Gipfels habe ichIhren Statusbericht gelesen. Darin stellen Sie die Frage:Wird es für die auslaufende Stromerzeugung aus Kern-energie qualitativ ausreichend und wirtschaftlich vertret-bar Ersatz geben? Diese Frage haben Sie gestellt, ohnebemerkt zu haben, dass Sie in diesem Zweierkanon dendritten Aspekt, die Umweltverträglichkeit, völlig außerAcht gelassen haben. Sie haben sich nicht gefragt, ob dasunter umweltpolitischen Gesichtspunkten passt. Ich

finde, das ist entlarvend; denn daran wird deutlich, dassSie nicht genau genug hinschauen.

In Ihrem Statusbericht gehen Sie davon aus, dass– den Ausstieg aus der Kernenergie unterstellt – in circazehn bis 13 Jahren der Fokus auf einer vermehrten Koh-lenutzung, auf einer Verdopplung des Gasverbrauchsund auf einer Verdoppelung des Einsatzes erneuerbarerEnergien liegen wird. Sie müssen natürlich auch dieFrage beantworten, wie Sie das Thema Klimaschutz– ich habe es bereits angesprochen – in diesem Mix be-rücksichtigen wollen. Was die erneuerbaren Energienbetrifft, ist das okay. Auch wir wünschen uns in diesemBereich eine Förderung, und zwar nach einem differen-zierten Mengenziel, das wir festzulegen haben. Sie las-sen das aber offen.

Es fehlt ein energiepolitisches Gesamtkonzept, fürdessen Erarbeitung Sie sich jetzt noch fast zwei Jahrelang Zeit lassen wollen.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Sehr wahr! Leider!)

Ich finde, diese Zeit haben wir nicht mehr. Wir sind ge-beutelt von Arbeitslosigkeit, von höchsten Energiekos-ten und von Rahmenbedingungen, die weit entfernt sindvon dem, was wir uns unter Wettbewerb und Markt vor-stellen. Daran hat natürlich auch die frühere rot-grüneBundesregierung ihren Anteil. Die neue rot-schwarzeRegierung setzt diese Politik im Augenblick schlichtfort. Ich kann in diesem Bereich keine neuen Entwick-lungen feststellen.

(Beifall bei der FDP)

Die Fragen, um die es geht, liegen auf dem Tisch unddie Antworten sind nahe liegend. Aber Sie geben sienicht. Sie streiten sich untereinander und schieben sichgegenseitig die Karten zu. Sie wollen nachdenken undstrategische Überlegungen anstellen. Dabei müssten Siedringend Antworten geben, und zwar solche, die Sie imKonsens gefunden haben.

Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben in dieser Wo-che ein energiepolitisches Grundsatzpapier verabschie-det, das zukunftsweisend ist. Darin befassen wir uns mitder internationalen Energiepolitik, beleuchten den ge-samten Energiemix ohne ideologische Vorgaben,

(Zuruf von der SPD: Mensch! Donnerwetter!)

und behandeln Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit, Ver-sorgungssicherheit und die Minderung von Import-abhängigkeiten als gleichrangige Ziele. Wir stellen alsoweder bestimmte Ziele in den Vordergrund noch rückenwir andere Ziele in den Hintergrund.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Frau Kopp, davon hätte ich gerne ein hand-signiertes Exemplar!)

Ich empfehle Ihnen dringend, sich ausgiebig mit un-serem energiepolitischen Grundsatzpapier zu befassen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt)

Denn, Herr Staatssekretär Schauerte, wir haben nicht dieZeit, zwei weitere Jahre in Arbeitskreisen zu diskutieren.

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Gudrun Kopp

Sie wissen ja: Wenn man nicht mehr weiter weiß, danngründet man einen Arbeitskreis. Sie gründen sogar dreiArbeitskreise. Handeln Sie! Treffen Sie Ihre Entschei-dungen! Wir brauchen energiepolitische Leitlinien, indenen die Energiepolitik als das dargestellt wird, was sieist: als Standortpolitik.

Wirtschaftsminister Glos hat neulich gesagt,

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer? Glos? Wer ist das denn?)

die Energiepolitik sei nach seinem Verständnis dieHauptschlagader der gesamten Wirtschaftspolitik.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Ja! In der Tat! Da hat er Recht!)

Wenn das so ist – auch wir sind dieser Meinung –, dannhandeln Sie bitte auch dementsprechend und verlierenSie sich nicht in endlosen Diskussionszirkeln.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Michael Müller.

Michael Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieEnergiepolitik ist ein Schlüsselthema dieses Jahrhun-derts, dessen Bedeutung weit über ökonomische Fragenhinausreicht. Hierbei handelt es sich um den Schlüsselzur Sicherung des Friedens in der Welt und zur Bewah-rung der natürlichen Lebensgrundlagen. Weil das so ist,ist es bei diesem Thema unangebracht, parteipolitischeSpielchen zu beginnen; dafür ist es viel zu ernst. Ichhalte nichts davon, aus umfangreichen Berichten eineneinzigen Satz herauszugreifen und daran die Kritik fest-zumachen, Frau Kopp. Wenn Sie ehrlich gewesen wären,hätten Sie ansprechen müssen, dass der Statusberichtüber lange Passagen den Klimaschutz zum Thema hatte.Wenn das nicht Umweltpolitik ist, dann weiß ich nicht,was Umweltpolitik ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieses Thema ist nicht dazu geeignet, die Schlachtenvon gestern zu schlagen. Es gibt eine Mahnung derbeiden großen Aufklärer Theodor Adorno und MaxHorkheimer, die immer wieder die Frage gestellt haben,ob die europäische Gesellschaft noch die Kraft in sichhat, Fortschritt und Entwicklung möglich zu machen.Aus meiner Sicht ist ihre Mahnung, dass in jeder moder-nen Gesellschaft immer auch der Keim des Rückschrittssteckt, richtig.

Es gibt kaum einen Bereich, in dem die Weichen soneu gestellt werden müssen wie in der Energiepolitik.Die Grundfrage in der Energiepolitik, die wir klärenmüssen, ist: Welches Verständnis von Zeit haben wir? Esgibt nämlich zwei völlig unterschiedliche politische

Strategien, je nach dem Verständnis von Zeit: Wenn wirin der Energiepolitik zu dem Ergebnis kommen, dass wiruns den aktuellen Zwängen anpassen müssen, kommenwir zu anderen Schlussfolgerungen, als wenn wir vor al-lem von den großen Zukunftsherausforderungen ausge-hen und versuchen, frühzeitig Antworten zu geben. Ichplädiere für das Zweite, weil ich glaube, dass die Verän-derungen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen,so gewaltig sind, dass kurzfristige Anpassungen wenigbringen werden. Wir müssen die Energiepolitik aus öko-logischen, aus ökonomischen und aus friedenspoliti-schen Gründen neu ordnen, sonst wird sie immer mehrzur Achillesferse der modernen Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich das an drei Punkten deutlich ma-chen: Erster Punkt. Im Augenblick nutzen 1,3 MilliardenMenschen ungefähr drei Viertel der kommerziellenEnergie und Rohstoffe. Nehmen wir an, dass Länder wieChina, Indien und Brasilien – die bevölkerungsreichstenSchwellenländer – in 35 Jahren das Wohlstandsniveau er-reichen, das heute Ungarn hat, dann bedeutet das eine Ver-dreifachung des Weltsozialprodukts. Wenn man gleichzei-tig andere Entwicklungen berücksichtigt – Wachstum derIndustrieländer, der anderen Länder, Bevölkerungs-wachstum – ist es eine Verfünffachung. Es ist eine Illu-sion, zu glauben, dass diese Herausforderung mit derheutigen Energieversorgung lösbar ist – es ist schlichteine Illusion. Im Gegenteil: Die Länder, die auf dieseHerausforderungen frühzeitig eine Antwort geben, wer-den in der Zukunft am besten dastehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die zweite große Herausforderung ist der Klimawan-del. Wir wissen in der Zwischenzeit, dass die größtenVeränderungen im Klimasystem nicht in den tropischenund subtropischen Breiten – obwohl es da schlimm ge-nug ist –, sondern in den nordpolaren Regionen stattfin-den; dort ist die Klimasensibilität am höchsten. Bei-spielsweise beträgt die Erwärmung im Weltdurchschnittetwa 0,7 Grad, aber über Grönland erreicht sie schon fast3 Grad. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dassdie Erwärmung bis zum Ende dieses Jahrhunderts imDurchschnitt 2,5 Grad beträgt. Das bedeutet in der Kon-sequenz: Über Grönland wird eine Erwärmung von mehrals 12 Grad zu befürchten sein. Was das wegen der Ver-änderungen in den Meeressystemen bedeutet, kann mansich gar nicht ausmalen!

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich glaube, wir brauchen doch denGabriel!)

Die Konsequenz daraus kann nur ein Umbau des Ener-giesystems sein; darüber ist intensiv zu reden. Das wie-derum ist eine Frage unseres zeitlichen Verständnisses.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dritter Punkt: Die Zeit der billigen Energie ist vorbei.Es sind Leute wie James Schlesinger und Henry

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Parl. Staatssekretär Michael Müller

Kissinger, die uns vor drohenden Ressourcenkriegenwarnen, wenn nicht vor allem die Industrieländer einenanderen Umgang mit Energie pflegen. Das sind doch dieHerausforderungen der Zukunft, denen wir uns stellenmüssen!

Deshalb geht es um unser zeitliches Verständnis vonEnergiepolitik. Ein Teil dieses Hauses kennt nur die An-passung an aktuelle Zwänge. Aber das kann nicht dieLösung sein. Energiepolitik muss heißen, die Infrastruk-tur der Zukunft möglichst früh zu entwickeln. Energiesparen: Effizienzsteigerung und erneuerbare Energien.Das sind die Antworten, die von der großen Koalitiongemeinsam gegeben werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will auf einen interessanten Punkt hinweisen: Eswaren im Wesentlichen die Fraktionen von CDU/CSUund SPD, die 1990 das große Klimaschutzziel 25 Pro-zent weniger CO2-Ausstoß entwickelt haben.

Ich sage: Ganz egal, wie man die Koalition ein-schätzt, sie ist verpflichtet, erfolgreich zu sein, weil dasschon aufgrund der Konstellation notwendig ist.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!)

– Ja, doch. Man sollte über den Tellerrand hinaus-schauen. Für die Demokratie ist es wichtig, dass dieseKoalition erfolgreich ist. – Wenn wir es schaffen – ge-rade in der Energiepolitik –, ein Zeichen nach vorne zusetzen und eine Entwicklung einzuleiten, die überall inder Welt vorbildlich ist, dann hat sich diese Koalition ge-lohnt. Dafür setzen wir uns ein.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das hätte die SPD ja schon vor Jahrenmerken können!)

– Liebe Renate Künast, dazu möchte ich einmal etwasDeutliches sagen: Es ist ja schön und gut, dass sich dieGrünen immer um das Thema erneuerbare Energien ge-kümmert haben – übrigens nicht allein –,

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das meine ich doch gar nicht!)

aber es wäre sehr viel schöner gewesen, wenn sich dieGrünen beispielsweise auch sehr viel mehr des ThemasEffizienz angenommen hätten. Hier war nämlich diegroße Schwachstelle. Reden wir also darüber. Das wisstihr doch auch ganz genau.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Also bitte, was ist denn mit dem Emissions-handel?)

– Auch beim Emissionshandel hätten wir manche Wei-chen anders stellen können.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Clement!)

Auch das weiß Jürgen Trittin besser, als er es hier sagt.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit eurem Werner Müller?)

– Wenn ich darauf hinweisen darf: Er war in den letztendrei Jahren nicht in der Regierung. – Lasst uns bitte nichtdie Schlachten von gestern schlagen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Was tut die Regierung? – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machtihr denn jetzt?)

Ich will, dass diese Zukunftsherausforderungen imZentrum stehen. Die Reaktion der Grünen scheint mireher die zu sein, dass sie Angst haben, ein Thema zu ver-lieren.

(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])

Das scheint mir der Punkt zu sein. Das ist diesem Themanicht angemessen. Lasst uns bitte gemeinsam in die Zu-kunft schauen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich glaube, dass es vor allem um vier zentrale Punktegeht:

Erstens. Der Austausch von Energieträgern als Ener-giepolitik ist nicht ausreichend. Die entscheidende Frageist, unter welchen Rahmenbedingungen wir so schnellwie möglich mehr einsparen sowie eine höhere Effizienzschaffen und schneller erneuerbare Energien entwickelnkönnen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sagt doch mal was zum Emissionshan-del und zum Verkauf der Zertifikate!)

Genau diese Fragen müssen ins Zentrum rücken undnicht der Austausch eines Energieträgers durch den an-deren. Die Frage lautet: Wie können diese Ziele optimalerreicht werden? Das geschieht nicht durch immer mehrEnergieeinsatz, sondern der intelligente Einsatz vonEnergie ist die entscheidende Herausforderung.

Zweiter Punkt: unser Vorangehen beim Klimaschutz.Das ist die zentrale Zukunftsherausforderung. Die Weltschaut dabei auf Europa. Was in Europa geschieht, wirddie Welt prägen.

Dritter Punkt. Wir müssen die Energiepolitik immermehr als Energieaußenpolitik begreifen. An der Fragedes Energieeinsatzes wird sich die Sicherheit der Weltentscheiden. Auch hier ist entscheidend, was Europa tut.Der Gedanke, das technologisch starke Westeuropa mitdem Rohstoffriesen Russland im Sinne einer intelligen-ten Kooperation für die Welt zusammenzubringen, isteine große Vision, die wir voranbringen sollten. Ichfinde, auch hier war die Diskussion in den letzten Wo-chen im Verhältnis zur großen Bedeutung dieses Themaskleinkariert. Ich glaube nicht, dass uns das voranbringt.

(Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Zur Größe vonMichael Müller!)

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Parl. Staatssekretär Michael Müller

Lassen Sie mich noch den vierten Punkt nennen. Wirmüssen auch den historischen Fehler überwinden, zumeinen, dass sich die Stärke eines Landes vor allen Din-gen an der Arbeitsproduktivität orientiert. Energie- undRessourcenproduktivität sind zentrale Wettbewerbsfak-toren in der Zukunft. Dadurch wird der Fehler überwun-den, dass bei einem schwächer werdenden Wachstumimmer mehr Menschen durch Technik ersetzt werden.Wir schaffen eine Produktivität, durch die auch mehr Ar-beit möglich wird.

Das sind vier Herausforderungen, die wir mit derEnergiepolitik verbinden. Lasst uns deshalb nach vorneschauen. Wir führen nicht die Schlachten der Vergangen-heit, sondern wir sehen vor allem die Herausforderungender Zukunft und wir wollen Antworten geben, die um-weltverträglich, wettbewerbsfähig und kostengünstigsind.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wir wissen jetzt, was Regieren heißt! Wirdachten immer, Regieren heißt Antworten ge-ben und nicht nur Fragen stellen! – Fritz Kuhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eineNullemission! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da muss man sich nur einmaldie ganzen SPD-Bundesländer dazu ansehen!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächster hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der

Linken das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Der hinter uns liegende Winter wirdfür uns alle teuer. Der Verbraucher zahlt bis zu 500 Euromehr für das Heizen und den Strom. Das ist für vieleHaushalte ein halbes Monatsgehalt. Und was tun dieEnergiekonzerne? Bei immer weniger Mitarbeitern ver-künden sie für das letzte Jahr natürlich Rekordgewinne.EnBW und RWE haben insgesamt 14 000 Mitarbeiterentlassen. Andere Konzerne veranstalten Übernahmenmit riesigen Summen: 29,1 Milliarden Euro will Eon fürdie spanische Endesa berappen. Bezahlt wird das Ganzeaus den Taschen der Verbraucher.

(Ulrich Kelber [SPD]: Und Verbraucherin-nen!)

– Natürlich auch der Verbraucherinnen. – Weitere Bei-spiele: 6 Milliarden Euro pro Jahr steckt das Stromoligo-pol im Rahmen des Emissionshandels in die eigene Ta-sche. 18 Milliarden Euro zahlen die Kunden jedes Jahrallein für die Nutzung der Stromnetze; aber nur 2 Mil-liarden Euro fließen davon in die Netze zurück. Alles inallem kann man sagen: Die Energiekartelle ziehen denBürgerinnen und Bürgern ungeniert das Geld aus der Ta-sche.

Und was macht die Bundesregierung? Erstens. Sie er-höht die Mehrwertsteuer um noch einmal 3 Prozent-punkte. Zweitens. Sie lädt die Energiebosse zum Gipfelein, auf dass alles besser werde. Ich bin der Meinung,das ist den Menschen im Land nicht mehr zu vermitteln.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Energiegipfel bei Bundeskanzlerin Merkel amMontag letzter Woche hat das Bild abgerundet. Man sitztgemeinsam im sicheren Boot und lässt die Verbrauche-rinnen und Verbraucher schwimmen. Mein Respekt giltan dieser Stelle Edda Müller vom VerbraucherzentraleBundesverband. Sie vertrat als Einzige die 39 Millionenprivaten Haushalte mit Bravour.

(Beifall bei der LINKEN)

Machen wir uns nichts vor: Die Gästeliste spiegelt wi-der, wohin die Reise geht, nämlich zurück in die fossil-atomare Steinzeit. Wenn die Kanzlerin keine andereEnergiepolitik will, dann sollte sie uns das sagen undnicht so einen Zirkus veranstalten.

Die Investitionszusage der Konzernbosse ist unsererMeinung nach eine Mogelpackung. Die 30 MilliardenEuro waren schon lange vor dem Energiegipfel fest ein-geplant, und zwar für die Ersetzung der maroden Koh-leblöcke bzw. für die Neubauten, die von Umweltminis-ter Gabriel über den Emissionshandel subventioniertwerden.

Hinzu kommt: Kein einziger Arbeitsplatz wird ge-schaffen. Die neuen Kraftwerke ersetzen zwar die altenDreckschleudern, werden aber nur mit einem Viertel desPersonals betrieben. Das bestätigen sogar die RWE-Be-triebsräte. Dass die Großen der Branche die Investitio-nen nur in Aussicht stellen, darf sicherlich als Drohku-lisse für die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerkenverstanden werden; denn da kann man richtig verdienen:300 Millionen Euro zusätzliche Einnahmen pro Jahr be-schert die Verlängerung der Laufzeit eines einzigenAtomkraftwerkes.

Die Branche der erneuerbaren Energien leistet alsEinzige einen echten Beitrag für eine zukünftige Ener-gieversorgung. Der Anteil von Energie aus Sonne, Wind,Wasser, Biomasse und Erdwärme soll in den nächsten14 Jahren auf 20 Prozent steigen. Das bedeutet: Durchden steigenden Anteil dieser heimisch erzeugten Energienimmt die Versorgungssicherheit zu. Mehr erneuerbareEnergien entlasten die Geldbeutel der Verbraucher. Siefangen die hoch drehende Preisspirale bei Öl und Gasauf. Die CO2-Einsparung wird jährlich 270 MillionenTonnen betragen. Bis 2020 werden 330 000 neue Ar-beitsplätze entstehen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist aber zu fragen, ob sich die erneuerbaren Ener-gien tatsächlich durchsetzen können. Zurzeit werden sievom Energiekartell behindert, sei es beim Anschluss ansNetz, sei es durch unzureichenden Ausbau der Strom-trassen, um zum Beispiel Windstrom einzuspeisen. DieCDU/CSU stimmt in diesen Chor kräftig mit ein. Dieerste Strophe des Liedes lautet, das EEG müsse abge-schafft werden. Die zweite Strophe – wen wundert’s –

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2640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Hans-Kurt Hill

heißt, Atomkraftwerke müssten länger laufen. Einederart ideologische Polemik hat nun wirklich nichts miteiner vernünftigen Energiepolitik zu tun.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Für eine bezahlbare, klimafreundliche und sichereEnergieversorgung müssen Sie schon etwas mehr tun:erstens Energieeinsparung durch einen klaren ordnungs-rechtlichen Rahmen, zweitens Umschalten auf erneuer-bare Energien und drittens schnellstmöglicher Ausstiegaus der gefährlichen Atomwirtschaft.

Unser Fazit: Die Energiewende fällt wegen Stillstandsaus und die Zeche zahlen die Bürgerinnen und Bürger.Das ist der Gipfel!

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Franz Obermeier (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte nahtlos an die Rede des ParlamentarischenStaatssekretärs Müller anschließen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das wird Herrn Müller besondersfreuen! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Da sind ja die Richtigen zusam-men!)

Denn er hat den Kern der gesamten Problematik exaktgetroffen, indem er die Analyse der globalen Herausfor-derung der vergangenen Jahre noch einmal erläutert unduns deutlich gemacht hat, was wir in Zukunft in Europaam globalen Energiemarkt zu erwarten haben.

Im Kontrast dazu stand die Rede der Kollegin Künast,die den Blick wieder auf eine rein nationale Diskussionder Fragen verengt hat, die wir schon in den vergange-nen Jahren mit fatalen Folgen für das Land aus einer na-tionalen Betrachtungsweise hin- und hergewendet ha-ben. Sie haben von einer Blockade gesprochen, FrauKünast. Das stimmt, es gab eine Blockade Ihrerseits fürInvestitionen in die richtige Richtung. Es gab aber unse-rerseits keine Blockade bei den erneuerbaren Energien,speziell bei der Windkraft.

Die Politik hinsichtlich der gesamten Energieversor-gung in der Bundesrepublik Deutschland ist durch diegrüne Ideologie in eine völlig falsche Richtung gegan-gen.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was? Sie führen unsere Politik dochweiter!)

Jetzt kommt es durch die Initiative der BundeskanzlerinGott sei Dank zu einer Diskussion, die in erster Linievon Ideologiefreiheit geprägt ist.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie brauchen doch Herrn Müller, damiter Ihnen erzählt, was draußen los ist!)

Diese ist auch dringend notwendig, um unsere Ziele zuerreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Künast, Sie haben die Verbraucher angespro-chen. Was die Energiekosten für die Verbraucher angeht,waren es doch die Grünen, denen die beim Endverbrau-cher anfallenden Kosten nicht hoch genug sein konnten.Diese Linie haben Sie immer verfolgt. Jetzt aber präsen-tieren Sie sich als die großen Heilsbringer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Frau Künast.Sie haben den mangelnden Wettbewerb in Deutschlandangesprochen. Warum haben Sie in den vergangenenJahren nichts unternommen, um nach 1998 den Wettbe-werb im Stromsektor zu erhalten? Er ist nämlich deshalbnicht erhalten geblieben, weil Sie die Gesetzgebungnicht entsprechend nachjustiert haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das war die SPD!)

Noch ein Punkt, Frau Künast: In der Tat – darin stim-men wir zufällig überein – kann der Energieverbrauch inder Bundesrepublik Deutschland halbiert werden. Daringebe ich Ihnen Recht. Aber das geht mit einer Deindus-trialisierung und dem Abbau von Arbeitsplätzen in derBundesrepublik Deutschland einher. Dann haben Sie IhrZiel erreicht. Ihre Politik scheint mir nämlich nach wievor in eine Richtung zu führen, durch die Arbeitsplätzeverloren gehen und noch mehr profitable Industrieunter-nehmen aus Deutschland vertrieben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was mit dem Energiegipfel eingeleitet wurde, deuteteinwandfrei in die richtige Richtung. Es ist längst einGeneralkonzept für die Bundesrepublik Deutschland undEuropa mit Blick auf die globale Entwicklung überfällig.Deswegen sollten wir der Bundesregierung danken, dasssie die Dinge jetzt in die Hand genommen hat.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die interessiert sich aber nicht da-für, was Sie hier erzählen! – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Bun-desregierung? Gucken Sie mal zur Regie-rungsbank! Sie haben gar keine Bundesregie-rung!)

Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen.Bei allen Entwicklungen der vergangenen Jahre warnicht alles falsch. Aber der ökologische Aspekt wurdenicht im gleichen Maße wie der ökonomische und dersoziale Aspekt berücksichtigt.

Vor dem Hintergrund der globalen Herausforderung

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die gab es aber schon vor zehn Jah-ren!)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2641

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Franz Obermeier

muss jetzt beispielsweise beim Zertifikatehandel zurCO2-Minderung ein globaler Ansatz verfolgt werden.Wir als CDU/CSU-Fraktion werden uns weiter für eineeffiziente CO2-Minderung dergestalt einsetzen, dass wirunsere Mittel weltweit möglichst effizient zugunsten desbestmöglichen Abbaus von Emissionen verwenden.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann sollten Sie die Zertifikate verstei-gern, Herr Obermeier! – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! WeltweitZertifikate versteigern!)

Die Blockade eines grünen Umweltministers, was JI undCDM im Allgemeinen betrifft, gehört Gott sei Dank derVergangenheit an.

Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin dafür,

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die ist doch gar nicht da!)

dass sie die Initiative ergriffen hat. Sie wird mit Sicher-heit Erfolg haben, wenn wir im Laufe dieses Jahres bzw.Anfang nächsten Jahres in die Diskussion eintreten wer-den.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege

Hans-Josef Fell.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Staatssekretär Müller, Sie wollen die He-rausforderungen Klimaschutz und Versorgungssicherheitin den Mittelpunkt stellen; das ist richtig. Aber bislangreden Sie nur davon. Haben Sie noch nicht gemerkt, dassSie in der Regierung sind, dass Sie Antworten liefernmüssen und nicht nur Fragen stellen können?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Warum haben Sie die zentralen Fragen, die Sie zu Rechtgestellt haben, nicht in den Mittelpunkt des Energiegip-fels gestellt? Das ist Ihr Versäumnis.

(Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte: Haben wir doch! Sie waren doch gar nicht dabei!)

Wir müssen Antworten geben, und zwar andere alsdie auf dem Energiegipfel. Stattdessen schieben Sie uns,den Grünen, die wir in der letzten Wahlperiode eine er-folgreiche Energiepolitik gemacht haben, noch etwas indie Schuhe, was nichts anderes als eine falsche Behaup-tung ist. Sie sagen, wir hätten die Effizienz nicht gestei-gert. Wer hat denn die von uns ständig gestelltenAnträge auf Erhöhung der Mittel für das Altbausanie-rungsprogramm sowohl im Haushaltsausschuss als auchim Plenum des Bundestages abgelehnt? Sie von derSPD.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin gespannt, ob Sie in Zukunft den Anstieg der Ge-winne der Energiekonzerne durch kostenlose Emissions-zertifikate endlich stoppen werden und den Mut haben,in ein Versteigerungsverfahren einzusteigen, anstatt wiebisher die Zertifikate zu verschenken. Wir warten ge-spannt auf Ihre Antworten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Energiegipfel ist ein Gipfel der verpassten Chan-cen. Statt Antworten zu geben, haben Sie von der SPDan der klimaschädlichen Kohle und Sie von der Union ander problematischen Kernenergie festgehalten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Wo sind Ihre Antworten auf die gesellschaftlich relevan-ten Fragen, etwa wie man in Zukunft seine Wohnung be-zahlbar beheizen kann – das ist für sozial Schwache in-zwischen zu einem zentralen Problem geworden – oderwie man den vielen Menschen in den ländlichen Räumenhelfen kann, die bald nicht mehr die Kosten für die Au-tofahrt zu ihrem Arbeitsplatz aufbringen können, weildie Rohölpreise ständig steigen? Wir haben keine Ant-worten gehört.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben nur über Strom geredet, nicht aber über Heiz-oder Treibstoffe.

Oder die steigenden Strompreise: Alle wissen – dieSpatzen pfeifen es bereits von den Dächern –, dass derdurch die Energiekonzerne verhinderte Wettbewerb dieStrompreise ständig weiter nach oben treibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie sind auch hier Antworten schuldig geblieben und ha-ben weiterhin Konzernpolitik gemacht.

Oder wo geben Sie Antworten, wenn es um die stei-genden Ausgaben und die fehlenden Einnahmen imBundeshaushalt geht? Wir haben nichts von Ihnen dazugehört, wie Sie die Kohlesubventionen reduzieren wol-len, um den Haushalt zu sanieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben von Ihnen nicht gehört, dass Sie endlich öko-logisch schädliche Subventionen abbauen wollen. Wosind denn Ihre Antworten auf die Fragen nach einerFlugbenzinbesteuerung, einer Schiffdieselbesteuerungund einer Besteuerung der Rückstellungen für die Atom-kraftwerke? Wenn Sie über fehlende Haushaltseinnah-men sprechen, dann schlagen Sie plötzlich eine Besteue-rung der Biokraftstoffe vor. Dabei sind diese Kraftstoffeeine der großen Zukunftshoffnungen auf bezahlbareEnergiepreise für die Bürger und Gewährleistung derVersorgungssicherheit durch heimische Energieträger.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit der von Ihnen geplanten Mehrwertsteuererhöhungwerden Sie stattdessen den Bürger mit etwa 120 Euro fürStrom, Heizung und Treibstoffe pro Haushalt stärker

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Hans-Josef Fell

belasten. Meine Damen und Herren von der großen Ko-alition, das sind keine Antworten auf die gestiegenenEnergiepreise.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem sind Sie eine Antwort auf den Atomstreitschuldig geblieben. Kanzlerin Merkel hat ihn einfachweitertreiben lassen, obwohl im Koalitionsvertrag allesklar festgelegt ist. Das ist ein großes Problem; denndiese Hängepartie beim Atomausstieg wird weitergehen.Sie wird ein Investitionshemmnis sein. Wir werden nach2009 möglicherweise noch immer nicht wissen, wie esweitergeht, ob die Branche der erneuerbaren Energienihr Versprechen halten kann, in den nächsten 15 Jahren200 Milliarden Euro zu investieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Denn wenn Sie an der Atomenergie festhalten und es zu-lassen, dass neue fossile Kraftwerke gebaut werden,dann wird das Volumen für den Ausbau der erneuerbarenEnergien und die Nutzung von Effizienzmöglichkeitenverringert. Dann wird zu viel Strom auf dem Markt seinund Chancen für die Schaffung von Arbeitsplätzen undfür Investitionen werden nicht mehr gegeben sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dagegen hängen Sie sich an die uralten Versprechun-gen der Stromwirtschaft, die da 20 Milliarden Euro infossile Kraftwerke zu investieren verspricht. Das hattesie schon lange versprochen. Auch die 10 MilliardenEuro für die Netze sind nichts Neues.

Kommen wir zum Schluss noch zur Forschung.2 Milliarden Euro mehr wollen Sie für die Energiefor-schung ausgeben. Ich bin gespannt, ob Sie diesesVersprechen zwischen der ersten Beratung des Bundes-haushaltes und der zweiten Beratung durch Änderungs-anträge von Ihnen in den Ausschüssen und im Plenumeinhalten. Wenn nicht, dann wäre das ein leeres Verspre-chen. Denn was jetzt im Haushalt steht, das wissen wir.Wenn die 2 Milliarden Euro neues Geld sein sollen, dannmüssen sie auch auftauchen. Dabei müssen wir auchwissen, wofür das Geld ausgegeben wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Heute wird in der „FAZ“ Bundesministerin Schavanzitiert. Sie hat angekündigt, dass im Atombereich nichtnur für Sicherheits- und Endlagerforschung bezahlt wer-den soll, sondern auch für die Erforschung notwendigerEnergiegewinnung aus Kernkraftwerken. Damit ist dieKatze aus dem Sack: Sie wollen neue Atomkraftwerke indiesem Staat. Das werden wir zu verhindern wissen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Rolf Hempelmann (SPD): Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe

Kollegen! Herr Fell, man muss irgendetwas haben, wo-gegen man kämpfen kann. Deswegen haben Sie jetzt dieMär von den neuen Atomkraftwerken erfunden. Aberwir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Wederdie CDU/CSU noch die SPD hat ein solches Ziel formu-liert. Es steht auch nicht auf einer „hidden agenda“. Siekönnen sich gerne politische Gegner suchen. Aber je-denfalls an dieser Stelle ist das fehl am Platz.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Grünen haben dieseAktuelle Stunde zum Energiegipfel gefordert. Sie haben– das ist aus den Wortbeiträgen deutlich geworden –große Erwartungen an diesen Gipfel geknüpft, die jetztoffenbar enttäuscht worden sind. Wir dürfen diese gro-ßen Erwartungen als Kompliment empfinden. Wir selbsthaben so große Erwartungen, dass nämlich sofort, auf ei-nen Schlag und an einem Tag Lösungen präsentiert wer-den, nie gehabt.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich gestehe, wir haben uns ge-täuscht!)

Das war eine eher naive und insofern – ich unterstelle Ih-nen ja nicht Naivität – vorgeschobene Erwartung.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ihnen etwas zuzutrauen, ist in derTat naiv!)

Es geht darum, einen Auftakt zu organisieren – das istgelungen –, einen Prozess hin zu einem Energiepro-gramm. Man muss eingestehen: Das haben wir beide zu-sammen jedenfalls nicht zustande gebracht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieser Auftakt ist gelungen.

Eben ist behauptet worden, es seien nur die Energie-versorgungsunternehmen eingeladen worden. Das ist na-türlich völliger Unsinn. Genauso sind auch die energie-verbrauchende Seite, die Wissenschaft und eigentlichalle, die mit Energiewirtschaft oder -verbrauch oderüberhaupt mit der breiten Verbraucherschaft zu tun ha-ben, eingeladen worden. Ich glaube, das kann mandurchaus an den Ergebnissen und an den Diskussions-themen ablesen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist eben nicht nur über Versorgungssicherheit gespro-chen worden. Es ist auch über Umweltverträglichkeitund über Preiswürdigkeit gesprochen worden – wie ge-sagt, nicht mit unmittelbaren Ergebnissen bei allen The-men.

Unsere Fraktion begrüßt die Investitionsankündigun-gen sowohl für den konventionellen Kraftwerkspark alsauch für die erneuerbaren Energien und für die Netze.Ich diffamiere das nicht, wie es einige Redner getan ha-ben. Es ist auch Unsinn, wenn Sie, Herr Fell, behaupten,dass Investitionen in konventionelle Kraftwerke dazuführten, dass Investitionen in erneuerbare Energien un-

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Rolf Hempelmann

terblieben. Immerhin sind für beide Bereiche Ankündi-gungen auf dem Gipfel erfolgt. Sie werden nicht behaup-ten, dass die Ankündigungen der Unternehmen imBereich erneuerbarer Energien unseriös gewesen seien.

(Beifall der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU])

Diese Investitionsankündigungen sind schon deshalb zubegrüßen, weil sie die Knappheit im Energie- und geradeauch im Stromangebot verringern werden. In erster LinieKnappheit verursacht hohe Preise und nichts anderes.

Jenseits dieser Investitionsankündigungen ist es not-wendig, dass der Prozess hin zu einem Energiepro-gramm jetzt auch unter Beteiligung der Fraktionen orga-nisiert wird. Es wird Zeit, dass wir sozusagen mit anBord kommen. Außerdem ist wichtig, dass die Politikdie notwendigen Rahmenbedingungen schafft, damitdiese Investitionen keine Ankündigungen bleiben, son-dern tatsächlich stattfinden.

Wir brauchen sehr bald ein Planungsbeschleuni-gungsgesetz – es ist in Arbeit und wir werden es auchvorlegen –, das diesen Namen verdient.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir brauchen zügig die Einigung zum NAP II – das istauch ein Stück weit Appell an die beiden Ministerien –,damit wir als Parlament unseren Beitrag leisten können.Nach der Sommerpause brauchen wir natürlich auch dieVerordnung zur Anreizregulierung; denn nur über mehrWettbewerb – das ist das Ziel der Anreizregulierung –werden wir letztlich das Ziel erreichen, zu sinkendenStrom- und Energiepreisen zu kommen.

Es ist wunderbar, ein Feindbild zu haben. Es ist wun-derbar, immer auf den großen Unternehmen herumzuha-cken. Zum Teil haben sich diese Unternehmen die Kritikehrlich erarbeitet. Manchmal trifft man durchaus dierichtigen dabei. Aber es ist eine grobe Vereinfachung, sozu tun, als wenn allein die Beschimpfung der Großenoder der eine oder der andere Nadelstich an der einenoder an der anderen Stelle die Realität hoher Energie-preise verändern würde. Wir werden sie nur durch mehrWettbewerb verändern.

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

Da sind insbesondere die von uns gegründete Bundes-netzagentur und natürlich auch die Politik in Form desVerordnungsgebers Bundesregierung – die Federführungliegt beim Wirtschaftsministerium – gefordert.

Ich bin optimistisch, dass wir die notwendigenSchritte gehen. Ich verstehe die Ungeduld der Grünen,die daraus resultiert, dass sie schnelle Ergebnisse wün-schen. Aber auch wir haben eine gewisse Zeit für dasEnergiewirtschaftsgesetz und für die Installation dieserBehörde gebraucht. Jetzt sollten wir in der Lage sein, soviele Monate zu warten, wie gebraucht werden, umWettbewerb zur Realität zu machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächstes spricht Katherina Reiche, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit dem Energiegipfel hat die Bundesregierung denStartschuss zur Erarbeitung eines energiepolitischen Ge-samtkonzepts gegeben. Das Ziel ist, eine bezahlbare,eine sichere, eine wettbewerbsfähige und eine umwelt-freundliche Energieversorgung bis zum Jahr 2020 si-cherzustellen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das kann ja dauern! Jetzt wirdbald mit der Erarbeitung begonnen! Der Be-ginn der Erarbeitung steht kurz bevor!)

Die Betonung liegt auf „bis zum Jahr 2020“. Das heißt,wir planen weit über diese Legislaturperiode hinaus.

In meinen Augen war der Energiegipfel ein Erfolg;denn es ist gelungen, in einen sachlichen Dialog über dieEnergiepolitik in unserem Land einzusteigen.

(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das tut uns gut!)

Herr Fell, das ist das Gegenteil von dem, was zu ZeitenIhrer Regierungsbeteiligung passiert ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Alte Grabenkämpfe, also das Ausspielen eines Ener-gieträgers gegen den anderen, das Ausspielen von Um-welt gegen Wirtschaft, von Erzeuger gegen Verbraucher,haben bei diesem Gipfel Gott sei Dank keine Rolle ge-spielt. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen und es ist einegute Grundlage für die weitere Arbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Investitionszusagen, die auf dem Energiegipfelgemacht wurden, finde ich sehr begrüßenswert. Wie wirwissen, reichen Zusagen allein nicht aus. Diese Zusagenimplizieren natürlich auch die Pflicht, Investitionen fol-gen zu lassen. Wir haben einen Investitionsstau zu ver-zeichnen, sowohl im Kraftwerksbereich als auch bei denNetzen. Der Kraftwerkspark in Deutschland ist ein we-nig in die Jahre gekommen. Er muss modernisiert wer-den. Wenn wir tatsächlich die effizientesten undmodernsten Kraftwerke entwickeln wollen, dann ist deranstehende Erneuerungsbedarf nicht zu übersehen.

Aber es geht nicht nur darum, alte Kraftwerke zu er-setzen, sondern auch darum, neue zu bauen. Wir brau-chen zusätzliche Stromkapazitäten im Markt, damit diePreise bezahlbar bleiben und damit der dringend not-wendige Wettbewerb gestärkt wird.

Das Ganze ist aber keine Einbahnstraße. Wenn wirvon der Wirtschaft erwarten, dass sie investiert, dann er-wartet die Wirtschaft von uns zu Recht Verlässlichkeit,

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Katherina Reiche (Potsdam)

also eine Energiepolitik, die es ihr gestattet, wettbe-werbsfähig zu bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich freue mich, dass auf dem Energiegipfel Investi-tionszusagen für die erneuerbaren Energien gemachtwurden. Das ist ein ganz wichtiges Signal dafür, dasssich die Förderung der erneuerbaren Energien für denWirtschaftsstandort Deutschland auszahlt. Bei den er-neuerbaren Energien liegt – das ist heute mehrfach be-tont worden – ein enormes Innovations-, Wachstums-und Beschäftigungspotenzial. Sie werden uns mit Si-cherheit helfen, unsere Importabhängigkeit langfristig zuverringern. Sie leisten einen positiven Beitrag zum Kli-maschutz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Richtig ist aber auch, dass es noch weiterer Anstren-gungen und technischer Fortschritte bedarf, weil die er-neuerbaren Energien momentan noch nicht ohne Förde-rung am Markt bestehen können. Deshalb müssen wir inForschung und Entwicklung mehr tun.

Herr Kollege Fell, es ist eine bemerkenswerte Zusageder Bundesregierung, finde ich, in den Bereichen For-schung und Innovation sowie Energieforschung 30 Pro-zent mehr auszugeben.

(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir wollen mal sehen, ob das realisiertwird! – Gegenruf von der SPD: Und für was!)

Wir reden hier immerhin von 2 Milliarden Euro bis2009. Wenn das kein wichtiges und deutliches Signal ist,Herr Kollege Fell, dann weiß ich nicht. In Ihrer Regie-rungszeit zumindest haben wir auf solche Zusagen war-ten müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen in der Sicherheitsforschung und bei derEnergieeffizienz vorankommen. Wir müssen Ressourcenund Energie intelligenter nutzen.

Herr Kollege Fell, ich möchte Sie noch ein weiteresMal ansprechen. Sie haben gesagt: Angela Merkel hatden Streit über das Thema Kernkraft beiseite gelassenund hat dieses Thema nicht aufgenommen. – Das istfalsch. Sie hat sehr wohl darauf hingewiesen, dass das,was im Koalitionsvertrag steht, gilt, nämlich dass es ei-nen Dissens gibt.

Erlauben Sie mir den folgenden Hinweis: Wenn derKernenergieanteil an der Stromversorgung derzeit30 Prozent beträgt, dann kann man schlechterdings nichtausblenden, dass es so ist, wie es ist, weil wir – da wie-derhole ich, was ich am Anfang meiner Rede schon ge-sagt habe – über die nächsten 25 Jahre reden müssen.

Wenn man die Strategie, die die Bundesregierung ver-folgt, auf wenige Worte zusammendampfen müsste,dann würde sie lauten: Es geht im Kern um fünf Dinge:um Energiemärkte und Wettbewerb, um Erneuerung bei

den Kernkraftwerken, um Effizienzsteigerung, um Ener-gieforschung und um erneuerbare Energien.

Von Henry Ford soll der Ausspruch stammen: Zusam-menkunft ist ein Anfang, Zusammenhalt ist ein Fort-schritt und Zusammenarbeit ist der Erfolg. – Das möchtedie Koalition. Das wird diese Bundesregierung unter Be-weis stellen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächstes hat das Wort der Kollege Frank

Schwabe, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

Frank Schwabe (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausstoß desTreibhausgases Kohlendioxid ist im letzten Jahr inDeutschland leicht zurückgegangen. Das ist gut so.Weltweit befindet sich die CO2-Konzentration aber aufeinem Rekordniveau. Nur 1987 und 1998 gab es einenhöheren Anstieg der CO2-Emissionen.

Das war vor dem Energiegipfel so. Das ist leider auchnach dem Energiegipfel so. Dass es aber nicht so bleibt,war eines der Ziele des Energiegipfels. Deswegen ist esgut, dass es den Energiegipfel gegeben hat.

(Beifall bei der SPD)

Dass die Grünen natürlich relativ krabitzig Kritiküben, kann ich nachvollziehen; dass sie versuchen, im-mer wieder einen Keil zwischen die Regierungsfraktio-nen zu treiben, ist auch nachvollziehbar.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir sitzen als Keil dazwischen! –Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Gut, dass Sie es noch mal ansprechen!)

Aber glauben Sie mir: Das werden wir mit einer gewis-sen Gelassenheit hinnehmen, weil wir wissen, für wel-che Energiepolitik wir eigentlich stehen. Wir werdenauch dafür sorgen, dass ein großer Teil dieser Energiepo-litik umgesetzt wird.

Die Bundesregierung will bis Ende 2007 ein energie-politisches Konzept für die Zeit bis 2020 vorlegen, das– das ist schon gesagt worden – Versorgungssicherheit,wettbewerbsfähige Energiepreise und wirksamen Klima-schutz miteinander verknüpft.

Im internationalen Klimaschutz gilt für Deutschland– die Notwendigkeit hat der Herr Staatssekretär vorhinschon eindrucksvoll geschildert –, aber auch für die an-deren großen Kiotoländer: Wenn wir wollen, dass die an-deren folgen, müssen wir weiterhin mit gutem Beispielvorangehen. Insbesondere für Deutschland gilt hierbei:Wenn wir unserer Vorreiterrolle im internationalen Kli-maschutz gerecht werden wollen, dann müssen wir unsehrgeizige Ziele setzen.

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Frank Schwabe

(Beifall bei der SPD)

Deshalb haben sich CDU, CSU und SPD bereits imKoalitionsvertrag dazu verpflichtet, eine Reduktion derCO2-Emissionen um mehr als 30 Prozent bis 2020 anzu-streben, wenn sich denn die EU insgesamt zu einer Re-duzierung um 30 Prozent verpflichtet. Dabei sollte unsdie von der Energie-Enquete-Kommission des Bundesta-ges in der letzten Legislaturperiode geforderte Reduzie-rung um 40 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent bis2050 als Wegmarke dienen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf dem Weg dahin brauchen wir einen Energiemix,der klimaschonend, sicher und eben auch bezahlbar ist.Dazu gehören erneuerbare Energien, eine höhere Ener-gieeffizienz, eine stärkere Unabhängigkeit von Ener-gieimporten, aber für eine bestimmte Zeit – Sie müssensonst die Frage beantworten, wie das anders gehen soll –eben auch eine möglichst effiziente Nutzung der heimi-schen Stein- und Braunkohle.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

Dabei ist die geplante Erneuerung des Kraftwerksparkssowohl wirtschaftlich als auch klimapolitisch sinnvoll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Allerdings muss die Errichtung solcher neuen Kraft-werke zwingend im Rahmen einer allgemeinen Effizi-enz- und Einsparstrategie erfolgen.

Es ist, wie es ist. Die Atomenergie ist aus unsererSicht nicht notwendiger Teil eines modernen Energie-mixes und sie wird auch nicht Teil des zukünftigen Ener-giemixes sein, solange Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten Regierungsverantwortung tragen. Da kannich die Grünen beruhigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Allein schon wegen der notwendigen Erneuerung desKraftwerksparks macht der vereinbarte Ausstiegsfahr-plan Sinn, weltweit gesehen erst recht. Ich finde es gera-dezu rührend, wie die Chefs der großen Energieversor-ger, vermeintlich aus Sorge um den Strompreis und denKlimaschutz, für eine Verlängerung der Nutzung derAtomenergie eintreten, wohl wissend, dass sie bei bei-den Themen ganz andere Schlüssel in der Hand halten.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Angesichts des minimalen Anteils der Atomenergie amweltweiten Energieaufkommen wird klar, dass dieAtomenergie jedenfalls die Klimaproblematik nicht ein-mal im Ansatz lösen wird.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Steinkohle aber erst recht nicht!)

Apropos Strompreis – dazu ist gerade auch schon et-was gesagt worden –: In diesem Jahr wird uns der Emis-sionshandel in besonderer Weise beschäftigen. Er muss

so effizient sein, dass wir das Kiotoziel der CO2-Sen-kung bis 2012 um 21 Prozent erreichen. Es bleibt imRahmen des Emissionshandels ein dauerhaftes Ärgernis,dass der Emissionshandel dazu dient bzw. dazu genutztwird, dass die großen Energieversorger sich zulasten vonBürgerinnen und Bürgern sowie der Industrie die Ta-schen füllen. Das marktwirtschaftliche Instrument desEmissionshandels muss im Bereich der Monopolstrukturder großen Energieversorger eigentlich zwangsläufigversagen. Es bleibt also unser Auftrag, den Emissions-handel mittelfristig so zu gestalten, dass er dem Klima-schutz dient und Mitnahmeeffekte der großen Energie-versorger vermeidet.

(Beifall bei der SPD)

Verehrte Damen und Herren, beim Energiegipfel ginges um den zukünftigen Energiemix. Dabei ist die Ge-schichte der erneuerbaren Energien eine besondere Er-folgsgeschichte. Das wird besonders deutlich, wenn man– ich habe gestern im Umweltausschuss die Gelegenheitgenutzt – noch einmal in den Protokollen von vor20 Jahren nachliest, was damals bezüglich der Entwick-lung der erneuerbaren Energien prognostiziert wurde. Dahaben nämlich viele gesagt, sie würden niemalsMarktreife erlangen. Jetzt sind wir nicht weit davon ent-fernt.

Dasselbe allerdings – da fand ich die Bemerkung inRichtung der Grünen richtig – muss uns auch bei derEnergieeffizienz gelingen. Auch das muss eine Erfolgs-geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. KatherinaReiche [Potsdam] [CDU/CSU] – Beifall beimBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist nicht nur klimapolitisch, sondern in hohem Maßeauch wettbewerbspolitisch geboten. Ein Mehr an Ener-gieeffizienz macht uns günstiger, unabhängiger und in-novativer. Gut, dass das jetzt eines der Schwerpunktthe-men auf der Arbeitsebene ist.

Zusammengefasst: Der Energiegipfel war besser, alsmanche erwartet haben, auch wenn sich einige ärgern.Nun kommt es auf eine intensive Arbeit in den kommen-den Monaten an. Die Voraussetzungen dafür sind jetztgeschaffen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Philipp

Mißfelder das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Der Energiegipfel ist in zweierlei Hin-sicht ein großer Erfolg gewesen. Darauf möchte ich inmeinen weiteren Ausführungen eingehen. Zunächstmöchte ich allerdings den Grünen ganz herzlich danken,

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Philipp Mißfelder

dass wir diese Erfolge am heutigen Tage hier deutlichmachen können. Vielen Dank, dass Sie diese AktuelleStunde beantragt haben

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rainer Tabillion [SPD])

und sie nutzen, damit Sie lernen, wie wir die Energiepo-litik der Zukunft gestalten wollen.

Der Energiegipfel ist nicht nur deshalb ein Erfolg,weil er, wie von meinen Vorrednern ausgeführt, tatsäch-liche Ergebnisse für die zukünftige Energiepolitik bringt,sondern auch, weil er sozusagen den Anfang vom Endeeiner ideologiegeprägten Energiepolitik in unseremLand darstellt. Das war am Montag der Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Josef Fell[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hier vonIdeologie redet, hat keine Antwort auf Fra-gen!)

Die Entscheidung, einen Energiegipfel an den Beginnder Legislaturperiode zu stellen, war richtig; denn es warüberfällig, der Energiepolitik in Deutschland wieder eineverlässliche Basis zu geben und sich damit einer entideo-logisierten Diskussion zu stellen, die wirklich sinnvollist. Denn tatsächlich ist es das allgemeine Anliegen desHauses, auch in Zukunft Energiesicherheit zu gewähr-leisten. Wir sind unserer Bundeskanzlerin AngelaMerkel dankbar, dass sie als eine ihrer ersten Maßnah-men diesen Energiegipfel einberufen hat. Mit dieser Ini-tiative hat die Bundeskanzlerin bereits am Beginn ihrerAmtszeit klar gemacht, dass die Energiepolitik eines derHauptthemen der großen Koalition ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das entspricht im Übrigen auch der Lebenswirklichkeitder Privathaushalte und der deutschen Wirtschaft. Des-wegen war es so wichtig, dieses Thema auf die Tages-ordnung zu setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Mit dem Energiegipfel wurde der Grundstein für einenergiepolitisches Gesamtkonzept gelegt. Ein Ergebnisdes Energiegipfels ist die Einrichtung von Arbeitsgrup-pen; der Herr Staatssekretär hat es vorhin ausgeführt.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich inDeutschland die Stimmungslage der Bevölkerung verän-dert. Die Sensibilität für das Thema Energiepolitikwächst. Dies ist in erster Linie auf das Steigen der Ener-giepreise zurückzuführen und zeigt sich in den Diskus-sionen über dieses Thema innerhalb der Familien.

Dass sich etwas an der Stimmungslage verändert hat,sieht man an den aktuellen Umfragen. Am Dienstag mel-dete dpa, dass die Mehrheit der Deutschen inzwischeneine Verlängerung der Laufzeiten für deutsche Kern-kraftwerke befürwortet.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])

– Herr Tauss, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie dazwi-schenrufen; denn genau an dieser Stelle hatte ich IhrenZwischenruf in meiner Rede eingeplant.

(Ulrich Kelber [SPD]: Aber wer hat denn die Studie in Auftrag gegeben?)

– Der Fernsehsender N24 hat eine Emnid-Umfrage inAuftrag gegeben. Aber unabhängig von den politischenKonsequenzen, die man daraus ziehen kann, sieht manan diesen Umfragewerten eindeutig, dass sich im Be-wusstsein der Bevölkerung etwas verändert hat. Deswe-gen muss die Politik Antworten auf diese wichtigen Fra-gen finden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Ursachen für die steigenden Energiepreise inDeutschland – darüber haben wir schon diskutiert – sindin erster Linie die schwindenden Reserven an herkömm-lichen Energieträgern wie Öl, Kohle oder Gas.

(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und Uran!)

Deswegen ist es richtig, dass wir versuchen, auf Dauerausgerichtete Antworten auf die drängenden Fragen zufinden. Eine Frage ist, wie wir auf den Energiehungerder aufstrebenden Wirtschaftsmächte China, Indien undBrasilien in Zukunft reagieren wollen und wie wir Ener-giesicherheit für die nächsten Jahrzehnte gewährleistenkönnen. Dabei können und wollen wir uns aber aufDauer keinen deutschen Sonderweg leisten. Deswegenist es richtig, dass der Energiegipfel Perspektiven bietet,wie in Zukunft die Energiepolitik aussehen soll.

(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wenn er sie denn geboten hätte!)

Am Ende jahrelanger ideologiebelasteter Diskussionum Energiepolitik– vor allen Dingen die Grünen habensich auf diesem Feld betätigt – wird ein schlüssiges Kon-zept stehen, das dazu führen wird, dass auch die Indus-trie in unserem Land endlich verlässlichere Rahmenbe-dingungen vorfinden wird.

Sie fragen in dem Titel der Aktuellen Stunde nachdem Beitrag des Gipfels zur Energieversorgungssicher-heit. Diese Frage möchte ich Ihnen an dieser Stelle gernebeantworten. Die Bundesregierung wird als Ergebnis desEnergiegipfels die Mittel für die Energieforschung deut-lich aufstocken. So werden wir im Zeitraum von 2006bis 2009 etwa 2 Milliarden Euro in neue Energietechno-logien investieren.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Die erneuerbaren Energien auch in Zukunft wirtschaft-lich sinnvoll zu stärken, ist einer der wichtigsten Punkte,die wir sehen.

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

Der Energiegipfel war ein großer Erfolg. Die Arbeits-gruppen werden jetzt ihre Arbeit aufnehmen. Wir sindmit dem Ergebnis vom Montag zufrieden und freuenuns, dass wir heute so ausführlich darüber sprechenkonnten.

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Philipp Mißfelder

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Tabillion, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Rainer Tabillion (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese Ak-tuelle Stunde ist ein guter Auftakt für die Beschäftigungdes Deutschen Bundestages mit energiepolitischen The-men im Vorfeld der Erstellung eines energiepolitischenProgramms, das bis 2015 – oder besser noch: mindestens20 Jahre – gelten soll.

Das Parlament war in den Gipfel nicht eingebunden.Umso größer sollte unser Ehrgeiz sein, uns jetzt in dieDiskussion der kommenden Wochen einzubringen. Je-der, der hier vorgetragen und seine Vorstellungen entwi-ckelt hat, ist eingeladen, das auszugestalten, was aufdem Gipfeltreffen angekündigt worden ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, dass es in diesem Haus eine ausreichendeGrundübereinstimmung bei den energiepolitischen The-men gibt, die in den nächsten vier Jahren im Zentrum derBeschäftigung des Deutschen Bundestages stehen wer-den. Das gilt insbesondere dafür, dass wir energiepoliti-sche Rahmenbedingungen schaffen müssen, die weitüber die Legislaturperiode und weit über das, was wirpolitisch mit der CDU/CSU vereinbart haben, hinausge-hen. Das gilt insbesondere auch für die angekündigtenMilliardeninvestitionen in die Kraftwerks- und die Netz-infrastruktur. Diese Investitionen, auf die wir alle schonlange warten, werden nur dann fließen, wenn es keineHintertür für kurzfristige und ebenso kurzsichtige Profiteohne Investitionen gibt.

In diesem Zusammenhang war es wichtig, dass Bun-deskanzlerin Merkel auf dem Gipfel deutlich gemachthat, dass sie zur Vereinbarung zum Ausstieg aus derAtomenergie steht.

(Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Im Gegensatz zu Herrn Mißfelder!)

Ich möchte in Richtung der Grünen deutlich machen: Esgibt überhaupt keinen Anlass, daran zu zweifeln, dassdie SPD nicht am Ausstieg aus der Atomenergie festhält.Sie sollten das Lager derjenigen, die die Atomenergieablehnen, nicht durch derartige Reden, wie sie heute ge-halten worden sind, versuchen zu spalten.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu dem Prozessmachen, der jetzt beginnt und bis ins nächste Jahr andau-ern wird. Ich glaube, dieses Projekt kann nur gelingen,wenn wir diejenigen, die mit uns gehen sollen, als Part-ner betrachten. Die großen Energieversorgungsunterneh-men gehören ebenso dazu wie die Regionalversorger, die

Stadtwerke und andere Akteure. Man kann sie nicht aus-schließen. Sie sind wichtig, wenn wir uns energiepoli-tisch auf internationaler Ebene bewegen wollen unddafür sorgen wollen, dass energie- und unternehmenspo-litische Entscheidungen noch in Deutschland fallen.Deshalb sollten wir sie nicht als Gegner sehen, sondernsie mit ins Boot nehmen. Wir sollten aber darauf achtenund sie dazu zwingen, dass sie die Dinge, die sie tun,transparent machen und dass sie sich ihrer gesellschafts-politischen Verantwortung klar werden.

(Beifall bei der SPD)

Das Wichtigste ist Effizienz; das ist heute schon oftgesagt worden. Es ist falsch, den Leuten vorzumachen,die Preise für Energie könnten sinken. Das werden wir inden kommenden Jahren nicht erleben. Dazu sind dieRohstoffpreise zu hoch. Sie werden sich deutlich nachoben entwickeln. Es sind nicht nur die Wettbewerbs-strukturen hier im Land, die dazu beitragen, dass dieEnergie teurer wird. Insbesondere die Rohstoffpreisesind dafür verantwortlich. Deshalb werden wir die Ent-wicklung nicht stoppen können. Effizienz ist umso wich-tiger, als wir über Effizienz dafür sorgen können, dassunsere Kosten, obwohl die Preise steigen, dadurch, dasswir aus den Energieträgern mehr herausholen und weni-ger in die Luft blasen, stabil bleiben oder sogar sinken.

(Beifall bei der SPD)

Deutschland ist Vorreiter beim Klimaschutz und beider Entwicklung und Vermarktung der Technologie dererneuerbaren Energien. Wir sind auch Vorbild beim Ein-satz dieser Energiearten in unserem Land. Das wollenwir auch bleiben.

Es ist in dem anstehenden Diskurs allerdings eine He-rausforderung für uns, dafür zu sorgen, dass die volks-wirtschaftlichen Kosten, die dabei entstehen, begrenztwerden. Wir müssen im Rahmen der jetzt zu führendenenergiepolitischen Debatte die Instrumente hinterfragen,mit denen wir fördern, und die Technologien, die wirfördern. Das kann nicht ausbleiben; das muss man im-mer kritisch sehen, etwa die Frage, welche Lehren ausdem bisherigen Verlauf des Emissionshandels zu ziehensind. Auch das muss man hinterfragen, wenn man eineneue Phase beginnt.

(Beifall bei der SPD)

Eine realistische Beurteilung der Potenziale istebenso wichtig wie eine Risikostreuung im Energiemix.Wenn wir bis 2020 das ambitionierte Ziel, 25 Prozentdes Strombedarfs regenerativ zu decken – und bis 2050sogar 50 Prozent oder mehr –, erreichen wollen, dannkönnen wir die konventionell bereitgestellten Energiear-ten nicht ausblenden. Denn dann müssen wir noch im-mer 50 Prozent der Energie konventionell erzeugen.Deshalb ist es völlig unrealistisch, gleichzeitig aus derAtomenergie und der Kohle auszusteigen.

(Beifall des Abg. Franz Obermeier [CDU/CSU])

Da ich aus einem Kohleland komme und mich intensivund lange mit diesen Fragen befasst habe und weiß, dasskeine andere Subvention für eine Energieart so sehr ge-

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Dr. Rainer Tabillion

kürzt worden ist wie die für die Kohle, muss ich Ihnensagen, dass wir in Zukunft an dem Bodenschatz, den wirunter unseren Füßen haben und der nach meiner Ein-schätzung in den kommenden Jahrzehnten deutlich wert-voller werden wird, in einer bestimmten Größenord-nung, die wir vereinbaren müssen, festhalten müssen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Rainer Tabillion (SPD): Ich glaube, Energieerzeugung aus Kohle in Verbin-

dung mit der Technik, die Kohle klimaunschädlich zuverarbeiten und umzuwandeln – sie ist inzwischen vor-handen –, ist verantwortbar.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege!

Dr. Rainer Tabillion (SPD): Deshalb möchte ich darum bitten, dass wir die Kohle

in Zukunft als Teil des Energiemixes betrachten, überdessen Definition wir uns jetzt unterhalten. Das wäre einguter Einstieg dieses Hauses in die energiepolitischeDiskussion. Wir sollten uns daran beteiligen –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Ihr letzter Satz geht jetzt schon über

fast zwei Minuten.

Dr. Rainer Tabillion (SPD): – und unser Wissen und unser Engagement einbrin-

gen, damit es ein gutes Programm wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Christoph Pries, SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

Christoph Pries (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat dieseAktuelle Stunde beantragt. Als zuständiger Bericht-erstatter der SPD-Fraktion beschäftige ich mich mit IhrerFrage nach dem Beitrag des Energiegipfels zur Verringe-rung der Gefahren durch Atomkraft.

Die Atomenergie ist noch genauso gefährlich bzw.genauso sicher wie vor dem Gipfel. Die Positionen derBeteiligten zur Atomenergie haben sich nicht verändert.Die Vereinbarung zum Atomausstieg gilt weiterhin.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt könnte ich schon zum Schluss kommen. Aber daalle Kolleginnen und Kollegen der Koalition heute frohe

Botschaften verkünden dürfen, möchte ich natürlichnicht zurückstehen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Zunächst hat die Koalition all diejenigen enttäuscht,die gehofft hatten, der Streit über die Atomenergiewürde den Gipfel überschatten. Ganz im Gegenteil: EinGipfelteilnehmer kam sogar zu dem Schluss, SPD undCDU hätten beim Thema Atomenergie Einigkeit de-monstriert. So weit würde ich vielleicht nicht gehen. AmMontag sind aber vor allem die Themen diskutiert wor-den, die aus unserer Sicht für die Zukunft der Energie-versorgung in Deutschland entscheidend sind. Für unsheißt das: Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Er-neuerung der Kraftwerke und Emissionshandel.

Es gibt aber noch eine weitere positive Botschaft. Aufausdrückliche Nachfrage von BundesumweltministerGabriel haben die Energieversorgungsunternehmen ihreVertragstreue im Bereich des Atomausstiegs unterstri-chen. Sie werden auch dann mit der Bundesregierungzusammenarbeiten, wenn es beim Atomausstieg bleibt.Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Ankündi-gung ausdrücklich. Zukünftiges Handeln werden wir andieser Zusage messen.

Für die SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Eine Über-tragung von Reststrommengen von neuen Atomkraft-werken auf alte Atomkraftwerke lehnen wir ab.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Eine solche Übertragung widerspricht dem Geist desAtomkonsenses. Sie widerspricht auch dem Geist desKoalitionsvertrages, der dem sicheren Betrieb der Atom-kraftwerke absolute Priorität einräumt.

Worum geht es bei der Forderung nach Verlängerungder Restlaufzeiten? Ein Artikel in der „Financial TimesDeutschland“ hat das am Montag ganz freimütig auf denPunkt gebracht:

Für die Antragsteller geht es um Milliarden. DieMeiler sind längst abgeschrieben, die Betriebskos-ten gering, und die Gewinnmargen wären sensa-tionell, wenn die Reaktoren länger laufen dürften.

Das Ziel von Unternehmen ist es, Gewinne zu machen.Das ist legitim. Schön wäre es allerdings, wenn die Ener-gieversorger es in diesem Fall auch offen zugeben wür-den.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Diskussion über die Laufzeiten der Atomkraft-werke hat leider noch eine andere Folge. Sie vergiftetdas Klima für dringend benötigte Zukunftsinvestitionenim Energiesektor.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer

– so hieß es gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ –

wagt schon im großen Stil neue Kraftwerke, wenner nicht weiß, wie viele der riesigen Reaktoren am

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Christoph Pries

Ende des Jahrzehnts noch billige Konkurrenz ma-chen oder nicht?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es wäre geradezu ein Befreiungsschlag für die Ener-giepolitik in Deutschland, wenn die Betreiber unsererAtomkraftwerke endlich aufhörten, ständig auf dienächste Bundestagswahl zu starren. Erweisen Sie sich,erweisen Sie uns und erweisen Sie vor allem unseremLand einen Dienst. Begreifen Sie endlich – in parlamen-tarischen Demokratien verhält es sich wie im Fußball –:Egal, wie die Bundestagswahl 2009 ausgeht. Nach derWahl ist vor der Wahl.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN

Einsetzung eines Parlamentarischen Beiratsfür nachhaltige Entwicklung

– Drucksache 16/1131 –

b) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung

Bericht des Parlamentarischen Beirats fürnachhaltige Entwicklung

(Berichtszeitraum: 11. März 2004 bis 29. Juni2005)

– Drucksache 15/5942 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierfür eineDreiviertelstunde Debatte vorzusehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wortder Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall der Abg. Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU])

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! Dieses Haus will heute ein parlamen-tarisches Gremium aus der 15. Wahlperiode erneut ein-setzen, das den Titel „Parlamentarischer Beirat für nach-haltige Entwicklung“ tragen soll. Dieses Gremium – dassollten wir zu Beginn der Debatte freimütig bekennen –

ist ein Fremdkörper unter den Ausschüssen des Deut-schen Bundestages. Es wird für diesen Beirat auch in deraktuellen Wahlperiode nicht einfach werden, die Anlie-gen einer nachhaltigen Entwicklung, der Generationen-gerechtigkeit und der politischen Zukunftsverantwor-tung erfolgreich in das eingespielte Räderwerk desParlamentsbetriebes einzuspeisen. Nicht von ungefährhatten wir uns als Unionsfraktion vor etwas mehr alszwei Jahren einen Zukunftsausschuss als Alternative zudiesem Beirat vorstellen können. Dieser seinerzeitigeVorschlag und der Nachhaltigkeitsbeirat, den wir heuteeinsetzen wollen, haben allerdings ihre zentrale Aufga-benstellung gemeinsam: Sie schaffen ein Gremium imDeutschen Bundestag, das sich explizit als Frühwarnein-richtung für politische Fehlentwicklungen versteht, dasdie Interessen künftiger Generationen im Blick behältund notfalls auch gegen die Interessen der jetzt Leben-den verteidigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Der Bundestag hat über 20 Ausschüsse und zehn Un-terausschüsse. Die Mitglieder der allermeisten von ihnenverstehen sich natürlich auch als eine politische Lobbyfür ihr jeweiliges Themenfeld, für ihr Interessengebiet.Allein den künftigen Generationen fehlt ein solcherparlamentarischer Fürsprecher.

Die Zukunft ist jedenfalls ohne eine institutionali-sierte Lobby im Parlament. Auf diesen Missstand wiesbereits vor einem Vierteljahrhundert der deutsch-ameri-kanische Philosoph Hans Jonas hin. Der in meiner Hei-matstadt Mönchengladbach gebürtige Jonas schrieb inseinem Epoche machenden Werk „Das Prinzip Verant-wortung“ schon 1979:

Die „Zukunft“ aber ist in keinem Gremium vertre-ten; sie ist keine Kraft, die ihr Gewicht in die Waag-schale werfen kann. Das Nichtexistente hat keineLobby und die Ungeborenen sind machtlos. Somithat die ihnen geschuldete Rechenschaft vorerstnoch keine politische Realität im gegenwärtigenEntscheidungsprozess hinter sich, und wenn sie sieeinfordern können, sind wir, die Schuldigen, nichtmehr da.

Das Neue am Thema Nachhaltigkeit ist demnach dieForderung nach Gerechtigkeit für kommende Generatio-nen, also für Menschen, die noch gar nicht existieren.

Natürlich vermag ein parlamentarischer Beirat dieGesetzmäßigkeiten der demokratischen Repräsentationnicht außer Kraft zu setzen. Mit dem Nachhaltigkeitsbei-rat erhalten wir indes ein Instrument, mit dem wir die in-zwischen weithin anerkannten Ideen der Generationen-gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit in den politischenEntscheidungsprozess wirksam einbringen können. DieArbeit des Nachhaltigkeitsbeirats ist – um noch einmalmit Hans Jonas zu sprechen – damit zugleich ein Testfallfür die „Kraft der Ideen im politischen Körper“.

Es wird uns aber nur gelingen, die Lücke der fehlen-den Vertretung der Zukunft und der künftigen Generatio-nen in der Politik zu schließen, wenn wir die Themen desBeirates nicht zu eng verstehen. Das hat bereits früh einevon der UN-Vollversammlung eingesetzte Kommission,

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Dr. Günter Krings

die so genannte Brundtland-Kommission, deutlich ge-macht. Laut ihrem Abschlussbericht aus dem Jahre 1987ist eine Entwicklung dauerhaft bzw. nachhaltig, wennsie, wie es in dem Bericht heißt, die Bedürfnisse der Ge-genwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Ge-nerationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigenkönnen.

Es geht hiernach primär also nicht um die Bedürfnisseder Natur, sondern um die Bedürfnisse der Menschen,die, genau wie wir heute, auch in 30 oder 60 Jahren ihrenLebensstil wählen möchten und nicht die bloßen Objektekurzsichtiger Entscheidungen von heute werden dürfen.Nachhaltigkeit berührt ganz wesentlich auch ökologi-sche Fragestellungen. Fehlen den nachkommenden Ge-nerationen schon die natürlichen Ressourcen, so sindihnen dadurch wesentliche Entfaltungsmöglichkeitenunwiderruflich genommen.

Nachhaltigkeit bedeutet aber nicht nur, dass unserökologisches Kapital nicht zulasten künftiger Generatio-nen aufgezehrt werden darf, sondern verlangt ebensoden Erhalt des wirtschaftlichen und sozialen Kapitals.Der Begriff Nachhaltigkeit hat seit seiner Entstehung– übrigens in der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts –eine erhebliche Erweiterung erfahren. Moderne Defini-tionen schließen eine stabile wirtschaftliche Entwick-lung und eine generationengerechte Verteilung der Le-benschancen ausdrücklich in seine Anwendungsbereicheein. So ist es längst Allgemeingut der Nachhaltigkeitsde-batte geworden, dass die Leistungsfähigkeit unserer Ge-sellschaft auch in Zukunft auf ein solides Wirtschafts-wachstum angewiesen ist.

Von diesem dreidimensionalen Begriff der Nachhal-tigkeit muss sich auch der Parlamentarische Beirat fürnachhaltige Entwicklung bei seiner Arbeit leiten lassen.Die wirtschaftliche, die soziale und die ökologische Di-mension der Nachhaltigkeit gilt es miteinander in Ein-klang zu bringen. Für den Beirat ist das eine ebenso am-bitionierte wie spannende Aufgabe, der wir uns gernestellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der entscheidende Prüfstein für eine generationenge-rechte und damit nachhaltige Politik ist die Sanierungunserer maroden Staatshaushalte. Angesichts dramatischschrumpfender Geburtenjahrgänge war die Schulden-politik der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht länger nurfinanzpolitisch unsolide, sondern hat zwischenzeitlichauch den Charakter eines moralischen Problems erhal-ten. Mit welchem Recht machen die vergleichsweisevielen von heute Schulden zulasten der wenigen vonmorgen? Wer die Zukunft offen und gestaltbar haltenwill, darf es nicht hinnehmen, dass der auf 1,4 BillionenEuro angewachsene Berg der Staatsschulden weiterwächst. Die neue Koalition unter Kanzlerin AngelaMerkel und Finanzminister Peer Steinbrück hat endlichein Umdenken eingeleitet. Dessen Fortgang und seineErgebnisse wird der Nachhaltigkeitsbeirat des Deut-schen Bundestages sehr sorgfältig beobachten und be-einflussen.

Um die Sinnhaftigkeit dieses Beirats zu begreifen, istes wichtig, festzuhalten, dass unsere Staatsschulden kei-neswegs gegen die Interessen der Bürger unseres Landesgemacht worden sind. Der überwiegende Teil rührt auseiner Politik sozialer Transferleistungen, die mit der Be-tonung des Sozialstaatsprinzips zugleich einseitig die In-teressen der jetzt Lebenden favorisiert hat. NachhaltigePolitik verlangt im Zweifel den Mut zu unpopulärerPolitik. Wer die Interessen nachrückender Generationenschützen will, muss im Einzelfall bereit sein, Gegen-wartsinteressen zurückzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ein ernstes Hindernis für generationengerechte undnachhaltige Politik stellen heute nicht nur die 1,4 Billio-nen Euro direkte Staatsschulden dar. Nach sehr vorsich-tigen Schätzungen kommt mindestens der doppelteBetrag hinzu, der als implizite Staatsschuld in unserensozialen Sicherungssystemen schlummert. Eine Renten-und eine Pflegeversicherung, die jeden Tag Ansprüchebegründen, die innerhalb des lohnabhängigen Umlage-systems niemals befriedigt werden können, sind daherkein Beispiel für Nachhaltigkeit. Die Politik hat sich bisvor wenigen Jahren kaum darum gekümmert, wie Ar-beitnehmer und Arbeitgeber mit diesen Ansprüchen inZukunft zurechtkommen. Auch damit wurde das Gegen-teil von Generationengerechtigkeit praktiziert. Genera-tionengerecht und nachhaltig ist eine Sozialpolitik nurdann, wenn sie auch für zukünftige Generationen sozialeSicherheit gewährleistet.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Auch hier wartet also eine sehr wichtige Aufgabe aufden Nachhaltigkeitsbeirat. Hätte es ihn bereits in den90er-Jahren gegeben, wären die Chancen auf eine soli-dere Finanzierung der damals neu eingeführten Pflege-versicherung aus meiner Sicht deutlich größer gewesen.Die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung zurschrittweisen Hebung des Renteneintrittsalters, aberauch zur Förderung junger Familien weisen den Weg indie richtige Richtung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie werden auch den Mitgliedern des Nachhaltigkeits-beirats Mut machen, dass wir dem Ziel einer nachhalti-gen und generationengerechten Politik im Schulter-schluss zwischen Parlament und Regierung Schritt fürSchritt näher kommen.

Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich zumAbschluss betonen: Es muss im gemeinsamen Interesseunseres Hauses liegen, die Vorsorge für künftige Genera-tionen als zentrale Politikaufgabe nirgendwo anders alshier im Deutschen Bundestag zu verankern. So wie dieParlamente im 19. Jahrhundert das Budgetrecht gegendie Exekutive erkämpft haben, müssen sie jetzt, im21. Jahrhundert, dafür Sorge tragen, dass in Fragen dervorsorgenden Umwelt-, Sozial- und Haushaltspolitik dieentscheidenden Maßstäbe im Parlament gesetzt werden.Nur die direkt gewählte Vertretung unseres Volkes be-sitzt die notwendige Legitimationskraft, um von den

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Dr. Günter Krings

jetzt Lebenden den Verzicht auf Konsum zugunstennachrückender Generationen verlangen zu können.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ich wollte gerade meinen letzten

Satz beginnen. – Es ist daher sinnvoll und richtig, dasses mit dem heute einzusetzenden Nachhaltigkeitsbeiratnun endlich in der Mitte unseres Parlaments eine Lobbyfür künftige Generationen geben wird.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Michael

Kauch.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach-

haltigkeit braucht eine institutionelle Verankerung indiesem Parlament. Deshalb hat die FDP bereits in dervergangenen Wahlperiode gemeinsam mit SPD undBündnis 90/Die Grünen die Einrichtung eines solchenParlamentarischen Beirats – damals gegen den Wider-stand der Union – durchgesetzt. Wir begrüßen, dass dieUnion ihre Haltung geändert hat und nun auch zu denAntragstellern gehört.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Der Parlamentarische Beirat hat trotz seiner einge-schränkten parlamentarischen Rechte in der vergange-nen Wahlperiode sehr erfolgreich und konstruktiv ge-arbeitet. Wir konnten uns fraktionsübergreifend – auchüber die Grenzen von Opposition und Regierunghinweg – auf gemeinsame Ziele für die Zukunft einigen.Das ist wichtig, weil die entscheidenden Zukunftsfrageneinen Zeithorizont haben, der weit über den üblichenWechsel der Regierungen in einer parlamentarischenDemokratie hinausreicht.

Einen Grundkonsens herauszuarbeiten, ohne die Un-terschiede im Detail zu verwischen, das war die Stärkedes Nachhaltigkeitsbeirates in der vergangenen Wahlpe-riode. Ich möchte an dieser Stelle den Kolleginnen undKollegen aus dem letzten Beirat für die gute Zusammen-arbeit ganz herzlich danken.

(Beifall bei der FDP)

Ich erinnere an die gemeinsame Stellungnahme zumFortschrittsbericht 2004 der Bundesregierung. Hierwurde vieles im Konsens beschlossen, so die gemein-same Forderung nach einer regelmäßigen Erstellung vonGenerationenbilanzen und die Einführung eines Nach-

haltigkeitschecks in der Gesetzesfolgenabschätzung. Wirhaben in der vergangenen Wahlperiode darüber geredet.In dieser Wahlperiode kommt es darauf an, die Dinge imDetail so voranzutreiben, dass wir sie hier im Parlamentumsetzen können.

Aufgrund der Vorarbeiten, die in der letzten Wahl-periode geleistet wurden, kann sich der Beirat nun direktdort an die Arbeit machen, wo der letzte Beirat mit sei-ner Arbeit aufhören musste, nämlich bei den geplantenAnhörungen zu den Auswirkungen des demografischenWandels auf die Infrastruktur und zum Thema Generati-onenbilanzen.

Denn was bedeutet eine immer älter werdende undzugleich regional unterschiedlich schrumpfende Bevöl-kerung für die künftige Infrastruktur? Welche Straßenund welche öffentlichen Gebäude werden zukünftignoch oder anders gebraucht? Welche Wohnformen brau-chen wir? Was muss sich qualitativ in der Verkehrspla-nung ändern? Es stellt sich auch die Frage, ob bei Stromoder Abwasser weiter flächendeckend in eine Netzinfra-struktur investiert werden soll oder ob regional dezen-trale Lösungen möglicherweise eine sinnvolle Alterna-tive sind. Darauf wollen wir mit den Experten in den An-hörungen Antworten finden und dann dem ParlamentLösungen vorschlagen.

Wir brauchen regelmäßige offizielle Generationen-bilanzen für Deutschland, um ein besseres Bewusstseinfür die Auswirkungen des täglichen Handelns und lang-fristiger Politik für kommende Generationen zu schaf-fen. Generationenbilanzen verdeutlichen diese Auswir-kungen, indem sie auf der einen Seite die Leistungenund auf der anderen Seite die Belastungen, die heutigePolitik kommenden Generationen hinterlässt, ausweisen.Wir wollen von den Experten hören, wie solche Genera-tionenbilanzen konkret aussehen können und wer sie er-stellen soll.

(Beifall bei der FDP)

Diese Themen sind essenzielle Zukunftsfragen undhaben auch in der neuen Wahlperiode nicht an Bedeu-tung verloren. Die Bundesregierung wird noch in diesemJahr ihren Fortschrittsbericht 2006 zur Nachhaltigkeits-strategie vorlegen. Vier Jahre nach Verabschiedung derersten Nachhaltigkeitsstrategie müssen einige Dingegrundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden, zumBeispiel die Indikatoren für die Zielerreichung.

Ein Beispiel: Der Indikator für die Zielerreichung beider Inanspruchnahme von Flächen zu Siedlungs- undVerkehrszwecken konzentriert sich momentan, auf ganzDeutschland berechnet, auf ein 30-Hektar-Reduktions-ziel. Das stellt aber nicht auf die tatsächlich genutzteFläche ab, sondern auf die beplante Fläche. Das bedeu-tet, dass man bei der Renaturierung einer Industriebra-che den gemessenen Flächenverbrauch in keiner Weisesenkt, wenn nicht auch der Bebauungsplan geändertwird. Ob das unter Gesichtspunkten ökologischer Nach-haltigkeit sinnvoll ist, wage ich zu bezweifeln.

(Beifall bei der FDP)

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Michael Kauch

Deshalb müssen wir die Indikatoren auf ihre Zielsicher-heit überprüfen. Dabei müssen beispielsweise der Flä-chenverbrauch, die Zerschneidung von Landschaft, dieVersiegelung von Böden und die regionale Verteilungder Flächeninanspruchnahme zugrunde gelegt werden.

Nehmen wir das Beispiel Kriminalität: Die Nachhal-tigkeitsstrategie misst die Kriminalität in Deutschlandheute anhand der Zahl der Wohnungseinbrüche. Ich erin-nere mich nicht daran, dass wir in diesem Parlament inder letzten Zeit sehr viel über Wohnungseinbrüche dis-kutiert haben. Wir haben aber beispielsweise sehr vielüber Jugendgewalt diskutiert. Warum also soll dieser In-dikator nicht im Hinblick auf diesen zentralen Bereichdes Zusammenhalts unserer Gesellschaft verändert wer-den? Diesen Fragen müssen wir uns gemeinsam stellen.

Kollege Krings hat es angesprochen: Die marodenStaatsfinanzen sind einer der größten Angriffe auf dieGenerationengerechtigkeit. Die letzte Bundesregierunghat es abgelehnt, die Staatsfinanzen zu einem Schwer-punkt der Nachhaltigkeitsstrategie zu machen. Ich bingespannt, ob Sie mit dem Fortschrittsbericht 2006 um-steuern und die finanzielle Nachhaltigkeit entsprechendden Ankündigungen des Kollegen Krings tatsächlich zueinem Schwerpunkt machen. Das wäre den kommendenGenerationen zu wünschen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Deutschland muss zukunftsfähiger und generationen-gerechter werden. Dazu gehört der verantwortungsvolleUmgang mit den natürlichen Ressourcen, aber auch mitden finanziellen Ressourcen, also mit unseren Staats-finanzen und Sozialsystemen. Wir brauchen ein Ver-ständnis von Wohlstand und Lebensqualität, das sich anlangen Zeiträumen und nicht an Legislaturperioden vonvier Jahren orientiert.

In diesem Sinne freut sich die FDP-Bundestagsfrak-tion auf die Debatten im Parlamentarischen Beirat fürnachhaltige Entwicklung. Wir hoffen, dass seine Aussa-gen und Empfehlungen auch in der tatsächlichen Gesetz-gebung ihren Nachhall finden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächster erhält das Wort der Kollege Dr. Matthias

Miersch, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist, glaube ich, ein sehr positives Signal, dass wirnach den teilweise hitzigen Debatten, die wir heute Mor-gen über die Rente und die Energiepolitik – und somitauch über Fragen der Nachhaltigkeit – geführt haben,

nun fast alle der Meinung sind, dass die Einrichtung desParlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklungwichtig ist.

Mit der Bildung dieses Parlamentarischen Beirats set-zen wir einen Weg fort, der von der alten Bundesregie-rung begonnen worden ist. Bereits im Jahre 1992 hatsich die internationale Staatengemeinschaft auf der Kon-ferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro zumLeitbild der nachhaltigen Entwicklung bekannt. ImJahr 2002 hat die rot-grüne Bundesregierung unter demTitel „Perspektiven für Deutschland“ die nationale Stra-tegie für eine nachhaltige Entwicklung beschlossen.Auch der Koalitionsvertrag zwischen SPD, CDU undCSU sieht als Ziel und Maßstab des Regierungshandelnsdie Förderung einer nachhaltigen Entwicklung auf natio-naler, europäischer und internationaler Ebene vor.

An der breiten Unterstützung für die Einrichtung desParlamentarischen Beirats wird deutlich, dass wir ein ge-meinsames Ziel verfolgen. Ich glaube, das, was meineVorredner betont haben, ist richtig: Aus dieser Gemein-samkeit ergeben sich für dieses Gremium Chancen, so-wohl was die Form der Zusammenarbeit als auch wasden Inhalt betrifft.

Wir sitzen alle im selben Boot. Nun haben wir dieMöglichkeit, in diesem Gremium unabhängig von derAlltagspolitik mittel- und langfristige Politikansätze zuentwickeln. Diesen gemeinschaftlichen Ansatz solltenwir in den Mittelpunkt der Arbeit rücken. Bei dieser Ar-beit dürfen wir nicht – Herr Kauch hat das zu Recht an-gesprochen – auf bevorstehende Wahlen schielen.Ebenso darf sie nicht von plötzlichen Ereignissen ge-prägt sein, auf die die Politik immer nur reagiert. Wirmüssen in diesem Beirat vielmehr in eine aktive Rollekommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Arbeit mussso angelegt sein, dass sie auch unter anderen Koalitions-bedingungen fortgesetzt werden kann und nicht vonknappen Mehrheiten abhängig ist; das ist zumindest un-ser Ziel. Deshalb muss unsere Arbeit darauf gerichtetsein, die Beschlüsse nach Möglichkeit gemeinsam zufällen. Gleichzeitig darf der Begriff der Nachhaltigkeitnicht zur Worthülse gelangen – wie in manchem Werbe-slogan heute. Der Beirat ist insbesondere Anwalt nach-folgender Generationen. Herr Kollege Krings, ichstimme Ihnen voll zu: Dieser Beirat muss auch unbe-quem sein, er muss die nachfolgenden Generationen imBlick haben und kann sich nicht nur an gegenwärtigenInteressen orientieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mit der Einsetzung des Parlamentarischen Beiratesim Januar 2004 hat der Deutsche Bundestag erstmals ak-tiv in diesen Dialog eingegriffen. Ich möchte mich imNamen der SPD-Fraktion an dieser Stelle ganz herzlichbei den Mitgliedern des letzten Beirates für ihre Arbeit

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2653

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Dr. Matthias Miersch

bedanken. Diese Arbeit hat den Boden bereitet, auf demwir jetzt aufbauen können. Im Bericht des Beirates vom7. September 2005 wird eine positive Bilanz gezogen,aber gleichzeitig werden auch Schwächen benannt: zumBeispiel die fehlende formale Beteiligung am Gesetzge-bungsverfahren oder die geringe Anzahl der Beiratsmit-glieder. Die Anzahl der Beiratsmitglieder ist erhöht wor-den, sodass der Aufbau eines Berichterstattersystemsmöglich ist. Die Stellung des Beirats hat sich dagegennicht wesentlich verändert. Ich meine, dass wir alle hiergefordert sind: Der Beirat darf keine Alibiveranstaltungwerden. Die Verzahnung mit den Fachausschüssen istvorhanden. Es wird an uns als handelnden Personen lie-gen, welche faktische Stellung der Beirat erhält.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich habe die Hoffnung, dass die große Bedeutung derNachhaltigkeit in diesem Haus allgemein anerkannt wirdund wir keine formale Absicherung dafür brauchen, da-mit wir tatsächlich Gehör finden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der letzte Beirat hatte sich vor der Ankündigung derNeuwahlen vorgenommen, wichtige Themen vorzube-reiten bzw. anzugehen, zum Beispiel die demografischeEntwicklung und ihre Auswirkungen auf die Infrastruk-tur oder auch die Frage der Generationengerechtigkeit.Die Vorbereitungen sind gemacht. Wir sind aufgerufen,diese Themen nun aufzugreifen und ihre Behandlungfortzusetzen.

Vier Aspekte sollten aus meiner Sicht Säulen unsererzukünftigen Arbeit sein. Erstens: der interdisziplinäreAnsatz. Wir haben in diesem Beirat die Chance, fächer-übergreifend Nachhaltigkeitsprinzipien zu entwickelnund zu vertreten. Gleichzeitig kann dadurch ein aus-schussübergreifender Einfluss geltend gemacht werden;Grenzen einzelner Ressorts können überwunden werden.

Zweitens. Wir können über den Tellerrand hinausbli-cken und mit den Ländern und den Kommunen und auchmit den Parlamenten anderer Staaten zusammenarbeiten.Wir alle wissen: Zur Lösung elementarer Probleme sindheute häufig globale Strategien gefragt, nicht nur im Um-weltbereich. Die Arbeit des letzten Beirats hat gezeigt,dass man voneinander lernen kann. So verweist der Beiratzum Beispiel auf Schweden und Finnland, wo mit Gene-rationenbilanzen – Herr Kauch hat es angesprochen – dieBelastungen und Leistungen für nachfolgende Genera-tionen politikübergreifend dargestellt werden können undso ein Nachhaltigkeitscheck eingeführt werden kann.

Dritte Säule: Teilhabe- und Kommunikationsplatt-form. Der Dialog mit gesellschaftlichen und politischenInitiativen außerhalb des Parlaments ist meines Erach-tens eine weitere wichtige Säule, die wir nutzen sollten.

Viertens. Letztlich gilt es die Chancen der Nachhaltig-keitsstrategie zu betonen. Es wird an uns liegen, immerwieder darauf hinzuweisen, dass in einer Nachhaltigkeits-strategie enorme Chancen liegen, dass Umweltvorsorgeund soziale Gerechtigkeit wichtige Voraussetzungen für

unser Wachstum darstellen und Ökologie, Ökonomie undSoziales keine Gegensätze sind. In allen drei Bereichenliegen Bausteine für eine zukunftsfähige Entwicklung un-seres Staates. Auf dieser Grundlage sollten wir die Arbeitaufnehmen. Viel Arbeit liegt vor uns – wir freuen uns da-rauf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächster hat das Wort der Kollege Lutz

Heilmann, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Über Nachhaltigkeit wird in diesem Haus viel gespro-chen. Selbst die Bundesregierung behauptet ständig,dass ihre Politik nachhaltig ist.

