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Plenarprotokoll 15/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 32. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. März 2003 Inhalt: Tagesordnungspunkt 13: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler: Mut zum Frieden und zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: GATS-Verhandlungen Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2479 A 2479 B 2493 B 2505 A 2511 C 2515 C 2520 D 2528 C 2530 D 2534 B 2536 C 2540 C 2542 A 2543 D 2545 C 2547 A 2547 B 2547 B 2549 C 2550 D

Deutscher Bundestag2547 B 2547 B 2549 C 2550 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2479 (A) (C) (B) (D) 32. Sitzung Berlin,

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  • Plenarprotokoll 15/32

    Deutscher BundestagStenografischer Bericht

    32. Sitzung

    Berlin, Freitag, den 14. März 2003

    I n h a l t :

    Tagesordnungspunkt 13:

    Abgabe einer Regierungserklärung durchden Bundeskanzler: Mut zum Friedenund zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . .

    Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . .

    Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . .

    Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . .

    Katrin Dagmar Göring-EckardtBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . .

    Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident(Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA

    Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . .

    Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . .

    Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . .

    Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . .

    2479 A

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    2505 A

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    2543 D

    Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Anlage 1

    Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

    Anlage 2

    Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

    – GATS-Verhandlungen – Bildung alsöffentliches Gut und kulturelle Vielfaltsichern

    – GATS-Verhandlungen – Transparenz undFlexibilität sichern

    (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5bis 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . .

    Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Anlage 3

    Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    2545 C

    2547 A

    2547 B

    2547 B

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    32. Sitzung

    Berlin, Freitag, den 14. März 2003

    Beginn: 9.00 Uhr

    Präsident Wolfgang Thierse:

    Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.

    Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushalts-woche vom 17. März 2003 keine Regierungsbefragung,keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stundenstattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

    Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

    Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler

    