Was aber ist Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit ist einLeitbild, eine regulative Idee. Daraus ergibt sich für un-ser Handeln eine prinzipielle Anweisung, dieses so zuorganisieren, dass wir nicht auf Kosten der Natur, ande-rer Menschen, anderer Regionen oder anderer Genera-tionen leben.

(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Dannmüsst ihr mal das eigene Wahlprogrammdurchlesen!)

Es geht also um eine faire Abwägung der ökologischenAnforderungen und der sozialen Gerechtigkeit mit denwirtschaftlichen Erfordernissen und deren gleichberech-tigte Berücksichtigung. Dazu gehört auch, die Teilhabevon Bürgerinnen und Bürgern auszubauen. Die Demo-kratisierung alltäglicher politischer Entscheidung ist un-trennbar mit einer nachhaltigen Entwicklung verbunden.

Erfüllt die Mehrheit dieses Hauses mit ihrer Politikdiesen Anspruch? Ich meine: Wohl kaum. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der CDU/CSU, der SPD, derFDP und dem Bündnis 90/Die Grünen, Sie richten sichmit Ihrer Politik einseitig an den Interessen der Wirt-schaft aus. Ökologische und soziale Belange bleiben zu-meist auf der Strecke.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen ist die Bundesrepublik Deutschland interna-tional schon lange kein Vorreiter im Umweltschutz mehrund nimmt die soziale Spaltung der Gesellschaft stetigzu. Ich nenne einige Beispiele:

Die geplante Aufweichung des Kündigungsschutzesführt dazu, dass immer mehr Menschen die Zukunft un-sicherer erleben werden. Durch die Agenda 2010 – ins-besondere Hartz IV – werden noch mehr Menschen inArmut gebracht.

(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Jetzt ha-ben wir es geschafft: Wir sind jetzt wieder beiHartz IV!)

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Lutz Heilmann

Durch die Kürzung der Renten – wir haben es heute Vor-mittag diskutiert – wird vielen Menschen ein würdigesLeben im Alter genommen. Der ohnehin windelweicheAtomausstieg wird ständig infrage gestellt, obwohl dieGefahren der Atomkraft nicht beherrschbar sind. Zur Er-innerung: In diesen Tagen jährt sich die Katastrophe vonTschernobyl zum 20. Mal. Ich frage Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der CDU/CSU: Übernehmen Siedie politische Verantwortung, wenn es in der Bundesre-publik Deutschland zu einem GAU kommt? HerrMißfelder, Ihre Einlassung von eben schreibe ich ganzeinfach Ihrem jugendlichen Alter zu. Mit 22 Jahren un-terlag auch ich noch solchen Irrtümern.

(Jörg Tauss [SPD]: Lesen Sie mal vernünftignach! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er ist26 Jahre alt! – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Er hat keinen Schülerausweis mehr!)

Durch die Föderalismusreform wird im Umwelt-recht ein Kompetenzwirrwarr geschaffen, durch den derUmweltschutz auf das Abstellgleis abgeschoben wird.Der Naturschutz wird de facto auf dem Altar der Wirt-schaft geopfert. Anstatt die Beteiligungsrechte auszu-bauen, sollen diese durch das Planungsbeschleunigungs-gesetz systematisch abgebaut werden. Die Bürgerinnenund Bürger sowie die Verbände sind in ihren Augen an-scheinend lästige Querulanten, die die Arbeit der Behör-den behindern.

Das alles geschieht für die Steigerung der Unterneh-mensgewinne, insbesondere der der großen Konzerne.Die Linke wird daher auch in Zukunft für eine Politikstehen, die die Bezeichnung „nachhaltig“ verdient. Auchim Beirat für nachhaltige Entwicklung werden wir einGarant dafür sein, dass die soziale und die ökologischeFrage nicht wie so oft hinten herunterfallen.

(Beifall bei der LINKEN)

In Sonntagsreden einer nachhaltigen Entwicklung dasWort zu reden und im Plenumsalltag das Gegenteil zutun, geht nicht zusammen. Darauf werde ich und wirdunsere Fraktion die Menschen aufmerksam machen.

Zum Beirat der letzten Legislaturperiode will ich nuranmerken, dass der neue Beirat sowohl aufgrund derzahlenmäßigen Aufstockung als auch durch das Aus-scheiden der bisherigen Vorsitzenden wirklich ein völligneuer Beirat sein wird. Wir können aber nicht einfach daweitermachen, wo Sie in der letzten Legislaturperiodeaufgehört haben. Ohne alles infrage stellen zu wollen,beansprucht unsere Fraktion ein Mitspracherecht bei derAuswahl der künftig zu behandelnden Themen.

Die Rechte, die Sie dem Beirat zugestehen wollen,reichen nicht aus. Ich befürchte, dass der Beirat erneutnur ein zahnloser Tiger sein wird. Einen neuen Debat-tierklub ohne politischen Einfluss braucht dieses Landallerdings nicht.

(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])

Unser Anspruch ist es, die Politik des Bundes zu beein-flussen, damit sie wirklich nachhaltig wird.

Im Übrigen finde ich es bedauerlich, dass Sie mein-ten, den vorliegenden Antrag ohne uns einbringen zumüssen. Dies ist umso enttäuschender, weil es doch dasPrinzip einer nachhaltigen Entwicklung ist, gemeinsamund im Konsens aller Beteiligten nach Lösungen zu su-chen. Diese gemeinsame Suche haben Sie bereits vorBeginn unserer Arbeit schwer belastet. Trotz seiner be-schränkten Rechte unterstützen wir die Schaffung einesparlamentarischen Gremiums, das sich über die nachhal-tige Entwicklung Gedanken macht.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wie gütig! Immerhin!)

Daher müssen Sie damit rechnen, dass auch die„Schweinebande“, wie uns kürzlich der Kollege Grindelvon der CDU/CSU nannte, dem Antrag zustimmen wird.

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Da ha-ben Sie etwas verwechselt! – Jörg Tauss[SPD]: Das müssen wir aber mal richtig stel-len!)

Das ersparen wir Ihnen nicht.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege

Winfried Hermann.

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ganz persönlich und für meine Fraktion möchteich sagen, dass wir uns freuen, heute den Parlamentari-schen Beirat zum zweiten Mal im Deutschen Bundestagfraktionsübergreifend einzurichten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Ich will mich ausdrücklich bei denen in der Koalitionbedanken, die sich dafür eingesetzt haben; denn es warnicht selbstverständlich, dass dem Wunsch des Beiratesaus der letzten Legislaturperiode nach Fortsetzung seinerArbeit von der neuen Koalition Rechnung getragen wirdund sich dafür wieder eine Mehrheit findet. Ich weiß,dass einige von Ihnen in Ihren Fraktionen und insbeson-dere bei Ihren Geschäftsführern dafür kämpfen mussten.Es war gut, dass Sie das getan haben; darüber freuen wiruns. Ich sage das ganz ohne Häme, weil ich weiß, dasswir in den zwei Legislaturperioden zuvor auch mit unse-rer rot-grünen Mehrheit durchaus Schwierigkeiten hat-ten, einen solchen Beirat einzurichten.

Warum eigentlich? Der Kollege Krings hat gesagt, einsolcher Beirat sei in diesem Parlament ein Fremdkörper.Ich möchte ihn gerne leicht korrigieren und erklären: Erwird von manchen Geschäftsführern und anderen tradi-tionellen Parlamentariern als ein Fremdkörper empfun-den.

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Unver-schämte Unterstellung!)

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Winfried Hermann

Das ist der Fehler. Auch im Parlament muss ein Be-wusstsein dafür entstehen, dass wir im parlamentari-schen Verfahren neue institutionelle Formen brauchen,um die neuen großen Herausforderungen und Quer-schnittsaufgaben neu und anders anzugehen.

(Beifall des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD])

– Danke schön.

(Heiterkeit bei der SPD)

Das haben wir hiermit angestrebt und erreicht.

Es wäre allerdings schön gewesen, wenn demWunsch entsprochen worden wäre, dem Beirat mehrKompetenzen zu geben. Gerade die Vertreter der JungenUnion haben sich für eine Art Zukunftsausschuss miterweiterten Kompetenzen stark gemacht, sodass manauch die Gesetzgebung der anderen Ausschüsse hättekommentieren können. Bedauerlicherweise hat der Ge-schäftsführer der CDU/CSU dies verhindert, sodass diesnicht durchgesetzt werden konnte. Wir werden aber ge-meinsam mit Ihnen dranbleiben; denn auf Dauer mussdieser Beirat mehr sein und erweiterte Kompetenzen er-halten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

Der Beirat hat in der letzten Legislaturperiode – erhatte nur knapp zwei Jahre Zeit – gezeigt, dass ein parla-mentarischer Ort zur Beteiligung an der nationalenNachhaltigkeitsstrategie dringend notwendig ist. Zwarheißt es gemeinhin, dass sich alle Ausschüsse mit Nach-haltigkeit beschäftigen, und es wird gefragt, warum esüberhaupt noch einen Beirat geben muss. – Es hat sichjedoch gezeigt: Wenn es keine institutionelle Veranke-rung dieses Themas gibt, dann ist die Gefahr groß, dasses unter den Tisch fällt.

Wir haben dafür gesorgt, dass in die Nachhaltigkeits-strategie weitere Themen aufgenommen worden sind,zum Beispiel die Energieversorgungsstruktur – das ha-ben wir vorher debattiert –, neue Kraftstoffe, neue An-triebssysteme. All das sind Initiativen des Beirats zurNachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Ein ande-res Thema – das wurde lange unterschätzt – sind diePotenziale älterer Menschen. Aber auch dieses Themaist in die Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen wor-den. Dies war ebenfalls ein Impuls aus dem Beirat.

Wir haben also tatsächlich auf eine ganze Reihe voninhaltlichen Punkten aufmerksam machen können. Wasmir auch wichtig ist: Wir haben gezeigt, dass es im Par-lament möglich ist, einen inhaltlichen Diskurs zu führenund sogar hart in der Sache zu streiten, ohne sich ständigpersönlich zu beleidigen. Wir haben darüber hinaus klargemacht, dass man bei Zukunftsfragen in einem frak-tionsübergreifenden Konsens zu gemeinsamen Positio-nen kommen kann. Kollege Kauch, Sie haben es gesagt:Dabei kann man an der einen oder anderen Stelle auchdeutlich machen, dass es Unterschiede gibt. Das soll imBeirat nicht vertuscht werden.

Zu den neuen Themen. Wir haben vorgeschlagen– das ist von verschiedenen Rednern und Rednerinnenaufgegriffen worden –, das Thema demografischerWandel und Infrastruktur aufzugreifen, aber ebennicht in klassischer Form, sondern im Sinne von Genera-tionenbilanzen, also eines sehr grundlegenden Ansatzes.

Wenn Kollege Krings feststellt, die Parlamente hättenbisher in der Haushalts- und Finanzpolitik zu selten andie nachfolgenden Generationen gedacht, dann mussman auch fragen, ob bei der Infrastrukturplanungrichtig und grundlegend nachgedacht wurde. Zum Bei-spiel stellt sich die Frage, ob die Infrastruktur, die wiruns leisten, auch in zehn oder 20 Jahren noch bezahlbarund zukunftsfähig ist. Auch solche Fragen werden wiraufgreifen müssen.

Das gilt auch für die Indikatoren. Es gibt eine Reihevon Indikatoren, die sehr traditionell sind und wenigüber die Zukunftsfähigkeit unserer Politik aussagen. Ichhalte es für notwendig, an dieser Stelle weiter zu diffe-renzieren und zu debattieren.

Das richte ich auch bewusst an den Kollegen derLinkspartei, mit dem ich die Auffassung teile, dass man,wenn man einen neuen diskursiven Politikansatz wagt,nicht eine Fraktion ausgrenzen darf. Das muss mit demheutigen Tag beendet sein. Was den Antrag angeht, ha-ben wir das noch durchgehen lassen. Ab heute sind Sieaber in der Debatte mit dabei.

Dann ist allerdings die Erwartung an Sie angemessen,dass Sie auch Ihre eigene Politik einem Nachhaltigkeits-check unterziehen und nachfragen, ob Ihre Sozialpolitiknachhaltigkeitstauglich ist. Auch das muss angegangenwerden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derSPD)

Sie sehen, es gibt eine Menge zu tun.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben uns einiges vorgenommen. Wir haben Vor-

schläge zu einem neuen Beirat vorgelegt. Die Grünenwerden sich konstruktiv an diesem Dialog beteiligen.Darüber hinaus muss aber auch klar sein, dass auf diesenDialog eine praktische Politik folgt und dass in diesemHause verstärkt nachhaltige Politik gemacht wird.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege

Dr. Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich freue mich, dass ich es erleben darf, dass derKollege Hermann die Junge Union für einen Vorstoßlobt. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese Auszeich-nung in diesem Hohen Haus.

Sie haben mir aber auch eine Steilvorlage für dieFraktion Die Linke gegeben, Kollege Hermann. Bei derAusgrenzung kommt es ganz darauf an: Wenn sich dieLinke bei den Themen selbst ausgrenzt – das wurde beidieser Rede deutlich –, dann hoffen meine Kolleginnenund Kollegen von CDU und CSU alle zusammen, dassdie Linksfraktion keine nachhaltige Erscheinung in die-sem Hause sein wird. Es wird sich zeigen, ob Sie in die-sem Beirat konstruktiv mitarbeiten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein Vorwurf an uns Politiker lautet immer wieder,dass wir nur in Legislaturperioden bzw. in Vierjahres-zeiträumen denken können. Ich denke, die Einsetzungdes Parlamentarischen Beirates ist ein Beweis dafür,dass wir langfristig denken und über den Tellerrand hi-nausschauen. In der nächsten Legislaturperiode wirdsich die Wichtigkeit dieses Beirats dadurch erweisen, obplötzlich alle Kollegen bei der Besetzung der Aus-schüsse und Beiräte als erste Priorität diesem für dienachhaltige Entwicklung so wichtigen Gremium beitre-ten wollen. Ich denke, wir können in diesem HohenHaus zeigen, dass wir zukunftsfähige und zukunftsfestePolitik machen.

Ich schließe mich der Formulierung der JungenGruppe der CDU/CSU-Fraktion an, die den Beirat alsZukunftsausschuss bezeichnet hat. Herr Kollege Kauch,wir haben uns letztes Mal deswegen nicht beteiligenkönnen, weil wir einen anderen Weg wählen wollten. In-sofern halte ich an dem Begriff „Zukunftsausschuss“fest.

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist häufig strapaziertworden. Ich kann zwar mit dem philosophischen Ansatzmeines Kollegen Krings nicht mithalten,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das geht uns ähnlich!)

rufe aber trotzdem in Erinnerung, dass der Begriff derNachhaltigkeit 1713 von Carl von Carlowitz bezogenauf den Waldbau und die Landwirtschaft eingeführtwurde.

(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Inzwischen gab es schon eine Diskus-sion! Es hat sich weiterentwickelt!)

Ich erinnere aber auch daran, dass in der Folgezeit inder Vergangenheit unseres Landes viele nachhaltige po-litische Entscheidungen getroffen wurden. Ich darf dreiBeispiele nennen. An erster Stelle ist die Nachhaltigkeitder politischen Entscheidungen unter Bismarck mit derEinführung der Sozialsysteme zu nennen. Wir sindjetzt gefordert, die Sozialsysteme so zu reformieren, dasssie zukunftsfest werden.

Der zweite Punkt ist: Nach dem Zweiten Weltkrieghat Ludwig Erhard die Entscheidung für die sozialeMarktwirtschaft getroffen. Sie hat unser Land und un-seren Standort geprägt. Nun steht vielleicht eine neueAusrichtung der sozialen Marktwirtschaft an. Die Unionhat in den letzten Jahren auf diesem Gebiet schon sehrviel parteiprogrammatische Arbeit geleistet. Vielleichtkönnen wir die neue Ausgestaltung der sozialen Markt-wirtschaft auch im Parlamentarischen Beirat thematisie-ren.

Der dritte Punkt ist: Unter der Führung von HelmutKohl wurde die Entscheidung für ein vereintesDeutschland getroffen. Das hat ebenfalls unser Landgeprägt.

Nun stehen wir an einer Wegscheide. Die Auswahlder Themen im Parlamentarischen Beirat wird für dieGestaltung der Zukunft durch politische Entscheidungenwesentlich sein. Ich denke, es handelt sich hierbei umeine Querschnittsaufgabe. Wir, die Mitglieder des Par-lamentarischen Beirats, müssen uns die Frage stellen, woSchnittmengen bestehen. Das sollten wir in den erstenSitzungen analysieren. Die Vorleistungen in der letztenLegislaturperiode haben dazu schon einiges beigetragen.Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Beispielenennen. Wir müssen uns – das wurde heute noch nichtvertieft; ich schließe mich grundsätzlich den Plänen, derThemenauswahl und den Analysen an – mit der gesell-schaftspolitischen Frage nach der Abwanderung jungerMenschen in verschiedenen Regionen unseres Landes,vor allem in den neuen Bundesländern, und mit derFrage nach der Chancengerechtigkeit für junge Men-schen beschäftigen. Wie muss das Leben ausgestaltetwerden, wenn sich die Gesellschaft in den betroffenenRegionen aufgrund der Tatsache verändert, dass nurnoch Ältere da sind?

In diesem Zusammenhang geht es auch um Innovatio-nen im medizinischen Hochtechnologiebereich. Wiemuss in Zukunft die Betreuung älterer Menschen ausse-hen, wenn es nicht mehr genügend junge Menschengibt? Können wir die Abwanderung stoppen? UnsereAufgabe sollte sein, das zu analysieren. Es gibt sehrviele Sozialraumgutachten, die wir dabei verwendenkönnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es werden auch einige Verkehrspolitiker Mitgliederdes Beirates sein. Für sie sind insbesondere Fragen nachder Infrastruktur und der Mobilität von Bedeutung.Sicherlich werden wir andere Schwerpunkte setzen alsdie Grünen. Wir brauchen aber eine Themenpalette, mitder alle leben können. Ich pflichte dem Kollegen vonden Grünen bei, dass wir im Beirat die Themen frak-tionsübergreifend erörtern sollten. Ich hoffe, dass wirentsprechende Beschlüsse fassen werden.

Bildung, Forschung und Innovation sind Punkte, diemir besonders am Herzen liegen. Wer sich – wie ich ges-tern – das T-Com-Einfamilienhaus in der LeipzigerStraße, das komplett auf Hightech umgestellt wurde, an-schaut, der weiß, welche Fragen sich in diesem Bereichstellen. Wie sehen die neuen Lebensformen und die Ver-

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Dr. Andreas Scheuer

netzungen aus? Man wird sich auch fragen müssen, vorwelchen neuen Herausforderungen man im BereichBauen und Wohnen steht. Hier wartet sehr viel Arbeitauf uns.

Ein weiterer Punkt sind die Fragen betreffend dieIntegration. Hier werden die Differenzen zwischen denFraktionen am größten sein. Wir werden uns anschauenmüssen, welche Fehler gemacht wurden. Wir werdenuns sicherlich mit den Grünen über das Scheitern derMultikultigesellschaft streiten. Aber ich bin überzeugt,dass wir zu Ergebnissen kommen werden, die sich sehenlassen können.

Ich appelliere: Wir sollten fraktionsübergreifend ver-suchen, die Themen fein säuberlich zu gliedern und dieKollegen aus den einzelnen Fachbereichen mit guten Ar-gumenten zu versorgen. Ich freue mich jedenfalls auf dieArbeit.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zum Abschluss dieser Debatte hat das Wort der Kol-

lege Heinz Schmitt, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Heinz Schmitt (Landau) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist natürlich nicht ganz einfach, als letzterRedner einer Debatte, in der durchweg Konsens besteht,etwas Neues zu sagen. Ich freue mich genauso wiemeine Vorredner darüber, dass es uns auch in der16. Legislaturperiode gelungen ist, den Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung einzurichten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lieber Kollege Scheuer, ich möchte die Debatte unddie Arbeit ohne Vorbehalte gegen die Linken und dieGrünen beginnen. Wir sollten uns an der Sache orientie-ren, bar jeglicher Ideologien und Blicke zurück. Es sollteausschließlich um die Inhalte gehen. Egal wer sich kon-struktiv beteiligt, wir sollten von vornherein die Zusam-menarbeit und nicht die Abgrenzung zum Ziel haben.

Sie alle haben zu Recht darauf hingewiesen, dassNachhaltigkeit mehr als Ökologie und mehr als Klima-politik ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass nachhal-tige Entwicklung im globalen Dorf wie auch hier bei unsin Deutschland unverzichtbar ist. Es gibt heute keine Po-litikbereiche mehr – wenn es überhaupt jemals welchegab –, in denen man alleine vor sich hin wursteln konnte.Die Aufgaben heißen Vernetzung, Abschätzung der Fol-gen und Visionen für die Zukunft. Das alles gehört in ei-ner verantwortungsvollen, also in einer nachhaltigen Po-litik zusammen. Im Bereich der Medizin spricht mansehr oft von ganzheitlicher Betrachtung. Wir braucheneine ganzheitliche Betrachtung der Erde und unsererAufgaben im Zusammenhang dessen, was wir zu beratenund zu beschließen haben.

(Beifall bei der SPD)

In diesem Sinne wird dieser Beirat Stellung beziehen.Er wird beraten, anregen, nachhaltige Entwicklung för-dern und vorantreiben. Wir brauchen den Erfahrungs-austausch mit anderen Ländern und Volkswirtschaften.Wir sollen und müssen Menschen und Organisationenmitnehmen, die sich über die Politik hinaus für die nach-haltige Entwicklung engagieren. Der Beirat wird einenwichtigen Beitrag dazu leisten, nachhaltige Ziele im par-lamentarischen Geschehen zu verankern.

Dabei ist der Beirat selbst, streng genommen, wenigernachhaltig; denn wenn er erfolgreich arbeitet, wenn sichalso Politik grundsätzlich an den Leitlinien der nachhal-tigen Entwicklung ausrichtet, dann macht er sich – ichsage es einmal positiv – selbst überflüssig. Aber ichdenke, das wird noch eine Zeit lang dauern, bis wir soweit sind.

Oftmals steht beim Thema „nachhaltige Entwick-lung“ das Ökologische noch im Vordergrund. Aber wirhaben es heute schon mehrfach gehört: Nachhaltige Ent-wicklung geht weit über Ökologie hinaus. Es geht umgesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Belange.Es geht auch um Bildung – das haben Sie gesagt, HerrScheuer – und um die Verbesserung unseres Schulsys-tems. Es geht darum, mehr Arbeitsplätze für Jugendlichezu schaffen. Es geht um eine erstklassige Forschung undLehre an Hochschulen, lebenslanges Lernen und dieQualifizierung von älteren Arbeitnehmern. Es geht umSoziales und Familie. Es geht in einer Gesellschaft, dieimmer älter wird, um eine gute Gesundheits- und Alters-vorsorge. Es geht darum, junge Familien, die Kinderwünschen, zu unterstützen. Es geht um Gleichberechti-gung und vor allen Dingen auch – ein aktuelles Thema –um Integration.

(Beifall bei der SPD)

Es geht um Innovation in der Technik, um neue Arbeits-plätze, um erneuerbare Energien. Es geht auch um diehohen Zuwachsraten bei nachhaltigen Produkten wieetwa in der Landwirtschaft.

Es geht um globale Verantwortung. Es geht umSchonung der Ressourcen, von Energie, aber auch vonanderen Rohstoffen, die zunehmend knapp werden. Esgeht um den Erhalt der biologischen Vielfalt. UnserBlick muss auch in andere Länder gehen, die andere,aber keineswegs schlechtere Wege für die eigene Ent-wicklung finden müssen. Denn wollte die ganze Welt soleben, wie wir es heute in den Industriestaaten tun,bräuchten wir vermutlich mehr als zwei Erden, um denBedarf zu decken.

Es geht also auch darum, Alternativen zu unserer der-zeitigen Lebens- und Wirtschaftsweise zu finden und zuentwickeln. Nachhaltige Entwicklung ist also auch heuteschon eine pure Notwendigkeit, wenn wir nicht sehen-den Auges in große Probleme geraten wollen.

Wir müssen heute die Weichen dafür stellen, wie wirin Zukunft leben wollen. Noch können wir auf vielenGebieten beeinflussen, welches Gleis wir dabei befahren

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Heinz Schmitt (Landau)

wollen. Darin liegt der eigentliche Reiz unserer Arbeit,der Arbeit des Beirates für nachhaltige Entwicklung.

Es geht also um große Chancen: wirtschaftlicheChancen, gesellschaftliche Chancen, vielleicht auch kul-turelle Chancen. Denn mancher ist zurzeit auf der Suchenach neuen Werten, nach einer neuen Leitkultur. Nach-haltigkeit im kulturellen Bereich bietet vielleicht großeChancen und große Perspektiven.

Nachhaltige Entwicklung muss – das habe ich vorhingesagt – natürlich über Parteigrenzen hinweg eine Ant-wort geben. Deshalb greife ich die Einrichtung des Bei-rates in dieser Legislaturperiode als ein erfreuliches, einpositives Signal auf, ein Signal, bei dem wir uns in die-sem Hause grundsätzlich einig sind.

Ich freue mich auf Ihre Impulse, auf konstruktive An-regungen, auf viel Arbeit mit den anderen parlamentari-schen Gremien. Es wird an uns liegen, welches Gewichtder Parlamentarische Beirat in Zukunft haben wird. Ichhoffe, wir bekommen diese Stimme – unsere Stimme –oft zu hören. Ich hoffe auf offene Ohren bei allen Kolle-ginnen und Kollegen des Bundestages. Ich hoffe darauf,dass wir alle noch skeptische Kolleginnen und Kollegenmit unserer Arbeit in der Zukunft überzeugen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit ist die Aussprache beendet.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1131 zurEinsetzung eines Parlamentarischen Beirats für nachhal-tige Entwicklung. Wer stimmt für diesen Antrag? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist damiteinstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird dieÜberweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5942 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Buchpreisbindungsgesetzes

– Drucksache 16/238 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)

– Drucksache 16/1118 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dorothee BärMonika GriefahnChristoph WaitzDr. Lukrezia JochimsenKatrin Göring-Eckardt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort derKollegin Dorothee Bär, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dorothee Bär (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtemich zu Beginn meiner Rede bei allen beteiligten Aus-schüssen und bei allen Fraktionen für die sehr gute Zu-sammenarbeit bei der Änderung des Buchpreisbindungs-gesetzes bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist nett!)

– Ich möchte mich auch beim Kollegen Tauss persönlichbedanken. Auch wenn er nicht ganz so involviert war,hat er sich persönlich angesprochen gefühlt. Herr Tauss,also auch Ihnen herzlichen Dank!

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten derCDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]:Ich war unglaublich involviert!)

Die große Einigkeit in unserem Haus bei diesemThema zeigt, wie wichtig und wie wertvoll uns allen einehochwertige Ausbildung unserer Kinder ist. Hochwertigund wertvoll sollen dabei weiterhin die Lehrmittel, indiesem Fall die Bücher, sein. Dazu waren Änderungenam bestehenden Buchpreisbindungsgesetz notwendig,nachdem in einigen Bundesländern das Büchergeld ein-geführt worden war.

Die Fraktionen stimmen darin überein, dass eine Neu-regelung sinnvoll ist und vor allem möglichst schnellumgesetzt werden muss. Das ist vor allem deswegennotwendig, weil das neue Schuljahr in einigen Bundes-ländern bereits Mitte August beginnt und die Sammel-rabatte zum Schuljahresbeginn unabhängig von der Fi-nanzierungsart gewährleistet werden sollen.

Ich halte unsere Änderungen des Buchpreisbindungs-gesetzes für beispielgebend, weil durch die Änderungdes Gesetzes aufgrund des Büchergeldes einzelne Fra-gen geregelt werden, die in der Praxis zu Problemenoder zu Auslegungsschwierigkeiten geführt haben.

Auf der Regierungsbank ist es etwas unruhig.

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das liegt abernur an Herrn Gabriel! – Peter Hintze, Parl.Staatssekretär: Es war so spannend!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir dachten uns, dass es so spannend war. Aber viel-

leicht können Sie diese Spannung noch ein bisschen fürsich behalten.

Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich glaube, dass die Regierung auch beim Buchpreis-

bindungsgesetz noch etwas lernen kann.

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Dorothee Bär

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Wir haben dem Gesetzentwurf aus der ersten Lesungdrei zentrale Punkte hinzugefügt: erstens die Verhinde-rung des Missbrauchs bei rabattiertem Verkauf von Män-gelexemplaren, zweitens die ungerechtfertigte Rabattie-rung von Neuauflagen und drittens die Erweiterung derNachlassregelung für Schulbücher von Privatschulen.Besonders auf den letzten Punkt wird meine KolleginRita Pawelski nachher noch ausführlich eingehen.

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Da freuen wir uns schon!)

Insbesondere die Neuregelungen bei Rabatten aufNeuauflagen und bei Mängelexemplaren halte ich fürsehr wichtig, weil dadurch vor allem kleine Buchhand-lungen geschützt werden, die sich nicht an großen Ra-battaktionen beteiligen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JörgTauss [SPD]: Sehen Sie! Das war unsere ge-meinsame Idee!)

– Genau, Herr Tauss: Das war unsere Idee. Das habenwir gemeinsam großartig zustande gebracht.

(Jörg Tauss [SPD]: Loben wir uns doch ein-mal!)

Es ist ganz besonders wichtig, die kleinen Buchhand-lungen zu schützen. Sie garantieren uns doch eine Viel-falt und eine besondere Auswahl an Büchern, die diebreit gefächerte Literaturszene in Deutschland ausmacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Der Wert des Lesens und der Wert von Büchern, indiesem Fall besonders von Schulbüchern, wird – auchwenn ich es persönlich für schade halte – von einigen je-doch erst dann erkannt, wenn sie dafür selbst zahlenmüssen. Diesem Verfall von Werten müssen wir geradein den Schulen entgegenwirken, in denen das Lesen vonBüchern nicht zur alltäglichen Arbeit gehört. Das zeigtnicht nur die aktuelle Diskussion über die Rütli-Schulehier in Berlin, sondern das ist auch in sehr vielen vorhe-rigen Diskussionen erkennbar gewesen. Wir wollen die-ses Problem aber auf keinen Fall hinnehmen, sondernsetzen uns damit auseinander, weil es uns wichtig ist,dass das Lesen als Wert in unserer Gesellschaft mehr an-erkannt wird und besser geschützt werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der Abg. Priska Hinz [Her-born] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Dies gilt ganz besonders unter dem Aspekt, dassDeutschland auch weiterhin, wie wir es ja wohl wollen,als das Land der Dichter und Denker assoziiert wird.Deshalb schützen wir die Autoren und die Verlage durchdie Buchpreisbindung und aktualisieren gemeinsam undstetig dieses Gesetz.

Die Änderungen am Buchpreisbindungsgesetz sindwieder ein Beispiel für das unkomplizierte und pragma-tische Vorgehen. Ein Kollege hat vorhin gesagt: Diezweite und dritte Lesung finden jetzt schon statt. Da wart

ihr aber recht schnell. – Dass wir das so schnell hinbe-kommen haben, war auf jeden Fall der großen Einigkeitgeschuldet, die ich mir in diesem Hohen Hause öfterwünschen würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – JörgTauss [SPD]: Das hätten Sie schon früher ha-ben können! – Monika Griefahn [SPD]: Beider Buchpreisbindung waren wir uns auchschon beim letzten Mal einig!)

– Herr Tauss, Sie hätten es auch schon früher haben kön-nen. Aber jetzt ist es ja gut. Besser spät als nie.

(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn[SPD]: Bei der Buchpreisbindung waren wiruns auch schon beim letzten Mal einig!)

– Da waren Sie sich auch schon einig; okay.

Schutz von Literatur und erschwingliche Schulbücherfür unsere Kinder liegen uns allen am Herzen. Deshalbmöchte ich Sie alle ganz herzlich um die Zustimmung zudiesem Gesetzentwurf bitten und darf mit einem WortGerhart Hauptmanns schließen:

Die Kultur der Menschheit besitzt nichts Ehrwürdi-geres als das Buch, nichts Wunderbareres undnichts, das wichtiger wäre.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP sowie der Abg. Priska Hinz [Herborn][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Christoph

Waitz.

(Jörg Tauss [SPD]: Aber jetzt keine Schärfe, Herr Waitz!)

Christoph Waitz (FDP): Schauen wir mal!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Rechtzeitig vor dem kommenden Schuljahrsoll die Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes vomBundestag beschlossen werden. Hintergrund dieser Eileist die Sorge einzelner Bundesländer, dass die Vorausset-zungen für einen gesetzlichen Rabatt beim Kauf vonSchulbüchern nicht mehr vorliegen könnten. Ursachedafür ist, dass in Bundesländern wie Bayern, Hamburg,Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt Elternzukünftig einen Anteil an dem Kaufpreis der Schulbü-cher leisten sollen, der den öffentlichen Anteil über-steigt.

(Jörg Tauss [SPD], zur CDU/CSU gewandt:Lauter schwarze Länder! Da müssen wir wastun!)

– Herr Tauss, da haben Sie eine schöne Aufgabe.

Dazu ist nicht viel zu sagen. Allein, es bleibt festzu-stellen, dass die schleichende Aushöhlung der Lernmit-telfreiheit in diesen Bundesländern fortschreitet. Trotzdem

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Christoph Waitz

sehen wir von der FDP-Fraktion keinen Anlass, der vor-gelegten Gesetzesänderung in diesem Punkt unsereZustimmung zu versagen. Die desolate Lage vieler Län-derhaushalte ist vielmehr Grund genug, dieser Gesetzes-änderung zuzustimmen, damit mit dem gesetzlichen Ra-batt öffentliche Gelder eingespart und hoffentlich besserinvestiert werden können.

(Beifall bei der FDP)

Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf wurden jetztauch die freien Träger allgemein bildender Schulen indie Rabattklausel aufgenommen. Ich begrüße das aus-drücklich; denn freie Schulen erfüllen in Deutschlandeine ganz wesentliche Funktion: Sie ergänzen das Bil-dungsangebot unseres öffentlichen Schulwesens. Aktuellbesuchen rund 800 000 Schüler freie Schulen, davon390 000 Schüler eine Einrichtung in konfessioneller Trä-gerschaft. Freie Schulen sind daher auch Ausdruck einesWahlrechts unserer Bürger. Sie können ihre Kinder miteinem anderen inhaltlichen Schwerpunkt oder nach ei-nem anderen pädagogischen Konzept unterrichten las-sen. Damit stellt das Angebot der freien Schulen auchden notwendigen Wettbewerb her, der der Qualitätsver-besserung unserer öffentlichen Schulen nur förderlichsein kann.

Ein weiterer Grund ist in den letzten Jahren für die El-tern hinzugekommen. Viele Eltern wollen ihre Kinder inWohnortnähe einschulen und unterrichten lassen. Dieimmer kleiner werdende Anzahl von Kindern in unseremLand führt dazu, dass sich insbesondere die Flächenstaa-ten aus der flächendeckenden Versorgung mit Schulenverabschieden. Dies betrifft aktuell mehr Länder im Os-ten Deutschlands, aber eine vergleichbare Entwicklungist auch in den westlichen Bundesländern absehbar. Dasbedeutet für die betroffenen Eltern, dass sie ihre Kinderzum Teil über beträchtliche Entfernungen in die nächsteSchule bringen müssen oder ihren Kindern mit demSchulbus einen zeitlich erheblich längeren Schulweg zu-muten müssen. Selbst wenn das Bildungsangebot an die-sen Mittelpunktschulen nicht notwendigerweise schlech-ter sein muss, so ergeben sich doch weitere Nachteiledurch erhöhte Schülerzahlen pro Klasse und eine gerin-gere soziale Kontrolle in den Schulen.

Freie Träger für die von der Schließung bedrohtenSchulen sind eine realistische Alternative, die nur darankrankt, dass die regionalen Schulämter diese Konkur-renz fürchten und daher bei der Zulassung der Schulen infreier Trägerschaft ausgesprochen zurückhaltend sind.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die Länder machen die Gesetzedafür!)

– Sie kommen gleich dran. – Für mich ist es daher einschönes Zeichen, wenn in dem neuen Buchpreisbin-dungsgesetz öffentliche Schulen und Schulen in freierTrägerschaft gleichberechtigt nebeneinander genanntwerden. Hoffentlich wird diese nötige Gleichbehandlungder freien Schulen auch auf Länderebene durch die Regi-onalschulämter umgesetzt.

Vier weitere Änderungen des Buchpreisbindungsge-setzes werden vorgeschlagen. Auch jetzt weiß ich noch

nicht, wie damit die Motive der Bundesregierung, näm-lich Stärkung des Kulturgutes Buch und Erhaltung derVielfalt der Verlags- und Buchhandelslandschaft, umge-setzt werden sollen.

Aber wir begrüßen die Einführung der Kennzeich-nungspflicht für Mängelexemplare; denn der bislanggeltende Wortlaut ermöglichte Spielräume zur Umge-hung der Buchpreisbindung. Die neue Regelung dientdazu, Missbrauch der Mängelexemplarregelung zu un-terbinden.

(Jörg Tauss [SPD]: Richtig!)

Wir begrüßen die Einführung einer Räumungsver-kaufsklausel, die die Liquidation einer Buchhandlungerleichtert. Der noch vorhandene Lagerbestand kann soauf einfache Art und Weise verkauft werden.

(Beifall bei der FDP)

Zukünftig sollen nach dem Gesetzentwurf Büchervon der Buchpreisbindung ausgenommen werden dür-fen, deren Erscheinen länger als 18 Monate zurückliegt.Es handelt sich hier um eine Kannregelung. Damit wer-den Situation vermieden, in denen sowohl eine preisge-bundene als auch eine nicht preisgebundene Auflage ei-nes Buches auf dem Markt erhältlich sein kann.

Wir hoffen, dass mit dem geänderten Gesetzestext dieArbeit in der Praxis einfacher wird – auch wenn wir da-mit das Kulturgut Buch vermutlich nicht stärken werden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir wollen es stärken!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächste hat die Kollegin Monika Griefahn, SPD-

Fraktion, das Wort.

Monika Griefahn (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Ich denke, wir in Deutschland können stolz sein,dass es uns in der Kultur- und Medienpolitik in den letz-ten Jahren immer wieder gelungen ist, starke Pfosten fürdie Kulturförderung einzuschlagen. Das Buchpreisbin-dungsgesetz 2002 ist dabei ein wichtiger Baustein – FrauBär, wir hatten damals dieses Gesetz bereits einstimmighier im Bundestag verabschiedet –; denn wir haben da-mit eine einzigartige Vielfalt von Büchern und einegroße Zahl von Buchhandlungen bewahrt. Das gibt es invielen Ländern nicht.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

In dem Film „E-Mail für Dich“ wurde – wer ihn gesehenhat, weiß das – der Verdrängungskampf großer Buch-handlungsketten in den USA gegenüber kleinen, gedie-genen Buchhandlungen, in denen man noch beratenwird, sehr deutlich. Ich fand immer, der Film war einegute Empfehlung, wenn man deutlich machen wollte,warum es sich lohnt, für das Buchpreisbindungsgesetzeinzutreten; man kann ihn noch heute empfehlen.

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Monika Griefahn

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Frau Bär sagte es schon: Wenn wir uns als Volk derDichter und Denker bezeichnen lassen wollen, dann istes nur konsequent, kulturpolitisch auch die Vorausset-zungen dafür zu schaffen. Ich glaube anders als Sie, HerrWaitz, dass wir mit dem Buchpreisbindungsgesetz tat-sächlich einen Teil dazu beitragen, das Buch als Kultur-gut zu schützen. Das Buch kann als sinnlich wahrnehm-bares, erlebbares Element, als haptischer Gegenstanddurch ein E-Buch nicht ersetzt werden.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] und desAbg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

Ein Buch zum Beispiel im Zug in die Hand zu nehmenund zu lesen, vermittelt etwas anderes, als dies ein E-Buch könnte.

Auch eine Buchhandlung auf dem Lande, wo ichwohne, hat eine besondere Bedeutung.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stimmt!)

Das ist auch ein Treffpunkt. Dort gibt es Lesungen, datreffen sich Leute, da wird nebenbei auch beraten, dieVerkäuferinnen und Verkäufer geben die neuesten Emp-fehlungen. Das gibt es nur in den flächendeckend ver-teilten kleinen Buchhandlungen und nicht in den Kauf-hausketten in den großen Städten oder bei einerBestellung über E-Bay oder Amazon. Deswegen sind siewichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum ersten Mal kam die Buchpreisbindung auf denPrüfstand der Europäischen Kommission, nachdem derösterreichische Handelskonzern Libro ein Beschwerde-verfahren angestrengt hatte. Er war nämlich von einigendeutschen Verlagen nicht mehr beliefert worden, nach-dem er Bücher im Internet 20 Prozent unter dem offiziel-len Preis angeboten hatte. Ich glaube, wir müssen uns andiese Geschichte noch einmal erinnern, damit deutlichwird, warum es sich lohnt, für das Buchpreisbindungsge-setz zu kämpfen.

Wir haben das Buchpreisbindungsgesetz deshalb2002 wie Frankreich, Österreich und die Schweiz verab-schiedet. Wichtig ist, dass unter dieses Gesetz neben Bü-chern auch Musiknoten, kartografische Produkte undProdukte, die mit Büchern kombiniert sind, wie zumBeispiel CD-ROMs und Lernkassetten, fallen. Das wis-sen viele Leute nicht; aber auch das ist ein notwendigesElement, gerade im Unterricht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

Mein Kollege Tauss hat in der ersten Lesung auf diewichtigen Ziele hingewiesen. Er hat mit eindrucksvollenZahlen unterstrichen, wie wichtig das Erreichen dieserZiele ist.

Wir wollen die große Vielfalt und die hohe Qualitätdes Buchangebots in Deutschland sichern. Schauen Sieeinmal in andere Länder, in denen es kein Buchpreisbin-

dungsgesetz gibt. Da bekommen Sie zwar unter Umstän-den preiswerte Taschenbücher – im Paperbackformat,billig gedruckt –, aber es gibt keine aufwendig ausgestat-teten Bücher und – auch das muss man bedenken – keinewissenschaftlichen Bücher zu erschwinglichen Preisen.Diese Bücher können Sie unter Umständen in Amerikavon Universitätsverlagen nur zu einem sehr hohen Preiskaufen. Die Quersubventionierung geht nur bei Buch-preisbindung. Auch deswegen ist sie so wichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir wollen in kleinen und mittleren Orten in der Pro-vinz die Buchhandlungen erhalten. Auch dafür brauchtman die Buchpreisbindung. Wir wollen außerdem – auchdas wurde noch nicht gesagt – eine angemessene Vergü-tung für die Urheber, für die Autorinnen und Autorensowie die Übersetzer. Das geht aber nur, wenn man miteinem Buch einen bestimmten Preis erzielt.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Im anderen Fall würden die Honorare immer weiter sin-ken.

Das Schöne an der Buchpreisbindung ist, dass sie vonallen Seiten Zustimmung findet. Die Verleger, die Auto-ren und die Buchhändler sind der Ansicht, dass es richtigist, Bücher nicht mit üblichen Handelswaren gleichzu-setzen, sondern sie als Kulturgut zu schützen. Ichglaube, auf diesen wichtigen Punkt müssen wir hinwei-sen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ebenfalls da-rauf hinweisen, dass wir in der Koalitionsvereinbarungden ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent fürBücher festgeschrieben haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Ein guter Vorschlag des Staatsministers!)

Ich glaube, auch dieser Hinweis ist wichtig. Denn vielewissen nicht, dass Kultur und Medien für diese Regie-rung eine wichtige Rolle spielen.

Für die Schulbuchfinanzierung ist wichtig, dass dieSchulbücher gemeinsam angeschafft werden, damit wei-terhin Rabatt gewährt werden kann. Bisher hieß es, dassSammelrabatt für Schulbücher gewährt wird, wenn dieSchulbücher „überwiegend von der öffentlichen Handfinanziert werden“. Jetzt soll es möglich sein, dass dieermäßigten Preise auch für die Eltern, die die Bücherselber bezahlen müssen, gewährleistet sind. Diese wich-tige Information, dass wir heute dieses Gesetz verab-schieden, sollten die Kolleginnen und Kollegen in ihrenWahlkreisen weitergeben, damit in den Schulen die Bü-cher gemeinsam bestellt werden und so die Rabatte inAnspruch genommen werden können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – JörgTauss [SPD]: Da sollten wir noch ein Rund-schreiben machen!)

– Genau, das machen wir heute auch noch.

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Monika Griefahn

Die Privatschulen, die nach den Schulgesetzen denStatus staatlicher Ersatzschulen haben, sollen dieseMöglichkeit ebenfalls haben. Das finde ich wichtig,sonst wäre es nicht sinnvoll, dass sie staatlich anerkanntsind.

Wir haben die Kennzeichnungspflicht bei Mängel-exemplaren dahin gehend geändert, dass nur nicht ein-wandfreie Bücher als Mängelexemplare mit Rabatt ver-kauft werden können. Auch das ist ein Schutz für diekleineren Buchhandlungen. Damit stellen wir eine flä-chendeckende Versorgung sicher, was ebenfalls sehrwichtig ist.

Im Räumungsverkauf ältere Titel anbieten zu können,ist auch ein wichtiger Punkt. Häufig gab es die Situation,dass für eine unveränderte Neuauflage die Buchpreisbin-dung galt, während die Exemplare der alten Auflage ver-ramscht wurden. Das kann nicht angehen. Wenn eineAuflage unverändert bleibt, dann fallen auch die altenBücher unter die Buchpreisbindung. Auch das ist einwichtiger Punkt, um einen Missbrauch zu verhindern.

Dass die Buchpreisbindung für Ausgaben aufgehobenwird, deren erstes Erscheinen länger als 18 Monate zu-rückliegt, ist wichtig, damit die Buchhändler weiter pla-nen können, wenn die Verleger ihre Bücher nicht mehrzurücknehmen. Damit wird das Kulturgut Buch nicht ge-fährdet. Aber es eröffnet die Möglichkeit, neue Titel auf-zunehmen. Das alles sind wichtige Elemente.

Ich glaube, dass die Handelsketten, die einen starkenVerdrängungswettbewerb aufgrund der Masse der ver-kauften Bücher ausüben, immer wieder darauf hingewie-sen werden müssen, dass die Buchhandlungen in derFläche wichtig sind und dass der Wettbewerb nicht zueiner Verdrängung dieser kleinen Buchhandlungen füh-ren darf. Wir werden diese Entwicklung weiterhin be-gleiten. Wenn Änderungen notwendig sind, werden wirsie durchführen.

Wir wollen die breite Vielfalt. Eine Buchhandlung, inder man sich trifft, in der man miteinander spricht und inder man beim Bestellen eines Schulbuchs nebenbei nochein Buch für die Kinder kauft, stellt einen wichtigen kul-turellen Beitrag dar, der vor Ort geleistet wird. Deswe-gen kämpfe ich dafür, dass jede Buchhandlung in derFläche erhalten bleibt,

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir auch!)

genauso wie eine Bäckerei oder ein Lebensmittel-geschäft.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Sehr guteRede, Frau Griefahn!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Es scheint im Moment die Stunde der gegenseiti-gen Belobigungen zu sein.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Weitermachen! Nicht aufhören! – RitaPawelski [CDU/CSU]: Loben Sie uns mal!Machen Sie das mal!)

Die Fraktionen arbeiten wunderbar. Der Wert des Lesenswird gewürdigt. Die kleinen Buchhandlungen werdengeschützt und gefördert. Es wird Sie nicht verwundern:In diesem Zusammenhang kommt natürlich sofort auchein Bekenntnis unserer Fraktion dazu, dass wir dieBuchpreisbindung für ein unverzichtbares Instrumenthalten, um das Kulturgut Buch allen zugänglich zu ma-chen.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Wissen um den Wert der Bücher für die Bildung unddie Entwicklung eines jeden Menschen und vor allemder Heranwachsenden haben wir uns stets dafür einge-setzt, Bücher aus der Logik des Marktradikalismus undder Profitmaximierung herauszuhalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun diskutieren wir heute im Grunde gar nicht überden Wert und die Bedeutung der Buchpreisbindung,auch wenn wir uns formalrechtlich mit einer Änderungdes Buchpreisbindungsgesetzes befassen. Wir haben unsvielmehr mit einem bildungspolitischen Thema vonhöchster Problematik auseinander zu setzen. Das ist beiIhnen nur in Nebensätzen erwähnt worden. Die Kolleginvon der CSU sprach nur allgemein von der Bücherrege-lung und beschrieb gar nicht, was damit gemeint ist.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Oh doch, das hat sie gesagt! Sie haben nurnicht zugehört! – Rita Pawelski [CDU/CSU]:Das hat sie doch gemacht!)

Es geht um die um sich greifende Abschaffung derLernmittelfreiheit in unserem Land.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich weiß, dass das in der Verantwortung der Länderliegt. Bereits fünf Bundesländer haben die Regelung ein-geführt, wonach sich die Schüler bzw. die Eltern an derBezahlung der Schulbücher in einem Umfang von mehrals 50 Prozent beteiligen müssen. Dadurch ist die Sam-melrabattklausel gefährdet und nur deswegen müssenwir uns heute im Grunde genommen formalrechtlich mitder Buchpreisbindungsproblematik befassen. Den Nach-lass von 8 bis 15 Prozent für Schulbücher, die nun nichtmehr überwiegend von der öffentlichen Hand finanziertwerden, wollen wir für Eltern und Schüler erhalten undretten. Das ist richtig und deswegen setzen wir unsmehrheitlich für den vorliegenden Gesetzentwurf ein.

Wir müssen aber auch darauf hinweisen, dass mit deninsgesamt für den Kauf von Schulbüchern zur Verfügungstehenden Mitteln in Zukunft immer weniger Bücher an-geschafft werden können; es sei denn, die Eltern und dieSchüler steigen finanziell ein. Wir werden zwar der Ge-

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Dr. Lukrezia Jochimsen

setzesänderung zustimmen, damit der Preisnachlass beiSchulbüchern ungeachtet der Höhe und des Umfangs derprivaten Mitfinanzierung erhalten bleibt. Den Eltern undden Schülern wird jetzt ein geringer Sammelrabatt ge-währt. Aber die Frage ist: Werden sie in Zukunft nichtverstärkt an der Finanzierung der Bücher beteiligt wer-den? Werden sie nicht verstärkt die Bücher selbst kaufenmüssen? Die Entwicklung, die diese Gesetzesänderungnotwendig macht, ist aus unserer Sicht hoch problema-tisch, weswegen sich einige Mitglieder unserer Fraktionbei diesem Gesetzesvorhaben enthalten werden.

Wenn heute bereits in fünf Bundesländern die Elternbzw. volljährige Schüler einen Teil der Kosten für dieSchulbücher selbst tragen müssen, dann hat das natürlichFolgen. Diese Folgen sind: noch größere sozialeUngleichheiten beim Zugang zur Bildung. Da kannman dann noch so schöne Worte über den Wert des Bu-ches und des Lesens verlieren. Dies heißt letztlich: einenoch größere soziale Ungleichheit beim Zugang zur Bil-dung. Das ist schon heute das Hauptproblem unseresBildungssystems. In allen internationalen Vergleichsstu-dien werden wir davor gewarnt, den Weg der sozialenUngleichheit beim Zugang zur Bildung und zu Büchernfortzusetzen.

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Es wird keinersozial benachteiligt! Es gibt eine Dritte-Kind-Regelung! Das stimmt alles nicht, was Sie sa-gen!)

– Die internationalen Studien zeigen auf, dass die Ver-hältnisse in unserem Land auseinander gehen. SozialeBildungsdeterminanten sind dabei sehr wichtig.

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Keiner muss unter sozialer Ungleichbehandlung leiden!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Jochimsen, ich würde auf diese Zurufe

jetzt nicht reagieren; denn Sie haben Ihre Redezeit über-schritten und müssen zum Ende kommen.

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Ich komme zum Schluss. – Eine sozial gerechte Bil-

dung kann nur bei umfassender und ausreichender Fi-nanzierung durch die öffentliche Hand gewährleistetwerden. Die Privatisierung der Bildungskosten – mitSammelrabatt oder ohne – führt genau in die falscheRichtung.

Danke sehr.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ausrufezeichen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/

Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Esherrschte schon bei der ersten Debatte über den Gesetz-

entwurf und auch heute ein großer Konsens darüber,welche Korrekturen notwendig sind, und über die Rege-lungen, die getroffen werden sollen. Auch im federfüh-renden Kulturausschuss wurde den vom Bundesrat vor-geschlagenen und von der Bundesregierung ergänztenÄnderungen in großer Einigkeit zugestimmt.

Heute ist wieder deutlich geworden, dass ein ausge-prägtes Bewusstsein für Sinn und Zweck des Buchpreis-bindungsgesetzes besteht. Frau Jochimsen, es geht auchdarum, die einzigartige Vielfalt der Verlags- und Buch-handlungslandschaft in Deutschland zu erhalten unddas Buchangebot für eine breite Öffentlichkeit zugäng-lich zu halten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Auch wir, die Grünen, bekennen uns ausdrücklich zuder dem Buchpreisbindungsgesetz zugrunde liegendenIdee, wonach das Buch in erster Linie nicht Wirtschafts-gut, sondern Kulturgut ist und wonach der Zugang zudiesem Medium insbesondere auch in ländlichen Gebie-ten durch entsprechende Buchhandlungen gewährleistetwerden muss.

(Christoph Waitz [FDP]: Aber darum geht es doch gar nicht!)

Frau Griefahn, sogar in Großstädten besteht das Pro-blem, dass große Buchhandlungen kleine Buchhandlun-gen verdrängen. Der Wettbewerb ist in vollem Gange.Mit dem Buchpreisbindungsgesetz schaffen wir es im-merhin, dass in ländlichen Regionen noch ein vielfälti-ges Angebot vorherrscht. Wir wollen das beibehalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Zuruf von der Linken: Ihr wollt doch Wettbe-werb!)

In diesem Sinne gilt es, den gleichberechtigten und brei-ten Zugang zu kultureller Bildung zu erhalten und damitLeseförderung zu betreiben.

Ich halte es für richtig, deutlich zu machen, wie wich-tig Bücher sind, gerade weil sie Kinder ansprechen.Wenn man daran denkt, wie Kinder Bilderbücher in dieHand nehmen, dann erkennt man, dass ein Computer– Gott sei Dank – nicht mithalten kann. Deswegen ist esnotwendig, dass wir dieses Gesetz beibehalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Allerdings werden nun Änderungen vorgenommen,damit Rabatte bei Sammelbestellungen von Schul-büchern auch dann möglich sind, wenn mehr als50 Prozent der Schulbuchkosten von Eltern oder volljäh-rigen Schülern übernommen werden. Es ist leider Tatsa-che, dass in vielen Bundesländern eine Eigenbeteiligungeingeführt wird. Frau Jochimsen, wir im Bundestag kön-nen – so bedauerlich das auch ist – nichts daran ändern.Unabhängig von Ihrer politischen Haltung dazu sindauch wir der Meinung, dass die Lehr- und Lernmittel-freiheit ein hohes Gut ist. Wir sollten es deshalb den El-tern vonseiten des Bundes nicht noch schwerer machen,sondern ihnen das Leben erleichtern, indem wir diese

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Priska Hinz (Herborn)

Rabattregelung ermöglichen. Deswegen stimmen wirdiesem Gesetzentwurf zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der CDU/CSU und der SPD – WolfgangBörnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vernünftig!)

Bliebe die alte Regelung bestehen, könnten mit der glei-chen Geldsumme noch weniger Bücher angeschafft wer-den.

Wir halten es auch für richtig, dass die Privatschulenin die neue Nachlassregelung einbezogen werden sollen,weil die Kinder nicht mehr und nicht weniger als Kinderan staatlichen Schulen wert sind.

Wir halten auch jene Punkte, die die Bundesregierungin Ergänzung eingebracht hat, für richtig: die Einführungeiner Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare, denEinbau einer Räumungsverkaufsklausel und die Klar-stellung hinsichtlich der Buchpreisbindungsregel bei un-verändertem Nachdruck eines Buches.

Wenn der Bundesrat und die Bundesregierung einmalsinnvolle Vorschläge machen, dann stimmen wir als Op-position gerne zu.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja selten genug!)

Es wird wahrscheinlich nicht so oft vorkommen, aberheute stimmen wir gerne zu.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Pawelski,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Rita Pawelski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Bücher verursachen vieleWirkungen: Sie bilden, sie regen zum Träumen undNachdenken an, sie polarisieren und stacheln auf, siekönnen aber auch verbinden: Jung und Alt, Mann undFrau, Ost und West und neuerdings auch Koalition undOpposition.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Wolfgang Börnsen [Bönstrup][CDU/CSU]: Kluge Rede!)

Das haben die Beratungen des vorliegenden Gesetzent-wurfes gezeigt. In seltener Harmonie und Einigkeithaben wir uns auf das Wichtigste und Wesentlichstegeeinigt. Das Buchpreisbindungsgesetz wird den verän-derten Rahmenbedingungen angepasst. Es wird eine ge-setzliche Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplaregeben; es wird eine spezielle Räumungsverkaufsklauseleingeführt und es wird die Regelung zur Aufhebung derPreisbindung klargestellt. Meine Kollegin Dorothee Bärhat darüber schon ausführlich berichtet.

Die zahlreichen Verlage und Buchhandlungen in un-serem Land werden von diesen Maßnahmen profitieren.Der missbräuchliche Handel mit Büchern wird erschwertund der Buchmarkt weiter gestärkt. Das ist gut so. Nochbesser ist, dass der Gesetzgeber schnell gehandelt hat,um Fehlentwicklungen abzuwehren. Besonders wichtigist aber: Mit dem Gesetz werden auch die Voraussetzun-gen der Rabattpflicht bei Sammelbestellungen preisge-bundener Schulbücher geändert; das ist § 7 des Buch-preisbindungsgesetzes. Das wurde notwendig, weil sicheinige Bundesländer aus finanziellen Gründen von derLernmittelfreiheit verabschieden mussten; übrigens,Frau Jochimsen, Berlin auch. Rot-Rot hat die Lernmit-telfreiheit abgeschafft; auch hier in Berlin müssen Elternetwas zuzahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU – WolfgangBörnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Eine zutref-fende Bemerkung!)

Herr Tauss, auf Ihren Zwischenruf, falls er denn kom-men sollte – er hat sich vorhin schon angedeutet –,möchte ich sagen:

(Heiterkeit)

Ich würde mit Ihnen gern über die niedersächsischeSchulpolitik diskutieren, nicht über die Schulpolitik die-ser, der CDU-geführten Landesregierung, sondern dieder vorhergehenden Regierung.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Gehen Sie in die Offensive!)

Mein Kronzeuge, der ehemalige Ministerpräsident, sitztja hier auf der Regierungsbank. Er wird bestätigen kön-nen, was in diesem Bereich damals alles schief gelaufenist.

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Der hört nur leider nicht zu!)

Durch die wegfallenden Rabatte wären Eltern – daswurde eben schon sehr gut gesagt – zusätzlich belastetworden, und das schon ab dem nächsten Schuljahr. Wirhaben das verhindert und das ist prima.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Neu ist: In den Genuss der Rabatte kommen jetztauch die allgemein bildenden Privatschulen, wenn sieden Status staatlich genehmigter Ersatzschulen besitzen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist auch gerecht so!)

Auch ihnen müssen die Verkäufer Rabatte bei Sammel-bestellungen gewähren; in der Regel sind das zwischen8 und 15 Prozent. Der Bundesverband Deutscher Privat-schulen ist erfreut über die fraktionsübergreifendeZustimmung – endlich Politiker, die schnell agieren undzupacken. Das herzliche Dankeschön gebe ich an Siealle hiermit weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

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Rita Pawelski

Meine Damen und Herren, unsere Schulen in freierTrägerschaft leisten qualitativ hochwertige Arbeit undsorgen für pädagogische Vielfalt und für Wettbewerb.Sie sind bei den Eltern und, wie ich höre, auch bei denSchülern sehr beliebt. Das zeigen die steigenden Schü-lerzahlen. Es ist schon bemerkenswert, dass sie nachdem Pisaschock deutlich nach oben gegangen sind: Um11 Prozent sind die Schülerzahlen bei den Privatschulengestiegen.

Was sind Privatschulen? Oft wird gesagt: Das sindEliteschulen nur für Reiche. Das stimmt nicht. Es gibt207 Hauptschulen in diesem Bereich, an denen über25 000 Jugendliche unterrichtet werden. An diesenSchulen – wir haben gerade in den letzten Tagen erfah-ren, wie schlimm die Situation an manchen Hauptschu-len ist – wird eine sehr gute, auch sehr gute integrativeArbeit geleistet. Privatschulen sind integrierte Gesamt-schulen; das sind Abendgymnasien, Kollegs; das sindaber auch Waldorfschulen. An insgesamt 180 Waldorf-schulen werden 75 000 Schülerinnen und Schüler unter-richtet. Und: Privatschulen sind auch Konfessionsschu-len, die eine sehr, sehr gute Arbeit leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Sie alle profitieren von der neuen Regelung und erhaltenSchulbücher künftig mit Rabatt.

Ich freue mich, dass wir diese Änderungen gemein-sam und einvernehmlich durchgesetzt haben, und ichhoffe, dass diese Einigkeit in diesem Hause kein einma-liger Vorgang ist, sondern dass wir an anderen wichtigenStellen genauso gemeinsam arbeiten.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowieder Abg. Angelika Brunkhorst [FDP] und derAbg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf des Bundesrates zur Änderung des Buchpreisbin-dungsgesetzes auf Drucksache 16/238. Der Ausschussfür Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/1118, den Gesetzentwurfin der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, SylviaKotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Nie wieder Tschernobyl – ZukunftssichereEnergieversorgung ohne Atomkraft

– Drucksache 16/860 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gestern hat sich der Umweltausschuss in einer öffentli-chen Sitzung mit dem GAU in Tschernobyl vor 20 Jah-ren befasst. Gäste waren Wissenschaftler, Botschafterund die ersten Vorsitzenden des damals installiertenAusschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit.

Wissenschaftler differieren trotz ihrer Faktenbezo-genheit in ihren Aussagen und Einschätzungen genausowie wir Politiker. So zelebrierten sie für uns gestern eineAuseinandersetzung über die Frage, von wie vielenToten man infolge des GAUs tatsächlich reden könnte.Ich will heute als Erstes sagen, dass ich diesen Streit derStatistiker müßig und für die politische Bewertung über-flüssig finde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Dimension dessen, was dort passiert ist, macht sichnicht an der faktischen Anzahl der Toten fest. Für diepolitische Bewertung ist auch nicht relevant, ob dieMenschen an den direkten Folgen der Strahlung gestor-ben sind, ob eine Krankheit, die sie sowieso schon hattenoder bekommen hätten, durch die Strahlung intensiviertwurde, oder ob sie Selbstmord begangen haben, weil siedie persönlichen oder gesellschaftlichen Veränderungennicht verkraften konnten. All diesen Menschen wurdeihr Recht auf Leben durch eine von niemandem ge-wollte, aber dennoch von Menschen gemachte Katastro-phe gravierend beschnitten. Die gesellschaftliche Di-mension des Unfalls ist bis heute nicht fassbar. DerWirtschaftsattaché der deutschen Botschaft in Minsk,Wolfgang Faust, hat dazu gestern gesagt, dass dort eineganze soziokulturelle Tradition verschwunden ist.

Die für uns entscheidende Frage ist, welche Konse-quenzen wir aus dem Unfall von Tschernobyl ziehen.Hieran scheiden sich die Geister in Wissenschaft wiePolitik. Für manche lautet die Konsequenz, gute

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Sylvia Kotting-Uhl

deutsche Technologie so weit wie möglich zu exportie-ren. Wir Grünen ziehen bekanntermaßen eine andereKonsequenz. Wir halten es für richtig, dass mit Deutsch-land ein hoch industrialisiertes Land zeigt, dass man aufeine hoch entwickelte Technologie verzichten kann,wenn man das ihr immanente Restrisiko für nicht hin-nehmbar hält.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Restrisiko bleibt, auch wenn uns Wissenschaft-ler heute erzählen, dass die nächste zu entwickelnde Ge-neration von Atomkraftwerken – Zitat von gestern – „ka-tastrophenfrei“ laufen kann. Es sind nicht unbedingtdieselben Wissenschaftler wie die, die uns vor 20 Jahrenetwas von der Sicherheit der Anlagen außerhalb der da-maligen Sowjetunion erzählt haben, aber es sind diesel-ben Botschaften. Dagegen steht: Harrisburg 1979,Tokaimura 1999, Paks 2003, Sellafield 2005. Auch beiuns gab es eine Reihe gravierender Störfälle, bei denenein klein bisschen mehr menschliches Versagen zu gra-vierenden Folgen hätte führen können.

Die Sicherheitslage hat sich seit 1986 nicht entschärft.Der 11. September 2001 hat eine zusätzliche Dimensioneröffnet, die Proliferationsgefahr hat sich vergrößert.Den Kollegen, die an dieser Stelle gern sagen, dann hät-ten wir doch den Sofortausstieg fordern müssen – weilsie wissen, dass wir dann gar keinen Ausstieg hätten –,sage ich: Lieber verantworten wir, dass das RestrisikoSchritt für Schritt verringert wird, als ein endloses Ver-harren im Risiko.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Tschernobyl markiert auch 20 Jahre danach den wich-tigsten Grund für den Ausstieg aus der Atomkraft. Erist nicht zu entkräften. Entkräften kann man dagegen allevermeintlich guten Gründe für die weitere Nutzung derAtomkraft. Weder ist Atomstrom billig – ohne die bisheute auf über 100 Milliarden Euro angewachsenen Sub-ventionen wäre er unbezahlbar – noch kann er das Mittelder Wahl gegen den Klimawandel sein. Bei 2,5 ProzentAnteil am weltweiten Endenergieverbrauch müsstenTausende neue AKW gebaut werden, um einen spürba-ren Effekt zu erzielen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

So viel Begeisterung und Kapital für AKWs kann manwirklich nicht erwarten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Länder, die auf einen Energiemix mit viel Atom-strom setzen, führen uns vor, dass durch den atom-stromimmanenten Anreiz zur StromverschwendungTreibhausgase gar keine Chance haben, verringert zuwerden.

Zum letzten beliebten Argument: der Versorgungs-sicherheit. Auch Uran ist endlich. Wirtschaftlich abbau-bar steht es der Welt nicht länger zur Verfügung alsErdöl und Erdgas.

Der Weg zur zukunftsfähigen Energieversorgung sinddie erneuerbaren Energien und Effizienz. Das funktio-niert, schafft Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze,ist auf Dauer billiger als jede andere Form der Energie-erzeugung und verringert globale Konfliktpotenziale.Und es ist der Auftrag, den uns Tschernobyl gibt.

Lassen Sie uns diesen Auftrag in diesem Hohen Hausgemeinsam weiterführen. Ihr Kummer darüber, liebeKolleginnen und Kollegen von der SPD, dass Sie unse-rem Antrag heute nicht zustimmen dürfen, ist bekannt.Bleiben Sie in der Frage des Atomausstiegs standhaft,dann sehen wir Ihnen das heute nach.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – UlrichKelber [SPD]: So wie bisher!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir in diesen Tagen an den Unfall im sowjetischenKernkraftwerk Tschernobyl erinnern, so wollen wir zu-nächst einmal allen Opfern dieses Unfalls unser Mitge-fühl aussprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Gestern im Ausschuss und heute in der Debatte wür-digen wir gleichzeitig das umfangreiche bürgerschaft-liche Engagement, das es gerade auch in Deutschlandgibt. Es ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten sehrviel geleistet worden, um den Betroffenen dieses UnfallsHilfe zu leisten und den Menschen bei der Bewältigungder Folgen zur Seite zu stehen. Dafür gebührt all denje-nigen Vereinen und Institutionen, die sich in diesem Be-reich verdient gemacht haben, unser tiefer Dank. Des-halb sage ich an dieser Stelle, dass unsere Fraktion ander Seite derjenigen steht, die sich besonders in diesemBereich engagiert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Besonders stark ist das Engagement aus Deutschland.Nach wie vor werden Jahr für Jahr 10 000 Kinder vor al-lem aus Weißrussland von Gastfamilien zur Erholungnach Deutschland eingeladen. Bundesweit existieren fast1 000 Initiativen, die den Menschen in den betroffenenGebieten bei der Minderung der Unfallfolgen helfen.Seitens meiner Fraktion hebe ich dieses Engagementnoch einmal hervor.

Angesichts des Leids der Opfer, aber auch des En-gagements, das viele Menschen in unserem Land zeigen,möchte ich allerdings meine Verwunderung darüber aus-sprechen – diese entstand, als ich den Antrag der Grünengelesen habe, und auch, als ich Ihre Rede, Frau Kollegin,gerade gehört habe –, dass Sie den Jahrestag des Tscher-

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Philipp Mißfelder

nobylunfalls zu einer aktuellen politischen Debatte nut-zen. Das finde ich nicht in Ordnung.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – SylviaKotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das ist sehr verwunderlich!)

Denn am heutigen Tag haben wir im Zusammenhang mitden Ergebnissen des Energiegipfels bereits über dasThema Atomenergie gesprochen. Insofern sollte manGedenktage wirklich Gedenktage sein lassen und sienicht politisch – schon gar nicht parteipolitisch – instru-mentalisieren. Das finde ich nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

Der Antrag beschreibt in wenigen Sätzen die Kata-strophe, um anschließend seitenweise die längst bekann-ten Positionen Ihrer Partei zu formulieren.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So lange, bis Sie sie begreifen!)

Beschäftigen Sie sich an einem Gedenktag doch bitte mitdem Thema und arbeiten Sie nicht am Thema vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schon allein dieses Vorgehen macht es uns als Fraktionnicht möglich, Ihrem Antrag zuzustimmen.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aha! – Weiterer Zuruf vomBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da gibt es jaauch noch andere Gründe!)

– Allein das ist es.

Wir haben uns gestern im Ausschuss besonders enga-giert. Sie haben gesehen, wie engagiert die Kollegenmeiner Fraktion in der Diskussion waren. Gestern habenwir zu dem Thema deutlich Stellung bezogen und dasGedenken gewahrt, das ich, wie gesagt, bei Ihnen sonicht sehe.

Ich möchte auf Ihre Argumente eingehen. Zahlreicheinternationale Studien haben bis heute nachgewiesen,dass es neben eindeutigen Mängeln an der Konstruktiondes Reaktors selbst in hohem Maße auch am Betriebs-personal gelegen hat, das unzureichend über die Schwä-chen des Reaktortyps informiert war.

Hinzu kam das mangelnde Sicherheitsbewusstseinder Betriebsmannschaften. Sie hielten sich nicht an diebewährte betriebliche und sicherheitsorientierte Verfah-rensweise und wussten nicht, welches tatsächliche Risi-kopotenzial vorhanden war.

Angesichts des Schicksals der Opfer möchte ich auchauf die Bedingungen unter der sowjetischen Diktaturhinweisen. Dieser Aspekt spielt für die Bewältigung derFolgen dieser Katastrophe eine ganz entscheidendeRolle. Jüngst hat ein Abgeordneter des weißrussischenParlaments die Tage nach dem Unfall aus Sicht eines di-rekt Betroffenen geschildert. Die Politik der sowjeti-schen Führer in Moskau, Kiew und Minsk ist vollerFeigheit gewesen, gepaart mit einer menschenverachten-

den Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Bewoh-ner der Städte und Dörfer um den Unglücksreaktor he-rum.

In den Wochen nach dem Unglück schrieben die sow-jetischen Zeitungen von feindlichen Machenschaften,antisowjetischer Hetze und provokatorischen Gerüchten,die die Feinde der Sowjetunion verbreiten würden. Indieser Situation wurden Schulklassen aus der DDR, alsoaus Deutschland, nach Kiew geschickt, um die leer ste-henden Devisenhotels der ukrainischen Hauptstadt zufüllen. Ich muss wirklich sagen: Das war absolut verant-wortungslos.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist am Thema vorbei!)

An einem solchen Gedenktag muss man sich auch damitbeschäftigen, was das sowjetische Unrechtssystem vie-len Menschen, auch aus Deutschland, zugemutet hat, ge-rade in den Tagen des Tschernobylunglücks.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – SylviaKotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Harrisburg lag nicht in der Sowjetunion!)

Die Behörden waren vom Ausmaß des Unfalls völligüberrascht. Ein großer Fehler war, dass die Hilfsmaß-nahmen zentral aus Moskau gesteuert wurden. Sie wie-sen aus Unkenntnis der konkreten Gegebenheiten, aberauch aus Ignoranz große Unzulänglichkeiten auf. Erst36 Stunden nach der Explosion – das haben wir gesterngehört – wurde als erste Maßnahme die Stadt Pripjat ge-räumt; die übrige 30-Kilometer-Zone folgte erst nachmehr als einer Woche. Für die Bekämpfung des Brandeswaren zunächst nur die 100 Betriebsfeuerwehrleute desKernkraftwerkes sowie örtliche Feuerwehren vorgese-hen, sonst zunächst niemand.

Festzuhalten sind auch die eklatanten Mängel bei deneingeleiteten Rettungsmaßnahmen. So wurden unge-eignete Brandlöscher wie Blei von Hubschraubern inden brennenden Reaktor geworfen. Kurz nach dem Un-fall in Tschernobyl schrieb der weißrussische Schriftstel-ler Adamowitsch einen Brief an Michail Gorbatschow;von Gesprächen mit ähnlichem Inhalt wurde uns gesternauch im Ausschuss berichtet. Darin forderte er den sow-jetischen Parteichef auf, endlich dafür zu sorgen, dasshinreichende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerungergriffen werden. Adamowitsch schrieb in seinem dama-ligen Brief: Es ist hier nicht bloß eine Anlage explodiert,sondern der gesamte Komplex an Verantwortungslosig-keit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus. – Auch die-ses Problem ist direkt nach dem Unglück entstanden.

Zu den Auswirkungen des Unfalls liegt seit Septem-ber letzten Jahres eine ausführliche Studie von mehr als100 Wissenschaftlern vor, die gemeinsam von der Inter-nationalen Atomenergie-Organisation, der Weltgesund-heitsorganisation und dem Entwicklungsprogramm derVereinten Nationen erarbeitet wurde. Die Zahl der To-desfälle könnte sich demnach auf bis zu 4 000 belaufen.Bis Mitte 2005 konnten jedoch nur weniger als 50 Todesfälledirekt auf die Strahlung zurückgeführt werden. Bei ih-nen handelt es sich vor allem um Rettungsarbeiter, diebesonders hoher Strahlung ausgesetzt waren. Viele von

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Philipp Mißfelder

ihnen starben innerhalb weniger Monate nach dem Un-fall.

Besonders aufschlussreich an dieser Studie ist, dassFehlauffassungen und Mythen hinsichtlich der Strah-lungsgefahr auch 20 Jahre nach dem Unfall bei der Be-völkerung einen lähmenden Fatalismus verursachen.Noch immer wissen die Menschen in den betroffenenGebieten zu wenig über die Konsequenzen des Unfalls.Das zu ändern ist eine besondere Aufgabe Deutschlandsund der internationalen Staatengemeinschaft.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was ist denn mit Ihrer Gesund-heitspolitik? Ich denke, wer krank ist, ist selbstschuld!)

20 Jahre nach dem Unfall scheint es grundsätzlich an-gebracht, die Sicht auf die betroffene Region zu ändern.Wir sollten ihre Bewohner nicht länger nur als Opfer be-trachten, sondern ihnen die Möglichkeit aufzeigen, zuUnabhängigkeit und Eigenständigkeit zu gelangen. Dasbetrifft auch politische Debatten, die wir in anderen Zu-sammenhängen führen.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja!)

Wie sind die Folgen der Tschernobylkatastrophefür Deutschland zu bewerten? Festzuhalten ist, dasseine radioaktive Wolke Substanzen bis nach Süd- undOstdeutschland verteilte. Allerdings wurden die zulässi-gen Grenzwerte laut Aussage der Strahlenschutzkom-mission – auch das haben wir gestern gehört – hierzu-lande selbst im ersten Jahr nach dem Unfall nichtüberschritten. Seitdem nehmen sie kontinuierlich ab.Das muss man ebenfalls zur Kenntnis nehmen; denn dassind die Fakten.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ja, genau! Alles ist ganz harmlos!Her mit dem nächsten GAU!)

Aus dem Unglück von Tschernobyl müssen Deutsch-land und die internationale Staatengemeinschaft zweiwesentliche Lehren ziehen – das Entscheidende an die-ser Debatte ist nämlich, nicht Ideologie zu betreiben undAngst zu machen, sondern konsequent daran zu arbeiten,die richtigen Lehren zu ziehen –: Zum einen können wiranderen Ländern nicht vorschreiben, ob sie die Kern-energie nutzen wollen oder nicht. Das ist eben so; darankann man nichts ändern, auch nicht, indem wir es hierbeschließen. Deshalb sollten Sie sich in dieser Frage Ihrunangebrachtes Gefühl moralischer Überlegenheit abge-wöhnen; für pragmatisch ausgerichtete Politik bringt dasnichts. Weil wir anderen Staaten hinsichtlich der Nut-zung der Kernenergie nichts vorschreiben können, müs-sen wir von denjenigen Staaten, die die Kernenergiefriedlich nutzen wollen, eine unabhängige und rechts-staatliche Aufsicht der Anlagen einfordern. Dafür gibtes Organisationen wie die IAEO, an die der Friedensno-belpreis zu Recht gegangen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fanden nicht alle toll!)

Zum anderen muss in Zukunft die Sicherheit bei derKernkraft Vorrang haben. Deshalb ist es richtig, dassDeutschland sich daran beteiligt, auch zukünftig sichereKernkraftwerke weltweit zu garantieren. Es ist richtig,dass die Bundesrepublik Deutschland trotz Atomaus-stieg bei Euratom mitmacht und sich an der Forschungbeteiligt, damit die Kernenergie weltweit noch sichererwird. Dabei hat Deutschland technologisch immer eineVorreiterrolle eingenommen und sollte dies auch zukünf-tig tun.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika

Brunkhorst, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Angelika Brunkhorst (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der

gestern zu diesem Thema durchgeführten Sonderveran-staltung im Umweltausschuss kamen Experten aus denBereichen der Medizin, der Strahlenforschung, derKerntechnik, der nicht staatlichen Hilfsorganisationenund der IAEA in der Beurteilung des Status quo, der zu-künftigen Folgen und der noch bestehenden Risiken desUnfalls in Tschernobyl zu überraschend unterschiedli-chen Auffassungen und Bewertungen. Dazu muss ich sa-gen: Die Diskussion über die Anzahl der Opfer führtpolitisch nicht weiter: Denn jedes Opfer ist eines zu viel.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der SPD)

Der Antrag von Bündnis 90/Grüne stellt die Unfallur-sachen der Katastrophe von Tschernobyl klar dar: dasses sich um einen ganz speziellen sowjetischen Reaktor-typ handelte, den RBMK-Reaktor. Was der Antrag aller-dings nicht transportiert, ist, dass die in der EU gängigenSchwerwasserreaktoren und Leichtwasserreaktoren übereine ganz andere Sicherheitstechnik verfügen. Hiersollte man Tschernobyl nicht dazu missbrauchen, ein un-realistisches Angstszenario aufzubauen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aus der der FDP-Fraktion am gestrigen Tag zugelei-teten Antwort der Bundesregierung auf unsere KleineAnfrage „Bewertung und Auswirkungen des Reaktorun-falls von Tschernobyl“ kann ich an dieser Stelle nur we-nige Antworten der Bundesregierung wiedergeben. Daheißt es unter anderem:

Diese Reaktoren verfügen über zahlreiche Ausle-gungsmerkmale, die mit westeuropäischen Techno-logie- und Sicherheitsstandards nicht vergleichbarsind.

Die für den Unfall in Tschernobyl ursächlichenSchwächen in der Auslegung des Reaktors und die

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Angelika Brunkhorst

in der Vorgehensweise der Betriebsmannschaft of-fenbar gewordene mangelhafte Sicherheitskultursind mit deutschen Standards nicht vergleichbar.

In den in Russland und Litauen in Betrieb befindli-chen Kernkraftwerken mit RBMK-Reaktoren wur-den zahlreiche sicherheitsverbessernde Maßnah-men realisiert …

Die Bundesregierung misst der Sicherheit derAtomkraftwerke in Deutschland höchste Prioritätbei. Im Rahmen der Bundesauftragsverwaltungwird dafür Sorge getragen, dass die deutschenAtomkraftwerke auf dem höchstmöglichen Sicher-heitsniveau betrieben werden.

Da sind wir ganz auf einer Linie.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Antrag der Grünen kommt über die Bekundungder Betroffenheit anlässlich Tschernobyls zum eigentli-chen Hauptmotiv: die Gefährlichkeit der Kernenergie zubeschwören, so zu tun, als ob hinsichtlich der sicher-heitstechnischen Modernisierung bestehender Anlagenüberhaupt nichts getan worden wäre. Das ist unverant-wortlich und erfolgt wider besseres Wissen. Die friedli-che Verwendung mittel- und hochangereicherten Uransmit der Anhäufung waffenfähigen Plutoniums in einenTopf zu werfen und daraufhin neue, unüberschaubareGefahrenpotenziale zu beschwören, ist nicht seriös. Esist Ideologie in Reinform!

(Beifall bei der FDP)

Sie scheuen weder eine Attacke auf die InternationaleAtomenergiebehörde – immerhin Inhaberin des Frie-densnobelpreises – noch, das Horrorszenario der furcht-baren Anschläge des 11. September 2001 für Ihre Zwe-cke zu missbrauchen. Das ist Agitation.

(Beifall bei der FDP)

Stellen wir uns doch vielmehr den Realitäten. Welt-weit wird die deutsche Reaktortechnik als die sichersteüberhaupt eingeschätzt. Unbenommen, dass andereKraftwerkstechnologien und auch die Technologien imHinblick auf die erneuerbaren Energien Potenziale ha-ben und sich ihre Anteile am Energiemix erobern müs-sen und sie auch erhalten werden, so muss man hier docheinmal die Fakten benennen dürfen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Kotting-Uhl?

Angelika Brunkhorst (FDP): Nein.

Mit dem Atomausstiegsgesetz steht Deutschland al-lein in der Welt. Selbst Schweden und die Niederlandesind aus ihrem Ausstieg wieder ausgestiegen. Schweden

und Kanada haben die Laufzeiten auf 60 Jahre erhöht.Weltweit werden derzeit 444 Kernkraftwerke in 31 Län-dern betrieben.

(Ulrich Kelber [SPD]: Dann haben über 140 Länder keine Kernkraftwerke!)

23 Anlagen werden derzeit in zehn Ländern gebaut. Bis2020 sind 38 neue Kraftwerke in Planung. Hören Siejetzt bitte gut zu: Sogar in der Ukraine und in Weißruss-land erwägen die Regierungen, Kernkraftreaktoren zubauen.

(René Röspel [SPD]: Weißrussland ist ein gu-ter Zeuge! – Ulrich Kelber [SPD]: Seit25 Jahren sind es immer die gleichen Planun-gen!)

Nehme ich den Auftrag, für Reaktorsicherheit zusorgen, auf, dann ist es im Hinblick auf die internatio-nale Situation wichtig – das ist der FDP ein besonderesAnliegen –, dass wir in Deutschland in Zukunft wiedermöglichst viele Kernphysiker und Ingenieure ausbilden,die dieses sicherheitstechnische Know-how zur Verfü-gung stellen können.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wenn Sie so weise wären wieProfessor Traube, hätten wir nichts dagegen!)

Ich will jetzt hier noch auf einige Ihrer Argumenteeingehen. Sie bestreiten die Wirtschaftlichkeit der Kern-kraft.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Sie können höchstens noch auf ein Ar-

gument eingehen; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Angelika Brunkhorst (FDP): Ja, das tue ich. – Dann komme ich gleich zum Schluss

und sage, was wir für wichtig halten.

Es ist wichtig, die Reaktorsicherheit zu garantieren.Wir müssen die Menschen informieren und dürfen keineAngst schüren. Wir wollen für alle Energieträger eineOption einräumen und wir meinen, dass gerade Ihre Be-denken ein Ausbremsen der Forschung im Sicherheits-bereich zur Folge hatten. Damit haben Sie genau das ge-fährdet, was Sie eigentlich wollen, nämlich nie wiederTschernobyl.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ja, wahrscheinlich sind wir amGAU schuld!)

Also bitte!

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Niemand will eine Mauer errichten!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Minister für Umwelt, Naturschutz

und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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2670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerKollege Mißfelder hat gefragt, was man aus Tschernobyllernen könne. Ich glaube, eines kann man lernen, dassuns nämlich eine Technologie Schwierigkeiten macht,bei der die Technik und der Mensch immer funktionierenmüssen und bei der Fehler vor allen Dingen nicht beibeiden – bei Technik und Mensch – zum gleichen Zeit-punkt auftreten dürfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Mißfelder, ich glaube schon, dass man diese Erfah-rung aus Tschernobyl ziehen darf.

Vielleicht mache ich mir bei meiner eigenen Fraktionjetzt nur wenige Freunde, aber ich denke, dass es dasauch schon war, was man für die innerdeutscheDebatte über Atomenergie aus Tschernobyl lernenkann. Ich glaube nämlich nicht, dass wir viel weiterkommen, wenn wir immer nur versuchen, unsere eigeneEnergiepolitik anhand eines Reaktorunglücks, das vor20 Jahren stattgefunden hat, zu definieren. Das wird im-mer nur dazu führen, dass sich jeder die Argumente aus-sucht, die ihm gerade in den Kram passen, und wird je-denfalls nicht dazu führen, dass wir einen Schritt weiterkommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deswegen bin ich sehr dafür, dass man diese prinzi-pielle Lehre beachtet. Herr Kollege Mißfelder, dieseLehre hat auf der linken Seite der Koalition eine prakti-sche Konsequenz. Auf Ihrer Seite hat sie nicht diesepraktische Konsequenz. Ich glaube aber, dass uns dieVorsicht, die man bei einem zu starken Sich-Verlassenauf die Technik, den Menschen und vor allen Dingen aufdas Zusammenwirken beider haben sollte, vielleichtdoch zueinander bringen wird. Ansonsten halte ich eineMenge davon, dass wir uns mit Tschernobyl imJahre 2006 auseinander setzen. Ich finde, das wäre derangemessene Umgang gewesen, den ich in Ihrem Rede-beitrag, Frau Kollegin Kotting-Uhl, ein wenig vermissthabe.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir müssen Ihnen ja was übriglassen!)

Man könnte den Eindruck haben, es ginge bei Tscher-nobyl nur um die Frage, wie wir damit in der deutschenDiskussion umgehen. In Wahrheit gibt es dort ein massi-ves Problem. Meine Bitte ist, dass Regierung und Bun-destagsfraktionen in den Ausschussberatungen gemein-sam überlegen, was unser Beitrag dazu sein kann, dieschleppende Umsetzung der Sicherung des Sarko-phages in Tschernobyl zu beschleunigen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das ist ein ernsthaftes Problem. Es steht nicht nur einefrühere Gefährdung von Menschen durch die Reaktorka-

tastrophe im Raum, sondern auch eine aktuelle Gefähr-dung von Menschen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das müssen wir bedenken. Die BundesrepublikDeutschland hat sich mit 60 Millionen Euro an der Si-cherung beteiligt. Die Gesamtkosten liegen bei 800 Mil-lionen Euro, aktuell bei über 400 Millionen Euro. DieAuftragsvergabe für Maßnahmen zur Ummantelung desSarkophags – das sind wichtige Schritte – verläuftschleppend. Es sind Risse aufgetreten. Aus meiner Sichtwird hier politisch hoch gepokert. Ich finde, der Deut-sche Bundestag und die Bundesregierung müssen ein In-teresse daran haben, nicht nur Mittel bereitzustellen,sondern auch dafür zu sorgen, dass die internationalenVerabredungen eingehalten werden, und zwar sowohlvon der Ukraine wie von der Russischen Föderation. Dasmuss unsere Position sein. Das ist der aktuelle Umgangmit Tschernobyl.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Sicherung verläuft nicht so gut, wie wir uns dasvorstellen. Meine Bitte ist, dass wir darauf in der Diskus-sion über die Beschlussfassung im Deutschen Bundestagdas Schwergewicht legen. Schließlich wollen wir dieMenschen dort nicht für die innerdeutsche Debatte miss-brauchen, sondern wir wollen die Situation für die Men-schen vor Ort verbessern. Das ist das humanitäre undpolitische Interesse der Bundesrepublik Deutschland.Darauf – das ist mein Vorschlag – sollten wir Wert legen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir haben genug Möglichkeiten, über Kernenergie imZusammenhang mit anderen Symbolthemen zu streiten.Aber hier müssen wir unsere Zusagen einlösen, nämlichdie Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Sicherungder Lebenssituation.

Zum anderen möchte ich die heutige Diskussion nut-zen, um für die Bundesregierung zu erklären, dass wiruns für die fast tausend Initiativen in Deutschland bedan-ken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bis auf den heutigen Tag haben Tausende von Menschenin Deutschland Patenschaften für Schulen und Kinder-gärten in der Region übernommen, um ihnen zu helfenund ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Men-schen, die zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe inTschernobyl noch nicht geboren waren, haben Kinder inden Urlaub eingeladen und für medizinische Hilfe vorOrt gesorgt. All das zeigt: Dieses Land ist bereit, über20 Jahre ein gewaltiges ehrenamtliches Engagement aufdie Beine zu stellen, das in seiner Wirkung noch vielgrößer ist als die Summe, die wir aus Steuergeldern be-reitgestellt haben. Für diese Initiativen bedankt sich dieBundesregierung ausdrücklich.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2671

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Bundesminister Sigmar Gabriel

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Name des ukrainischen Ortes Tschernobyl steht fürvieles. Er steht für die größte Reaktorkatastrophe derGeschichte. Er ist gleichzeitig ein Symbol für den An-fang des weltweiten Widerstands gegen die Atom-kraft.

Tschernobyl symbolisiert aber auch die kritikloseTechnikgläubigkeit und die Vertuschungen, die nicht nurfür die Sowjetunion, sondern für den gesamten Ostblockcharakteristisch waren. Dass nicht sein sollte, was nichtsein darf, war jedoch nicht nur im Kreml und im SED-Zentralkomitee die Maxime. Auch bei bestimmten lin-ken Organisationen im Westen, den Bruderparteien, wardies die Richtschnur. Insofern mussten sich in den ver-gangenen Jahren viele Mitglieder von PDS und Links-partei, darunter auch ich, kritische Fragen stellen. DieKolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU müsstendies aber auch tun; denn ich kann mich noch sehr gut er-innern, wie damals auch bei uns vieles verschwiegenwurde. Ich denke, das wird auch heute noch der Fallsein.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Die Linkehat aus den grundsätzlichen und unverantwortlichen Ri-siken der Atomwirtschaft die einzig mögliche Konse-quenz gezogen: Wir fordern den schnellstmöglichenAusstieg aus der Atomenergie.

(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Wir auch!)

Die Zukunft muss ökologisch und sozial beherrschbarenEnergieformen gehören. Das sind Sonne, Wind, Wasser,Biomasse und Geothermie statt Uran und Plutonium.

Die Argumente, die gegen die Atomkraft sprechen,sind im Antrag der Grünen noch einmal aufgeführt. Bei-spielsweise wird darauf hingewiesen, dass der Brenn-stoff der AKWs nur noch 40 bis 60 Jahre reicht, dass dieAtomkraft nur einen sehr geringen Beitrag zum Klima-schutz leistet und dass kein einziges deutsches AKW ei-nem Terroranschlag wie dem auf die New Yorker TwinTowers standhalten würde. Ich muss Sie von den Grünenin diesem Zusammenhang fragen, welche Verantwor-tung Sie haben. Es ist merkwürdig, dass die Grünen inihrem Antrag die Restlaufzeiten in Deutschland von über20 Jahren als angemessen darstellen. Das ist für michsehr widersprüchlich. Sind wir nun gefährdet – dannmüssen die Atomkraftwerke schnell abgeschaltet wer-den – oder nicht?

(Beifall bei der LINKEN)

Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum viel zi-tierten IAEO-Bericht. Das Dokument erschien unterdem Titel „Tschernobyl – Das wahre Ausmaß des Un-falls“. Als ich das Papier gelesen habe, war ich verblüfftund zornig darüber, wie es die Atomlobby wieder einmalgeschafft hat, die Wahrheit zu verbiegen. Hauptaussage– vielleicht auch Motivation – des Berichts ist sinnge-mäß: Es war alles nicht so schlimm und wenn doch et-was passiert ist, dann lag es an der dramatisierendenDarstellung durch die Medien. Die habe nämlich zu ei-ner psychischen Belastung der Bevölkerung vor Ort ge-führt, so die seltsame Logik.

Die Autoren meinen tatsächlich, Armut, Lifestyle-krankheiten und psychische Probleme seien eine vielgrößere Bedrohung für die betroffenen Gemeinden alsdie Langzeitverstrahlung.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das hatman Ihnen doch gestern im Ausschuss schonerklärt! Aber Sie haben es immer noch nichtverstanden!)

– Hören Sie bitte zu! – Zudem zählt das Papier4 000 Tote als Folge der Katastrophe. Der Bericht ist andieser Stelle eine freche Manipulation. Denn warumsollte der ukrainische Staat sonst an die Angehörigenvon mehr als 17 000 verstorbenen AufräumarbeiternEntschädigung zahlen? Es geht dabei durchaus um Zah-len. Ich finde das sehr interessant.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Die stellvertretende Ministerin der Ukraine für Kata-strophenschutz, Tetyana Amosova, erklärte dementspre-chend: „Wir können nicht verstehen, was das für Datensind.“ Lügen, Halbwahrheiten, Verdrehung von Tatsa-chen und Unterschlagung von Informationen – das istder Stoff, mit dem die Atommafia gearbeitet hat und im-mer noch arbeitet.

Ich komme zum Schluss. Wir fahren Sonntag nachTschernobyl. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass geradedie Partei, die das „C“ im Namen führt, sieht, was dortpassiert ist. Leider haben Sie sich nicht durchringen kön-nen, den Umweltausschuss zu begleiten. Ich werde per-sönlich den Kolleginnen und Kollegen und den Atom-opfern vor Ort das Mitgefühl des Herrn Mißfeldermitteilen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das können Siesich ersparen! Nehmen Sie Geld mit! MachenSie Wiedergutmachung! Das andere könnenSie sich sparen! – Weiterer Zuruf von derCDU/CSU: Unterlassen Sie das bitte!)

Sie lernen nämlich nichts aus solchen Unfällen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Christoph Pries, SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

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2672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Christoph Pries (SPD): Frau Präsidentin! Herr Minister Gabriel – lieber

Sigmar –, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtemit einer kleinen Geschichte beginnen. Nikolai Kaluginlebte mit seiner Familie in Pripjat unweit des Unglücks-reaktors von Tschernobyl. Kurz nach der Katastrophewird die Familie evakuiert. Sie darf nichts mitnehmen.Doch eine Sache kann Nikolai Kalugin nicht zurücklas-sen: die Haustür seiner Wohnung. Es ist die Tür, auf dernach alter Tradition die Toten aufgebahrt werden und aufder seit Generationen Jahr für Jahr das Wachstum derKinder mit einer Einkerbung dokumentiert wird.

Nikolai Kalugin hat es geschafft. Mit Hilfe seinesNachbarn hat er seine Tür an den Sicherheitskontrollenvorbei aus der Stadt gebracht. Nikolai Kalugin hat seineTür noch gebraucht. Einkerbungen musste er nicht mehrmachen.

Ich kenne weder Nikolai Kalugin, noch weiß ich, obder Krebs, der seine sechsjährige Tochter getötet hat, mitSicherheit auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobylzurückzuführen ist. Für den Vater Nikolai Kalugin be-steht daran kein Zweifel. Mir persönlich reicht das.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchteden Opfern der Reaktorkatastrophe von Tschernobylim Namen der SPD-Bundestagsfraktion unser Mitgefühlaussprechen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gleichzeitig möchte ich von dieser Stelle auch denweltweiten Einsatz zahlloser Organisationen und Initiati-ven für die Opfer von Tschernobyl würdigen. Diesesselbstlose Engagement seit nunmehr 20 Jahren verdientunsere höchste Anerkennung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Welche Bedeutung hat die Reaktorkatastrophe vonTschernobyl heute noch? Sie hat noch immer gravie-rende Auswirkungen für die unmittelbar betroffenenStaaten, die Ukraine und Weißrussland. Im September2005 haben die Vereinten Nationen einen Bericht überdie Folgen der Katastrophe von Tschernobyl vorgelegt.Der Bericht entstand unter der Federführung der Inter-nationalen Atomenergieorganisation. Er dürfte daherselbst für glühende Befürworter der Atomenergie akzep-tabel sein. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dassman mit insgesamt 4 000 Todesopfern rechnen muss,dass bisher 4 000 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkranktsind, dass 350 000 Menschen infolge der Katastropheihre Heimat verloren haben, dass eine Fläche von mehrals 200 000 Quadratkilometern kontaminiert wurde unddass sich der Gesamtschaden der Katastrophe auf meh-rere Hundert Milliarden US-Dollar beläuft. Dies sindwohlgemerkt die Zahlen der Internationalen Atomener-gieorganisation. Umweltorganisationen, Experten undHilfsorganisationen gehen bei ihren Schätzungen von

weit höheren Opferzahlen aus. Sie kritisieren den Be-richt als Verharmlosung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Und sonst? Welche Bedeutung hat Tschernobyl sonstnoch für uns? Ganz konkret ist die BundesrepublikDeutschland einer der größten Geldgeber bei der Sanie-rung des baufälligen Sarkophags um den havariertenReaktorblock. Dessen Sanierung wird mehr als1 Milliarde US-Dollar verschlingen. Ganz konkret gibtdas Bundesministerium für Umwelt Jahr für Jahr70 000 Euro aus, um Wildbret anzukaufen, welches mitCäsium 137 kontaminiert ist. Tschernobyl ist das Sym-bol für die Folgen der Technologiegläubigkeit des20. Jahrhunderts.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Tschernobyl ist das Symbol für die Folgen einer Techno-logie, bei der es trotz der Einhaltung höchster Sicher-heitsstandards keine Garantie für ihre Beherrschbarkeitgibt.

Wir Sozialdemokraten haben daraus die Konsequen-zen gezogen. Die Arbeitsgruppe „Umwelt“ der SPD-Bundestagsfraktion hat diese Konsequenzen in ihrerTschernobylresolution nochmals bekräftigt. Wir setzenauf zukunftsfähige und sichere Technologien. Wir set-zen auf den Ausbau der erneuerbaren Energien.

(Beifall bei der SPD)

Wir setzen auf Energieeffizienz und Energieeinspa-rung. Atomenergie ist für uns – ebenso wie für dieMehrheit der Bevölkerung – ein Auslaufmodell.

Abschließend möchte ich noch den Fachkolleginnenund Fachkollegen von der Union für die sachliche Zu-sammenarbeit in den letzten Wochen danken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir standen kurz davor, nach 20 Jahren erstmals einengemeinsamen Antrag zur Reaktorkatastrophe vonTschernobyl auf den Weg zu bringen. Dass es nicht dazugekommen ist, bedauern wir sehr. Dass Ihrer Fraktions-spitze letztlich der Mut gefehlt hat, unterstreicht nurallzu deutlich, welche Bedeutung Tschernobyl heutenoch hat, und zwar gerade für Sie.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/860 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2673

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG)

– Drucksache 16/322 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)

– Drucksache 16/896 –

Berichterstattung:Abgeordnete Monika Grütters Jörg Tauss Hans-Joachim Otto (Frankfurt)Dr. Lukrezia Jochimsen Katrin Göring-Eckardt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Professor Monika Grütters, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Monika Grütters (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Friedrich Schiller, unser großer Dichter, Stolz eines gan-zen Volkes, beschwor dieses einst mit den Worten:

Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche,vergebens.

Deutschland ist eben zuallererst Kultur- und dann ersteine politische Nation. Friedrich Schiller und JohannWolfgang von Goethe, die Begründer dieser Art Kultur-nation, bezogen sich darauf, dass Deutschland damalseben keine einige Nation war, sondern seine verschiede-nen Stämme nur durch die Kultur als einem einigendenBand zusammengehalten wurden. Deutschland ist bisheute in besonderer Weise ein Land der Kultur. Wir sa-gen nicht ohne Grund: das Land der Dichter und Denker.

Wie können wir Heutigen das schöner und treffenderausdrücken als durch die Benennung einer National-bibliothek? Denn der Gesetzentwurf über die DeutscheNationalbibliothek hat durchaus grundsätzlichen Cha-rakter, der über die pragmatische Ausweitung des Sam-melauftrags der Deutschen Bibliothek in Frankfurt amMain und Leipzig hinausweist.

Hauptzweck der konstitutiven Neufassung des Geset-zes über die Deutsche Bibliothek aus dem Jahre 1969 istdie Ausweitung dieses Sammelauftrages auf digitale Pu-blikationen. Das ist unstrittig und im Übrigen längstüberfällig.

Widerspruch aber hat sich in einigen Reihen der Op-position nur bei der Änderung des Namens der Deut-schen Bibliothek in Deutsche Nationalbibliothek geregt.Ich frage vor allem Sie von der FDP, wovor Sie da ei-gentlich Angst haben: vor der Frage nach der Nation, vorder Frage nach unserem Selbstverständnis, das darinzum Ausdruck kommt, oder vor der Konkurrenz einerDeutschen Nationalbibliothek mit ihren großen Schwes-tern im In- und Ausland?

Schauen wir also erst einmal nach innen. Die Deut-sche Bibliothek, die wir künftig Deutsche Nationalbi-bliothek nennen, ist das Depot des deutschen Schrift-tums. Sie ist die zentrale Archivbibliothek und dasnationalbi-bliografische Informationszentrum der Bun-desrepublik Deutschland. Ihre Vorläufer aus Leipzig undFrankfurt wurden im Zuge der Wiedervereinigung zu-sammengeführt. Sie alleine hat das Pflichtexemplarrechtfür ganz Deutschland und ist im Übrigen mit fast22 Millionen Einheiten die größte UniversalbibliothekDeutschlands, die darüber hinaus ein vielfältiges Dienst-leistungsangebot bereithält.

Vorbehalte aus dem Bundesrat, der auf Antrag vonBayern und Berlin gegen den Gesetzentwurf votierte,gründen sich auf die Loyalität dieser Länder mit ihrengroßartigen und altehrwürdigen Bibliotheken. Selbstver-ständlich anerkennen auch wir im Bundestag die Leis-tungen der Bayerischen und der Preußischen Staats-bibliothek, die auf ihre Bestände von vor 1913, als dieDeutsche Bibliothek gegründet wurde, und auf die Er-werbung der Literatur des Auslands verweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Die ehemalige Preußische Staatsbibliothek in Berlin,schon 1661 gegründet, zeichnet sich vor allem durchihre Autografensammlung aus. Dort liegen zum BeispielMozarts „Zauberflöte“ und Beethovens „Neunte“. Dienoch früher – 1558 – gegründete Bayerische Staatsbi-bliothek verfügt über eine beispiellose Handschriften-sammlung und ist nach der British Library die zweit-größte Zeitschriftensammlung der ganzen Welt.

Eine Analogie zum Sammelauftrag der künftigenDeutschen Nationalbibliothek lässt sich bei allem Re-spekt vor der Professionalität und jeweiligen Einzigar-tigkeit der Sammlungstraditionen in Bayern und Berlinallerdings nicht begründen. Die Deutsche Nationalbi-bliothek ist die einzige, die mit der vollständigen Publi-kation in und über Deutschland und übrigens der Her-ausgabe der Nationalbibliografie Kernaufgaben einerNationalbibliothek erfüllt. Wir sind der Meinung, sie giltes daher auch den internationalen Partnern gegenübermit Namen kenntlich zu machen.

Mit der Benennung zweier Parlamentarier für denVerwaltungsrat haben wir im Kulturausschuss übrigensdafür gesorgt, dass der Charakter der Bibliothek als na-tionaler Einrichtung auch symbolhaft unterstrichen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Finanziert wird die durch den erweiterten Sammel-auftrag notwendige Budgeterhöhung übrigens durchUmschichtungen im Kulturhaushalt. Auch das, finde ich,ist ein gutes Zeichen.

Ob auf Papier oder im Netz, Bücher sind ein unver-zichtbarer Bestandteil unserer kulturellen Identität.Bibliotheken sind weit mehr als bloße Büchersammel-stellen. Sie sind vielmehr elementare Einrichtungen fürInformation und Wissen. Sie sind ein zentraler Bausteinfür Demokratie, weil sie den Zugang zur Literatur er-möglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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2674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Monika Grütters

Der Begriff der Kulturnation erinnert uns gerade hieran ein kostbares Erbe. Er fordert uns darüber hinaus zueigener Kreativität heraus. Mit der Deutschen National-bibliothek setzt die Kulturnation Deutschland ein schö-nes und würdiges Zeichen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz, FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Dassnur einer von euch über Bücher reden kann, istja unglaublich! Das fällt richtig auf!)

Christoph Waitz (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Symbolpolitik ist dasSchlagwort, mit dem sich die ersten Monate der Arbeitder Bundesregierung am besten charakterisieren lassen.Es ist eine Politik, die vor allem auf ihre äußere und öf-fentliche Wirkung setzt, die Probleme aber nicht wirk-lich grundlegend angeht. Es ist eine Politik, die im bes-ten Falle verändert, aber keine dauerhafte Verbesserungschafft.

Auch der vorliegende Entwurf eines Gesetzes überdie Deutsche Nationalbibliothek fällt in die Rubrik Sym-bolpolitik.

(Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen[Bönstrup] [CDU/CSU]: Das sehen wir ganzanders! – Jörg Tauss [SPD]: Na, na!)

Das ist es, was die Bundesländer, die gesamte Presse-landschaft, Herr Tauss, und vor allem die Bibliotheken– auf die sollten wir hören – fast einhellig kritisieren.Dabei fällt ein wenig unter den Tisch, dass der Gesetz-entwurf ansonsten sehr viel Sinnvolles enthält.

(Beifall der Abg. Monika Grütters [CDU/CSU])

Bei der Erweiterung des Sammlungsauftrages darfman sich allerdings fragen, warum die Anpassung an dasdigitale Zeitalter erst in den Jahren 2005 und 2006 erfol-gen kann. Dieser eigentliche Bestandteil, die Substanzdieses Gesetzentwurfs, ist zwischen den Fraktionen auchnicht mehr streitig. Ich möchte mich aber auf das kon-zentrieren, was wir als das entscheidende Problem diesesGesetzentwurfs ansehen: Die Deutsche Bibliothek ist– bei aller Wertschätzung der unter diesem Namen ver-einten Institutionen – nicht die Deutsche Nationalbiblio-thek.

(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!)

Wir Deutschen haben keine Nationalbibliothek.

Frau Professor Grütters, damit komme ich auf IhreFrage zu sprechen. Nach den Kriterien der UNESCOsetzt der Begriff Nationalbibliothek voraus, dass es sichum die führende Groß- und Universalbibliothek einesLandes handelt, die das wissenschaftliche Schrifttum

weltweit sammelt, das nationale Schrifttum seit Beginnkomplett sammelt, archiviert, bibliografiert und die allewesentlichen bibliothekspolitischen Aufgaben für das je-weilige Land durchführt.

Alle Nationalbibliotheken des Auslands – die Öster-reichische, die Italienische oder Japanische –, also alleBibliotheken, die den Namen Nationalbibliothek tragen,kommen dieser Aufgabenstellung uneingeschränkt nach.

Auf der anderen Seite gibt es bedeutende Bibliothe-ken wie die British Library oder die Library of Congress,die das Attribut national überhaupt nicht nötig haben undtrotzdem sehr gut arbeiten. Ich frage Sie, meine Damenund Herren von der Koalition: Warum sollen gerade wirDeutschen bei unserer föderalen Verfasstheit die Deut-sche Bibliothek, die hervorragend arbeitet, in DeutscheNationalbibliothek umbenennen, wenn sie diese Aufga-ben gar nicht erfüllt?

(Beifall bei der FDP)

Die Aufwertung einer Bibliothek widerspricht zudemder gerade im digitalen Zeitalter zunehmenden Entwick-lung, dass viele Institutionen in ihrer Vernetzung ein gro-ßes funktionsfähiges Ganzes bilden. In der Computer-welt ist man längst abgekehrt von monströsenGroßrechnern und man erreicht dort eine wesentlich hö-here Kapazität durch viele vernetzte dezentrale Rechner.In seiner Stellungnahme spricht der Bundesrat genaudiesen Punkt an – Frau Professor Grütters, Sie haben dasvielleicht gelesen –, wenn er darauf hinweist, dass dieDeutsche Bibliothek gemeinsam mit der BayerischenStaatsbibliothek und der Staatsbibliothek zu Berlin zu ei-ner virtuellen Nationalbibliothek zusammengeschlossenwerden kann.

Durch die Umbenennung erhebt die Deutsche Biblio-thek zudem einen durch sie allein nicht einlösbaren An-spruch und beschränkt gleichzeitig die Sichtbarkeit derfaktisch durch die Staatsbibliotheken in Berlin und Mün-chen wahrgenommenen nationalbibliothekarischen Auf-gaben.

Wir sollten die von allen Seiten geäußerte Kritik nichtunberücksichtigt lassen. Die Namensänderung wird diebisher gute Zusammenarbeit mit den bereits genanntenStaatsbibliotheken in München und Berlin zwangsläufigerschweren.

(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt häng das doch mal tiefer, mein Gott!)

Die Umbenennung provoziert doch geradezu Abgren-zungsaktivitäten der großen Staatsbibliotheken in Mün-chen und Berlin, die um ein Vielfaches größer und ältersind als die Deutsche Bücherei Leipzig und die DeutscheBibliothek Frankfurt am Main. Was soll also eine solcheUmbenennung, wenn keiner davon profitiert – sie produ-ziert keinen Mehrwert –, noch nicht einmal die DeutscheBibliothek selbst?

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Sehen Sie ineinem kulturpolitischen Signal keinen Mehr-wert?)

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Christoph Waitz

Ich bin der festen Überzeugung, Frau ProfessorGrütters, dass wir der Deutschen Bibliothek mit dernicht zu tragenden Bürde, von nun an Nationalbibliothekzu heißen, keinen Gefallen tun.

(Christoph Pries [SPD]: Ach was!)

Daher appelliere ich an Ihre Vernunft, Frau ProfessorGrütters, Herr Staatsminister Neumann: Lassen Sie die-sen Gesetzentwurf so nicht passieren! Stellen Sie nichtdie Fraktions- und Regierungsdisziplin über die Erkennt-nis, dass die Umbenennung der Deutschen Bibliothekwidersinnig und nachteilig für die Bibliotheken inDeutschland ist.

Haben Sie recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jörg Tauss (SPD): So viel Vorfreude hat es früher nicht gegeben; aber

das ist ja okay.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Lieber Kollege Waitz, Sie haben sich hier richtigum das Namensthema bemüht. Ich möchte sagen: Rüs-ten Sie jetzt einmal ein bisschen ab! Sie können davonausgehen: Die deutschen Bibliotheken sind nicht sokleinkariert, wie Sie es ihnen unterstellen; sie werdenkooperieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zu dem Namensthema wird mein Kollege Pries eini-ges sagen. Ich möchte mich dem zweiten Kapitel zuwen-den, das bei Ihnen nur nebenbei angesprochen wurde,zunächst einmal aber meiner Freude Ausdruck verlei-hen: Bücher haben heute einen tollen Stellenwert in die-sem Parlament.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Monika Griefahn [SPD]: Das ist doch wunder-bar!)

Nach der Buchpreisbindung haben wir jetzt zum zweitenMal ein Thema, bei dem es um Bücher geht, und das al-les zu repräsentativen Zeiten und nicht zu nachtschlafen-der Zeit.

(Beifall der Abg. Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU])

Ich freue mich sehr, dass wir es als Koalition ge-schafft haben, an das Werk der letzten Legislaturperiodeanzuknüpfen. Wir diskutieren ja nicht erst seit gesternüber das Thema, das Gegenstand des Gesetzentwurfs ist.Es geht nicht um ein Gesetz zur Änderung des Namens– über die Namensgebung ist nur in diesem Zusammen-hang diskutiert worden –, sondern es geht um den Ent-wurf eines Gesetzes über die Deutsche Nationalbiblio-

thek und damit über etwas, was wir bisher in Frankfurthatten; es geht aber darüber hinaus.

Die Bibliothek in Frankfurt, lieber Kollege Pries, hatals Nationalbibliothek fungiert und die Aufgaben wahr-genommen, die andere Nationalbibliotheken ebenfallswahrnehmen.

(Christoph Pries [SPD]: Genau!)

Sie wurde beauftragt, körperliche Medienwerke wieBücher und Tonträger – übrigens seit 1913 – zu sam-meln, zu erschließen, zu bewahren und für die Allge-meinheit nutzbar zu machen. Für digitale Publikatio-nen allerdings fehlte ein solcher Auftrag. Es fehlt alsoeine systematische Erschließung, Archivierung undNutzbarmachung von Veröffentlichungen, die als Netz-publikationen – anders als das beim Buch der Fall ist –keinen körperlichen Träger haben. Es setzt die Bedeu-tung des Buches in keiner Weise herab, wenn wir sagen:Wir brauchen natürlich auch ein Archiv der Gesellschaftfür Veröffentlichungen, die keinen körperlichen Trägerhaben. In der Regel ist Papier der körperliche Träger. Inder Antike war es Papyrus oder wie auch immer. Das istheute noch in Museen, auch hier in Berlin, in einer faszi-nierenden Vielfalt zu besichtigen.

Aber im Gegensatz zur Archivierung auf Papyrus istdie Archivierung von digitalen Daten bisher nichts, wasüber Jahrhunderte und Jahrtausende hält; diese Datensind schon nach wenigen Jahren und Jahrzehnten nichtmehr abrufbar. Aus diesem Grund ist es wichtig, dasswir in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft– Frau Präsidentin, wir sprechen immer von der Entfal-tung einer Wissens- und Informationsgesellschaft – in-formationelle Kontinuität gewährleisten. Heute redenwir darüber, dass der Auftrag der Bibliothek, wie gesagt,in diesen Bereich hinein ausgedehnt wird.

Nun haben Sie seitens der FDP kritisiert, dass dies re-lativ spät kommt. Ich stimme Ihnen in einem Punkt zu:Es gab Leute, die schon einige Jahre früher dafür einge-treten sind. Als ich 1994 in den Bundestag kam, habe ichmit dem Kollegen Thierse zusammen einen Antrag aufden Weg gebracht – daran erinnere ich mich gut –, indem wir genau diese Themen angesprochen haben.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr weitsichtig!)

Wer hat das damals unter Hohn und Gelächter abge-lehnt? Unter anderem die Bundesregierung, die von Ih-nen mit getragen worden ist. Damals hat die FDP ihrHerz für die digitalen Medien noch nicht so recht ent-deckt gehabt. Es ist ja okay, wenn dies heute anders ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns nichtstreiten, sondern diesen Gesetzentwurf gemeinsam be-schließen! Es ist nicht so – wie gesagt wird –, dass sichdie Bibliotheken kollektiv aufregen. Es gibt natürlicheine Debatte über diese Frage, aber die gesamte Fach-welt sagt, dass der Gesetzentwurf, den wir heute in zwei-ter und dritter Lesung verabschieden wollen, ein Gesetz-entwurf ist, der der Deutschen Bibliothek, wie sie bisherheißt, und in Zukunft der Deutschen NationalbibliothekZukunftschancen einräumt, wie wir es wollen, wie es in

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Jörg Tauss

anderen Staaten der Fall ist und wie es die UNESCOauch gefordert hat. Aus diesem Grunde können und soll-ten wir alle heute zustimmen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das ist kein kampfentscheidender Gesetzentwurf, aberer gewährleistet ein Stück Zukunft für die Bibliothekund für die Erhaltung des kollektiven digitalen Gedächt-nisses. Es geht um das gesamte archivarische Gedächtnisunserer Gesellschaft.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir hätten heute über einen guten Gesetzentwurf end-gültig beraten können: den Ausbau der Bundesanstalt„Die Deutsche Bibliothek“ zu einer digitalen Biblio-thek der Zukunft. Denn es ist unbestreitbar wichtig undnotwendig, neben dem großen Fundus der Bücher undTonträger seit 1913, der in Frankfurt am Main und inLeipzig gesammelt wird, nun auch digitales Kulturgut zubewahren und nutzbar zu machen. So weit, so gut.

(Jörg Tauss [SPD]: Da sind wir einig!)

Aber leider wird diese notwendige Zukunftsinvesti-tion im Haushalt des Beauftragten der Bundesregierungfür Kultur und Medien nicht zusätzlich finanziert, wiesich das für eine neue, vorher nicht zu leistende Aufgabegehört,

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist sehr de-struktiv!)

sondern durch Einsparungen, wie es ausdrücklich imGesetzentwurf heißt, oder durch Umschichtungen, wieuns bei der Beratung im Ausschuss für Kultur und Me-dien versichert wurde. Einsparungen oder Umschichtun-gen – was ist da der Unterschied? Was genau wird umge-schichtet? Wo wird eingespart?

Wir vertreten den Standpunkt: Wenn Kultur Investi-tion in die Zukunft ist, dann muss ein Kulturetat auch zu-sätzliche Mittel für wichtige Zukunftsaufgaben haben.

(Beifall bei der LINKEN)

So weit, so schlecht.

Aber es kommt noch schlechter. Im Zuge ausgerech-net dieser Modernisierung bekommt die Bundesanstalt„Die Deutsche Bibliothek“ nun den altmodischen, pom-pösen Namen „Deutsche Nationalbibliothek“.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Das ist doch sehr gut! Was ist gegen Deutsch-land zu sagen?)

Ich halte das für eine irreführend großmäulige Bezeich-nung im Jahre 2006, eine völlig sinnlose Zumutung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.Christoph Waitz [FDP] – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sinnlos ist Ihre Rede!)

Soll damit vielleicht so etwas wie eine deutschnationaleLeitkulturdebatte angestoßen werden?

(Beifall bei der LINKEN)

In der Rede von Frau Professor Grütters wurde genaudas sehr stark an den Anfang dieser Debatte gestellt.

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Wovor habenSie Angst? Stellen Sie sich der Debatte dochmal!)

Seit der Einheit erfüllt die Deutsche Bibliothek – ichsage das noch einmal: nicht die Frankfurter oder dieLeipziger, sondern die Deutsche Bibliothek –

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Durch Wiederholung wird das nicht besser!)

ihren Auftrag für das ganze Land, zusammen mit derPreußischen und der Bayerischen Staatsbibliothek. Wa-rum also jetzt diese Umbenennung? Weder die Nutzernoch die Mitarbeiter haben das gefordert.

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das muss man manchmal auch unabhängig davon machen!)

Das wird jetzt gemacht, weil die Idee in der vergangenenLegislaturperiode aufkam und nun umgesetzt werdensoll, ohne überzeugende Begründung. Hier ist keine ein-zige überzeugende Begründung gefallen.

(Christoph Waitz [FDP]: Sehr richtig!)

Die Hinweise auf den internationalen Gebrauch stim-men schlicht und ergreifend nicht. Denn die Namen dergroßen internationalen Bibliotheken sind – der Kollegevon der FDP hat das ja gesagt – entsprechend ihrer Ge-schichte und ihrer Tradition ganz und gar unterschied-lich. Was also sollen die deutschnationalen Bücher?

Dass dann im Gegensatz zum pompösen nationalen Ti-tel im Verwaltungsrat wenig nationale parlamentarischeRepräsentanz aufscheint, ist ein weiterer kritischer Punkt.Von 13 Mitgliedern werden gerade zwei Personen vomDeutschen Bundestag entsandt – eine recht schlechteQuote.

(Jörg Tauss [SPD]: Wieso eine schlechteQuote? Von null auf zwei ist prozentual be-achtlich!)

Ja, es hätte ein gutes Gesetz werden können: Die Um-stellung auf das digitale Zeitalter der Bibliothek ist zubegrüßen. Sie hätte es auch verdient, als wirkliche Zu-kunftsinvestition finanziert zu werden. Sie hätte bei ih-rem guten, eingeführten und durchaus der nationalenAufgabe verpflichteten Namen bleiben und in ihremVerwaltungsrat mehr Parlamentarier vertragen können.Nun ist aus diesen letzten drei Punkten leider nichts ge-worden. Das ist schade und der Grund, warum die Frak-tion Die Linke den Gesetzentwurf ablehnen wird.

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Dr. Lukrezia Jochimsen

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Damit müssen wir leben!)

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/

Die Grünen.

Kai Boris Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst einmal möchte ich mich bei den Kolleginnenund Kollegen der großen Koalition dafür bedanken, dasssie den rot-grünen Gesetzentwurf zur Einrichtung derDeutschen Nationalbibliothek so gut wie unveränderteingebracht haben.

Frau Jochimsen, was Sie hier heute wieder geäußerthaben, finde ich wirklich sehr abenteuerlich. Dazu hatmeine Kollegin in der ersten Lesung eigentlich schon al-les gesagt. Der Begriff Deutsche Nationalbibliothek hatnichts mit Großmäuligkeit und Nationalismus zu tun,sondern ist ein angemessener Begriff und eine Weiter-entwicklung der Deutschen Bibliothek.

(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Eine Weiterentwicklung?)

Auch bei der Bezeichnung deutsche Fußballnational-mannschaft denkt doch niemand an Nationalismus. DerBegriff Deutsche Nationalbibliothek wird sich in dennächsten Jahren mit Sicherheit einbürgern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss[SPD]: Das Argument hat sie abschließendüberzeugt!)

Die Deutsche Bibliothek ist – das steht außer Frage –die zentrale Archivbibliothek in Deutschland. Auch derEinwand der FDP in der ersten Lesung – und auch heutewieder –, die Bibliothek habe den neuen Namen Deut-sche Nationalbibliothek deswegen nicht verdient, weilihre Bestände im Unterschied zu anderen Nationalbiblio-theken in Europa nur bis 1913 reichen, kommt mir dadoch reichlich kleinkariert vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Die im heute zu beschließenden Gesetz vorgeseheneErweiterung des Auftrags der Deutschen Bibliothek aufdie Bewahrung und Nutzung des digitalen Kulturerbesfür Literatur, Wissenschaft und Praxis ist mehr als über-fällig.

(Monika Griefahn [SPD]: Ja!)

Wir leben im digitalen Zeitalter. Es wäre eine kulturpoli-tische Katastrophe, wenn bedeutsame digital im Netzpublizierte Dokumente der Nachwelt nicht erhalten blie-ben. Es ist zu begrüßen, wenn hier systematisch ein digi-tales Archiv entsteht, das unser kulturelles Gedächtnis

für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber vorallen Dingen auch für die breite Öffentlichkeit bewahrt.

Gleichwohl sollten wir darauf achten, dass das traditio-nelle Buch unter diesem erweiterten Auftrag der Biblio-thek nicht leidet. Das Buch ist nach wie vor ein wichtigesMedium. Das Publikumsinteresse bei den Buchmessen,die Verkaufszahlen im deutschen Buchhandel und dieNutzungszahlen der vielen kleinen Bibliotheken inDeutschland beweisen das.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem ist uns Grünen wichtig, dass die zuneh-mende Digitalisierung des Kulturerbes von Maßnahmenbegleitet wird, welche die Medienkompetenz der Men-schen erweitert. Gerade ältere Menschen müssen anComputertechniken oft erst herangeführt werden. Damites einen gleichberechtigten Zugang zu Wissen und Kul-tur gibt, ist die systematische Förderung der Medien-kompetenz hier besonders wichtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Jörg Tauss [SPD]: Vorsicht, die Älteren habenden Computer erfunden! – Gegenruf des Abg.Christoph Waitz [FDP]: Aber sie können ihnnicht bedienen!)

– Aber die Jungen werden damit groß.

Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu den organisa-torischen und finanziellen Aspekten der Deutschen Na-tionalbibliothek sagen. Wir finden es erfreulich, dass derBundestag nun doch im Verwaltungsrat mit vertretensein soll.

(Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU])

Wie bei vielen anderen Gremienbesetzungen werdenaber sicherlich nur wieder die beiden großen Fraktionendort vertreten sein.

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Qualität setzt sich durch!)

Wir wünschen uns für die Zukunft, dass auch die kleine-ren Fraktionen hier mehr beachtet werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was die Finanzierung der durch den erweitertenSammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek entste-henden Mehrausgaben angeht, werden wir als Grüne na-türlich ganz genau hinschauen, wo die angekündigtenEinsparungen zur Gegenfinanzierung im Haushalt desBeauftragten für Kultur und Medien vorgenommen wer-den.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden es in den Haushaltsberatungen für 2007jedenfalls nicht akzeptieren, wenn im Gegenzug beiwichtigen Kulturförderungen gekürzt wird. Wir erwartenhier ein klares Wort von der Bundesregierung, woher ge-nau das Geld dafür kommen soll.

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das wirddurch Umschichtung des Kulturhaushaltes ge-macht! Das ist immer klar gesagt worden!)

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Kai Boris Gehring

– Nein, es ist noch nicht klar gesagt worden, woher dasGeld für 2007 ganz konkret kommen soll.

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Doch!)

So wichtig und sinnvoll die Einrichtung der Deut-schen Nationalbibliothek ist: Wir sollten trotzdem undgerade deshalb die kleinen Bibliotheken in den Kom-munen nicht vergessen. Ihr Erhalt ist wichtig im Sinneeines gleichberechtigten Zugangs zu kultureller Bildung.Dass trotz steigender Nutzerzahlen mehrere Hundert Bi-bliotheken in diesem Land jährlich schließen müssen,finden wir äußerst besorgniserregend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bevor es zu spät ist, brauchen wir dringend eine kon-zertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen fürdie Zukunft unserer Bibliothekslandschaft und ihrewichtige Rolle für die kulturelle Bildung. Ich fordere dieBundesregierung auf, hier endlich aktiv zu werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]:Doch nicht schon wieder! Dreimal hinterei-nander! Habt ihr keine anderen Redner?)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Kollege Tauss, Sie kommen in meiner Rede auf jeden

Fall vor.

Ich möchte mit einer ernsthaften Bemerkung in Rich-tung Linkspartei beginnen. Frau Jochimsen, mich wun-dert nicht, dass Sie Probleme mit dem Begriff Nation ha-ben. Denn die Linkspartei und die WASG haben bishernoch nie den Eindruck gemacht, als ob sie mit Deutsch-land oder mit unserer Nation auch nur im Geringsten et-was zu tun haben möchten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Aber das ist nicht Gegenstand meiner Rede.

Ich bin, wie Herr Kollege Tauss vorhin schon richti-gerweise ausführte, für die Fragen der technischen Neue-rungen, die in dem Gesetzentwurf in erster Linie behan-delt werden, zuständig und spreche auch dazu.

Ich bin mir sicher, dass dieser Gesetzentwurf – Kol-lege Gehring hat gerade richtigerweise gesagt, dass die-ses Anliegen schon vorher auf den Weg gebracht wordenist – ein wichtiger Beitrag dazu ist, im digitalen Wettbe-werb aufzuholen. Wir sehen, was sich dort im privat-wirtschaftlichen Bereich tut – ich nenne das StichwortGoogle – und welche neuen technologischen Planungenauf die Internetwelt zukommen. Dies muss unsererseits,seitens des Staates begleitet werden und auch im euro-päischen Rahmen Berücksichtigung finden. Dazu solltedie Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag leisten,und zwar aus folgendem Grund: Wir sollten im digitalen

Zeitalter, wenn wir die technischen Möglichkeiten, dievorhanden sind, tatsächlich nutzen, darauf hinwirken,unsere kulturelle Identität zu berücksichtigen und zu er-halten.

Das Wissen des digitalen Zeitalters müssen wir ver-fügbar halten. Gleichzeitig müssen wir zur Kenntnisnehmen, dass sich zukünftig die Publikationsflut und dieFlüchtigkeit von Informationen erhöhen werden. Des-halb ist die Frage der Medienkompetenz ein entschei-dender Schlüssel, um den Zugang und die Teilhabe ander Wissensgesellschaft zu gewährleisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Dazu wird die digitale Bibliothek ihren Beitrag leisten.

Kollege Tauss hat am 19. Januar dieses Jahres in derersten Lesung dieses Gesetzentwurfes bereits darauf hin-gewiesen: Jeder kennt die Frage – und stellt sie sichselbst –, wie das enorme Wissen, das tagtäglich von Uni-versitäten, Akademien, Verlagen oder auch von Privat-personen in die digitalen Netze gestellt wird, auch fürdie nachfolgenden Generationen verfügbar gehaltenwerden kann. Deswegen ist der Gesetzentwurf vollkom-men richtig.

Eine Innovation von Speichermedien folgt auf die an-dere. Systeme ändern sich; die Entwicklung auf diesemGebiet bleibt rasant. Viele wichtige Erkenntnisse undwissenschaftliche Publikationen werden ohnehin nurnoch digital und gar nicht mehr in Buchform veröffent-licht. Ich glaube trotzdem – wir haben vorhin eine Dis-kussion darüber geführt –, dass das Buch und der Druckan sich auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wer-den. Es muss daher keinerlei Besorgnis, wie ich dies inmanchen Veröffentlichungen lese, geben, dass das Buchdurch die Digitalisierung in den Bibliotheksbereichen inZukunft infrage gestellt wird. Dies wird es nicht. Die Di-gitalisierung soll ausdrücklich nur eine ergänzende Funk-tion haben, um den Zugang von jedem Ort dauerhaftmöglich zu machen. Das ist der entscheidende Vorteil.Die Bibliothek muss einen Beitrag dazu leisten, dass vonfast jedem Ort aus die Verfügbarkeit über eine Informa-tion möglich ist.

Vorhin hatte ich die Frage der in diesem Zusammen-hang gebotenen Europäisierung angesprochen. InFrankreich werden Initiativen ergriffen, den Bestrebun-gen einer von mir schon genannten Internetfirma entge-genzutreten. Denn niemand weiß, wie sehr bei allem Op-timismus, den ich der Internetwirtschaft gegenüber habe,die kulturelle Identität in Mitleidenschaft gezogen wird,wenn der Staat sich aus diesem Bereich komplett verab-schiedet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb glaube ich, dass unser Gesetzentwurf ein ent-scheidender Beitrag sein kann, diesem Problem entge-genzuwirken und diese Fragestellungen zu bearbeiten.Wir sollten uns um dieses Thema und nicht mehr um dieFrage der Umbenennung kümmern. Dies ist gleich nachder Abstimmung ohnehin entschieden und deswegen

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Philipp Mißfelder

können wir uns getrost auf das konzentrieren, was tat-sächlich wichtig ist, nämlich die neuen technologischenHerausforderungen anzunehmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries,

SPD-Fraktion.

(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt kommt die Sachauf-klärung!)

Christoph Pries (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrter Staatsminister

Neumann! Kolleginnen und Kollegen! Ich freue michsehr, dass wir heute gemäß dem Motto „Was langewährt, wird endlich gut“ einen Schlussstrich unter dieDebatte ziehen können, die nicht erst seit Einbringungdes Entwurfes eines Gesetzes über die Deutsche Natio-nalbibliothek in den Deutschen Bundestag, sondern be-reits seit über 150 Jahren Geist und Gemüt bewegt.

Die Bibliothekswissenschaft hat zahlreiche vergebli-che Anläufe dokumentiert, eine Nationalbibliothek inDeutschland zu etablieren. Ein Beispiel: Karl ChristianSigismund Bernhardi war 1843, fünf Jahre bevor er alsAbgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlunggewählt wurde, als Bibliothekar in Kassel beschäftigt. Indiesem Jahr kam es zu der Eingabe des Herrn Bernhardian die Preußische Akademie der Wissenschaften, diesemöge sich engagieren, den König von Preußen für denGedanken einer Deutschen Nationalbibliothek zu gewin-nen.

Der Buchhandel solle je ein Exemplar eines jeden inDeutschland erscheinenden Buchwerks dieser Biblio-thek übergeben. Darauf aufbauend sollte die Bibliogra-fie von Deutschland erstellt werden.

Die Vollständigkeit der Sammlung war Bernhardi be-sonders wichtig. In seiner Eingabe heißt es:

Wenn nämlich auch in Deutschland, wie dieß inFrankreich Gesetz ist, Ein Exemplar von Allem,was gedruckt wird, ohne Ausnahme an eine deut-sche Nationalbibliothek eingeliefert werden müßte,so wäre das der Ort, wo jeder Gelehrte eine voll-ständige Ergänzung der Bibliotheken findenkönnte, welche ihm in seiner nächsten Umgebungzugänglich sind.

Schauen Sie nach Frankfurt! Dort sehen Sie genaudas, was sich Herr Bernhardi bereits vor 160 Jahren er-träumte: eine Bibliothek, welche die Ansprüche erfüllt,die an eine Nationalbibliothek zu stellen sind. Hier wer-den sämtliche Publikationen aus und über Deutschland,alle in Deutschland veröffentlichten ausländischen Pu-blikationen sowie sämtliche deutschsprachige Literaturdes Auslands gesammelt. Auch erscheint hier mit derNationalbibliografie ein Verzeichnis, dem es vergönntist, einen Namen zu tragen, der die Funktion bestens um-schreibt. Die Einrichtung in Frankfurt, unter deren Dachdie Nationalbibliografie erscheint, hat die Funktion und

den Charakter einer Nationalbibliothek. Warum sollte ihrdann ein entsprechender Name verwehrt bleiben?

Die Eingabe von Herrn Bernhardi wurde damals ab-schlägig beschieden. Der Gutachter kam zu demSchluss:

Wozu die übervollständige Anhäufung des Mittel-mäßigen und Schlechten?

Mit dieser Frage leitete er die Ablehnung der Eingabedurch die Akademie ein.

Übrigens, Herr Waitz: Die Wurzeln Ihrer Partei lie-gen, wie Sie und Ihre Fraktionskollegen gern betonen, ingenau dieser Zeit. Der spätere NationalliberaleBernhardi jedenfalls wusste sehr genau, dass eine Ein-richtung, die die Aufgaben einer Nationalbibliothek er-füllt, den entsprechenden Namen tragen sollte. 132 Jahrenach dessen Tod sind die Fakten, die dafür sprechen,dem Kind einen Namen zu geben, größer denn je. Ichmöchte an dieser Stelle nicht die Argumente, die ich be-reits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs vorge-stellt habe, wiederholen. Vielmehr möchte ich auf einigeandere Aspekte eingehen, die Ihnen verdeutlichen sol-len, dass die Umbenennung in „Deutsche Nationalbi-bliothek“ richtig ist.

Betrachten wir einmal den jetzigen Namen: DieDeutsche Bibliothek. Dieser Name wirft einige Fragenauf: Was soll der Artikel „die“ überhaupt aussagen? Solljene Bezeichnung vielleicht darauf hinweisen, dass essich bei dem Institut in Frankfurt quasi um die Biblio-thek aller Bibliotheken in unserem Land handelt? Wennja, würde dies stärker zu dem vom Bundesrat befürchte-ten Verlust der Bedeutung der Staatsbibliotheken in Ber-lin und München beitragen, als es die Bezeichnung„Deutsche Nationalbibliothek“ jemals könnte.

Betrachten Sie einmal die Protokolle der ersten Lesungzu diesem Gesetzentwurf. Sie werden feststellen, dasskaum eine Rednerin und kaum ein Redner den richtigenNamen der Einrichtung in Frankfurt benutzt hat. Das„die“ wurde allzu gern weggelassen. Auch jene Abgeord-nete, welche sich gegen eine Umbenennung ausgespro-chen haben, mussten erkennen, dass sich die korrekteNamenswiedergabe nur schwerlich in einen rhetorischeinwandfreien Sprachgebrauch einpflegen lässt.

(Johann-Henrich Krummacher [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

In meinen Augen macht die bisherige Bezeichnungkeinen Sinn und ist zudem irreführend. Lassen Sie unsalso internationalen Gepflogenheiten folgen und der Bi-bliothek den Namen geben, der nicht nur ihrer Funktion,sondern auch ihrer Bedeutung und internationalen Be-trachtung entspricht.

(Christoph Waitz [FDP]: Deutsche Biblio-thek!)

Ich begrüße im Übrigen ausdrücklich die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien.Zukünftig entsendet der Bundestag zwei Mitglieder inden Aufsichtsrat der Deutschen Nationalbibliothek.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

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Christoph Pries

Das unterstreicht den Charakter der Bibliothek als un-sere Nationalbibliothek.

Im Grunde haben wir bereits eine Nationalbibliothek.Lassen Sie uns endlich diese auch so bezeichnen!

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes überdie Deutsche Nationalbibliothek, Drucksache 16/322.Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/896, denGesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD,des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU bei Ge-genstimmen der FDP und der Fraktion der Linken ange-nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit denselben Mehrheiten wie in zweiter Bera-tung auch in dritter Beratung angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten GudrunKopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Ordnungspolitischer Kompass für die deut-sche Energiepolitik

– Drucksache 16/589 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKEN

Die zukünftige Energieversorgung sozial undökologisch gestalten

– Drucksache 16/1082 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Gudrun Kopp.

(Beifall bei der FDP)

Gudrun Kopp (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und

Damen! Wir brauchen in Deutschland endlich eineRenaissance der Ordnungspolitik im Energiebereich.Wir führen jetzt zum zweiten Mal eine Energiedebatte andiesem Tag.

(Rolf Hempelmann [SPD]: Dann können Sie Ihre Rede zu Protokoll geben!)

Das mag die Bedeutung der Energiepolitik auch nocheinmal unterstreichen. Wenn ich mehr Ordnungspolitikim Energiebereich fordere, dann heißt das, dass imRückblick in den letzten acht Jahren – das wurde zwarschon von Rot-Grün begonnen, wird aber leider von derrot-schwarzen Koalition fortgesetzt – der Pfad des Diri-gismus und der Staatsgläubigkeit beschritten wurde undweiter beschritten wird. Dagegen sprechen wir uns dezi-diert aus.

(Beifall bei der FDP)

Beim Energiegipfel haben wir es gesehen: Die wich-tigen Fragen werden ausgespart: Wie sieht der künftigeEnergiemix aus? Inwieweit wollen wir mehr Wettbe-werb und Markt verwirklichen? Wie wird sich der Emis-sionshandel gestalten? Es ist ja vorgesehen, dass etwa10 Prozent der Zertifikate versteigert werden sollen. Wirstellen uns vor, dass der Versteigerungserlös zum Bei-spiel zur Senkung der Stromsteuer eingesetzt werdenkönnte, damit die Bürger und unsere Wirtschaft entlastetwerden. Wir fordern, dass auf diesem Weg der hohestaatliche Anteil an den Strompreisen endlich gesenktwird. Er beträgt – das wissen Sie alle; wir haben übri-gens die zweithöchsten Strompreise in der EU – 40 Pro-zent. Der Staat muss sich an der Stelle zugunsten vonmehr Markt und Wettbewerb zurücknehmen.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben in dem Antrag, den wir Ihnen heute vorle-gen und von dem wir hoffen, dass er auch für Sie dieLeitlinien einer künftigen Energiepolitik beschreibt, dreiGrundsätze niedergelegt, die wir Ihnen besonders mitauf den Weg geben wollen.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2681

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Gudrun Kopp

Der erste Grundsatz lautet: Die soziale Marktwirt-schaft, also die Bestimmung von Preisen, Verbrauch undInvestitionen durch Markt und Wettbewerb, soll auch inder Energiepolitik endlich eine stärkere Bedeutung er-halten.

(Beifall bei der FDP)

Zweiter Grundsatz: Die Eingriffe des Staates müssenauf das notwendige Maß begrenzt und marktkonformausgestaltet werden.

Dritter Grundsatz: Subventionen dürfen nur aus-nahmsweise gewährt werden; sie müssen zeitlich eng be-fristet und degressiv sowie marktwirtschaftlich ausge-staltet sein.

Von alldem, meine lieben Kollegen und Kolleginnen,ist derzeit nichts zu spüren, im Gegenteil. Ich erwähne esnoch einmal ausdrücklich: Wenn wir Klimaschutz, Ver-sorgungssicherheit, Bezahlbarkeit von Energie trotz desimmer weiter steigenden Energiehungers in der Welt ge-währleisten wollen, dann brauchen wir auch in Zukunfteinen breiten Energiemix. Insbesondere an die CDU/CSU-Fraktion gerichtet möchte ich sagen: Sorgen Sie da-für, dass der Streit in der Koalition um die künftige Nut-zung der Kernenergie endlich beendet wird! Ermögli-chen Sie eine Verlängerung der Laufzeiten derKernkraftwerke! Denn auf diese Weise können wir fürKlimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeitvon Energie sorgen.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:Und für die Verlängerung der Subventionie-rung!)

Denken Sie daran, dass auch in dem Statusberichtder Bundesregierung mit Blick auf die Zukunft davonausgegangen wird, dass, neben den erneuerbaren Ener-gien, Gas und Kohle vermehrt genutzt werden müssen.Beim Gas soll sich der Bedarf in Zukunft sogar mehr alsverdoppeln.

(Ulrich Kelber [SPD]: Sagt wer?)

– Das steht im Statusbericht der Bundesregierung.Schauen Sie nach.

(Ulrich Kelber [SPD]: Aber doch nicht dasDoppelte von der Gesamtmenge, sondern dasDoppelte in dem Sektor! Das müssen Sie docheinmal unterscheiden lernen!)

Das heißt, dass Sie den Klimaschutz und die Versor-gungssicherheit hintanstellen und die Importabhängig-keit unseres Landes – denken Sie an Gasprom, an Russ-land – steigt.

Das wollen wir nicht. Wir möchten bei den Kohle-kraftwerken neueste Technologien einsetzen und bei denerneuerbaren Energien verstärkt in Forschung investie-ren. Wir möchten, dass die Stromerzeugung aus Kern-energie durch eine Verlängerung der Laufzeiten derKernkraftwerke möglich bleibt.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Mit Subventionen oder ohne Subventionen?)

All das ist notwendig, um den Standort Deutschlandzu versorgen. Energiepolitik ist Standortpolitik. Daskann man gar nicht oft genug wiederholen. Sie ist dieLebensader unserer Wirtschaft.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegin Kopp, die FDP startet stark mitihrem Antrag, in dem sie einen ordnungspolitischenKompass fordert und mit dem sie marktwirtschaftlicheRahmenbedingungen schaffen will. Das finde ich gut.Das kann ich nachhaltig unterstreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Sie klagen zu Recht an, dass wir die Gleichgewichtigkeitder Ziele Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit,Klimaschutz sowie Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbs-fähigkeit in der Vergangenheit zu sehr aus den Augenverloren, dass wir diese Bereiche nicht richtig austarierthätten. Auch darin stimme ich Ihnen zu.

(Ulrich Kelber [SPD]: 1998!)

In Ihrem Antrag sind aus meiner Sicht aber leiderkeine konkreten Handlungsansätze erkennbar. Sie verlie-ren sich am Schluss Ihres Antrages leider in Allgemein-plätzen. Er endet mehr oder weniger – das muss ich Ih-nen schon sagen – als inhaltliche Nullnummer:

Sie fordern, dass wir

die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft, alsodie Bestimmung von Preisen, Verbrauch und Inves-titionen durch Markt und Wettbewerb …

erhalten, dass sich

staatliche Vorgaben … auf einen Ordnungsrahmenfür energiewirtschaftliches Handeln beschränken,aber das Handeln anderen überlassen.

(Gudrun Kopp [FDP]: Genau das fehlt, Herr Kollege!)

Das sind Allgemeinplätze, denen wir alle hier im Haus– vielleicht mit Ausnahme der Kollegen von ganz links –zustimmen. Wir sind – das will ich gleich hinzufügen –auf dem Weg, diese Forderungen umzusetzen. Mit demEnergiegipfel haben wir in dieser Woche den Startschussdazu gegeben.

Der zweite Antrag wurde von der Fraktion DIELINKE vorgelegt. Er geht nicht nur haarscharf an denRealitäten vorbei, sondern meilenweit. Sie sprechen da-von, dass unsere Energiepolitik internationale Konflikteschürt. Im Gegensatz zur FDP schlagen Sie immerhinInstrumente vor. Sie sind aus meiner Sicht allerdingsabstrus. Sie fordern die Verstaatlichung der Netze, so

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Dr. Joachim Pfeiffer

genannte Bürgerenergienetze und andere Dinge mehr.All das sind Instrumente aus der sozialistischen Motten-kiste, die in der Vergangenheit nirgendwo auf der Weltfunk-tioniert haben. Deshalb brauchen wir uns mit die-sem Antrag nicht weiter zu beschäftigen.

Was sind die Herausforderungen und wie wollen wirsie angehen? In der Tat hat unsere Wirtschaft, und zwarnicht nur die energieintensive Wirtschaft, Wettbewerbs-fähigkeit eingebüßt. Diese Wettbewerbsfähigkeit müs-sen wir dringend wieder erlangen. Das bedeutet, wirmüssen kurz- und mittelfristig handeln. KurzfristigeMaßnahmen haben wir mit dem Energiewirtschaftsge-setz eingeleitet. Frau Kopp, dieses Gesetz haben wir imVermittlungsausschuss zusammen mit der SPD und denGrünen – auch das muss man einmal sagen – auf denWeg gebracht. Mit der zurzeit in Entwicklung befindli-chen Anreizregulierung werden wir einen Beitrag dazuleisten, dass die vorhandenen Potenziale bei denNetzentgelten gehoben werden. Diese Preissenkung ge-reicht den energieintensiven Unternehmen zum Vorteil.

(Gudrun Kopp [FDP]: Guter Anfang!)

Darüber hinaus sind Ausnahmen bei der energieintensi-ven Industrie möglich.

Es gibt hier die ersten Antragsteller. In diesem Zu-sammenhang wurden die Netznutzungsentgelte schonzwischen 30 und 50 Prozent reduziert. Hier wurde einkonkreter Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit erreicht.

(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ein sehr gutes Gesetz aus der letzten Legislaturperiode!)

– Herr Kelber, dank unserer Vermittlungsbemühungenist es Ende Juni letzten Jahres in der Tat ein gutes Gesetzgeworden.

(Gudrun Kopp [FDP]: Immer großzügig sein!)

Ein weiterer Punkt: die Härtefallregelung im Erneuer-bare-Energien-Gesetz. Im Koalitionsvertrag wurde dieAufhebung der Deckelung bei 10 Prozent verabredet.Das wird jetzt umgesetzt. Sie bringt der energieintensi-ven Industrie für 2006 immerhin 80 Millionen Euro undverbessert die Wettbewerbsfähigkeit direkt und nachhal-tig.

Ein weiteres Instrument, mit dem wir kurzfristig han-deln, ist das Energiesteuergesetz. Einige Branchen wer-den weiterhin bzw. neu von der Stromsteuer und Mine-ralölsteuer befreit. Auch das zielt direkt auf dieWettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen ab.

Ein letzter und ganz entscheidender Punkt, mit demwir uns in den nächsten Wochen mit Sicherheit auch hierim Parlament und in den Ausschüssen befassen werden,wenngleich der NAP II Aufgabe der Regierung ist, istder Emissionshandel. Nicht umsonst haben wir den EU-Kommissar für Umwelt eingeladen, im Mai zu einer ge-meinsamen Sitzung des Wirtschafts- und des Umwelt-ausschusses zu kommen. Der Emmissionshandel musszukünftig so ausgerichtet sein, dass die energieintensi-ven Unternehmen im Wettbewerb nicht mehr benachtei-ligt werden, dass wir die Einpreisung der Windfall-Pro-fits zukünftig verhindern bzw. rückgängig machen

sollten und so einen wichtigen Beitrag für die energiein-tensiven Unternehmen leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das alles sind Punkte, die ganz konkret nacheinander ab-gearbeitet werden und dem Ziel der Förderung der Wett-bewerbsfähigkeit bzw. der Wiederherstellung der Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft dienen.

Was aber sind die langfristigen Herausforderungen?Sie sind in der Tat nicht nur kurz- oder mittelfristigerNatur. Wir brauchen ein energiepolitisches Gesamtkon-zept – das fordern wir schon lange ein; leider gab es dassowohl in den letzten sieben Jahren unter Rot-Grün alsauch in den 90er-Jahren unter Schwarz-Gelb nicht –, dasdie Ziele Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Um-weltschutz und Klimaverträglichkeit aufeinander ab-stimmt. Was sind die Herausforderungen? Auf der einenSeite müssen wir alles für die Energieeinsparung und dieErhöhung der Energieeffizienz tun. Ich glaube, da sindwir uns alle hier im Hause einig.

Das EU-Grünbuch sieht hier ein Potenzial von bis zu20 Prozent, was monetär betrachtet europaweit immer-hin 60 bis 65 Milliarden Euro pro Jahr bedeutet, die wirin diesem Bereich einsparen könnten, wenn wir über alleSektoren hinweg konsequent wären. Wir wollen dies undsetzen das mit dem Gebäudesanierungsprogramm – dasist ein Feld, über das in der Vergangenheit sehr viel gere-det wurde, Herr Fell, auf dem aber viel zu wenig getanwurde – in diesem Jahr erstmalig um, und zwar mit einerhervorragenden finanziellen Ausstattung und mit weite-ren Anreizen, die nicht nur zinsverbilligend wirken, son-dern die direkt im Zuschussbereich, also auch im Eigen-tumsbereich, ihre Wirkung entfalten. Dies wird mitweiteren Instrumenten ergänzt.

Mit all diesen Bemühungen – der Steigerung derEnergieeffizienz und den Einsparungen – werden wir,wenn es optimal läuft, um 20 Prozent reduzieren kön-nen. Das heißt, wir haben natürlich immer noch den Be-darf an Strom, Energie und Wärme. Auch im Kraftstoff-und im Mobilitätsbereich, die selbstverständlich auch zueinem gesamtpolitischen Energiekonzept zählen, gibt esweitere Herausforderungen. Wir brauchen einen nach-haltigen Energiemix. Dieser Energiemix – davon bin ichzutiefst überzeugt – wird allen Energieträgen mit ihrenspezifischen Vor- und Nachteilen in Zukunft einen Platzbieten.

(Gudrun Kopp [FDP]: Hört! Hört!)

Das betrifft die fossilen Brennstoffe, also zum Bei-spiel die Braunkohle und die Steinkohle. Ich nenne dieStichworte CO2-Reduktion und CO2-freies Kraftwerk,das nun von der Vision in die Realisierungsphase ge-langt. Das betrifft auch den Gasbereich. Ich will nichtverkennen, dass ich froh bin, dass wir jetzt von dem WegAbstand nehmen, der von den Grünen, insbesondere vonHerrn Trittin, in der letzten Legislaturperiode eingeleitetwurde. Es schien der vermeintlich einfachste Weg, In-vestitionen zu generieren und gleichzeitig eine Reduk-tion des CO2-Ausstoßes zu erreichen. Das funktionierteaber nicht so. Es wird nötig sein, auch die Kernenergieim Energiemix zu behalten,

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Dr. Joachim Pfeiffer

(Gudrun Kopp [FDP]: Aha!)

ob wir dies in Deutschland wollen oder nicht.

Es ist sicher: Die Kernenergie wird für den Energie-mix in Deutschland auch in Zukunft eine Rolle spielen.Ich sage Ihnen auch, warum: Wenn wir einen europäi-schen Markt, beim Gas den Ausbau der Grenzüber-gangsstellen, den Ausbau der Kuppelstellen und auf demStrommarkt eine Preisbildung auf europäischer Ebenehaben wollen, wird der Verbraucher in Deutschland – obEndverbraucher oder Wirtschaft – zukünftig frei ent-scheiden können, woher er welchen Strom bezieht.Selbst dann, wenn wir uns, was ich nicht glaube, dafürentscheiden würden, in Deutschland langfristig auf dieKernenergie zu verzichten, würde sie über diesen Um-weg für den Strommix in Deutschland auf jeden Falleine Rolle spielen.

Insofern wird die Diskussion der nächsten Wochenund Monate, wenn wir sie denn ernsthaft, rational undsachlich führen – mein Eindruck ist, dass wir das zumersten Mal seit Jahren, beginnend mit dem Energiegip-fel, schaffen können –, dazu führen, dass wir die Realitä-ten zur Kenntnis nehmen und uns an ihnen orientierenund dass wir uns bei der Stromerzeugung um eine breiteDiversifikation bemühen. Zu den Hebungen und den Po-tenzialen konnte ich leider nichts mehr sagen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege.

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich bitte darum.

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Dabei geht es um die KWK und hinsichtlich der

Kraftstoffe und der Mobilität um eine Strategie zur Er-setzung der bisherigen Kraftstoffe durch alternativeKraftstoffe.

Deshalb sehe ich mit Freude den Diskussionen dernächsten Wochen und Monate entgegen, –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): – in denen mancher die Realitäten der Zeit erkennen

wird. Ich komme für heute gerne zum Schluss, Frau Prä-sidentin.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Lieber Herr Kollege Pfeiffer, wenn etwasabstrus ist, dann ist es Ihr unbedingtes Festhalten an derAtomindustrie und den gefährlichen Meilern, die es beiuns gibt. Das ist wirklich abstrus.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. JoachimPfeiffer [CDU/CSU]: Hätten Sie mir doch nurzugehört!)

Die jetzige Energiepolitik der Bundesregierung istunsozial und den globalen Herausforderungen nicht ge-wachsen. Bundesregierung und Energiekonzerne glau-ben, man könne den nötigen Umbau ohne viel Bewe-gung bewältigen. Das ist ein Irrtum. Die Aufgabe einernachhaltigen Energieversorgung ist kein Wunschkon-zert der Energiebosse. Es ist zwingend nötig, die Ener-giepolitik den veränderten Bedingungen anzupassen.

Anhand von fünf Thesen möchte ich das verdeutli-chen:

Erstens. Klimawandel und Ressourcenverfügbar-keit geben den Ton an. Deutschland ist zu drei Viertelnvom Import fossiler und atomarer Energie abhängig. DerHunger nach diesen Rohstoffen wächst. Die Folge:Schon in 15 Jahren wird das knappe Öl über 100 Dollarje Barrel kosten. Herr Pfeiffer, dann werden wir es mitVerteilungskämpfen zu tun haben. Warten wir einmal ab,was dann geschehen wird.

(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Sagen Sie etwa, wir schüren internationale Konflikte?)

Auch auf Kohle allein können wir nicht setzen. Denn derKlimawandel ist in vollem Gange. Seine Hauptursacheist der massenhafte Verbrauch von Kohle und Öl. DieFolgen für Mensch und Umwelt erreichen uns schnellerund in stärkerem Maße als bisher angenommen. Wirmüssen beim Klimaschutz einfach mehr tun.

Zweitens. Der Energieverbrauch muss halbiert wer-den. Allein die Industrie kann den Stromverbrauch um30 Prozent senken. Die Heizkosten im Gebäudebestandkönnten um bis zu 80 Prozent reduziert werden.

(Ulrich Kelber [SPD]: Hier machen wir doch etwas! Das müssen Sie jetzt aber zugeben!)

Bei einer Halbierung des Energieverbrauchs könnenwir sicherlich das Potenzial der erneuerbaren Energiennutzen, um die drängenden Ziele beim Klimaschutz zuerreichen. Das wird nur mit einem klaren Ordnungsrechtgelingen. Dazu gehören das Verbot von Stand-by-Gerä-ten, die Pflicht zum Energiemanagement in der Industrieund klare Verbrauchsobergrenzen, die auch für die Auto-mobilindustrie gelten müssen.

Drittens. Energie muss bezahlbar bleiben. Dieaktuelle Preissteigerung ist nur teilweise den hohenRohstoffkosten geschuldet. Sie ist auch auf Börsenspe-kulationen und die Profitgier der Konzerne zurückzufüh-ren. Neben der Energieeinsparung ist der Ausbau der er-neuerbaren Energien der einzige Garant für stabilePreise. Ihre Kosten sinken, während sich die Preisspiralebei Gas und Öl nach oben dreht. In wenigen Jahren

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Hans-Kurt Hill

werden Wind, Sonne und Biomasse zum Teil billigersein als die fossilen Energien.

Viertens. Die Netze gehören in öffentliche Hand; dasist eigentlich nichts Neues.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben mit der Bundesnetzagentur ein geeignetesInstrument, wir müssen es nur entsprechend ausstatten,dann wird es auch funktionieren. Die Netze müssen derAllgemeinheit dienen und nicht dem Profit weniger.

Meine Damen und Herren von der FDP, 40 Prozentder Stromrechnung der privaten Haushalte sind so ge-nannte Netznutzungsentgelte.

(Gudrun Kopp [FDP]: Was?)

Die erneuerbaren Energien schlagen nur mit 2 Prozentzu Buche.

(Gudrun Kopp [FDP]: Stimmt nicht! Das ist falsch!)

Fünftens. Die fossil-atomare Energiewirtschaft hatkeine Zukunft. Atomkraft senkt nicht die Preise, aus-schließlich Spitzenlastkraftwerke bestimmen den Markt-preis. Der Klimaschutzeffekt ist null. Laufen Atommeilerlänger, dürfen die Kohleblöcke mehr CO2 produzieren;das macht der Emissionshandel möglich. Atomkraftkann keine Brücke zur Einführung neuer Technologiensein. Clean-Coal-Kraftwerke und Fusionsreaktoren sindnur teure Theorien. – Es tut mir Leid, meine Stimmemacht nicht mehr mit.

Ich bedanke mich bei Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, alles Gute für Ihre Stimme, damit Sie

demnächst wieder reden können.

Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann,SPD-Fraktion.

Rolf Hempelmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das ist nun heute schon die vierte Debatte, die sich aufdie eine oder andere Art und Weise mit der Energiepoli-tik beschäftigt. Wir haben offenbar einen Tag der Ener-giepolitik, ja eigentlich sogar – wenn man an den Beginnder Woche, an den Energiegipfel denkt – eine Woche derEnergiepolitik. Das ist gut so; es zeigt nur den Stellen-wert des Politikfeldes, mit dem wir uns beschäftigen.

Am Ende eines solchen Debattentages – den habenwir ja, was die Energiepolitik angeht, fast erreicht – kannman eine ganz interessante Feststellung treffen: DieSituation ist schon etwas seltsam. Auf der einen Seitehaben wir die Grünen, die initiativ wurden und eineAktuelle Stunde zum Thema Energiepolitik verlangtenund im Grunde genommen feststellen müssen, dass siefast überflüssig werden;

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Hans-Josef Fell[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haha!)

denn Rot-Schwarz – oder Schwarz-Rot – betreibt eineEnergiepolitik, die mindestens so grün ist wie die Ener-giepolitik der sieben Jahre zuvor.

(Zuruf von der FDP: Und genauso wenig zielführend!)

Das führt bei den Grünen natürlich zu ein wenig Nervo-sität.

Auf der anderen Seite haben wir eine Fraktion, die einbisschen die Rolle einnimmt, die man früher den Grünenzugeschrieben hat. Wir haben gerade Herrn Hill gehört,der meint, dass es ohne fossile und ohne Kernenergiegeht, mit anderen Worten: Strom gibt es, wenn der Windweht. Auch das kann der Weg nicht sein.

Unser Koalitionspartner schließlich hat sich mit unsgemeinsam auf den Weg gemacht, eine Energiepolitik zuformulieren, die zukunftsfähig ist und unser Land wei-terbringen wird. Lieber Kollege Pfeiffer, ich hätte gerneam Ende Ihrer Rede applaudiert, aber wir gewöhnen unsja alle noch ein bisschen aneinander.

(Heiterkeit des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU])

Deswegen sei Ihnen verziehen, dass Sie am Ende dochnoch einen kleinen Ausrutscher hatten, als Sie sozusagen„zum Kern“ gekommen sind, auf den Sie immer wiedergerne zurückkommen. Sie hatten halt das Pech, bei derTschernobyldebatte nicht dabei gewesen zu sein; mögli-cherweise hätten Sie sich sonst die Bemerkung zu die-sem Thema verkniffen.

Die FDP hat einen Antrag gestellt

(Gudrun Kopp [FDP]: Guter Antrag!)

und bittet um einen ordnungspolitischen Kompass.Dann gibt es offenbar eine gewisse Orientierungslosig-keit in Ihren Reihen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der FDP: Bei der Regierung!)

Sie bitten uns, Ihnen da ein bisschen weiterzuhelfen undOrientierung zu geben. Dazu sind wir natürlich gerne be-reit.

(Gudrun Kopp [FDP]: Das kann schief gehen!)

Die Linken wollen Energieversorgung sozial undökologisch gestalten. Ich habe immer gedacht: Das istgenau das, was wir jahrelang gemacht haben. Wir warenfür das Soziale und für das Ökologische gemeinsam zu-ständig und sind dafür gelegentlich von allen Seiten– oder fast allen – gelobt worden.

Wie dem auch sei, am Montag fand der Energiegipfelstatt; wir haben heute darüber gesprochen. Ich denke,dass hier durchaus ein Beitrag geleistet worden ist und inden nächsten Monaten geleistet werden wird,

(Gudrun Kopp [FDP]: Welche Versprechung!)

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Rolf Hempelmann

der dem Verlangen nach Orientierung bis ins Jahr 2020tatsächlich nachkommt: mit einem Energiekonzept oderEnergieprogramm, das im Jahre 2007 das Ergebnis die-ses Gipfelprozesses sein soll.

Wir haben heute Morgen gehört, dass bei den Gesprä-chen auf diesem Gipfel insbesondere die AspekteVersorgungssicherheit, Preiswürdigkeit und Umweltver-träglichkeit eine Rolle gespielt haben und dass die Er-gebnisse – insbesondere die zugesagten Investitionen –genau dieser Zieltrias entsprechen. Das ist gut so; daswird von uns begrüßt. Als Parlamentarier sind wir abergebrannte Kinder und wollen mehr als diese Zusagen.Wir möchten von den zuständigen Ministerien schwarzauf weiß sehen, was im Einzelnen vereinbart worden ist,um die Belastbarkeit der Zusagen selber einschätzen zukönnen.

(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert)

Es lohnt sich durchaus, nicht nur einen Blick nachvorne, sondern auch einen Blick zurück zu werfen; dennich glaube, dass mit der Energiepolitik der letzten Jahredie Kriterien erfüllt wurden, deren Realisierung unsheute in diesen beiden Anträgen abverlangt wird. Zumeinen haben wir im letzten Jahr eine Ordnungspolitikauf den Weg gebracht, die man durchaus mit dem Be-griff Paradigmenwechsel umschreiben kann, und zwardurch Einsatz der SPD, der CDU/CSU und der FDP.Nachdem zunächst der Bundestag entschieden hatte, ha-ben wir letztlich im Bundesrat eine Einigung über einenneuen Ordnungsrahmen und ein neues Energie-wirtschaftsgesetz erzielt, durch das eine Regulierungs-behörde, nämlich die Bundesnetzagentur, beauftragtworden ist, für mehr Wettbewerb bei den leitungsgebun-denen Energien, also bei Strom und Gas, zu sorgen. Ichdenke, das war ein wichtiger Schritt. Wir sollten ihnnicht kleinreden, aber auch nicht so tun, als müssten wirheute damit beginnen, die Ordnungspolitik auf einenneuen Weg zu bringen.

Richtig ist, dass die Bundesnetzagentur ihre Arbeitgerade erst aufgenommen hat, sodass man sie noch nichtbeurteilen kann. Sie muss auch noch eine Anreizregulie-rung konzipieren, die in eine entsprechende Verordnungzu gießen ist und erst dann wirken kann. Wir alle erhof-fen uns davon mehr Wettbewerb. Das ist in der Tat diebeste Möglichkeit, um zu sinkenden Netzentgelten undauch zu sinkenden Energiepreisen, Strompreisen alle-mal, zu kommen.

Wir haben in der letzten Legislaturperiode ein weite-res wichtiges Projekt auf den Weg gebracht, nämlich denNationalen Allokationsplan. Dem folgt jetzt für diezweite Handelsperiode der Nationale Allokationsplan II.Es ist wichtig – das habe ich heute Morgen schonbetont –, dass sich die Häuser schnell einigen, damit wirals Parlament diesen Prozess entsprechend begleitenkönnen. Wir müssen verschiedene Ziele gemeinsam er-reichen; das ist keine einfache Geschichte. Auf der einenSeite wollen wir, dass es zu Investitionen in die Kraft-werke kommt. Dazu muss es im Allokationsplan be-stimmte Rahmenbedingungen geben. Auf der anderenSeite wollen wir, dass die Industrie nicht derart mit Kos-ten belastet wird, dass wir sie letztlich aus dem Lande

treiben. Das heißt, wir müssen Wege finden, dass dieUnternehmen durch die Einpreisung der Zertifikate nichtgeradezu erdrosselt werden, wie es bisher geschehen ist.Hier ist die Energiewirtschaft aufgefordert, an Lösungenmitzuarbeiten. Einfache Lösungen gibt es jedenfallsnicht.

Im FDP-Antrag gibt es etwas, das bei mir ein Déjà-vu-Erlebnis ausgelöst hat. Wir haben ja bei vielen Podi-umsdiskussionen zum Thema Energiepolitik zusammen-gesessen, bei denen immer wieder gesagt wurde: Vonden staatlich induzierten Mehrkosten von 40 Prozentmüssen wir runter. – Ich will ein für allemal sagen, dassüber 34 Prozent dieser Kosten überhaupt nicht geredetwerden kann. Das wissen Sie genauso gut wie jeder an-dere hier im Hause. Das sind nämlich Kosten, die Sieselbst anderswo ebenfalls vertreten. Für die Konzessi-onsabgaben beispielsweise, die an die Kommunen ge-zahlt werden, werden Sie in Ihren Kommunen genausostreiten – jedenfalls werden Sie den Eindruck erwecken,dass Sie dafür streiten –, wie wir uns hier dafür einset-zen. Diese Gelder sind für Leistungen, die die Kommu-nen erbringen und auf die sie einen Anspruch haben. Eskann doch keiner ernsthaft erwarten, dass wir, was dieUmsatzsteuer angeht, bei der Energie eine Ausnahmemachen.

(Gudrun Kopp [FDP]: Sie wollen sie noch erhöhen!)

Ich denke, dass die Stromsteuer im Grundsatz nichtwirklich umstritten ist.

(Gudrun Kopp [FDP]: Doch!)

Es geht also um die relativ geringen Kosten, die durchdas Erneuerbare-Energien-Gesetz verursacht werden.Da streiten wir am Ende über Nuancen; denn auch dasErneuerbare-Energien-Gesetz wird jedenfalls verbalitervon allen Fraktionen unterstützt.

(Gudrun Kopp [FDP]: Nein!)

Deswegen hören Sie auf mit der Mär von den staatlichinduzierten Kosten. Wir müssen mehr Wettbewerb in dasEnergiegeschäft einziehen lassen. Das ist der beste Weg,um die Kosten zu senken und zu niedrigeren Preisen zukommen. Diesen Weg werden wir weiter beschreiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Martin Zeil [FDP]: Weit weg von einfachen Menschen!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat das

Wort der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grü-nen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt der Experte!)

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der De-

batte liegen zwei Anträge zugrunde, einer von der FDPund einer von der Linken. Lassen Sie mich mit demFDP-Antrag anfangen.

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Hans-Josef Fell

Frau Kopp,

(Gudrun Kopp [FDP]: Ja?)

Sie formulieren in Ihrem Antrag Leitlinien, die wirdurchaus für richtig halten. Beispielsweise schreiben Siein Ihrem Antrag:

Der Wettbewerb ist vor Absprachen, Kartellen undMissbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zuschützen.

Wo waren Sie denn in den 40 Jahren Regierungsbeteili-gung, in denen Sie stets die Wirtschaftsminister gestellthaben und in denen sich in diesem Land im Energiesek-tor eine Struktur aufbauen konnte, die von Monopolen,Oligopolen, Absprachen, Kartellen und von marktbe-herrschenden Stellungen dominiert ist?

(Gudrun Kopp [FDP]: Was?)

Ihre Wirtschaftspolitik hat doch dazu geführt, dass wirgenau das haben, was Sie in Ihrem Antrag ablehnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will die zweite Leitlinie Ihres Antrags zitieren:

Eingriffe des Staates – etwa zum Erreichen vonökonomischen oder ökologischen Zielen – müssenmarktkonform sein …

(Gudrun Kopp [FDP]: Sagen Sie doch mal etwas zu Eon und Ruhrgas!)

Das unterstützen wir. Auch von Anreizen für ein wirt-schaftlich vernünftiges Verhalten ist in Ihrem Antrag dieRede; das unterstützen wir ebenfalls. Externe Kosten un-ternehmerischen Handelns, auch solche, die in der Zu-kunft anfallen, sind zu internalisieren, heißt es hier. DieInstrumente müssen wettbewerbsorientiert und effizientsein.

Die rot-grüne Bundesregierung hat seinerzeit damitbegonnen, die Monopole, die Sie geschaffen haben, ab-zubauen, und zwar mit dem Erneuerbare-Energien-Ge-setz, das neuen Akteuren überhaupt eine Chance gibt,mit dem KWK-Gesetz und mit der Ökosteuer. Genaudiese Instrumente wollen Sie jedoch verhindern. Das istletztendlich der Grundgedanke Ihres Antrages.

Ich möchte das noch im Detail ausführen. Aber ichsehe, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen, FrauKopp, die ich gerne zulasse.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Kopp.

Gudrun Kopp (FDP): Herr Fell, herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulas-

sen. – Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,

(Dr. Rainer Wend [SPD]: Vorsicht!)

dass es der frühere Bundeswirtschaftsminister Rexrodtwar, der mit der Liberalisierung des Strommarktes be-gonnen hat? Bis 1998 konnte durch diese Liberalisierungein Gewinn von 7,5 Milliarden Euro erwirtschaftet wer-den, der kurz danach durch Ihre Regierungsbeteiligung

nicht nur aufgebraucht, sondern ins Gegenteil verkehrtwurde. Von der Konzentration auf dem Energiemarktdurch die Erlaubnis der Fusion von Eon und Ruhrgaswill ich einmal schweigen. Bauen Sie hier bitte keinenPopanz auf, den es so gar nicht gibt.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin Kopp, Sie haben sicherlich gehört, dass

ich von 40 Jahren Regierungsbeteiligung der FDP unddem jahrzehntelangen Aufbau dieser Strukturen gespro-chen habe.

(Gudrun Kopp [FDP]: Da habe ich noch gar nicht gelebt!)

Ich will gerne zugestehen, dass am Ende mit der Libera-lisierung ein vernünftiger Versuch unternommen wurde.Aber weil Sie über Jahrzehnte hinweg eine Monopol-struktur im Energiebereich zugelassen und nicht dage-gen gekämpft haben, ist es Rot-Grün schwer gefallen,die Liberalisierung zu Ende zu führen. Das Ergebnis Ih-rer jahrzehntelangen verfehlten Wirtschaftspolitik isteine starke Monopolisierung und Oligopolisierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich auf Ihren Antrag im Detail eingehen.Sie wollen eine effiziente, marktkonforme und erfolgrei-che Förderung auch von erneuerbaren Energien. Da-rüber freuen wir uns; das ist ein richtiger Ansatz. Aberich frage Sie: Warum bekämpfen Sie, wie in diesem An-trag, die effizienten Instrumente? Nur ein Beispiel: DieWindenergie hat in Großbritannien in den letzten Jahrenein Volumen von etwa 1 Gigawatt erreicht; in Deutsch-land beträgt dieses Volumen 20 Gigawatt. Wissen Sie,warum? In Großbritannien sind die Instrumente, die Siefür richtig halten – Quoten und Zertifikate –, angewandtworden. Dadurch wurde diese Energieform ineffizientund in dem windreichen Land Großbritannien wurdennur wenige Windanlagen gebaut. In Deutschland hinge-gen konnten auf diesem Markt neue Akteure Fuß fassen.

(Gudrun Kopp [FDP]: Koste es, was es wolle!)

– Genau, kommen wir zu den Kosten. In Großbritannienkostet die Kilowattstunde Windenergie etwa 13 Cent, inDeutschland im Durchschnitt etwa 8 Cent. Im Vergleichist das Instrument in Deutschland eindeutig kostengüns-tiger.

Sie beklagen auch, dass die Strompreise insgesamt zuhoch seien, und schieben dies den erneuerbaren Ener-gien, der KWK und der Ökosteuer in die Schuhe. Dabeiverschweigen Sie, dass die EEG-Mehrkosten nur3 Prozent des Strompreises ausmachen.

(Axel E. Fischer [Karlruhe-Land] [CDU/CSU]: Die Rechnung möchte ich mal sehen!)

Die stromintensive Industrie ist von diesen Mehrkos-ten sogar weitgehend entlastet.

(Martin Zeil [FDP]: Die armen Bürger müssen es zahlen!)

Insofern können Sie nicht von der falschen Behauptungausgehen, dass 600 000 Arbeitsplätze gefährdet seien.

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Hans-Josef Fell

Wie sieht es denn wirklich mit der Ökosteuer aus? DieUnternehmen werden durch die Ökosteuer beim Arbeit-geberanteil an den Rentenversicherungsbeiträgen undbei den höheren Energiekosten entlastet. Die strominten-sive Industrie hat durch die Ökosteuer keinen Nachteil– wie Sie behaupten –, sondern einen Vorteil. Das istWirtschaftsförderung, wie wir sie für richtig halten.

Ich gestehe Ihnen zu, dass die stromintensive Indus-trie durch die steigenden Energiepreise gefährdet ist.Aber das liegt, wie auch Sie festgestellt haben, an demFesthalten am Energiemix. Die Erdgas-, Erdöl-, Kohle-und Uranpreise steigen weltweit an. Wenn wir bei die-sem Energiemix bleiben, werden wir diese Arbeitsplätzegefährden. Wir müssen also so bald wie möglich aus denfossilen und atomaren Energien aussteigen, damit dieArbeitsplätze gesichert werden. Das ist das Entschei-dende.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der LINKEN – AxelE. Fischer [Karlruhe-Land] [CDU/CSU]: Dasglauben Sie selber nicht, was Sie erzählen!)

Sie haben gesagt, dass Sie andere Wettbewerbsinstru-mente anstreben, beispielsweise um den Klimaschutz zuverbessern. Lassen Sie uns einen Vergleich anstellen.Die CO2-Vermeidungskosten durch die Windenergie lie-gen bei 52 Euro pro Tonne CO2. Durch den Emissions-handel betragen die CO2-Vermeidungskosten 1 160 Euroje Tonne – und Sie sagen, wir müssten uns für dieses In-strument stärker einsetzen. Helfen Sie lieber mit, dassdie Industrie endlich bei der Versteigerung der Zertifi-kate im Emissionshandel mitmacht, damit die Kostengesenkt werden,

(Gudrun Kopp [FDP]: Das haben wir eben ge-sagt!)

statt Ihre Denkansätze weiterzuverfolgen.

Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den Lin-ken. Sie fordern sozial gerechtere Strukturen auch in derEnergiewirtschaft. Das ist notwendig; das will ich gernezugestehen. Aber wenn die Einnahmen aus der Öko-steuer mehrheitlich in die erneuerbaren Energien und indie Energieeinsparung gelenkt würden, wie Sie es wol-len, bedeutete das im Klartext – das steht zwar nicht inIhrem Antrag, aber das wäre die Folge – eine Anhebungder Rentenversicherungsbeiträge für alle Bürgerinnenund Bürger, die in Arbeit sind.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Wie Sie das als sozial verträglich begründen wollen,müssen Sie mir einmal erklären. Lesen Sie Ihren Antrag!Darin ist noch vieles zu verbessern. In der vorliegendenFassung können wir ihn sicherlich nicht mittragen. Ichbin auf die Debatte in den Ausschüssen gespannt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu-ruf von der CDU/CSU: Schlechter Beitrag!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 16/589 und 16/1082 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. – Ich stelle fest, Sie sind damit einverstanden. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Sicherung vonWerkunternehmeransprüchen und zur ver-besserten Durchsetzung von Forderungen(Forderungssicherungsgesetz – FoSiG)

– Drucksache 16/511 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Kollege Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion.

Dr. Peter Danckert (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!

Wir unternehmen heute gemeinsam mit dem Bundesrateinen erneuten Versuch, im Interesse der Bauhandwerkerund Bauunternehmer die Zahlungsmoral zu verbessern.Ich darf an das Bauhandwerkersicherungsgesetz aus demJahr 1993 und das Gesetz zur Beschleunigung fälligerZahlungen aus dem Jahr 2000 erinnern. Zwischenzeit-lich gab es eine Reihe von Gesetzentwürfen, die abernicht realisiert wurden. Heute unternehmen wir einenweiteren Versuch.

Sie werden sehen, dass es auch in meiner Fraktiondurchaus unterschiedliche Auffassungen bei der Fragegibt – ich verweise auf meinen Kollegen DirkManzewski, der noch reden wird –, ob das Gesetz geeig-net ist, dem Notstand abzuhelfen. Ich meine: Ja. Anderemeinen: Nein. Ich bin der Meinung, dass wir es zumin-dest versuchen sollten, an dieser Stelle etwas im Inte-resse der Unternehmer zu erreichen. Es ist nicht zu leug-nen, dass es vielfach aufgrund unterschiedlicher Vor-gänge zu Zahlungsausfällen kommt. Ob wir dies letzt-lich durch das Gesetz beseitigen können, kann manbezweifeln. Aber ich finde, jeder Versuch ist lohnens-wert.

Wir haben zwar schon ein breites Instrumentarium;das wird Herr Staatsminister Mackenroth sicherlich be-stätigen. Allerdings wird von diesem nur wenig Ge-brauch gemacht. Das liegt an den unterschiedlichen Po-sitionen von Auftraggeber und Auftragnehmer. DieMöglichkeiten, die unsere gesetzlichen Regelungen vor-sehen, werden nicht genutzt, um überhaupt einen Auf-trag zu bekommen. Das eigentliche Problem ist also,dass hier wirtschaftliche Ungleichheit herrscht und dassviele Handwerker die gesetzlichen Möglichkeiten nichtnutzen.

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2688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Dr. Peter Danckert

Der Kollege Manzewski wird sicherlich anderePunkte ansprechen. Ich glaube aber, dass im Mittelpunktdes Gesetzgebungsverfahrens – es handelt sich ja um einArtikelgesetz – die Änderung im Bereich der ZPO steht,die vorläufige Zahlungsanordnung. Sie soll es demKläger in einer bestimmten Prozesssituation ermögli-chen, auf Antrag einen Titel zu erlangen, mit dem er dieVollstreckung betreiben kann. Das ist in § 302 a des Ge-setzentwurfs sehr fein ziseliert. Es bedarf eines Antra-ges, einer mündlichen Verhandlung und einer Einschät-zungsentscheidung durch das erkennende Gericht. Mithoher Wahrscheinlichkeit wird es in den meisten Fällenzu einem für den Kläger positiven Endurteil kommen.Der Beschluss muss kurz begründet werden.

Es gibt Hinweise darauf, dass die Gerichte möglicher-weise zusätzlich belastet werden, weil Anwälte massen-haft von diesem Antragsrecht Gebrauch machen, umSchadenersatzansprüchen ihrer Auftraggeber sozusagenvorzubeugen. Ich sehe diese Gefahr nicht. Ich glaube,dass es sich um ein sehr pragmatisches Instrument han-delt, von dem man in einer bestimmten Verfahrenssitua-tion, wenn der Prozess beispielsweise durch die beklagteSeite verschleppt wird, Gebrauch macht. Dadurch wirddas Gericht in die Lage versetzt, eine vorläufige Ent-scheidung zu treffen. Ich halte das für vernünftig undsachgerecht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ob es alle Probleme löst, wird man erst sehen, wenn esin der Praxis ausprobiert wird. Ich finde, wir sollten die-sen Versuch gemeinsam wagen.

Heute ist die erste Lesung. Wir werden sehen, ob wirim Rahmen der weiteren Beratungen möglicherweise zueinzelnen Verbesserungen kommen. Ich bescheinigedem Bundesrat auf jeden Fall, dass sein Vorschlag einevernünftige Gesetzesgrundlage im Interesse der Bau-unternehmer bietet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Mechthild Dyckmans (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der deut-

sche Mittelstand und insbesondere die deutschen Hand-werker haben mit vielen Problemen zu kämpfen. Einesdavon ist die mangelnde Zahlungsmoral. Diese ist nichtnur bei privaten Auftraggebern anzutreffen. Auch die öf-fentliche Hand geht hier häufig nicht mit gutem Beispielvoran.

Wir debattieren heute über den Entwurf eines Forde-rungssicherungsgesetzes. Bereits der Titel weckt dieHoffnung, dass aufgrund der in diesem Entwurf vorgese-henen Gesetzesänderungen Unternehmer ihre Ansprüchesichern und ihre Forderungen leichter und besser durch-setzen. Wie Sie aber wissen, debattieren wir heute nicht

zum ersten Mal darüber. Bereits in der 14. und der15. Wahlperiode verfielen entsprechende Gesetzent-würfe der Diskontinuität. Das war nicht unbedingt Zu-fall, sondern lag an den vielen Bedenken, die in den De-batten überdeutlich geworden sind.

Das Bundesjustizministerium macht sich nun einenGesetzentwurf zu Eigen, der von den unionsregiertenBundesländern eingebracht wurde, und propagiert in ei-ner Pressemitteilung von heute „Schneller Geld fürHandwerker“. Ich hätte eigentlich erwartet, dass dieBundesregierung ein eigenes Forderungssicherungsge-setz vorlegt,

(Beifall bei der FDP)

nachdem wir mehrmals darüber debattiert und die Pro-bleme genau aufgezeigt haben.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist ja ein Bund-Länder-Projekt, Frau Kollegin!)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,erinnern Sie sich nicht mehr an Ihre Kritik aus der letz-ten Wahlperiode? Was hat sich eigentlich seitdem geän-dert,

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wir haben ge-wählt! Der Bürger hat einen neuen Auftrag er-teilt!)

außer dass Sie jetzt in einer großen Koalition mit derCDU/CSU sind? Für die FDP-Bundestagsfraktion beste-hen die Bedenken aus der letzten Legislaturperiode nachwie vor. Eine Gesetzesänderung erreicht nämlich nurdann ihr Ziel, wenn sie wirtschaftlich sinnvoll, rechtlichmöglich und zielführend ist.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das trifft hier alles zu!)

Der heute vorliegende Entwurf darf nicht nur als Beruhi-gungspille für Handwerker dienen.

Beispielhaft eingehen möchte ich heute auf die Ein-führung der so genannten vorläufigen Zahlungsanord-nung; Sie haben sie schon erwähnt, Herr Kollege. Hiersoll ein neues Rechtsinstitut geschaffen werden, dasnicht nur für Bauforderungen, sondern ganz allgemeingelten soll.

Ihr Anwendungsbereich umfasst

– ich zitiere aus der Gesetzesbegründung –

alle Zahlungsansprüche einschließlich etwaiger Ne-benforderungen, soweit nicht – wie etwa bei Unter-haltsansprüchen … – Sonderregelungen eingreifen.

Dieses Institut soll also im Bereich der Arzthaftung, beiSchadensersatzansprüchen nach Unfällen sowie bei Mie-ten und vielem anderen gelten. Abgesehen davon, dasseine Praxisbefragung durch die einbringenden Landesre-gierungen gerade nicht stattgefunden hat und die Sach-verständigenanhörung im erweiterten Berichterstatterge-spräch in der letzten Legislaturperiode große Bedenkenan der Praxistauglichkeit dieser Regelung aufgezeigt hat,es also sehr zweifelhaft ist, ob dieses Institut in der prak-tischen Umsetzung halten kann, was es verspricht,

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2689

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Mechthild Dyckmans

scheint mir ein Gesetz zur Sicherung von Werkunterneh-meransprüchen nicht der geeignete Ort für die Einfüh-rung eines völlig neuen Rechtsinstituts in die ZPO zusein.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Für den Erlass einer solchen Anordnung ist unter an-derem notwendig – auch darauf haben Sie schon hinge-wiesen, Herr Kollege –, dass der zuständige Richter eineErfolgsprognose über die Klage „nach bisherigem Sach-und Streitstand“ abgibt. Im Gesetzentwurf ist von einer„hohen Aussicht auf Erfolg“ die Rede. Hier wird eineneue Begrifflichkeit eingeführt, die der ZPO bisherfremd ist. In der Begründung ist zu lesen – das muss ichIhnen einfach vorlesen –,

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wir kennen die Begründung!)

was unter „hoher Aussicht auf Erfolg“ zu verstehen ist:

Das soll der Fall sein, wenn das Gericht sich zu deneinschlägigen tatsächlichen Fragen zwar noch keinedem Beweismaß des § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO ge-nügende Überzeugung gebildet hat, aber auf derGrundlage eines fundierten Zwischenergebnissesbereits eine Prognose über den Verfahrensausgangtreffen kann. Dieser Prognose hat das Gericht seineEinschätzung zur Entscheidungserheblichkeit die-ser Fragen, zum Maß der verbleibenden Unklarheitund gegebenenfalls zum Beweiswert noch nichtausgeschöpfter Beweisangebote zu Grunde zu le-gen. In diesem Sinne liegt eine „hohe Aussicht aufErfolg“ vor, wenn die Klage nach der geschildertenprognostischen Würdigung Erfolg haben wird.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Dr. PeterDanckert [SPD]: Das ist doch hervorragend! –Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Lyrik ist das!)

Die Praxis wird mit diesem Gesetz sehr großen Erfolghaben. Die Auslegungsschwierigkeiten sind schon pro-grammiert.

(Beifall bei der FDP)

Zusammenfassend möchte ich sagen: Die FDP unter-stützt jede Regelung, die nicht nur Hoffnung für die be-troffenen Handwerker weckt, sondern wirkliche Hilfedarstellt. Denn Hilfe ist dringend geboten; das sehenauch wir von der FDP.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Dann müssen Siedem Gesetzentwurf zustimmen! – AndreaAstrid Voßhoff [CDU/CSU]: Wo sind IhreVorschläge?)

Diese Regelungen aber scheinen nur ein Hoffnungs-schimmer am Horizont zu sein. Sie bewirken nur, dassdie Ernüchterung bei dem Versuch, sie wirksam anzu-wenden, umso größer sein wird.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Justizminister des Freistaates

Sachsen, Geert Mackenroth.

Geert Mackenroth, Staatsminister (Sachsen): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den Sie heute inerster Lesung erörtern, wird bei manchen von Ihnen– davon war eben schon die Rede – einen Déjà-vu-Ef-fekt hervorrufen. In der Psychologie wird dieser Effektauf eine Sinnestäuschung im Zustand großer Erschöp-fung, im Traum oder gar am Beginn einer Neurose zu-rückgeführt. Ich darf die Betroffenen beruhigen: Umeine Sinnestäuschung handelt es sich nicht. Das Forde-rungssicherungsgesetz, das maßgeblich auf eine Initia-tive Sachsens zurückgeht, nimmt heute bereits den drit-ten Anlauf in diesem Hohen Hause. Frau AbgeordneteDyckmans hat auf die Geschichte hingewiesen.

Die hinter diesem Entwurf stehende Forderung nachMaßnahmen zur Verbesserung der Zahlungsmoral insbe-sondere zur Verbesserung der Situation von Bauhand-werkern ist sogar noch viel älter und reicht weit insletzte Jahrhundert zurück. Ich bin der Koalition und derneuen Bundesregierung dafür dankbar, dass sie dieseswichtige Vorhaben in guter Zusammenarbeit, sozusagenim Team mit dem Bundesrat, unterstützt haben. Ichwerbe dafür, dass auch Sie ihm Ihre Zustimmung geben.

Im Laufe seiner langen Entstehungsgeschichte hat derEntwurf zahlreiche Änderungen erfahren, die vor allemauf die Arbeit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unterFederführung des BMJ zurückgehen. In seiner aktuellenFassung enthält der Entwurf zunächst einmal kleine,aber durchaus wirksame Nachjustierungen am geltendenWerkvertragsrecht. Beispielsweise schreiben wir imGesetz fest, dass der Unternehmer auch nach Abnahmedes Werks Sicherheit für seine Vergütung verlangenkann. Wir stellen klar, dass die Sicherheit auch dann zuleisten ist, wenn der Besteller Mängel rügt. Anders alsbislang soll die Stellung einer Sicherheit einklagbar sein.Damit kann der Bauhandwerker in jedem Stadium derVertragsabwicklung schnell und effektiv Schutz vor ei-nem Zahlungsausfall seines Auftraggebers erlangen.

Des Weiteren soll künftig der Generalunternehmerden Subunternehmer nicht nur bezahlen müssen, wennder Generalunternehmer selbst Geld vom Bauherrn be-kommen hat, sondern auch, wenn der Bauherr das Werkdes Subunternehmers abgenommen hat. Wenn der GUden Subunternehmer trotz dessen Bitte um Auskunftnicht über die Abnahme informiert, wird der Werklohnkünftig trotzdem fällig.

Ein weiterer Punkt. Was bei VOB-Verträgen längstüblich ist, sollen nunmehr auch die BGB-Werkverträgevorsehen, nämlich einen Anspruch des Bauhandwerkersauf Abschlagszahlungen. Damit wird sein Vorleistungs-risiko deutlich verringert.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Abschlagszahlungen gibt es dochschon längst!)

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2690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Staatsminister Geert Mackenroth (Sachsen)

All dies sind Maßnahmen, die dazu beitragen, die In-teressen beider Vertragspartner wieder mehr ins Gleich-gewicht zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Danckert [SPD])

Kernstück des Entwurfs ist die Einführung einervorläufigen Zahlungsanordnung. Schon im bereits an-gesprochenen Beschluss vom 17. März 2000 hat derBundesrat ein prozessuales Instrument gefordert, wel-ches dem Richter ermöglicht, „Handwerkern vorab ei-nen Teil der eingeklagten Forderung trotz vorgebrachterMängelrügen zuzusprechen“.

Immer wieder müssen wir gerade bei Verträgen zwi-schen General- und Subunternehmern beobachten, dassund wie Auftraggeber auf den so genannten Justizkreditspekulieren, um Zeit zu gewinnen oder nachträglich einegeringere Vergütung durchzusetzen. Sie wenden gegendie Vergütungsklage des Unternehmers Mängel ein, diegar nicht oder nicht in diesem Umfang bestehen. Da-durch verzögert sich der Prozess; denn das Gericht mussdiesem Vorbringen wegen der Verpflichtung zur Er-schöpfung des Sach- und Streitstoffes und zur Erschöp-fung der Beweisanträge in jedem Detail nachgehen. Daskann sich – nicht zuletzt wegen der erforderlichen Sach-verständigengutachten – über Monate, teilweise überJahre hinziehen; auch Richterinnen und Richter fürchtendiese so genannten Punktesachen sehr.

Kleinere Unternehmen mit geringer Eigenkapitalde-ckung können gerade bei umfangreichen Gesamtforde-rungen einen solchen Prozess oft nicht durchstehen. Umüberhaupt Geld zu bekommen, willigen sie trotz berech-tigter Ansprüche vielfach zähneknirschend in einen Ver-gleich ein, der deutlich geringere Zahlungen vorsieht.Schlimmstenfalls müssen sie Insolvenz anmelden, weilihr Betrieb das Ausbleiben der einkalkulierten Zahlungnicht verkraftet.

Um eine solche Prozessverschleppung zu verhindernoder sie zumindest zu begrenzen, wird dem Kläger auf-grund dieses Gesetzes eine zusätzliche prozessualeWaffe in die Hand gegeben: die Möglichkeit, noch wäh-rend des Prozesses die richterliche Anordnung einer vor-läufigen Zahlung oder einer Teilzahlung zu erwirken,wenn die Klage oder einzelne Teile davon hohe Aussichtauf Erfolg haben und die Zahlungsanordnung nach Ab-wägung der beiderseitigen Interessen zur Abwendungbesonderer Nachteile für den Kläger gerechtfertigt ist.

Dieser Begriff „hohe Aussicht auf Erfolg“ ist keindem Gesetz fremder Begriff. Wir haben ihn bei der Pro-zesskostenhilfe implementiert und er ist jeden Tag vonden Gerichten anzuwenden.

(Mechthild Dyckmans [FDP]: Hinreichende Aussicht auf Erfolg!)

– Ob es nun hinreichende oder hohe Aussicht auf Erfolgheißt, wird die Gerichte nicht umwerfen.

(Mechthild Dyckmans [FDP]: Das ist ein Un-terschied!)

Das werden sie schon schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Jedenfalls erhält der Handwerker damit die realistischeChance, bereits vor Prozessende Geld für die Arbeitenzu erhalten, die er ordnungsgemäß ausgeführt hat, Geld,welches er womöglich für die Sicherung der Existenzseines Betriebes und der damit verbundenen Arbeits-plätze dringend benötigt.

Ich bin überzeugt davon, dass sich die vorläufigeZahlungsanordnung in der Praxis bewähren und vonden beteiligten Kreisen wie auch von der Justiz ange-nommen werden wird. Die positiven Erfahrungen eini-ger unserer Nachbarn – Frankreich, England – mit ver-gleichbaren Regelungen geben zu dieser Überzeugungbegründeten Anlass.

Obwohl die schwierige Lage der BauhandwerkerAusgangspunkt für diese Regelung war, dient sie dochnicht einseitig den Interessen der Bauunternehmer, son-dern kommt auch Verbrauchern zugute. Auf alle Zah-lungsklagen anwendbar, kann sie zum Beispiel auch Un-fallopfern in langwierigen Prozessen gegen dieVersicherung des Schädigers schneller zu Schadenser-satz oder Schmerzensgeld verhelfen. Das ist, wie ichfinde, ein umfassender und guter Lösungsansatz.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Dem Entwurf des Bundesrates ist noch in der vergan-genen Legislaturperiode vorgeworfen worden, an den ei-gentlichen Ursachen der mangelnden Zahlungsmoralvorbeizugehen. Die tatsächlichen Probleme, so hieß esund heißt es teilweise noch, seien vielmehr in der unzu-reichenden Richterausstattung bei den Ländern und inder Unkenntnis der Handwerker um ihre rechtlichenMöglichkeiten oder deren marktbedingte Nichtausnut-zung zu sehen. Wer so argumentiert, macht es sich,glaube ich, zu einfach. An der Erkenntnis, dass derzeitkein effektiver Schutz vor Prozessverschleppung be-steht, führt meines Erachtens kein Weg vorbei; der Ab-geordnete Dr. Danckert hat darauf hingewiesen. Dies istauch einhellige Auffassung der Experten in der genann-ten Bund-Länder-Arbeitsgruppe gewesen.

Dass die Richterschaft, wie ebenfalls angeführt wurde,vom Erlass vorläufiger Anordnungen absehen wird, weilsie sich ohne ein ausführliches Sachverständigengutach-ten eine Einschätzung der Rechtslage nicht zutraut, be-fürchte ich ebenfalls nicht. Ich traue den Richterinnenund Richtern zu, in einem solchen Fall – ebenso wiesonst im vorläufigen oder einstweiligen Rechtsschutz –

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge-nau!)

auch ohne ein gerichtliches Gutachten eine solche Ent-scheidung treffen zu können. Das ist Standard auf denGerichten und begegnet keinen Schwierigkeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Allein der Ruf nach immer mehr Richtern hilft auchhier nicht weiter, wenn ansonsten das bestehende prozes-suale Verzögerungspotenzial unangetastet bleibt.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2691

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Staatsminister Geert Mackenroth (Sachsen)

Richtig ist allerdings – das gilt auch heute –, dass sichSachsen ebenso wie der Zentralverband des DeutschenHandwerks für seine kleinen und mittelständischen Be-triebe in Teilbereichen noch weiter gehende Lösungengewünscht hätte. Noch im ersten Entwurf aus demJahr 2002 waren der verlängerte Eigentumsvorbehalt aneingebauten Sachen oder die Ausschreibung des Schuld-ners zur Fahndung enthalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dirk Manzewski [SPD]: Das ist von den Sach-verständigen verrissen worden, ohne Ende! –Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist nun beson-ders schwierig!)

Wir hatten und haben jedoch zu akzeptieren, dass jen-seits von allen juristisch-dogmatischen Fragen diese For-derungen nicht durchsetzbar waren und auch derzeit of-fenbar nicht ohne weiteres durchsetzbar sind. Mit demKompromiss jetzt kann ich leben.

Umso wichtiger ist es daher, ein Forderungssiche-rungsgesetz, wie es der Koalitionsvertrag fordert, alsbaldzu verabschieden und alles zu unterlassen, was die Um-setzung des Verabredeten gefährden könnte.

Natürlich muss auch die jetzt vorgesehene Regelungzu gegebener Zeit evaluiert, wieder überarbeitet und da-raufhin überprüft werden, ob sie in der Realität im Ziel-konflikt zwischen Verbraucher- und Handwerkerinteres-sen die adäquaten und richtigen Lösungen bietet. Auchin dieser Zielsetzung weiß ich mich mit unseren sächsi-schen Handwerken – aber nicht nur mit diesen – einig.

Deutschland kann es sich in seiner jetzigen wirt-schaftlichen Lage nicht leisten, dass Arbeitsplätze imHandwerk und bei den mittelständischen Betrieben ver-nichtet werden, nur deshalb, weil zahlungsunwilligeAuftraggeber ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Das Forderungssicherungsgesetz, das FoSiG, kann mit-helfen, einige der jährlich etwa 38 000 Insolvenzen ab-zuwenden und dringend benötigte Arbeitsplätze zu er-halten. Es wird auch dazu beitragen, dass wir verlorengegangenes Vertrauen in unseren Rechtsstaat zurückge-winnen. Ich bitte Sie deswegen, den Gesetzentwurf desBundesrates im Fortgang der Beratungen tatkräftig vo-ranzutreiben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine

Zimmermann, Fraktion Die Linke.

Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Wir begrüßen die Initiative,sich der Frage der Zahlungsmoral anzunehmen. Verspä-tete oder ausbleibende Zahlungen an Handwerksbetriebe

werden als erster Auslöser für Unternehmenspleiten ge-nannt. Dies gilt vor allem für kleinere, aber auch mittlereBetriebe, die nicht über genügend Eigenkapital verfügen,um eventuelle Zahlungsverzögerungen und -ausfälle zuverkraften.

Aber nicht nur 2005, sondern bereits 2002 gab es ähn-liche Initiativen. Jedes Mal sind sie dann leider im Wahl-jahr untergegangen. Dabei ist das ein Problem von äu-ßerster Brisanz. Allein in den letzten zwei Jahren gab esin Deutschland 77 000 Unternehmensinsolvenzen unddamit verbunden einen entsprechenden Arbeitsplatzver-lust.

Gerade weil das Problem eine solche Brisanz hat,muss jeder Vorschlag sorgfältig geprüft werden, ob da-mit wirklich Abhilfe geschaffen werden kann. Da mussman leider sagen: Es ist zu befürchten, dass dieser Ge-setzentwurf sowohl in seiner Reichweite wie in seinenpraktischen Konsequenzen unzureichend ist.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fürch-ten Sie sich nicht so!)

Das Hauptproblem für das einheimische Handwerkbleibt die lahmende Binnenkonjunktur. Hier gibt es we-nig Hoffnung auf Besserung, wenn Sie an Ihrer Politikder Haushaltskonsolidierung in dieser Form festhalten.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bloß keine Haushalts-konsolidierung!)

Sie, meine Damen und Herren von Union und SPD,wollen hier ein Gesetz auf den Weg bringen, das bezüg-lich eines dringenden Problems Abhilfe schaffen soll,das Sie eigentlich selbst zu verantworten haben. Mehrals jeder dritte Handwerksbetrieb attestiert seinen öffent-lichen Abnehmern eine Verschlechterung des Zahlungs-verhaltens. Das hat eine Erhebung des Zentralverbandesdes Deutschen Handwerks gezeigt. Die Ursache für dieschlechte Zahlungsmoral der öffentlichen Hand istklar: Mit Steuersenkungen für das Großkapital hat diealte rot-grüne Bundesregierung die öffentlichen Haus-halte ruiniert und das müssen nun die kleinen Hand-werksbetriebe ausbaden.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl Addicks [FDP]: Ist das ein Unsinn!)

Die Praxis zeigt doch, dass nur die wenigsten Hand-werker sich trauen, zur Einforderung der Zahlung denRechtsweg zu beschreiten, sei es weil die Zeit oder dasGeld fehlt oder weil sie befürchten, dass sie in Zukunftden Auftraggeber verlieren werden. Angesichts derRolle, die die öffentliche Hand spielt, wundert es nicht,welche Methoden manche gewerblichen Auftraggeberpraktizieren, indem Handwerksbetrieben zustehendeZahlungen verspätet oder mit Abschlägen geleistet wer-den.

Das Problem besteht doch darin, dass es darum gehenmuss, kleine Betriebe mit wenig Eigenkapital vor Gene-ralunternehmern oder großen Bauträgern zu schützen,die vom Auftraggeber Geld erhalten haben, dieses aberdem Subunternehmen nicht weiterreichen. Das ist ein of-fenes Geheimnis; aber es wird nichts getan.

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2692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Sabine Zimmermann

In diesem Zusammenhang komme ich zur Frage desVerbraucherschutzes. Der Regierung sollte die Kritikder Verbraucherzentrale eigentlich bekannt sein. Trotz-dem sieht sie hier keinen Handlungsbedarf, sodass derVerbraucherschutz bei den Neuregelungen auf der Stre-cke bleiben wird. Aber der private Häuslebauer hat einAnrecht darauf, entsprechende Mängel an Leistungengeltend zu machen. Wir fürchten, mit diesem Gesetzwird sich an der schlechten Zahlungsmoral nicht vielverändern; aber der Verbraucherschutz wird unter dieRäder kommen.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wo ist denn da der Zusammenhang?)

Sie könnten die privaten Verbraucher von den Rege-lungen des Gesetzes ausnehmen. Bevor die alte Regie-rung von Rot-Grün sich der Überarbeitung angenommenhat, war das so vorgesehen gewesen. Ist die Bundesre-gierung nicht nur an einer öffentlichkeitswirksamen Ak-tion, sondern ernsthaft an einer Verbesserung der Lageder kleinen Unternehmen und dem Schutz der Verbrau-cher interessiert, kann sie nicht bei ihrer bisherigen Posi-tion bleiben. Wir fordern Sie auf, einen Kurswechselvorzunehmen; sonst bleibt dieses Gesetz Makulatur.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat

nun der Kollege Montag das Wort.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Forde-

rungssicherungsgesetz 2002, Forderungssicherungsge-setz 2004, Forderungssicherungsgesetz 2006: HerrStaatsminister Mackenroth, dies ist keine Fata Morgana.Für mich ist das ein Zeichen der Unbelehrbarkeit derje-nigen, die zum dritten Mal versuchen, mit untauglichenMethoden ein tatsächlich vorhandenes Problem in denGriff zu bekommen.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das wird sich erst erweisen, Herr Montag!)

Auch der dritte Entwurf bietet wenig Brauchbares, eini-ges Unnützes und viel Schädliches, Herr KollegeDanckert.

Wir hatten zum identischen Gesetzentwurf schon inder vorletzten Legislaturperiode eine Sachverständigen-anhörung mit einem vernichtenden Ergebnis durchge-führt. Beim letzten Mal haben wir es gar nicht mehr zueiner Sachverständigenanhörung kommen lassen. ImRahmen eines erweiterten Berichterstattergesprächs ha-ben wir einige Fachleute gehört. Das Ergebnis hinsicht-lich der gemachten Vorschläge war ebenfalls vernich-tend.

Die Beschreibung der Situation, dass es in der Bauin-dustrie in einem großen Umfang Probleme gibt, ist rich-tig. Aber die Schuldzuweisung, die Sie treffen, indemSie von fehlender Moral sprechen – Herr StaatsministerMackenroth sprach heute sogar von massenhafter Pro-

zessverschleppung, der zu begegnen sei –, ist, wie ichfinde, völlig falsch. Mit diesen Vorschlägen wollen Siedas wohltemperierte Verhältnis im Werkvertragsrechtzulasten der einen Seite, nämlich zulasten der Verbrau-cher, verschieben.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!)

Die Werkunternehmer sind eben zu einer Vorleistungverpflichtet. Erst nach einer mängelfreien Ablieferungihrer Leistung ist der Werklohn zu zahlen. Nach IhrenVorschlägen wird es dazu kommen, dass Verbraucherkeinen Rechtsschutz mehr gegen Pfusch am Bau habenwerden. Im Übrigen: Als ich das letzte Mal zu diesemThema hier eine Rede gehalten habe, hat mir der KollegeStünker an dieser Stelle aufrichtig Beifall gezollt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Joachim Stünker [SPD]: Was habe ich ge-macht? – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So än-dern sich die Zeiten!)

Wir müssen uns nun den Gesetzentwurf einmal näheranschauen. Der Vorschlag, § 641 Abs. 2 BGB in dieserWeise zu ändern, um den Subunternehmer besser zu stel-len, ist brauchbar und richtig.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Gott sei Dank!)

Der Vorschlag, § 632 a BGB in dieser Weise zu ändern,ist absolut unbrauchbar. Das zeigt sich schon daran, dassgesagt wird, es gebe das Recht auf Abschlagszahlungnicht und es müsse hier neu eingeführt werden. Das istdoch falsch. Natürlich gibt es die Möglichkeit der Ab-schlagszahlung. Aber aus guten Gründen handelt es sichum eine Abschlagszahlung für abtrennbare und klar defi-nierte Teile des Werks. Sie wollen aber immer dann eineTeilleistung annehmen, wenn ein bestimmter Leistungs-teil in einer nicht mehr entziehbaren Art und Weise über-geben worden ist.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Da kann man se-hen, auf welcher Seite Sie stehen!)

Das führt zu absurden Ergebnissen. Sie sollten sich dasnoch einmal unter rechtlichen Gesichtspunkten überle-gen.

Unbrauchbar ist schließlich auch die Einfügung des§ 302 a ZPO. Es wird so gut wie keinen Richter geben,der vor Entscheidungsreife eine solche Entscheidungtrifft. Wenn eine Entscheidungsreife gegeben ist, danngibt es ein Urteil und nicht irgendeine Zwischenent-scheidung.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Woher wissen Sie das?)

Wenn Sie die Stellungnahme der Bundesregierung zudem vorliegenden Gesetz lesen, die im Übrigen wort-gleich ist zu der Stellungnahme zu dem Gesetz vor zweiJahren, dann werden Sie feststellen, dass die Bundesre-gierung selbst davon gesprochen hat, dass die Schwie-rigkeiten mit diesem Gesetz nicht zu beheben sind unddass es keinen Anlass gibt, an der Unzulänglichkeit derzivilrechtlichen Vorschriften zu zweifeln.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2693

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Jerzy Montag

Deswegen meine dringende Bitte an Sie, meine Da-men und Herren von der großen Koalition: Kein Pfuschan der ZPO! Kein Pfusch am BGB!

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Und kein Pfusch am Bau!)

Legen Sie endlich ein Bauvertragsgesetz vor, in demauch, wie Sie es in Ihrer Koalitionsvereinbarung festge-legt haben, Verbraucherschutzelemente berücksichtigtwerden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.

Dirk Manzewski (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-

tieren am heutigen Tag über den Entwurf des so genann-ten Forderungssicherungsgesetzes des Bundesrates, mitdem dieser meint, das Problem der Zahlungsmoral inDeutschland wirksam bekämpfen zu können. Um esgleich deutlich zu sagen: Ich teile diese Auffassung ganzund gar nicht. Ich habe mich im letzten Jahr – es war un-gefähr zur gleichen Jahreszeit – mit verschiedenen Un-ternehmern getroffen, knapp über 30 Fälle konkret auf-gearbeitet und überprüft, inwieweit in diesen Fällen dasGesetz weitergeholfen hätte. In keinem einzigen dieserFälle wäre durch das hier diskutierte Gesetz geholfenworden.

Man muss mit der Materie ehrlich umgehen: Waskann ein Gesetz ausrichten, wenn den Betroffenen nochnicht einmal die bislang bestehenden rechtlichen Mög-lichkeiten bekannt sind oder wenn sie diese nicht geltendmachen, weil sie zum Beispiel auf Folgeaufträge hoffen?Das sind die tatsächlichen Probleme, die hinter dem Pro-blem der Zahlungsmoral stehen. Was kann ein Gesetzausrichten, wenn sich die Betroffenen – auch der Staats-minister hat dieses Beispiel erwähnt – auf Nachverhand-lungen einlassen und in diesem Zusammenhang auf ei-nen Großteil ihrer Forderungen verzichten? Auf dieJustiz und den Gesetzgeber lässt sich dann zwar trefflichim Nachhinein schimpfen; aber gleichwohl hat es sichhierbei trotz gegebenenfalls wirtschaftlicher Zwängeletztendlich um einen freiwilligen Akt gehandelt.

Mich ärgert, dass offensichtlich wieder einmal – dasist ja nicht das erste Gesetz, das wir zu diesem Themaverabschieden sollen – keine praxisorientierte Analyseder Situation gemacht worden ist. Ob nun Handwerker-frauen vor dem Brandenburger Tor oder die zahlreichenBriefe von Betroffenen an uns: Man sollte sich einfacheinmal die Zeit nehmen, sich konkret mit diesen Fällenzu beschäftigen und zu überprüfen, inwieweit durch Ge-setze wie dem vorliegenden tatsächlich hätte weiterge-holfen werden können. Ich habe da, wie gesagt, meineZweifel.

Ich hätte es auch für sinnvoll gehalten, wenn man un-ser letztes Gesetzgebungsverfahren zum Thema Zah-lungsmoral, das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zah-lungen, zuvor gründlich evaluiert hätte.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Mir persönlich fehlen nämlich immer noch gesicherteErkenntnisse darüber, warum genau die so genannteFertigstellungsbescheinigung, der zentrale Punkt desdamaligen Gesetzes, in der Praxis nicht den erhofftenErfolg gebracht hat. Stattdessen werden dann einfachwieder einmal das BGB und die ZPO geändert, als wenndas nichts wäre.

Nicht unerwähnt bleiben soll auch – auch das mussman deutlich sagen –, dass, wenn nicht gezahlt wird,dies nicht immer etwas mit fehlender Zahlungsmoral zutun hat. Gerade im Bau ist das Thema „Pfusch am Bau“zu einem ernst zu nehmenden Problem geworden. DieGründe hierfür sind leider vielfältig.

Das Gesetz hat aber weitere Schwächen. Das Kern-stück des Gesetzentwurfes ist die vorläufige Zahlungs-anordnung.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Manzewski, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage?

Dirk Manzewski (SPD): Ja, gerne.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön.

Christoph Strässer (SPD): Herr Kollege Manzewski, nach all dem, was hier auch

vom Kollegen Danckert geäußert worden ist, habe ichdie Frage, ob Sie uns mitteilen können, ob Sie die Auf-fassung des Kollegen Danckert teilen, dass die vorläu-fige Zahlungsanordnung ein wichtiges und den Hand-werkern hilfreiches Instrument darstellen kann.

Dirk Manzewski (SPD): Lieber Kollege Strässer, ich habe damit meine Pro-

bleme.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Denn ich muss ganz deutlich sagen: Es ist festgelegtworden, dass das Gericht aufgrund einer fundierten Pro-gnose schon vor Eintritt der Entscheidungsreife – daraufwurde schon hingewiesen – einen Zahlungsanspruch ti-tulieren soll. Das ist vor allem für die Fälle angedacht, indenen zum Beispiel durch eine noch notwendige Be-weisaufnahme kein Ende des Verfahrens abzusehen ist.Der Herr Staatsminister hat auch diesen Fall angespro-chen.

Man muss deutlich sagen: Das klingt zunächst einmalnicht schlecht. Nur, was sollen das für Fälle sein, in de-nen einerseits noch keine Entscheidungsreife vorliegt,wohl aber andererseits eine hohe Erfolgsaussicht beste-hen soll? Welcher Richter wird eine hohe Erfolgsaus-sicht bei einer noch ausstehenden Beweisaufnahme beja-hen? Gerade weil sich der Richter unsicher fühlt, wird

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Dirk Manzewski

auswärtiger Sachverstand durch einen Gutachter einge-holt. Der Bundesrat meint nun, als Hilfestellung für einesolch hohe Erfolgsaussicht könne zum Beispiel ein sogenanntes qualifiziertes Privatgutachten dienen, wennein renommierter Wissenschaftler dieses Privatgutachtengefertigt habe.

(Abg. Christoph Strässer [SPD] möchte wieder Platz nehmen)

– Ich bin noch nicht fertig.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, ich mache nur darauf aufmerksam, dass

bei einem ausgeschlafenen Präsidenten auf diese Weisekeine beliebige Verlängerungen der Redezeiten zu erwir-ken sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dirk Manzewski (SPD): Ehrlich gesagt: Ich möchte den Richter sehen, der

sich davon beeindrucken lässt und nur deshalb eine Ent-scheidung fällt. Wir alle wissen doch, wie problematischder Umgang mit Privatgutachten ist.

Eine hohe Erfolgsaussicht soll auch dann bestehen,wenn zwar ein gerichtliches Gutachten vorliegt, abervielleicht gerade deshalb noch die Einholung eines wei-teren Gutachtens notwendig ist. Lieber Herr Macken-roth, gerade wenn ein Richter die Einholung eines weite-ren Gutachtens für notwendig erachtet, wird er kaumeine fundierte Prognose für eine vorläufige Zahlungsan-ordnung treffen. Wie auch!

Wir haben – Kollege Montag hat es angesprochen – inder letzten Legislaturperiode ein erweitertes Bericht-erstattergespräch geführt. Wir haben den DeutschenRichterbund, den Deutschen Anwaltverein, den Deut-schen Sparkassen- und Giroverband und renommierteWissenschaftler, die sich mit dem Thema Baurecht be-schäftigen, eingeladen. Seinerzeit haben alle unisonodieses Gesetz abgelehnt. Es wurde sogar die Auffassungvertreten, dass die Anwaltschaft, insbesondere, um nichtin Regress genommen zu werden, regelmäßig eine vor-läufige Zahlungsanordnung begehren wird. Dies würdesich sogar kontraproduktiv auswirken, weil dann näm-lich alle Verfahren länger laufen würden.

Ich äußere mich heute so kritisch, weil mich der Ge-setzentwurf nicht überzeugt und ich die Befürchtunghabe, dass wir uns nach seiner Verabschiedung noch indieser Legislaturperiode über den nächsten Gesetzent-wurf zum gleichen Thema unterhalten müssen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rücknahme des Gesetzes!)

Dass diese Befürchtung nicht völlig unbegründet ist, er-gibt sich bereits aus der Stellungnahme des Bundesjus-tizministeriums zum hier debattierten Gesetzgebungs-verfahren.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Richtig!)

Dort heißt es nämlich, dass die Bundesregierung dieweitere Befassung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, diesich bereits in der vergangenen Legislaturperiode mitdem Forderungssicherungsgesetz befasst hat, „mit demZweck einer weitergehenden Überprüfung des Bauver-tragsrechts“ unterstützt. Das heißt, all das, was wir jetzthier beschließen, ist für das BMJ offensichtlich schonMakulatur. Ich glaube, mehr braucht man dazu nicht zusagen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Beifallbeim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie derAbg. Mechthild Dyckmans [FDP])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf der Drucksache 16/511 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist das so beschlossen.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 11:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, WernerDreibus, Petra Pau und der Fraktion der LINKEN

Gegen die Schließung von 45 Standorten beider Deutschen Telekom AG

– Drucksache 16/845 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auchdiese Debatte 30 Minuten dauern. – Dazu höre ich kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kol-legin Petra Pau für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Petra Pau (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

reden über geplante Betriebsschließungen, über dro-hende Entlassungen, über einen weiteren Arbeitsplatz-abbau. Überwiegend geht es um ohnehin strukturschwa-che Regionen. Vor allem wären Frauen davon besondersbetroffen. Es geht um Pläne eines Konzerns, der nochvor kurzem ein öffentliches Unternehmen war. Es gehtum ein Unternehmen, bei dem die Bundesregierungnoch immer ein beträchtliches Mitspracherecht hat. Wirreden über die Deutsche Telekom AG.

Der Konzern hat satte Gewinne erzielt. Trotzdem willdie Konzernführung 32 000 Stellen streichen und bun-desweit 45 Standorte schließen. Die Fraktion Die Linkeist der Meinung: Das ist ein Fall für den Bundestag;

(Beifall bei der LINKEN)

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Petra Pau

es ist sogar ein dringender Fall. Deshalb haben wir einenAntrag, der sich gegen die Schließung der 45 Standorterichtet, gestellt.

Die Beschäftigten kämpfen verzweifelt um ihre Ar-beitsplätze, um ihre Existenz und um ihre Zukunft. Ichwar bereits vor Wochen auf einer Kundgebung von Tele-kom-Beschäftigten aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hier in Berlin. Es geht aber nicht nur umden Nordosten oder um Berlin. Betroffen sind die Stand-orte Lübeck, Flensburg, Stade, Bremerhaven, Heide,Cottbus, Erfurt, Angermünde, Perleberg, Donauwörth,Bamberg, Bayreuth, Hof, Ingolstadt, Landshut, Freising,Erlangen, Deggendorf, Regensburg, Rosenheim, Gar-misch-Partenkirchen, Berlin, Aschaffenburg, Braun-schweig, Göttingen, Oldenburg, Bad Kreuznach, Darm-stadt, Limburg, Hanau, Reutlingen, Kaiserslautern,Offenburg, Weingarten, Calw, Schwäbisch Hall, Duis-burg, Iserlohn und Wuppertal.

In den Medien nennt man so etwas einen Flächen-brand. Ich finde, die Mitglieder des Bundestages, die ausden Regionen dieser 36 Standorte kommen, dürfen dasnicht einfach hinnehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sollten parteiübergreifend intervenieren und dafürkämpfen, dass nicht noch mehr Beschäftigte und vor al-lem Frauen ins berufliche Aus getrieben werden.

Der zweite Teil unseres Antrages ist grundsätzlicher.Er wendet sich dagegen, dass immer mehr öffentlicheUnternehmen privatisiert werden; denn dadurch verliertdie Politik, verlieren die Parlamente an Einfluss. Parla-mente ohne Einfluss bedeuten immer auch eine Schwä-chung der Demokratie.

Natürlich muss die öffentliche Hand nicht alles be-wirtschaften, was nur irgend möglich ist. Das Land Ber-lin zum Beispiel hat sich von der Königlichen Porzellan-Manufaktur getrennt. Ich finde, das war vernünftig; dennkeiner Bürgerin und keinem Bürger kann plausibel er-klärt werden, warum seine Steuern dafür herhalten müs-sen, teure Edelprodukte zu subventionieren.

Es gibt aber auch lebenswichtige Grundbedürfnisse,die man nicht dem freien Markt oder dem spekulativenSpiel der Börsen überlassen darf;

(Beifall bei der LINKEN)

denn der freie Markt ohne Regeln ist sozial taub und dieBörse ist sozial blind.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)

Zu diesen Grundbedürfnissen gehören zum Beispiel Bil-dung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität und eben auch dieKommunikation.

(Beifall bei der LINKEN)

Weil das so ist, darf die Politik ihren Einfluss bei diesenGrundbedürfnissen nicht verkaufen und den Aktionärenüberlassen.

Es gibt aktuelle Beispiele, die belegen, wohin dasführen kann. In Berlin wurden noch zu Zeiten der großenKoalition unter Federführung der CDU die Wasserbe-triebe teilprivatisiert. Das war ein Geschäft, das spürbarzulasten der Bürgerinnen und Bürger ging. In Dresdenwurde jüngst der gesamte kommunale Wohnungsbestandverkauft. Dazu gibt es eine Kontroverse auch in meinerPartei.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Zu Zeiten der SED war der ganze Staat pleite!)

Inzwischen planen weitere Städte – auch solche, in de-nen andere Parteien das Sagen haben – Ähnliches, umden kommunalen Haushalt zu sanieren. Ich halte das fürkurzsichtig – das sage ich durchaus auch den Kollegin-nen und Kollegen meiner Partei, die sich daran beteiligthaben –; denn damit geben diese Kommunen zugleichihren Einfluss, zum Beispiel auf die soziale Stadtent-wicklung, preis.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, die Politik hat eine soziale Verantwortung.Um dieser gerecht zu werden, bedarf es öffentlicher Be-triebe, die auch durch die Politik bestärkt werden.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Jochen-Konrad

Fromme, CDU/CSU-Fraktion.

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Dieser

Antrag ist ausgesprochen populistisch.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Natürlich ist jeder Arbeitsplatz, der in Deutschland ver-schwindet, einer zu viel. Deshalb verdient dieser Vor-gang auch große Aufmerksamkeit und wir müssen unsdarum kümmern. Aber so, wie der Antrag gestellt ist, ister völlig falsch angelegt, und zwar in beiden Teilen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der zweite Teil ist eigentlich noch entlarvender undschlimmer als der erste Teil.

Zunächst einmal muss man sich mit dem Unterneh-men Telekom beschäftigen. Es ist eine Binsenweisheit,dass die Telekommunikationsbranche eine Brancheist, in der der Umbruch praktisch stündlich stattfindetund in der stündlich Entwicklungen stattfinden, die eineAnpassung der Betriebe erfordern.

Ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, als wirdie staatliche Post mit dem „Dampftelefon“ hatten, woman für jede Telefondose einen eigenen Antrag stellenund Gebühren zahlen musste. Nach der Privatisierung istBelebung in die Landschaft gekommen und diese Bran-che hat Arbeitsplätze aufgebaut.

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Jochen-Konrad Fromme

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Haben Sie schon einmal bei derTelekom einen Telefonantrag gestellt? WissenSie, wie lange das dauert?)

– Herr Ströbele, Sie haben auch noch nicht dazugelernt,das ist doch völlig klar. –

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich habe die Erfahrung gemacht!)

Wenn es dann wegen des harten Wettbewerbs besondererAnpassungen bedarf – man muss natürlich wissen, dassdie Telekom Altlasten mitschleppt und vieles mit auf denWeg bekommen hat, was Wettbewerber nicht haben –,dann muss die Telekom in der Lage sein, sich anzupas-sen.

Es ist richtig, dass in den nächsten drei Jahren Ar-beitsplätze umgebaut werden sollen. Das ist eine be-trübliche Entwicklung, weil wir dabei auch Arbeits-plätze verlieren. Man muss dabei aber zweierlei sehen:

Erstens. Es ist mit den Betriebsräten vereinbart. Wa-rum ist es mit den Betriebsräten vereinbart? – Weil diedoch auch wissen, dass, wenn man einen Betrieb so lau-fen lässt, dass er nicht wettbewerbsfähig ist, am Endenichts mehr überbleibt. Da stellt sich doch die Frage, obes besser ist, wenn man sich anpasst und einige Arbeits-plätze verliert, oder ob es besser ist, wenn man sich nichtanpasst und alle verliert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach der Betriebsvereinbarung der Telekom erfolgen bis2008 keine betriebsbedingten Kündigungen. Das heißt,dass die Umstellung sozialverträglich, im Einvernehmenmit den Betriebsräten erfolgt.

Es werden Arbeitsplätze abgebaut, weil man die Call-center – sie sind eigentlich eine Erfolgsgeschichte derTelekommunikation; hier wurden in den letzten Jahr-zehnten viele neue Arbeitsplätze geschaffen – andersführen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wenn dieWettbewerber größere, wirtschaftlichere Einheiten bil-den, dann muss die Telekom nachziehen, weil sie sonstkeine Aufträge mehr bekommt. So einfach ist das. Au-ßerdem geht es darum, die Qualität der Dienstleistungenfür die Kunden zu verbessern.

(Lachen bei der LINKEN – Volker Schneider[Saarbrücken] [DIE LINKE]: Die Qualität ver-bessern? Das ist der Gipfel!)

Den Mitarbeitern werden im Übrigen andere Arbeits-plätze angeboten.

(Zurufe von der LINKEN)

– Natürlich ist es einfach, zu sagen, die dürfen nichtsverändern. Das kann sich aber nur eine Partei leisten, diekeine Verantwortung für die Arbeitsplätze von morgenübernehmen muss.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die sollen kundenfreundlicherwerden!)

Ich sage es noch einmal: Umstrukturierung ist einnotwendiger Prozess. Wer sich der Umstrukturierungverschließt, hat am Ende gar nichts mehr.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht zulastender Verbraucher!)

Dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken,nichts hinzugelernt haben, zeigt der zweite Teil IhresAntrages. Es ist doch völlig klar: Gewinne spiegeln dieSituation von gestern wider und bilden über die Schaf-fung von Kapital die Basis für die Arbeitsplätze vonmorgen; denn ohne Kapital gibt es keine Arbeitsplätze.Natürlich ärgert es uns, wenn Betriebe Personal über daswirtschaftlich gebotene Maß abbauen.

An dieser Stelle aber können wir nicht eingreifen. DieTelekom ist ein privatisiertes Unternehmen. Die Ver-antwortung für das operative Geschäft liegt beim Vor-stand. Dem Vorstand, auch einzelnen Vorstandsmitglie-dern, können wir keine Weisungen erteilen. Deshalb istIhr Antrag zum einen rechtlich unzulässig und zum an-deren wirtschaftlich unsinnig, weil er zur Totalzerstö-rung führen würde.

(Günter Baumann [CDU/CSU]: So ist das! – Martin Zeil [FDP]: Sehr richtig!)

Sie haben ja viel Erfahrung darin, wie man mit staat-lich gesteuerten Betrieben umgeht. Das haben Sie ebenpopulistisch dargestellt. Wir brauchen nur ein wenig inRichtung Osten schauen, um zu sehen, wohin das führt.Die Diskussion, die heute in der Presse geführt wird,zeigt doch, wie verwoben die Linkspartei mit dem altenSystem ist, wie viele von damals Sie heute immer nochin Ihren Reihen haben. Daran wird auch die vierte Na-mensänderung nichts ändern. Sie bleiben unterwandertund infiltriert. Sie bleiben vom falschen Gedankengutbeseelt.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIELINKE]: Das ist nicht Populismus, das istStammtisch! – Weitere Zurufe von derLINKEN)

– Auch ein Stammtisch hat manchmal Recht; denn dieMenschen haben ein gesundes Gespür dafür, was falschund was richtig ist.

(Zuruf von der LINKEN: Wir aber auch!)

Die Menschen begreifen, dass es besser ist, Arbeits-plätze abzusichern.

Einige Unternehmen haben diesen Innovationspro-zess nicht erfolgreich bestanden und befinden sich des-halb in einer gefährlichen Schieflage. Schauen wir unsdoch einmal Teile der Automobilindustrie an. Wer dieAnpassung nicht rechtzeitig geschafft hat, hat jetzt unterKostengesichtspunkten große Schwierigkeiten. Am Endebedeutet das möglicherweise, dass ganze Marken unddamit Tausende von Arbeitsplätzen verschwinden, dienicht hätten verschwinden müssen, wenn man sich recht-zeitig umgestellt, wenn man sich rechtzeitig wettbe-werbsfähig aufgestellt hätte. Das ist der Punkt.

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Jochen-Konrad Fromme

Im zweiten Teil Ihres Antrages zeigen Sie – dieserTeil ist entlarvend –, dass Sie wieder in die Staatswirt-schaft zurück wollen. Ich wiederhole, damit es auch derLetzte begreift: Sie haben schon einmal einen großenTeil dieses Landes in die Katastrophe geführt. Die armenMenschen mussten das ausbaden. Ein Teil der Probleme,die wir heute haben, sind doch dadurch bedingt, dass wiruns jetzt damit befassen müssen, das Erbe von fast50 Jahren Sozialismus aufzuräumen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD – Zuruf von derLINKEN: 40 Jahre waren es! – Weitere Zurufevon der LINKEN)

Das ist das Problem. Warum mussten wir denn fast dieganze ehemalige DDR unter dem Gesichtspunkt desUmweltschutzes sanieren? Weil Sie eine falsche, men-schenfeindliche Wirtschaftspolitik betrieben haben. Dasist doch die Wahrheit.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Da sitzen sie, die Altlas-ten! – Lachen und Zurufe von der LINKEN)

– Die Tatsache, dass Sie so reagieren, zeigt doch auch,dass ich offensichtlich getroffen habe. Wenn Sie sichnämlich nicht so getroffen fühlen würden, dann würdenSie doch eine nüchterne Auseinandersetzung führen undArgumente vorbringen, anstatt dazwischenzubrüllen. Siewollen vernebeln, was Sie angerichtet haben.

Ich sage es noch einmal: Ihr Antrag ist in beidenPunkten abzulehnen.

(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)

Ihre Politik ist rückwärts gewandt, Sie haben aus den Er-fahrungen der Geschichte leider nichts gelernt. Frakti-onsstärke haben Ihnen die Unzufriedenen beschert, dieSie auf populistische Art und Weise eingesammelt ha-ben. Leider haben die nicht genau hingesehen. Sie wer-den ganz schnell merken, was sie an Ihnen haben. Des-halb werden Sie nicht weiter zum Zuge kommen und beider nächsten Wahl die Quittung dafür erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen uns marktwirtschaftlich so aufstellen,dass unsere Unternehmen auf Dauer wettbewerbsfähigsind. Nur dann gibt es überhaupt Arbeitsplätze und kön-nen diese in ausreichendem Maße erhalten bleiben. Wirmüssen daran arbeiten, dass das besser wird; denn in denletzten Jahren sind wir zu weit abgerutscht. Mit einer sorückwärts gewandten Politik, wie sie in Ihrem Antragausgedrückt wird, werden wir den heutigen Erfordernis-sen – das ist der Hauptpunkt – nicht gerecht.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Martin Zeil (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lassen Sie mich vorneweg eines sa-gen: Von den beabsichtigten Schließungen sind auch16 Standorte in meiner bayerischen Heimat betroffen.Wir haben deshalb volles Verständnis für die Situationder betroffenen Mitarbeiter. Verlagerungen von Arbeits-plätzen gerade aus strukturschwachen Gebieten könnenniemanden gleichgültig lassen.

Der hier vorliegende Antrag ist aber leider typisch,Frau Kollegin Pau, für die Politik der PDS-Linken hierim Hause. Er strotzt vor Halbwahrheiten, bietet keinedurchführbaren Lösungen und – das ist vielleicht dasSchlimmste – er instrumentalisiert die Sorgen und Nöteder Menschen für eine kurzfristige Effekthascherei.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie verschweigen zudem die Angebote der Telekoman die betroffenen Mitarbeiter, Sie unterschlagen, dasssich die Firma mit den Betriebsräten vor kurzem auf diekünftigen Standorte abschließend geeinigt hat, und Sielassen natürlich jegliche Auseinandersetzungen mit denwirtschaftlichen Argumenten vermissen.

(Petra Pau [DIE LINKE]: Ja, ja, ja!)

Aber das wäre vielleicht von patentierten Marxisten zuviel verlangt.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Zeil, darf die Kollegin Pau Ihnen eine

Zwischenfrage stellen?

Martin Zeil (FDP): Aber selbstverständlich.

Petra Pau (DIE LINKE): Herr Kollege, wollen Sie ernsthaft behaupten, dass

das Angebot an allein erziehende Frauen an den vonSchließung betroffenen oder bedrohten Standorten, ei-nen 200 Kilometer oder auch nur 150 Kilometer vombisherigen Standort entfernten Arbeitsplatz aufzuneh-men, ein ernstes und faires Angebot ist, welches es denFrauen ermöglicht, sowohl ihren Pflichten in der Familienachzukommen als auch ihren Arbeitsplatz zu behalten?

Martin Zeil (FDP): Frau Kollegin, ich will gar nicht bestreiten, dass es

hier im Einzelfall zu Härten kommen kann. Das ist garkeine Frage. Aber insgesamt ist es so, dass durch diesenUmstrukturierungsprozess möglicherweise Arbeitsplätzean anderer Stelle genau für diesen Personenkreis gesi-chert werden können. Sie müssen sich vielleicht nochmental daran gewöhnen, dass es sich hier um ein privati-siertes Unternehmen und nicht mehr um ein Staatsunter-nehmen handelt.

(Beifall bei der FDP – Petra Pau [DIE LINKE]: Das gehört zum Problem!)

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Martin Zeil

Ihr Antrag gibt über den konkreten Anlass hinaus Ge-legenheit, über grundlegende Fragen zu diskutieren.Wollen wir soziale Marktwirtschaft oder wollen wirPlanwirtschaft? Sind Politiker oder Verwaltungen diebesseren Unternehmer? Wollen wir entscheiden, was derbessere Standort, der beste Tarif und das beste neue Pro-dukt sind? Da sagen wir als Liberale: Wer die sozialeMarktwirtschaft will, kann die letzte Frage nur ganz klarmit Nein beantworten.

(Beifall bei der FDP)

Unsere Aufgabe ist es hingegen, Rahmenbedingun-gen zu setzen, Frau Kollegin, die es den Unternehmenermöglichen, Arbeitsplätze zu erhalten und neue zuschaffen. Die Rahmenbedingungen müssen, zum Bei-spiel durch mehr Wettbewerb, auch dem Wohl der Ver-braucher dienen. Hier vertreten wir als Fraktion nachwie vor den klaren Kurs einer umfassenden marktwirt-schaftlichen Erneuerung.

Diesem Kurs entspricht es auch, die Privatisierung imTelekommunikationsbereich, die insgesamt, vor allemaber auch aus der Sicht der Verbraucher, positiv zu be-werten ist, fortzusetzen. Vergegenwärtigen Sie sich ein-mal, insbesondere aus der Sicht der Verbraucher, dassein nationales Ferngespräch, für das die Post Mitte der90er-Jahre 30 Cent pro Minute kassiert hat, heute beimbilligsten Anbieter gerade einmal 1 Cent pro Minutekostet. Bei den zehn wichtigsten Auslandszielen betra-gen die Entgelte nur noch 3 Prozent des Betrages, dendas damalige Staatsunternehmen berechnet hat.

In diesem Zusammenhang ist auch Folgendes wich-tig: Ein Blick auf die Erwerbstätigenstatistik zeigt,dass es 1995, in dem Jahr der Privatisierung der Tele-kom, in der IT-Branche 630 000 Beschäftigte gab. ImJahr 2005 lag diese Zahl bei 750 000. Das ist eine Zu-nahme um knapp 20 Prozent. Deswegen ist es falsch,sich immer nur auf ein Unternehmen zu fokussieren.Hier muss man eine Gesamtbetrachtung anstellen.

(Beifall bei der FDP)

Diese Fakten sprechen aus unserer Sicht für sich. Siesprechen aber auch dafür, dass wir grundsätzlich unsereLinie fortsetzen müssen: Der Staat muss sich dort, wo erkeine zwingenden öffentlichen Aufgaben zu erfüllen hat,aus der Wirtschaft zurückziehen und darf ihr keine Kon-kurrenz machen.

(Zuruf von der FDP: Völlig richtig!)

Das heißt aber auch: Wenn ein Unternehmen privati-siert und ein Markt liberalisiert wird, muss das konse-quent geschehen. Dann darf es keine Ausnahmen undkeine halben Sachen geben. Dann muss wirklich fürWettbewerb gesorgt werden. Deshalb werden wir Libe-rale darauf drängen, dass die Umsatzsteuerbefreiung unddas Briefmonopol der Deutschen Post fallen und dasswir mehr Wettbewerb auf der Schiene bekommen.

(Zuruf des Abg. Klaus Barthel [SPD])

– Herr Barthel, hören Sie gut zu; ich möchte abschlie-ßend Helmut Schmidt zitieren.

Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Märkte sind wieFallschirme: Sie funktionieren nur, wenn sie offen sind.“So einfach ist das. Die Rückkehr zur Staatswirtschaft,die so viel Unheil angerichtet hat, lehnen wir Liberaleebenso ab wie Ihren Antrag.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Martin Dörmann ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Martin Dörmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke die Bundes-regierung auf, ihre Strategie zur Privatisierung öffentli-cher Unternehmen zu revidieren. Bevor ich auf das kon-krete Thema dieser Debatte, die Telekom, zu sprechenkomme, möchte ich zunächst auf diesen allgemeinerenPunkt etwas näher eingehen. Er dokumentiert nämlich,dass die PDS wirtschaftspolitisch einen rückwärts ge-wandten Kurs fährt. Wir sollten das Thema Privatisie-rung differenziert und nicht ideologisch diskutieren.

Es gibt Bereiche der Daseinsvorsorge, insbesondereauf kommunaler Ebene, in denen es unter vielerlei Ge-sichtspunkten richtig sein kann, an öffentlichen Unter-nehmen festzuhalten,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

etwa wenn es um die sichere Versorgung mit Wasser, dieOrganisation der Müllabfuhr, die Stärkung des öffentli-chen Personennahverkehrs oder eine sozial orientierteWohnungsversorgung vor Ort geht. Auf diesen Felderngeht es um Güter und Dienstleistungen, für deren unmit-telbares Zur-Verfügung-Stellen die öffentliche Hand ineiner besonderen Verantwortung steht und bei denen diekommunale Selbstverwaltung gefragt ist. Hier handelt essich um örtlich begrenzte Bereiche, die sich einem inter-nationalen Wettbewerb nicht stellen müssen.

Prinzipiell anders sieht es jedoch bei einigen Unter-nehmen aus, die sich bisher noch ganz oder teilweise imEigentum des Bundes befinden und die in einem interna-tionalen, heutzutage sogar oft in einem globalen Wettbe-werb stehen. Hier muss sich der Staat in besondererWeise fragen, welche Aufgaben besser von ihm selbstund welche besser von einem privatwirtschaftlich orga-nisierten Unternehmen erfüllt werden können.

Die Bundesregierung verfolgt seit vielen Jahren, un-terstützt von unterschiedlichen Koalitionen im Parla-ment, eine konsequente Privatisierungspolitik. Sie ori-entiert sich dabei an folgenden grundlegenden Zielen:erstens einer effizienten Aufgabenverteilung zwischenStaat und Wirtschaft, zweitens der besseren Kapitalaus-stattung der Unternehmen, drittens – damit verbunden –den größeren Möglichkeiten für zukunftsweisende In-vestitionen und viertens der Schaffung von mehr Markt-orientierung und mehr Wettbewerbsfähigkeit.

Dieser Weg war erfolgreich.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2699

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Martin Dörmann

(Beifall des Abg. Dieter Grasedieck [SPD])

Ehemalige Bundesunternehmen sind heute an in- undausländischen Börsen notiert und behaupten sich auf denWeltmärkten. Dazu zählen neben der Deutschen Tele-kom insbesondere Volkswagen, die Lufthansa, Eon unddie Deutsche Post AG. Es gibt heute wohl kaum noch je-manden – von der PDS abgesehen –, der behauptenwürde, die Privatisierung dieser Unternehmen sei falschgewesen. Vielmehr haben diese Unternehmen von derPrivatisierung profitiert und stehen heute im Markt allesin allem sehr gut da. Und genau darum geht es: die Be-dürfnisse des Marktes und der Verbraucherinnen undVerbraucher im Auge zu behalten – und nicht in ersterLinie die des Staatsapparates.

Durch die Privatisierungspolitik profitiert gleichzeitigder Bundeshaushalt, insbesondere durch die Platzierungvon Aktien auf dem Kapitalmarkt. Dieser Privatisie-rungskurs ist deshalb ordnungspolitisch richtig, wirt-schaftlich sinnvoll und bringt haushaltspolitisch Entlas-tung. Angemerkt sei, dass hierdurch letztendlichzusätzliche Investitionen des Bundes ermöglicht werden,beispielsweise in Bildung, in Forschung und Entwick-lung oder auch zum sozialen Ausgleich. Klar ist: Werdiesen Weg der Privatisierung geht, muss dafür in Kaufnehmen, dass er den Einfluss auf unternehmerischesHandeln verliert. Wenn die Unternehmen erfolgreichsind – was bei den bisherigen Privatisierungen der Fallist –, muss dies jedoch kein Nachteil sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir nun zuder im Antrag konkret angesprochenen DeutschenTelekom AG. Die Privatisierung der Telekom ist zuRecht mit einer Marktöffnung im Bereich der Tele-kommunikation verbunden gewesen; ihre Monopolstel-lung wurde bewusst beseitigt. Inzwischen werden dieArbeit der Regulierungsbehörde und die Erfolge dieserMarktöffnung allgemein anerkannt. Seit der Liberalisie-rung sind beispielsweise die Telefonkosten drastisch ge-sunken: Heute kann man bei bestimmten Anbietern für1 Cent die Minute ein Ferngespräch führen oder – gegeneinen gewissen Aufpreis, im Rahmen einer Flatrate –ohne Verbindungskosten telefonieren oder im Internetsurfen. Das freut die Verbraucherinnen und Verbraucher,die für weniger Geld mehr Leistung erhalten.

Konkurrenz und sinkende Preise haben für das betrof-fene Unternehmen nicht nur Vorteile. Gerade die Tele-kom hat sich einem besonders harten internationalenWettbewerb zu stellen. Ein Unternehmen, das zuvor eineMonopolstellung hatte, verliert bei einer Marktöffnungzunächst zwangsläufig Marktanteile. Bis zu einem ge-wissen Grad ist das auch erwünscht, um Wettbewerb erstzu ermöglichen. Dies lässt sich in den Berichten derBundesnetzagentur eindrucksvoll nachlesen: So hatte dieTelekom an den Gesprächsminuten in Deutschland 1998noch einen Anteil von 94 Prozent. 2005 waren es nurnoch 48 Prozent.

An dieser Stelle will ich auch ein Problem offen an-sprechen, das zu Beginn der Privatisierung unterschätztworden ist: Seinerzeit sind die meisten Experten davonausgegangen, dass der Telekommunikationsmarkt einedauerhafte Jobmaschine mit ständig wachsender Be-

schäftigtenzahl ist. Der technische Fortschritt ist jedochnoch rasanter gewesen als erwartet, sodass wenigerMenschen für die neue Vielfalt von Diensten und Pro-dukten benötigt werden als angenommen. Zum Ende desJahres 2004 waren im Telekommunikationsdienste-markt 225 000 Personen beschäftigt und damit nur un-wesentlich mehr als 1998. Die Erwartung, dass die Tele-kom selbst bei Verlust von Marktanteilen eher mehrArbeitskräfte braucht, hat sich leider nicht bewahrheitet.Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Pläne der Te-lekom zu einem Personalabbau zu diskutieren. Es istgrundsätzlich problematisch, wenn man einzelne unter-nehmerische Entscheidungen kommentiert. Dennochmöchte ich für die SPD-Fraktion ausdrücklich zum Aus-druck bringen, dass wir hoffen und erwarten, dass sichKonzernleitung und Gesamtbetriebsrat im Rahmen desgeplanten Personalabbaus auf ein sozialverträglichesKonzept einigen werden.

Nun zu der konkret angesprochenen Entscheidung derTelekom, Callcenterstandorte zu schließen. Ich möchtezunächst einmal hervorheben, dass das Aktienrecht derBundesregierung keine Möglichkeit gibt, eine Einzel-maßnahme des Unternehmensvorstandes direkt zu be-einflussen – auch wenn der Bund Minderheitsanteile ander Deutschen Telekom hält; von daher läuft die kon-krete Forderung im Antrag der Linken ins Leere. Auchaus diesem Grund wird die SPD-Fraktion ihn ablehnen.Worum geht es in der Sache? Die Telekom verfolgt einKonzept der Zusammenlegung von Callcenterstandortenund damit eine stärkere Zentralisierung dieses Berei-ches, in dem insgesamt 15 000 Beschäftigte tätig sind.Durch größere Belegschaften sollen Effizienzgewinneund höhere Qualitätsstandards gesichert werden, wie esbei Konkurrenten zum Teil schon gemacht worden ist.Die von der Verlagerung ihres Standortes betroffenenBeschäftigten erhalten allerdings das Angebot, an einemanderen Standort weiterbeschäftigt zu werden. Das istnatürlich insbesondere in ländlichen Gegenden proble-matisch, in denen die Entfernung zum nächsten Standort200 Kilometer oder sogar mehr beträgt; denn es sind ins-besondere viele Frauen mit Kindern betroffen, die wo-möglich auch noch in Teilzeit arbeiten. Ihnen ist einOrtswechsel mit der Familie oft faktisch nicht möglich.

Aus diesem Grunde war das Callcenterkonzept derTelekom zwischen der Konzernführung und dem Ge-samtbetriebsrat hoch umstritten. In der letzten Wochekonnte aber – das haben Sie unterschlagen – eine Eini-gung zwischen beiden erzielt werden. Wie wir bereitsgehört haben, ist danach nicht mehr, wie ursprünglichgeplant, die Schließung von 45 Callcenterstandorten,sondern eben nur noch von 36 vorgesehen; 60 Standortebleiben erhalten. Ich sage deutlich: Unter den gegebenenUmständen ist das gut für die Beschäftigten und sicherauch ein Erfolg der Verhandlungen des Gesamtbetriebs-rates und von Verdi.

(Beifall bei der SPD)

Ich begrüße das ausdrücklich auch im Namen vielermeiner Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Bundes-tagsfraktion, die sich um die Sorgen der Beschäftigten,die ja berechtigt sind, gekümmert und viele Gespräche

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Martin Dörmann

geführt haben. Unter den gegebenen Umständen sind wirfroh, dass eine Einigung erfolgt ist. Sie ist im Interesseder Beschäftigten und des Unternehmens, sie stärkt dieKonkurrenzfähigkeit der Telekom und sichert damit Ar-beitsplätze langfristig. Wir nehmen dies als ein positivesSignal auch für zukünftige Verhandlungsrunden der Ta-rifpartner.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu-sammenfassen: Die SPD-Fraktion steht zum erfolgrei-chen Weg der Privatisierung. Weder Parlament noch Re-gierung können direkt in die Unternehmensstrategieprivatisierter Unternehmen eingreifen und sollten dasauch nicht. Dennoch gilt: Einen konstruktiven Weg un-terstützen wir gerne auch politisch. Deutschland brauchtWettbewerb und eine starke Telekom als unseren globa-len Player im Bereich der Telekommunikation und dieTelekom braucht marktgerechte Lösungen, mit denengleichzeitig die Belange der Beschäftigten angemessenberücksichtigt werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Matthias Berninger gibt seine Rede zu

Protokoll1). Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/845 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu besteht of-fenkundig Einvernehmen. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 12:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus-schuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbe-auftragten

Jahresbericht 2004 (46. Bericht)

– Drucksachen 15/5000, 16/909 –

Berichterstattung:Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)Hedi Wegener Elke Hoff Paul Schäfer (Köln)Winfried Nachtwei

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieAussprache eine halbe Stunde dauern. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages,Reinhold Robbe.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD und des Abg. Jochen-KonradFromme [CDU/CSU])

1) Anlage 2

Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des DeutschenBundestages:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Dem Plenum liegt heute der nochvon meinem Amtsvorgänger Willfried Penner erstellteJahresbericht für das Jahr 2004 zur abschließenden Be-ratung vor. Wie wir alle wissen, wurde der Bericht in-zwischen fortgeschrieben.

Vor wenigen Wochen habe ich dem Präsidenten desDeutschen Bundestages den Bericht für das zurücklie-gende Jahr, also für das Jahr 2005, vorgelegt. Daraus zuschließen, der heute zu beratende Bericht für dasJahr 2004 sei bereits überholt, wäre allerdings verfehlt.Die Rahmenbedingungen für die Bundeswehr haben sichkeineswegs verändert. Sie kennen alle wesentlichenStichworte in diesem Zusammenhang. Um nur die wich-tigsten zu nennen: Transformation, Einsatzbelastung undUnterfinanzierung.

Auch wenn die Beratungen des Haushalts für das lau-fende und das kommende Jahr noch nicht abgeschlossensind, lässt sich schon jetzt sagen: Der Verteidigungsetatwird auf keinen Fall erhöht. Alle Probleme, die sich da-raus für die Soldatinnen und Soldaten ergeben, sind imJahresbericht 2004 angesprochen worden. Ich nennenoch einmal die wichtigsten: Unmut über ausbleibendeBeförderungen wegen fehlender Planstellen; Enttäu-schung der altgedienten Portepeeunteroffiziere über ihreBenachteiligung im Hinblick auf das Attraktivitätspro-gramm; Kritik an unzureichender Einsatzvorbereitungwegen fehlenden Ausbildungsmaterials; kurzfristigeVeränderungen bei der Einsatzplanung; Defizite in derpersönlichen Ausstattung, auch mit Blick auf die Ein-sätze; Infrastrukturmängel in den Kasernen, besonders inden alten Bundesländern; Belastungen des Sanitätsdiens-tes durch Einsatzabstellungen und Handlungsbedarf imHinblick auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf undFamilie.

Diese Probleme sind nach wie vor aktuell. Sie warenim Jahr 2004 aktuell, sie sind im Jahre 2005 aktuell ge-wesen und sie sind auch jetzt aktuell. Sie finden sich na-turgemäß deshalb auch in dem jüngsten Bericht, demJahresbericht 2005, wieder. Dahinter stehen in der Regelganz konkrete Sorgen und Nöte Einzelner, die von mirsorgfältig geprüft werden, und zwar mit dem Ziel, Lö-sungen für die angesprochenen Probleme zu finden. Wasdie Bundeswehr zunehmend belastet, geht aber über denkonkreten Einzelfall hinaus. Es ist die Summe der vonden Rahmenbedingungen geprägten Mängel und Defi-zite, die bei den Soldatinnen und Soldaten Unzufrieden-heit und auch Enttäuschung hervorrufen.

Aus der Sicht der Soldaten klaffen seit der Neuaus-richtung der Streitkräfte Anspruch und Wirklichkeit inder Bundeswehr manchmal weit auseinander, beispiels-weise dann, wenn die Notwendigkeit der Beteiligung aninternationalen Einsätzen beschworen, der Truppe dasdafür notwendige Personal und Material aber nicht im-mer in ausreichendem Umfang zur Verfügung gestelltwird, oder wenn die Leistungen der Soldatinnen undSoldaten vor dem Hintergrund der Transformation undder Einsätze in höchsten Tönen gelobt werden, dieselben

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Wehrbeauftragter Reinhold Robbe

Soldatinnen und Soldaten aber immer weniger Geld imPortemonnaie haben und auch 15 Jahre nach der Wieder-vereinigung die Armee der Einheit keineswegs einheit-lich besoldet wird.

(Beifall des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])

Anspruch und Wirklichkeit stehen schließlich auch dortnicht miteinander im Einklang, wo Soldaten über Rah-menbedingungen und Ziele möglicher neuer Einsätze imUnklaren gelassen werden.

In der so genannten Zentralen Dienstvorschrift 10/1der Bundeswehr heißt es dazu in klaren Worten: Zu denZielen der inneren Führung gehört es – ich zitiere –,

unter Berücksichtigung ethischer Aspekte politi-sche und rechtliche Begründungen für den soldati-schen Dienst zu vermitteln und den Sinn des militä-rischen Auftrags einsichtig und verständlich zumachen.

An diesem Grundsatz müssen sich militärische undpolitische Führung messen lassen. Aus Sicht vieler Sol-daten werden sie diesem Anspruch aber nicht immer ge-recht. Die Soldaten fragen stattdessen mich, welchenSinn beispielsweise ein Einsatz im Kongo macht oderwas von einer demokratischen Erneuerung Afghanistanszu halten ist, wenn dort Bürger wegen ihres Glaubensbe-kenntnisses mit der Todesstrafe bedroht werden.

Ich verkenne nicht, dass über diese aktuellen und an-dere Fragen auch hier im Deutschen Bundestag durchauskonträr diskutiert wird. Aber findet diese Diskussionauch in der Truppe statt? Werden den Soldaten Antwor-ten auf ihre berechtigten Fragen gegeben? Wenn ich Vor-gesetzte darauf anspreche, erklären sie mir häufig, esfehle an offiziellen Stellungnahmen des Dienstherrn. DieKritik ist berechtigt. Auf der anderen Seite: Kann einKompaniechef oder ein Kommandeur seinen Soldatin-nen und Soldaten nur Rede und Antwort stehen, wenn ersich hinter einer offiziellen Stellungnahme seinesDienstherrn zurückziehen kann? Oder fehlt es an der ge-nerellen Bereitschaft, Diskussionen anzunehmen, auchwenn sie in der Sache nicht leicht zu führen sind?

Bedeutung und Stellenwert der politischen Bildungund des lebenskundlichen Unterrichts für das Leitbildvom Staatsbürger in Uniform sind unstreitig. Neufassun-gen der Zentralen Dienstvorschrift 12/1 – das betrifft diepolitische Bildung und den lebenskundlichen Unterricht –stehen nach langer Vorarbeit kurz vor ihrem Erlass.Gleichwohl kommen interne Erhebungen des Führungs-stabes der Streitkräfte zu dem Schluss, dass die politi-sche Bildung und der lebenskundliche Unterricht vordem Hintergrund der Auftragsdichte oftmals viel zu kurzkommen. Das deckt sich beispielsweise mit Aussagenvon Einheitsführern, die mir berichten, dass ihre ur-sprünglich auf zwei Tage angesetzte politische Weiter-bildung in Berlin mangels Zeit und ausreichender Mittelauf einen Tag zusammengestrichen wurde. So darf es– das finde ich jedenfalls – nicht sein.

Anspruch und Wirklichkeit: Darum geht es. Sie wie-der miteinander in Einklang zu bringen – finanziell wieideell –, das ist die zentrale Aufgabe, der sich die Bun-

desregierung und auch das deutsche Parlament aus mei-ner Sicht verstärkt zuwenden müssen.

Das wird mit der Aufforderung an die Bundesregie-rung zur Prüfung, Erwägung und Beachtung der im Jah-resbericht des Wehrbeauftragten enthaltenen Empfeh-lungen allein natürlich nicht zu schaffen sein. Dazubraucht es weiter gehende Anstrengungen. Eines ist abersicher: Von dem Erfolg dieser Bemühungen werden dieEinsatzbereitschaft und die Motivation der Soldatinnenund Soldaten künftig entscheidend abhängen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiebei Abgeordneten der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

möchte ich gerne – sicherlich auch in Ihren allerNamen – dem Wehrbeauftragten und allen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern der Behörde für die Vorlage desBerichts und insbesondere für die damit verbundene Ar-beit herzlich danken.

(Beifall)

Das Wort hat nun die Kollegin Elke Hoff, FDP-Frak-tion.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Elke Hoff (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter!Wir sprechen heute abschließend über den Jahresbericht2004 des Wehrbeauftragten. Der nächste Bericht liegtbereits vor. Es ist gut, sehr geehrter Herr Robbe, dass Siein Ihrem ersten Bericht die klare und deutliche Art IhresVorgängers fortsetzen.

Die Institution des Wehrbeauftragten hat auch im50. Jahr ihres Bestehens nicht an Bedeutung verloren.Im Gegenteil: Der Anstieg des Eingabeaufkommens von20 Prozent in den ersten Monaten des Jahres 2006 ist einAlarmsignal, dass bei unserer Bundeswehr weiterhin ei-niges im Argen liegt. Die Kenntnis des neuen Berichtserlaubt es bereits heute, sich weiterentwickelnde Fehl-entwicklungen festzustellen.

Viele Punkte im Jahresbericht 2004 entwickeln sichzu bedauernswerten Klassikern. Als Beispiel hierfürmöchte ich den Beförderungsstau, das Ausufern büro-kratischer Einsatzhindernisse, den baulichen Zustand derKasernen und die Auswirkungen der permanenten Un-terfinanzierung der Streitkräfte, die der Wehrbeauftragtesehr treffend als ein permanentes Verwalten des Mangelskritisiert, benennen.

In den Eingaben der Soldatinnen und Soldaten drücktsich der ganze Unmut über eineinhalb Jahrzehnte Trans-formation aus. Die Transformation lebt aber von derAkzeptanz derjenigen, die sie tagtäglich zu vollziehenhaben. Wenn dieser Begriff mehr und mehr negativ

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Elke Hoff

besetzt wird, kann man ihn irgendwann vergessen. Esgeht hier auch um Menschen und nicht nur um Planziele.

So sympathisch der Wunsch nach einer Atempauseim Transformationsprozess, wie er von Herrn Robbe ge-äußert wurde, auch ist: Er ist unrealistisch. Wenn dieBundeswehr bis 2010 auch nur annähernd das von ihrangestrebte Personalstrukturmodell mit der neuen Auf-gabenverteilung einführen möchte, wird der Transforma-tionsdruck eher noch zunehmen.

Deshalb ist die Einsicht des Bundesverteidigungsmi-nisters erfreulich, dass die Besonderheiten des Soldaten-berufs auch ein eigenes Besoldungsrecht erfordern. DieFDP fordert dies seit Jahren. Der Minister hat offenbarerkannt, dass es einen Unterschied macht, ob der Soldatin Faizabad oder in der Brüsseler EU-Bürokratie seinenDienst versieht.

Wenn Sie hoffentlich in Kürze damit beginnen, dasBesoldungsrecht in Ordnung zu bringen, dann solltenSie auch die Besoldungsunterschiede in Ost und Westauflösen. Die Integration einer betrieblichen Alterssiche-rung insbesondere für die Soldaten auf Zeit würde eben-falls zu diesen Reformanstrengungen passen. Ich bin mirsicher, dass Sie hierfür eine breite parlamentarischeMehrheit finden werden.

Bemerkenswert ist, wie deutlich sich der neue Wehr-beauftragte in den letzten Wochen zu den zunehmendenBelastungen durch neue Auslandseinsätze der Bundes-wehr geäußert hat. Er sprach von einer Bundeswehr, diebis zur Oberkante ausgelastet sei. Im Hinblick auf einenmöglichen Einsatz deutscher Soldaten im Kongo könneer sich einen Einsatz, der über eine beobachtende Funk-tion und den Einsatz von wenigen Spezialisten hinaus-gehe, nicht vorstellen. Die Bundeswehr könne nicht allesund sie sei auch nur sehr beschränkt über ihr derzeitigesEngagement hinaus einsetzbar. Auch seien die Soldatin-nen und Soldaten nur schwer davon zu überzeugen, dassein solcher Einsatz notwendig ist.

Ich freue mich, dass Sie diese deutlichen Worte ge-funden haben, auch wenn ich der Ansicht bin, dass eshierbei weniger um die Frage geht, ob die Bundeswehraufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten einen Einsatzim Kongo bewerkstelligen kann. Vielmehr geht es da-rum, dass die Bundesregierung bis heute nicht plausibelbegründet hat, wodurch und inwiefern ein viermonatigerEinsatz von 500 Soldaten im Kongo zu einer dauerhaf-ten Stabilisierung Zentralafrikas führen wird. In einerSWP-Studie vom Februar dieses Jahres werden die Wah-len aus Sicht der zur Wahl stehenden Präsidentschafts-kandidaten als „Fortsetzung des Krieges mit anderenMitteln“ bezeichnet. Gibt eine solche Einschätzung An-lass zu den allgemeinen Beschwichtigungsversuchennach dem Motto „Alles wird gut“?

Unsere Soldatinnen und Soldaten haben sowohl beibestehenden Einsatzverpflichtungen als auch bei künfti-gen einen Anspruch auf ein plausibles Gesamtkonzeptmit einer belastbaren Exitstrategie. Fehlt es an einemsolchen Konzept, ist ein Einsatz nicht vertretbar. Sowohlin dem vorliegenden Bericht als auch in dem für das Jahr2005 wird sehr deutlich, wie groß die Belastungen für

die Bundeswehr durch die bestehenden Einsatzverpflich-tungen sind. Dabei ist das größte Problem, dass häufigdie gleichen Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzmüssen, weil unsere Streitkräfte einfach zu wenige ein-satzfähige Soldaten haben. Allmählich sollten die Leh-ren aus diesem Missstand gezogen werden, bevor überweitere Einsätze außerhalb der Bundesrepublik Deutsch-land nachgedacht wird.

Ich komme zum Ende. Wir haben keinen Grund, un-sere Bundeswehr schlecht zu reden. Wir alle können aufdie täglichen Leistungen unserer Soldatinnen und Solda-ten stolz sein.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und derSPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das wäre eigentlich ein schöner Schlusssatz gewesen,

Frau Kollegin.

(Heiterkeit)

Elke Hoff (FDP): Sehr richtig. Aber Sie wissen, die Frauen haben im-

mer das letzte Wort.

(Heiterkeit)

Wir müssen gemeinsam darauf achten, dass der Be-richt des Wehrbeauftragten zu einer Blaupause oder– um einen Begriff des Generalinspekteurs zu gebrau-chen – zu einem Living Document der Transformationwird.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Anita Schäfer, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Meine Damen und Herren! In diesem Jahr blicken wir

auf 50 Jahre Wehrbeauftragter zurück. Diese Institutionhat sich zum Schutz der Grundrechte der Soldaten voll-auf bewährt. Sie gewinnt im Zeichen der Transformationals Frühwarnsystem an Bedeutung. Herr Wehrbeauftrag-ter, Sie haben vor kurzem Ihren ersten Jahresbericht vor-gelegt. Wie schon bei Ihrem Vorgänger zeichnet sich derBericht durch Offenheit, Klarheit und Sachkenntnis aus.Ihnen und Ihren Mitarbeitern danke ich im Namen mei-ner Fraktion für Ihre wichtige Arbeit. Sie können auf un-sere Unterstützung zählen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Elke Hoff [FDP])

Der Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatzarmeeist zwar sicherheitspolitisch begründet, aber mit einemenormen Veränderungsdruck verbunden. Umstrukturie-

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Anita Schäfer (Saalstadt)

rung, Umstationierung und Neuausrichtung der Ausbil-dung vollziehen sich gleichzeitig zu Planung, Vorberei-tung und Durchführung internationaler Kriseneinsätze,sozusagen eine Reparatur am laufenden Motor. Bislanghaben unsere Soldaten diesen Spagat gemeistert. Aberder Bericht des Wehrbeauftragten 2004 enthält deutlicheWarnsignale. Wir müssen die Risiken der Transforma-tion klar identifizieren und bei Bedarf korrigierend ein-greifen.

Begründung, Planung und Durchführung von Aus-landseinsätzen erfordern das besondere Augenmerk vonuns Parlamentariern. Es wäre fatal, wenn internationaleKriseneinsätze der Bundeswehr als Routineangelegen-heit wahrgenommen würden. Bundespräsident HorstKöhler hat ein „freundliches Desinteresse“ der Gesell-schaft an unseren Streitkräften konstatiert. Das ist einbedenklicher Vorgang, der mit dem Prinzip einer Parla-mentsarmee unvereinbar ist. Zu Recht erwarten die Sol-daten von uns Klarheit über den Sinn von Einsätzen. Siehaben es angesprochen, Herr Wehrbeauftragter. Nurwenn ausreichend Klarheit besteht, ist eine breite Zu-stimmung im Parlament möglich. Diese ist für die Legi-timation von Auslandseinsätzen unverzichtbar.

Im Mai steht die Abstimmung über einen Kongoein-satz deutscher Soldaten an. Leider ist es in der politischenDebatte noch nicht gelungen, den Sinn dieses Einsatzeshinlänglich klarzumachen. Wir müssen die deutschen In-teressen an einem verstärkten Afrikaengagement klar de-finieren. Für mich kommt es auf folgende Punkte an:

Erstens. Der Staatenzerfall in Afrika ist ein gravieren-des sicherheitspolitisches Problem. Neue Rückzugs-räume für Terroristen können entstehen. Der Migrations-druck nach Europa verschärft sich weiter. Ein Einsatz,der zur Stabilisierung im Kongo beitragen kann, ist des-wegen auch im deutschen Sicherheitsinteresse.

Zweitens. Afrika ist als Nachbarkontinent Europasein wichtiger Rohstofflieferant und künftiger Markt. DieÖlzentren in Zentral- und Westafrika, die an die Demo-kratische Republik Kongo angrenzen, werden für diestrategische Rohölversorgung des Westens zunehmendwichtig. Das betrifft natürlich auch uns als wichtige eu-ropäische Industrienation.

Drittens. Ein gesamteuropäisches Kontingent trägtunter dem Gesichtspunkt des Multilateralismus zur Stär-kung der Vereinten Nationen bei. Wir unterstützen durchdiese Politik die Transformation der EU auf dem Weg zueinem globalen Akteur.

Nur wenn deutsche Interessen klar und einsichtig for-muliert sind, nur wenn ein breiter sicherheitspolitischerKonsens im Parlament besteht, können unsere Soldatenmit innerer Überzeugung in einen Einsatz gehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Auslandseinsätzesind teuer. Allein im Haushaltsjahr 2005 schlugen sie imVerteidigungsetat mit rund 884 Millionen Euro zu Bu-che. Das Ungleichgewicht zwischen Auftrags- und Mit-tellage der Bundeswehr ist längst nicht behoben. Umsomehr brauchen wir endlich einen fairen Finanzierungs-schlüssel für Auslandseinsätze.

Mittlerweile liegen die Schätzungen der Kosten fürden geplanten Kongoeinsatz bei über 60 Millionen Euro.Für mich als Mitglied des Verteidigungsausschusses istnicht einsichtig, diese Lasten einseitig dem Einzel-plan 14 aufzubürden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man kann als Außen- oder Entwicklungspolitiker nichtEinsätze der Bundeswehr in Afrika fordern, die finan-zielle Bewältigung aber dem Verteidigungsministerüberlassen. Hier müssen wir zu einer fairen Lastentei-lung zwischen den Ressorts kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-wie des Abg. Martin Zeil [FDP])

Eine einseitige Inanspruchnahme des Einzelplans 14schadet der Planungssicherheit der Truppe. Denn dieseGelder fehlen für verteidigungsinvestive Ausgaben. Wirbrauchen sie dringend für eine optimale Einsatzausstat-tung der Bundeswehr.

Meine Damen und Herren, das Gros der laufendenBundeswehreinsätze sind Stabilisierungsmissionen. Siewerden auch in Zukunft das Einsatzprofil der Truppeentscheidend prägen. Doch schon jetzt ist absehbar, dassder Bundeswehr die Spezialisten ausgehen. Ich zitiereaus dem Bericht des Wehrbeauftragten 2004:

Immer wieder und verstärkt wiesen Soldaten daraufhin, dass die Möglichkeiten der Spezialisten, na-mentlich der Fernmelder, des Sanitätspersonals, derPioniere und auch von Logistikern erschöpftseien …

Dieser Trend bestätigt sich auch im Bericht des Wehrbe-auftragten 2005. Hier werden explizit die Bereiche ope-rative Information, Sanitätsdienst und Heeresflieger an-geführt.

Wenn das gegenwärtige Einsatzniveau gehalten wer-den soll, muss die Personalkonzeption der Bundeswehrentschieden gegensteuern. Hier zeigt sich im Übrigen,wie unverzichtbar die Wehrpflicht für eine nachhaltigePersonalplanung der Streitkräfte bleibt. Doch müssenwir zusätzlich kreativ in eine gezielte Nachwuchswer-bung und attraktive Karriereplanung investieren. Die ge-nannten Spezialisten sind das Rückgrat globaler Frie-denssicherungseinsätze.

Meine Damen und Herren, gerade in Auslandseinsät-zen beginnt oft ein Nachdenken der Soldaten über Werte,über Sinn und Zweck des Lebens. Umso mehr benötigensie ein ethisch reflektiertes Berufsverständnis, das ih-nen in schwierigen Entscheidungssituationen weiterhilft.Wichtige Wegbegleiter im Einsatz sind die Militärseel-sorger, dies nicht nur im Einsatzgebiet selbst, sondernauch in der Heimat, wo sie den Familien mit Rat und Tatzur Seite stehen. Die Militärseelsorge muss deswegenauch künftig elementarer Bestandteil der Einsatzplanungsein.

Die katholische Bischofskonferenz hat jüngst in ihrerDenkschrift „Soldaten als Diener des Friedens“ die Be-deutung der inneren Führung für Auslandseinsätze he-rausgestellt:

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2704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Anita Schäfer (Saalstadt)

Die lebendige Weiterentwicklung des Konzepts derInneren Führung ist eine der entscheidenden Vo-raussetzungen für die friedensethische Legitimitätder Streitkräfte.

Dies müsse, so betonen die Bischöfe zu Recht, auch un-ter multinationalen Einsatzbedingungen Geltung haben.Eine Erosion der inneren Führung in Konkurrenz zuanderen militärischen Führungskulturen wäre für dasmoralische und politische Selbstverständnis der Bundes-wehr ein gravierender Bruch. Hier stehen der Wehrbe-auftragte und wir Parlamentarier in einer besonderenSorgfalts- und Beobachtungspflicht.

Unsere Gesellschaft muss sich darüber im Klarensein, dass – wie der langjährige Generalinspekteur KlausNaumann formuliert hat – „der Soldat in letzter Konse-quenz ein Kämpfer ist“. Diese Eigenschaft unterscheidetihn von allen anderen Berufen und schließt die Bereit-schaft ein, sein eigenes Leben für den Dienst an seinemLand einzusetzen. Das verpflichtet uns nicht nur, ele-mentare Rechte und Schutzbedürfnisse unserer Soldatenzu beachten. Es erfordert auch ein ehrendes Andenkenan diejenigen, die ihr Leben im Einsatz lassen mussten.

Ich begrüße sehr, dass Verteidigungsminister Dr. Jungdie Idee eines zentralen Denkmals in Berlin konsequentverfolgt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Heinz-Peter Haustein [FDP])

Ich sehe darin einen wichtigen Beitrag, die gesellschaft-liche Diskussion über den Sinn von Streitkräften und dieBedeutung militärischer Friedenssicherung aktiv zu füh-ren. Das sind wir unseren Soldaten schuldig; denn siesind es, die stellvertretend für uns alle die Risiken künf-tiger Gefahrenabwehr tragen müssen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und des Abg. Heinz-PeterHaustein [FDP])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Katrin Kunert, der ich,

bevor sie das Wort erhält, gerne zu ihrem heutigen Ge-burtstag gratulieren möchte. Alles Gute!

(Beifall)

Katrin Kunert (DIE LINKE): Danke schön, Herr Präsident. Das Alter lassen wir

weg. Das würde sowieso niemand glauben. – Sehr ge-ehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Gäste! Die Bundeswehr ist heute an elfStandorten im Auslandseinsatz. Die Soldatinnen undSoldaten leisten unter schwierigsten Bedingungen ihrenDienst und sie machen ihn gut. Derzeit werden wiederDeiche gebaut und gesichert. Die Bundeswehr soll inden Kongo geschickt werden und nach Auffassung desVerteidigungsministers bei der Fußballweltmeister-schaft zum Einsatz kommen. Ich könnte die Palette fort-führen.

Die Zeit, die sich das Parlament für die Behandlungder inneren Verfasstheit der Bundeswehr nimmt, stehthingegen in keinem Verhältnis zur gegenwärtig formu-lierten Anforderung an die Bundeswehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Das 50-jährige Bestehen des VerfassungsinstitutesWehrbeauftragter findet leider nicht in angemessenerWeise Würdigung.

Warum sage ich das? Nur Deutschland verfügt überdie Institution Wehrbeauftragter. Darauf wurde mit Stolzbereits in der Debatte im Januar hingewiesen. Aber vor-gezogene Neuwahlen ließen den Bericht von 2004 in denHintergrund geraten, obwohl Handlungsbedarf besteht.Die Zahl der von Soldatinnen und Soldaten gemachtenEingaben stieg trotz sinkender Truppenstärke. Die Pa-lette der aufgeführten Vergehen reicht von schlechterBezahlung über Missbrauch der Befehlsgewalt bis hin zuRechtsextremismus und Diskriminierung. Diese Verge-hen sind keine Einzelfälle und sie sollten uns zu der Er-kenntnis bringen, dass es eben nicht ausreicht, jährlicheinen Mängelbericht entgegenzunehmen.

Wichtig sind die Konsequenzen, die daraus gezogenwerden müssen. Wir fordern ein Management, welcheskontinuierlich, schnell und wirksam agiert. Versäum-nisse können nicht nachträglich geregelt werden, Prä-vention muss im Vordergrund stehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Bundestag muss seine Kontrolle noch effektiverund umfassender ausüben. Die Möglichkeit der unange-meldeten Besuche vor Ort wird viel zu wenig genutzt.Gerade der Verteidigungsausschuss sollte die Arbeit desWehrbeauftragten unterstützen. Wir fordern ihn auchdazu auf, mehr zu tun. Wir wollen ihn mehr in die Pflichtnehmen, mehrere Berichte mit den nötigen Schlussfolge-rungen vorzulegen. Eine Aufzählung von Problemenoder Eingaben reicht uns nicht aus. Dies haben wir auchbei den Beratungen dieses Berichtes im Verteidigungs-ausschuss klargestellt. So manche Anmerkung im vorlie-genden Bericht und in der Beschlussempfehlung könnteschon etwas zackiger formuliert werden. Mir sei folgen-der Vergleich erlaubt – ich sitze in einem kommunalenParlament –: In kommunalen Vertretungen wird mitRechnungsprüfungsberichten verbindlicher umgegan-gen, als es meinem Eindruck nach hier geschieht.

Sehr geehrter Herr Robbe, Sie wissen, unsere Frak-tion hat eigene Vorstellungen zur Bundeswehr. Wir sindfür die Abschaffung der Wehrpflicht. Wir sind für dieReduzierung der Truppenstärke auf 100 000 Soldatinnenund Soldaten

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hatten wir schon einmal!)

und wir sind gegen Auslandseinsätze.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber gehen Sie einmal davon aus, dass wir bei derUmsetzung des Soldatenbeteiligungsgesetzes genauhinschauen werden. Unserer Unterstützung, Herr Robbe,können Sie sich dabei sicher sein.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2705

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Katrin Kunert

(Beifall bei der LINKEN)

Ich finde es im Übrigen ungünstig, dass Sie alle heuteda in der letzten Reihe sitzen.

Die Rechte der Soldatinnen und Soldaten stehenfür uns im Mittelpunkt. Für uns verbietet sich jede Un-gleichbehandlung. Wir erwarten von Ihnen, Herr Robbe,dass Sie endlich die systematische Verletzung der ge-setzlichen Vorgaben zur Wahrung der Wehrgerechtigkeitaufgreifen. Im letzten Jahr haben nur weniger als60 000 Wehrpflichtige ihren Grundwehrdienst geleistet.Die Tendenz ist sinkend. Aber fast doppelt so viele leis-teten einen Ersatzdienst, der damit längst zum Regel-dienst geworden ist.

Herr Robbe, Sie nehmen heute zum zweiten Mal Kri-tiken und Hinweise für einen Bericht entgegen, den Sienicht selbst geschrieben haben. Auch der Bericht 2005– das wurde schon gesagt – liegt vor. Die vielen Pro-bleme ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Be-richte. Ich habe es auch schon im Ausschuss gesagt: Wervon dieser Armee viel verlangt, der muss sie bei denEntscheidungen mitnehmen und muss sie verdammtnoch mal auch sehr gut vorbereiten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir werden Sie sehr unterstützen. Wir erwarten vonIhnen aber auch mehr Eigeninitiative. Die Überprüfungdes Ausbildungssystems und die kritische Überprüfungder Militärgerichtsbarkeit sind von Ihren Vorgängernbisher stiefmütterlich behandelt worden. Lassen Sie unsmit diesen Themen beginnen! Ich wünsche uns eine guteund konstruktive Zusammenarbeit.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rolf Kramer

für die SPD-Fraktion.

Rolf Kramer (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dieserStelle an Frau Kunert noch einmal die herzlichstenGlückwünsche zum Geburtstag! Allerdings muss ich Ih-nen sagen, Frau Kollegin: Angesichts der deutschen Ge-schichte und der deutschen Militärgeschichte bin ichfroh darüber, dass wir keine zackige Armee mehr habenund auch keinen zackigen Wehrbeauftragten haben.

Auch in diesem Bericht geht der Wehrbeauftragte aufdie gesundheitliche Beeinträchtigung jener ehemaligenSoldaten und Beamten der Bundeswehr und der Natio-nalen Volksarmee ein, die während ihrer Tätigkeit ioni-sierender Strahlung ausgesetzt waren. Ich will denSchwerpunkt auf diesen Aspekt legen.

Bei vielen Betroffenen haben sich aufgrund der Strah-leneinwirkung Krebserkrankungen entwickelt. Einegroße Anzahl der Erkrankten ist inzwischen verstorben.

Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundesta-ges beschloss im Juni 2002 die Einsetzung der Radar-

kommission, die sich mit dieser Problematik intensivbefasste. Nach Vorlage des Berichts der Radarkommis-sion sagte die Bundeswehr zu, die Empfehlungen derKommission eins zu eins umzusetzen. Dieses Vorgehenwurde vom Verteidigungsausschuss im September 2003befürwortet.

An dieser Stelle möchte ich mich insbesondere beidem damaligen Parlamentarischen Staatssekretär WalterKolbow und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternfür das außerordentliche Engagement bedanken. Dergleiche Dank gilt den Angehörigen des Bundes zur Un-terstützung Radargeschädigter, ohne deren Mitwirkenwir nicht so weit gekommen wären.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insgesamt haben 2 633 Soldaten und Beamte aus derBundeswehr und der NVA einen Antrag auf Anerken-nung einer Wehrdienstbeschädigung gestellt, von deneninzwischen 575 positiv beschieden wurden.

Nachdem es aus Sicht des Bundes zur UnterstützungRadargeschädigter bei der Bearbeitung von Versor-gungsfällen aufgrund unterschiedlicher Interpretationenzu unverständlichen Entscheidungen gekommen war,vereinbarten das Verteidigungsministerium und derBund zur Unterstützung Radargeschädigter, solche Pro-bleme an einem runden Tisch zu beraten. Der rundeTisch nahm seine Arbeit im Dezember 2004 auf. Diesesfür die Bundesrepublik bisher einmalige Dialogverfah-ren ist positiv zu bewerten und hat in mehr als 17 Fällenzum Erfolg geführt.

Viele der negativ beschiedenen Antragsteller habeninzwischen von ihrem Recht Gebrauch gemacht und denKlageweg beschritten.

Das Sozialgericht in Landshut bezieht sich in derWürdigung einer Klage wegen der Radarstrahlenproble-matik ausdrücklich auf die Empfehlungen der Radar-kommission und schlägt deshalb einen Vergleich vor. Ineiner Stellungnahme vom 9. Februar dieses Jahres führtdie Wehrbereichsverwaltung West dazu aus:

Die 17 Mitglieder der (Radar-) Kommission gehör-ten entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinenan.

Sie ahnen, was jetzt kommt.

Ein Jurist war nicht beteiligt, so dass die Verfah-rensvorschläge demnach nur für den technischenund medizinischen Fachbereich erfolgten.

Es kommt aber noch besser. In einer Schlussfolgerungkommt die Wehrbereichsverwaltung zu dem Ergebnis:

Der (Radar-) Bericht hat keine rechtliche Verbind-lichkeit.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine glatteUmkehr der bisherigen Verfahrensweise. Dem Leidender Betroffenen wird man damit in keiner Weise gerecht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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2706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Rolf Kramer

Zu fragen ist auch, ob die gemeinsame Erklärung desBundes zur Unterstützung Radargeschädigter und desVerteidigungsministeriums sowie der eindeutigeWunsch des Verteidigungsausschusses hier nicht in ihrGegenteil verkehrt werden.

(Walter Kolbow [SPD]: Richtig!)

Auch die eindeutige Position des Bundesgesund-heitsministeriums im Rundschreiben vom 20. Oktober2003 wird in ihr Gegenteil verkehrt. In dem Rundschrei-ben heißt es:

Da in Folge der besonderen Sachlage die Exposi-tion (z. B. konkrete Strahlendosis) im Einzelfallnicht mehr ermittelbar ist, unterstellt das Bundes-ministerium der Verteidigung … die Wahrschein-lichkeit des ursächlichen Zusammenhangszwischen Strahlenexposition und bösartiger Erkran-kung. Die Frage einer Kannversorgung stellt sichdeshalb in diesen Fällen nicht.

Es muss also versorgt werden. So weit und so eindeutig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann im Inte-resse der Betroffenen nur hoffen, dass wir es hier mitdem Übereifer von wenigen Beschäftigten der Wehrbe-reichsverwaltung zu tun haben und nicht mit einerKehrtwendung in der Angelegenheit insgesamt. Die Ver-antwortlichen bleiben aufgefordert, schnellstens zu derursprünglichen Verfahrensweise zurückzukehren.

Noch ein weiterer Aspekt verdient in diesem Zusam-menhang Erwähnung. Wie der Wehrbeauftragte bin auchich der Meinung, dass man die Frage der Einrichtungeiner Stiftung noch einmal intensiv prüfen sollte – obspeziell für die Strahlenopfer oder für Härtefälle im Be-reich des Verteidigungsministeriums allgemein, ist eineFrage der Zweckmäßigkeit. Ich denke, die Sachlage istes wert, geprüft zu werden.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Winfried Nachtwei,

Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2004 ist vonuns äußerst spät auf die Tagesordnung gesetzt worden.Ich will die Gelegenheit nutzen, nach der Vorgabe desneuen Wehrbeauftragten auch den Jahresbericht 2005gebührend zu berücksichtigen.

Es ist schon festgestellt worden, dass dieser Bericht– dieser Feststellung kann ich mich sehr anschließen;das war auch ein Merkmal des vorherigen Wehrbeauf-tragten und wird bei dem neuen noch deutlicher – einesehr klare, deutliche und ungeschminkte Sprache enthält,die wir gerade bei dieser Institution sehr gebrauchenkönnen. Hilfreich ist auch, dass im Jahresbericht 2005 aneinzelnen Stellen Anmerkungen zur Dimension des Pro-

blems zu finden sind, wo deutlich wird, dass es nicht umEinzelfälle geht und dass es eine erhebliche Dunkelziffergibt. Das ist hilfreich, um die Vorkommnisse entspre-chend einordnen zu können. Insgesamt muss ich sagen,dass sich das, was im Vorjahr schon beunruhigend war,jetzt verschärft hat.

In diesem Jahr wird das Amt des Wehrbeauftragten50 Jahre alt. Wir können feststellen, dass dieses Amt fürdie Streitkräfte in Rechtsstaat und Demokratie einLeuchtturm ist und für gelebte innere Führung

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

sowie angemessene und menschenwürdige Arbeitsbe-dingungen der Bundeswehrangehörigen unverzichtbarist. Deshalb mein Dank nicht nur an diese Institution ins-gesamt, sondern auch an diejenigen Frauen und Männer,die dieses Amt immer sehr lebendig ausgefüllt habenund heute ausfüllen.

Einige Mängel waren in dem Bericht 2004 sehr deut-lich angesprochen worden. Sie existieren, zum Teil ver-stärkt, ebenso im Bericht des Jahres 2005. Dabei geht esauch um Mängel, die von oberen Ebenen verursachtsind, also nicht einfach nur um Fehlverhalten von Ein-zelnen. Ich möchte einige Mängel schlaglichtartigansprechen: die Situation der Infrastruktur, der Unter-künfte; immer wieder werden unhygienische Verhält-nisse angesprochen. Immer wieder gibt es auch Klagenvon Grundwehrdienstleistenden, dass sie die Erfahrungmachen, dass sie praktisch nicht gebraucht werden. Dasist verwunderlich angesichts der Tatsache, dass nur noch10 Prozent der Wehrpflichtigen eines Jahrgangs ihrenGrundwehrdienst ableisten – man muss sich einmal vor-stellen, dass es für diese nicht genug zu tun gibt –, undangesichts der Tatsache, dass die große Koalition die of-fensichtliche Fiktion von der Wehrpflicht durch voll-mundige Bekenntnisse zu dieser zu verklären versucht.

(Vorsitz: Vizepräsident Wolfgang Thierse)

Das dritte Dauerproblem ist schließlich die seit vielenJahren völlig unzureichend umgesetzte Soldatenbeteili-gung.

Es werden im Bericht vier Hauptsorgen genannt: stei-gende Belastung durch Einsätze und Bereitschaften,erhebliche Verunsicherung durch den Transformations-prozess, reale Besoldungskürzungen und abnehmendesöffentliches Interesse.

Auf zwei Punkte möchte ich noch kurz eingehen.

Es ist regelrecht alarmierend, dass ältere Unteroffi-ziere mit Portepee im so genannten Beförderungsstaustecken. Es wird berichtet, dass die Verbitterung sehrgroß ist.

Der Wehrbeauftragte unterstützt die Forderung desBundespräsidenten, dass die überfällige, breit angelegteDebatte über die Außen- und Sicherheitspolitik derBundesrepublik inklusive Bundeswehr endlich begon-nen wird. Diese Forderung ist sehr richtig und verdientunser aller Unterstützung.

(D)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2707

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Winfried Nachtwei

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Wir müssen aber feststellen, dass diese Forderungzwar schon seit Jahren erhoben wird, dass sie aber fol-genlos geblieben ist. Warum ist das so? Die Betroffen-heit nimmt ab; das liegt auf der Hand. Daneben gibt esBerührungsängste, die bewirken, dass manches heißeEisen nicht angefasst wird. Außerdem ist die Neigungzur Konsenspolitik gerade in Sachen Bundeswehr sehrstark. Schließlich gibt es bei der Exekutive gerade in Be-zug auf die internationale Politik – ich will Ihnen, HerrMinister, das jetzt gar nicht unterstellen; ich kenne dasaus eigener rot-grüner Erfahrung – ein sehr großes Inte-resse an Handlungsfreiheit. Das alles wirkt einer solchenGrundsatzdebatte entgegen.

Herr Minister, Sie haben angekündigt, dass vor derSommerpause das Weißbuch vom Kabinett verabschie-det werden und dass es danach eine breite Debatte gebensoll. Ich meine, dies ist eine Illusion. Denn vor der Som-merpause gibt es ein paar Tage eine Medienreaktion aufdie Veröffentlichung des Weißbuchs und dann versandetdie Diskussion. Es wird so laufen wie 2003 bei der De-batte über die Verteidigungspolitischen Richtlinien undwie 2000 bei der Debatte über die Vorschläge derWeizsäcker-Kommission.

Mein Vorschlag ist daher: Bringen Sie das Weißbuchvor der Sommerpause sozusagen in erster Lesung durchdas Kabinett.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das wäre dann Ihr Aufschlag. So könnte man mit derDebatte fortfahren.

Die Voraussetzungen für eine gründliche Debatte sindheutzutage so gut wie nie zuvor. Denn die Fraktionensind insgesamt sehr gut aufgestellt. Es wäre im Sinne derBundeswehrangehörigen, der interessierten Öffentlich-keit, des Bundespräsidenten und des Wehrbeauftragten,wenn dieses Ansinnen von allen Fraktionen gebührendunterstützt würde.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert

Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (fraktionslos): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Da der Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten be-reits vorliegt, erlaube ich mir, einige Parallelen zu zie-hen.

In dem Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten istzu lesen, dass es 147 Fälle von Rechtsextremismus inder Truppe gab. Das ist ein Anstieg um 10 Prozent ge-genüber 2004. Die Vorkommnisse gab es in allen Berei-chen. 5 Prozent der Fälle geschahen in Offizierskreisen,

also bei den Personen, die bei der Erziehung der Solda-ten eigentlich Vorbild sein sollten.

2004 gab es in der Bundeswehr 44 Todesfälle mitVerdacht auf Selbsttötung. In den Jahren davor gab esähnlich hohe Zahlen. Erfreuliches meldet der Jahresbe-richt 2005, über den wir noch zu reden haben. Das Wort„Selbsttötung“ kommt darin nicht vor. Entweder gab eskeine – was im Vergleich zu den Vorjahren ungewöhn-lich wäre – oder die Zahlen wurden uns schlicht vorent-halten. Hierzu wird es sicherlich weitere Information ge-ben.

Bei der Ost- bzw. der Westbesoldung wird in beidenBerichten mit fast den gleichen Worten festgestellt, dassdie Soldaten, die in den neuen Bundesländern eingesetztwerden, nur 92,5 Prozent der Bezüge ihrer Kameradenaus den alten Ländern erhalten. Eine ungleiche Besol-dung in Ost und West ist ungerecht. Das ist politisch zulösen.

Der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe, dem ich fürseinen Bericht danke, hat im Vorwort des Berichtes 2005in beachtlicher Offenheit darüber geschrieben, dass einOberstleutnant in Kabul im November 2005 sein Lebenbei einem heimtückischen Anschlag verloren hat. HerrRobbe kannte den Mann persönlich als fachkundigenund engagierten Menschen. Sein Tod führte ihm vor Au-gen, welche Gefahren und Risiken die Auslandseinsätzefür Angehörige der Bundeswehr bergen.

Mir selbst führte dieser tragische Tod vor Augen, wel-chen zukünftigen Gefahren und Risiken die Bundes-wehrsoldaten bei den kommenden Auslandseinsätzenausgesetzt sind. Es darf niemals Normalität werden, dassBundeswehrsoldaten in Auslandskriegseinsätze ge-schickt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben klar-gestellt, dass die Bundeswehr eine Verteidigungsarmeeist. Seit Anfang der 90er-Jahre wird Verteidigung so aus-gelegt, dass Bundeswehrsoldaten global-strategische In-teressen bedienen. Dies halte ich für verfassungswidrig.Minister Jung fordert eine Änderung des Grundgesetzes,damit die Bundeswehr noch leichter für Profitinteresseneingesetzt werden darf. Man darf aber nicht die Verfas-sung der Realität anpassen, wie er es fordert. Vielmehrhat sich die Realität nach der Verfassung zu richten.

Diese Bundesregierung täte gut daran, sich an der Ini-tiative Bill Clintons zu beteiligen und den Menschen-rechtsorganisationen bei der Lösung von weltweitenKonflikten Vorrang zu geben. Deutschland sollte öfterseine zivile Visitenkarte abgeben und die militärischenicht zum Aushängeschild machen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dann werden wir auch keine Toten mehr bei Auslands-einsätzen zu beklagen haben.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

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2708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Hedi Wegener, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hedi Wegener (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch

wenn der 2005er-Bericht schon mehrfach erwähntwurde: Wir diskutieren heute über den Bericht von 2004.Herr Minister und Herr Wehrbeauftragter, es tut mirLeid: Sie müssen sich Ihre Lorbeeren erst noch verdie-nen. Wir werden die Arbeit des neuen Wehrbeauftragtenim Zusammenhang mit dem Bericht 2005 auf den Prüf-stand stellen.

Heute geht es um den Bericht von 2004. Ich will michin meinem Beitrag auf einen Punkt beschränken. Das istdie Frage der Sinnhaftigkeit der Einsätze, die sich dieSoldatinnen und Soldaten immer wieder stellen. Immerwieder geht es – auch gerade jetzt bei einem möglichenEinsatz im Kongo – um den Sinn der Auslandseinsätze.Im Bericht des Wehrbeauftragten wird darauf hingewie-sen, dass diese Frage in den Reihen der Bundeswehr im-mer stärker diskutiert wird. Wir haben im Moment7 416 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen.Das bedeutet, dass rund 30 000 Soldatinnen und Solda-ten vorbereitet, nachbereitet und ausgebildet werden. Siesind in Afghanistan, im Kosovo, in Bosnien, im Sudan,in Äthiopien, am Horn von Afrika und in Georgien imEinsatz.

Im Bericht des Wehrbeauftragten wird darauf hinge-wiesen, dass vonseiten der Soldatinnen und Soldaten im-mer häufiger die Frage nach dem Sinn ihres Tuns gestelltwird. Auch in der Stellungnahme des BMVg wird daraufhingewiesen, dass sich die Frage anders darstellt als infrüheren Zeiten. Was heißt jetzt „anders“? Viele Solda-ten fragen sich: Stimmt mein Einsatzauftrag mit dem,was ich hier tue, eigentlich überein? Bei einem wieder-holten Einsatz – möglicherweise im gleichen Land –stellen sie sich die Frage: Hat sich eigentlich etwas ver-ändert? Hat es eigentlich etwas gebracht, dass ich hierwar? Hat unser Einsatz dem Land eigentlich einen Fort-schritt gebracht? Haben die Menschen eigentlich etwasvon dem Einsatz?

Das Prinzip der inneren Führung will den selbststän-dig denkenden Staatsbürger in Uniform. Mitdenken kanner aber nur, wenn er die Rahmenbedingungen seinesAuftrages kennt. Die politische Bildung in der Bundes-wehr ist verstärkt worden und passt sich den heutigen Si-tuationen an. Das neue Aufgabenspektrum unsererStreitkräfte stellt auch die politische Bildung vor neueHerausforderungen. Ich habe heute wieder von Ihnenvernommen, dass die Überarbeitung der ZentralenDienstvorschrift ZDv 12/1 wirklich bald abgeschlossensein soll.

Ich habe einen Hinweis an die Haushälter, die jetzthier zuhören: Es kann doch nicht sein, dass die Mittel fürdie politische Bildung gestrichen werden und wir gleich-zeitig, gerade von der Bundeszentrale für politische Bil-dung, ein Mehr an Aktivität verlangen. Die politische

Bildung begleitet die Soldaten vor dem Einsatz, währenddes Einsatzes und im letzten Schritt nach dem Einsatz,um die Differenzen, die es gegeben hat, aufzudecken.

Ich habe schon im Januar gesagt – ich möchte es nocheinmal betonen –, dass die Bundeszentrale für politischeBildung mit der Bundeswehr kooperiert und es deshalbin dem Bereich eigentlich überhaupt keine Kürzungengeben darf. Es geht darum, dass der Beitrag, den die Sol-datinnen und Soldaten zur Sicherung von Frieden undFreiheit leisten, auch der Bevölkerung nahe gebrachtwird, dass er gewürdigt und publiziert wird. Das heißt,politische Bildung wirkt in zwei Richtungen: zum einenim Inneren der Bundeswehr, zum anderen nach außen, inder Gesamtbevölkerung.

Vorhin haben viele Jugendliche auf der Tribüne Platzgenommen. Inzwischen hat das Publikum gewechselt.Ich empfehle Ihnen, falls Sie mehr über das Thema wis-sen wollen, unter www.wehrbeauftragter.de nachzu-schauen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-gungsausschusses zum Jahresbericht 2004 des Wehrbe-auftragten, Drucksachen 15/5000 und 16/909. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Stimmenthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist damit einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgittBender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. HaraldTerpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Dem Solidarsystem eine stabile Grundlage ge-ben – für eine nachhaltige Finanzierungsre-form der Krankenversicherung

– Drucksache 16/950 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kol-legin Birgitt Bender, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege

Struck hat das Schicksal der großen Koalition an das Zu-standekommen einer Gesundheitsreform geknüpft. Da

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2709

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Birgitt Bender

mag er Recht haben. Es ist in der Tat ein Test auf IhrePolitikfähigkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen vonder großen Koalition, ich sage Ihnen: Ein guter Anfangist nicht gemacht. Was hören wir nämlich heute? Wenndu nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis!Das ist das Motto, dem Sie jetzt folgen.

(Beifall des Abg. Markus Kurth [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Elke Ferner [SPD]:Das ist billig, Frau Bender!)

Was hört man sonst noch? Es gebe bereits ein biss-chen Einigkeit. Auch das lässt nichts Gutes hoffen; denndie Einigungslinie, die sich abzeichnet, ist offenbar:Mehr Geld muss her! Deswegen gibt es geradezu einenÜberbietungswettbewerb in Sachen Geldquellen: Die ei-nen sprechen von einer Steuererhöhung namens Gesund-heitssoli, die anderen wollen eine Kopfpauschale auf dieBeiträge der Versicherten draufsatteln.

Wieso sehen wir bereits im nächsten Jahr ein größeresDefizit in der GKV vor uns? Schauen wir es uns einmalan. Das Defizit ist im Wesentlichen hausgemacht. Diegroße Koalition hat beschlossen, den Steuerzuschuss fürversicherungsfremde Leistungen in Höhe von mehr als4 Milliarden Euro, den wir einmal gemeinsam – Rot-Grün mit der Union – beschlossen hatten, aufzuheben.Außerdem belasten Sie die gesetzliche Krankenversiche-rung mit einer höheren Mehrwertsteuer auf Arzneimittel.Schließlich haben Sie beschlossen, die Krankenversiche-rungsbeiträge für Arbeitslose herabzusetzen.

Das alles macht ein Defizit von mehr als 5 MilliardenEuro aus. Ich nenne das ein „steinbrücksches Raubritter-tum“ zulasten der gesetzlich Versicherten. Das gehörtsich nicht.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Bei der Gesundheitsreform geht es auch nicht um fri-sches Geld, wenngleich ich weiß, dass sich viele Leis-tungserbringer darüber freuen würden. Es geht um nach-haltige Finanzierung. Wir alle wissen doch, dass eineGesundheitsversorgung, die in ihrer Finanzierung alleinauf den Arbeitseinkommen aufbaut, in die Zukunft hi-nein nicht tragfähig ist. Deswegen brauchen wir Beiträgeauch auf andere Einkommen, deren volkswirtschaftlicheBedeutung zunimmt.

Eine ernsthafte Reform muss auch einen einheitlichenVersicherungsmarkt und einen echten Wettbewerb zwi-schen den Krankenkassen – seien sie gesetzlich oder pri-vat – schaffen. Ich erinnere daran, dass die Niederländerdiese Trennung, die sie auch noch hatten, jüngst abge-schafft haben. Wir drohen also zu den letzten Mohika-nern in Europa zu werden; das sollten wir uns nicht leis-ten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber wenn es denn so ist, meine Damen und Herrenvon der großen Koalition, dass die CDU/CSU das nichtmitmacht, dann sollte es jedenfalls eine Beteiligung derprivat Versicherten am Solidarausgleich geben. Nun hatder Kollege Pofalla von der CDU dieser Tage ebendiesabgelehnt mit der Begründung, die höheren Rechnun-gen, die die privat Versicherten beglichen, trügen erheb-

lich zur Stabilität des Systems bei. Da kann ich nur sa-gen: Er hat in der Sache Unrecht. Wenn die privatVersicherten mit ihren höheren Arzthonoraren zu etwasbeitragen, dann ist das – das hat jüngst eine Studie ge-zeigt – vielleicht die Überversorgung am StarnbergerSee, aber nicht das Bedürfnis der Kranken etwa in derUckermark oder in den Problemzonen der Großstädte.

Deswegen brauchen wir eine regelhafte und transpa-rente Einbeziehung der privaten Krankenversicherungin den Solidarausgleich, und zwar so, dass das Geld beiden Menschen ankommt, die die Versorgung brauchen.Das ist eine der Mindestanforderungen, die wir Ihnenheute mit unserem Antrag mit auf den Weg geben.

(Elke Ferner [SPD]: Das ist aber nett!)

Bitte denken Sie daran: Eine Gesundheitsreform, dienicht rationalen Erwägungen, sondern nur denen der po-litischen Gesichtswahrung folgt, ist auch dann geschei-tert, wenn sie zustande kommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl Lauterbach,

SPD-Fraktion.

Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich darf mich zunächst einmal für die ein-leitenden Ausführungen von Frau Bender ganz herzlichbedanken. Ihr Beitrag erweckt den Eindruck, es ginge inder Gesundheitspolitik ohne die Mithilfe der Grünennicht mehr weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, dass es an uns ist, den gegenteiligen Ein-druck zu erwecken und in den nächsten Monaten denBeweis dafür zu erbringen, dass dieser Eindruck nichttäuscht, Frau Bender.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufvon der FDP: Das sind aber hoch gesteckteZiele!)

Trotzdem muss ich mit einem Lob starten. Es ist inder Tat richtig: Der Antrag bringt die Probleme des Sys-tems auf den Punkt. Es werden vier Problemkreise aus-gemacht, die ohne Wenn und Aber die dominierendenProbleme des Systems sind.

Erstens. Die Finanzierungsbasis ist ungerecht. EinSolidarsystem, an dem sich ausgerechnet die Einkom-mensstärksten, diejenigen mit einem sicheren Arbeits-platz, die Beamten, die gut verdienen, viele Kollegenhier im Haus, nicht beteiligen, verdient den Namen „So-lidarsystem“ nicht. Das Finanzierungssystem ist somitungerecht.

Zweitens. Die Finanzierung ist nicht nachhaltig; auchdas ist richtig. Die Beiträge sind an Löhne und Gehältergekoppelt. Löhne und Gehälter finanzieren das Systemausschließlich und wachsen nicht so schell wie das Brut-toinlandsprodukt. Somit hinkt die Finanzierungsbasis

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2710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Dr. Karl Lauterbach

der Ausgabenentwicklung hinterher. Das führt zu stetigsteigenden Beitragssätzen.

Drittens. Dieses nicht nachhaltige System ist auchnoch schädlich für den Arbeitsmarkt. Weil die Finanzie-rungsbasis nicht so schnell wächst wie die Ausgaben,müssen die Beitragssätze ständig steigen. Das belastetden Arbeitsmarkt. Insbesondere in den neuen Bundes-ländern fallen dadurch Arbeitsplätze weg.

Viertens. Wir haben zu wenig Wettbewerb. Wir habenzu wenig Wettbewerb im System der privaten Kranken-versicherung, im System der gesetzlichen Krankenversi-cherung und auch zwischen den beiden Systemen.

Alle vier Probleme sind somit korrekt benannt. AlsLösungsvorschlag wird hier im Großen und Ganzen dasModell der Bürgerversicherung vorgeschlagen, so wiedie SPD es entwickelt hat. Es gibt zwar einige Abwei-chungen. Im Großen und Ganzen ist es aber identischmit dem SPD-Modell.

Ich gehe den Vorschlag einmal durch: Es wird vorge-schlagen, andere Einkommensarten einzubeziehen. Dasist kein schlechter Vorschlag. Die privaten Krankenver-sicherungen sollen in den Risikostrukturausgleich einbe-zogen werden. Auch das ist ein alter SPD-Vorschlag.Der Morbi-RSA soll eingeführt werden. Dazu haben wirschon einen konkreten Umsetzungsvorschlag entwickelt.Die Mitversicherung der Kinder soll nicht strittig gestelltwerden. Das schlägt derzeit niemand vor. Es wird vorge-schlagen, mehr Wahlmöglichkeiten im System zu schaf-fen. Auch das ist kein schlechter Vorschlag. Ich mussaber feststellen: Es kommen keine neuen brauchbarenVorschläge hinzu. Mein Eindruck ist, dass den Grünen,seit wir nicht mehr zusammenarbeiten, keine neuen Vor-schläge zur Gesundheitspolitik eingefallen sind.

(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil die so gut sind,dass man sie erst einmal umsetzen muss!)

– Dass die Vorschläge gut sind, bestreite ich nicht. Ichsage nur, es sind unsere guten Vorschläge, nicht Ihre.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie soll es weitergehen? Das reicht für einen ernst zunehmenden Antrag bei weitem nicht aus. Die Frage istdoch nicht, ob beispielsweise die anderen Einkommens-arten mit herangezogen werden sollen, sondern wie dasgeschehen soll. Dazu sagt der Antrag nichts aus.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sagen Sie etwas dazu!)

Wir stehen in der Entwicklung einer historischen Ge-sundheitsreform. Frau Bender, Ihr Antrag bringt abernoch nicht einmal einen kritisierbaren Vorschlag dazu,wie die anderen Einkommensarten berücksichtigt wer-den sollen.

Es wird vorgeschlagen, die privaten Krankenversi-cherungen in den Risikostrukturausgleich einzubezie-hen. Das ist ein nobler Vorschlag. Sie machen aber keineAngaben dazu, wie das passieren soll. Geht es um dieVersicherungen selbst oder sollen sich die Versichertenam Risikostrukturausgleich beteiligen?

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sollen wir der Regierung jetzt alle Ar-beit abnehmen?)

– Nein, aber Sie müssen doch ein bisschen über das hi-nausgehen, was wir schon hatten. Ich sehe keine An-sätze.

(Beifall bei der SPD)

Beim morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichsind wir schon weiter. Das Bundesministerium für Ge-sundheit hat einen ganz konkreten Gruber-Vorschlag un-terbreitet, wie der Morbi-RSA funktionieren kann.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das alte rot-grüne vielleicht, aber das neue nicht!)

Dazu finde ich in Ihrem Antrag keine Äußerung.

Neu in Ihrem Antrag ist lediglich Ihr Vorschlag – esist wenig Neues zu entdecken –, dass die Ehefrauen, diekeine Kinder erziehen und nicht pflegen, nicht weiterbeitragsfrei mitversichert werden sollen. Ich bitte, nocheinmal darüber nachzudenken, ob das wirklich sozial ist.Viele dieser Ehefrauen haben früher Kinder erzogenoder gepflegt. Es gibt heutzutage nur wenige junge Ehe-frauen, die, im Sinne einer Luxusehefrau, keine Kindererziehen und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung ste-hen. Wir müssen also vorsichtig sein, dass wir nicht die-jenigen bestrafen, die früher in Familie investiert haben.Der einzige neue Aspekt, den ich in Ihrem Vorschlag er-kennen kann, ist, zumindest in dieser undifferenziertenForm, nicht umsetzbar.

Ich komme zu den Wahlmöglichkeiten. Sie wollenmehr Wahlfreiheiten und mehr Wettbewerb. Das kannins Auge gehen, wenn man nicht vorsichtig ist. Wennman darunter versteht – so wird es von der FDP oft vor-geschlagen –, dass die Gesunden Leistungen, die sienicht brauchen, abwählen können, werden diese Leistun-gen für die Kranken nur umso teurer. Das ist ein Schrittin die falsche Richtung. Das ist eine Abwahl von Solida-rität. Auf diese Wahlmöglichkeiten können und solltenwir jederzeit verzichten.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, ich kann zu diesem Antrag Stellung neh-men, ohne meine Redezeit voll auszuschöpfen.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Nein, tu dasnicht! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie haben so wenig zu sagen?)

In der Summe kann man sagen, dass die Aspekte, die ausdem alten Solidarmodell der Bürgerversicherung aufge-griffen wurden, zu belobigen sind; neue Ideen sind Ihnenaber nicht gekommen. Ich bin ganz sicher, dass wir ge-meinsam mit der Union, in der großen Koalition, unbü-rokratische Vorschläge zur konkreten Gestaltung einesnachhaltigen, gerechten und solidarischen Gesundheits-systems erarbeiten werden, die wir Ihnen in Kürze unter-breiten können. Diese Vorschläge werden die folgendenFragen beantworten: Wie kann in unserem Gesundheits-system Wettbewerb praktiziert werden? Wie kann esSolidarität stärken? Wie kann dieses System nachhaltig

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Dr. Karl Lauterbach

finanziert werden, ohne dass es den Arbeitsmarkt belas-tet?

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kollege Lauterbach, das war Ihre erste Rede im Ple-

num des Deutschen Bundestages. Herzliche Gratulationund alles Gute für Ihre weitere Arbeit!

(Beifall)

Nun erteile ich das Wort Kollegen Daniel Bahr, FDP-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Daniel Bahr (Münster) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Herr Professor Lauterbach, auch ichgratuliere Ihnen im Namen der FDP zu Ihrer erstenRede. Wir freuen uns, dass wir nun die inhaltliche Aus-einandersetzung über den richtigen Weg, der in Deutsch-land in der Gesundheitspolitik eingeschlagen werdenmuss, als Politikerkollegen im Plenum des DeutschenBundestages führen.

Vor welchen Problemen stehen wir in der Gesund-heitspolitik? Die Finanzierung des Gesundheitswesensist an den Lohn gekoppelt. Steigende Gesundheitsausga-ben führen zu steigenden Krankenkassenbeiträgen, wasdie Arbeitsmarktlage wiederum erheblich verschlechtertund so zu steigender Arbeitslosigkeit führt. Das wie-derum verteuert die Ausgaben im Gesundheitswesen undführt zu Beitragsverlusten, sodass wir in eine Spirale ge-raten. Wir erleben, wie die Kopplung an den Lohn dazuführt, dass sowohl der Arbeitsmarkt belastet wird alsauch das Geld in der gesetzlichen Krankenversicherungfehlt.

Das zweite Problem, vor dem wir stehen, ist die de-mografische Entwicklung, die wir heute allerdingsnoch nicht spüren. Das Hauptproblem der gesetzlichenKrankenversicherung ist zurzeit die massive Arbeitslo-sigkeit, die die Beitragseinnahmen der gesetzlichenKrankenversicherungen mindert. Das große Problem deralternden Bevölkerung – immer mehr Ältere gegenüberimmer weniger Jüngeren – steht uns noch bevor. Dafürmüssen wir endlich eine Lösung finden. Für beide Pro-bleme, sowohl für das Problem des Arbeitsmarktes alsauch für das demografische Problem, bietet die Bürger-versicherung, wie sie die Grünen hier vorschlagen, keineLösung.

(Beifall bei der FDP)

Wenn Sie, liebe Frau Bender, in Ihrem Antrag sagen,dass die GKV ein „im Grundsatz leistungsfähiges und inder Bevölkerung breit akzeptiertes Sozialsystem“ ist,dann kann ich Ihnen nur entgegnen, dass wir die gesetz-liche Krankenversicherung seit Jahren nur dadurch amLeben erhalten, dass ein Kostendämpfungsgesetz das an-dere jagt.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wollen Sie sie abschaffen? – ElkeFerner [SPD]: Sie waren bei Lahnstein garnicht dabei, oder wie?)

– Sie haben doch die umfangreichsten Kostendämp-fungsgesetze gemacht. Ich will aber gar nicht behaupten,dass Schwarz-Gelb nicht auch einmal Fehler gemachthat. Das letzte, das Arzneimittelspargesetz, war auchnichts anderes als ein Kostendämpfungsgesetz.

Das heißt, wir wissen, dass uns die Beitragseinnah-men fehlen. Wir wollen das Problem lösen, indem wirversuchen, aus dem System heraus noch Wirtschaftlich-keitsreserven zu erschließen, bzw. indem wir mit Budge-tierung und Rationierungsentscheidungen immer weiterauf die untere Ebene gehen. Deswegen kann man nichtsagen, dass die gesetzliche Krankenversicherung bei denHerausforderungen, vor denen sie steht, ein im Grund-satz leistungsfähiges System ist.

Die erste Forderung muss doch sein: Wir braucheneine Finanzierung des Gesundheitswesens abgekoppeltvom Lohn, damit wir endlich einen Beitrag für den Ar-beitsmarkt leisten, aber eben nicht mit weiter steigendenKrankenkassenbeiträgen oder Kostendämpfungsgeset-zen. Wir müssen eine andere Finanzierung finden, dievon der alleinigen Finanzierung über den Lohn losgelöstist.

Die Bürgerversicherung löst diese Probleme auchnicht. Die Bürgerversicherung wird nur kurzfristigMehreinnahmen bringen, weil zusätzliche Geldquellenerschlossen werden. Wenn Sie auf Sparzinsen und Kapi-talerträge Beiträge erheben, haben Sie kurzfristig einbisschen mehr Geld. Aber das bedeutet, dass das Finanz-amt den Krankenkassenbeitrag einzieht, dass das Fi-nanzamt sich darum kümmert, wie die Gelder für dieKrankenkassen zusammen kommen. Wollen wir, dassdas Finanzamt sich darum kümmert, dass die Gelder dieKrankenkassen erreichen? Es ist ja richtig: Wir müssendie Lohngebundenheit abschaffen. Und es ist richtig,dass wir einen Solidarausgleich zwischen den Einkom-mensstarken zugunsten der Einkommensschwachenbrauchen.

(Elke Ferner [SPD]: Aha!)

Aber diesen Solidarausgleich organisieren wir docham besten über das Steuer- und Transfersystem.

(Elke Ferner [SPD]: Aha! Welche Steuer wol-len Sie denn erhöhen? – Iris Gleicke [SPD]:Die FDP, die Steuererhöhungspartei!)

Denn da wird jeder nach seiner Leistungsfähigkeit undseinen Einkommensarten herangezogen. Das ist besserals das, was Sie mit der Bürgerversicherung machenwollen. Denn den Solidarausgleich stoppen Sie letztlichbei der Beitragsbemessungsgrenze.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU])

Das heißt, wenn ein Solidarausgleich unter Einkom-mensarten stattfinden muss, dann wäre er über dasSteuer- und Transfersystem am zielgenauesten. Dann

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Daniel Bahr (Münster)

werden die Einkommensstarken zugunsten derer, dieeinkommensschwach sind, herangezogen.

(Beifall bei der FDP)

Das zweite Problem betrifft den Solidarausgleich. Esheißt in Ihrem Antrag:

Gut Verdienende, deren Erwerbseinkommen überder Versicherungspflichtgrenze liegt, können sichfür die private Krankenversicherung … entschei-den, die keinen Solidarausgleich kennt.

Das muss man schon differenzierter sehen. Denn auchdie private Krankenversicherung kennt natürlich, wiejede Versicherung, ein Solidarprinzip, nämlich das Soli-darprinzip zwischen Gesunden und Kranken, zwischenJungen und Alten. Hier kommen wir genau zum Pro-blem. Die Bürgerversicherung kennt, weil sie auf dieUmlage aufbaut, eben keine Solidarität. Die Bürgerver-sicherung ist ein zutiefst unsolidarisches System, wennwir uns einmal die mangelnde Solidarität zwischen Jun-gen und Alten vor Augen halten. Die Bürgerversiche-rung gibt die Lasten an die kommende Generation wei-ter. Man kann alle Kritik an dem heutigen PKV-Systemnennen – dass Altersrückstellungen nicht mitgenommenwerden können und andere Kritikpunkte –,

(Elke Ferner [SPD]: Reichen denn die Rück-stellungen aus?)

aber ein Prinzip wahrt die private Krankenversicherung,Frau Ferner: Sie betreibt Vorsorge für kommende Gene-rationen.

(Iris Gleicke [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)

Sie bürdet die Last eben nicht kommenden Generationenauf und verfährt nicht nach dem Prinzip: Mir ist egal,was nach mir geschieht. Sie betreibt vielmehr Vorsorgefür kommende Generationen, indem Altersrückstellun-gen aufgebaut werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Von der CDU/CSU war ich positiv überrascht, da siebei den Reden von Herrn Lauterbach und Frau Benderüberhaupt nicht geklatscht hat. Als Frau Bender gespro-chen hat, habe ich das erwartet. Aber bei der Rede vonHerrn Lauterbach, der ja der Partei Ihres Koalitionspart-ners angehört, hätte ich schon damit gerechnet, dass Siedas eine oder andere Mal klatschen. Man kann sich also,was die CDU/CSU betrifft, noch Hoffnung machen.

Gehen Sie nicht an die Altersrückstellungen der pri-vaten Krankenversicherungen heran! Sie dürfen einfunktionierendes, stabiles System nicht zugunsten einesSystems schröpfen, das sich nicht trägt und selbst drin-gend reformbedürftig ist. Wir brauchen weniger Umla-gefinanzierung und mehr Kapitaldeckung.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Koschorrek,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegen! Der Antrag, den die Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen heute einbringt, macht wie-der einmal deutlich: Sie sind wirklich nicht mehr auf derHöhe der Zeit, sondern holen Ihre alten Konzepte her-vor, die schon während Ihrer Regierungszeit nicht durch-setzbar waren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

So brachten Sie Ende Dezember letzten Jahres den Ent-wurf Ihres Antidiskriminierungsgesetzes textgleich inden Bundestag ein.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wo ist denn Ihr Vorschlag dazu?)

Heute machen Sie dasselbe mit Ihrem Antrag zur Ein-führung einer Bürgerversicherung.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Haben Sie unseren Antrag eigentlichgelesen?)

– Ja. – Welches Konzept und welche Idee, die Sie in derrot-grünen Regierung nicht gegen die Mehrheit der SPDdurchsetzen konnten, holen Sie eigentlich als Nächstesaus der Schublade?

Ihr Antrag zur Reform der Finanzierung der Kranken-versicherung, den Sie heute vorlegen, enthält weder kon-krete noch brauchbare Vorschläge zur Lösung unsererProbleme.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Offensichtlich soll er vor allem eine Wirkung haben:Ihre Fraktion soll hier im Bundestag wieder einmal einLebenszeichen von sich geben.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ja, ge-nau!)

Und tatsächlich: Indem Sie diesen Antrag zur Ge-sundheitsreform zum jetzigen Zeitpunkt einbringen, ge-ben Sie der Öffentlichkeit zu verstehen, dass die aktuel-len Entwicklungen an den Politikern von Bündnis 90/Die Grünen relativ spurlos vorbeigegangen sind. Statt ei-nen konstruktiven Beitrag zur gegenwärtigen Diskussionzu leisten, packen Sie unbeirrt Ihr altes Konzept einer sogenannten Bürgerversicherung wieder aus. In IhremAntrag schreiben Sie, es seien „zumindest erste Reform-schritte für eine verlässliche und nachhaltige Finanzie-rung der GKV erforderlich“. Warum diese Bescheiden-heit? Warum nur „erste Reformschritte“? Hier sind wirin der Zwischenzeit deutlich weiter.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oh, oh! Dann legen Sie doch auch maletwas vor!)

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Dr. Rolf Koschorrek

An anderer Stelle heißt es in Ihrem Antrag: „Gräbeninnerhalb des Regierungslagers dürfen aber nicht zumReformstillstand führen.“ Ich kann Ihnen versichern,dass diese Sorge unbegründet ist. Die unionsgeführteBundesregierung beendet gerade den von Ihnen zu ver-antwortenden Reformstillstand in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU – Birgitt Bender[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Im Ar-beitskreis!)

Die Bundesregierung realisiert ein neues Gesund-heitssystem. Sie schafft ein grundlegend neues,zukunftssicheres System der gesetzlichen Kranken-versicherung, das eine qualitativ hochwertige Gesund-heitsversorgung für alle, unabhängig von ihrem Alterund Einkommen, gewährleistet. Es wird ein solide, ge-recht und nachhaltig finanziertes Gesundheitssystemsein. Wenn man bedenkt, wie lange Sie schon mit IhrerIdee, zur Finanzierung unseres Gesundheitswesens eineBürgerversicherung einzuführen, schwanger gehen, er-staunt es doch sehr, dass Sie in Ihrem Antrag so unkon-kret bleiben. Er ist weder schlüssig noch ausgegoren.

In Ihrem Antrag stimmen Sie ein Loblied auf dieGKV an: Sie sei „ein im Grundsatz leistungsfähiges undin der Bevölkerung breit akzeptiertes Sozialsystem“.Des Weiteren schreiben Sie: „Insbesondere der einkom-mensabhängige Solidarausgleich trifft in der Bevölke-rung auf hohe Zustimmung.“

(Zuruf von der LINKEN: Das ist auch so!)

Wenige Zeilen später stellen Sie aber fest, dass es „mas-sive Gerechtigkeitsdefizite bei den Prinzipien der Bei-tragserhebung“ gibt.

An erster Stelle stehen dabei für Sie die privatenKrankenversicherungen und ihre Versicherten. Ihnenwerfen Sie vor, sich der Solidarität zu entziehen und soder GKV und den GKV-Versicherten zu schaden.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das stimmt ja auch!)

In diesem Zusammenhang stellen Sie zwei populisti-sche, aber eben auch falsche Behauptungen in denRaum: Erstens sagen Sie, die PKV kenne keinen Solidar-ausgleich. Zweitens führen Sie aus, ausgerechnet dieeinkommensstärksten und im Durchschnitt auch gesün-desten 10 Prozent der Bevölkerung beteiligten sich nichtan der Finanzierung der GKV.

Das muss endlich einmal richtig gestellt werden.

Zum Ersten: Die privaten Krankenversicherungenkennen, wie alle anderen Versicherungen auch, sehrwohl ein Prinzip der Solidarität; in diesem Fall geht esum die Solidarität der gesunden mit den kranken Privat-versicherten.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die werden doch gar nicht aufgenom-men!)

Für junge Privatversicherte werden Altersrückstellungenangelegt, um Vorsorge für höhere Krankheitskosten imAlter zu treffen. Somit sind die privaten Krankenversi-

cherungen äußerst beispielhaft. Sie können sogar alsVorbild dienen, weil sie dadurch, dass sie schon heuteAltersrückstellungen bilden, die Gerechtigkeit zwischenden Generationen garantieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und was ist mit dem Wettbewerb?)

Zum Zweiten: Richtig ist, dass die Versicherten derprivaten Krankenversicherungen vielfach ein höheresEinkommen haben als die der GKV. Richtig ist aberauch, dass ein erheblicher Teil der 10 Prozent privat Ver-sicherten in Deutschland ganz normale Beamte sind, undzwar nicht Beamte der hohen und höchsten Gehaltsgrup-pen, sondern vor allem Polizisten und Lehrer; sie gehö-ren bekanntlich nicht zu den Beziehern der höchstenEinkommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Selbstständigen sind eine weitere große Gruppeunter den privat Versicherten. Auch die Einbeziehungvon Selbstständigen wäre für die GKV nicht besondersattraktiv; denn Selbstständige werden in der GKV oftnur mit Mindestbeiträgen veranlagt. Für die gesetzlichenKrankenversicherungen ist es offensichtlich schon jetztzu aufwendig, die genauen Einkommen von Selbststän-digen zu ermitteln. Das wird dem System des Risiko-strukturausgleichs überantwortet; darüber kann mandurchaus auch diskutieren.

Würden die privaten Krankenversicherungen in ihrerheutigen Form zerschlagen, so hätten die gesetzlich Ver-sicherten davon keinerlei Vorteil. Die Einbeziehung derprivat Versicherten in die GKV bringt der GKV über-haupt keine Entlastung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Als eine weitere Gerechtigkeitslücke nennen Sie diebeitragsfreie Mitversicherung von Ehegatten in derGKV. Sie bezeichnen sie als einen sozialrechtlichenAnachronismus und fordern, dass nicht erwerbstätigeEhegatten auch einen Beitrag in die GKV einzahlen sol-len

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wenn sie nicht pflegen oder Kinder er-ziehen!)

– Soweit sie nicht Kinder erziehen oder Pflegeleistungenin der Familie erbringen.

Eine Aussage, wie hoch ihr Beitrag sein soll und wieteuer die erforderlichen bürokratischen Kontrollmecha-nismen sein sollen, finde ich in Ihrem Antrag nicht.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das kann ich Ihnen erklären!)

Erfreulicherweise haben Sie das grundlegende Pro-blem der GKV zutreffend erkannt: Der stetige Anstieg desBeitrags zur GKV hat wesentlich dazu beigetragen, dieArbeitskosten zu erhöhen. Sie haben auch richtig erkannt,dass die Einnahmen der GKV zu konjunkturabhängig sind.

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Dr. Rolf Koschorrek

Sie wollen die erkannten Mängel, insbesondere die aus-gemachten Gerechtigkeitslücken, beheben durch die Auf-hebung der Versicherungspflichtgrenze, die Ausweitungdes Versichertenkreises auf alle Bürgerinnen und Bürger,die Ausweitung der Beitragspflicht auf alle Einkommens-arten, also auch auf Mieten, Zinsen und sonstige Kapi-taleinkünfte. Doch wie hoch die Krankenkassenbeiträgedarauf sein sollen und wie sie erhoben werden sollen, sa-gen Sie nicht. Das hätten Sie wenigstens einmal durch-rechnen können!

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Haben wir!)

– In Ihrem Antrag steht nichts dazu.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Schauen Sie mal auf unsere Home-page! Gehen Sie ins Internet!)

– Wir diskutieren nicht, was auf Ihrer Homepage steht,sondern Ihren Antrag.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bündnis 90 fordert zwar die Entkopplung der Kran-kenkosten von den Lohnkosten,

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Machen sie aber nicht!)

mit den im Antrag geforderten Schritten findet geradedies aber nicht statt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vielmehr würden die Krankenkassen weiter an jederLohn- und Rentenerhöhung teilhaben; der Unterschiedzwischen Brutto- und Nettoeinkommen würde sich wei-terhin stetig vergrößern. Ein gigantischer Verwaltungs-und Kontrollaufwand wäre nötig, um alle Einkünfte lü-ckenlos zu erfassen. Die Einbeziehung aller Bürger indie gesetzliche Krankenversicherung wäre zudem– das wissen Sie – aus verfassungsrechtlichen Gründenkaum zu realisieren; denn die privaten Versicherungenund die Ansprüche der privat Versicherten genießendurchaus Bestandsschutz.

Die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zielen alle nurdarauf ab, von einer größtmöglichen Zahl von Bürgernzusätzliches Geld für die Krankenkassen einzutreiben.Es wird kein Gedanke und kein Wort darauf verwendet,dass den so erzielten höheren Einnahmen auch entspre-chend höhere Ausgaben gegenüberstehen. Es wird keinGedanke darauf verwendet, dass dies sogar zu steigen-den Beiträgen führen kann: wenn Ältere und Kranke, diebislang privat versichert waren, von dem Recht zurRückkehr zur GKV Gebrauch machen würden.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die müssen nur ihre Altersrückstellun-gen mitbringen!)

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen lässt weiterewesentliche Fragen offen, die für ein funktionierendesGesundheitssystem zweifellos wichtig sind: So wird

zum Beispiel ganz unvermittelt behauptet, durch die vor-geschlagenen Maßnahmen würde ein wesentlicher Bei-trag zur wettbewerblichen Weiterentwicklung des Kran-kenkassensystems geleistet.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da ist keinWettbewerb! – Weiterer Zuruf von der FDP:Da lachen wir uns ja tot!)

Wer da mit wem in Wettbewerb tritt und wie das funktio-nieren soll, bleibt allerdings völlig offen; Sie verlierendarüber kein Wort. Unerwähnt bleibt auch, ob und wiedie bislang paritätische Finanzierung – durch Arbeitge-ber und Arbeitnehmer – fortgeführt werden soll.

Ihr Antrag bleibt ein Fragment: Wesentliche Aspektebleiben unberücksichtigt, zentrale Aussagen fehlen. Sieverfolgen aus meiner Sicht nur ein einziges Ziel: denBürgern noch mehr Geld für die GKV aus der Tasche zuziehen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da kursiertenin der letzten Zeit noch weitere solche Vor-schläge!)

Das reicht aber bei weitem nicht, um die Krankenkassenfinanziell auf eine solide Grundlage zu stellen. Dazubrauchen wir im Gesundheitssystem nicht immer mehrGeld, wir brauchen vor allem mehr Effizienz und weni-ger Bürokratie als heute.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen mehr Wettbewerb unter den Kassen, aberauch unter den Leistungserbringern. CDU und CSU wol-len ein neues, zukunftsfähiges System der gesetzlichenKrankenversicherungen. Um zusammen mit unseremKoalitionspartner eine von der großen Mehrheit unsererKoalition getragene Reform zu verwirklichen, entwi-ckeln wir, ausgehend von unseren jeweiligen eigenenKonzepten, ein neues, gemeinsames, tragfähiges Kon-zept.

Folgende Ziele stehen für uns dabei im Zentrum: einemöglichst weitgehende Abkopplung der Gesundheits-kosten von den Lohnkosten und zugleich die Stabilisie-rung der Einnahmen im Gesundheitsbereich sowie einplurales System mit Kassenvielfalt, freier Arztwahl undTherapiefreiheit. Für uns steht fest, dass es auch künftigeinen sozialen Ausgleich zwischen gesunden und kran-ken Menschen, zwischen den Beziehern höherer undniedrigerer Einkommen sowie zwischen Alleinstehen-den und Familien geben muss.

Wir wollen eine Gesundheitsfinanzierung, durch diedie großen Chancen des Gesundheitssektors durch Wett-bewerb, Transparenz und Abkopplung von den Lohn-kosten genutzt werden. Hier sind bereits heute4,2 Millionen Beschäftigte tätig und es gibt zweifellosnoch ein beachtliches Wachstumspotenzial im Hinblickauf neue und zusätzliche Arbeitsplätze.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Frank Spieth, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Frank Spieth (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt kommt die Gesundheitsteuer!)

– Nein, Herr Bahr, seien Sie nicht so aufgeregt. Mankann Ihre Vorstellungen ja kommentieren, das hatte ichjetzt aber nicht vor. Ich möchte mich hier heute mit demAntrag von Bündnis 90/Die Grünen auseinander setzen.Seien Sie versichert: Anderes tun wir an anderer Stelle.

Dennoch möchte ich vorab eine Bemerkung zu derheutigen Pressekonferenz von GesundheitsministerinSchmidt und Unionsfraktionsvize Herrn Zöller in diesemHause machen. Dort wurde ziemlich klar zum Ausdruckgebracht, dass mit der beabsichtigten Gesundheitsreformerneut eines mit Sicherheit geschieht: Den gesetzlichKrankenversicherten soll wieder ins Portemonnaie ge-griffen werden. Der Patient wird am Ende dieser Veran-staltung ganz offenkundig mehr zahlen und weniger ausder Krankenversicherung für das erhalten, was er mehrzahlen muss.

(Elke Ferner [SPD]: Wir können ja mal eine Wette abschließen!)

– Wir werden eine Wette abschließen.

Alle in den letzten Wochen in den Medien lanciertenReformvorstellungen haben im Kern immer wieder einesgemeinsam: Die Arbeitgeber werden entlastet. Das giltfür die Wahlmöglichkeiten, die nichts anderes als Teil-kaskotarife sein werden, genauso wie für die Steuerfi-nanzierung der Versicherung von bisher beitragsfrei mit-versicherten Kindern.

Ich habe in diesem Hohen Hause in den letzten Wo-chen – auch bei der Auseinandersetzung über den Haus-halt der Bundesgesundheitsministerin in der vergange-nen Woche – mehrfach darauf hingewiesen – FrauBender sagte dies bereits zu Recht –, dass wir ein massi-ves Finanzproblem in der gesetzlichen Krankenversiche-rung haben und dass alle Fachleute für das kommendeJahr von einem Defizit von circa 10 Milliarden Euroausgehen. Die Probleme werden mit Sicherheit nochdeutlich größer. Deshalb müssen Reformvorschläge aufden Tisch, durch die eine solidarische und soziale Kran-kenversicherung mit einem umfassenden Sachleistungs-katalog gewährleistet wird.

Mit ihrem Antrag zur Bürgerversicherung geht dieFraktion von Bündnis 90/Die Grünen deshalb in wichti-gen Teilen in die richtige Richtung. Ich will aber auchdazu sagen – Herr Kollege Lauterbach hat zu Recht da-rauf hingewiesen –: Einige Aspekte Ihres Antrags sinddurchaus kritisch zu sehen und daher nachzuarbeiten.

Es mag ja sein, dass es ein sozialrechtlicher Anachro-nismus ist, die beitragsfreie Ehegattenversicherungerhalten zu wollen. Frau Bender, wenn Sie diese aller-dings abschaffen wollen, ohne Alternativvorschläge da-

für zu machen, wie die vorwiegend davon betroffenenMillionen Ehefrauen ohne Arbeit und ohne eigenes Ein-kommen zukünftig abgesichert werden sollen, hat das imGrunde genommen die Wirkung, dass diese Menschenins soziale Abseits gedrängt werden. Die Ausgrenzungaus der beitragsfreien Mitversicherung wird dazu führen,dass von den Menschen, die jetzt schon nicht wissen,wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt gewährleistensollen, ein zusätzlicher Krankenversicherungsbeitrag zuerbringen ist. Ich meine, das müssen wir offen miteinan-der diskutieren. Das ist keine Emanzipation, das ist so-ziale Ausgrenzung.

(Beifall bei der LINKEN)

Gleiches gilt für die nach meiner Auffassung unsäg-liche Debatte über die Lohnnebenkosten. Wer die Ar-beitgeberbeiträge weiter senken will, reduziert – das istdie Schlussfolgerung – Leistungen oder verlangt von denVersicherten höhere Beiträge.

(Elke Ferner [SPD]: Wer hat das denn gefor-dert?)

Dies ist doch jahrelange Praxis. Ich kann Ihnen sagen:Dieser Vorschlag wird auf unseren entschiedenen Wider-stand stoßen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sind wie die Grünen – das haben sie in ihrem An-trag geschrieben – für die Aufhebung der Versicherungs-pflichtgrenze und die Ausweitung des Versichertenkrei-ses. Wir wollen, dass alle hier lebenden Menschen in dieKrankenversicherung einbezogen werden. Ich meine,dass in Ihrem Antrag noch eine Menge Fragen offensind. Wir wollen Sie bei diesem Antrag unterstützen, umeine vernünftige, solidarische und soziale Krankenversi-cherung zu realisieren.

(Dr. Rolf Koschorrek [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Lassen Sie uns deshalb Ihren Antrag um die notwendi-gen sozialen Aspekte erweitern! Dann werden Sie unsbei dieser Reform an Ihrer Seite haben.

(Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr[Münster] [FDP]: Das ist Sozialismus, HerrSpieth! – Zuruf von der SPD: Das ist ein ver-giftetes Geschenk!)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/950 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-regelung der Besteuerung von Energieerzeug-nissen und zur Änderung des Stromsteuerge-setzes

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Vizepräsident Wolfgang Thierse

– Drucksache 16/1172 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.

Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

war gerade sicherlich verwirrend, dass ich von der rech-ten Seite dieses Hauses kam. Aber diese Koalition hat esso an sich, dass man völlig unbefangen miteinanderkommuniziert. Das ist so schlecht nicht.

(Iris Gleicke [SPD]: Wir wissen aber, dass du bei der Staatssekretärin warst!)

– Nein, aber ich stand dort gerade.

Es geht heute um die erste Lesung eines Gesetzent-wurfes mit zwei wesentlichen Inhalten. Der erste Punktist die Umsetzung der Energiesteuerrichtlinie der EU innationales Recht. Dabei geht es um eine Harmonisierungvon Steuersätzen auf Energieprodukte innerhalb der ge-samten EU. Für die Bürger ändert sich bei den meistenüblichen Steuersätzen nichts, weil Deutschland bei denSätzen für die Mineralölsteuer und andere Steuern schonimmer in einem vernünftigen Korridor gelegen hat.

Einige neue Gesichtspunkte sind wichtig. Eine grund-sätzliche Entscheidung ist, dass Primärenergie, die zumBeispiel für die Stromerzeugung eingesetzt wird,grundsätzlich steuerfrei gestellt wird. Die Alternativewäre gewesen, alle Energieformen einschließlich derKohle zu besteuern. Das wiederum würde auf die Strom-kunden abgewälzt und würde die Industrie belasten. Da-von hat die Bundesregierung Abstand genommen. Ichdenke, die Koalition unterstützt das ausdrücklich.

Es gibt einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt, derin der Vergangenheit immer für Streit gesorgt und einGefühl von Ungerechtigkeit bei den Betroffenen ausge-löst hat, nämlich: Wie gehen wir mit Prozessen um, beidenen ein Stoff mithilfe des Einsatzes von Energie in ei-nen anderen Zustand versetzt wird? Solche Umwand-lungsprozesse werden künftig energiesteuerfrei gestellt.Das ist eine auch industriepolitisch wichtige Weichen-stellung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU])

Bei einigen Problembereichen müssen wir noch mit-einander reden und im weiteren Verfahren diskutieren.Aufgrund der Vorgaben der EU ist Kohle grundsätzlichzu besteuern. Weil sie überwiegend in der Krafterzeu-gung in industriellen Prozessen eingesetzt wird, kann

das weitgehend unberücksichtigt bleiben. Übrig bleibenkleinindustrielle Prozesse und der Hausbrand. Noch im-mer werden etwa 540 000 Haushalte in Deutschland mitKohlefeuerungsanlagen beheizt, die nach diesem Vor-schlag geringfügig besteuert werden; maximal sind dasetwa 11 Euro auf 50 Quadratmeter Wohnfläche. Trotz-dem muss man sich das noch einmal ganz genau anse-hen.

(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Das werden wir auch einvernehmlich tun.

Es gibt in diesem Gesetz eine alte Frage, die alle, dieschon länger dabei sind, öfter beschäftigt hat: Wieso be-steuern wir Erdgas als Kraftstoff und befreien es bis zumJahr 2020 von der Steuer – das ist für die meisten vonuns außerhalb der politischen Reichweite –, behandelnFlüssiggas aber völlig anders? Es gibt sicherlich Signalevon den Fachleuten aus der Koalition, dass wir – andersals es derzeit im Gesetzentwurf vorgesehen ist – in die-sem Punkt eine Gleichbehandlung herstellen werden.Das haben wir verabredet und ich denke, dass der Bran-che dieses Signal gegeben werden muss.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Der zweite wichtige Punkt betrifft den Einstieg in dieBesteuerung von Biokraftstoffen. Als wir die Biokraft-stoffe steuerfrei gestellt haben, haben wir einen Beihilfe-tatbestand geschaffen. Wir sind gegenüber der EUverpflichtet, regelmäßig eine Überprüfung auf Überför-derung vorzunehmen. Wir können Biokraftstoffe nichtbeliebig subventionieren, sondern allenfalls die Kosten-nachteile bei ihrer Herstellung oder Nutzung durch einesteuerliche Regelung ausgleichen. Wir dürfen nicht dieEinkommen der Biokraftstoffhersteller oder des -ver-triebs individuell subventionieren; wir können nur für ei-nen Preisabstand sorgen, der die Wettbewerbsfähigkeitgewährleistet.

Dazu liegt ein Bericht des Finanzministers für dieJahre 2004 und 2005 vor, in dem eindeutig festgestelltwird, dass eine Überförderung gegeben ist. Die vorge-schlagenen Steuersätze von 10 Cent je Liter für reinenBiodiesel, 15 Cent für beigemischten Biodiesel und15 Cent für reines Pflanzenöl sind aus einer Berechnungabgeleitet, die eine Überförderung ergeben hat. Das wirdohne Frage noch zu Diskussionen führen. Ich halte dieAbleitung aber für plausibel. Beweise, dass es sich an-ders verhält, sind nicht erbracht worden.

Dass die Nutzer und Vertreiber mit uns Politikernüber jeden Cent verhandeln, ist völlig verständlich, weiles dabei um ihr Einkommen geht. Ich wäre enttäuscht,wenn sie es nicht versuchen würden. Wir müssen nurdarauf achten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Pro-dukte gewährleistet ist, und von der Subventionierungeinzelner Einkommen Abstand halten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Viel spannender als die Frage der Steuersätze ist – dashaben sowohl die SPD als auch die CDU/CSU erklärt –,wie wir die Koalitionsvereinbarung umsetzen können,

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Reinhard Schultz (Everswinkel)

die eine Abkehr von der steuerlichen Förderung vonBiokraftstoffen vorsieht. Diese soll durch ein Ordnungs-instrument – nämlich das Beimischungsgebot – ersetztwerden. „Beimischungsgebot“ ist ein untechnischer Be-griff. Man kann zwar die Hersteller zwingen, dem Dieseloder Ottokraftstoff Biokraftstoff beizumischen, daswürde aber eine Absage an reine Biokraftstoffe bedeu-ten. Da wir das nicht wollen, schwebt uns eher die Ein-führung einer unternehmensbezogenen Quote für dieMineralölunternehmen vor. Das heißt, im Verhältnis zumMineralölumsatz müssen sie einen bestimmten – an-spruchsvollen – Prozentsatz an Biokraftstoffen in denVerkehr bringen, ob nun als Beimischung oder in Rein-stoffform.

In diesem Zusammenhang besteht die Sorge, dass dieganze Branche, die sich aufgrund der alten steuerlichenRegelungen darauf verlassen hat, dass sie zumindest ineiner Übergangssituation bis zum Jahr 2009 steuerlichgefördert wird, sozusagen über die Kante kippen könnte.Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung sicher-stellen, dass ein Modell gewählt wird, das ohne steuer-liche Förderung auskommt, aber mit dem eine Als-ob-Situation geschaffen wird. Das heißt, die Hersteller vonBiokraftstoffen und die gesamte daran hängende Pro-duktionskette würden einen Mindestpreis in der Höhe er-zielen, als ob die Steuervergünstigung bis 2009 noch ge-geben wäre.

Das ist ein sehr faires Angebot, denke ich. Aber damitist auch die Verpflichtung des Gesetzgebers, Vertrauens-schutz zu gewährleisten, zunächst einmal erfüllt.

Wie kann es danach weitergehen?, fragt sich dieBranche; denn bis 2009 ist es nicht mehr lange hin. Wirmüssen einen großen Biokraftstoffmarkt schaffen. Wirwollen, dass die Quoten in diesem Bereich höher sind alsdie der Beimischungen, damit auch ein großes Markt-segment für reine Kraftstoffe erhalten bleibt. Das kanngegebenenfalls auch durch Aufspaltung der Quote ineine für Dieselkraftstoffersatz und eine für Ottokraft-stoffersatz erfolgen, wenn sich das als notwendig erwei-sen sollte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen keine nationale Kraftstoffstrategie, die so-zusagen von der Apotheke lebt. Die Zeiten, als der alteBenz sein erstes Auto an der Apotheke betankt hat, sindvorbei. Mit einem einzigen Ölkännchen moderne ökolo-gische Mobilität erzeugen zu wollen, ist ebenfalls einaberwitziger Gedanke. Wir wollen industrielle Prozessemit industrieller Logistik. Aber wir wollen die mittel-ständischen Hersteller mitnehmen und die Wertschöp-fung so weit wie möglich im Lande lassen. Das beziehtsich insbesondere auf die landwirtschaftlichen Herstel-ler. Ich bin sicher, dass wir im Gesetzgebungsverfahreneine Anschlusslösung finden werden, die einen großenMarkt eröffnet und gleichzeitig die Interessen der mittel-ständischen Unternehmer an einer Wertschöpfung im ei-genen Land genauso berücksichtigt wie die Interessender Mineralölindustrie, die ebenfalls zuverlässige Rah-menbedingungen erwartet.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich bin überzeugt davon, dass der von uns eingeleiteteProzess im Hinblick auf eine moderne und ökologischeVerkehrs- und Mobilitätspolitik gar nicht hoch genugeingeschätzt werden kann. Sowohl im Hinblick auf dievon der EU vorgegebene Biomasse- und Biokaft-stoffstrategie als auch im Hinblick auf die internationalgebotene CO2-Minderung müssen wir neben den mine-ralölhaltigen Kraftstoffen die Chancen nutzen, die unsdie Biokraftstoffe der ersten und der zweiten Generationbieten. Wir müssen heute das Tor zu einer vernünftigenZukunft sowohl für die Umwelt als auch für unsere Wirt-schaft aufstoßen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Hermann Otto Solms,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist schon interessant. Die schwarz-rote Koalition, die erstvor wenigen Tagen einen groß inszenierten Energiegip-fel abgehalten hat, konnte sich bislang nicht auf eine ge-meinsame energiepolitische Strategie einigen und hatviele Arbeitsgruppen eingesetzt. Es liegt also noch garkein klarer Plan vor. Aber bevor Sie wissen, was Sie tunwollen, langen Sie als Steuergesetzgeber schon einmalzu. Es wird behauptet, dies erfordere die Umsetzung dereuropäischen Energiesteuerrichtlinie. Tatsächlich ist einesolche Besteuerung nicht erforderlich. Auch der 1. Au-gust 2006 ist als Termin nicht vorgegeben. Das alles istnur ein Vorwand, um so schnell wie möglich Kasse zumachen.

(Beifall bei der FDP)

Eine Politik ohne Strategie macht aber keinen Sinn.Deswegen verwundert es mich nicht, dass der KollegeSchultz gesagt hat, ihm „schwebe“ etwas vor. Sie wissenoffensichtlich noch nicht genau, was Sie machen wollen,weil Sie natürlich die Empörung der Betroffenen zurKenntnis genommen haben. Tatsächlich ist es ein Ver-trauensbruch von Ihrer Seite, meine Damen und Herrenvon der SPD; denn Sie haben zu Zeiten der rot-grünenRegierung zugesagt, dass die Biokraftstoffe bis 2009unversteuert bleiben.

(Ulrich Kelber [SPD]: Warten Sie es ab!)

Dieser Vertrauensbruch hat natürlich Auswirkungen.Als die Landwirte sich an ihre letzte Winterbestellunggemacht haben – diese Regierung war damals noch garnicht zusammengetreten –, wussten sie ja nicht, dass dieErnte hinterher besteuert werden soll. Diejenigen, die inRaps- und Ölmühlen investiert haben, sind natürlich da-von ausgegangen, dass sie bis 2009 einen relativ siche-ren Preisvorteil des Biodiesels haben würden.

(Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])

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Dr. Hermann Otto Solms

– Sie als Partei haben das zugesagt. Sie missbrauchennun das Vertrauen der Betroffenen.

(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, wo denn?)

Sie ändern Ihre zugesagte Strategie, indem Sie eine Be-steuerung auf den Weg bringen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –Ulrich Kelber [SPD]: Warten Sie doch mal denendgültigen Beschluss ab! Das sollten Sie alsParlamentarier schon tun!)

Die von Ihnen geplanten Steuersätze sind zu hoch.Das sagen alle Experten. Der Preisvorteil von Rapsölund anderen Ölen, der notwendig ist, um sie in Verkehrzu bringen – sie werden in erster Linie von Transport-unternehmen genutzt –, muss aber bestehen bleiben,weil die Infrastruktur dafür nicht so ausgebaut ist wie beiherkömmlichen Mineralölen. Die Biokraftstoffbranchelebt nun in der Angst, dass sie einen großen Rückschlagerleiden wird.

(Beifall bei der FDP)

Schließlich führt die unterschiedliche Besteuerung jenach Verwendung zu einem erheblichen Kontrollauf-wand. Land- und Forstwirte sollen nach Ihren Plänen un-versteuerten Biodiesel einsetzen können, während dasSpeditionsgewerbe nur versteuerten Biodiesel verwen-den darf. Da die Gefahr des Missbrauchs besteht, müs-sen Sie für entsprechende Kontrollen sorgen.

(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Dasmachen wir doch jetzt schon! Beim Agrar-diesel!)

Sie müssen also eine neue Bürokratie aufbauen, bevorSie ein durchgängiges Konzept entwickelt haben. Dasmacht doch keinen Sinn.

Nehmen Sie das Gesetz zurück! Es ist nicht zu Endegedacht.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es passt insbesondere nicht mit dem geplanten Bei-mischungszwang zusammen, der ein halbes Jahr späterin Kraft gesetzt werden soll. Machen Sie stattdessen einGesamtkonzept, das in sich stimmig ist, das das Ver-trauen der Betroffenen – der Bürger, der Landwirte, derForstwirte, aber auch der Speditionsunternehmen – er-hält und aufbaut und das – was das Entscheidende ist –einen neuen Markt in Deutschland schafft, durch den dieMenschen auf dem Lande wieder die Arbeits- und Pro-duktionsmöglichkeiten erhalten, die sie nach und nachverloren haben. Das ist eine große Chance. Es machtwirklich keinen Sinn, diese Chance um einen Silberlingzu vertun. Diese voreilige Besteuerung zum 1. Augustdieses Jahres ist falsch. Ziehen Sie den Gesetzentwurfzurück!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Norbert Schindler,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Reinhard Schultz [Everswin-kel] [SPD]: Das Vertragsverletzungsverfahrennicht vergessen! – Abg. Norbert Schindler[CDU/CSU] trinkt einen Schluck Wasser –Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es ist nur Was-ser!)

Norbert Schindler (CDU/CSU): Ich hätte jetzt lieber einen gescheiten Rotwein getrun-

ken; aber das ist in diesem Parlament nicht erlaubt.

Vizepräsident Wolfgang Thierse: So weit sind wir noch nicht.

Norbert Schindler (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Worum geht es heuteüberhaupt? Draußen in den Regionen gibt es bewegteDiskussionen über die Zukunft der Besteuerung vonBiokraftstoffen. Es gibt da große Empfindlichkeiten; derVertrauensschutz ist, wie in den Diskussionen angespro-chen wurde, heftig infrage gestellt.

Es geht aber nicht nur um diesen wichtigen Teilbe-reich, über den vor allem in den ländlichen Regionendiskutiert wird. Vielmehr geht es um die Umstellung derBesteuerung von Strom, Gas, Steinkohle und Braun-kohle sowie Koks und es geht um die Einführung einerBesteuerung neuer Energieträger, die unabhängig vonder Stromerzeugung als Ersatz fossiler Energieträgereingesetzt werden.

Wir haben 2003 im Bundestag parteiübergreifend undeinstimmig eine Steuerbefreiung alternativer Energie-träger beschlossen. Sie hat einen sehr starken Sog er-zeugt. Das brachte uns in der EU den Vorwurf ein, derdeutsche Gesetzgeber habe bewusst durch Überkompen-sation Vorteile geschaffen. Jetzt befürchtet der Bundes-finanzminister mit Recht, dass das Ausweichen der Spe-diteure, der Omnibushersteller, der Städte und derübrigen Wirtschaft auf alternative Kraftstoffe zulastender Staatseinnahmen geht und ein Loch von 1,4 bis1,7 Milliarden Euro aufreißt. Das ist der Hintergrund.Diese Koalition ist angetreten, die defizitäre Lage desBundeshaushaltes in der nächsten Zeit in Ordnung zubringen. Steuerausfälle unberechenbarer Art dürfen danicht passieren.

In diesem ersten Gesetzgebungsverfahren müssen wirbesondere Ziele verfolgen. Herr Solms, Sie sagen, mankönne mit der Umsetzung der EG-Richtlinie noch war-ten. Uns droht unter Umständen ein Verfahren. Das wis-sen auch Sie. Es ist schon interessant, wie die FDP heuteredet. Ich denke an die Diskussion über die Zucker-marktordnung vor einem Jahr, als es hieß, der Welt-marktpreis müsse zum Maßstab genommen werden. DerAnsatz der FDP in der Frage der Biokraftstoffbesteue-rung in Bezug auf diesen Gesetzentwurf entspricht nicht

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Norbert Schindler

ihrem Credo. Das muss ich in Erinnerung rufen, obwohlich in der Sache keinen Streit anfangen will.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das In-Kraft-Treten der EG-Richtlinie am 31. Okto-ber 2003 hat dieses Gesetzgebungsverfahren erforderlichgemacht. Mittlerweile sind wir spät dran. Deswegenkönnen wir leider Gottes nicht mehr warten. Es ist aberunser erklärtes Ziel – das darf ich für beide Koalitions-fraktionen sagen –, über das Gesetz über einen Beimi-schungszwang, das zum 1. Januar 2007 wirksam werdensoll, und über die jetzige Regelung zur Behebung derÜberkompensation in der Sache gemeinsam zu diskutie-ren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es kann nicht sein – das verstünde draußen keine Haus-frau –, dass wir heute die eine Diskussion führen und imAugust die andere anfangen. Es geht auch um Planungs-sicherheit für Investoren. Wir verstehen das als einen ge-meinsamen Auftrag und wir werden ihn erledigen. Wirwerden dafür sorgen, dass die rechte Hand weiß, was dielinke Hand tut, und umgekehrt.

(Beifall des Abg. Reinhard Schultz [Everswin-kel] [SPD] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]:Das ist gut, Norbert!)

Der Finanzminister hat zu Recht festgestellt, dass eseine Überförderung gibt. Mir als praktizierendem Land-wirt und Mitglied des Finanzausschusses tut es schon einbisschen weh, anerkennen zu müssen: Bei den Spediteu-ren hat sich in der letzten Zeit ein Sog in Bezug auf un-sere Rapsmühlen entwickelt. Aus betriebswirtschaftli-chen Gründen ist dieser Sog natürlich berechtigt. Wenndie Umstellungskosten durch Vorteile pro Liter – ichspreche ganz vorsichtig von einer Größenordnung jen-seits von 10 Cent – bei Leistungen von 800 000 Kilome-tern bis 1 Million Kilometern relativ schnell gedecktwerden können und man diesen Markt verstärkt nutzt,dann ist das betriebswirtschaftlich absolut in Ordnung.Dennoch sagt Herr Steinbrück: Auch mein Haushaltmuss in Ordnung bleiben.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was sagst du?)

Die EU wirft uns vor: Ihr lasst hier einen besonderenSubventionstatbestand zu.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Was die Biokraftstoffbesteuerung angeht, müssenwir über die verschiedenen Elemente reden. Die damitverbundenen Fragen müssen bis 2007 geklärt werden.Bei der Bioerzeugung geht es nicht nur um tierischeFette und nicht nur um Raps, ob kaltgepresst oder ver-edelt – Stichwort RME, Rapsmethylester –, sondernauch um ETBE; das ist die veredelte Form von Ethanol.

Wir haben jetzt Zeit, darüber gemeinsam zu diskutie-ren. Am 17. Mai findet die erste Anhörung im Finanz-ausschuss statt. Über Ostern werden wir genug Informa-tionen bekommen, um die gesamte Palette durcharbeitenzu können. Nach der Anhörung am 17. Mai wird sich der

Finanzausschuss wieder damit befassen. Danach wirddieser Gesetzentwurf abschließend im Plenum beraten.Natürlich werden auch die Einwände des Bundesratesgehört werden. Ich sage hier aber deutlich: Für den Bun-desrat ist es leicht, Gesetzentwürfe dieser Art zu be-schließen, solange es sich – wie bei der Mineralölsteuer –um eine Bundesangelegenheit handelt. Es macht sich na-türlich gut, im Lande kraftvoll zu verkünden, was man inBerlin alles fordert, wenn man keine Verantwortung fürden Bundeshaushalt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Der jetzige Referentenentwurf – er stammt vom16. März dieses Jahres – ist Grundlage der Debatte. Mitdem Selbstverständnis eines Abgeordneten sage ich:Was die Regierung vorgibt, ist noch lange nicht Gesetz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist dasstrucksche Gesetz!)

Wir sind die Volksvertreter, die das Gesetz gegenüberder Bevölkerung zu verantworten haben. Wir werden dieExpertenanhörung abwarten.

Auch was diese Diskussion angeht, rate ich dringenddazu, nicht morgens, mittags und nachmittags Wasser-standsmeldungen zu diesem Thema abzugeben. Das irri-tiert die Kundschaft, den deutschen Verbraucher, weil erbefürchten muss, dass es zu einer Erhöhung der Mineral-ölsteuer kommt. Das ist absolut nicht vorgesehen. Au-ßerdem irritieren solche Meldungen die Investoren unddie Mineralölwirtschaft insgesamt. Die Kombinationdieser beiden Gesetze ist schon eine große Sache. Wirmüssen sehen: Der Vertrauensschutz für die ländlicheBevölkerung bei den Investitionen ist eine unserer Vor-gaben für 2009.

Es muss aber auch berücksichtigt werden, was wir imHinblick auf die europäische bioenergetische Produk-tion in Zukunft beachten müssen. Auch ich sehe die Ge-fahr – die sehen wir alle –, dass das europäische Preis-niveau durch Kampfpreisangebote an den Häfenunterlaufen wird. Ich verweise auf den Energiegipfel beider Kanzlerin in dieser Woche, Herr Solms. Natürlichwollen wir die Wertschöpfung innerhalb Europas undvor allem im ländlichen Raum auf Dauer sicherstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das ist ein absolut wichtiges Ziel.

Der Kollege Schultz hat schon ausgeführt, inwieweitwir Erdgas und Flüssiggas unterschiedlich zu behandelnund zu bewerten haben. Man muss offen über Zeiträumereden. Ich persönlich füge hinzu: Schifffahrt und Luft-fahrt sind derzeit außen vor. Aber bezüglich des ThemasFlugbenzin hat die EU dringendst ihre Hausaufgaben zumachen; in diesem Bereich muss es EU-weit Gleichheitgeben. Anderenfalls könnte der Fall eintreten, dass ander Donau Austauschbarkeit besteht, weswegen Schiffeüber den Rhein-Donau-Kanal bis nach Rotterdam fah-ren, ohne dass Deutschland davon profitiert. Ein EU-Wirtschaftsraum muss auch insofern Steuergleichheitbringen.

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Norbert Schindler

Das Gleiche sage ich für die Landwirtschaft. DieMineralölsteuervergütung, die wir jetzt noch haben,die in diesem Gesetz auch angesprochen wird, bleibt.Basta! Da mache ich es wie der Altkanzler.

(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Wenn wir über EU-weite Angleichung reden, muss die-ses Thema nicht mehr Gegenstand der Debatte werden.Das ist Gott sei Dank bei den Ministern, jedenfalls der-zeit, außen vor.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Vorzüge von Biokraftstoffen, die ich vorhin ge-nannt habe, müssen wir gesetzlich und ordnungspoli-tisch natürlich neu regeln.

Mit Bezug auf die EU wird uns vorgeworfen, die an-deren seien kostengünstiger. Herr Solms, das sind dieArgumente, die von der Mineralölwirtschaft kommenund die sich zum Teil auch im Text wiederfinden. Wir imParlament formulieren das Gesetz und nicht internatio-nale Lobbyisten, die bei uns tätig sind, die viel Geld ver-dienen, die ihren Profit durch erhöhte Importpreise er-zielen

(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ganz was Neues!)

und uns vorjammern, wie schlecht es ihnen geht.

Es geht um die Wertschöpfung unserer ländlichen Re-gionen unter Berücksichtigung von Kioto und unter Be-rücksichtigung des CO2-Eintrags. Wir haben genug Zeit,über alles – das geht von den Steuersätzen bis zu denKalkulationszahlen von Rapsmühlen oder Fetterzeugern;alles das finden wir in diesem Bereich vor – mit Gelas-senheit zu diskutieren. Dann werden wir zum Schlussauf die Energiefragen von Europa wieder die entschei-denden Antworten geben, wie das auch bei der Einfüh-rung des Katalysators war, und die anderen werdenschnell nachziehen. Ein 80-Millionen-Volk hat damitwieder eine Leitbildfunktion für die anderen.

(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje!)

Deswegen mahne ich Gelassenheit bei der Frage an.

Nun zum Vorwurf, die ländlichen Räume würden un-tergebuttert werden. Wer mich kennt und wer ReinhardSchultz kennt, der weiß: Das wird nicht passieren.

Lassen Sie uns dafür streiten! Das Ergebnis im Juniwird sich vorzeigen lassen.

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege, seien Sie doch so freundlich, zum Ende

zu kommen.

Norbert Schindler (CDU/CSU): Das gilt auch im Hinblick auf die Folgewirkung be-

treffend den gesetzlichen Beimischungszwang ab 2007.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Der muss kommen, getrennt für Ethanol, Kraftstoffe fürden Ottomotor und Gasölbeimischung bei Raps- oderDieselöl.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Kurt Hill, Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Bundesregie-rung zur Energiebesteuerung zementiert endgültig denStillstand in der Energiepolitik. Mit Klimaschutz undEnergieeinsparung hat das nun gar nichts zu tun. HerrnSteinbrück scheint nur eines wichtig zu sein: Kasse zumachen, koste es, was es wolle.

Auf ein Beispiel möchte natürlich auch ich eingehen:die Biokraftstoffe. Biodiesel, das am Markt gut geht, sollmit 10 Cent besteuert werden, Pflanzenöl als Kraftstoff– das für die Umwelt völlig unbedenkliche Grundpro-dukt – mit 15 Cent. Viele kleine Betriebe haben hohe In-vestitionen in Anlagen, Vertrieb und Motoren getätigt.Gerade der ländliche Raum setzt auf die Nutzung vonRapsöl als Kraftstoff. Nun werden diese Strukturen zer-schlagen, indem Sie willkürlich Steuern darauf erheben.

Herr Schindler, ich erinnere Sie daran, dass Sie vorkurzem im ländlichen Raum, nämlich in Zweibrücken,eine Ölmühle eröffnet haben.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Jawohl!)

Die trifft es genauso hart.

Biodiesel hat sich am Markt erfreulich etabliert. DerPreis dieses Kraftstoffes hat sich an die steigende Preis-kurve des Mineralöldiesels angeschmiegt. Da gab es Ge-winnmitnahmen. Natürlich macht es Sinn, dieses Pro-dukt langsam an die Besteuerung heranzuführen. Jetzt10 bzw. 15 Cent auf Biodiesel und in der nächstenRunde der Beimischungszwang bei Vollbesteuerung, dasmacht die junge Branche allerdings kaputt. So etwasdient nur dem Oligopol der Mineralölindustrie.

Die Folge: Kleine und mittelständische Hersteller vonRapsöl- und Biodiesel werden so zu Zulieferern degra-diert. Rapsöl und Bioethanol haben als reine Kraftstoffekeine Chance. Auf der Strecke bleiben Arbeitsplätze imländlichen Raum und der Klimaschutz.

Die Autoindustrie reibt sich schon einmal die Hände,kann sie doch ihre Selbstverpflichtung zur Senkung derKlimagase abschütteln. Mit 5 Prozent zwangsbeige-mischtem Biodiesel schafft VW sein laxes Klimazielauch so.

Die Linke fordert eine fachliche und differenzierteBewertung der einzelnen Biokraftstoffprodukte.

Biodiesel kann ab dem kommenden Jahr mit 5 Cent jeLiter besteuert werden. Die weitere Besteuerung muss

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Hans-Kurt Hill

davon abhängen, ob es gelingt, die mineralischen An-teile durch biogenes Ethanol zu ersetzen. Pflanzenöl alsKraftstoff muss bis 2010 ohne Besteuerung bleiben.

(Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Motorenentwicklung ist stärker zu fördern.

Bei Bioethanol muss der Steuersatz bis 2010 eben-falls 0 Cent betragen. Als E85 kann es sofort auf denMarkt kommen. Dazu müssen die Mineralölkonzerne ih-ren 100-Oktan-Sprit, der ohnehin nur ein Werbegag istund den Verbraucherinnen und Verbrauchern das Geldaus der Tasche zieht, nur durch Bioethanol ersetzen. Derhat übrigens 104 Oktan und entlastet die Umwelt mess-bar. Die Biokraftstoffe der zweiten Generation sind ge-rade im Aufbau. Ob als Biodiesel oder Bioethanol: BTLmuss mindestens bis 2010 steuerfrei bleiben. Einen Bei-mischungszwang braucht die Branche nun gar nicht. DerBeimischungsmarkt macht beim Biodiesel bereits40 Prozent aus und funktioniert auch so. Und wenn Sieden Klimaschutz ernst nehmen, muss der öffentlicheNahverkehr bei der Verwendung von Biokraftstoffenebenfalls steuerfrei bleiben.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn ich die Auswirkungen des Gesetzentwurfes aufdie Staatsfinanzen sehe, muss ich mir die Augen reiben.Einnahmen durch klimafreundliche Biokraftstoffe:361 Millionen Euro. Steuerausfälle durch die Subventio-nierung der klimaschädlichen Flug- und Schiffsver-kehre: 32 Millionen Euro. Bei der Mehrwertsteuer giltdas Gleiche, wie Sie wissen.

Fazit: Verkehrte Welt in der Klimaschutzpolitik. Mitfreundlichen Grüßen, Ihr Umwelt- und Ihr Finanzminis-ter.

Vielen Dank. Ich hoffe, meine Stimme wird wiederbesser.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Das wünschen wir Ihnen von Herzen, lieber Kollege.

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen ReinhardLoske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Schindler und Herr Schultz haben sich eben alsFreunde des ländlichen Raums geoutet.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Waren wir schon immer!)

Das wussten wir ja schon. Aber der Punkt ist: Wenn Siewirklich Freunde des ländlichen Raums sein wollen,dann müssen Sie einen anderen Gesetzentwurf vorlegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie des Abg. Dr. IljaSeifert [DIE LINKE])

Ich habe mir gerade bei Ihnen in Rheinland-Pfalz imZusammenhang mit der Wahl einiges angesehen, zumBeispiel eine Ölmühle in Polch. Die Leute haben sichdarauf verlassen, dass das, was die Politik im DeutschenBundestag einstimmig verabschiedet hat, nämlich diesteuerliche Begünstigung bis 2009, auch gilt. Das wardie Grundlage ihrer Investitionsrechnung. Wenn Sie jetztan dieser Schraube drehen, dann werden Sie nicht nurwortbrüchig, sondern zerstören auch Planungssicherheitund reale Investitionen. Insofern ist das kein Akt zu-gunsten des ländlichen Raums, sondern gegen den länd-lichen Raum. Das wollen wir doch einmal festhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Ansonsten – ich komme gleich zu dem Bioenergie-thema – sprechen wir ja heute über die Umsetzung derEU-Energiesteuer-Richtlinie. Ich will auch einmal sa-gen, was an dem Gesetzentwurf, den Sie jetzt vorlegen,gut ist. Gut ist, dass in der Stromerzeugung bei den fossi-len Energien eine steuerliche Gleichbehandlung vor-gesehen ist. Bis jetzt ist es nämlich so, dass Uran undKohle in der Stromerzeugung nicht besteuert werden,aber Gas. Die Kollegen von der SPD erinnern sich: Wirhaben da manchen Kampf gefochten. Die SPD war im-mer dagegen, das Gas gleich zu behandeln. Jetzt kommtdie Anweisung von der EU-Seite. Da kann ich nur sa-gen: Gut so!

Ich finde es auch gut, dass das, was das Finanzminis-terium ursprünglich vorhatte, nämlich die Kraft-Wärme-Kopplung bei der Strom- und der Erdgassteuerrichtig an die Kandare zu nehmen und kräftig zu besteu-ern, jetzt wegfällt. Das ist unter anderem auf den öffent-lichen Protest der Kommunen, aber auch auf unserenProtest und den Protest der Umweltverbände zurückzu-führen. Da kann man nur sagen, es hat sich gelohnt, ge-gen diese geplante Besteuerung dezentraler Energiever-sorgungsstrukturen anzugehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Ulrich Kelber [SPD]: Das habe ich gar nichtmitbekommen!)

– Dann müssen Sie zuhören, Herr Kollege Kelber.

Die Einführung einer Steuer auf Kohle zu Heizzwe-cken ist aus der Sicht des Klimaschutzes vernünftig undüberfällig, auch wenn das ein kleines, randständiges Pro-blem ist. Das ist aber quasi nichts anderes als die Erfül-lung der Aufgaben eines Pflichtenheftes.

Bei den wirklich grundlegenden Dingen versagen Sieoder lassen einfach etwas aus. Die Bioenergien habe ichgerade schon angesprochen. Da herrscht – das muss mandoch sehen – in Ihrem Lager ganz klar kein Einverneh-men. Auf der einen Seite gibt es die Fiskalisten, diemehr Geld eintreiben wollen, und auf der anderen Seitediejenigen, die wirklich etwas für den ländlichen Raumtun wollen, die regionale Wertschöpfungsketten und Er-werbsalternativen für die Landwirtschaft schaffen wol-len, ohne dauerhafte Subventionen vorzusehen.

Man wundert sich: Hier wird ein Gesetzentwurf vonder Regierung vorgelegt und alle Kolleginnen und

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2722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Dr. Reinhard Loske

Kollegen von der CDU/CSU und von der SPD sagen– mindestens zwischen Mund und Nase –, so werde dasauf keinen Fall gemacht. Da hätten Sie besser von An-fang an etwas Vernünftiges vorgelegt; dann wäre dieVerunsicherung in der Branche nicht so groß gewesen.

(Beifall bei der FDP)

Es ist doch vollkommen klar und gar keine Frage: Wo esMitnahmeeffekte gibt, da muss man abschöpfen.

Hinsichtlich der reinen Pflanzenöle, Herr Schindler,möchte ich Sie bitten, Folgendes zu beachten. Dies istein klassischer Fall dezentraler Technologien, bei derenAnwendung die Wertschöpfung in der Region verbleibt.Auch fiskalisch gesehen fällt nichts weg. Ich bitte Sieheute darum, dass Sie wenigstens davon die Hände las-sen. Wir werden das jedenfalls im Rahmen des parla-mentarischen Verfahrens beantragen.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Warten Sie es doch ab!)

Ich will noch einige Punkte ansprechen, die Sie ein-fach weggelassen haben. Sie haben zum Beispiel dieSonderregelung für die Energiebesteuerung im Rahmender ökologischen Steuerreform nicht angesprochen,obwohl Sie wissen, dass diese Ausnahmen von der EU-Kommission nur bis zum 31. Dezember 2006 genehmigtwurden. Wir brauchen im Rahmen der Ökosteuer einstimmiges Konzept, mit dem die vielen Ausnahmetatbe-stände entweder abgeschafft – das wäre das Beste – oderzumindest an ökologische Gegenleistungen geknüpftwerden.

Wir müssen – auch das ist ein heißes Eisen, das Sienicht angepackt haben – im Bereich der Flugbenzin-besteuerung endlich erste Schritte gehen.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das habe ich gesagt!)

Es kann doch nicht wahr sein, dass die Bahn, wie wirerst vorgestern wieder gelernt haben, die Energiesteuerin voller Höhe zahlt und dass auf Tickets die volle Mehr-wertsteuer erhoben wird, aber der Luftverkehr in beidenBereichen privilegiert wird. Das ist eine eklatante Wett-bewerbsverzerrung zulasten der Bahn. Wir fordern Sieauf – zumal die Energiesteuer-Richtlinie diese Möglich-keit hergibt –, endlich mit dem Einstieg in die Besteue-rung von Flugbenzin zu beginnen. Die rechtlichen Mög-lichkeiten haben Sie dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich fasse zusammen, Herr Präsident. Was Sie vorle-gen, ist ein umfangreiches Gesetz mit vielen Details. Esenthält praktisch keine positiven Elemente mit Aus-nahme der Dinge, die Sie vonseiten der EU-Kommissionmachen mussten. Es ist also ein reines und obendrein un-zureichendes Pflichtprogramm ohne ambitionierte Kli-maschutzziele und ohne politischen Gestaltungswillen.Sie geben keine steuerlichen Anreize für Strukturent-scheidungen zugunsten des Klimaschutzes und der CO2-Einsparungen. Das werden wir im parlamentarischenVerfahren thematisieren.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/1172 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaPieper, Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP

Voraussetzungen für Entwicklung, Bau undBetrieb einer Europäischen Spallations-Neu-tronenquelle in Deutschland schaffen – Deut-sche Bewerbung vorantreiben

– Drucksache 16/386 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

Die Kollegen Axel Fischer (Karlsruhe-Land),Thomas Oppermann, Cornelia Pieper, Petra Sitte1) undKrista Sager haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)

Ich schließe also die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/386 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zurÄnderung des Urheberrechtsgesetzes

– Drucksache 16/1107 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu einemspäteren Zeitpunkt abgedruckt.

2) Anlage 3

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2723

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Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin der Justiz:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heuteum ein Gesetz, mit dem wir europäische Vorgaben zumFolgerecht umsetzen. Folgerecht bedeutet, dass bildendeKünstler nicht leer ausgehen, wenn ein Werk, das sieeinmal für wenig Geld verkauft haben, später im Kunst-handel hohe Preise erzielt.

Die Richtlinie ist ein gutes Beispiel dafür, wie uns dieeuropäische Einigung zugute kommt: Mit der Umset-zung der Richtlinie schaffen wir vergleichbare Bedin-gungen für bildende Künstler und auch für den Kunst-handel in Europa. Denn anders als Deutschland, wo esein Folgerecht seit 1956 gibt, gilt dieses Recht in ande-ren Mitgliedstaaten bisher nicht. Diese unterschiedlicheRechtslage ist in mehrfacher Hinsicht nachteilig: zum ei-nen natürlich für die Künstler, zum anderen auch für denKunsthandel. So kann zum Beispiel ein Kunsthändler inBerlin weniger Erlös als sein Kollege in London erzie-len. Das ist ein Wettbewerbsnachteil. Die europäischeRichtlinie schafft hier gleiche Verhältnisse.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf passen wirunser Recht den Anforderungen der Richtlinie an. DieVergütung wird nach der Höhe des Verkaufspreises ge-staffelt und beträgt im Höchstfalle 12 500 Euro pro Wei-terveräußerung.

Es gibt zwei Punkte, bei denen die Richtlinie den Mit-gliedstaaten einen Gestaltungsspielraum lässt. Zumeinen können als Mindestbetrag Werte zwischen 0 und3 000 Euro bestimmt werden, ab dem Veräußerungendem Folgerecht unterliegen. Der Entwurf, den wir vorle-gen, sieht einen Mindestbetrag von 1 000 Euro vor. Zumanderen können die Mitgliedstaaten die Höhe des An-spruchs für Veräußerungen bis zu 50 000 Euro auf 4 oder5 Prozent des Verkaufspreises festlegen. Wir haben unsdazu entschieden, für diese so genannte erste Tranche ei-nen Vergütungssatz in Höhe von 4 Prozent vorzusehen.

Natürlich sind unsere Künstlerinnen und Künstler da-rüber enttäuscht; ich kann das auch verstehen. Sie müssenaber wissen, dass sie umgekehrt nunmehr auch im Aus-land, zum Beispiel in Österreich, einen Anspruch geltendmachen können, wenn zum Beispiel ein Werk mit einemPreis von über 3 000 Euro weiterveräußert wird.

Eines darf man nicht vergessen: Es wird ihnen eineneue Einnahmequelle erschlossen, wenn sie, wie icheben sagte, in anderen Mitgliedstaaten veräußern. Auchunsere Kunsthändler haben hier weitere Vorteile. Da wiruns den in Großbritannien, einem bedeutenden Kunst-markt, geltenden Regelungen angeschlossen haben, be-finden wir uns in guter Gesellschaft.

Ich denke also, dass wir mit diesem Entwurf eine aus-gewogene und angemessene Grundlage für die weitereBeratung präsentiert haben, und freue mich, meinemKollegen Manzewski eine Minute Redezeit schenken zukönnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger, FDP-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Staatssekretär, Sie haben zu Recht gesagt, dasses beim geltenden Recht Wettbewerbsverzerrungen ge-geben hat und die Folgerechtsrichtlinie hier wirkenmuss. Deren Umsetzung steht natürlich schon lange an.Also ist es richtig, dass der vorliegende Gesetzentwurfnicht nur eingebracht wird, sondern auch zügig beratenwerden muss.

Die FDP hat es von Anfang an, auch schon in der ver-gangenen Legislaturperiode, sehr begrüßt, dass dieseFolgerechtsrichtlinie zu einer Harmonisierung führenwird. Denn das ist im Interesse aller Beteiligten: im Inte-resse des Kunsthandels und der Urheber. Auf nationalerEbene muss jetzt der Versuch unternommen werden, ei-nen Ausgleich zwischen diesen beiden Interessen zu fin-den. Das wird mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurfversucht.

Die Folgerechtsrichtlinie ist das Ergebnis einer sehrlangwierigen Diskussion. Es war bis zum Schluss sehrungewiss, ob sie überhaupt zustande kommt. Das Ergeb-nis ist ein Kompromiss, der natürlich nicht in jeder Hin-sicht das urheberrechtliche Optimum sein mag. Das giltfür die Staffelung der Vergütung und die Begrenzung derGesamtvergütung auf 12 500 Euro. Es ist aber müßig,die Debatte zu wiederholen, die der Folgerechtsrichtlinievorausgegangen ist.

Die von der Folgerechtsrichtlinie vorgegebene neueVergütungsstruktur kann in Deutschland einerseits zueinem insgesamt niedrigeren Vergütungsaufkommenführen. Aber im Zusammenspiel mit den entsprechendenBestimmungen der übrigen Mitgliedstaaten kann sie an-dererseits einen Beitrag dazu leisten, dass Deutschlandfür den internationalen Kunsthandel attraktiver wird undden deutschen Urhebern dadurch neue Vergütungsquel-len auf anderen Kunstmärkten eröffnet werden.

Auch den Urhebern ist nicht damit gedient, dass derKunsthandel an Deutschland vorbeigeht, weil die Rah-menbedingungen nicht stimmen. Natürlich dürfen wirdabei die Grundlagen des Urheberrechts nicht infragestellen. Denn das Urheberrecht ist und bleibt ein Eigen-tumsrecht. Deshalb muss natürlich im Zusammenhangmit der Beratung des Regierungsentwurfes immer auchgefragt werden: Sind die Spielräume, die die Richtlinieim Sinne dieser Prämisse eröffnet, auch sachgerecht ge-nutzt worden?

Ich denke, der Entwurf geht in die richtige Richtung,diese unterschiedlichen Interessen miteinander zu ver-einbaren. Wir werden im Ausschuss gerade vor demHintergrund der Stellungnahme des Bundesrates überdie einzelnen Punkte, über die Anhebung des Eingangs-satzes, den Beteiligungssatz und die Vergütungsstruktur,zu diskutieren haben.

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Der Bundesrat hat vorgeschlagen, die Bestimmungenzum Schwellenwert und zum Beteiligungssatz der erstenStufe bis 2009 zu befristen, um ihre tatsächlichen Aus-wirkungen auf das Vergütungsaufkommen zu beobach-ten und gegebenenfalls zu korrigieren. Die Bundesregie-rung hat in ihrer Stellungnahme diesen Vorschlagzurückgewiesen. Ich denke, wir sollten es uns nicht soeinfach machen.

Die FDP-Bundestagsfraktion plädiert dafür, imRechtsausschuss den Ansatz des Bundesrates noch ein-mal ausführlich zu erörtern und zu prüfen, inwieweit erzum notwendigen Interessenausgleich zwischen Urhe-bern und Kunsthandel beitragen kann. Wir sollten dabeibedenken, dass die Richtlinie selbst eine fortlaufendeKontrolle der Auswirkungen des neuen Folgerechtesvorsieht. Was ist besser dazu angetan, mit Nachdruck füreine Umsetzung dieser Kontrolle zu sorgen, als eine Be-fristung dieser Regelung im Gesetz vorzusehen, sodassder Gesetzgeber gezwungen ist, sie nach einigen Jahrenauf den Prüfstand zu stellen? Aus unserer Sicht gibt esbei diesem Punkt sehr wohl Erörterungs- und Diskus-sionsbedarf im Rechtsausschuss. Ich denke, wir sind aufdem Weg, einen angemessenen Interessenausgleich zwi-schen Kunsthandel und Urheberrechtsschutz zu errei-chen.

Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Günter Krings, CDU/

CSU-Fraktion.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der beste Ort, um deutsche Kunst zu verkaufen,ist London. Mit diesem Werbespruch ging einst das Lon-doner Auktionshaus Christie’s auf Kundenfang. Kein an-derer Ausspruch könnte wohl die Situation auf demdeutschen Kunstmarkt besser beschreiben. In Londonwerden mehr Bilder der klassischen deutschen Moderneals im gesamten Bundesgebiet zusammen versteigert. Somacht derzeit nicht zuletzt das deutsche Urheberfolge-recht deutsche Kunst zum Exportschlager wider Willen.

Der eigentliche Erfolg, den es hier und heute zu ver-melden gibt, ist nicht im vorliegenden Gesetzentwurf,sondern in der Harmonisierung des Folgerechts in derEuropäischen Union zu erblicken. Bislang haben die un-terschiedlichen Regelungen in Europa zu einer Wettbe-werbsverzerrung geführt. Deutsche Galerien haben esschwer, gegen eine internationale Konkurrenz zu beste-hen, die eben nicht 5 Prozent vom Erlös eines weiterver-kauften Bildes auf den Kaufpreis aufschlagen muss. Be-sonders die Engländer haben diesen Vorteil konsequentfür sich zu nutzen gewusst und stellen heute neben denUSA und der Schweiz den weltweit wichtigsten Kunst-markt.

Nach einer Studie der European Fine Art Foundationlag im Jahr 2003 der Anteil der EU-Mitgliedstaaten, die

über ein nationales Folgerecht verfügen, am weltweitenKunsthandel bei 6 Prozent. Im Gegensatz dazu konntesich allein Großbritannien einen Anteil von sage undschreibe 24 Prozent am Weltkunsthandel sichern; dasHandelsvolumen ist damit viermal größer als in allenEU-Staaten mit Folgerecht zusammen.

Die EU-Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten in einzel-nen Punkten zwar einen Umsetzungsspielraum; vor demHintergrund der bisherigen Erfahrungen mit unter-schiedlich ausgestalteten Folgerechtsregelungen mussder Gesetzgeber aber bei der nationalen Ausgestaltungdas Ziel haben, möglichst einen Mittelweg zu finden,dem sich auch die anderen Länder anschließen können.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist es gelungen,eine Regelung zu finden, die in den wichtigsten Punktenauf der Linie der englischen Umsetzung der Richtlinieliegt. Der deutsche Kunstmarkt wird so attraktiver undkann verloren gegangenes Terrain wieder gutmachen.Der Gesetzentwurf ist damit ein starkes Signal für dieFörderung des Kunsthandels in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP])

Eine zentrale Bestimmung der Gesetzesvorlage ist dieAnhebung des Schwellenwertes für die Anwendbarkeitdes Folgerechts beim Verkaufspreis von früher 50 Euroauf 1 000 Euro. Hierdurch wird gewährleistet, dass keineKleinstbeträge von wenigen Euro mehr ausgezahlt zuwerden brauchen, bei denen der Verwaltungsaufwandden Ertrag zu überwiegen droht.

Wahrscheinlich werden wir gleich noch ein paar kriti-sche Worte zu diesem Aspekt hören. Natürlich erkenntman bei oberflächlicher Betrachtung wenigstens zweiProbleme.

Der Entwurf bleibt mit dem Schwellenwert von1 000 Euro deutlich unterhalb des von der Richtlinie zu-gelassenen Maximalschwellenwerts von 3 000 Euro.Auf den ersten Blick sieht es dennoch so aus, dass rei-henweise Künstler von den Segnungen des Folgerechtsausgeschlossen werden könnten. Die Zahlen der eben zi-tierten Studie der European Fine Art Foundation spre-chen aber eine ganz andere Sprache. Diese Studiekommt zu dem Ergebnis, dass über 90 Prozent der welt-weiten Kunstverkäufe – jedenfalls im Bereich der mo-dernen und zeitgenössischen Kunst – in die Preiskatego-rie von 3 000 bis 50 000 Euro fallen.

Dass wir den möglichen Schwellenwert von3 000 Euro dennoch nicht voll ausgeschöpft haben, istebenso richtig. Bei einem derartigen Schwellenwert hät-ten es nämlich vor allen Dingen Fotografien zu schwergehabt, von einer Folgerechtsvergütung überhaupt zuprofitieren. Es ist aber ein deutlicher Fortschritt gegen-über der bestehenden Regelung, dass nun auch Fotogra-fien in den Vergütungstatbestand mit aufgenommen wer-den. Diese Regelung bringt Rechtssicherheit und trägtdem Umstand Rechnung, dass Fotografien in verstärk-tem Maß als Kunstobjekte angesehen und auch behan-delt werden. Eine Ungleichbehandlung im Vergleich zurklassischen bildenden Kunst ist daher nicht mehr zurechtfertigen.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2725

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Dr. Günter Krings

Gegen den höheren Schwellenwert von 1 000 Eurowird ferner eingewandt, er sei ein Nachteil für jungeKünstler, die noch nicht so hohe Preise für ihre Werkeerzielen können. Betrachtet man hier wiederum ganznüchtern die Zahlen, dann lässt sich aber schon nach derjetzigen Rechtslage feststellen, dass der Großteil der le-benden Künstler von der Folgerechtsabgabe ohnehinnicht profitiert. Kaum 10 Prozent der Künstler, die ihreAnsprüche aus dem Folgerecht über die VG Bild-Kunstwahrnehmen lassen, kommen in den Genuss einer Aus-zahlung. 2004 waren es – um es einmal in den relativ be-scheidenen Zahlen auszudrücken – gerade einmal314 lebende Künstler, denen 256 Erben gegenüber stan-den. Von diesen insgesamt 570 Personen sind übrigensknapp die Hälfte ausländische Künstler.

Lässt das Verhältnis zwischen lebenden Künstlern undden Erben zunächst wenigstens noch ein kleines Überge-wicht zugunsten der lebenden Künstler vermuten, zeigteine wirtschaftliche Betrachtung der Sache schon einganz anderes Bild. Für das Jahr 2003 hat der ArbeitskreisDeutscher Kunsthandelsverbände vorgerechnet, dass dieErben deutscher Künstler gut 2,4 Millionen Euro aus derFolgerechtsvergütung erhalten haben, während den inDeutschland lebenden Künstlern zusammen lediglich einBetrag von etwas mehr als 340 000 Euro ausgezahltwurde. Also: knapp zweieinhalb Millionen Euro für Er-ben und 340 000 Euro für lebende Künstler. Das zeigtmehr als deutlich, dass das Folgerecht in erster Linie einErbenrecht ist und schon nach der heutigen Rechtslagejungen Künstlern kaum dient.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Trotz der vergleichsweise bescheidenen Beträgebleibt das Folgerecht ein sensibles Thema. Das zeigeninsbesondere die Reaktionen in England seitens derKünstler. David Hockney lehnte mit weiteren britischenKünstlern in einem Artikel der „Times“ die Regelunggerade deshalb ab, weil sie keine Förderung jungerKünstler mit sich bringen würde, sondern diesen eherschade. Kunsthändler würden angesichts der Abgabe lie-ber auf Nummer sicher gehen und sich an etablierteKünstler halten.

Obwohl die deutsche Regelung bereits seit 1965 exis-tiert, ist das Folgerecht auch bei uns durchaus umstritten.Renommierte Künstler wie Gerhard Richter oder GeorgBaselitz haben sich bereits vor geraumer Zeit kritischdazu geäußert. Es würden eben nur die Stars der Branchedavon profitieren und jungen Künstlern – da sind sieganz der Meinung ihrer englischen Kollegen – bereitedie ganze Sache eher Schwierigkeiten.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Bedenken der etablierten Künstler in dieser Fragesollte man nicht einfach beiseite legen. Trotzdem ist dieThese, das Folgerecht schade jungen Künstlern, viel-leicht doch etwas voreilig. Der Erstverkauf eines Bildesist und bleibt vergütungsfrei. Die Eintrittskarte vonNachwuchskünstlern in den Kunstmarkt wird vom Fol-gerecht also gar nicht betroffen.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Das Folgerecht hat danach aber immer noch seine Be-rechtigung. Selten gelingt einem Maler oder einer Male-rin auf Anhieb der Durchbruch. In der Regel erzielenBilder erst einige Jahre nach dem Erstverkauf einen hö-heren Marktwert, an dem die Künstler dann nicht mehrbeteiligt sind. Damit stellt sich natürlich schon die Frage,warum alle von einer Gewinnsteigerung des Werkes pro-fitieren sollen – mit Ausnahme desjenigen, der die Ursa-che für die Wertsteigerung gesetzt hat.

Hierin liegt auch der grundsätzliche Unterschied zumBuch oder zur Musik. In diesen beiden Fällen erhält derUrheber nämlich üblicherweise eine erfolgsabhängigeVergütung: Je mehr Bücher verkauft werden, desto hö-her fallen seine Einnahmen aus; je mehr CDs verkauftwerden oder je öfter seine Musik im Radio gespielt wird,desto höher fällt seine Beteiligung aus. Der bildendeKünstler kann hingegen nicht auf eine Erfolgsbeteili-gung hoffen.

Ob sich junge Künstler am Markt etablieren, dürfteaber kaum vom Folgerecht abhängen; denn das hieße,die Bedeutung der rechtlichen Regelung über die der äs-thetischen Aussage eines Kunstwerkes zu stellen. Letz-tere aber gibt zum Glück den entscheidenden Ausschlagfür die Durchsetzung eines noch unbekannten talentier-ten Künstlers. Nicht zuletzt die Erfolge der jungen deut-schen Künstler, die unter dem Begriff „Neue LeipzigerSchule“ zusammengefasst werden, zeigen das Potenzialauf, das in den Künstlern unseres Landes liegt. Seltenwar deutsche zeitgenössische Kunst international so ge-fragt wie heute.

Der internationale Durchbruch gelang diesen deut-schen Künstlern aber nicht in Deutschland, sondern inerster Linie auf Kunstmessen in den Vereinigten Staaten.Dieser Tatsache sollten wir als deutsche Rechts- undKulturpolitiker nicht ganz gleichgültig gegenüber ste-hen. Wir sollten vielmehr die nötigen Rahmenbedingun-gen schaffen, damit nicht nur die deutsche Kunst, son-dern auch der deutsche Kunsthandel international wiedereine Spitzenposition einnehmen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Mit der EU-Richtlinie zur Harmonisierung des Folge-rechts und mit unserem Umsetzungsgesetz tun wir einenentscheidenden Schritt zur Schaffung dieses Rahmens.Wenn wir dadurch den Kunsthandel in Deutschland stär-ken, so stärken wir mittelbar auch die bildende Kunstund die Künstler in unserem Lande.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Lukrezia Jochimsen,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

fürchte, man kann die Welt sehr unterschiedlich betrach-ten. Welche Bedeutung haben die schön klingenden

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Dr. Lukrezia Jochimsen

Bekenntnisse zur Kulturnation Deutschland in die-sem Hohen Haus? Davon können wir uns in dieser De-batte ein Bild machen. Wie heißt es im Koalitionsvertragvon CDU/CSU und SPD?

Im Mittelpunkt der Kulturpolitik steht die Förde-rung von Kunst und Künstlern.

Nun legt uns die Bundesregierung einen Gesetzentwurfvor, der kalt und brutal 40 Prozent der bildenden Künst-ler und Künstlerinnen in diesem Land um ihren gesetzli-chen Anspruch auf einen Anteil am Erlös aus Weiterver-äußerungen ihrer Werke bringt – knallhart und einfachso.

Wenn ein Kunsthändler heute eine Grafik, ein Lithooder ein Foto für 200 Euro kauft und für 900 Euro ver-kauft, erhält der Künstler 5 Prozent dieser Weiterver-kaufssumme, also 45 Euro. Das ist nicht viel Geld. FürKünstler und Künstlerinnen in Deutschland, die zumgroßen Teil mehr oder wenig an oder unterhalb der Ar-mutsgrenze leben, ist dieses Geld aber unverzichtbar.Das gilt nicht für die Millionäre Baselitz und NeoRauch.

Im neuen Gesetzentwurf heißt es:

Der Schwellenwert für die Folgerechtspflichtigkeitwird auf 1 000 Euro festgelegt.

Das heißt, nur die Künstler und Künstlerinnen, derenWerke für 1 000 Euro oder mehr weiterverkauft werden,haben überhaupt einen Anspruch auf Folgerechtsvergü-tung. Bisher bestand ein Anspruch ab 50 Euro. Der An-stieg auf das 20-fache enteignet auf einen Schlag undohne Not gerade die jungen Künstler und Künstlerinnen,die am Anfang ihres kreativen Wirkens stehen, aber auchdie älteren Künstler und Künstlerinnen, die am Ende ih-res Schaffensprozesses froh sind, wenn sie ihren Lebens-unterhalt in Würde durch Weiterverkaufserlöse entspre-chend ihrem bisherigen gesetzlichen Anspruch einbisschen aufstocken können.

Es gibt viele Künstler und Künstlerinnen in diesemLand, deren Arbeiten die Preiskategorie von 1 000 Euround mehr nie erreichen. Ich spreche nicht von Bildern,sondern von Grafiken, Lithos, Aquarellen und Fotos.Weiß man im Bundesministerium, weiß man in der Re-gierung nicht um die wirtschaftliche Situation vonKünstlerinnen und Künstlern? Doch, man weiß darumgenau. Man weiß, dass 40 Prozent der Künstler undKünstlerinnen nach In-Kraft-Treten dieses Gesetz nichtmehr in den Genuss des Folgerechtes kommen, dass dieNeuregelung also einer Enteignung eines Großteils derbildenden Künstler und Künstlerinnen gleichkommt unddamit für diesen Personenkreis eine weitere Verarmungbedeutet.

Damit nicht genug. Auch der Prozentsatz für Ver-käufe bis 50 000 Euro soll in Zukunft von 5 auf 4 Pro-zent gesenkt werden. Diese Absenkung wiederumbedeutet eine massive Schlechterstellung der folge-rechtsberechtigten Künstler und Künstlerinnen, die ihreWerke zu guten oder sehr guten Preisen verkaufen kön-nen. Das betrifft 20 Prozent der renommierten, fürDeutschlands Kunst besonders wichtigen Kreativen.

Man komme uns nicht mit dem Argument, hier müsseeine Richtlinie des Europäischen Parlaments und Ratesumgesetzt werden. Die europäische Richtlinie schreibtweder die Anhebung des Eingangssatzes auf 1 000 Euronoch die Absenkung des bisherigen Prozentsatzes von5 auf 4 Prozent vor. Dieses Märchen wollen wir uns bittegar nicht erst auftischen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten großenGestaltungsspielraum bei der Frage, wo der Folge-rechtsanspruch beginnt: bei 50 Euro, wie bisher bei uns,bei 300, 500 oder 1 000 Euro. Er muss nur bei maximal3 000 Euro festgesetzt werden. Wir sind also frei in derEntscheidung, ob wir unseren bildenden Künstlern undKünstlerinnen eine angemessene Vergütung am Weiter-verkauf ihrer Werke garantieren oder nicht, ob wir siekalt enteignen oder nicht. Die Linksfraktion lehnt denGesetzentwurf daher entschieden ab.

Gestatten Sie mir zum Schluss ein Plädoyer: WerKunst und Kultur fördern und schützen will – das wollenwir angeblich alle –, der kann diesen Gesetzentwurf indieser Form nicht passieren lassen.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kollege Jerzy Montag hat seine Rede zu Protokoll

gegeben.1)

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist schade!)

Deswegen erteile ich jetzt das Wort dem KollegenDirk Manzewski, SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dirk Manzewski (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Fol-

gerecht gibt dem Urheber eines Werkes der bildendenKünste einen Anspruch auf wirtschaftliche Beteiligungam Erlös aus der Weiterveräußerung seines Werkes, so-weit Kunsthändler oder Versteigerer daran beteiligt wa-ren. In Deutschland – das ist hier schon gesagt worden –gibt es diesen grundsätzlichen Anspruch schon seit lan-gem. Seit 1973 liegt er bei etwa 5 Prozent des Veräuße-rungserlöses.

Innerhalb der EU sah dies bis vor kurzem jedoch nochvöllig anders aus. In einigen Ländern gab es kein so ge-nanntes Folgerecht, in anderen gab es unterschiedlicheRegelungen. Dies führte – das hat Kollege Krings richtiggesagt – zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungenund Handelsverlagerungen. Deshalb fand etwa 80 Pro-zent, Herr Kollege Krings, des gesamten Kunsthandelsinnerhalb Europas in der Vergangenheit in London statt.Dort gab es – Sie alle können sich das denken – keinFolgerecht. Deswegen, Frau Kollegin Jochimsen, lief die5-Prozent-Regelung, an der Sie sich gerade so schön ori-

1) Anlage 4

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2727

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Dirk Manzewski

entiert haben, bei uns relativ leer. Denn aufgrund dieserRegelung fand hier quasi kein Kunsthandel statt. Dasheißt, die Künstler hatten von der 5-Prozent-Regel rela-tiv wenig.

Das wird sich nun hoffentlich ändern. Grund für dieheutige Debatte und die Änderungen am bestehendenGesetz ist die EU-Richtlinie, die das Folgerecht inner-halb der EU harmonisieren wird. Zukünftig wird der Ur-heber der bildenden Künste überall in der EU vom Wei-terverkauf seiner Bilder profitieren, auch wenn – daswurde schon gesagt – den Ländern bei einzelnen Punk-ten Handlungsspielräume eingeräumt wurden.

Auch wir hatten unsere bestehenden Gesetze zu bear-beiten und der Richtlinie anzupassen. Neu dabei ist, dassdie Vergütungsbeteiligung nun nicht mehr pauschal,sondern in einer degressiven Staffelung in fünf Schrittenerfolgt. Dies ist durch die Richtlinie zwingend vorgege-ben. Die Staffelung beginnt bei uns mit 4 Prozent beiVerkaufserlösen bis 50 000 Euro und endet bei 0,25 Pro-zent bei Verkaufserlösen von mehr als 500 000 Euro. Beieinem Verkaufserlös von unter 1 000 Euro greift das Fol-gerecht nicht. Diese Bagatellgrenze – auch das wurdeschon gesagt – ist geschaffen worden, weil in diesem Be-reich zwischen dem Nutzen des Urhebers und dem Ver-waltungsaufwand kein vernünftiges Verhältnis mehr be-stand. Ich teile Ihre Auffassung nicht, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dass man diese Grenze hätte höher set-zen können. Denn ich meine – das muss man deutlich sa-gen –, dann hätten die Urheber deutlich weniger davonprofitiert. Jedenfalls habe ich Sie so verstanden.

Wir haben es allerdings auch abgelehnt, einen höhe-ren Mindestbetrag festzulegen – das hätte die Richtlinieerlaubt –, weil dies nach unserer Auffassung den An-wendungsbereich des Folgerechts zu weit eingeschränkthätte. Neu ist auch, dass der zu erzielende Gesamtbetragder Folgerechtsvergütung aus einer Weiterveräußerungallenfalls 12 500 Euro betragen darf. Auch hier musstenwir – das muss man deutlich sagen – der EU-Richtliniefolgen.

Es ist sicherlich richtig, dass der Urheber nach der al-ten 5-Prozent-Regelung vermeintlich besser dastand.Aber abgesehen davon, dass wir aufgrund der EU-Richt-linie kaum Spielraum hatten, erscheint dies eben nur aufden ersten Blick so. Es sei noch einmal darauf hingewie-sen – das ist sehr wichtig –, dass die Urheber kaum et-was von dieser Regelung hatten, da der Anspruch, wiegesagt, bislang relativ leer lief. Das ist nun anders undkompensiert dies meiner Auffassung nach bei weitem,zum einen, weil die Urheber nun in der gesamten EU ei-nen Folgerechtsanspruch erhalten, und zum anderen,weil davon auszugehen ist, dass der Kunsthandel nunauch wieder mehr in Deutschland stattfinden wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie meinerRede entnehmen können, halte ich den hier debattiertenEntwurf für gelungen, auch wenn ich durchaus bereitbin, mich noch über die eine oder andere Einzelheit zuunterhalten.

Herr Staatssekretär, eines bitte ich allerdings zu über-prüfen: Im Gesetzentwurf ist festlegt, dass das Folge-recht nur gelten soll, wenn bei der Weiterveräußerung

Kunsthändler oder Versteigerer beteiligt sind. Ich weißnicht, ob dies tatsächlich der EU-Richtlinie entspricht.Diese differenziert nämlich zum Beispiel in der Begriff-lichkeit ausdrücklich zwischen Kunsthändlern undKunstgalerien. Vielleicht sollten wir, wie es auch in derEU-Richtlinie getan wird, lieber allgemein von „Vertre-tern des Kunstmarktes“ sprechen, um Folgerechtsan-sprüche tatsächlich umfassend zu gewährleisten. An-sonsten, finde ich, ist der Gesetzentwurf gelungen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/1107 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Inzwi-schen liegt auch die Gegenäußerung derBundesregierung auf Drucksache 16/1173 vor, die andieselben Ausschüsse überwiesen werden soll. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 6auf:

17 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke, MonikaKnoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKEN

Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz gegenden Iran

– Drucksachen 16/452, 16/962 –

Berichterstattung:Abgeordnete Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer Dr. Norman Paech Marieluise Beck (Bremen)

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten JürgenTrittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN

Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt überdas iranische Atomprogramm – Demokrati-sche Entwicklung unterstützen

– Drucksachen 16/651, 16/1157 –

Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Hörster Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer Wolfgang Gehrcke Jürgen Trittin

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2728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Vizepräsident Wolfgang Thierse

Die Kollegen Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,Rolf Mützenich, Harald Leibrecht, Norman Paech undJürgen Trittin haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)

Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung desAuswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/962 zudem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Wei-ter verhandeln – kein Militäreinsatz gegen den Iran“.Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-sache 16/452 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Mir ist nicht klar, was die FDP-Fraktion zutun gedenkt.

(Zurufe von der FDP – Heiterkeit)

Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen vonCDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke bei Ratlosigkeit derFDP-Fraktion angenommen.

(Heiterkeit und Beifall)

Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses auf Drucksache 16/1157 zu dem An-trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mitdem Titel „Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt überdas iranische Atomprogramm – Demokratische Ent-wicklung unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 16/651 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmenvon Bündnis 90/Die Grünen und bei einigen Gegenstim-men der Fraktion Die Linke, bei Stimmenthaltung derFDP und einigen Enthaltungen der Fraktion Die Linkeangenommen.

Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 18:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-rung der Europäischen Genossenschaft undzur Änderung des Genossenschaftsrechts

– Drucksache 16/1025 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-den zu Protokoll gegeben: Georg Fahrenschon, KlausUwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Ulla Lötzer undMargareta Wolf (Frankfurt) sowie der ParlamentarischeStaatssekretär Alfred Hartenbach.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/1025 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es

1) Anlage 52) Anlage 6

dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so-wie Zusatzpunkt 7 auf:

19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelHöhn, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, UndineKurth (Quedlinburg) und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Verbot der Käfighaltung für Legehennenab 2007 beibehalten

– Drucksache 16/839 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaBulling-Schröter, Dr. Kirsten Tackmann,Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der LINKEN

Arbeitsplätze durch artgerechte Legehennen-haltung in Deutschland sichern – Verbot derKäfighaltung ab 2007 durchsetzen

– Drucksache 16/1128 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Hans-MichaelGoldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDP

Keine Wettbewerbsverzerrungen für Land-wirte durch die Umsetzung der EU-Richtliniezur Haltung von Nutztieren in nationalesRecht

– Drucksachen 16/590, 16/1142 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter Jahr Dr. Wilhelm Priesmeier Hans-Michael Goldmann Dr. Kirsten Tackmann Bärbel Höhn

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile KolleginBärbel Höhn, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen,das Wort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin-

nen und Kollegen! Wir beraten heute über ein Thema,das die Gemüter in dieser Republik über Jahre stark er-hitzt hat. Wir beraten heute darüber, weil morgen einewichtige Entscheidung im Bundesrat ansteht. Dort wirddarüber entschieden, wie die Legehennen in Zukunft ge-halten werden, ob sie weiter in viel zu kleinen Käfigengehalten werden dürfen oder ob diese Art von Batterie-käfighaltung in Deutschland endlich ein Ende hat; des-halb der Antrag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Es wird Zeit!)

Die Diskussion darüber hat auch damit zu tun, dass esein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999gibt, in dem sehr deutlich und klar gesagt worden ist,dass die Batteriekäfighaltung in Deutschland dem Tier-schutzgesetz widerspricht. Es geht darum, genau diesesUrteil umzusetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass ich heute hier stehe, hat auch etwas damit zutun, dass die Klägerin, die damals dieses Urteil erwirkthat, den Namen Bärbel Höhn trägt. Ich habe damals imNamen der Landesregierung von Nordrhein-Westfalengenau dieses Urteil erwirkt. Ich muss sagen, ich finde esgut, dass die Verfassungsrichter damals dieses Urteil ge-fällt haben. Es war notwendig, dass in einem Land wieDeutschland mehr für den Tierschutz getan wird, geradeauch für die Legehennen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Gerichtsurteil ist sehr detailliert. Es besagt ein-deutig, dass die Hennen verhaltensgerecht untergebrachtwerden müssen: Sie müssen scharren können, sie müs-sen picken können, sie müssen eine Stange haben, aufder sie sitzen können, sie müssen ein Nest zur Eiablagehaben und sie müssen flattern und sich aufbäumen kön-nen.

Genau das wird mit dem Vorschlag, der morgen imBundesrat zur Abstimmung steht, nicht erreicht. Früher,bei der Batteriekäfighaltung, stand einer Henne eine Flä-che zu, die kleiner war als ein DIN-A4-Blatt. Nach dem,was Sie erreichen wollen und was morgen zur Abstim-mung steht, soll eine Henne nun eine Fläche bekommen,die etwas größer ist als ein DIN-A4-Blatt. Von etwas we-niger als einem DIN-A4-Blatt zu etwas mehr als einemDIN-A4-Blatt, das ist zu wenig, meine Damen und Her-ren; das ist nicht artgerecht.

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Priesmeier von der SPD?

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte schön, Herr Priesmeier.

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Frau Kollegin Höhn, ich zitiere aus dem Urteil:

Ob daneben auch weitere artgemäße Bedürfnissewie insbesondere das Scharren und Picken, die un-gestörte und geschützte Eiablage, die Eigenkörper-pflege, zu der auch das Sandbaden gehört, oder daserhöhte Sitzen auf Stangen durch die in § 2Abs. 1 und 2 HHVO getroffenen Regelungen überdie Käfighaltung unangemessen zurückgedrängtwerden, kann offen bleiben.

Das heißt, das Urteil sagt darüber sinnigerweise nichtsaus. Es ist in dem Zusammenhang zwar wünschenswert,dass all diese Dinge umgesetzt werden, aber eine kon-krete Aussage wird dort nicht getroffen. Stimmen Siemir da zu?

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Priesmeier, Sie haben eben sehr schön dargelegt,

was alles möglich sein muss, nämlich das Scharren, dasPicken usw. Aber auch die Größe der Käfige muss artge-recht sein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Bei uns können die Hühner scharren und picken!)

Das, was Sie morgen auch mit den Stimmen der SPD imBundesrat beschließen wollen, ist nicht tierschutzge-recht, Herr Priesmeier; das ist eindeutig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es geht zum einen um die Fläche, aber es geht zum an-deren auch um das Flattern. Wie soll denn eine Henneflattern können, wenn sie in einem Käfig ist, der 45 bis50 Zentimeter hoch ist, wie sich das Ihre SPD-Kollegenaus Mecklenburg-Vorpommern und Herr Backhaus vor-stellen? Da bringt es auch nichts, vielleicht noch10 Zentimeter dazuzugeben, wie es Herr Seehofer will.Bei einer Höhe von 45, 50 oder 60 Zentimetern kannman nicht von einer Kleinvoliere sprechen.

Woher kommt denn der Begriff Voliere? Das kommtaus dem Französischen und bedeutet „fliegen“. Wie willman denn bei 60 Zentimetern Platz fliegen, HerrPriesmeier? Können Sie mir diese Frage einmal beant-worten? Das können Sie eben nicht. Trotzdem wollenSie morgen zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Priesmeier, ich bin hier wirklich sehr involviert.Sie wissen, dass morgen darüber abgestimmt wird, ob dieFrist für die Batteriekäfighaltung, die Sie wahrscheinlichgenauso verurteilen wie ich – ich hoffe, dass Sie das tun –,Ende dieses Jahres ausläuft oder ob sie um zwei Jahreverlängert wird. Herr Priesmeier, was sagen Sie dazu?Das ist das Gegenteil von artgerecht und das Gegenteildessen, was wir hier eigentlich beschließen sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIELINKE])

Ich sage das auch deshalb, weil es in Niedersachsen,diesem schönen Bundesland, in dem ich lange gewohnthabe, mit dem Einsatz von Nikotin bei der Massentier-haltung gerade wieder einen echten Skandal gibt. Wenn

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2730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Bärbel Höhn

es so ist, dass es Anfang dieses Jahres eine anonyme An-zeige gegeben hat, in der darauf hingedeutet wurde, dassdas Nikotin schon im letzten Jahr eingesetzt worden ist,und die Behörden das seit Anfang dieses Jahres wussten,dann frage ich mich, warum sie zweieinhalb Monate mitden Untersuchungen gewartet haben, bei denen sie dannimmer noch Nikotin gefunden haben.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Wenn man davon ausgeht, dass es dort über 1 MillionHennen gibt und jede dieser Hennen ein Ei pro Tag legt,dann wurden in zweieinhalb Monaten 100 Millionen bis150 Millionen nikotinbelastete Eier gelegt, die, wennwir Pech haben, auch in den Handel gekommen sind.Diese Art von Käfighaltung wollen Sie aufrechterhalten,Herr Priesmeier? Das kann doch wohl nicht Sinn der Sa-che sein. Wir sind dagegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Dieses Thema ist wichtig, aber es gibt noch ein anderesThema. Wir reden bei diesem Thema ja auch über dasEssen. Deshalb habe ich Ihnen etwas mitgebracht. Eierhaben ja auch etwas mit Ostern zu tun.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bekomme ich die?)

– Sie bekommen auch welche. Seit der Ausschusssit-zung sind Sie ja mein spezieller Freund. – Stellvertre-tend für Sie alle – für die Fraktionen habe ich auch nocheinige Eierpäckchen – überreiche ich dem Bundestagsvi-zepräsidenten einen Karton Eier, damit er weiß, wie Eiervon glücklichen Hühnern schmecken.

Vielen Dank fürs Zuhören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der LINKEN –Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und wir?)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich hoffe, das wird meinen Cholesterinspiegel nicht

erhöhen.

Als nächster Redner hat der Kollege Franz-JosefHolzenkamp von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Der Präsident des Deutschen Tier-schutzbundes hat in einem Vortrag im Jahre 2004 dasBestandsgefälle zwischen den großen Legehennenhal-tern und den kleinen und mittleren Betrieben als drama-tisch bezeichnet. Allein mit seiner kurzen Bestandsbe-schreibung betritt er ein ideologisches Minenfeld, aufdem sich auch die beiden Anträge von Bündnis 90/DieGrünen und der Linken bewegen.

Im Übrigen: Wir Landwirte, die jeden Tag mit denTieren arbeiten, sind nachhaltig an Tierschutz interes-

siert. Frau Höhn, Sie sollten mit den Unterstellungen, dieSie immer wieder machen, sehr vorsichtig sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das sind keine Unterstellungen!)

Die Botschaft, die in diesen Aussagen steckt, ist ein-fach: Ein großer Hennenhaltungsbetrieb mit einem ho-hen Technisierungsgrad ist schlecht, Freiland- und Bo-denhaltungsbetriebe mit wenig Technik sind gut. MeineDamen und Herren von Grün und von Links, wachen Sieendlich aus Ihrer Agrarromantik auf!

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Seien Sie vorsichtig! Wir können jetztmit Eiern schmeißen!)

Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen, wo esausreicht, ein paar lustig gackernden Hühnern morgensdie Eier aus dem Nest zu holen.

(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Das wissen wir! – Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!)

Genug der Ironie; denn Ihre Anträge sind alles andereals lustig. Wenn wir Ihre Forderungen umsetzten, wür-den auf einen Schlag – hören Sie jetzt bitte genau zu –etwa 40 000 Arbeitsplätze verloren gehen.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist geltende Gesetzeslage! Das hatder Bundestag beschlossen!)

Es geht um 40 000 betroffene Familien. Frau Höhn, Siehaben Recht: Sie sind tatsächlich das Schicksal der deut-schen Hühnerhalter.

Vor welcher Ausgangslage stehen wir? Die Globali-sierung macht auch vor der Agrarwirtschaft nicht Halt.Die Wettbewerber unserer Geflügelproduzenten stehendirekt vor unserer Tür.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Schauen Sie nach Polen oder in die Tschechei! Ich habemich erst kürzlich mit Gänsehaltern getroffen. Viele die-ser Betriebe haben fürchterliche Probleme; darüber ha-ben wir heute im Ausschuss gesprochen. Einige stehenkurz vor dem Aus. Der deutsche Verbraucher kauft ebenlieber die polnische Gans. Warum? Sie ist einfach billi-ger.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Holzenkamp, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Höfken?

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Selbstverständlich, Frau Höfken.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Holzenkamp, Sie haben gerade eine Schmährede

in Bezug auf Frau Höhn und die Grünen gehalten.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Er ist doch noch gar nicht fertig!)

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Ulrike Höfken

Ist Ihnen bekannt, dass das, was sich im Antrag der Grü-nen widerspiegelt, die geltende Gesetzeslage ist, der imÜbrigen die unionsgeführten Länder im Bundesrat zuge-stimmt haben? Deswegen kann dies mitnichten die Fol-gen haben, die Sie hier vollmundig beschreiben, etwaden Wegfall von 40 000 Arbeitsplätzen.

Ist Ihnen auch bekannt, dass sich ein Großteil der Ver-braucher inzwischen auf Boden- und Freilandeier um-gestellt hat? Bei der Warenhauskette Real zum Beispielkonnte der Absatz an Boden- und Freilandeiern von30 Prozent dauerhaft auf 70 Prozent gesteigert werden.

Ist Ihnen darüber hinaus bekannt, dass ein großer An-teil der Boden- und Freilandeier, deren Absatz sich inDeutschland verdoppelt hat, aus den Niederlanden undFrankreich kommt und Sie mit Ihrer dummen Politikverhindern, dass sich die deutschen Betriebe auf dieseMarktlücke einstellen und somit ein Hemmnis in derEntwicklung zu einer tiergerechten Produktion darstel-len?

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Erst einmal vielen Dank, Frau Höfken, für die Frage. –

Erstens, zur rechtlichen Situation. Verfolgen Sie meineweiteren Ausführungen; denn ich werde darauf einge-hen. Zweitens, zum Markt. Glauben Sie mir, ich habe je-den Tag mit dem Markt zu tun. Ich weiß, was Markt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Höfken[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist abereine schwache Antwort! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er-tappt! Ertappt!)

Gegen diese Marktmacht aus Größe und extrem nied-rigen Produktionskosten können wir nur bestehen, in-dem wir auch in Deutschland kostengünstig produzieren.Das hat eine ganze Menge mit der Größe einer Betriebs-einheit zu tun. Aber wir sind uns in einem Punkt voll-kommen einig: Die Ökonomie darf natürlich nicht aufKosten des Tierschutzes gehen. Die Herausforderung andie moderne Landwirtschaft liegt gerade darin, mit einerwettbewerbsfähigen Produktion in einer globalisiertenKonkurrenzsituation zu bestehen, ohne gleichzeitig dieberechtigten Ansprüche des Tierschutzes, des Verbrau-cherschutzes und des Umweltschutzes zu vernachlässi-gen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dieser Herausforderung hat sich die Geflügelwirt-schaft definitiv gestellt. Basierend auf dem Beschlussdes Bundesverfassungsgerichts hat sie unter Federfüh-rung der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft inCelle und der Tierärztlichen Hochschule Hannover übermehrere Jahre ein wissenschaftlich fundiertes Haltungs-verfahren, die so genannte Kleinvoliere, entwickelt. Andieser Stelle möchte ich ein Dankeschön an unseren Ko-alitionspartner richten, dass die Kleinvoliere jetztkommt. Ich sage ganz ehrlich, dass ich mir ein bisschenmehr gewünscht habe. Ein Wort zu den Grünen: WennSie weiter vom Käfig reden wollen, dann reden Sie mei-

netwegen vom Käfig. Für uns ist das eine moderne,nachhaltige und zukunftsträchtige Kleinvoliere.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Warum sage ich das? Die Studien der TierärztlichenHochschule Hannover sprechen eine sehr deutlicheSprache. Zusammengefasst lautet das Ergebnis, dass dieKleinvoliere in Bezug auf Tiergesundheit, das Verhaltender Tiere, Umweltbelastung, Tierbetreuung, Arbeits-platzqualität, Produktqualität und Produktionskosten denübrigen Haltungsformen deutlich überlegen ist.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ein Quatsch!)

Denken Sie nur an unser aktuelles Problem: dieVogelgrippe. Dabei wird deutlich, dass im Sinne desTier- und Verbraucherschutzes die Stallhaltung unver-zichtbar ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD – Bärbel Höhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist dochwirklich Unsinn!)

Es gibt sogar Altersheime, die auf Eier aus Bodenhal-tung verzichten.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das machensie, um zu sparen, nicht um den alten Leutenetwas Gutes zu tun!)

Die Ergebnisse der Forschungsinstitute belegen, dassdie Kleinvoliere nicht nur die Tierschutzkriterien derEU-Richtlinie erfüllt; sie geht sogar weit darüber hinaus.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Holzenkamp, erlauben Sie noch eine Zwischen-

frage der Kollegin Höhn?

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Ich möchte meine Ausführungen jetzt gerne zu Ende

bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Tierschutzkriterien, die die Kleinvoliere erfüllt,gehen weit über die Tierschutzkriterien der EU-Richtli-nie hinaus.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist ja wohl ein Gerücht!)

Deutschland nimmt bei der Kleinvolierenhaltung welt-weit eine Vorreiterrolle im Tierschutz ein. Vor diesemHintergrund erscheinen mir die Anträge der FraktionenDie Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen obsolet.Das ist auch wissenschaftlich bewiesen.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Ach! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie machen doch nur Lobbypoli-tik!)

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2732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Franz-Josef Holzenkamp

Erlauben Sie mir, auf einen weiteren Punkt aus demAntrag der Linken einzugehen. Sie stellen darin die Be-hauptung auf, dass tiergerechte Legehennenhaltung vonden Verbrauchern honoriert werde. Ich entkleide IhreWorte einmal des ideologischen Mäntelchens und for-muliere sie anders: Ihrer Meinung nach bevorzugt derVerbraucher bei seinem Kauf die teureren Eier aus Frei-land- und Bodenhaltung. Das ist – meinetwegen auchleider – schlichtweg falsch. Ich zitiere noch einmalHerrn Apel:

Es gibt nicht den Verbraucher. Aber es fällt auf,dass sich viele Verbraucher vor dem Supermarkt fürden Tierschutz aussprechen und im Supermarktdann eindeutig ins falsche Regal greifen.

Ich denke, Herr Apel hat damit zwar grundsätzlichRecht, zieht aber genau wie Sie die falschen Schlüsse.Die Menschen wollen zwar Tierschutz, aber er muss be-zahlbar bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Für uns heißt das: Wir müssen in unseren Betrieben diebestmöglichen Tierschutzstandards implementieren undweiterentwickeln und gleichzeitig allen VerbrauchernProdukte zu marktfähigen Preisen anbieten.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Deshalb kommen ja auch so viele Eieraus Holland und Frankreich!)

Ich will Betriebsformen und -größen nicht werten. Al-les hat seine Daseinsberechtigung. Aber die Daseinsbe-rechtigung wird letztlich am Markt entschieden.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Den machen Sie ja kaputt!)

Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, mit demplanwirtschaftlichen Vorschreiben der Betriebsform Ar-beitsplätze zu erhalten, geschweige denn, welche schaf-fen zu können. Doch genau das tun Sie in Ihren Anträ-gen, meine Damen und Herren von den Grünen und denLinken, frei nach dem Motto: „Weg mit den Großen, hermit den Kleinen“.

Liebe Genossinnen und Genossen – wie ich Sie andieser Stelle einmal anreden möchte –,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

das ist wirklich hohe marxsche Ökonomie. Wir alle wis-sen, dass das in der Vergangenheit schon nicht funktio-niert hat. So funktioniert Wirtschaft auch nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie glauben, in dem Modell der Schweiz, die die Kä-fighaltung seit 1991 verboten hat, den Heilsbringer ge-funden zu haben.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das war der Bundesrat! 2001!)

Das würde die deutsche Geflügelwirtschaft nicht nur si-chern, sondern sogar erweitern helfen. Von Frau Höhnwar heute in der „Frankfurter Rundschau“ die gleicheAussage zu lesen. Aber nur, weil zwei das Gleiche sa-

gen, wird es noch lange nicht richtig. Betrachten wirdoch einmal die Schweizer Realität: Der Marktanteil in-ländischer Eier kann nur über massive Subventionierungaufrechterhalten werden. Dort, wo die eidgenössischenplanwirtschaftlichen Gängelungen nicht greifen, näm-lich bei Eiprodukten, sind die Importe in die Schweizstark angestiegen.

Ein anderes Beispiel ist Schweden. Schweden prakti-zierte bekanntlich für einige Jahre das Verbot der Käfig-haltung. In der Boden- und Freilandhaltung nahmen dieProbleme von Kannibalismus und hoher Tiersterblich-keit derart überhand, dass Schweden das Verbot der Kä-fighaltung rückgängig gemacht und den modifiziertenKäfig wieder eingeführt hat. Wohlgemerkt, die neueschwedische Käfighaltung fällt in Sachen artgerechteHaltung hinter unsere deutsche Kleinvoliere zurück.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss.

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): In wissenschaftlichen Untersuchungen wird davon

ausgegangen, dass dann, wenn Ihre Anträge Realitätwerden, der Selbstversorgungsgrad mit Eiern inDeutschland von derzeit 70 auf 35 Prozent zurückgehenwird.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Holzenkamp!

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir expor-

tieren dann unsere Arbeitsplätze und importierenschlechtere Produkte, die wir selber viel besser herstel-len können. Gleichzeitig sinken die Tierschutzstandards.

Abschließend möchte ich noch Folgendes wiederho-len.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein, bitte nichts mehr wiederholen, Herr

Holzenkamp.

Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Es geht um 40 000 Existenzen und um Wirtschaftsin-

vestitionen. Stürzen Sie die Menschen nicht ins Un-glück!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael

Goldmann von der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Hans-Michael Goldmann (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir behandeln zu später Stunde auch den An-trag der FDP „Keine Wettbewerbsverzerrungen fürLandwirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie zur

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Hans-Michael Goldmann

Haltung von Nutztieren in nationales Recht“. Damit manweiß, worüber wir reden, eine kleine Erklärung: Ge-meint ist die Haltung von Tieren jeder Art, wieSchweine, Geflügel und Rinder. Es geht um Tierschutz,Wettbewerb und Arbeitsplätze.

Als wir in den Bundestagswahlkampf hineingingen,haben wir, die FDP, und die CDU/CSU das nationaleÜberziehen von Frau Künast massiv kritisiert. Ich habeVeranstaltungen erlebt, auf denen Frau Künast nicht zuWort gekommen ist, weil die Landwirte sie so sehr be-drängten und forderten: Das darf nur eins zu eins in na-tionales Recht umgesetzt werden. Die Oberkämpfer fürdiese Linie waren die Freunde von der CDU/CSU. Aberwas ist von euch geblieben? Morgen werden zwei Ver-ordnungen, mit denen europäisches Recht in nationalesumgesetzt wird, beschlossen, die weit über die europäi-sche Vorgabe hinausgehen.

(Beifall bei der SPD)

– Geschätzte Frau Kollegin Wolff, dass Sie klatschen,kann ich verstehen. Aber ich bin froh darüber, dass ichzumindest Betroffenheit bei den Kolleginnen und Kolle-gen der CDU/CSU auslöse.

Herr Schirmbeck, ob Sie es mir glauben oder nicht, esgeht mir an die Nieren, dass vor der Bundestagswahl undin einer Regierungserklärung von Frau Merkel etwasversprochen wird, dass aber dann auf Veranlassung vonHerrn Minister Seehofer und Frau Merkel im Bundesratetwas völlig anderes beschlossen wird. Mir geht es andie Nieren, dass auf unsere landwirtschaftlichen Be-triebe bei der Schweinehaltungsverordnung eine zu-sätzliche Belastung in Höhe von durchschnittlich65 000 Euro zukommt, und das vor dem Hintergrund derSchweinepest, eines absoluten Stillstands in Nordrhein-Westfalen. Das geht mir ans Herz. – Herr Holzenkamp,Sie sollten bitte zuhören. Ich wundere mich, dass dieKolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU lachen;denn Sie werden bestimmt zur Kenntnis genommen ha-ben, dass Sie morgen eine Legehennenverordnung be-schließen, die dazu beiträgt, Mecklenburg-Vorpommernvon jeder Form der Legehennenhaltung zu befreien. Umdas ganz klar zu sagen: Ihre Altanlagenregelung wirddazu führen, dass die Produktion nicht mehr in Mecklen-burg-Vorpommern stattfindet, sondern in unmittelbarerNachbarschaft, in Polen. Das bedeutet Arbeitsplatzver-luste in Deutschland.

(Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk[CDU/CSU]: Warum stimmen dann auch Län-der mit FDP-Beteiligung zu?)

Ihre antragsgebundene Verlängerung steht in krassemWiderspruch zu Ihren Aussagen zum Bürokratieabbau.Sie werden ein Bürokratiemonster erschaffen, das sei-nesgleichen sucht.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Goldmann, erlauben Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Klöckner?

Hans-Michael Goldmann (FDP): Ja, gerne.

(Zuruf von der CDU/CSU: Julia, mach ihn nieder!)

– Sie brauchen sie nicht aufzufordern, mich niederzuma-chen. Ich glaube, Sie haben das Thema des heutigenAbends nicht ganz verstanden.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Klöckner.

Julia Klöckner (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Goldmann, stimmen Sie mir zu,

dass morgen im Bundesrat auch FDP-mitregierte Bun-desländer diesem Antrag zustimmen und auch Sie betei-ligt sind?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der SPD)

Hans-Michael Goldmann (FDP): Geschätzte Frau Kollegin, wie Sie wissen, haben wir

in keinem der Länder, in denen wir mitregieren, die Re-gierungsverantwortung.

(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – HartmutKoschyk [CDU/CSU]: Was macht ihr dennda?)

– Warum lachen Sie so? Wissen Sie nicht, dass der Mi-nisterpräsident, der hier eine entscheidende Rolle spielt,der niedersächsische Ministerpräsident Wulff ist?

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Und warum sind Sie in der Regie-rung, wenn Sie nichts zu sagen haben?)

Wissen Sie nicht, dass der Ministerpräsident aus Baden-Württemberg hier eine ganz entscheidende Rolle spielt?

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und da habt ihr gar nichts zu melden?)

Wissen Sie nicht – das zum Thema Mitregieren –, dasswir uns heute Abend mit dem niedersächsischen Wirt-schaftsminister treffen, um zu retten, was in dieser Fragezu retten ist? Wissen Sie nicht, dass wir aus Südolden-burg, aus dem Emsland, aus der Region, aus der HerrHolzenkamp kommt, in Massen von Mails aufgefordertwerden, das zu verhindern, was Sie morgen im Bundes-rat beschließen?

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie auch! –Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie auch!)

– Warten wir das erst einmal ab! – Wissen Sie nicht, dassin der letzten Woche im Agrarausschuss eine Regelunggetroffen wurde, die wir mitgetragen haben? Wissen Sienicht, dass Herr Minister Seehofer diese Regelung umzwei Jahre vorgezogen hat und dass dies dazu führenwird,

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Darf ich mich setzen?)

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Hans-Michael Goldmann

dass wir Arbeitsmarktprobleme bekommen werden undder Tierschutz ins Ausland verlagert wird?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Goldmann, haben Sie die Frage der Frau

Klöckner beantwortet?

Hans-Michael Goldmann (FDP): Ich habe die Frage der Frau Klöckner relativ einfach

beantwortet.

(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. JuliaKlöckner [CDU/CSU] nimmt Platz)

Es war doch nicht so schwer zu verstehen, dass wir Re-gierungsbeteiligungen haben, Frau Kollegin Klöckner,und dass Sie – –

(Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU] erhebt sich wieder)

– Frau Klöckner, Sie brauchen sich jetzt nicht so zu be-nehmen.

(Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Abg.Julia Klöckner [CDU/CSU] nimmt wiederPlatz und meldet sich zu einer weiteren Zwi-schenfrage)

Sie sind ja sonst sehr angriffsfreudig.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Goldmann, erlauben Sie eine weitere

Zwischenfrage der Kollegin Klöckner?

Hans-Michael Goldmann (FDP): Ja, gerne. Aber ich will erst einmal die erste Frage be-

antworten.

(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Würden Sie, geschätzte Frau Kollegin Klöckner, ineiner solchen Situation, zum Beispiel beim Weinabkom-men, die Koalitionskarte ziehen? Haben nicht auch Siebeim Weinabkommen, das Rheinland-Pfalz nicht unbe-dingt nach vorne bringt – als ehemalige Weinköniginwerden Sie das wissen –, dafür plädiert, dass wir eineeuropäische Regelung bekommen, die der InteressenlageIhres Landes und dem internationalen Wettbewerb Rech-nung trägt?

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also keine Eins-zu-eins-Umsetzung?)

Sie sollten hier nicht die Verantwortung abschieben. Siehaben „eins zu eins“ versprochen und Sie machen mor-gen ganz eindeutig nicht „eins zu eins“. Das ist Wahlbe-trug und das wissen Sie ganz genau.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Klöckner, bitte schön. Aber ich bitte jetzt um

eine kurze Frage und auch um eine kurze Antwort.

Hans-Michael Goldmann (FDP): Da können Sie sicher sein.

(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte.

Julia Klöckner (CDU/CSU): Ich muss sagen, ich bin etwas irritiert. Zuerst haben

Sie, Herr Kollege Goldmann, gesagt, Sie hätten dieFrage einfach beantwortet, und dann wollten Sie sie be-antworten, weil sie noch nicht beantwortet war. Das irri-tiert etwas.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr Problem!)

Eine kurze Nachfrage: Gehe ich recht in der An-nahme, dass Ihre Aussage dahin geht, dass in einer Ko-alition von zwei Partnern der Juniorpartner nicht in Re-gierungsverantwortung steht, sondern nur der großePartner?

Hans-Michael Goldmann (FDP): Wir gehen davon aus, dass wir in Regierungsmitver-

antwortung stehen. Das reicht uns.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufevon der CDU/CSU: Ah! – Mechthild Rawert[SPD]: Sonst wäre es doch Wahlbetrug!)

Aber, liebe Frau Klöckner, wir sind hier, wie Sie wissen,nicht im Bundesrat, sondern im Bundestag. Es ist schonsehr interessant, wie Sie nachher abstimmen werden.Wir haben einen Antrag eingebracht. – Frau Klöckner,hören Sie doch wenigstens zu! Sonst haben Sie es wiedernicht verstanden.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich habe es ver-standen, Sie nicht!)

Wenn Sie unseren Antrag gelesen haben – ich nehme an,Sie haben ihn gelesen; er ist ja nicht sehr lang –, werdenSie festgestellt haben, dass darin steht: europäische Vor-gabe eins zu eins in nationales Recht umsetzen. Sie ha-ben bei mindestens fünfzig Wahlveranstaltungen vor derBundestagswahl gesagt,

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war nicht die Frage!)

dass Sie für eine Eins-zu-eins-Umsetzung sind.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war eine kurze Antwort!)

Deswegen sage ich hier ganz klar: Sie haben in dieserFrage Wahlbetrug begangen und sonst überhaupt nichts.

(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)

Es gibt in dieser Regelung, die möglicherweise mor-gen im Bundesrat zum Tragen kommt, einen Punkt, denSie, liebe Frau Höhn, nicht so kritisch sehen sollten, wieSie es getan haben. Dabei geht es um die Kleinvoliere.

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Hans-Michael Goldmann

Wir sind mit Ihnen völlig einer Meinung: Der alte Käfigmuss verschwinden; das ist überhaupt keine Frage.

(Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Frau Höhn, das haben wir immer gesagt.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und warum sind Sie dann für eine Ver-längerung?)

– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, dannsollten Sie sich dazu melden. Ansonsten müssen Sie sichnoch eine Minute das anhören, was ich sagen möchte.

Ich habe schon Ihrer Kollegin, Frau Künast, gesagt:Käfig ist nicht gleich Käfig. Mit einer solchen Aussageblamieren Sie sich im Grunde genommen. Sie wissenganz genau, dass es auf die Ausgestaltung der Haltungankommt. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht ge-sagt, dass Käfige verboten sind. Das Bundesverfassungs-gericht hat gesagt: Man muss eine tierartgerechte Hal-tungsform finden. – Sie haben das Aufständern, dasScharrvermögen und die Eiablage angesprochen. Wenndie Käfigform den Kriterien der tierartgerechten Haltungentspricht, dann ist artgerechte Haltung möglich. Wasdie Kleinvoliere angeht, machen wir uns auf den Weg zumehr artgerechter Haltung.

(Beifall bei der FDP)

Sie wissen ganz genau, dass die Werte 60 ZentimeterHöhe – was die Kleinvoliere angeht, wird morgen mög-licherweise ein entsprechender Beschluss gefasst – und800 Quadratzentimeter Bodenfläche fachwissenschaft-lich als artgerecht gelten. Deswegen sollten Sie hier mei-ner Meinung nach keinen Nebenkriegsschauplatz eröff-nen. Vielmehr sollten Sie schlicht und ergreifend sagen:Das, was morgen beschlossen wird, ist zwar mit Sicher-heit keine Eins-zu-eins-Umsetzung, aber es ist weiß Gotteine Weiterentwicklung der bisherigen Käfigbedingun-gen. Dies bedeutet einen verbesserten Tierschutz.

(Beifall bei der FDP – Peter Bleser [CDU/CSU]: Was haben wir denn gesagt?)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm

Priesmeier von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Man kann die Problematik der Hennen-haltung unter den verschiedensten Aspekten diskutieren.Ein wichtiger Aspekt sind natürlich ethische Vorgabenfür die Nutztierhaltung. Der Tierschutz ist dabei ein ho-hes Gut. Es kommt aber auch darauf an, die unterschied-lichen Interessen gegeneinander abzuwägen. UnserenNutztieren nutzt letztendlich nur der hohe Tierschutz-standard, den wir in Deutschland haben. Uns nützt derTierschutz in anderen europäischen Ländern, wo er un-

ter Umständen nicht oder nicht in diesem Maße betrie-ben wird, überhaupt nichts.

(Beifall des Abg. Dr. Gerhard Botz [SPD])

Er nützt auch dem Konsumenten nichts.

Wir haben hier lange Zeit darüber diskutiert. Einemeiner ersten Reden in diesem Hohen Hause hatte dieHennenhaltung zum Thema. Das zeigt, wie lange wiruns damit schon beschäftigen. Mittlerweile haben einigehistorische Ereignisse stattgefunden, zum Beispiel derOsnabrücker Hühnerfrieden,

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl! Historisch!)

der nicht gehalten hat. Der Bundesrat hat am19. Dezember 2004 einen Beschluss gefasst, der genaudas beinhaltet, was morgen im Bundesrat mit einigerWahrscheinlichkeit wiederum beschlossen werden wird.Den damaligen Gesetzentwurf hat Ministerin Künastnicht unterschrieben. Man kann sich darüber streiten, obwir zwei Jahre verloren haben. Ich glaube, ja. Man hättediesen Schritt schon vor zwei Jahren vollziehen können.

Wenn man einen Vergleich zieht zwischen dem aus-gestalteten Käfig, der Voliere, der Hühner-WG – wieauch immer man das nennen mag; ich will das jetzt nichtverniedlichen –, und dem, was 1999/2000 in diesem Be-reich Standard war, der erkennt sehr wohl, dass erhebli-che Fortschritte gemacht worden sind. Jedes der zurzeitexistierenden Hennenhaltungssysteme ist durch Inten-sität gekennzeichnet und mit Vor- und Nachteilen verse-hen. Jedes solche System bringt spezifische Problememit sich. Ein System hat zwar den Nachteil, dass dieHühner einen eingeschränkten Bewegungsraum habenund auf Gitterdraht gehalten werden, dafür aber den Vor-teil, dass bestimmte Standards im Bereich Hygiene– Stichwort „Keimfreiheit“ und „Schutz vor bestimmtenKrankheiten“ – eingehalten werden können. Ein anderesSystem, das der Boden- und Freilandhaltung, ist demProblem der Koprophagie ausgesetzt: Hühner neigendazu, ihre Ausscheidungen zu fressen, und dadurch gibtes ganz bestimmte Erkrankungen und Krankheitssymp-tome.

Wir haben zur wissenschaftlich exakten Beurteilungsolcher Systeme keine Kriterien, mit denen man dasWohlbefinden und das Wohlverhalten von Hühnern imKäfig messen kann.

Also müssen wir uns an Kriterien orientieren, die ob-jektivierbar sind. Das sind zum einen die Mortalität undzum anderen der Gesundheitszustand. Insofern gibt esbei der bisherigen Freiland- oder auch BodenhaltungVorteile, aber auch noch erhebliche Probleme. Das giltes gegeneinander abzuwägen. Es gilt auch, eine vernünf-tige Entscheidung dazu zu treffen, wohin man sich inZukunft bewegen möchte.

Wir wollen demnächst – im Augenblick sind von etwa38 Millionen Hühnern noch 30 Millionen in Systemenmit eingeschränkter Bewegungsmöglichkeit – zumindest50 Prozent in die Boden- und oder Freilandhaltungbekommen – mit all den Schwierigkeiten, die in dem Zu-sammenhang noch zu bewältigen sind; denn an sich müssen

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Dr. Wilhelm Priesmeier

alle drei Systeme weiterentwickelt werden. Sie bedürfenbei ihrer Entwicklung einer erheblichen wissenschaftli-chen und auch wirtschaftlichen Unterstützung.

Es kommt auch darauf an – das habe ich letzte Wochevon der großen Tierschutzkonferenz der Kommission inBrüssel mitgenommen –, dass wir in Europa an vorders-ter Stelle stehen, dass wir diese Standards, die erheblichüber dem liegen, was im Jahr 2012 auf der EU-Ebeneverpflichtend sein wird, weiter ausbauen und im Rah-men des Aktionsplans Tierschutz versuchen – das regeich gegenüber der Bundesregierung an –, diese Stan-dards auf der europäischen Ebene zu etablieren, damit esdort nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.

Fakt ist, dass wir die Nachfrage von Verbrauchern– dabei geht es um die Schaleneier, die im Laden ver-kauft werden – aus Freiland- oder Bodenhaltung befrie-digen können. Dass wir aus den anderen EU-Ländernoder aus dem sonstigen Ausland Eier aus Boden- oderFreilandhaltung importieren, liegt häufig daran, dass un-sere Preise von Anbietern aus diesen Ländern unterbotenwerden. Es gibt natürlich die Möglichkeit, Eier zu im-portieren; das ist ja ein ganz normaler Markt.

Es geht auch um den Bereich der Verarbeitung vonSchaleneiern zu Eiprodukten. Diesen Bereich gibt es inder Schweiz nicht mehr. In der Schweiz liegen ganz be-sondere Konstellationen vor. Deshalb kann man dieSchweiz in der Geflügelhaltung nicht zum Modell fürDeutschland machen, auch nicht zum Modell für dieNiederlande oder für Belgien.

Mit dem, was wir morgen hoffentlich als Beschlussdes Bundesrates bekommen werden, werden wir zu-nächst einmal ein System etablieren, was nicht statischist, was also nicht dauerhaft festgeschrieben wird, son-dern mit dem wir das umsetzen, was wir im Koalitions-vertrag vereinbart haben und was uns Sozialdemokratennatürlich sehr am Herzen liegt, nämlich den Tierschutz-TÜV, also eine Prüfung von industriell hergestelltenHaltungssystemen nach entsprechenden Kriterien unterBeteiligung von Tierschützern, Ethologen, Beteiligtenaus der Produktion und Herstellern. Es wird eine Syste-matik etabliert, wie sie die Schweiz schon hat und wiesie demnächst auch Österreich haben wird; in Österreichgibt es nämlich ein neues Tierschutzgesetz, in dem dasebenfalls geregelt wird. Da befinden wir uns, glaube ich,auf einem ganz guten Weg.

Es geht darum, die Entwicklung von Haltungssyste-men nicht aus einer emotionalen Ebene heraus zu be-trachten, sondern zu versuchen, das anhand von wissen-schaftlichen Kriterien fassbar zu machen. Es nützt unswenig, wenn wir in dieser Gesellschaft im Einzelfall ausder Kuscheltierperspektive darüber diskutieren, wasdenn – vermeintlich – die Bedürfnisse von Tieren sind.Die Hühner, die heute gehalten werden, sind nicht mehrmit dem Bankivahuhn zu vergleichen, das vor1 000 oder 2 000 Jahren irgendwo in Indien mal amWaldrand gesessen hat. Heute haben wir hoch gezüch-tete Rassen, die unter bestimmten Bedingungen anbestimmte Verhältnisse adaptiert sind, die aber selbstver-ständlich einen großen Teil ihrer normalen Verhaltens-weisen behalten. Darauf muss man Rücksicht nehmen;

denn Tiere, die nicht artgerecht gehalten werden, liefern,ökonomisch gesehen, natürlich nicht die entsprechendenProdukte und Ergebnisse.

Wir kommen schon wesentlich weiter, wenn es unsgelingt, unter dem Aspekt der artgerechten Tierhaltungentsprechende Kennzeichnungen für den Verbrauchervorzunehmen. Aber es hilft nicht viel weiter, hier erregteDiskussionen zu führen und uns vorzustellen, dass spä-testens am 31. Dezember 2006 30 Millionen Hennen ab-geschlachtet werden müssen. Wenn das der Fall wäre,müssten alle Geflügelschlachthöfe in Deutschland wahr-scheinlich wochenlang im Dreischichtbetrieb Überstun-den fahren. Das können wir nicht leisten und das wirdauch niemand verlangen.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist Quatsch!)

Aber auch, wenn unser Selbstversorgungsgrad we-sentlich sinkt, wird die Nachfrage nach Eiern in Europanicht plötzlich um das Doppelte ansteigen. Das hat Aus-wirkungen auf den Markt, auf das Preisgefälle, auf dieArbeitsplätze, auf den vor- und nachgelagerten Bereich.Das Argument, dass Bodenhaltung oder Freilandhaltungarbeitsintensiver ist, trifft zu. Aber dafür werden durchdie Produktion im vor- und nachgelagerten Bereich we-sentlich mehr Arbeitsplätze gesichert als in dem primä-ren Bereich allein.

Der Bereich ist sehr differenziert zu sehen, auch hin-sichtlich der Größenordnung. Ich glaube, jeder, der sichin Zukunft engagieren möchte, hat eine Chance. Dazuwerden entsprechende Programme aufgelegt, zum einenfinanziert aus dem Haushalt 2006, zum anderen aberauch über die Rentenbank oder die GhK, sodass Be-triebe, die auf Bodenhaltung umsteigen wollen, finan-zielle Unterstützung finden und entsprechende Perspek-tiven im Markt erwarten können. Aber es kommt auchdarauf an, die Standards letztendlich nicht zu zementie-ren, sondern weiterzuentwickeln.

In diesem Sinne, meine lieben Kolleginnen und Kol-legen, lassen Sie uns gemeinsam an der Verbesserungdes Tierschutzstandards in Deutschland arbeiten. Dasind weder die Hennenhaltung noch andere Bereicheausgeschlossen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter

von der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Leider zu später Stunde soll über das Schicksal von39 Millionen Legehennen diskutiert werden.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die sitzen schon lange auf der Stange!)

Inzwischen ist die Frage, ob Legehennen in Käfigen le-ben sollen und wie groß diese dann sein sollen, zu einer

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Eva Bulling-Schröter

Glaubensfrage hochstilisiert worden. Es ist aber keineGlaubensfrage. Schließlich hat sich das Bundesverfas-sungsgericht dazu schon im Jahre 1999 – das ist siebenJahre her, meine Damen und Herren – eindeutig geäußert:Eine artgerechte Unterbringung muss den grundlegendenVerhaltensbedürfnissen von Hühnern entsprechen.

(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hatdoch Herr Priesmeier schon widerlegt! HabenSie das nicht gehört?)

Das heißt – es wurde schon zitiert –: scharren, picken,sandbaden sowie erhöht auf Stangen sitzen, ungestörteund geschützte Eiablage, sich aufbäumen.

Ich verstehe nicht, meine Damen und Herren, warumSie sich da jetzt so aufregen und was daran missver-ständlich ist. Ich verstehe erst recht nicht, warum geradedieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts immer wie-der in Zweifel gezogen wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei anderen Urteilen tun Sie das nicht; die nehmen Sieso hin.

Damals bei der Anhörung im Bundestag – ich war da-bei – wurden genau die gleichen Argumente vorgetra-gen. Daran hat sich nichts geändert. Aber sie werdennicht richtiger, wenn sie immer wieder neu hervorge-kramt werden.

Immer wieder wird das Festhalten an den Hühnerkäfi-gen mit der notwendigen Wettbewerbsfähigkeit be-gründet; sonst würde die Eierproduktion ins Auslandwandern. Solche Argumente höre ich zu jedem x-belie-bigen Thema, zum Beispiel AEG: Wenn ihr nicht billi-ger werdet, verlagern wir die Produktion ins Ausland.

(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIELINKE] – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das istdoch leider schon lange Fakt!)

Herr Holzenkamp hat sich dieses Arguments wieder be-dient. Er hat sogar Karl Marx zitiert.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Herr Holzenkamp, ich kann Ihnen nur sagen: Zu KarlMarxens Zeiten gab es noch keine Hühnerlegebatterien,der konnte sich nicht geäußert haben.

(Beifall bei der LINKEN – Peter Bleser [CDU/CSU]: Die Kommunisten haben die schlimms-ten Hühnerkäfige!)

Natürlich werden Eier im Ausland billiger produziert.Aber den Wettbewerb um das billigste Ei werden wir so-wieso verlieren. Wir können auch noch einmal über denMindestlohn in Europa diskutieren;

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das hat damit gar nichts zu tun!)

er ist dringend notwendig. Wenn in großen Hühnerlege-batterien in Niederbayern den Leuten die Löhne gekürztwerden, dann ist das eine Sauerei.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Dann zahlen Sie doch für ein Ei 3 Euro!)

Andererseits importiert Deutschland inzwischen Millio-nen von Eiern aus artgerechter Haltung aus Ländern wieden Niederlanden.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Bulling-Schröter, erlauben Sie eine

Zwischenfrage des Kollegen Schirmbeck?

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ja.

Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin, Sie haben gerade Karl Marx

zitiert. Stimmen Sie mir zu, dass es ein Ergebnis der mo-dernen Landwirtschaft, die Sie kritisieren, ist, dass sichheute alle Arbeiter in Deutschland täglich ein Früh-stücksei und regelmäßig ein Stück Fleisch leisten kön-nen? Das ist etwas, wovon man zu Zeiten von Karl Marxgar nicht zu träumen gewagt hätte.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich stimme Ihnen zu, dass sich Arbeiterinnen und Ar-

beiter Eier und Fleisch leisten können. Aber unabhängigdavon denke ich, dass diese Menschen Eier und Fleischaus tiergerechter Haltung wollen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]:Aber zum selben Preis! – Julia Klöckner[CDU/CSU]: Wenn sie das bezahlen können!)

Die Holländer haben die Zeichen der Zeit erkannt undeben schon eher umgestellt. Denn sie wissen, dass im-mer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher genau hin-sehen, wie die Lebensmittel, die sie kaufen, produziertwerden.

Ich frage die Befürworter der Batteriehaltung: Se-hen Sie nicht eine Chance, hier Marktanteile zurückzu-gewinnen, indem genau die Lebensmittel produziertwerden, die die Mehrheit der Verbraucherinnen und Ver-braucher wünscht?

Wir reden jetzt einmal über Preise. Sachverständigehaben uns die Preisdifferenz genannt: Ein Ei aus tierge-rechter Haltung ist, wenn alles gut läuft, um 0,4 Centteurer. Ich bitte Sie! Wir reden also nur über 0,4 Cent.Natürlich nimmt gerade unsere Fraktion die Angst vordem Verlust von Arbeitsplätzen sehr ernst.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha! – Peter Bleser [CDU/CSU]: Aber?)

Aber wir müssen auch mittel- und langfristig denken:Eine artgerechte Haltung von Legehennen schafft mehrArbeitsplätze und bessere Arbeitsbedingungen.

(Beifall bei der LINKEN)Sie bietet die Möglichkeit zu einer regionalen Vermark-tung.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Die Eiersind dann so teuer, dass sich die Arbeiter keinemehr leisten können! – Weitere Zurufe von derCDU/CSU)

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2738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Eva Bulling-Schröter

– Es gibt dazu sogar ein Programm der CSU. Warum re-gen Sie sich also darüber auf? – Auch wir wollen dieseregionale Vermarktung.

(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])

Um dies zu unterstützen fordern wir in unserem An-trag, die vom Bundestag beschlossene Förderung dertiergerechten Geflügelhaltung ohne Einschränkung bei-zubehalten. Gerade in den neuen Bundesländern wurdenim Geflügelbereich schon in den 90er-Jahren Investitio-nen getätigt. Wir möchten nicht, dass diese Firmen durchdie Umstellung in Existenzschwierigkeiten geraten.Auch sie sollen die Möglichkeit erhalten, über Sonder-kreditprogramme die Haltung der Tiere auf artgerechteHaltungssysteme umzustellen. Das bedeutet für uns ebennicht Kleinvolieren.

Mein Kollege Wunderlich – er ist Jurist – hat es ein-mal ausgerechnet. Ein Huhn mit einem Gewicht von2 Kilo soll auf 800 Quadratzentimetern leben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das bedeutet für einen Mann mit einem Gewicht von

90 Kilogramm, dass ihm, wenn Sie so entscheiden, inZukunft 3,6 Quadratmeter zum Wohnen zustehen.

(Beifall bei der LINKEN – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Aber er legt keine Eier!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/839 und 16/1128 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Zusatzpunkt 7. Es geht um die Beschlussempfehlungdes Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz auf Drucksache 16/1142 zu dem Antragder Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Wettbewerbs-verzerrungen für Landwirte durch die Umsetzung derEU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationalesRecht“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-sache 16/590 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen sowie der Fraktion Die Linke mit einer Enthal-tung und gegen die Stimmen der FDP angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten GiselaPiltz, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Gegen rechtsstaatsfreie Räume – Sicherheits-überprüfungen im Rahmen von Akkreditie-

rungsverfahren bedürfen einer Rechtsgrund-lage

– Drucksache 16/577 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten SilkeStokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), MonikaLazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Kein Generalverdacht bei den Sicherheits-überprüfungen zur Fußballweltmeisterschaft2006

– Drucksache 16/686 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales

Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden1).Es handelt sich um die Wortmeldungen der KolleginBeatrix Philipp von der CDU/CSU, des KollegenWolfgang Gunkel von der SPD, der Kollegin GiselaPiltz von der FDP, der Kollegin Ulla Jelpke von der Lin-ken und der Kollegin Silke Stokar von Neuforn vomBündnis 90/Die Grünen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/577 und 16/686 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten EkinDeligöz, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Kinderrechte in Deutschland vorbehaltlos um-setzen – Erklärung zur UN-Kinderrechtskon-vention zurücknehmen

– Drucksache 16/1064 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

1) Anlage 7

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2739

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Josef Winkler vom Bünd-nis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Deutsche Bundestag hat bereits mehrfachdie Rücknahme der Erklärung zum Übereinkommenüber die Rechte des Kindes, der so genannten UN-Kin-derrechtskonvention, gefordert, welche die damaligeBundesregierung bei der Ratifizierung 1992 hinterlegthat. Diese Beschlüsse des Deutschen Bundestages sindbislang von der Regierung nicht umgesetzt worden.

(Ina Lenke [FDP]: Auch nicht von der rot-grü-nen!)

– Das ist richtig, Frau Lenke.

(Ina Lenke [FDP]: Genau!)

Gestern jährte sich der Tag des In-Kraft-Tretens derKinderrechtskonvention zum 14. Mal. Die Bundesregie-rung muss diesen längst überfälligen Schritt endlichvollziehen. Dies ist das Anliegen des von meiner Frak-tion vorgelegten Antrags.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Interesse des Wohls aller hier lebenden Kinder so-wie um einer glaubwürdigen Kinderpolitik willen istdie Aufrechterhaltung der Vorbehaltserklärung nicht ver-tretbar. Auch die außenpolitische Glaubwürdigkeit derBundesrepublik im Hinblick auf die konsequente Umset-zung von Kinderrechten ist durch die Erklärung erheb-lich beeinträchtigt.

(Ina Lenke [FDP]: Da war doch der Fischer! Sie hatten doch einen Außenminister!)

– Frau Lenke, das können Sie doch gar nicht bestreiten.Regen Sie sich nicht so auf! Stellen Sie mir eine Zwi-schenfrage! Dann habe ich ein bisschen mehr Redezeit.Vier Minuten sind kurz.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Josef, net hudle!)

Um welche konkreten Rechte geht es denn hier? DieHandlungsfähigkeit im Asylverfahren soll mit 18 Jah-ren und nicht wie bisher mit 16 Jahren beginnen. AlsFolgewirkung daraus würden unbegleitete minderjährigeFlüchtlinge in diesem Alter aus dem Flughafenverfahrenherausfallen, nicht mehr in Sammelunterkünfte mit ih-nen völlig unbekannten, anderen, fremden Flüchtlingenuntergebracht werden und würde die Drittstaatenrege-lung auf sie keine Anwendung finden. Sie würden statt-dessen einer Jugendhilfeeinrichtung als Clearingstellezugeführt werden.

Minderjährige Flüchtlinge sollen Anspruch auf dieGewährung von Kinder- und Jugendhilfe haben, undzwar unabhängig von ihrem Status. Das betrifft vor al-lem Kindersoldaten und traumatisierte Flüchtlinge, eineGruppe, die uns besonders am Herzen liegen muss. Au-

ßerdem soll keine Abschiebehaft mehr für minderjährigeFlüchtlinge verhängt werden dürfen.

Deswegen halte ich es für anachronistisch, dass dieBundesregierung so wie die Vorgängerregierung – damitSie nicht wieder dazwischenrufen müssen – unverändertden Standpunkt vertritt, dass eine Rücknahme des so ge-nannten Vorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention le-diglich symbolischen Charakter hätte und von dahernicht notwendig sei.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kollege Winkler, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Lenke?

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Ja, gerne.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön.

Ina Lenke (FDP): Herr Kollege, Sie haben sehr schamhaft verschwie-

gen, dass es in den letzten sieben Jahren eine rot-grüneBundesregierung gab.

(Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das weiß ja keiner! – KristaSager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daswar kein Geheimnis!)

Ich würde gerne von Ihnen wissen, warum Ihre Fraktion,die den Außenminister gestellt hat, in dieser Koalitionbei zwei Koalitionsverträgen, die Sie geschlossen haben,nicht die Kraft hatte, dies durchzusetzen. Jetzt sind Sie inder Opposition. Wieso konnte das nicht geschehen, alsIhre Fraktion und damit Sie persönlich an der Bildungder Bundesregierung beteiligt waren?

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Das ist eine sehr interessante Frage, die Sie da auf-werfen, Frau Kollegin.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ich freue mich, darauf antworten zu können. Die Tatsa-che, dass der Außenminister von unserer Partei gestelltwurde, ist sicherlich richtig. Das hat auch eine nachhal-tige Wirkung hinterlassen.

(Ina Lenke [FDP]: Bei mir nicht!)

Wir waren in der Regierungsverantwortung. Im Gegen-satz zu dem, was Herr Goldmann eben gesagt hat, stelleich fest: Wenn wir in der Regierung sind, stehen wir füralle Ressorts nicht nur in der Mitverantwortung, sondernauch in der Gesamtverantwortung.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut! Mutig! Du bist ein Bekenner!)

Ich habe gesagt: Das Parlament war sich einig, und zwarfraktionsübergreifend.

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2740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Josef Philip Winkler

Den Innenminister haben wir leider nicht gestellt, wo-bei das „leider“ nicht von allen geteilt wird.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: An Schilyhabt ihr euch die Zähne ausgebissen! Das istwahr!)

Das Innenministerium hat sich auf die Rechtsposition,dass es hier um eine Vereinbarung, die man mit den Län-dern abgeschlossen habe, gehe, zurückgezogen: Manstünde dort im Wort und könne es deshalb nicht zurück-nehmen. Wenn ein Minister wie Schily meint, er stündeim Wort, dann kann man sich als Fraktion auf den Kopfstellen, selbst wenn es Kabinettsmitglieder gibt, die viel-leicht körperlich nicht in der Lage sind, dies auch zu tun.

(Heiterkeit)

Trotzdem kann man es dann nicht durchsetzen. Ichdenke, damit ist die Frage – hoffentlich zufriedenstel-lend – beantwortet.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Herr Schily war halt näher bei HerrnBeckstein!)

Meine Fraktion teilt den Standpunkt, den die Bundes-regierung unverändert einnimmt, jedenfalls nicht. Wirstellen uns an die Seite der Kinderrechtsverbände und-organisationen, die seit langem – seit 14 Jahren – vehe-ment die Rücknahme der Vorbehaltserklärung einfor-dern.

Es ist wirklich peinlich, wenn uns die Vereinten Na-tionen – die Staatenkonferenz – bereits zum zweiten Maleine Abmahnung erteilen und sagen: In Deutschlandhaben nicht alle Kinder einheitliche Rechte; deutschenKindern werden andere Rechte als ausländischen Flücht-lingskindern gewährt. Das ist ein unhaltbarer Zustand.Das muss unbedingt geändert werden!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Meine Damen und Herren von der großen Koalition– ich spreche jetzt einmal beide Regierungsfraktionenan, muss allerdings angesichts der neuen Situation einbisschen mit dem Kopf wackeln –, der von Ihnen ange-nommene Nationale Aktionsplan „Für ein kinderge-rechtes Deutschland“ schließt bisher die Flüchtlingskin-der von der dort angepeilten Kinderfreundlichkeit aus.Meine Fraktion hinterfragt deshalb sehr ernsthaft, ob Siees mit diesem Nationalen Aktionsplan wirklich ernstmeinen.

Ich meine, wir dürfen nicht länger zwischen Kindern,die Flüchtlinge sind, und deutschen Kindern unterschei-den. Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie endlich die Vorbe-halte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurück.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Katharina Landgraf

von der CDU/CSU-Fraktion.

Katharina Landgraf (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrte Damen und Herren der Fraktion der Grünen, gleichzu Beginn ein offenes Wort an Sie: Bei der Erarbeitungdes vorliegenden Antrages haben Sie sich offenbar in derSchublade vertan. Bereits der gewählte Titel „Kinder-rechte in Deutschland vorbehaltlos umsetzen – Erklä-rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen“ist in höchstem Maße irreführend.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Letztlich wird damit im Umkehrschluss behauptet, dassdie Kinderrechte in Deutschland nicht oder nicht vorbe-haltlos umgesetzt werden.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Logisch! – Dr. Ilja Seifert [DIELINKE]: Stimmt ja auch!)

Mit diesem Antrag stellen Sie die Bundesregierung,stellen Sie Deutschland in eine Ecke, wo sie – die Bun-desregierung und unser Vaterland – gar keinen Platz ha-ben und auch nicht haben wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie sollten etwas vorsichtiger und bedachter mit knackigklingenden Titeln von Anträgen umgehen. Die Forde-rung, Kinderrechte „vorbehaltlos“ umzusetzen, klingt imersten Moment echt gut, fast wie „bedingungslos“. Hof-fentlich ist nicht „verantwortungslos“ gemeint. „Vorbe-haltlos“ verbindet sich schnell mit „unkritisch bedin-gungslos“.

Wenn es um Kinderrechte und deren Einhaltung geht,können wir eigentlich nur verantwortungsvoll handeln.Das tun wir auch. Die Erklärung ist Ausdruck der Ver-antwortung, die Deutschland bei der Anwendung derUN-Kinderrechtskonvention übernimmt. Dass die Bun-desregierung damals im Konsens mit den Bundesländerndie Erklärung abgegeben hat, war gut so, denn dadurchwurden Fehlinterpretationen der Gesetze verhindert.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das kann ich wirklich nicht tei-len!)

Ein Vergleich der Regelungen der UN-Kinderrechtskon-vention mit der derzeitigen Gesetzeslage ergibt, dass dieVorbehalte aufrechterhalten bleiben müssen, um Fehl-interpretationen tatsächlich zu verhindern.

Die UN-Kinderrechtskonvention bezieht innerstaatli-che Bereiche ein, für die ausschließlich die Bundeslän-der zuständig sind.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!)

Das ist doch wohl der springende Punkt. Demnach sinddie Haltung und die faktische Betroffenheit der Bundes-länder für die Aktionsmöglichkeiten der Bundesregie-rung von ausschlaggebender Bedeutung. Ohne Bundes-länder geht es hier nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch deshalb sollten wir deren Bedenken sehr ernstnehmen, um endgültig Klarheit in der Frage der richti-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2741

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Katharina Landgraf

gen Anwendung der UN-Kinderrechtskonvention zu er-reichen.

Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Vorbehaltserklä-rung sachgerecht ist, dass die Konvention keine unmit-telbar einklagbaren Rechte der Kinder enthält, sondernausschließlich eine völkerrechtliche Verpflichtung derVertragsstaaten darstellt.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Innenminister von Bund und Ländern sind sich ei-nig, dass in Deutschland die Vorgaben aus der UN-Kin-derrechtskonvention vollständig erfüllt sind. Mit demam 1. Juli 1998 in Kraft getretenen Gesetz zur Reformdes Kindschaftsrechtes wurde eine Regelung geschaffen,die dem Wohl der Kinder besser gerecht wird. Zusätzlichmöchte ich hier hervorheben, dass in Deutschland dasKindeswohl an erster Stelle steht und wir das gemein-same Sorgerecht der Eltern festgeschrieben haben.

Eine offizielle Rücknahme der Erklärung könntefälschlicherweise als Signal verstanden werden, dieBundesregierung würde von ihrer Position abweichen.Das hieße auch, dass einzelnen Bestimmungen der Kon-vention nunmehr größere Bedeutung, wenn nicht gar un-mittelbare innerstaatliche Wirkung zukäme. Dies könntezu einer Rechtsunsicherheit bei der Anwendung beste-hender Vorschriften des Ausländer- und Asylrechts füh-ren. Erschwernisse bei der Durchsetzung der Ausreise-pflicht Minderjähriger wären die Konsequenz. Aberauch dem zunehmenden Missbrauch durch Personen, dieohne Vorlage von Dokumenten vortragen, minderjährigzu sein, würde Tür und Tor geöffnet.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aber im Rest der Welt ist dasscheinbar nicht der Fall!)

Minderjährigkeit allein kann weder nach nationalemnoch nach internationalem Recht ein Einreiserecht be-gründen oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft rechtfertigen.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr klar dargestellt!)

Anders als bei der UN-Kinderrechtskonvention wirdim deutschen Recht zwischen Kindern und Jugendli-chen differenziert. Im Hinblick auf die Problematik derminderjährigen unbegleiteten Flüchtlingskinder könntedies zur Folge haben, dass auf eine Differenzierung zwi-schen Rechten für Kinder und Rechten für Jugendlicheverzichtet würde.

Der Vorbehalt schließt einen unmittelbaren innerstaat-lichen Individualanspruch aus. Ein Wegfall des Vorbe-halts wäre daher mit dem Risiko verbunden, dass Kostenbei der Unterbringung der minderjährigen unbegleitetenFlüchtlinge in der Altersgruppe der 16- bis 18-Jährigenentstehen würden. Dafür gibt es weder eine sachlicheNotwendigkeit noch Finanzierungsvoraussetzungen;

(Beifall bei der CDU/CSU)

denn die Abschiebung Unter-18-Jähriger ist von derRechtsprechung nur deshalb getragen worden, weil die

in der Vorbehaltserklärung enthaltenen Einschränkungendie völkerrechtliche Grundlage hierfür geboten haben.

Ich fasse zusammen: Die Forderungen der Fraktiondes Bündnisses 90/Die Grünen basieren auf der fehler-haften Auffassung, Kinder hätten weltweit einen An-spruch auf Einreise und Aufenthalt, so auch in Deutsch-land. Nochmals sei betont: Bei den Erklärungen, dieDeutschland vor 14 Jahren anlässlich der Ratifizierungder UN-Kinderrechtskonvention abgegeben hat, handeltes sich nicht um Vorbehalte im völkerrechtlichen Sinne,sondern um Interpretationserklärungen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Frak-tion des Bündnisses 90/Die Grünen, Sie haben in IhremAntrag interessanterweise selbst vermerkt, dass vier derfünf Punkte aus der Vorbehaltserklärung durch entspre-chende Gesetzesänderungen inzwischen geregelt sind:

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aha! –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ehrlich sind wir!)

durch Änderungen im Kindschaftsrecht, durch einekind- und jugendgerechte Auslegung des Jugendstraf-rechts sowie durch die Ratifizierung des Fakultativproto-kolls zur Beteiligung von Kindern an bewaffneten Kon-flikten. Jetzt wollen Sie sozusagen auf der Zielgeradedes jahrelangen Marathons diese Erklärung zurückholenlassen, und das, nachdem Sie selbst als Akteur aus demMarathon ausgestiegen sind, also keine Regierungsver-antwortung mehr tragen – auch in dieser Sache nicht.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das bedauern Sie offenbar!)

Das hat den Eindruck eines Scheingefechts.

Der übrig gebliebene Punkt berührt in hohem Maßedie Hoheit der Bundesländer. Hier sollten Bund undLänder gemeinsam im Rahmen der Evaluierung des Zu-wanderungsgesetzes nach Lösungen suchen, die den In-teressenlagen der Länder und des Bundes entsprechen.Wir sind auf Bundesebene gut beraten, mit klugen Rat-schlägen und Vorgaben zurückhaltend zu sein. Ein fairerDialog innerhalb des Bundestages mit der Bundesregie-rung und den Ländern könnte eine Lösung der gesamtenProblematik herbeiführen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Josef PhilipWinkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Kommt gar nicht in Frage! Es ist Aufgabe desParlaments, die Regierung zu kontrollieren!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,wenn Sie sich tatsächlich und wirksam für die Umset-zung von Kinderrechten in Deutschland engagieren wol-len, habe ich eine kleine Anregung:

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das machen wir schon lange!)

Unterstützen Sie die Vorschläge und Aktivitäten für einegute Kinderpolitik unserer neuen Familienministerin,

(Beifall bei der CDU/CSU – Josef PhilipWinkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo-bei sie einen guten Staatssekretär hat! HerrKues ist wirklich geeignet für den Job!)

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2742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Katharina Landgraf

zum Beispiel bei den Mehrgenerationenhäusern, bei denFrüherkennungsuntersuchungen oder den Regelungenzum Unterhaltsrecht zugunsten der Kinder. Das ist derbeste und einfachste Weg, Kindern wirksam zu helfenund sie auf dem Weg ins Leben zu begleiten. Darüberkönnen wir uns zu gegebener Zeit im Familienausschussunterhalten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Landgraf, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer

ersten Rede im Deutschen Bundestag. HerzlichenGlückwunsch!

(Beifall)

Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von derFDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Miriam Gruß (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Dass der Deutsche Bundestag heutezum wiederholten Male über die Rücknahme der Vorbe-haltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention disku-tiert, ist an sich schon eine Farce. Noch viel erstaunlicherist allerdings, dass der Antrag, den wir heute beraten,von der Fraktion der Grünen kommt.

(Ina Lenke [FDP]: Das kann man nicht oft ge-nug sagen! – Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Folgerichtig!)

– Meine Damen und Herren der Bündnisgrünen, hörenSie mir bitte zu. Sie hatten, wie meine Kollegin FrauLenke gerade gesagt hat, sieben Jahre Zeit, die Vorbe-haltserklärung zurückzunehmen.

(Beifall bei der FDP)

Ein grüner Außenminister hat es sieben Jahre lang nichtfür nötig gehalten, ein völkerrechtliches Signal zu setzenund das Übereinkommen der Vereinten Nationen überdie Rechte des Kindes endlich vollständig umzusetzen.

(Beifall bei der FDP – Ina Lenke [FDP]: Genauso ist das!)

Man darf sich schon sehr darüber wundern, dass Sie sichnun, aus der Opposition heraus, für die Flüchtlingskinderin Deutschland stark machen wollen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir haben es sieben Jahre ver-sucht, Sie haben es 16 Jahre versucht!)

Warum waren Sie nicht vorher so konsequent? Verfah-renstechnisch – das kann ich leider nicht anders sagen –ist dieser Antrag gründlich misslungen.

Doch kommen wir zu einem viel wichtigeren Part,dem Inhalt. Selbstverständlich wird die FDP-Bundes-tagsfraktion diesem Antrag zustimmen. Wer wieDeutschland die Menschenrechte weltweit einklagt,

muss selbst Vorbild sein und darf keine Vorbehalte ge-genüber UN-Konventionen haben.

(Beifall bei der FDP)

So lange wir nicht mit gutem Beispiel vorangehen, be-stehen Zweifel am Willen Deutschlands zur Umsetzungder Konvention. Die Folge: Die Bundesregierung wirdauf internationalem Parkett nicht ernst genommen, wennsie sich für eine schnelle Ratifizierung anderer Proto-kolle zur Wahrung der Menschenrechte einsetzten will.

(Beifall bei der FDP)

Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung durch die Bun-desregierung ist deshalb mehr als überfällig. Zumindestdarüber sind wir uns einig.

Umso unglaublicher ist es, dass die Vorbehaltserklä-rung noch immer Gültigkeit besitzt, obwohl sich derDeutsche Bundestag, der Petitionsausschuss und dieKinderkommission schon mehrmals für die Rücknahmeausgesprochen haben. Das Votum des deutschen Parla-ments wurde von der Bundesregierung – sei sie rot-grünoder rot-schwarz – bislang schlichtweg ignoriert.

Zu Beginn der Legislaturperiode fragte ich Familien-ministerin von der Leyen, was die jetzige Bundesregie-rung unternehmen wolle, um vor allem den unbegleitetenminderjährigen Flüchtlingskindern in Deutschlanddie Rechte einzuräumen, die ihnen zustehen. Frau vonder Leyen antwortete mir, es fehle noch die Zustimmungder Länder.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da hat sie aber Recht! Auch die derFDP-mitregierten Länder!)

Dieses fadenscheinige Argument ist so alt wie die Dis-kussion um die Rücknahme der Erklärung.

(Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/CSU)

– Warum regen Sie sich denn eigentlich über meineSätze auf? – Aus falschem Respekt gegenüber den Bun-desländern werden Kinderrechte missachtet!

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Nach meinem Verständnis ist dies eine falsche Show, inder sich alle Beteiligten vor Verantwortung drücken,Entscheidungen hinauszögern und dafür Menschen-rechte zurückstellen. Ist das das Bild, das wir national,aber auch international vermitteln wollen?

Meine Aufforderung gilt heute der Bundesregierung:Haben Sie endlich den Mut, für die Rechte junger Men-schen geradezustehen! Verstecken Sie sich nicht hinterschwachen Ausreden!

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Folgen Sie endlich meinem An-trag!)

Es ist eine Schande für Deutschland, dass wir gerade inpunkto Kinderrechte so rückständig sind. Der Zeitpunkt,dies zu ändern, ist längst gekommen.

(Beifall bei der FDP)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2743

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht

von der SPD-Fraktion.

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vielen Dank dafür, dass Sie heute Abend noch anwesendsind.

(Zuruf von der CDU/CSU: So sind wir!)

Das finde ich wunderschön.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Für uns sind die Kinder wichtig!)

– Ja, für mich auch.

Ich denke, ich beginne einmal so: Keine der Parteien,die hier durch Fraktionen vertreten sind, hat sich in derVergangenheit beim Thema Rücknahme der Vorbehalts-erklärung besonders mit Ruhm bekleckert, weder dieFDP, noch die Grünen, noch die SPD, noch die CDU/CSU. Wir alle sind aber lernfähig und deshalb versucheich es heute Abend noch einmal mit einem ganz sachli-chen Umgang mit diesem Thema.

Ich denke, ich darf mich als alte Häsin bezeichnen,und ich sehe hier etliche alte Häsinnen und Hasen sitzen;wir haben ja auch bald Ostern. Deshalb würde ich gernnoch einmal auf die Entstehung der Kinderrechte ein-gehen. Gestern vor 14 Jahren – Kollege Winkler hat da-rauf hingewiesen – hat die Bundesrepublik die UN-Kin-derrechtskonvention mit der Ratifizierungsurkunde, diesie bei den Vereinten Nationen hinterlegt hat, in deut-sches Recht umgesetzt. Am 20. November 1989 habendie Vereinten Nationen die Kinderrechte gemeinsam be-schlossen. Das ist die meist gezeichnete Konvention derVereinten Nationen. Ich finde, wir können stolz daraufsein, dass wir das geschafft haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum damaligen Zeitpunkt hat man geglaubt, manmüsste zu einigen der Artikel Erklärungen abgeben, zumTeil deshalb, weil Dinge angeführt wurden, die wir imnationalen Recht noch nicht so geregelt hatten, wie esdie Konvention vorschreibt. Ich will einfach noch ein-mal die entsprechenden Stichworte nennen; vielleichtfällt es uns dann leichter, manche Gräben aufzubrechen,manchen Ballast abzuwerfen und das Ganze neu zu be-trachten: Umgangs- und Sorgerecht, Rechtsbeistand beiminderschweren Fällen, Adoptionsrecht, Kinder in be-waffneten Konflikten. All das haben wir geregelt.

Jetzt steht noch ein Punkt aus, durch den bei vielenoffensichtlich eine Xenophobie – ich finde das Wort soschön; übersetzt: Angst vor dem Fremden – ausbricht.Es wäre schön, wenn wir diese ablegen und weiter nüch-tern an das Thema herangehen würden. Warum also ha-ben wir gegen diesen Artikel immer noch einen Vorbe-halt? Die Vereinten Nationen – dies sage ich für diejugendlichen Zuhörer – kennen nicht den Begriff der Ju-gendlichen; die Kindheit reicht somit von 0 bis 18 Jah-ren. Das akzeptieren wir im Allgemeinen auch, nur indiesem einen Fall, bei der Konvention, nicht. Hier haben

wir einen Bruch und lassen die Kindheit mit 16 Jahrenaufhören. Deshalb geht es immer noch um eben dieseGruppe der 16- bis 18-jährigen Flüchtlinge, die nachDeutschland kommen. Davon sind pro Jahr in der Bun-desrepublik – ich sage das, damit wir wissen, worüberwir reden, und überlegen, ob es wert ist, dass bei uns dieXenophobie ausbricht – circa 300 Kinder betroffen.

Deshalb lohnt es sich eigentlich nicht, dass wir dafüreinen Konflikt auftun. Weltweit sagt jeder: Warummacht ihr das? Warum beseitigt ihr das nicht endlich?Beim zweiten Staatenbericht, den das Ministerium 2004vorgelegt hat, hat uns die Berichterstatterin der Verein-ten Nationen gesagt: Ihr spielt, was Kinder anbelangt,weltweit in der ersten Liga. Ihr steht ganz vorn. – Ichdenke, das kann man mit Recht sagen. Es wird für Kin-der in der Bundesrepublik viel gemacht. Bei allem Ge-jammere: Unsere Kinder leben hier nicht schlecht.

Wie wir gehört haben, hat der Bundestag die Regie-rung – egal welche – bereits mehrfach aufgefordert, siemöge die Vorbehaltserklärungen zur Kinderrechtskon-vention zurücknehmen. Vertreter der Ministerien habenuns in der Kinderkommission erklärt, dass sie eigentlichvöllig überflüssig sind, weil durch sie nichts verhindert,aber auch nichts verbessert wird. Wenn wir sie zurück-nehmen würden, würde sich also nichts ändern. Trotz-dem möchte ich den Versuch, darauf hinzuwirken, dassdies geschieht, heute erneut unternehmen. Vielleichtschaffen wir es, dieses Vorhaben gemeinsam anzugehen.Ich würde mir sehr wünschen, dass uns das gelingt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert[DIE LINKE])

Auch in unserer Koalitionsvereinbarung ist das Zielder Umsetzung des Nationalen Aktionsplans erwähnt.Aber vielleicht – das meine ich jetzt nicht hämisch –habe auch ich nicht alle Punkte, die wir beschlossen ha-ben, im Kopf. Deshalb wiederhole ich: Dort heißt es,dass wir uns vorgenommen haben, für die Rücknahmeder Vorbehaltserklärungen einzutreten. Geben wir unsalso einen Ruck! Das wäre ein gutes Zeichen für unserLand. Daran würde deutlich, dass wir Erwachsene lern-fähig sind; das erwarten wir schließlich auch von den Ju-gendlichen. Wir sollten dafür sorgen, dass man in allenBereichen bis zum Alter von 18 Jahren als Kind gilt. Ichglaube, dass wir das gemeinsam schaffen können.

(Beifall bei der SPD, der FDP und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Herr Singhammer, ich weiß, dass auch Sie einmalMitglied der Kinderkommission waren.

(Ina Lenke [FDP]: Jetzt ist Herr Singhammerim Familienausschuss! Da wird er noch vielbesser!)

An diese Zeit möchte ich Sie erinnern. Es wäre doch ge-lacht, wenn wir das nicht gemeinsam schaffen.

Ich würde gern im Juni nach Stockholm fahren undbeim Europarat sagen können, dass wir unser Ziel ge-meinsam erreicht haben und jetzt wirklich in der ersten

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2744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Liga spielen. Vielleicht erreichen wir im Fußball nichtden ersten Platz. Aber wenn es um Kinder geht, könnenwir es weltweit auf den ersten Platz schaffen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau! Bei Frauen und bei Kindernschaffen wir das!)

Das ist für mich in diesem Sommer das Wichtigste.

Dann können wir uns auf unser eigentliches Geschäftbesinnen: die gute Kinderpolitik in Deutschland gemein-sam fortzusetzen. Trotz aller Differenzen, die wir haben,sind wir uns in diesem Punkt einig. Nun müssen wir dieGrundlagen dafür schaffen. Diese Diskussion sollten wirnicht so führen, dass sie niemand mehr nachvollziehenkann. Deshalb habe ich Ihnen aufgezeigt, worum es ei-gentlich geht: Wenn man schon in den Ministerien derAnsicht ist, dass sich durch die Rücknahme der Vorbe-haltserklärungen nichts ändern wird, dann sollte das Par-lament endlich einen gemeinsamen Antrag auf den Wegbringen und dieses Werk vollenden. Wenn wir das nochin diesem Jahr schaffen würden, wäre das sehr schön.

Wir müssen natürlich auch darüber nachdenken, wases bedeutet, Kind zu sein. Dabei geht es zum Beispielum die Frage: Sind Kinder bis 18 Jahre keine Auslän-der? In der UN-Kinderrechtskonvention heißt es näm-lich: Kinder bedürfen unseres besonderen Schutzes,

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, derLINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

ob sie Inländer oder Ausländer sind. Von jedem Erwach-senen erwarte ich, dass er für sich selbst sorgt. Wenn ichihn unter Wasser drücke, kann er nicht atmen; das ist lo-gisch. Aber unter normalen Bedingungen muss ich füreinen Erwachsenen keine Verantwortung übernehmen.

Für die Kinder werden wir aber Verantwortung überneh-men müssen.

Ich bitte Sie alle, das nicht zu verhindern, weder auf-grund von falschen Rücksichtnahmen noch weil der eineoder andere Bedenken hat. Das können wir heute Abendgemeinsam schaffen. Wenn Sie von den Grünen dannmit Ihrem Antrag dazu beigetragen haben, begrüße ichdas sehr. Sie hätten auch den gleichen Antrag wie beimletzten oder vorletzten Mal einbringen können; das wäreegal gewesen. Sie haben diese Diskussion in Gang ge-bracht. Dafür ist Ihnen ganz herzlich zu danken. Wir allesollten über dieses Vorhaben noch einmal nachdenken.Herr Singhammer, wir gehen miteinander einen Kaffeetrinken; vielleicht können wir uns dann einigen.

(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Rede der Kollegin Ulla Jelpke nehmen wir zu

Protokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/1064 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 7. April 2006, 9 Uhr,ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 22.14 Uhr)

1) Anlage 8

Page 167: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16032.pdf · 2020. 5. 25. · Plenarprotokoll 16/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 32. Sitzung Berlin, Donnerstag,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2745

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Arnold, Rainer SPD 06.04.2006

Bülow, Marco SPD 06.04.2006

Glos, Michael CDU/CSU 06.04.2006

Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 06.04.2006

Griese, Kerstin SPD 06.04.2006

Heinen, Ursula CDU/CSU 06.04.2006

Heller, Uda Carmen Freia

CDU/CSU 06.04.2006

Hilsberg, Stephan SPD 06.04.2006

Homburger, Birgit FDP 06.04.2006

Kortmann, Karin SPD 06.04.2006

Leutert, Michael DIE LINKE 06.04.2006

Michelbach, Hans CDU/CSU 06.04.2006

Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

06.04.2006

Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 06.04.2006

Otto (Frankfurt), Hans-Joachim

FDP 06.04.2006

Parr, Detlef FDP 06.04.2006

Schäffler, Frank FDP 06.04.2006

Schummer, Uwe CDU/CSU 06.04.2006

Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

06.04.2006*

Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 06.04.2006

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Rede

zur Beratung des Antrags: Gegen die Schließungvon 45 Standorten der Deutschen Telekom AG(Tagesordnungspunkt 11)

Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Einführung von Wettbewerb bei der Telekommuni-kation hat die Voraussetzung für das Entstehen von Hun-derttausenden neuen Arbeitsplätzen im Bereich der In-formations- und Kommunikationsdienstleistungen, derneuen Medien und des E-Commerce geschaffen. Wir un-terstützen diesen Prozess und fordern faire Wettbewerbs-bedingungen für große und kleine Unternehmen.

Wer wie die PDS Staatsunternehmen erhalten will,der verwehrt kleinen und mittleren Unternehmen denMarktzugang und verhindert so das Entstehen wettbe-werbsfähiger Arbeitsplätze.

Die Deutsche Telekom AG als früheres Monopolun-ternehmen hat einen schwierigen Anpassungsprozess zumeistern. Sie muss unter Wettbewerbsbedingungen be-stehen und sich auf neuen Märkten positionieren. Natur-gemäß muss sie Marktanteile an neue Wettbewerberabgeben. Per saldo sind bei den Telekommunikationsun-ternehmen seit der Liberalisierung 1998 neue Arbeits-plätze entstanden.

Der Bund sollte seine Anteile kontinuierlich verkau-fen und die Mittel aus dieser Privatisierung in Bildungund Forschung investieren. Nur so können für die Zu-kunft Arbeitsplätze in Deutschland gehalten werden. DiePDS will an Staatsunternehmen festhalten und meint,mit Staatsunternehmen die Probleme strukturschwacherRegionen lösen zu können. Diese Versuche sind bereitssehr oft gescheitert. Wir wollen strukturschwache Regio-nen mit Zukunftsinvestitionen und nicht mit Staatsunter-nehmen unterstützen.

Unter anderem durch schwere Versäumnisse und Feh-ler des Managements ist es der Deutschen Telekom AGnicht gelungen, sich so auf dem Markt zu behaupten,dass sie ohne Personalabbau auskommt. Wer aber will,dass auch bei der Telekommunikation Wettbewerbgreift, der kann nicht ausschließen, dass auch bei frühe-ren Monopolunternehmen Personal abgebaut werdenmuss. Andernfalls könnte auch bei den Wettbewerbernkein Personal aufgebaut werden. Der Antrag der PDShat mit der Realität nichts zu tun. Der Bund hält nurnoch eine Minderheitsbeteiligung an der Deutschen Te-lekom. Richtig ist, dass die Deutsche Telekom AG imEinvernehmen mit dem Betriebsrat die Zahl der Callcen-ter von 91 auf 58 reduziert. Die Mitarbeiter in den zuschließenden Callcentern erhalten Angebote, in anderenCallcentern zu arbeiten. Es gibt keine betriebsbedingtenKündigungen. Wir fordern die DTAG auf, für Härtefällesoziale Lösungen zu suchen. Wir fordern die DeutscheTelekom auf, wo immer möglich durch Qualifizierungund Umschulung neue Perspektiven für Mitarbeiterinnen

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2746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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und Mitarbeiter zu schaffen, deren Beschäftigung weg-fällt. Netto werden im Konzern 19 000 Stellen abgebaut,dabei werden 27 000 Stellen abgebaut, während 8 000Stellen neu aufgebaut werden.

Wir halten auch nichts davon, der Deutschen TelekomAG in neuen Bereichen Monopolstellungen zu gewäh-ren. Bisweilen erweckt die DTAG ja den Eindruck, dannauf Arbeitsplatzabbau verzichten zu können. Der Abbauvon Arbeitsplätzen bei Wettbewerbern wäre das Ergeb-nis. EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hat ineinem Brief an die Bundesregierung festgestellt, das derEntwurf zur Novelle des Telekommunikationsgesetzesnicht mit dem europäischen Telekommunikationsrechtübereinstimmt und ein Vertragsverletzungsverfahrennach sich ziehen wird. Die Bundesregierung will dieDTAG für den Aufbau des VDSL-Breitbandes von derZugangs- und Preisregulierung durch die Bundesnetz-agentur ausnehmen. Das würde der Deutschen TelekomAG gestatten, ihre marktbeherrschende Stellung in einenweiteren Bereich auszudehnen, denn Wettbewerber hät-ten nicht die Möglichkeit, diese innovativen Dienste an-zubieten. Der Regulierungsverzicht erhöht die Preise fürVerbraucherinnen und Verbraucher, innovative Anbietervon Diensten und erschwert den Marktzugang für Wett-bewerber. Durch dieses Vorgehen werden Unternehmenwie zum Beispiel Arcor oder iesy benachteiligt, umMarktchancen bei im neu entstehenden Triple-Play-Markt – Fernsehen, Internet und Telefonie über eine Lei-tung – beraubt.

Wir sind für faire Wettbewerbsbedingungen für alleUnternehmen. Wir treten für soziale Schutzrechte für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein, die in allenUnternehmen gleichermaßen gelten.

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Voraussetzungen fürEntwicklung, Bau und Betrieb einer Europäi-schen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch-land schaffen – Deutsche Bewerbung vorantrei-ben (Tagesordnungspunkt 15)

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Wiralle wissen: Deutschland hat das Zeug, technologischeSpitzenleistungen in der wissensbasierten Wirtschaft zuerbringen. Deshalb fangen wir jetzt damit an, ideolo-gischen Ballast von sieben Jahren rot-grüner Bundesre-gierung abzuwerfen. Die Entwicklung der letzten Mo-nate unter kompetenter Führung der erfolgreichenBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel macht mir Mut,dass es gelingen wird, viele Dinge in Deutschland wie-der vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das betrifft insbe-sondere auch die Haltung der Bundesregierung zurKernenergie bzw. zur Kernforschung, wo es gilt, siebenJahre Stillstand und Rückschritt wieder wettzumachen.Unsere hoch geschätzte BundesforschungsministerinDr. Annette Schavan hat hierzu Perspektiven aufgezeigtund schnell und kompetent gehandelt.

Hier haben sich bereits nach wenigen Monaten dieersten Erfolge eingestellt. Es ist eine gute Entwicklung,dass die Entsorgung spaltbaren Materials durch diejüngsten Gerichtsurteile neue Perspektiven erhalten hat.Wenn die Verfahren zur Nutzung von Gorleben und desSchachtes Konrad jetzt zügig weiter vorangetrieben wer-den, haben wir demnächst einen sicheren Entsorgungs-weg für unser spaltbares Material. Damit war der Kampfunseres geschätzten ehemaligen Kollegen Kurt-DieterGrill erfolgreich – auch wenn das manchem hier nichtschmecken mag.

Wir von der Union bekennen uns klar zu Forschungund technologischer Entwicklung und wollen eine kon-sistente innovationsförderliche Politik auch und geradeim Bereich der Kerntechnik betreiben. Deshalb hat dieneue unionsgeführte Bundesregierung, haben Bundes-kanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesforschungsmi-nisterin wichtige und klare Akzente im Forschungsbe-reich gesetzt. Das neu aufgelegte Investitionsprogrammstärkt die Spitzentechnologie und gibt eine Perspektive– endlich – für eine angemessene und verlässliche Fi-nanzierung unserer zukunftsweisenden Forschungsein-richtungen.

Im Bereich der Kernforschung geht es in der Tat da-rum, wesentliche Versäumnisse der Vergangenheit aus-zugleichen. Deutschland muss auf diesem wichtigenForschungsfeld verlorene Kompetenzen wiedergewin-nen. Wir wollen in der Kernforschung unseren Beitragfür einen fruchtbaren und ertragreichen gemeinsameneuropäischen Forschungsraum leisten. Es ist doch offen-sichtlich, dass ohne starken Beitrag DeutschlandsEuropa im Wettlauf mit anderen dynamisch aufstreben-den Regionen nur schwer bzw. nicht mithalten kann, wieStaatssekretär Rachel zu Recht unterstrichen hat.

Die Ergebnisse dieser Forschung müssen für die hei-mische Anwendung und den wissenschaftlichen Aus-tausch ebenso wie für einen nutzbringenden Export vonGütern und Dienstleistungen genutzt werden. Hieraufhaben Staatssekretärin Dagmar Wöhrl und unser Wirt-schaftsexperte Laurenz Meyer immer wieder hingewie-sen. Das derzeit im deutschen Forschungsbereich vor-handene Wissen muss erhalten werden. Die Weitergabedes Know-hows an die folgende Generation von Wissen-schaftlern ist zu garantieren.

Insofern begrüße ich ausdrücklich den Geist, der hin-ter dem Antrag der FDP-Fraktion zum Betrieb einerEuropäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch-land steht. Wir müssen unsere Kräfte nutzen, ideologi-schen Ballast abwerfen, wo er uns unnötig bremst, undauch die Kernforschung so ausrichten, dass sie uns zu-künftig möglichst gut nutzbare Ergebnisse bringt.Perspektivisch erwähne ich die zukunftsträchtigen Be-reiche der Kernfusion und der Transmutation im Bereichder Energieforschung ebenso wie den Bereich der Neu-tronenforschung und der Schwerionenforschung. Wirsind uns doch einig: Hier werden die Grundlagen gelegtund die Technologien entwickelt, die in der Zukunft einesichere, wirtschaftliche, kostengünstige und umweltver-trägliche Energieversorgung garantieren.

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Angesichts dieser Vielfalt an Forschungsfeldern undForschungsanlagen stellt sich die Frage, in welchem Be-reich die Forschungsinfrastruktur sinnvoll weiterentwi-ckelt werden kann und soll. Wir können das Geld nureinmal ausgeben. Begrenzte Mittel sollen dabei einenmöglichst großen Nutzen erbringen.

Jetzt steht – mit dem Antrag der FDP – die Frage imRaum: Brauchen wir derzeit eine neue Spallationsquellein Deutschland? Der Wissenschaftsrat hat diese Fragegeprüft mit dem Ergebnis, dass wir sie nicht dringlichbrauchen. In der Tat ist die Versorgung der Forschungmit Neutronen in Deutschland im Moment gut und er-heblich besser als in anderen europäischen Ländern. Erst2004 ist in Garching eine neue Neutronenquelle in Be-trieb genommen worden.

Der Wissenschaft in Deutschland stehen Forschungs-reaktoren zur Verfügung in Grenoble mit der weltweitintensivsten Neutronenquelle am ILL, an dem Deutsch-land zu einem Drittel beteiligt ist, in München die zweit-stärkste Quelle FRM II mit der modernsten Instrumen-tierung, die seit 2005 im Nutzerbetrieb ist, in Berlin, derBER 2 am Hahn-Meitner-Institut, HMI, in Geesthachtder FRG-1 bei der GKSS. Außerdem gibt es noch For-schungsmöglichkeiten am internationalen VIK inDubna, Russland, und an anderen europäischen Anla-gen.

Der Wissenschaftsrat sah zum Beispiel für die Struk-turforschung ein größeres wissenschaftliches Potenzialin der Synchrotronstrahlung und der neuen, innovativenTechnik des Freie-Elektronen-Lasers FEL. Mit FELkann zum Beispiel eine enorme Verbesserung der Quali-tät von Röntgenstrahlung erreicht werden. Wir öffnendamit das Fenster zu völlig neuen Forschungsgebieten.Dieses Projekt soll jetzt in Hamburg als europäische Ein-richtung verwirklicht werden.

Was wir derzeit bei der Neutronenforschung als Deut-sche dringlicher brauchen als neue Quellen, sind moder-nere Instrumente, um vorhandene Neutronenquellen imDienste der Wissenschaft für Untersuchungen besser zunutzen. Hier sind wir auf einem guten Weg: Das For-schungszentrum Jülich errichtet an der SpallationsquelleSNS in den USA ein Instrument, zu dem deutsche For-scher Zugang erhalten werden. Der neue Forschungs-reaktor FRM II in München mit einer Außenstelle desForschungszentrums Jülich und Instrumenten andererHGF-Einrichtungen wird eine sehr moderne Instrumen-tierung bieten, sodass es möglich sein wird, nach demReaktor in Jülich 2006 auch den Reaktor in Geesthachtbis Ende des Jahrzehnts außer Betrieb zu nehmen. Selbstwenn keine neue Neutronenquelle gebaut würde, stün-den nach 2020 deutschen Forschern zumindest derFRM II und aus derzeitiger Sicht auch noch der Reaktorin Grenoble zur Verfügung.

Aus Sicht unserer europäischen Partner stellt sich dieSituation anders dar. Als bedeutende nationale Quellenexistieren sonst nur noch der Forschungsreaktor LLB inFrankreich und eine kleinere Spallationsquelle ISIS inGroßbritannien. Daher gibt es derzeit in mehreren euro-päischen Ländern Bemühungen um den Bau von Spalla-tionsquellen. Die Vision der Neutronenforscher ist

insgesamt eine Multi-Megawatt-Spallationsquelle, dieinternational führend ist, nicht eine kleinere Anlage.

Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfra-strukturen ESFRI arbeitet derzeit an einer europäischenRoadmap für Forschungsinfrastrukturen. ESFRI hatauch eine Expertengruppe für die Forschung mit Neutro-nen eingesetzt. In diese Expertengruppe ist auch der Vor-schlag aus Sachsen-Anhalt eingebracht worden. ESFRIwird sich aber ausdrücklich nicht mit Standortfragen be-fassen, sondern Projekte nach wissenschaftlichen undtechnischen Kriterien beurteilen. Außerdem werden inESFRI keine Entscheidungen zu Großgeräten getroffenund keine Budgets verteilt. Dies ist Aufgabe der interes-sierten Regierungen. Durch die Pläne der EU, sich im7. Rahmenprogramm an der Finanzierung des Bausneuer und des Ausbaus existierender Großgeräte zubeteiligen, sind viele Erwartungen geweckt worden.Derzeit wird eine etwaige Beteiligung der EU an denBaukosten neuer Großgeräte von maximal 20 Prozentdiskutiert. Angesichts des begrenzten Budgets wird auchdies nur in wenigen Fällen erreichbar sein. Es sind keineAbsichten der Kommission bekannt, sich in besonderemMaße an der Finanzierung einer ESS zu beteiligen. EineBeteiligung der EU an den bereits beschlossenen Groß-geräten XFEL und FAIR ist vorrangig.

Die Finanzierung der ESS wird – wie bei den anderenGroßgeräten der naturwissenschaftlichen Grundlagen-forschung – zwischen den interessierten Ländern ausge-handelt, wobei vom Sitzland ein besonderer Beitrag er-wartet wird. Bei einem Standort der ESS in Deutschlandmit seiner großen Nutzergemeinde sind dies wohl min-destens 50 Prozent. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart,den Bau der beschlossenen Großgeräte XFEL und FAIRauf eine sichere finanzielle Basis zu stellen. Ein weiteresGroßgerät würde einen erheblichen Zusatzbedarf imHaushalt des BMBF bedeuten.

Auch der Standort wird nicht von der EU entschieden,sondern zwischen den an der ESS interessierten Ländernverhandelt. Eine Standortbewerbung bei der Kommis-sion ist daher gegenstandslos. Für XFEL und FAIR mitStandorten in Deutschland erwarten wir bereits eine Be-teiligung unserer europäischen Partner von über600 Millionen Euro. Es ist daher nicht wahrscheinlich,dass sich diese Länder für ein weiteres Großgerät mit ei-nem Standort in Deutschland einsetzen würden, insbe-sondere wenn es eigene Standortinteressen gibt. Es istvielmehr damit zu rechnen, dass sie das BMBF auf eineBeteiligung an ihren Projekten ansprechen werden.

Der Antrag der FDP suggeriert, dass die EU eine we-sentliche Rolle bei der Finanzierung und der Standort-entscheidung einer ESS spielen wird. Dies ist jedochnicht der Fall. Der Standort muss unter den interessiertenPartnern verhandelt werden. Das Sitzland wird einenwesentlichen Finanzierungsanteil tragen müssen. Einweiterer deutscher Standortvorschlag würde erheblichezusätzliche Mittel im BMBF-Haushält erfordern undwahrscheinlich auch nicht von unseren europäischenPartnern unterstützt. Der Wissenschaftsrat hat 2002 dieESS nicht befürwortet und andere Prioritäten gesetzt.Den Wissenschaftsrat mit einer erneuten Begutachtung

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zu beauftragen, sollte nur erwogen werden, wenn es Fi-nanzierungschancen für diesen Vorschlag gibt. Zum jet-zigen Zeitpunkt wird davon abgeraten.

Vor diesem Hintergrund sollten wir nach 2010 eineStrategie für die langfristige Versorgung der Forschungmit Neutronen entwickeln. Deutschland ist bisher seinerVerantwortung für die Weiterentwicklung der Neutro-nenforschung nachgekommen und wird es auch zukünf-tig. Deshalb müssen wir in fünf Jahren mit dem Anlauffür den nächsten Quantensprung für die Forschung nach2020 in der Spallationsforschung beginnen. Dann – undnicht heute – könnten wir beim Bau einer Spallations-quelle der nächsten Generation auf die Erfahrungen ausden USA und aus Japan bei der Lösung der schwierigentechnischen Aufgaben zurückgreifen. Erst dann stelltsich auch die Standortfrage, wobei wir innerhalbDeutschlands auf reichhaltige Erfahrungen an vielfälti-gen kerntechnischen Forschungsstandorten, wie zumBeispiel Darmstadt, Hamburg, Berlin, Garching, Greifs-wald, Jülich oder Karlsruhe zurückgreifen können. FrauPieper ist mit ihren Kollegen herzlich eingeladen, sich indie Entwicklung dieser Strategie einzubringen.

Thomas Oppermann (SPD): Wie im FDP-Antragzutreffend ausgeführt wird, stellte der Bericht des Me-gascience-Forum der OECD von 1999 über die Zukunftder Neutronenquellen fest, dass in einer globalen Sichtdie zum damaligen Zeitpunkt installierte Kapazität anNeutronenquellen zwischen 2010 und 2020 auf ein Drit-tel abnehmen werde. Die Arbeitsgruppe empfahl daher,in jeder der drei Weltregionen Asien/Pazifik, Nordame-rika und Europa innerhalb von 20 Jahren fortgeschritteneNeutronenquellen zu installieren. Die USA und Japanhaben aufgrund ihres Bedarfs an neuen Quellen bereitsmit dem Bau von Spallations-Neutronenquellen begon-nen.

Aus deutscher Sicht gibt es jedoch einen anderenZeithorizont, da die Versorgung der Forschung mit Neu-tronen in Deutschland erheblich besser ist als in allen an-deren europäischen Ländern. Erst 2004 ist mit demFRM II eine neue Neutronenquelle in Betrieb genom-men worden. Der Wissenschaft in Deutschland stehtheute eine Vielzahl an Forschungsreaktoren zur Verfü-gung. So in Grenoble am ILL, an dem Deutschland zueinem Drittel beteiligt ist; in München mit der QuelleFRM II, die „frisch“ im Nutzerbetrieb ist; immer noch inBerlin mit dem BER 2 am Hahn-Meitner-Institut undauch noch in Geesthacht mit dem FRG-1 bei der GKSS.

Der neue Forschungsreaktor FRM II in München miteiner Außenstelle des Forschungszentrums Jülich undInstrumenten anderer HGF-Einrichtungen wird eine sehrmoderne Instrumentierung bieten, sodass es möglichsein wird, nach dem Reaktor in Jülich 2006 auch den Re-aktor in Geesthacht bis Ende des Jahrzehnts außer Be-trieb zu nehmen.

Den Vorschlag zum Bau einer ESS hatte das BMBFzusammen mit acht weiteren Vorschlägen der Wissen-schaft für neue Großgeräte der naturwissenschaftlichenGrundlagenforschung dem Wissenschaftsrat vorgelegt.In seinen Empfehlungen vom November 2002 hat der

Wissenschaftsrat die ESS in die dritte Gruppe eingrup-piert, das heißt sie zur Förderung nicht empfohlen unddie Möglichkeit einer erneuten Vorlage zur Begutach-tung eröffnet. Der Wissenschaftsrat sah für die Struktur-forschung ein größeres wissenschaftliches Potenzial inder Synchrotronstrahlung und der neuen, innovativenTechnik der Freie-Elektronen-Laser. Mit dieser Technikkann eine enorme Verbesserung der Qualität von Rönt-genstrahlung erreicht und damit das Fenster zu völligneuen Forschungsgebieten aufgestoßen werden. DieBundesregierung hat sich dieser Empfehlung ange-schlossen und 2003 den Bau des Röntgenlasers XFEL inHamburg als europäische Einrichtung beschlossen.

Nach 2020 werden den deutschen Neutronenfor-schern zumindest der FRM II und aus derzeitiger Sichtauch noch der Reaktor am ILL zur Verfügung stehen.Wegen der langen Vorlaufzeit muss aus deutscher Sichtaber nach 2010 eine europäische Strategie für die lang-fristige Versorgung der Forschung mit Neutronen entwi-ckelt werden. Zu dieser Zeit könnte beim Bau einerSpallationsquelle der nächsten Generation auf die Erfah-rungen aus den USA und aus Japan bei der Lösung derschwierigen technischen Aufgaben zurückgegriffen wer-den.

Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfra-strukturen arbeitet derzeit an einer europäischenRoadmap für Forschungsinfrastrukturen. ESFRI hatauch eine Expertengruppe für die Forschung mit Neutro-nen eingesetzt. In diese Expertengruppe ist auch der Vor-schlag aus Sachsen-Anhalt eingebracht worden. ESFRIwird sich aber ausdrücklich nicht mit Standortfragen be-fassen, sondern Projekte nach wissenschaftlichen undtechnischen Kriterien beurteilen. Außerdem werden inESFRI keine Entscheidungen zu Großgeräten getroffenund keine Budgets verteilt. Dies ist Aufgabe der interes-sierten Regierungen.

Derzeit sind im Übrigen keine Absichten der Kom-mission bekannt, sich in besonderem Maße an der Finan-zierung einer ESS zu beteiligen. Für das BMBF ist zu-dem eine Beteiligung der EU an den bereitsbeschlossenen Großgeräten XFEL und FAIR vorrangig.Die Finanzierung der ESS wird – wie bei den anderenGroßgeräten der naturwissenschaftlichen Grundlagen-forschung – zwischen den interessierten Ländern ausge-handelt, wobei vom Sitzland ein besonderer Beitrag er-wartet wird. Bei einem Standort der ESS in Deutschlandmit seiner großen Nutzergemeinde sind dies wohl min-destens 50 Prozent. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart,den Bau der beschlossenen Großgeräte XFEL und FAIRauf eine sichere finanzielle Basis zu stellen. Ein weiteresGroßgerät würde einen erheblichen Zusatzbedarf imHaushalt des BMBF bedeuten.

Auch der Standort wird nicht von der EU entschieden,sondern zwischen den an der ESS interessierten Ländernverhandelt. Eine Standortbewerbung bei der Kommis-sion ist daher sinnlos. Für XFEL und FAIR mit Standor-ten in Deutschland erwarten wir bereits eine Beteiligungunserer europäischen Partner von über 600 MillionenEuro. Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass sich dieseLänder für ein weiteres Großgerät mit einem Standort in

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Deutschland einsetzen würden, insbesondere wenn es ei-gene Standortinteressen gibt. Es ist vielmehr damit zurechnen, dass sie das BMBF auf eine Beteiligung an ih-ren Projekten ansprechen werden.

Unter diesen Voraussetzungen erscheint eine Mitför-derung durch die europäischen Partner der ESS an einemdeutschen Standort, egal ob West oder Ost, derzeit nichtsehr realistisch. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich dieMühe lohnt, ein derartiges Ziel anzustreben. Darüberkönnen wir im Ausschuss aber gern ausführlich diskutie-ren und sorgfältig beraten.

Cornelia Pieper (FDP): Das Thema ist nicht neuund doch hoch aktuell, hoch aktuell, weil es darum geht,auf der einen Seite ein Versprechen der Bundesregierungeinzulösen, und eine Großforschungseinrichtung mit in-ternationaler Strahlkraft in den neuen Bundesländern an-zusiedeln – bislang konnten wir noch nicht in Erfahrungbringen, woran die Bundesregierung dabei denkt – undauf der anderen Seite, um im Zentrum Europas den For-schern eine leistungsfähige Neutronenquelle zur Verfü-gung zu stellen, die Deutschland zugleich interessant fürdie Weltelite der Wissenschaft macht.

Das sieht allerdings nicht nur die FDP-Bundestags-fraktion so. Die OECD begründete die Notwendigkeitdes Baus und Betriebs von Neutronenquellen im Mega-watt-Bereich in den drei Weltregionen Asien, Nordame-rika und Europa schon 1998. Deutschland hat sich 1999dieser Auffassung angeschlossen.

Die USA sind dem Vorschlag bereits gefolgt, und– wen wundert’s – deutsche Forscher haben bereits ei-gene Geräte zur Nutzung dieser leistungsfähigen Neutro-nenquelle entwickelt und gebaut. Sie werden künftig einStrahlungsrohr und Strahlungszeiten für ihre wissen-schaftlichen Experimente an der SNS in Oak Ridge,USA, nutzen können.

Die deutsche Position zu einer Europäischen Neutro-nen-Spallationsquelle hat uns Frau BundesministerinSchavan gestern im Ausschuss mit glockenhellerStimme verkündet: Wenn Brüssel das Projekt in das7. EU-Forschungsrahmenprogramm aufnimmt, erfolgtauch ein deutscher Beitrag! Welcher das ist, blieb ihr Ge-heimnis.

Wir sind jedoch nicht allein in Europa. Ich weiß, dassinzwischen Tony Blair, Großbritannien, den Auftrag er-teilt hat, eine Standortbewerbung Englands zu prüfen.Aus Jülich ist unter vorgehaltener Hand zu hören, dassman eine Standortbewerbung Englands sogar unterstüt-zen solle. Zu den weiteren Bewerbern zählen nebenSchweden übrigens auch Ungarn und Spanien.

Dieses Katz-und-Maus-Spiel muss ein Ende haben.Deutschland sollte sich um den Standort für die ESS be-werben. In Europa wird derzeit über 20 förderwürdigeGroßforschungseinrichtungen bzw. Großgeräte verhan-delt. Insgesamt sieben sollen über das 7. EU-FRP geför-dert werden. Ob die ESS dabei ist, ist noch unklar.

Im Rahmen des spezifischen Programms „Kapazitä-ten“ des 7. EU-FRP sollen in der Zeit zwischen 2007

und 2013 in Europa neue Forschungsinfrastrukturen ge-schaffen werden. Das Europäische Strategieforum fürForschungsinfrastrukturen, ESFRI, hat der Kommissionbereits eine Liste der Möglichkeiten für benötigte neue,großmaßstäbliche Infrastrukturen vorgeschlagen, in dieauch die ESS an sechster Stelle aufgeführt ist.

Die ESS ist sicher nicht das einzige Projekt, was inDeutschland auf der Grundlage der Empfehlungen desWissenschaftsrats mit europäischen und nationalen Mit-teln gefördert und gebaut wird. Die ESS könnte aber daserste Großgerät sein, das auch eine nennenswerte Inves-tition in den neuen Bundesländern bedeutet. Bislangwurden hier nur 24,5 Millionen Euro für das Hochmag-netfeldlabor in Rossendorf bereitgestellt. Ein Linsenge-richt im Vergleich zu den langfristigen Investitionen fürdie anderen Großgeräte in Hamburg, Darmstadt undKöln in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro.

Der mitteldeutsche Raum verfügt zusammen mit Ber-lin durchaus über das wissenschaftliche Potenzial, dieseAufgaben auch zu stemmen. Im Hahn-Meitner-Institutund an den Universitäten Berlin, Leipzig und Halle ar-beiten exzellente Wissenschaftler, die durchaus willensund in der Lage sind, ihr Wissen und ihre Erfahrungenbei der Projektentwicklung und später auch beim Bauund Betrieb einzubringen. Nicht zuletzt werden auch dieBundesländer Sachsen- Anhalt und Sachsen einen nen-nenswerten Beitrag leisten. Die erforderlichen Flächensind bereits reserviert. Und noch etwas: Natürlich mussder wissenschaftliche Antrag durch das ESS-Councilüberarbeitet werden. Der Wissenschaftsrat jedenfalls hatseine Bereitschaft erklärt, einen neuen Antrag zu bear-beiten und zu bewerten. Einer Neuevaluation steht alsonichts im Wege.

Ich appelliere an Sie und die Bundesregierung: Neh-men Sie das Thema nicht auf die leichte Schulter. SetzenSie in Brüssel ein Signal, das der stärksten Wirtschafts-macht in Europa Ehre macht.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wirstimmen sicher darin überein, dass Hochschulen undForschungseinrichtungen wichtige Kristallisationspunktefür die Regionalentwicklung und damit auch ein Hoff-nungsträger für Wirtschaft und Beschäftigung gerade inden neuen Bundesländern sind. Dafür gibt es schonheute viele positive Beispiele. Diese Cluster zu stärken,sollte weiterhin eine gemeinsame Strategie sein. Ichwarne aber davor, aus parteipolitischen Gründen falscheErwartungen zu wecken, gerade in den neuen Bundes-ländern.

Es macht keinen Sinn, bisherige nationale Entschei-dungen über Forschungsprioritäten zu ignorieren oder sozu tun, als hätten sie keine Konsequenzen für weitereEntwicklungen.

Eine Entscheidung, die man zwar bedauern mag, abernicht ausblenden kann, ist es gewesen, mit dem For-schungsreaktor FRM II 2004 eine neue Neutronenquellein Deutschland in Betrieb zu nehmen. Uns Grünen wäreeine Spallationsquelle als Neutronenquelle natürlich lie-ber gewesen als ein Forschungsreaktor, vor allen Dingen

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wenn man sieht, wie die Folgen der Kernforschung unsheute teuer zu stehen kommen und Handlungsspiel-räume für die Zukunft beschneiden.

Eine andere Entscheidung, zu der man aber heute ste-hen sollte, ist die Entscheidung des Wissenschaftsrats2002 über Großforschungsprojekte: Der Wissenschafts-rat hat eindeutig das größere Potenzial für die internatio-nale und europäische Forschungsgemeinschaft im so ge-nannten TESLA-Projekt gesehen. Das heißt zum einenin der Synchrotronstrahlung und dem Linear-Collider-Projekt und zum anderen im Freie-Elektronen-Röntgen-laser. Die Spallations-Neutronenquelle wurde nicht zurFörderung vorgeschlagen. Dass mich als Hamburgerinund ehemalige Wissenschaftssenatorin diese Entschei-dung sehr gefreut hat, liegt auf der Hand. Diese Prioritä-tensetzung hat uns aber auch in der internationalen For-schungsgemeinschaft weit nach vorn gebracht und sichdadurch als richtig herausgestellt. Dass Projekt Röntgen-laser XFEL ist heute bereits ein europäisches Projekt mitvielen europäischen Partnern und in der Vorbereitungweit fortgeschritten. Ohne die Entscheidung und das na-tionale Engagement der damaligen Bundesregierungwäre dies nicht möglich gewesen. Der Linear-Colliderrangiert auf der europäischen Strategieebene inzwischenunter den globalen Projekten. Es geht also um eine Infra-struktur für eine weltweite Forschungsgemeinschaft.

Es trifft zu, dass eine europäische Spallations-Neutro-nenquelle inzwischen vom europäischen Strategieforumfür Forschungsinfrastruktur in eine Möglichkeitslistevon 23 Projekten aufgenommen worden ist. Dies sindProjekte, für die eine Unterstützung nicht nur, aber auchaus dem 7. Forschungsrahmenprogramm gegebenenfallsin Betracht kommen könnte. Eine Absichtserklärung istdies nicht. Bestenfalls könnte daraus die Möglichkeit fürdie jeweiligen Projektbetreiber erwachsen, leichter anDarlehen heranzukommen. Klar ist aber, das Geldmüsste im Wesentlichen woanders herkommen.

Mit dem Röntgenlaser XFEL und mit FAIR haben wirzwei Großforschungsprojekte von europäischer Dimen-sion, die in Deutschland realisiert werden sollen. Wirkönnen aber nicht erwarten, dass alle Großforschungsin-frastrukturprojekte unabhängig von ihrem nationalenRealisierungsgrad in Deutschland angesiedelt werden.

Sinn einer gemeinsamen europäischen Roadmap fürForschungsinfrastruktur ist doch gerade eine sinnvolleKooperations- und Arbeitsteilung. Dann müssen wiraber auch zur Kenntnis nehmen, dass in anderen Län-dern die Vorhaben für eine europäische Spallations-Neu-tronenquelle deutlich stärker vorangeschritten sind, wasdie Einbindung europäischer Partner und das nationaleEngagement angeht. Für Deutschland, aber nicht nur fürDeutschland gilt, dass nationale Anstrengungen auf eu-ropäischer Ebene Früchte tragen, aber das die europäi-sche Ebene nicht der Weg ist, nationale Prioritäten aus-zuhebeln oder im Nachhinein zu korrigieren.

Wir sollten dafür werben, dass alle mit einer europäi-schen Forschungsinfrastrukturpolitik am Ende mehr er-reichen als jeder für sich. Wir sollten nicht so tun, alskönne man vom europäischen Wunderbaum alles Mögli-che herunterschütteln, wenn man nur die politischen Är-

mel weit genug aufkrempelt. Sonst ist der weitere Ver-lauf leicht absehbar. Entweder Sie müssen behaupten,die Regierung habe auf der europäische Ebene zu wenigerreicht, weil zu wenig geschüttelt, oder Sie müssten be-haupten, die EU-Bürokraten seien mal wieder nicht ein-sichtig genug gewesen. Beides trägt nicht dazu bei, denBlick für den realen Mehrwert einer gemeinsamen euro-päischen Politik auch in den neuen Bundesländern zuschärfen. Dass die Parteipolitik manchmal dazu neigt,auf Kosten Europas zu Hause falsche Erwartungen zuwecken, das gibt am Ende erfahrungsgemäß niemandgerne zu.

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Rede

zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset-zes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes(Tagesordnungspunkt 16)

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf soll die EU-Richtlinieüber das Folgerecht des Urhebers des Originals einesKunstwerkes umgesetzt werden. Grundsätzlich unter-stützen wir selbstverständlich Maßnahmen zur Binnen-marktharmonisierung. Dennoch stellt sich uns die Frage,ob die Regierung mit dem vorliegenden Entwurf ihreGestaltungsmöglichkeiten zugunsten der Künstlerinnenund Künstler bei der Umsetzung tatsächlich ausschöpft.

Natürlich ist es gut, Künstler auch in Zukunft an denWertsteigerungen ihrer Werke zu beteiligen, wenn dieseauf dem Kunstmarkt mit Gewinn weiterverkauft werden.De facto bedeutet die nun vorgesehene Regelung aller-dings eine Verschlechterung für die Künstler: Der bishereinheitliche Anspruch von 5 Prozent wird nun abhängigvom Kaufpreis degressiv gestaffelt – von 0,25 bis4 Prozent bei einem Höchstbetrag von 12 500 Euro.Auch im niedrigen Bereich von 1 000 bis 50 000 Euroentstehen durch die Absenkung auf 4 Prozent spürbareEinkommenseinbußen. Zudem wird der Schwellenwertvon bisher 50 auf 1 000 Euro hoch gesetzt. Junge undnoch nicht arrivierte Künstler, die darauf angewiesensind, viele kleine Arbeiten – zum Beispiel kostengüns-tige Editionen – zu verkaufen, werden somit in Zukunftseltener oder gar nicht mehr an den Weiterveräußerun-gen ihrer Werke beteiligt sein. Auch viele Drucke, Foto-grafien bzw. Lichtbildwerke werden mit dem neuenSchwellenwert vom Folgerecht ausgeschlossen.

Die durch die geplante Gesetzesänderung entstehen-den Einkommenseinbußen der Künstlerinnen und Künst-ler stehen in deutlichem Widerspruch zum Koalitions-vertrag der großen Koalition. Dort heißt es wörtlich: „ImMittelpunkt der Kulturpolitik steht die Förderung vonKunst und Künstlern.“ Die durch das geplante Gesetzentstehende problematische Situation für viele Künstlerkaschiert die Bundesregierung mit optimistischen Pro-gnosen im Erläuterungsteil des Gesetzentwurfes. Dortwird beschwichtigend behauptet, die Einkommenseinbu-ßen durch die neue Regelung könnten dadurch aufgefan-gen werden, dass deutsche Künstler nach der Harmoni-

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sierung Einkünfte durch das Folgerecht in Ländernerzielen könnten, die bisher kein Folgerecht kannten.Außerdem werde Deutschland nun für den Kunsthandelattraktiver, da bisher bestehende Wettbewerbsverzerrun-gen wegfielen.

Dabei handelt es sich wohl um nicht viel mehr alsvage Hoffnungen, Wir fragen deshalb die Bundesregie-rung: Auf welcher Datengrundlage und auf welcherAnalyse des internationalen Kunstmarkts beruhen dieseVoraussagen? Schließlich handelt es sich beim Kunst-markt um einen der kompliziertesten Märkte überhaupt.Deshalb wäre es redlich, in der Kunstszene keine fal-schen Erwartungen zu wecken. Im Übrigen möchte ichdarauf hinweisen, dass die USA mit New York als wich-tigstem Ort des internationalen Kunsthandels nach wievor kein Folgerecht haben. Es ist also schon mal nichtdavon auszugehen, dass Deutschland für US-amerikani-sche Händler attraktiver wird. In Europa fehlt bisher nurin den Niederlanden, in Portugal, England und Öster-reich ein Folgerecht. Glauben Sie denn wirklich, dass diemassiven Einkommenseinbußen in Deutschland durchdie rechtliche Harmonisierung in diesen Ländern ausge-glichen werden können? Damit ist wohl kaum zu rech-nen! Wir wünschen uns für die weiteren Beratungen die-ses Gesetzentwurfes, dass mit solideren und seriöserenPrognosen gearbeitet wird. Die vielen bildenden Künst-lerinnen und Künstler in unserem Land haben das ver-dient – nicht zuletzt, weil sich viele von ihnen schonjetzt in einem permanenten ökonomischen Überlebens-kampf befinden.

Anlage 5

zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge:

– Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz ge-gen den Iran

– Für ein friedliches Vorgehen im Konfliktüber das iranische Atomprogramm – Demo-kratische Entwicklung unterstützen

(Tagesordnungspunkt 17, Zusatztagesordnungs-punkt 6)

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU): Die derzeitige Geschlossenheit der Sechs ist einklares Zeichen an den Iran, seinen Verpflichtungen ge-genüber der internationalen Gemeinschaft endlich nach-zukommen. Es unterstreicht ihren Willen, den Konfliktauf diplomatischem Wege lösen zu wollen. Unserem In-teresse an einer friedlichen Lösung dieser Krise ist nurmit tatsächlicher und anhaltender Einigkeit gedient, diein Ergänzung zu der präsidentiellen Erklärung des UN-Sicherheitsrats zu sehen ist. Es liegt nun einzig an Tehe-ran, weiterführende Schritte abzuwenden.

Welches Ziel verfolgen nun die vorliegenden An-träge? Die sechs Außenminister haben vergangene Wo-che deutlich gemacht, dass sie den Iran an den Verhand-lungstisch zurückholen wollen – gleichzeitig sprichtinsbesondere Die Linke fast ausschließlich von Militär-

schlägen. Ein außerordentlich hilfreicher Ansatz, der inletzter Konsequenz die Glaubwürdigkeit der internatio-nalen Gemeinschaft bezüglich ihrer Verhandlungsbereit-schaft untergräbt. De facto erleben wir doch gerade einvorbildliches multilaterales Vorgehen gegenüber demIran im Rahmen der Vereinten Nationen.

Daneben existieren Resolutionen der IAEO, denender Iran nicht nachgekommen ist. Offenbar reichte dieKreativität der Verfasser der Anträge nicht aus, die mul-tilateralen Prozesse, die ansonsten nicht vehement genugeingefordert werden können, als logisch notwendigeTextbausteine einzubauen. Als intellektueller Zwischen-schritt wäre wenigstens die Kenntnisnahme, im bestenFalle die Anerkennung dieser Vorgehensweisen zu be-grüßen. Auch würde es der Substanz der Anträge nichtschaden, die Forderungen der IAEO und damit die Re-alität zu akzeptieren, wonach es im Kern um ein Fehl-verhalten des Iran geht. Der Boden der Tatsachen ver-mag in der Regel mehr Stabilität zu verleihen als dasschwankende Fundament hypothetischer Vorwürfe.

Es liegt nun am Iran, zu beweisen, dass er ebenfallsan einer friedlichen und diplomatischen Lösung des Nu-klearkonflikts interessiert ist und die Situation, wie inden letzten Monaten wiederholt geschehen, nicht erneuteskalieren lässt. Lediglich zur Klarstellung: Es ist derIran, der bisher die Krise immer und immer wieder wei-ter verschärft hat. Es ist demzufolge verantwortungslos,andere als das iranische Regime als das eigentliche Pro-blem in der Krise auszumachen. Die Linke sowie be-stimmte Teile der Grünen sollten zur Kenntnis nehmen,dass die Bedrohung nicht von den Vereinigten Staaten,sondern von den nuklearen Aktivitäten Teherans aus-geht. Die USA unterstützen seit über einem Jahr den di-plomatischen Ansatz der EU 3, wohingegen der Iran imvergangenen August noch nicht einmal bereit war, überdas EU-3-Angebot überhaupt Gespräche zu führen.

Wir müssen uns nunmehr darauf konzentrieren, Tehe-ran zur Einhaltung seiner Vertragsverpflichtungen unterdem UN-Regime des Nichtverbreitungsvertrages zu be-wegen, statt gebetsmühlenartig populistisch vor Militär-schlägen zu warnen. Wer die Vorzeichen der Bedrohungumkehrt, verharmlost die Gefahr, die von iranischen Nu-klearwaffen auch für unsere Sicherheit ausgehen würde.Diese Gefahr wird von der Linken kaum zur Kenntnisgenommen. Ich glaube, Die Linke will nicht den Ein-druck erwecken, dass Ihr die iranischen Interessen näherlägen als unsere eigene Sicherheit.

Niemand bestreitet, dass der Iran laut Nichtverbrei-tungsvertrag das Recht hat, die Nuklearenergie friedlichzu nutzen. Andererseits hat die IAEO – wohlgemerkt:ein multilaterales Organ der Vereinten Nationen, was derLinken wohl erst zu verdeutlichen ist – wiederholt fest-stellen müssen, dass der Iran die Zweifel, die die interna-tionale Gemeinschaft bezüglich des rein friedlichen Cha-rakters des iranischen Nuklearprogramms auf der Basisverschiedener Berichte der IAEO berechtigterweise hat,aufgrund seiner unzureichenden Kooperation nie ausge-räumt hat. Im Gegenteil: Iran hat durch das Überschrei-ten diverser roter Linien in den vergangenen Monaten,nicht zuletzt mit der Wiederaufnahme der Urananreiche-rung – trotz des Pariser Abkommens –, unsere Sorge

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bezüglich eines militärischen iranischen Nuklearpro-gramms wachsen lassen, nicht zu sprechen von den wei-terhin unerträglichen und aggressiven Äußerungen desiranischen Präsidenten gegenüber Israel.

Um es noch einmal zu verdeutlichen: Das iranischeAtomprogramm erfüllt uns deshalb mit berechtigterSorge, da das gesamte Programm bis 2002 geheim ge-halten wurde. Die IAEO hat darüber hinaus seither wie-derholt feststellen müssen, dass der Iran nicht ausrei-chend kooperiert. Hätte der Iran nichts zu verbergen,was dem Geist des NW, auf den sich die Linke so gernberuft, widersprechen würde, wäre es mit Sicherheitnicht zu den Äußerungen der IAEO gekommen. Zudem:Würde der Iran die Nuklearenergie lediglich zivil nutzenwollen, hätte er dies offen und transparent tun können,nachdem der NW ihm genau dies zugesteht. Dann aberist zu fragen, weshalb Teheran das Programm solangeverheimlicht hat und weiterhin nicht zufriedenstellendmit der IAEO bzw. den Vereinten Nationen kooperiert.

Die internationale Gemeinschaft und wir alle – waseigentlich auch alle Parteien in diesem Hause mit ein-schließen sollte – müssen weiterhin geschlossen verdeut-lichen, dass wir eine nukleare Bewaffnung des irani-schen Regimes nicht hinnehmen werden. Es liegtnunmehr an Teheran, weiterführende Schritte, wie etwawirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen, abzuwenden. DieBefassung des Sicherheitsrats mit dem iranischen Nukle-arprogramm bedeutet nicht das Ende der Diplomatie,sondern zeigt im Gegenteil, dass die internationale Ge-meinschaft weiter auf diesen Weg setzt. Das iranischeRegime sollte demzufolge die Entschlossenheit der in-ternationalen Gemeinschaft nicht herausfordern. Dierussische und chinesische Bereitschaft, sich weiter engmit den EU 3 und den USA abzustimmen, demonstriert,dass auch Moskau und Peking die nukleare BewaffnungIrans nicht zulassen werden.

Erfüllt der Iran innerhalb der gesetzten Frist die vonder IAEO geforderten Maßnahmen, sollten auch dieUSA eine aktivere Rolle im Verhandlungsprozeß einneh-men. Washington sollte signalisieren, dass es zu einerVerbesserung der diplomatischen und wirtschaftlichenBeziehungen zum Iran bereit ist, falls Teheran sich demfriedlichen Charakter seines Nuklearprogramms nach-weislich und dauerhaft voll verpflichtet fühlt.

Äußerungen, wie die von Oskar Lafontaine, die Iran-Atompolitik des Westens sei völlig verlogen, unterwan-dern offensichtlich zielgerichtet die Bemühungen der in-ternationalen Gemeinschaft zu einer friedlichen Lösungauf dem Verhandlungsweg. Darüber hinaus sind derar-tige Verlautbarungen weder von Stilempfinden geprägtnoch im Hinblick auf diplomatische Umgangsformenunter wesentlicher Beachtung der Kinderstube zustandengekommen. Die Linke ist dringend aufgerufen, sich in-tellektuell und in der Opposition selbst zu ordnen, bevorsie sich der Weltordnung zuwendet.

Dr. Rolf Mützenich (SPD): Als wir vor wenigenWochen über die beiden vorliegenden Anträge hier de-battierten, erweckte der Redner der Fraktion Die Linke,Herr Lafontaine, den Eindruck, dass demnächst mit Mi-

litärschlägen gegen den Iran zu rechnen sei. Er wieder-holte auch den Vorwurf, dass die Bundesregierung in ih-rer Haltung gegenüber der iranischen Atomkrisezerstritten sei. Beide Mutmaßungen waren nichts alshaltlose Unterstellungen natürlich weil sie vorwiegendinnenpolitisch motiviert waren. Das zeigt auch, wie Siemit dem Thema umgehen: Sie verunsichern die Men-schen, Sie senden missverständliche Signale an die Ver-antwortlichen im Iran und Sie schwächen die gemein-same Haltung in der iranischen Atomkrise. Und dannkündigen Sie auch noch an, demnächst in den Iran reisenzu wollen, um dort zu vermitteln.

Vorweg: Jede Diskussion mit den politischen Ent-scheidungsträgern im Iran ist sinnvoll. Der Dialog isteine Bedingung, um die Krise friedlich zu lösen. Aller-dings ist es genauso wichtig, entschieden und unmiss-verständlich aufzutreten. Deshalb stellen Sie bitte in Te-heran klar:

Erstens. Die Internationale Atomenergiebehörde kannnoch immer nicht bestätigen, dass die iranischen Aktivi-täten allein nicht militärischen Zielen dienen. Iran mussendlich intensiv und offen mit den Inspekteuren zusam-menarbeiten.

Zweitens. Voraussetzung der Vertrauensbildung istdie Suspendierung der Urananreicherung zum jetzigenZeitpunkt.

Drittens. Die ständige Leugnung des Holocausts, dieInfragestellung des Existenzrechts Israels und die militä-rischen Drohungen gegen das Land sind inakzeptabelund zutiefst inhuman. Das sollten Sie als Vertreter desdeutschen Parlaments in Teheran deutlich machen.

Was ist seit unserer letzten Debatte geschehen? Dasherausragende Ereignis ist die einstimmige Feststellungdes Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, dass der Iranzu einer konstruktiven Zusammenarbeit zurückkehrenund vertrauensbildende Schritte unternehmen muss.Gleichzeitig unterstreicht dieser das Recht der friedli-chen Nutzung der Kernenergie. Dieser Beschluss istwichtig und richtig. Er ist ein Kompromiss, was dennsonst? Aber er wurde von dem Gremium entwickelt undentschieden, dass für den internationalen Frieden einebesondere Verantwortung trägt. Es ist gelungen – trotzunterschiedlicher Interessen –, durch Kooperation undKompromisse das gemeinsame und übergeordnete Zielder internationalen Gemeinschaft nicht aus den Augenzu verlieren: die friedliche Lösung der iranischenAtomkrise. Deutschland hat dabei eine wichtige underfolgreiche Rolle gespielt. Dass dies ohne formellenStatus gelungen ist, unterstreicht die neuen Verhaltens-möglichkeiten in der internationalen Politik.

Klar ist: In den kommenden Wochen muss Überzeu-gungsarbeit geleistet werden, gegenüber dem Iran, aberauch gegenüber anderen wichtigen Akteuren. Dazu ge-hören in erster Linie die USA. Wir Sozialdemokratenteilen die Hoffnung des deutschen Außenministers, dassauch die Verantwortlichen in Washington ihre Ge-sprächskanäle gegenüber dem Iran für die Beilegung derAtomkrise nutzen. Ohne die Anerkennung der irani-schen Sicherheitsinteressen, ohne die Herstellung gere-

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gelter Beziehungen und die Wiederaufnahme wirtschaft-licher Kontakte wird es keine langfristige und belastbareLösung geben.

Kollegen aus der CDU und CSU, Herr von und zuGuttenberg und Herr Polenz, sowie Vertreter aus derSPD, unser früherer Kollege Dietmar Nietan und ich,hatten bereits vor mehr als zwei Jahren eine Initiativemit Repräsentanten des US-Kongresses und wissen-schaftlichen Einrichtungen in Washington begonnen, umein amerikanisches Engagement für die Lösung des Iran-konflikts zu initiieren. Damals verstärkte sich für michder Eindruck, dass die amerikanische Regierung überkeine schlüssige Iranpolitik verfügt. Diese ist vielmehrüberlagert von gefühlsbetonten, teilweise irrationalenHaltungen und Handlungen. Gleiches gilt auch für dieAkteure in Teheran.

Allerdings sollten wir auch in Europa, vor allem inDeutschland, Acht geben, dass sich die Politik gegen-über Iran nicht nur auf die Bearbeitung der Atomkrisereduziert. Unsere Iranpolitik muss natürlich auch dendramatischen Wandel in den vergangenen Jahrzehntenbeachten: Dazu gehören aus regionaler Sicht der achtjäh-rige Iran-Irak-Krieg, die Entwicklung in Afghanistanund im Irak, die Auflösung der Sowjetunion mit ihrenFolgen für die Nachbarstaaten des Irans, die Nuklearisie-rung des indisch-pakistanischen Verhältnisses ein-schließlich der jüngsten indisch-amerikanischen Verab-redungen und die Nachfrage nach Energieressourcen.Aus innenpolitischer Sicht gehören dazu die Übernahmepolitischer Verantwortung durch eine neue politischeElite, die Verstetigung der religiösen Gruppen im politi-schen und wirtschaftlichen Prozess, das endgültigeScheitern eines Exports der islamischen Revolution undder dramatische innergesellschaftliche Wandel.

Was wir also leisten müssen, ist eine umfassendeIranpolitik: Selbstverständlich brauchen wir – wie es dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ausführt – einenDialog mit der Zivilgesellschaft. Aber das reicht nicht:Wir müssen auch mit den Verantwortlichen in Teheransprechen. Wir müssen Kooperationsangebote unterbrei-ten, Hilfen und Angebote zugunsten einer wirtschaftli-chen, sozialen und kulturellen Beziehung zwischen Eu-ropa und Iran anbieten. Und vor allem: Wir müssendarauf dringen, dass der Iran eine verantwortliche, fried-liche und transparente Politik im Mittleren und NahenOsten gestaltet. Das wäre zu unser aller Nutzen.

Harald Leibrecht (FDP): Der Atomstreit mit demIran ist an den UN-Sicherheitsrat überwiesen worden.Die iranische Führung hat es monatelang bewusst ver-säumt, der IAEA die vollständigen Pläne ihres Atompro-gramms offen zu legen. Jahrelang haben die Iraner dieInternationale Atomenergiebehörde – und somit die ge-samte Staatengemeinschaft – über ihr Programm ge-täuscht. Die Überweisung an den Sicherheitsrat ist somitrichtig und nur konsequent.

Doch diese Entscheidung ist nicht das Ende der Di-plomatie. Es müssen weiterhin alle diplomatischen Be-mühungen ausgeschöpft werden, bevor es zu weiterenSchritten oder gar irgendwelchen Sanktionen kommt.

Was wir jetzt dringend benötigen, sind positive Signaleaus Teheran. Die wiederholten Hasstiraden des irani-schen Präsidenten gegen das israelische Volk müssen wirernst nehmen.

Was passiert denn, wenn der Iran tatsächlich sein mi-litärisches Engagement verstärkt und den unsäglichenDrohungen seines Präsidenten gegenüber Israel Tatenfolgen lässt? In solch einem Fall müssen wir handlungs-fähig sein. Mit ihrem derzeitigen Militärmanöver undden Tests von Tarnkappenraketen, die inzwischen eineReichweite von bis zu 2 000 Kilometern haben, machtdie iranische Führung deutlich, dass ihre Waffenpro-gramme nicht nur auf die Selbstverteidigung der Landes-grenzen ausgerichtet sind. Iranische Raketen könntenbald schon Europa und auch Deutschland erreichen.Dies alles sind deutliche Zeichen aus dem Iran, die nichtauf die alleinige Nutzung des Atomprogramms für zivileZwecke schließen lassen. Es liegt jetzt am Iran, uns vomGegenteil zu überzeugen. Doch wie sieht nun der rich-tige Umgang mit der iranischen Führung aus? WelcheMaßnahmen können ergriffen werden, um einer Radika-lisierung des iranischen Volkes entgegenzuwirken – ei-nem Volk, das mehrheitlich seinem hetzerischen Präsi-denten und dessen atomaren Plänen aus vollerÜberzeugung folgt?

Um es jedoch klar und deutlich zu sagen: Eine militä-rische Option steht nicht zur Debatte. Der Sicherheitsratmuss alle diplomatischen Alternativen ausschöpfen, umdie iranische Regierung umzustimmen und zu einer voll-ständigen Offenlegung ihres Atomprogramms zu bewe-gen. Hierbei wird es in erster Linie darum gehen Ver-trauen und Glaubwürdigkeit zu schaffen.

Wenn es doch nichts zu verbergen gibt, verstehe ichnicht, warum Teheran der IAEA nicht alle Informationenüber sein Atomprogramm gibt. Eine Offenlegung derPläne wäre eine echte vertrauensbildende Maßnahme.

Aber auch wir müssen überlegen, wie wir das Ver-trauen des iranischen Volkes und seiner Führung gewin-nen können. Wir müssen uns enger mit den USA abstim-men. Bislang scheint es, als stünde die EU imVerhandlungsprozess nur für so genannte Carrotts, undWashington ausschließlich für die Sticks. Eine glaub-würdige, abgestimmte transatlantische Verhandlungs-strategie muss Sticks und Carrotts so kombinieren, dassdie transatlantischen Partner nicht gegeneinander ausge-spielt werden können.

Die USA haben das Gesprächsangebot aus Teheranzur Situation im Irak angenommen – ein wichtiger ersterSchritt, den wir sehr begrüßen. Denn in einer Situationder Gesprächslosigkeit, der absoluten Funkstille, lässtsich Vertrauen ganz sicher nicht herstellen. Die USA ha-ben mit Nordkorea über Kim Jong Ils atomare Pläne ver-handelt. Es wäre sicher hilfreich, wenn sie sich jetzt auchmit der iranischen Führung im direkten Gespräch ausei-nander setzen würden.

Die Bemühungen der EU-3 in den Verhandlungen mitdem Iran, die auch eng mit den USA und Russland abge-stimmt waren, waren sehr wichtig. Nur so konnte mandem Iran im August 2005 ein Angebot für ein Langzeit-

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abkommen unterbreiten. Leider hat der Iran alles abge-lehnt und zeigte sich wenig kooperativ. Darum ist es nurlogisch, dass diese Sache jetzt an den Sicherheitsratüberwiesen wurde. Die fünf Vetomächte des Sicherheits-rates und Deutschland handeln richtig, wenn sie nun denIran auffordern, sein Projekt zur Urananreicherung in-nerhalb von 30 Tagen zu stoppen. Jetzt ist Teheran amZug.

Ich möchte hier aber auch ein weiteres, zentrales Pro-blem ansprechen, wenn wir über eine atomwaffenfreieWelt reden wollen. Wie glaubwürdig kann ein Atomwaf-fensperrvertrag sein, bei dem einzelne Länder Atomwaf-fen besitzen dürfen und andere nicht? Eine Eskalation imNahen und Mittleren Osten kann letzten Endes nur ver-hindert werden, wenn die atomare Abrüstung in der Re-gion und auch weltweit von allen Seiten vorangetriebenwird. Das braucht Mut, Glaubwürdigkeit und neue Ini-tiativen für die Abrüstung, auch von uns.

Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Vor Ihnen liegenzwei Anträge mit dem gleichen Ziel. Es geht darum, dieGefahr einer militärischen Intervention im Streit um dasiranische Atomprogramm zu bannen. Ein Ziel, in dem– soweit ich sehe – wir alle übereinstimmen. In der letz-ten Zeit habe ich kaum eine Stimme aus irgendeiner Par-tei in diesem Haus vernommen, die eine Drohung mitmilitärischen Sanktionen gegenüber dem Iran überhauptnoch für sinnvoll gehalten hat. Im Gegenteil, die Ein-sicht hat immer mehr Platz gegriffen, dass Verhandlun-gen – zweiseitige oder multilaterale – der einzige realis-tische Weg sind, der aus der Sackgasse herausfuhrenkann.

Ja, man könnte sogar fragen, ob die Angst vor derKriegsgefahr nicht gänzlich übertrieben ist? Die jüngsteResolution des UNO-Sicherheitsrats spricht überhauptnicht mehr von Sanktionen. Sind die beiden Anträgevielleicht schon überholt? Ich furchte: nein. Die US-Administration hat ihre Pläne, im Iran einen Regime-wechsel vorzunehmen, immer noch nicht aufgegeben.Die USA sind nach wie vor zu einer Eskalation bereit,und die könnte schon bald eintreten. Denn eines ist inder Zwischenzeit mehr als deutlich geworden: Der Iranwird nicht auf das Recht zur eigenständigen Urananrei-cherung verzichten. Darin sind sich iranische wie inter-nationale Kritiker der iranischen Entwicklung inzwi-schen einig. Wer das nicht akzeptieren will – was bleibtihm anderes als die Rückkehr zur Drohung? Deshalbplädieren wir für einen realistischen Umgang mit demAnspruch des Iran auf Urananreicherung, zu zivilenZwecken wohl bemerkt, so wie er auch völkerrechtlichdurch den Atomwaffensperrvertrag legitimiert ist.

Der jüngste russische Vorschlag zielt auf die Zulas-sung einer Urananreicherung auf niedriger Stufe alleinzu Forschungszwecken unter strenger Kontrolle derAtomenergiebehörde. Ein ähnlicher Vorschlag liegt vonder International Crisis Group vor. Die Iraner selbst ha-ben vorgeschlagen, die Urananreicherung auf ihrem Ter-ritorium einem internationalen Firmenkonsortium unterebenfalls strenger Kontrolle der Atomenergiebehörde zuübergeben. Warum haben die USA beide Vorschläge ab-gelehnt? Geht es ihnen vielleicht gar nicht so sehr um

die Atomwaffen als vielmehr um die Beseitigung einesfür sie unerträglichen Regimes?

Wenn man diesem Verdacht nicht folgt, bleibt nur derWeg der Verhandlungen unter Verzicht auf jegliche Dro-hung mit militärischer Gewalt. Wir begrüßen, dass derBundesaußenminister dies bei seinem Besuch in Wa-shington auch öffentlich gefordert hat und ermutigenihn, trotz der jüngst erteilten Abfuhr, in diesem Bemü-hen nicht nachzulassen.

Wir fordern in unserem Antrag ja nicht nur Verhand-lungen und Gewaltverzicht. Wir fordern auch die irani-sche Regierung auf, ihre undiskutablen Drohungen ge-genüber Israel einzustellen, und wir fordern alle Staatendes Nahen und Mittleren Ostens auf, an der Einrichtungeiner atomwaffenfreien Zone mitzuwirken. Dies sindForderungen, die sie alle hier im Haus unterschreibenkönnen.

Wenn Sie sich jedoch an dem Absender des Antragsstoßen, empfehlen wir Ihnen, den Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen zu unterstützen. Denn er fordert imKern dasselbe wie wir. Er hat leider einen Fehler: Erkann der Verlockung von politischen oder ökonomischenSanktionen nicht widerstehen. Diese lehnen wir ent-schieden ab. Doch sind wir uns in der Abwehr militäri-scher Mittel wenigstens in diesem Fall einig und könnendeshalb auch diesem Antrag zustimmen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seitder Wahl des iranischen Präsidenten Ahmadinedschadim Juni 2005 hat sich der Konflikt um das Atompro-gramm des Iran verschärft: Der Bruch der Pariser Ver-einbarung zwischen Iran und den E-3/EU – Deutschland,Frankreich und Großbritannien – mit der Wiederauf-nahme der Urankonversion in Isfahan und die Weige-rung, eine tragfähige Vereinbarung mit der internationa-len Gemeinschaft auszuhandeln, geben großen Anlasszur Sorge. Auch die neuerliche scharfe Unterdrückungvon Medien und Zivilgesellschaft im Iran sind alarmie-rend. Ebenso inakzeptabel sind die wiederholten Dro-hungen des iranischen Präsidenten gegen Israel undseine Leugnung des Holocausts. Diese Entwicklung se-hen wir mit großer Sorge und betonen die interfraktio-nell geteilte deutsche Verpflichtung zur Unterstützungdes Existenzrechts Israels.

Dennoch muss klar sein, dass die Androhung bzw.Anwendung von Gewalt gegen das iranische Regime einenormes Eskalationsrisiko bergen würde. Deshalbmöchte ich betonen, dass es keine Alternative zu einerzivilen Beilegung des Konflikts gibt: Verhandlungen und– falls diese erfolglos bleiben – nicht militärische Sank-tionen sind der einzige Weg, um doch noch zu einerKompromisslösung zu kommen. Die Uneinigkeit in derBundesregierung und zweideutige Aussagen zu gewalt-samen Maßnahmen sind nicht ausreichend. Vielmehrmuss die Bundesregierung gemeinsam mit den Partnernin der EU, mit den USA, mit Russland und China dafüreintreten, einen Militäreinsatz eindeutig auszuschließen.Direkte Gespräche der USA mit der iranischen Führungkönnen hilfreich sein, um eine Lösung zu finden.

Es kann aber nicht sein, dass auch nicht militärischeSanktionen ausgeschlossen werden, wie dies die Bun-

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destagsfraktion der PDS fordert: Gezielte nicht militäri-sche Sanktionen stellen die einzigen Erfolg versprechen-den Instrumente bei Scheitern einer Verhandlungslösungdar. Die Überweisung an den Sicherheitsrat der Verein-ten Nationen ist richtig, um die iranische Führung zurWiederaufnahme der Verhandlungen zu bewegen. Werdie Option von Sanktionen leichtfertig aus der Handgibt, verschlechtert die Verhandlungsposition im Atom-streit mit Iran. Wir treten deshalb für die Entwicklung ei-nes Katalogs von geeigneten abgestuften Sanktionsmaß-nahmen ein.

Eine kommerzielle Urananreicherung muss unterblei-ben, bis das internationale Vertrauen in die friedlicheNutzung des iranischen Atomprogramms wieder herge-stellt ist und alle Bedingungen der VN und der IAEO er-füllt werden. Dabei sind in den Bereichen Urananreiche-rung, Brennstoffproduktion, Wiederaufbereitung undAbfallbeseitigung multinationale Lösungen sinnvoll,wie sie jüngst der Generalsekretär der IAEO, al-Baradei,bei seinem Besuch in Deutschland vorgeschlagen hat.

Wir sind der Meinung, dass die Bundesregierungauch auf vielen anderen Ebenen Aktivitäten unterneh-men sollte, wie es unser Antrag vorsieht: Die Bundesre-gierung sollte gemeinsam mit ihren Partnern in der EUdarauf drängen, dass der Menschenrechtsdialog zwi-schen der EU und dem Iran umgehend fortgesetzt wird.Die Menschenrechtsverletzungen der iranischen Füh-rung und der Druck auf die demokratische Oppositionsind in den letzten Monaten enorm gestiegen. Ein konse-quenter Einsatz für die Freilassung politischer Gefange-ner, die Achtung des Rechts auf freie Meinungsäußerungund politische Betätigung ist auf allen politischen Ebe-nen notwendig.

Neben politischem Druck auf die iranische Führungmuss vor allem die iranische Zivilgesellschaft intensiverunterstützt werden. Anders als in vielen anderen Län-dern der Region ist die Zivilgesellschaft in Iran erstaun-lich breit und vielfältig, sie hat aber auch besonders un-ter der innenpolitischen Verschärfung der letzten Monategelitten. Die Bundesregierung muss intensiv die beste-henden Kontakte pflegen und ausweiten. Zudem ist sieaufgerufen, mit konkreten Projekten, zum Bespiel imMedienbereich, die bedrängte Zivilgesellschaft und diedemokratische Entwicklung im Iran zu stärken. Nur mitdiesen zivilen Maßnahmen ist eine Beilegung der aktuel-len Krise und eine langfristige Stärkung der demokrati-schen Elemente im Iran möglich.

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurEinführung der Europäischen Genossenschaftund zur Änderung des Genossenschaftsrechts(Tagesordnungspunkt 18)

Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Bundespräsi-dent Roman Herzog hat 1998 ausgeführt: „Genossen-schaften sind keine liebenswerten Reminiszenzen an ein

paar interessante Männer des vergangenen Jahrhunderts,sondern der Genossenschaftsgedanke ist heute so funkel-nagelneu wie vor 150 Jahren. Man müsste ihn erfinden,wenn er nicht bereits erfunden wäre.“ Der Einschätzungunseres Alt-Bundespräsidenten muss man sich auchheute voll und ganz anschließen.

Genossenschaften sind ein bedeutender Pfeiler derdeutschen Wirtschaft und werden gerade wegen ihrer re-gionalen Verankerung in Zeiten einer immer umfassen-der werdenden Globalisierung und einer ständig anstei-genden weltweiten Marktkonzentration immer wichtiger.Unter diesem Bewusstsein debattieren wir heute Abend.

Mit der Einbringung des Gesetzes zur Einführung derEuropäischen Genossenschaft und zur Änderung des Ge-nossenschaftsrechts soll das inzwischen über 100 Jahrealte Genossenschaftsrecht modernisiert und an die An-forderungen des internationalen Wettbewerbs angepasstwerden. Ziel dabei ist es, die genossenschaftliche Idee zustärken und ihre Attraktivität weiter zu erhöhen.

Genossenschaften sind in Deutschland in allen Sekto-ren des wirtschaftlichen Lebens verbreitet. 60 Prozentaller Handwerker, 65 Prozent aller selbstständigen Steu-erberater, 70 Prozent aller Einzelhandelskaufleute, 90 Pro-zent aller Bäcker und Metzger und praktisch jeder Land-wirt ist Mitglied einer oder mehrerer Genossenschaften.Wohnungsbaugenossenschaften umfassen rund 3 Millio-nen Mitglieder und bewirtschaften etwa 10 Prozent derMietwohnungen in Deutschland.

Und, last, but not least, stellen die Volks- und Raiffei-senbanken mit rund 30 Millionen Kunden, 15,5 Millio-nen Mitgliedern, 168 000 Mitarbeitern, 15 000 Bank-stellen und einem Marktanteil von 17 Prozent einenwichtigen Faktor in der deutschen Kreditwirtschaft dar.

Bekanntlich wurden die Genossenschaften Mitte des19. Jahrhunderts als wirtschaftliche Selbsthilfeeinrich-tungen gegründet. Als es infolge der gesellschaftlichenUmwälzungen durch Industrialisierung und Landfluchtzu Engpässen bei der Versorgung mit Wohnungen undGütern des täglichen Bedarfs kam, schlossen sich Men-schen zu Wohnungs- und Konsumgenossenschaften zu-sammen und verteilten die Güter gerecht auf ihre Mit-glieder. Auch die Kreditgenossenschaften funktioniertennach diesem Prinzip. Dahinter stand – und steht – derGrundgedanke, dass es für ein einzelnes Mitglied Vor-teile bringt, wenn bestimmte wirtschaftliche Funktionenauf eine speziell dafür geschaffene Wirtschaftseinheitausgelagert werden, die am Markt mehr Durchsetzungs-kraft hat als das Individuum selbst.

Das Motto seit jener Zeit war und ist: „Alle für einen –einer für alle“. Dies gilt sowohl in einer großen Genos-senschaft wie der DATEV in Nürnberg mit rund40 000 Mitgliedern, wie auch in einer der kleinsten Ge-nossenschaften wie der Sennereigenossenschaft Unter-maiselstein im Allgäu mit nur elf Mitgliedern.

Dieser Grundgedanke soll durch den heute einge-brachten Gesetzentwurf weiter gestärkt und ausgebautwerden.

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Beispielhaft möchte ich hier drei Schwerpunkte nen-nen:

Erstens. Aus Sicht der Neugründungen und kleinenGenossenschaften sind dabei folgende Punkte besondershervorzuheben: Künftig sollen statt bisher sieben bereitsdrei Personen eine eingetragene Genossenschaft gründenkönnen. Damit würde nach dem Motto: „Alle für einen –einer für alle“ der Einstieg in eine Genossenschaft er-leichtert, Kooperationen von drei Handwerkern, Land-wirten oder Genossenschaftsbanken ermöglicht und Sy-nergien und Energien gebündelt.

Außerdem wird vorgesehen, dass bei eingetragenenGenossenschaften mit bis zu 20 Mitgliedern nicht mehrzwei Vorstands- und drei Aufsichtsratsmitglieder ge-wählt werden müssen, sondern es soll nunmehr ein Vor-stand genügen und auf den Aufsichtsrat kann völlig ver-zichtet werden. Damit kann Bürokratie abgebaut undkönnen die Rahmenbedingungen vor allem für kleineGenossenschaften verbessert werden.

Zweitens. Für Genossenschaften wiederum, die nachden internationalen Rechnungslegungsstandards IAS bi-lanzieren wollen, soll die Möglichkeit eröffnet werden,ihre Satzung so auszugestalten, dass die Geschäftsgutha-ben weiterhin als Eigenkapital ausgewiesen werden kön-nen.

Drittens. Für grenzüberschreitende Kooperationen,deren Mitglieder ihren Sitz in mindestens zwei EU-Staa-ten haben, soll schließlich eine neue Rechtsform ge-schaffen werden: die so genannte Europäische Genos-senschaft oder Societas Cooperativa Europaea (SCE).

All diese Neuregelungen sollen zu einer flexiblerenAnpassung an das wirtschaftliche Umfeld der genossen-schaftlichen Betätigung führen, ohne die Besonderheitender Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft zuzerstören.

Vor diesem Hintergrund wird der Gesetzentwurf imweiteren Verfahren allerdings auch noch einmal genauzu durchleuchten sein. Ich möchte hier nur zwei Bei-spiele herausgreifen:

Nach der Vorschrift des neuen § 43 Abs. 7 des Ge-setzentwurfs ist eine Generalversammlung zur Be-schlussfassung über die Abschaffung der Vertreterver-sammlung unverzüglich einzuberufen, wenn die vonmindestens 10 Prozent der Mitglieder oder mindestens500 Mitgliedern beantragt wird. Dies bedeutet für eineGenossenschaft wie die bereits angeführte DATEV mitüber 40 000 Mitgliedern, dass also lediglich 0,8 Prozentgenügen, um einen entsprechenden Antrag zu stellenund damit eine derartige Mammutveranstaltung vorbe-reiten und durchführen zu müssen. Nicht nur wegen derzahlenmäßigen Dimension, sondern insbesondere wegender Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Vor-stands und auf das Zusammenspiel zwischen dem Vor-stand und den Mitgliedern der Genossenschaft, ist einesolche Regelung nicht zielführend, denn sie verleitet ge-rade zu einem Missbrauch des Antragsrechts und gehtweit über einen – sonst wichtigen und grundsätzlich an-zuerkennenden – Minderheitenschutz hinaus.

Das Gleiche gilt für die geplante Neuregelung des§ 45 Abs. 1 Genossenschaftsgesetz. Demnach muss dieGeneralversammlung oder die Vertreterversammlung,soweit diese besteht, unverzüglich einberufen werden,wenn mindestens ein Zehntel der Mitglieder oder min-destens 150 Mitglieder die Einberufung unter Anfüh-rung des Zwecks und der Gründe verlangen. Ich möchtehier ein Beispiel einer genossenschaftlichen Bank ausmeinem Wahlkreis mit rund 18 000 Mitgliedern anfüh-ren. Bei dieser Bank würden angesichts der vorgeschla-genen absoluten Zahl von 150 weniger als 1 Prozent derMitgliedern genügen, um eine Vertreterversammlungeinberufen zu lassen. Dies würde zu immensem organi-satorischen Aufwand und erheblichen Kosten führen –und ebenfalls eine nicht zu vertretende ständige Unsi-cherheit ins gesamte genossenschaftliche Lager tragen.

CDU und CSU werden sich deshalb in den parlamen-tarischen Beratungen dafür einsetzen, eine bessere Lö-sung in Bezug auf den neuen Abs. 7 § 43 in Genossen-schaftsgesetz zu finden.

Grundsätzlich ist der vorgelegte Gesetzentwurf zu be-grüßen und positiv zu bewerten. Er stärkt die genossen-typischen Prinzipien der Selbstverwaltung und Selbst-verantwortung. Im weiteren Verfahren wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion darüber wachen, dass der be-sonderen Stellung der Genossenschaften in Deutschlandim Sinne unseres geschätzten Alt-BundespräsidentenRoman Herzog auch in Zukunft Rechnung getragenwird.

Klaus Uwe Benneter (SPD): Die Einführung derEuropäischen Genossenschaft sowie die Reform desdeutschen Genossenschaftsrechts sind sinnvolle Vorha-ben, die wir gerne und zügig umsetzen wollen. Innerhalbder EU gibt es bereits seit Ende 2004 die Möglichkeiteine europäische Aktiengesellschaft – nämlich die Euro-päische Gesellschaft – zu betreiben. Es ist erfreulich,dass es nun künftig in Europa auch die Möglichkeit ge-ben wird, eine Europäische Genossenschaft zu gründen,die über die nationalen Grenzen hinaus agieren kann.Denn in einem zusammenwachsenden Europa bestehtein praktischer Bedarf an beiden gesellschaftsrechtlichenOrganisationsformen.

Genossenschafter formulieren es so: Die Aktienge-sellschaft möchte viel Geld einsammeln, um aus vielGeld noch mehr Geld zu machen. Naturgemäß ist diesesZiel für viele Menschen in Europa erstrebenswert unddeshalb ist es vernünftig, dass international agierendeUnternehmen hierfür einen europäischen Rechtsrahmenwählen können.

Die Genossenschaft möchte mit Dienstleistungen fürihre Mitglieder einen gemeinsamen Förderzweck verfol-gen. Auch hierfür gibt es innerhalb Europas einen Be-darf, der die nationalen Grenzen überschreiten kann. Ichdenke hier an Handelsgenossenschaften, an Vermark-tungsgenossenschaften etwa im landwirtschaftlichen Be-reich, an Energieerzeugungsgenossenschaften und anGenossenschaftsbanken.

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Für die Europäische Genossenschaft liegt eine detail-lierte EG-Verordnung vor, die ab 18. August in den Mit-gliedstaaten unmittelbar gelten wird. Unsere Aufgabe istes, hierzu sinnvolle Ausführungsbestimmungen zu tref-fen.

In den weiteren Beratungen werden wir uns vor allemmit der Frage des Sitzes der Europäischen Genossen-schaft befassen, Denn die Europäische Genossenschaftdarf selbstverständlich nicht dazu missbraucht werden,dem Abtauchen der Genossenschaft vor den Gläubigernbei drohender Insolvenz Vorschub zu leisten. Deshalb istbereits in der EG-Verordnung klar geregelt, dass der Sitzder Europäischen Genossenschaft in dem Mitgliedstaatliegt, in dem sich die Hauptverwaltung befindet. Sitzver-legungen sind nur nach vorheriger Prüfung durch dasRegistergericht möglich. Geprüft wird insbesondere, obdie Interessen der Gläubiger, aber auch des Fiskus ange-messen geschützt sind. In diesem Zusammenhang wer-den wir uns mit der Anregung des Bundesrates auseinan-der setzen, wonach Sitz und Hauptverwaltung am selbenOrt liegen sollten. Unser vorrangiges Ziel jedoch istgrößtmögliche Gestaltungsfreiheit, damit Deutschlandein attraktiver Standort für künftige europäische Genos-senschaften wird.

Auch im nationalen Genossenschaftsrecht wollen wirdie Genossenschaftsregeln für die heutigen Nutzer, aberauch für künftige mögliche Nutzer dieser Gesellschafts-form attraktiver gestalten.

Wir sind überzeugt, dass die Genossenschaft weiter-hin gebraucht wird. Denn in Genossenschaften könnendie Mitglieder die Prinzipien der Selbsthilfe und derSelbstverwaltung, aber auch der genossenschaftlichenSolidarität besonders erfolgreich zu ihrem jeweils eige-nen Nutzen umsetzen.

Die Genossenschaft als Rechtsform war zu Beginnder Industrialisierung eine Idee von Sozialreformern– von engagierten Menschen aus dem sozialdemokrati-schen, dem christlichen und dem liberalen Lager. DieIdee war segensreich – und sie ist es bis heute. Genos-senschaften agieren im Wohnungswesen, im Handel, inder Landwirtschaft; die Genossenschaft ist eine Rechts-form für Handwerker, die sich zusammenschließen, fürdas Bankenwesen wie auch für Arbeitsloseninitiativen.Genossenschaften können Zeitung machen – wie die„taz“ – sie können Schulen betreiben und im Januar die-ses Jahres lief das Biomasseheizkraftwerk im Bioener-giedorf Jühnde an, das von einer Betreibergenossen-schaft mit 180 Genossen betrieben wird. DieGenossenschaften in Deutschland sind recht stabil undwenig anfällig für Insolvenzen.

Allerdings müssen wir feststellen, dass die Genossen-schaftszahlen zurückgehen – und zwar seit Jahren. Heutehaben wir in Deutschland jährlich mehr Löschungen alsNeueintragungen und insgesamt sind die Genossen-schaften weniger geworden – waren es 1998 noch fast10 000 Genossenschaften, sind es heute weniger als8 000 Genossenschaften. Diese Entwicklung hängt da-mit zusammen, dass die Genossenschaft in der Grün-dung recht aufwendig ist; so ist beispielsweise bei derAnmeldung zur Eintragung ein Gründungsgutachten des

Prüfungsverbandes beizubringen. Auch im laufendenBetrieb ist die Genossenschaft aufwendig. Alle Genos-senschaften unterliegen bisher jährlich oder zweijährlichder Jahresabschlussprüfung durch den Genossenschafts-verband. Alle diese Prüfungen sind vor allem mit Kostenverbunden. Deshalb ist es ein Ziel des Gesetzentwurfs,Prüfpflichten – soweit vertretbar – abzubauen. Nachdem Entwurf soll bei einer Bilanzsumme bis 2 MillionenEuro keine Jahresabschlussprüfung mehr gesetzlich vor-geschrieben sein. Aus den Reihen der Prüfverbände ver-nehmen wir, dass eine Grenzziehung bei 350 000 EuroBilanzsumme besser sei. Aus den Reihen der Genossen-schaften – gerade der kleineren Genossenschaften – wirdvorgeschlagen, beim Abbau der Prüfpflichten noch wei-ter zu gehen und die genossenschaftlichen Prüfpflichtenvergleichbar dem GmbH-Recht erst ab 4 Millionen EuroBilanzsumme beginnen zu lassen. Das werden wir unsgenau anschauen. Nach meiner Auffassung brauchen wirsehr gute Gründe, wenn wir weiterhin die Genossen-schaft gegenüber der kleinen Kapitalgesellschaft un-gleich behandeln und ihr einen größeren Prüfungsauf-wand abverlangen.

Auch an anderer Stelle sehe ich noch Beratungsbe-darf. Viele Schreiben haben uns erreicht die sich mitdem vorgesehenen Recht der Mitglieder auf Einberufungeiner Generalversammlung befassen. Die Bedenken ge-gen ein zu kleines Mitgliederquorum für das Einberu-fungsverlangen sind nachvollziehbar. Ich bin zuversicht-lich, dass wir sachgerechte Lösungen finden werden, mitdenen auch Genossenschaften leben können, die Zehn-tausende oder gar Hunderttausende Mitglieder haben.Am Ende unserer Beratungen wird ein erneuertes undvon unnötigem Ballast befreites Genossenschaftsrechtstehen.

Mechthild Dyckmans (FDP): Europa wächst zu-sammen – heute debattieren wir erneut, welche Voraus-setzungen wir für dieses Zusammenwachsen selbstschaffen müssen. Der uns von der Bundesregierung sehrkurzfristig vorgelegte Gesetzentwurf dient nicht nur derUmsetzung von EU-Vorgaben zur Einführung der Euro-päischen Genossenschaft. Mit dem zu beratenden Ent-wurf soll nach dem Willen der Bundesregierung auch dieAttraktivität der deutschen Rechtsform der eingetrage-nen Genossenschaft erhöht werden.

Zunächst möchte ich einige Worte zum Zeitablauf deranstehenden Beratungen sagen: Für das In-Kraft-Tretendes Gesetzentwurfs ist durch die Umsetzungsfristen derEU der 18. August 2006 vorgesehen. Die Verordnungund die korrespondierende Richtlinie, die für die Euro-päische Genossenschaft und deren Regelungen der Ar-beitnehmerbeteiligung den rechtlichen Rahmen setzen,wurden vom Rat der EU bereits am 22. Juli 2003 ver-kündet. Sie traten am 21. August 2003 in Kraft. Trotz-dem benötigte die Bundesregierung circa 32 Monate, umden Entwurf vorzulegen. Und nun sind für die parlamen-tarischen Beratungen noch vier Monate mit gerade malfünf Sitzungswochen übrig. Ich hoffe, dass Sie – meineverehrten Kolleginnen und Kollegen – zu sehr konstruk-tiven und weltoffenen Beratungen bereit sind, um dieStolperfallen dieses Gesetzentwurfs auszubessern!

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Nun komme ich zum Inhalt des Gesetzes. Wie bereitserwähnt, sind zwei große Themenkomplexe zu bespre-chen: einmal die Einführung der Europäischen Genos-senschaft und zum Zweiten die Novelle des deutschenGenossenschaftsgesetzes – denn so soll das „Gesetz be-treffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“künftig genannt werden.

Zunächst einige Worte zum ersten Themenkomplex:Die Europäische Genossenschaft soll unter anderemdazu dienen, Anreize für ausländische Investitionen zusetzen. Ob dies gelingt, wird die Zukunft zeigen. Durchdie für die Europäische Genossenschaften geschaffeneMöglichkeit, für die Unternehmensverfassung zwischendem monistischen und dem dualistischen System zu un-terscheiden, erhalten Gründungs- und Verschmelzungs-willige die Wahl zwischen dem Modell mit Aufsichtsratund Vorstand und dem Modell, das eher dem angelsäch-sischen Board-System – hier nun Verwaltungsrat ge-nannt – gleicht. Dadurch könnte grundsätzlich ein größe-res Vertrauen entstehen, da einigen ausländischenInvestoren das monistische System bekannter ist.

Umso mehr erstaunt es, dass dieser Anreiz durch dieRegelungen zur Mitbestimmung im selben Federstrichwieder zunichte gemacht wird. Denn die deutsche Mit-bestimmung soll unverändert auf die Europäische Ge-nossenschaft übertragen werden. Nach den Vorgaben derEU soll die Gründung einer Europäischen Genossen-schaft nicht zu einer Beseitigung oder Einschränkungder Beteiligung von Arbeitnehmern in Organen der Ge-nossenschaft führen. Diesem Gebot der EU fühlen wirLiberale uns verpflichtet. Die Bundesregierung plant je-doch eine Ausweitung der Mitbestimmung. Zur Verdeut-lichung des Zusammenhangs: Bei der Übernahme derdeutschen Mitbestimmung in das dualistische Systemgibt es keine erwähnenswerte Veränderung bezüglich derBeteiligung der Arbeitnehmer. Die Übernahme der Mit-bestimmung in das monistische System bedeutet jedocheine ernorme Ausdehnung der Mitbestimmung auf dieLeitung des unternehmerischen Geschäfts. Ist bishernach deutschen Gesetzen die Mitbestimmung auf dasOrgan eines Unternehmens beschränkt, welches kontrol-lierend und überwachend tätig ist – nämlich den Auf-sichtsrat –, bleibt das Leitungsorgan mitbestimmungs-frei. Im monistische System haben wir aber „nur“ denVerwaltungsrat. Dieser erfüllt neben den Aufgaben derÜberwachung und Kontrolle auch die Aufgabe der Lei-tung des Unternehmens. Damit plant die Bundesregie-rung, die Mitbestimmung bis in das Leitungsorgan derEuropäischen Genossenschaft auszudehnen. Meine Da-men und Herren von der CDU/CSU: Dies haben Sie voranderthalb Jahren bei der Einführung der EuropäischenAktiengesellschaft noch zusammen mit uns heftigst be-kämpft!

Und wer die Hoffnung hatte, die Bundesregierungwürde daraus lernen, dass die Europäische Aktiengesell-schaft gerade wegen dieser Mitbestimmungsregelungennicht zu einem Investitionsschlager geworden ist, wirdwohl heute wieder eines Besseren belehrt. Wer sich vonden Schwierigkeiten der Gründung einer EuropäischenAktiengesellschaft überzeugen möchte, dem empfehleich an dieser Stelle einen Artikel der „FAZ“ von gestern

mit dem Titel „Die Europa AG ist eine Mutprobe“, derpräzise die Schwierigkeiten bei der Umwandlung der Al-lianz in eine Societas Europaea beschreibt.

Zurück zur Europäischen Genossenschaft: Die deut-sche Mitbestimmung ist kein Exportschlager; wenn wirsie auf Leitungsfunktionen ausdehnen, wird dies auslän-dische Investoren abschrecken, nicht aber zu Investitio-nen ermuntern. Wer Arbeitsplätze durch die EuropäischeGenossenschaft schaffen will, wird sich mit uns Gedan-ken darüber machen müssen, wie wir eine solche von derEU nicht geforderte Ausweitung der Mitbestimmungverhindern!

Ich komme nun zu den geplanten Änderungen desdeutschen Genossenschaftsgesetzes. Genossenschaftensind ein liberales Modell – sie verkörpern die Prinzipiender Selbsthilfe, der Selbstverwaltung und der Selbstver-antwortung. Wir Liberalen haben daher ein großes Inte-resse daran, die Attraktivität der Rechtsform der Genos-senschaft zu erhöhen. Daher begrüßen wir ausdrücklichdie Erweiterung des Förderungszwecks auf soziale undkulturelle Zwecke.

In der ersten Lesung möchte ich nur einige Kritik-punkte zu dem Entwurf ansprechen:

Über die Schwellenwerte zur Einberufung der Gene-ralversammlung zur Beschlussfassung über die Abschaf-fung der Vertreterversammlung in § 43 a Abs. 7 GenGund zur unverzüglichen Einberufung zur Generalver-sammlung in § 45 GenG müssen wir dringend reden. Eskann nicht sein, dass zum Beispiel bei einer Genossen-schaft mit 40 000 Mitgliedern bereits 0,38 Prozent derMitglieder die Einberufung der Generalversammlung er-zwingen können – dies entspricht den im Gesetzentwurfvorgesehenen 150 Mitgliedern. Und eine 40 000 Mit-glieder starke Genossenschaft zählt nicht einmal ansatz-weise zu einer der größten Genossenschaften inDeutschland – die größten Genossenschaften haben un-ter Umständen mehrere hunderttausend Mitglieder!

Ein anderer Punkt, der uns Liberale kritisch stimmt,ist die Streichung von fünf Worten in § 31 Abs. l Satz 2GenG. Hatte bisher ein Mitglied einer Genossenschaftdas Recht, eine Abschrift der Mitgliederliste „hinsicht-lich der ihn betreffenden Eintragungen“ zu erhalten, solldas Mitglied nun eine vollständige Abschrift erhaltenkönnen. Bereits aus datenschutzrechtlichen Gründenmuss man dies kritisch beurteilen. Denn in dieser Mit-gliederliste sind nicht nur die Namen der Mitglieder auf-geführt, sondern zum Beispiel auch die Anzahl der Ge-schäftsanteile. Hier wird in den Beratungen dasGrundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zubeachten sein.

Die Mehrstimmrechtsregelung in § 43 Abs. 3 GenGbedarf der Überarbeitung. So ist die Erweiterung für Un-ternehmergenossenschaften zu begrüßen; nicht nachvoll-ziehbar ist dagegen, warum die bestehenden Regelungenfür Nicht-Unternehmergenossenschaften oder Zentralge-nossenschaften gestrichen werden sollen.

Auch über die Anfechtungsbefugnis außen stehenderMitglieder (§ 51 Abs. 2 Satz 3 GenG) und die Grenzen

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für die Befreiung von der Jahresabschlussprüfung (§ 53Abs. 3 GenG) werden wir reden müssen.

Sie sehen, es gibt viel zu tun, damit aus diesem Ge-setzentwurf noch ein rundum gutes, innovatives undzielführendes Gesetz wird!

Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Bundesregierungschlägt Änderungen des Genossenschaftsrechts vor. Undtatsächlich: Im Titel kommt es noch vor, das Wort Ge-nossen. Ansonsten wird das Wort durch den Gesetzent-wurf abgeschafft – rund 90-mal wird es explizit durchdas Wort Mitglieder ersetzt. Genossen haben nach Mei-nung der Bundesregierung offenbar nichts mehr zu su-chen in ihren Genossenschaften.

Das ist mehr als eine Formalie. Das Streichen der Ge-nossen offenbart nämlich, was die Regierung unter Mo-dernisierung des Genossenschaftsrechts eigentlich ver-steht: Die Genossenschaften sollen kompatibel werdenmit dem globalisierten Kapitalismus. Es geht der Regie-rung weniger um die Stärkung des Genossenschaftsge-dankens, um Solidarität und innerbetriebliche Demokra-tie. Es geht ihr zu allererst um die Wettbewerbsfähigkeitvon Genossenschaften in Konkurrenz zu anderenRechtsformen. Und diese Wettbewerbsfähigkeit solldurch eine schleichende Angleichung des Genossen-schaftsrechts an die Regeln für Kapitalgesellschaften ge-schaffen werden.

Damit schließt sich die Regierung der EuropäischenKommission an, die schon 2004 forderte, die Vorschrif-ten für Genossenschaften müssten „auch ihren Bedürf-nissen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen einermodernen Marktwirtschaft“ gerecht werden. Aber diewachsende Ähnlichkeit von Genossenschaften und Ak-tiengesellschaften zeigt sich nicht nur bei der – mit demvorliegenden Gesetzentwurf ja auch eingeführten –neuen Rechtsform der Europäischen Genossenschaft.Auch die Genossenschaften nach deutschem Recht er-halten zukünftig Merkmale, die dem ursprünglichenCharakter des Genossenschaftswesens zuwiderlaufen,insbesondere: die Öffnung für investierende Mitglieder.In § 8 Abs. 2 des neuen Genossenschaftsgesetzes soll eszukünftig heißen: „Die Satzung kann bestimmen, dassPersonen, die für die Nutzung oder Produktion der Güterund die Nutzung oder Erbringung der Dienste der Ge-nossenschaft nicht infrage kommen, als investierendeMitglieder zugelassen werden können.“ Damit wird derVerwandlung von Genossenschaften in profitorientierteUnternehmen Tür und Tor geöffnet.

Sicherlich, die Einführung von investierenden Mit-gliedern ist eine Kannvorschrift. Auch sollen verschie-dene Einschränkungen dafür sorgen, dass Investoren dieEntscheidungsfindung innerhalb der Genossenschaftnicht zu sehr beeinflussen können. Dennoch: Wer wirdverhindern, dass finanzstarke Investoren den Genossin-nen und Genossen ihren Willen aufzwingen oder durchvermeintlichen betriebswirtschaftlichen Sachverstandschmackhaft machen? Alleine die Bezeichnung „Inves-tierende Mitglieder“ zeigt schon, worum es diesen Mit-gliedern vor allem gehen wird: um eine ordentliche Divi-

dende. Damit besteht die akute Gefahr, dass dereigentliche Zweck von Genossenschaften – die Förde-rung der nutzenden Mitglieder – einem neuen Zweckweichen muss: dem Wachstum des angelegten Kapitalsder investierenden Mitglieder. Genossenschaftsanteilesichern den Genossinnen und Genossen dann mitunternicht mehr eine angemessene Wohnraumversorgung,sondern allenfalls eine marktübliche Verzinsung. Geradejetzt sind Finanzinvestoren landauf, landab unterwegs,um die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften zukaufen. Jetzt sollen den Heuschrecken auch noch die Ge-nossenschaften angeboten werden? Wo bleibt ihre Kritikan der Heuschreckenplage, verehrte Kolleginnen undKollegen der SPD? Und vor allem: Wo bleiben die Kon-sequenzen? Diese Änderung lehnen wir ab.

Auch in der Landwirtschaft gilt es, das Genossen-schaftsmodell zu bewahren, das insbesondere in Ost-deutschland stark verankert ist. Dieses Modell ist denVeränderungen durch die Agrarpolitik der EU und WTOgut gewachsen. Eine Öffnung für nicht nutzende Inves-toren oder gar die Einführung eines an die Höhe der Be-teiligung gekoppelten Mehrstimmrechts, wie es von in-teressierter Seite gefordert wird, wäre kontraproduktiv.

Sicherlich, Einzelpunkte des Gesetzentwurfs sindauch zu begrüßen, etwa dass künftig nur drei anstatt sie-ben Mitglieder eine Genossenschaft gründen könnenoder die Erweiterung des Zwecks von Genossenschaftenum soziale und kulturelle Ziele. Auch dass Mehrstimm-rechte zukünftig nur bei Unternehmensgenossenschaftenmöglich sind, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Wir wollen, dass der Genossenschaftsgedanke insge-samt weiter gestärkt wird. Innerbetriebliche Demokratieund gleichberechtigte Kooperation in Genossenschaftensind Werte, die wir verteidigen. Statt diese Werte imSinne der Konkurrenzfähigkeit abzubauen, müssen Ge-nossenschaften endlich angemessen gefördert werden,damit die Genossenschaft auch zukünftig eine Genos-senschaft bleibt und nicht zu einer „Shareholderschaft“mutiert.

Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf zur Einfüh-rung der Europäischen Genossenschaft und zur Ände-rung des Genossenschaftsrechts erfährt grundsätzlich dieZustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dasvorliegende Regelwerk ist gleichsam ein Schritt nachvorne für die bestehenden Genossenschaften und imPrinzip eine Existenzgründerinitiative wie auch einwichtiger Beitrag im Sinne des Corporate-Governance-Gedankens der e. G.

Die Novellierung des Genossenschaftsgesetzes ist seitlangem von der Genossenschaftspraxis gefordert wor-den. Sie ist gleichzeitig eine Modernisierung und eineRückbesinnung auf den genossenschaftlichen Grundge-danken. Die genossenschaftliche Rechtsform wird alsOrganisationsform für die gemeinschaftliche Selbsthilfemit den Neuerungen des deutschen Genossenschafts-rechts gestärkt.

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Es werden gerade für Existenzgründer und -gründe-rinnen neue Möglichkeiten über eine neue Rechtsformgeschaffen. Die geplanten Änderungen im Genossen-schaftsrecht – „eingetragene Genossenschaft“, e. G. –lassen für Firmengründer zukünftig eine interessanteweitere Alternative bei der Wahl der Rechtsform entste-hen. Das ist einer der wichtigsten Neuerungen und dasgilt es zu unterstreichen und zu unterstützen.

Es ist gut, den Genossenschaftsgedanken zu stärken.Genossenschaften hatten und haben eine besondere Be-deutung als Instrument der Selbsthilfe. In letzter Zeitwerden verstärkt soziale Betriebe als Initiativen von Ar-beitslosen in Form von Genossenschaften gegründet.Die Eckpfeiler des Genossenschaftsprinzips, wie zumBeispiel Dezentralität, Selbsthilfe, Selbstorganisationund demokratische Selbstverwaltung finden ihre Ent-sprechung auch in der Wirtschaft. Diese Prinzipien ha-ben eine große Bedeutung für Bündnis 90/Die Grünen.Genossenschaften sind die geeignete Rechtsform, umunternehmerisches Handeln und soziale Verantwortungzu verbinden.

Im Einzelnen bewerte ich die Gesetzesänderungen infolgenden Bereichen wie folgt: Die Gründung von Ge-nossenschaften soll erleichtert und die allgemeinen Rah-menbedingungen gerade für kleine Genossenschaftensollen verbessern werden. Zum Beispiel wird die Min-destmitgliederzahl von sieben auf drei gesenkt. DieRechtsform der Genossenschaft wird auch für sozialeoder kulturelle Zwecke geöffnet. Besonders wichtig fürkleine Genossenschaften ist die Ausnahme von der Prü-fung des Jahresabschlusses bei Genossenschaften mit ei-ner Bilanzsumme bis zwei Millionen Euro.

Bemerkenswert ist außerdem, dass die Genossen-schaft künftig auch soziale Förderzwecke verfolgenkann. Bisher war die deutsche Genossenschaft wirt-schaftlichen Zwecken vorbehalten. Bisher waren hierunter anderem die Prüfungspflichten sehr umfangreichund kostspielig. Das führte dazu, dass die vielen Grup-pen, wie zum Beispiel Weltläden, Schulen und Arbeits-loseninitiativen, diese Rechtsform nicht für ihre Organi-sation gewählt haben. Mit der Novellierung bieten wirdiesen Organisationen und Einrichtungen die Möglich-keit, anstatt eines Vereins eine Genossenschaft zu grün-den. Die Prüfungspflichten von kleinen Genossenschaf-ten – Jahresbilanz von 2 Millionen Euro – werdenreduziert. Wir begrüßen diese Reduzierung. Damit wirdinsbesondere den Neugründungen von Genossenschaf-ten ein Weg geebnet und die Gründungsvoraussetzungenwerden erleichtert. Die Kompensation der Einnahmever-luste der Prüfungsverbände kann durch Übernahme deroperativen Buchführung kompensiert werden.

Für die Regelung der Prüfung ist entscheidend, obund in welchem Maße die Rechtsform der Genossen-schaft sich tatsächlich für Neugründungen aus kleinerenPersonenzusammenschlüssen eignet. Es ist entschei-dend, dass aus der Sicht der Rechtsformnutzer den Grün-derinnen und Gründern wegen unverhältnismäßigerKostenbelastungen keine Diskriminierung gegenüberanderen Rechtsformen wie zum Beispiel der GmbH ent-steht. Gerade in den ersten Jahren ist eine Belastung mit

zusätzlichen Kosten nicht vertretbar. Kosten für Prüfun-gen, die in keiner Relation zu dem oft nicht sehr hohenEigenkapital stehen, wirken sich für Neugründungen an-dernfalls kontraproduktiv aus.

Dass Genossenschaften mit einer Bilanzsumme bis zul Million Euro keine Prüfung des Jahresabschlussesmehr brauchen, ist die richtige Richtung. Wünschens-wert wäre es gewesen, dass die kleinen Genossenschaf-ten wie alle anderen Unternehmensrechtsformen nur denPrüfungsvorschriften des HGB unterliegen. Kleine Ka-pitalgesellschaften gelten demnach als solche, die min-destens zwei der drei Merkmale gemäß § 267 Abs. lHGB nicht überschreiten, das heißt, bei denen nichtgleichzeitig der Umsatz über 8 030 000 Euro, die Bi-lanzsumme nicht über 4 015 000 Euro und die Zahl derBeschäftigten unter 50 liegt. Genossenschaften in dieserGrößenordnung unterliegen weiterhin einer zweijährigenPrüfung von Vermögenslage, Geschäftsführung und Mit-gliederliste durch den Verband.

Ideen aus der im Aktienrecht geführten Corporate-Governance-Diskussion werden auf den Genossen-schaftsbereich übertragen. Dazu gehört zum Beispiel dieStärkung der Rolle des Aufsichtsrats oder die Verbesse-rung der Informationsversorgung und der Einflussmög-lichkeiten der Mitglieder, insbesondere wenn eine Ver-treterversammlung besteht.

Die Stärkung der Informationsrechte der Mitgliederist ein weiterer wichtiger Schritt, den Corporate-Gover-nance-Gedanken in die Genossenschaften zu tragen unddort zu verankern. Das Recht, das jedes Mitglied erhält,in der Generalversammlung Einblick in das zusammen-gefasste Prüfergebnis zu nehmen, sollte auch bei Beste-hen einer Vertreterversammlung Gültigkeit haben.

Das Genossenschaftsrecht kann zum Schrittmacherbei der Etablierung moderner Kommunikationsstruktu-ren werden. „Die Satzung kann zulassen, dass Be-schlüsse der Mitglieder schriftlich oder in elektronischerForm gefasst werden“. Das besagt der Regierungsent-wurf des neuen § 43 Abs. 7 GenG. In der Begründungwird ausgeführt: Die Satzung „muss durch ein entspre-chendes Regelwerk sicherstellen, dass die Rechte alterMitglieder gewahrt und die Ordnungsmäßigkeit derStimmabgabe gewährleistet ist. Unter diesen Vorausset-zungen ist auch die Durchführung einer virtuellen Gene-ralversammlung per Internet denkbar; in der Praxis wirddies aber derzeit nur in seltenen Ausnahmefällen, zumBeispiel bei einer Genossenschaft aus dem IT-Bereich,in Betracht kommen“.

Im Aktienrecht wurde in den letzten Jahren viel er-reicht (Dokumentation): Wenn die Satzung das vorsieht,kann elektronische Bevollmächtigung stattfinden(§ 134 III 2 AktG), die Hauptversammlung kann in Tonund Bild übertragen werden (§ 118 III AktG), Aufsichts-ratsmitglieder können per Videozuschaltung teilnehmen(§118 II 2 AktG). Aber eine Abwicklung der Angelegen-heit nur im virtuellen Raum ist wohl nicht möglich. Dasjetzt zur Reform anstehende Recht der Genossenschaftgeht da einen wesentlichen Schritt weiter. Ich begrüßedas und bin gespannt auf die Entwicklungen in den Ge-nossenschaften.

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Der Gesetzentwurf erleichtert die Kapitalbeschaffungund -erhaltung bei Genossenschaften, zum Beispiel in-dem eine Sachgründung zugelassen wird, ein Mindest-kapital eingeführt werden kann und in dem rein investie-rende Mitglieder zugelassen werden können.

Die neuen Regularien bieten Anreize für genossen-schaftliche Neugründungen. Diese können und müssenflankiert werden, indem hier in den ersten fünf JahrenUnterstützungen gegeben werden. Dadurch kann sicher-gestellt werden, dass die geringe Insolvenzzahl bei Ge-nossenschaften weiterhin durch qualifizierte Beratung zuerreichen ist. Wir brauchen Gleichbehandlung von Ge-nossenschaften gegenüber anderen Unternehmensfor-men, was zum Beispiel die Vergabe von Förderkreditenangeht. Genossenschaften sollten bei der Förderung zumBeispiel durch öffentliche Kredite der bundeseigenenKfW gegenüber anderen Rechtsformen kleiner und mitt-lerer Unternehmen nicht benachteiligt werden.

Schließlich ist das altehrwürdige Genossenschaftsge-setz auch sprachlich zu modernisieren. Zum Beispielwird die Bezeichnung „der Genosse“ durch die ge-schlechtsneutrale und schon jetzt in der Praxis gebräuch-liche Bezeichnung „Mitglied der Genossenschaft“ er-setzt. Diese Modernisierung auch und gerade imSprachgebrauch kann ich nachhaltig unterstützen.

Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus die erfor-derlichen Regelungen für eine neue, supranationaleRechtsform: die Europäische Genossenschaft. Grund-lage sind zwei EU-Rechtsakte vom Sommer 2003: eineVerordnung, die unmittelbar in den Mitgliedstaaten gilt,und eine Richtlinie über die Beteiligung der Arbeitneh-mer, die bis August 2006 in nationales Recht umzuset-zen ist. Durch attraktive Ausführungsvorschriften imdeutschen Recht soll ein Anreiz geboten werden, dasseine neu gegründete Europäische Genossenschaft ihrenSitz in Deutschland nimmt. Wir erhalten damit eine neuesupranationale Rechtsform: die Europäische Genossen-schaft. Bündnis 90/Die Grünen werden darauf achten,dass die Europäische Genossenschaft in der Praxis nichtdafür genutzt wird, Mitbestimmungsrechte auszuhebeln.

Abschließend und zusammenfassend will ich festhal-ten, dass die Erleichterung der Prüfungspflichten fürkleine Genossenschaften zu begrüßen ist, weil sie dieGründungsvoraussetzungen für Genossenschaften er-leichtert. Die Minderheitenrechte zu stärken ist ein fol-gerichtiger Schritt. Die Funktionsfähigkeit großer Wirt-schaftsgenossenschaften wie zum Beispiel Volks- undRaiffeisenbank wird gewährleistet.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin der Justiz: Ihnen liegt heute zur1. Lesung der Entwurf eines Gesetzes zur Einführungder Europäischen Genossenschaft und zur Änderung desGenossenschaftsrechts vor. Mit diesem Gesetz werdendie deutschen Rechtsvorschriften für eine neue Rechts-form geschaffen: für die Europäische Genossenschaft.Diese neue Rechtsform soll Genossenschaften in der EUdie grenzüberschreitende Betätigung erleichtern. ZurEinführung der Europäischen Genossenschaft muss derdeutsche Gesetzgeber bis August 2006 Ausführungsvor-

schriften zu der entsprechenden EU-Verordnung erlassenund die begleitende Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteili-gung in deutsches Recht umsetzen.

Meine Damen und Herren – der rechtspolitischeSchwerpunkt des Entwurfs liegt allerdings woanders,nämlich bei den Änderungen des deutschen Genossen-schaftsgesetzes. Ziel ist es, das Genossenschaftsrechtinsgesamt moderner und attraktiver zu machen. Hier gehtes insbesondere darum, die Gründung von Genossen-schaften zu erleichtern und die allgemeinen Rahmenbe-dingungen gerade für kleine Genossenschaften zu ver-bessern. So wird zum Beispiel die Mindestmitgliederzahlvon sieben auf drei abgesenkt. Die Rechtsform der Ge-nossenschaft wird geöffnet auch für soziale oder kultu-relle Zwecke. Besonders wichtig für kleine Genossen-schaften ist die vorgesehene Ausnahme von der Prüfungdes Jahresabschlusses bei Genossenschaften mit einerBilanzsumme bis zwei Millionen Euro. Diese Grenzewird teils als zu hoch, teils als zu niedrig kritisiert. Wirwerden, wie vom Bundesrat erbeten, prüfen, ob die Ab-grenzung nach der Bilanzsumme durch weitere Größen-merkmale ergänzt werden sollte.

Weitere wichtige Änderungen betreffen die Übertra-gung von Elementen aus der im Aktienrecht geführtenCorporate Governance-Diskussion auf den Genossen-schaftsbereich. Dazu gehört zum Beispiel die Stärkungder Rolle des Aufsichtsrats oder die Verbesserung der In-formationsversorgung und der Einflussmöglichkeitender Mitglieder, insbesondere bei Bestehen einer Vertre-terversammlung. Die hierbei vorgeschlagenen Minder-heitenrechte für Mitglieder sind teilweise auf heftigeKritik gestoßen, weil ein rechtsmissbräuchliches Aus-nutzen dieser Rechte befürchtet wird. Ich möchte hier zueiner sachlichen Diskussion aufrufen. Die Genossen-schaft gehört den Genossen – bzw. den Mitgliedern, wiesie zukünftig heißen werden – und deshalb halte ich esnach wie vor für einen sinnvollen Ansatz, die Rechtederjenigen, um deren Anteile es geht, zu stärken – auchwenn Vorstände und Vertreter das vielleicht nicht sogerne sehen. Ich bin offen dafür, dass hier auch nach Al-ternativen gesucht wird. Denn es muss klar sein: die In-formations- und Teilhaberechte der Mitglieder dürfennicht zu einer missbräuchlichen Verwendung verleitenund nicht zu unangemessenen Belastungen für die Ge-nossenschaft führen. Lassen Sie uns gemeinsam daraufhinwirken, dass die Attraktivität der Genossenschaft ge-stärkt wird und diese mehr in die öffentliche Wahrneh-mung rückt. Denn gerade heute kann die Genossenschaft– bei der sich regelmäßig unternehmerische Initiative,Selbsthilfe und soziale Orientierung miteinander verbin-den – für viele kleine Unternehmen die richtige Rechts-form sein. Zu Unrecht wird die Genossenschaft oft alsaltmodische, „verstaubte“ Rechtsform empfunden, undleider ist die Anzahl der Genossenschaften seit Jahrenrückläufig. Ich wünsche mir daher, dass dieser Gesetz-entwurf deutlich macht: die Genossenschaft ist eine denAnsprüchen des modernen Wirtschaftslebens gerechtwerdende Unternehmensform. Und ich hoffe, dass derGesetzentwurf dazu beiträgt, dass bei Neugründungenvon Unternehmen künftig vermehrt die Rechtsform derGenossenschaft gewählt wird.

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Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge:

– Gegen rechtsstaatsfreie Räume – Sicher-heitsüberprüfungen im Rahmen von Akkre-ditierungsverfahren bedürfen einer Rechts-grundlage

– Kein Generalverdacht bei den Sicherheits-überprüfungen zur Fußballweltmeister-schaft 2006

(Tagesordnungspunkt 20 a und b)

Beatrix Philipp (CDU/CSU): Die Fußball-WM 2006ist ein Ereignis, auf das sich die Welt, zumindest die„Fußballwelt“, besonders freut.

„Zu Gast bei Freunden“ – ein Motto, das bereits einepositive Stimmung assoziiert: Freundschaftlich soll eszugehen, Gäste sollen sich wohl fühlen, und als Gastge-ber müssen wir alles tun, damit die Gäste sich auch wohlfühlen können.

Aber neben der Freude ist mit diesem Großereignisauch eine ungeheuere Verantwortung verbunden, die dieFIFA und auch wir als gastgebendes Land zu überneh-men haben.

Um dieses Großereignis gegen alle denkbaren – undmöglichst auch gegen alle fast undenkbaren – Gefahrenabzusichern, laufen im organisatorischen und besondersim sicherheitspolitischen Bereich seit langem die Vorbe-reitungen auf Hochtouren.

Dabei muss im Bereich der Sicherheitsmaßnahmenein Maximum an Vorkehrungen getroffen werden undzugleich ein Minimum an Belästigungen für die Gästegewährleistet sein.

Und dennoch wissen alle, dass es wahrscheinlich un-vermeidlich sein wird, dass es zu Einschränkungen oderauch Behinderungen kommen kann. Kurz: Alle werdenauf viel Verständnis bauen müssen und auf das Wissen,dass es keine Alternativen gibt, wenn die Verantwortli-chen das Gefühl haben wollen, alles Menschenmöglichegetan zu haben.

Wer die Verantwortung trägt, wird erst aufatmen kön-nen, wenn die WM ohne große Zwischenfälle zu Endegegangen ist.

Jeder, der sich ein wenig mit dieser Problematik be-fasst hat, wird wissen, dass die Fußball-WM ein Ereignisist, das mit bisherigen – und vielleicht auch zukünfti-gen – nicht zu vergleichen ist: Es sind die Millionen vonMenschen, die kommen, es sind die Veranstaltungsorte– die Stadien –, es sind die An- und Abfahrten, die Zu-und Abgänge, die einer besonderen Aufmerksamkeit un-ter Sicherheitsaspekten bedürfen. Diese Szenarien sinduns aber geläufig und überschaubar.

Dies trifft aber überhaupt nicht zu für jede größereMenschenansammlung, die erfahrungsgemäß vor unzäh-ligen Großbildleinwänden beim – wie es so schön heißt

„public viewing“ – anzutreffen ist und die vielen Spon-tantreffen, von denen man ausgehen muss.

Das bedeutet, dass wenig planbar und sehr flexibelauf solche Menschenansammlungen reagiert werdenmuss.

Da, wo es Auflagen gibt, wie zum Beispiel am Breit-scheidplatz, trifft man sehr schnell auf Unverständnisund heftige Reaktionen, wie man der heutigen BerlinerMorgenpost entnehmen kann.

Die Zahl der notwendigen Sicherheitskräfte wird allesbisher Dagewesene in den Schatten stellen.

Und nur so – und nicht anders – war die ständigeMahnung unseres Innenministers Dr. Schäuble zu ver-stehen, dass man auch an die Grenzen der eigenen Kapa-zität stoßen und daher der Einsatz der Bundeswehr not-wendig werden könnte. Aber dieses Thema ist, wie manso schön sagt, „durch“. Alle werden viel Verständnisaufbringen müssen!

Wir befassen uns heute mit einem Teilaspekt dieserSicherheitsvorkehrungen, nämlich mit der Sicherheits-überprüfung aller, die in irgendeiner Funktion Zutritt zuden Veranstaltungsorten haben wollen. Darunter fallenalle ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen der Hilfsor-ganisationen, die hauptberuflichen Sicherheitskräfte, dieServicekräfte in der Gastronomie, die Mitarbeiter undMitarbeiterinnen der Reinigungsfirmen und schließlich– last, but not least – geht es auch um das Akkreditie-rungsverfahren von Journalisten und Journalistinnen,das kritisiert wird.

Es geht also nicht um die „Glücklichen“, die im Be-sitz einer Eintrittskarte sind.

Bei den Funktionsträgern handelt es sich um die nichtgeringe Anzahl von 220 000 bis 250 000, von denen je-der Einzelne sicherheitsüberprüft wird. Dazu muss jedervorab eine freiwillige Einwilligungserklärung unter-zeichnen, in der er sich mit einer Sicherheitsüberprüfungeinverstanden erklärt hat. Dieser Einwilligung muss eineumfassende Information vorausgehen.

Zitat:

„Nach dem Bundesdatenschutzgesetz (§ 4 Abs. 1und § 4 a Abs. 1) bzw. den entsprechenden landes-rechtlichen Vorschriften ist die Erhebung und Ver-arbeitung personenbezogener Daten unter anderemdann zulässig, wenn der Betroffene seine Einwilli-gung erklärt hat.

Vor der Erklärung der Einwilligung ist der Betrof-fene über die Datenverwendung umfassend aufzu-klären. Eine solche „informierte Einwilligungs-erklärung stellt die rechtliche Grundlage für dieErhebung und Verarbeitung der personenbezogenenDaten im Rahmen des Akkreditierungsverfahrensfür die FIFA Fußball-WM 2006 dar.“

Dieser Auffassung der Bundesregierung, die sie imFebruar 2006 bereits schriftlich in der Beantwortung derKleinen Anfrage zum Ausdruck brachte, schließen wiruns vollinhaltlich an, ebenso den Antworten auf die vie-len Fragen, die dort gestellt wurden.

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Den Anforderungen des Datenschutzgesetzes ist dieFIFA in sehr umfassender Weise nachgekommen. Inso-fern ist überhaupt nicht nachvollziehbar, – um es vor-sichtig auszudrücken – wenn im Antrag der FDP von„rechtsfreien Räumen“ und im Antrag der Grünen von„Generalverdacht bei der Sicherheitsüberprüfung“ ge-sprochen wird.

Wie gesagt, in einer eigens für die WM herausgege-benen Datenschutzinformation der FIFA wird auf sechsSeiten peinlichst genau darüber informiert, dass die er-hobenen personenbezogenen Daten elektronisch erfasstwerden, dass sie spätestens im September 2006 gelöschtwerden und ausschließlich dafür verarbeitet und genutztwerden, um über die Erteilung des Zutrittsrechtes unddessen Umfang zu entscheiden und die Einhaltung derentsprechenden Beschränkungen zu kontrollieren.

Auch da, wo sich der Deutsche Fußballbund externerDienstleister bedient, wird die Einhaltung des Daten-schutzes vertraglich sichergestellt. Die Datenschutz-rechte – insbesondere Auskunfts- und Berichtigungs-rechte – sind ebenso gewahrt, wie die bis ins Detailgehenden Informationen über die Verarbeitung der Da-ten, die Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern,dem Bundeskriminalamt, der Bundespolizei, dem Bun-desamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrich-tendienst, soweit es sich um ausländische Staatsangehö-rige mit Wohnsitz im Ausland handelt.

Jeder findet in dieser Information der FIFA den Inhaltder Zuverlässigkeitsprüfung, die Auflistung der Daten,die zur Prüfung herangezogen werden, die Kriterien, diefür die Entscheidung maßgeblich sind und die Angabenzum Verfahren bei etwaigen Bedenken.

Mehr Transparenz während eines solchen Akkreditie-rungsverfahrens bei einer Größenordnung von circa250 000 Menschen ist nicht denkbar.

Es ist selbstverständlich auch der Weg beschrieben,der gegangen werden kann, wenn die Akkreditierungnicht erfolgen sollte.

In den vielen vorbereitenden Sitzungen ist über dieFrage, ob nicht der Kreis der zu Überprüfenden kleinersein könnte, genauso gesprochen worden, wie über dieGründe, die zu einer Ablehnung der Akkreditierung füh-ren.

Das sind in der Hauptsache schwere Verstöße imstrafrechtlichen Bereich. Diese Verstöße müssen abereine Sicherheitsgefahr für das konkrete Ereignis Fuß-ball-WM bergen, das heißt es erfolgt in jedem einzelnenFall eine Einzelabwägung!

Sehr schwerwiegend und mit hohem Gefährdungspo-tenzial werden zum Beispiel solche Personen gewertet,die im extremistischen Propagandabereich auffällig ge-worden sind. Das ist eines der wenigen Kriterien, das re-lativ sicher zu einem negativen Votum über die betrof-fene Person führen wird, und das ist meiner Meinungnach nachvollziehbar.

Ziel ist also eine effiziente Gefahrenabwehr, soweitdies nach menschlichem Ermessen überhaupt möglichist.

Wir müssen also abwägen zwischen dem Schutzgutder öffentlichen Sicherheit, das bei einem Großereignisdieser Art per se gefährdet ist, und etwaigen Grundrech-ten einzelner Betroffener, die durch das Akkreditie-rungsverfahren von der Teilnahme im Sicherheitsbereichausgeschlossen werden.

Bei einer Veranstaltung wie der WM ist für uns derSchutzpflicht des Staates – bei aller Abwägung – absolu-ter Vorrang einzuräumen.

In den beiden Anträgen ist immer wieder die Redevon einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte, desRechts auf informationelle Selbstbestimmung und nichtzuletzt der Berufs- und – im Falle der Journalisten – derPressefreiheit und von möglichen Nachteilen, die dannentstünden, wenn jemand seine Zustimmung nicht er-teilt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein verantwor-tungsvoll arbeitender Journalist oder eine ebensolcheJournalistin es nicht einsieht, dass das Bemühen umgrößtmögliche Sicherheitsbedingungen für die WM esnotwendig macht, dass sie die Einwilligung zur Erfas-sung und Verwendung ihrer persönlichen Daten gebenmüssen, um berichten zu können oder zu dürfen.

Wenn wir einen Vergleich zum politischen Journalis-mus, zum Beispiel für die Berichterstattung aus demDeutschen Bundestag ziehen möchten: Auch hier sindAkkreditierungsverfahren gang und gäbe und automa-tisch mit der Entscheidung für die Arbeit in einem derartsicherheitsrelevanten Raum verknüpft. Auch daran hatbisher niemand Anstoß genommen. Bleibt also noch dieFrage, ob der Bezug auf den § 4 und § 4 a ausreichendist. Unabhängig davon, dass wir diese Frage bejahen,wie ich bereits ausgeführt habe, würde mich interessie-ren, welche Vorteile man sich davon versprechen würde,wenn nun ein Gesetzgebungsverfahren in die Wege ge-leitet würde, wie dies den Antragstellern wohl vor-schwebt.

Im Endergebnis, also bei den Rechtsfolgen und insbe-sondere bei der Betroffenheit etwaiger Grundrechtekommt es nämlich nicht darauf an, ob die Sicherheits-überprüfung aufgrund einer gesetzlichen Grundlage oderaufgrund der Einwilligung der Betroffenen erfolgt. Aberdarüber sprechen wir dann noch im Ausschuss.

Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir alsozu.

Wolfgang Gunkel (SPD): Die vorliegenden Anträgevon FDP und Bündnis 90/Die Grünen befassen sich mitden Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen von Akkredi-tierungsverfahren zur Fußballweltmeisterschaft 2006.Die Antragsteller kritisieren die unzureichende rechtli-che Grundlage und die praktische Ausgestaltung dieserSicherheitsüberprüfungen und fordern insbesondere, fürGroßveranstaltungen dieser Art eine ausreichende ge-setzliche Grundlage zu schaffen, sicherzustellen, dassdie betroffenen Personen über das Überprüfungsverfah-ren – Ziel, beteiligte Dienststellen, Datengrundlage –und auch über das Ergebnis unterrichtet werden und

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sicherzustellen, dass sich die Betroffenen an eine zen-trale Beschwerdestelle wenden können.

Was findet nun im Einzelnen Eingang in die Sicher-heitsüberlegungen der Veranstalter der WM und der ein-zelnen Sicherheitsbehörden? Im Rahmen des so genann-ten Akkreditierungsverfahrens werden bei der Fußball-WM 2006 alle Medienvertreter, Mannschaften, Hilfs-und Servicedienste usw. vorab einer Zuverlässigkeits-überprüfung unterzogen. Ziel ist es, Gefährdungen bzw.Störungen der Veranstaltungen von vornherein auszu-schließen. Betroffen sind circa 250 000 Personen, derenpersonenbezogene Daten mit polizeilichen Datenbestän-den sowie mit den Erkenntnissen der Verfassungsschutz-behörden und des Bundesnachrichtendienstes abgegli-chen werden. Grundlage hierfür bildet gemäß § 4 und4 a BDSG die Einwilligung der betreffenden Personen.

Diesem richtigen und notwendigen Verfahren stimmtdie SPD-Fraktion grundsätzlich zu, jedoch sind zu eini-gen Verfahrensabläufen Anmerkungen zu machen. NachAnsicht des Bundesministeriums des Innern ist dieDurchführung der Sicherheitsüberprüfungen zum Schutzder so genannten Akkreditierungszonen in den Stadienerforderlich, in denen sich die Personen ohne weitereKontrollen frei bewegen können. Als Grundlage für dieSicherheitsüberprüfung im Rahmen des so genanntenAkkreditierungsverfahrens reicht nach Ansicht der Bun-desregierung die so genannte informierte Einwilligungs-erklärung aus. Dies findet auch die Zustimmung des fürdas Organisationskomitee zuständigen Datenschutzbe-auftragten beim Regierungspräsidenten Darmstadt.Ferner sei nunmehr geklärt, dass sich betroffene Perso-nen in Rechtsschutzangelegenheiten an das Landeskri-minalamt ihres Wohnsitzes bzw. bei Wohnsitz im Aus-land an das BKA und darüber hinaus auch an denBundesbeauftragten für Datenschutz und Informations-freiheit wenden könnten, soweit die teilweise Antwortauf eine Kleine Anfrage der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 16/248.

Ganz wesentlich anders sieht der Bundesdatenschutz-beauftragte diese Sache. Er hält es für fragwürdig, obeine derartig breit angelegte Überprüfungsaktion auf Ba-sis einer Einwilligung – also ohne konkrete gesetzlicheGrundlagen – erfolgen kann, zumal bereits an der tat-sächlichen Freiwilligkeit Zweifel bestünden, denn ge-rade Berufsgruppen wie beispielsweise Journalisten oderauch Anbieter von Waren können dann nicht mehr tätigwerden, wenn sie eine Vorabüberprüfung ablehnen, dasheißt bei Nichteinwilligung erfolgt keine Akkreditie-rung.

Insofern ist die Einwilligung unter Umständen wohlnicht ganz freiwillig. Zudem fehle gemäß BfDI in denVerfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Ländersowie im Gesetz über den Bundesnachrichtendienst eineAufgabenzuweisung für die Mitwirkung der Nachrich-tendienste an Zuverlässigkeitsprüfungen der vorliegen-den Art.

Der hier angeführte Kritikpunkt ist deshalb besonderswichtig, weil neben den Straftätern/Strafdatendateien,den Staatsschutzdateien und der Datei „GewalttäterSport“ als so genannte Verbunddateien noch zusätzlich

NADIS, das Nachrichtendienstliche Informationssys-tem der Verfassungsschutzbehörden, herangezogen wird.Bei Ausländern werden Dateien über internationalenTerrorismus und organisierte Kriminalität mit eingebun-den.

Hier wird deutlich, dass gerade derjenige, der im In-nern der Bundesrepublik Deutschland nationalen bzw.internationalen Terrorismus sinnvoll bekämpfen will,eine solch konzentrierte Aktion der Sicherheitsbehördennur unterstützen kann, allerdings aus rechtsstaatlichenGründen nur auf Basis einer gesetzlichen Grundlage,hier die Aufgabenzuweisung im BND-Gesetz sowie inden Verfassungsschutzgesetzen.

Weiterhin bemängelt der BfDI, dass eine vorherigeAnhörung des Betroffenen nicht vorgesehen sei und Be-troffene nur indirekt – häufig über den Arbeitgeber –Kenntnis von möglicherweise sicherheitsrelevanten Be-denken erhalten, wenn die Akkreditierung abgelehntwird. Kritisiert wird weiter, dass ungeklärt sei, ob undwie die Betroffenen ihre Datenschutzrechte geltend ma-chen bzw. gerichtlichen Rechtsschutz gegen das Votumeiner Sicherheitsbehörde erlangen könnten.

Dazu heißt es in der Datenschutzinformation der „Ab-teilung Akkreditierung“ zur FIFA WM 2006:

Lehnt das Organisationskomitee Ihre Akkreditie-rung wegen Zuverlässigkeitsbedenken der Sicher-heitsbehörden ab, haben Sie (nicht jedoch Ihr Ar-beitgeber) die Möglichkeit, sich wegen der Gründean das Landeskriminalamt Ihres Wohnsitzlandesbzw. – soweit Sie Ihren Wohnsitz im Auslandhaben – an das BKA zu wenden. Dort können Sieauch Ihre Einwände geltend machen. Ihre Eingabewird sodann ggf. an die ablehnende(n) Sicherheits-behörde(n) weitergeleitet. Ihre Einwände werdengeprüft und die Empfehlung an das Organisations-komitee gegebenenfalls korrigiert. Soweit IhrerEingabe nicht abgeholfen wird, erhalten Sie einenentsprechenden Bescheid. Ihre sonstigen Daten-schutzrechte (insb. Auskunft- und Berichtigungs-rechte), können Sie – soweit es um die Datenver-arbeitung bei den Sicherheitsbehörden geht – inentsprechender Weise geltend machen. Sie könnensich zur Ausübung Ihrer Datenschutzrechte auch andie jeweils zuständige Landesdatenschutzbehördebzw. an den Bundesbeauftragten für den Daten-schutz und die Informationsfreiheit wenden.

Das dargestellte Verfahren dürfte nach meiner Auffas-sung ausreichend sein. Jedoch bleibt die Erlangung ge-richtlichen Rechtsschutzes unklar, zumal diese rechtli-che Hilfe ohnehin zu spät käme.

Wie es dem allgemeinen Standard entsprechend inamtlich üblichen Sicherheitsüberprüfungsverfahren ge-macht wird, zeigt das Beispiel der Luftverkehrs-Zuverlässigkeitsüberprüfungsverordnung (LuftVZÜV).So ist gemäß § 6 Abs. 3 dieser Verordnung der Betrof-fene über das Ergebnis und bei Ablehnung auch über diemaßgeblichen Gründe zu unterrichten, die ihm durch ei-nen schriftlichen, mit Rechtsbehelfsbelehrung versehe-

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nen Bescheid mitgeteilt werden. Dagegen kann er danngerichtlich vorgehen.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass FDPund Bündnis 90/Die Grünen mit ihren Anträgen im We-sentlichen die Bedenken des BfDI aufgreifen. Im Zen-trum der Kritik steht nicht die Durchführung der Zuver-lässigkeitsprüfungen, sondern eine unzureichendegesetzliche Grundlage, eine unzureichende Unterrich-tung der Betroffenen und die Frage des Rechtsschutzes.

Meinen Ausführungen können Sie entnehmen, dassich die Bedenken in einigen Punkten teile, in anderennicht.

Deshalb stimmt die SPD-Fraktion den Anträgen nichtzu, sondern empfiehlt, den Sachverhalt einer gründli-chen Erörterung im Innenausschuss zu unterziehen. Da-nach wird man das erzielte Ergebnis neu beurteilen müs-sen.

Gisela Piltz (FDP): Es ist keine Frage, dass bei be-sonderen Veranstaltungen besondere Sicherheitsregelngelten. Wir mussten in der jüngsten Vergangenheit fest-stellen, dass sich die Gefahren längst nicht nur auf staat-liche Ziele beschränken. Wie die Bombenanschläge inMadrid und London gezeigt haben, leben wir in einerZeit, in der mit terroristischen Angriffen gerechnet wer-den muss, welche allein mit dem Ziel ausgeführt werden,möglichst viele zivile Opfer zu treffen. Bei einer derarterhöhten Gefahrenprognose ist es eine Angelegenheitder Vernunft, gerade auch Großereignisse, bei denenviele Menschen zusammenkommen, ausreichend vorAnschlägen zu schützen. Dazu kann auch die Einrich-tung von Sicherheitszonen um die Veranstaltungsortezählen. Wenn die Großveranstaltung – wie bei der Fuß-ball-WM – von privaten Veranstaltern durchgeführtwird, müssen auch diese die Möglichkeit haben, das vonden Zutrittsberechtigten zu den Sicherheitszonen ausge-hende Gefahrenpotenzial durch Akkreditierungen zuvermindern. Schließlich speichern wir von jedem Besu-cher der Fußball-WM die Personalausweisnummer. Dakann es nicht sein, dass der Würstchenverkäufer im Sta-dion nicht überprüft wird. Die Frage ist allerdings, wieund auf welcher Rechtsgrundlage.

Die Akkreditierung durch Private findet bereits statt.Das Organisationskomitee Fußball-WM 2006 – OKWM 2006 – hat alle Medienvertreter, Mannschaften,Hilfs- und Servicedienste usw. vorab einer Zuverlässig-keitsüberprüfung unterzogen. Betroffen sind circa250 000 Personen, deren personenbezogene Daten nichtnur mit polizeilichen Datenbeständen, sondern auch mitden Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden unddes Bundesnachrichtendienstes abgeglichen werden. In-halt der Mitteilungen der Behörden sind damit nicht wiebeim polizeilichen Führungszeugnis rechtskräftige Straf-taten, welche zu einer Vorstrafe im Sinne des Strafrechtsführen und von denen der Betroffene naturgemäß auchweiß, sondern darüber hinaus auch reine Verdachtsmo-mente, nicht strafbare extremistische Aktivitäten oderauch nur die Zuordnung zu einem solchen Umfeld. Dennin den Dateien des Verfassungsschutzes geht es ja nichtnur um strafbare Verhaltensweisen, sondern auch um

bloße Annahmen, zum Beispiel um die Annahme be-denklicher politischer Bestrebungen, die zehn Jahre undlänger gespeichert werden können, ohne dass der Betrof-fene etwas davon weiß. Daher kann er sich also auchnicht wehren. Diese Bedenken werden demOK WM 2006 und auch dem Arbeitgeber ohne Anhö-rung des Betroffenen mitgeteilt und führen in der Regelzu einem negativen Votum, welches für den Betroffenenernste Auswirkungen für seinen Arbeitsplatz und damitfür den Erwerb seines Lebensunterhalts haben kann –und das ohne die Möglichkeit, zu erfahren, warum das soist. Im Ergebnis bedeutet das, dass der Betroffene, seineUmgebung und seine Firma plötzlich erfahren, dass erunter einem Verdacht steht, den er selbst nicht einmalkannte und der doch seine ganze Existenz in Gefahrbringen kann.

Als Rechtsgrundlage für die Überprüfung wird vondem OK WM 2006 eine „informierte“ Einwilligung vomBetroffenen eingeholt. Die Information des Betroffenenbesteht dabei in der Beschreibung des Verfahrens derZuverlässigkeitsüberprüfung, Inhalt und Grundlagen derÜberprüfung erfährt der Betroffene nicht. Die Freiwillig-keit der Abgabe einer Einwilligung des Betroffenen zurZuverlässigkeitsüberprüfung muss dabei im Zusammen-hang mit seinem existenziellen Interesse am Erhalt sei-nes Arbeitsplatzes gesehen werden. Das halten wir ohne„echte“ Rechtsgrundlage für mehr als bedenklich. Ange-sichts der Vorbildfunktion dieses Großereignisses be-steht die Möglichkeit, dass dieses Verfahren zur Akkre-ditierung auch bei anderen privat veranstaltetenGroßereignissen und gegebenenfalls auch bei weit gerin-geren Anlässen durchgeführt werden soll. Denn auch fürandere Veranstaltungen besteht das Bedürfnis nachSchutz und Abschottung. So werden auch für Tätigkei-ten in Wachschutzunternehmen und bei Ähnlichemschon heute anhand von polizeilichen Führungszeugnis-sen Überprüfungen durchgeführt. Hier muss festgestelltwerden, unter welchen Voraussetzungen die Abfrage derstaatlichen Stellen gegebenenfalls über das polizeilicheFührungszeugnis hinaus ausgeweitet werden darf.

Es ist daher an der Zeit, die Grundlagen für diesesAkkreditierungsverfahren in einer Abwägung zwischenGefahrenprävention auf der einen Seite und Eingriff indie Persönlichkeitsrechte des Einzelnen auf der anderenSeite gesetzlich zu regeln. Dabei muss – wie sonst spe-ziell im Arbeitsrecht – auch die wirtschaftlich schwä-chere Position des von der Überprüfung betroffenen Ar-beitnehmers im Auge behalten werden. Für vomBetroffenen freiwillig veranlasste Überprüfungen solltendaher zum Schutz des Betroffenen klare Grenzen desrechtlich zulässigen Umfangs definiert werden. Insbe-sondere dürfen nicht bloße Verdachtsmomente oder dieZugehörigkeit zu einer legalen gesellschaftlichen oderpolitischen Gruppierung von staatlichen Stellen an dieVeranstalter und Arbeitgeber mitgeteilt werden. Zudemmüssen dem Betroffenen die erteilten Auskünfte sowiederen Datengrundlagen zugänglich gemacht werden unddiese Auskunftsansprüche des Betroffenen müssenrechtlich durchsetzbar ausgestaltet sein. Nur so lässt sichbegonnener Wildwuchs auf dem Gebiet der Zuverlässig-

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keitsüberprüfungen beenden und lassen sich rechtsstaat-liche Grundsätze verwirklichen.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wenn die Welt als Gast zuFreunden kommt, wie das offizielle Motto der Fußball-WM lautet, dann hat sie es mit einem Gastgeber zu tun,der voller Misstrauen ist und seine Gäste wie Schwerver-brecher behandelt. Zwar werden drei Millionen Euro füreine so genannte Freundlichkeitskampagne ausgegeben,diese Schönheitskosmetik kann über den unfreundlichenUmgang aber nicht hinwegtäuschen, den die Bundesre-gierung mit den Bürgerinnen und Bürgern pflegt. Rundeine Viertelmillionen Menschen werden einer rigiden Si-cherheitskontrolle unterzogen. Bevor jemand eine Brat-wurst verkaufen, eine Toilette reinigen oder ein Taxi fah-ren darf, werden erst einmal der Verfassungsschutz, dasBundeskriminalamt und die Länderpolizeien auf ihn an-gesetzt.

Wir von der Linksfraktion wissen wohl besser als alleanderen hier im Saal, wie ausufernd die Sammelwut derRepressionsbehörden ist. Wir brauchen keine große Fan-tasie, um uns vorzustellen, dass jemand, der vor zig Jah-ren mal an einer Anti-Atomkraft-Demo oder unschuldigin einem Polizeikessel gewesen ist, beim Verfassungs-schutz als Gewalttäter und „Extremist“ geführt wird.

Wer will ausschließen, dass er nun deswegen nichtzur WM darf? Es gibt ja keinerlei Rechtsgrundlage fürdieses Verfahren. Die Betroffenen haben keine Chance,die Ergebnisse dieser Überprüfung nachzuvollziehenoder rechtlich dagegen vorzugehen. Hier zeigt sich, jen-seits aller Imagekampagnen, die hässliche Seite des Si-cherheitsstaates!

Zu behaupten, wie es die Bundesregierung tut, die be-troffenen Personen willigten freiwillig in diese Schnüf-felmethoden ein, ist doch ein schlechter Witz. WelcheAlternative hat denn jemand, der von Arbeitslosigkeitbedroht ist? Welche Chance, „Nein“ zur Überprüfung zusagen, hat jemand, dem das Jobcenter im Nacken sitzt,jemand, der vom Armutsgeld, dem Arbeitslosengeld 2lebt und auf einen Zuverdienst dringend angewiesen ist?

Was hier mit den Lohnabhängigen geschieht, ist dieschiere Nötigung und nichts anderes!

Offenbar leben die gutbetuchten Herrschaften in derBundesregierung und der FIFA in einer Parallelgesell-schaft und können sich nicht vorstellen, wie es um dieLebensrealität von Millionen Erwerbstätigen bestellt ist.

Aber auch den Kolleginnen und Kollegen von FDPund Grünen, die hier diese Anträge eingebracht haben,will ich einmal sagen: An diesem Zustand der Ausgelie-fertheit und Alternativlosigkeit der Lohnabhängigen än-dern Sie mit Ihren Anträgen gar nichts. Sie begnügensich damit, einem Skandal eine Rechtsgrundlage gebenzu wollen, anstatt den Skandal selbst anzugehen.

So absurd dieser ganze Sicherheitswahn anmutet, soperfide ist die Absicht dahinter. Es handelt sich nicht nurum eine Beschäftigungstherapie für offenbar unausge-lastete Behörden. Es handelt sich vielmehr um einen gi-gantischen Feldversuch in Sachen Kontrolle, Schnüffelei

und Repression, in dem Hunderttausende von Menschenzu Versuchskaninchen werden.

Denn das penible und undemokratische Akkreditie-rungsverfahren ist eingebettet in einen Sicherheitsdis-kurs, der die Grundrechte einschränken will. Dazu ge-hört, dass die Grenzkontrollen im Schengen-Raumwieder hochgefahren werden; dazu gehört, dass Fans ausislamischen Ländern wie selbstverständlich besondersstreng geprüft werden. Dazu gehört auch, dass die priva-ten Veranstalter von public viewings dazu angehaltenwerden, sämtliche Zuschauer auf Video festzuhalten –also genau das, was zahlreiche Innenminister gerne tunwürden, aber noch nicht dürfen. Dazu gehören auch dieBestrebungen, die Bundeswehr im Inland einzusetzen.

Der Sicherheitsfanatismus der Bundesregierung, vordem die Linksfraktion schon seit Monaten warnt, er-reicht wieder einmal einen Höhepunkt. Und wie immer,wenn die Regierung von Sicherheit redet, bleiben Frei-heitsrechte auf der Strecke.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Die Welt zu Gast bei Freunden – unter die-sem Motto findet die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 inDeutschland statt. Eigentlich müsste ich ja sagen: FIFAFußball-WM 2006. Ich lasse mir aber von Herrn Platternicht vorschreiben, wie ich das sportliche Ereignis zunennen habe; wenigstens im Bundestag gilt hoffentlichnoch das Recht der freien Rede. Wir alle freuen uns aufFußball. Im Mittelpunkt steht der Sport, nicht die FIFA.Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, dass der Staatfür diese vier Fußballwochen in eine Art Ausnahmezu-stand gerät, mit der FIFA als oberstem Verfassungs-organ.

Auch wir wollen sichere Spiele. Wir sind allerdingsder Überzeugung, dass die Sicherheit im Rahmen dergeltenden Verfassung und auf der Grundlage klarerRechtsgrundlagen gewährleistet werden kann. Die abge-gebenen Sicherheitsgarantien beinhalten nicht die Aus-setzung der Bürgerrechte. Das von dem OK der FIFAdurchgeführte Akkreditierungsverfahren stellt geradediejenigen, die für den reibungslosen Ablauf in den Sta-dien sorgen, unter einen Generalverdacht. Wer ohne Ti-cket eine Zugangsberechtigung ins Stadium will, ganzgleich, ob als Nationalspieler, Polizist, Helfer, Journalistoder Würstchenverkäufer, wird sicherheitsüberprüft.Dies betrifft über 250 000 Menschen. Ich hoffe nicht,dass die leidige deutsche Torwartfrage jetzt vom Verfas-sungsschutz entschieden wird.

Wir hätten uns hier eine differenzierte Sicherheits-überprüfung auf einer klaren rechtlichen Grundlage ge-wünscht. Die Datenschutzbeauftragten haben ihre Kritikfrühzeitig deutlich gemacht. Eine „informierte Einwilli-gungserklärung“ ist für uns keine hinreichende Rechts-grundlage. Wir wissen auch, dass in den meisten Fällendie Datenschutzerklärung der FIFA weder ausgehändigtnoch erläutert wurde. Von einer umfassenden Aufklä-rung vor Unterzeichnung der Einwilligungserklärungkann in den überwiegenden Fällen nicht ausgegangenwerden.

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Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Satz zum An-trag der FDP sagen. Wir unterstützen Ihr Ansinnen, dassZuverlässigkeitsüberprüfungen auf einer klaren gesetzli-chen Grundlage stehen müssen. Angesichts der Zeitab-läufe – die Akkreditierungsverfahren sind fast abge-schlossen, es sind nur noch wenige Wochen bis zumBeginn der WM – halten wir ein Gesetzesverfahren nichtmehr für machbar. Wir sollten uns allerdings darauf ver-ständigen, dass für zukünftige Ereignisse Zuverlässig-keitsüberprüfungen nicht mehr auf der Grundlage vonfreiwilligen Erklärungen erfolgen dürfen. Wie für Si-cherheitsüberprüfungen ist auch für Zuverlässigkeits-überprüfungen eine Rechtsgrundlage mit klaren daten-schutzrechtlichen Regelungen zu schaffen. Ich bedaurean dieser Stelle, dass die SPD-Fraktion unter Rot-Grünein Datenschutzaudit-Gesetz blockiert und verweigerthat. Der Prüfsiegel eines Datenschutzaudit auf dem gan-zen WM-Verfahren, vom Ticketverkauf bis zur Zuver-lässigkeitsüberprüfung, hätte ich mir gewünscht. VieleDiskussionen und viel Ärger wären allen Betroffenenund Beteiligten erspart geblieben.

Wir haben in unserem Antrag „Kein Generalverdachtbei den Sicherheitsüberprüfungen zur Fußballweltmeis-terschaft“ eine bestimmte Berufsgruppe herausgegriffen,bei der die Probleme der Akkreditierungspraxis beson-ders deutlich werden. Es geht um diejenigen, die beruf-lich über die Fußball-Weltmeisterschaft berichten. Siewerden durchleuchtet und müssen sich einer umfängli-chen Überprüfung ihrer Zuverlässigkeit durch BKA undVerfassungsschutz unterziehen. Tun sie das nicht, kön-nen sie ihren Beruf nicht ausüben. Im schlimmsten Fallmüssen sie mit einem Verlust ihres Arbeitsplatzes rech-nen. Von einem „freiwilligen“ Einverständnis kann ge-rade hier nicht gesprochen werden. Das ist in meinenAugen eher Nötigung zum Verzicht auf Datenschutz-rechte.

Die Praxis der Akkreditierung von Journalistinnenund Journalisten wirft darüber hinaus auch für die Pres-sefreiheit wichtige Fragen auf. Die Betroffenen sindnicht allein über ihre Berufsausübung verfassungsrecht-lich geschützt. Auch die Pressefreiheit ist ein hohesGrundrechtsgut und keine wohlfeile Verfügungsmasse.Zu Recht gibt es durchgreifende Vorbehalte, wenn dieSicherheitsbehörden Überprüfungen vornehmen undDaten sammeln, ohne dass dafür eine ausreichendegesetzliche Grundlage vorliegt. Der Staat darf nicht sofreihändig in die Pressefreiheit eingreifen. In einer aus-führlichen Stellungnahme hat das Unabhängige Daten-schutzzentrum Schleswig-Holstein im Detail die ganzeFragwürdigkeit der geltenden Praxis dargestellt. Ganzbesonders heikel ist dabei, dass bei der Durchleuchtungdes Einzelnen durch die Verfassungsschutzbehörde auchso genannte Propagandaaktivitäten zur Ablehnung derAkkreditierung führen können.

Bedenken bestehen auch gegen den mangelhaftenRechtsschutz der Betroffenen. Es wird leider immermehr Mode, gerade auf internationaler Ebene, schwarzeListen anzulegen. Wer dort verewigt ist, hat gravierendeNachteile, ohne sich bei einem irrtümlichen Eintragwirksam zur Wehr setzen zu können.

Wir fordern in unserem Antrag den Bundestag auf,das von der FIFA vorgenommene Akkreditierungsver-fahren zu missbilligen. Die Bundesregierung soll fernerdafür Sorge tragen, dass die Behörden gegenüber denBetroffenen wenigstens für mehr Transparenz sorgenund dass die Betroffenen sich an eine zentrale Beschwer-destelle wenden können. Diese Aufgabe kann umgehenddem Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informa-tionsfreiheit übertragen werden. Die Aufgabe des Daten-schutzes zur Fußball-WM war ein unnötiges Eigentor.

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Rede

zur Beratung des Antrags: Kinderrechte inDeutschland vorbehaltlos umsetzen – Erklä-rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurück-nehmen (Tagesordnungspunkt 21)

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die im Antrag der Frak-tion der Grünen geforderte Rücknahme des Vorbehaltsgegen die UN-Kinderrechtskonvention ist längst überfäl-lig. Dieser Vorbehalt steht in seinem vierten Punkt einemwesentlichen Element von Menschenrechten entgegen:Diese gelten immer für alle Menschen gleich, egal wel-cher Hautfarbe, Religion oder Staatsangehörigkeit. DerVorbehalt formuliert dagegen an dieser Stelle, nichtskönne das Recht der Bundesrepublik beschränken, „Un-terschiede zwischen Inländern und Ausländern“ zu ma-chen. Dies ist der Rückfall in das 19. Jahrhundert, alsGrundrechte nur den Staatsbürgern zuerkannt wurden.Wir halten dagegen daran fest: Die Nichtdiskriminierungvon eigenen und fremden Staatsangehörigen ist wesent-licher Kern der Menschenrechte. Sie ist das Herzstückdes menschenrechtlichen Schutzsystems. Dass dieseNichtdiskriminierung ausgerechnet für Kinder nicht gel-ten soll, ist ein Skandal.

Abgesehen von dieser allgemeinen Feststellung inte-ressiert hier jedoch vor allem: Was ist die Folge diesesVorbehalts, was ist die Folge der insgesamt mangelhaf-ten Umsetzung der Kinderrechtskonvention?

Zunächst: Die Konvention definiert als „alle“ Men-schen vor Vollendung des 18. Lebensjahres. Im Asyl-recht und im Aufenthaltsrecht gelten Minderjährige aberab Vollendung des 16. Lebensjahres als voll verhand-lungsfähig; sie werden wie Erwachsene behandelt. Fürunbegleitete Minderjährige bedeutet dies eine besondereHärte. Mit Vollendung des 16. Lebensjahres endet dieUnterbringung im Rahmen der Jugendhilfe. Jugendlichein einer schwierigen Phase ihrer Entwicklung werden indie üblichen Flüchtlingsheime gesteckt, wo sie nicht dennotwendigen Raum zur Entwicklung, erst recht keineBezugspersonen oder angemessene Betreuung erfahren.

Auch das Verfahren zur Altersfeststellung selbst istfragwürdig. Die Behörden wenden oft Methoden an, diefür die Betroffenen höchst entwürdigend und medizi-nisch äußerst fragwürdig sind. Diese Praxis muss been-det werden.

Page 190: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16032.pdf · 2020. 5. 25. · Plenarprotokoll 16/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 32. Sitzung Berlin, Donnerstag,

2768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

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Nach einer Erhebung des Bundesinnenministeriumsvom Mai 2005 befanden sich viel mehr Minderjährige inAbschiebehaft, als bis dahin angenommen. Allein 100waren es 2002 bis 2004 durchschnittlich in Berlin. InNRW befanden sie sich im Durchschnitt zwei Monate inAbschiebehaft. Länder wie Bayern und Baden-Württem-berg machten erst gar keine Angaben. Was haben Kinderund Jugendliche in einem Knast zu suchen, deren einzi-ges „Vergehen“ es war, in der Hoffnung auf den Schutzihrer Rechte in die Bundesrepublik zu fliehen?

Auch in vielen anderen Gesetzen ist abzulesen, dassder Gesetzgeber Flüchtlingsabwehr und Abschreckungüber das Kindeswohl gestellt hat. Wir kritisieren schonseit Jahren die verminderten Sozialleistungen für Asyl-bewerber und Flüchtlinge, die Unterbringung in Sam-melunterkünften, die Residenzpflicht, die völlig unzurei-chende Gesundheitsversorgung, das Flughafenverfahren,die Bedingungen der Abschiebehaft. Dies alles trifftKinder und Jugendliche noch härter als Erwachsene.Dennoch hat keine Regierung seit In-Kraft-Treten derKonvention Anstalten gemacht, hier zumindest fürFlüchtlingskinder Erleichterungen zu schaffen. Flücht-lingskinder sind darüber hinaus noch weiteren Beschrän-kungen unterworfen: In einigen Bundesländern wird ih-

nen das Recht auf Schulbesuch versagt. 16 bis 17-Jährige erhalten keinen Vormund, der ihre Interessenvertreten kann; sie gelten ja schon als „erwachsen“. Dasalles verletzt den in der Konvention festgelegten Vorrangdes Kindeswohls in allen Gesetzgebungs- und Verwal-tungsmaßnahmen.

Um die Kinderrechtskonvention Zweck und Ziel nachtatsächlich umzusetzen, muss es ein völliges Umdenkengeben. Der Schutzgedanke des SGB VIII muss Vorrangvor den aufenthaltsrechtlichen Regelungen haben. FürGesetzgeber und Behörden darf es keine Rolle spielen,ob ein Kind „Inländer“ oder „Ausländer“ ist. Darüberhinaus fordern wir einige konkrete Schritte, die im Rah-men der anstehenden Änderung des Aufenthaltsrechtserfolgen können. Für unbegleitet ankommende minder-jährige Flüchtlinge muss es ein bundesweit einheitliches„Clearingverfahren“ geben, wie Fachverbände schonlänger fordern. Im Clearingverfahren soll geklärt wer-den, wie dem Wohl des Kindes am besten gedient ist. Andieser Stelle können wir von den Bundesländern lernen,in denen es ein solches Clearingverfahren bereits gibt.Außerdem muss es endlich Abschiebeschutz für Minder-jährige aus Staaten geben, in denen ihnen die Zwangsre-krutierung als „Kindersoldaten“ droht.

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ISSN 0722-7980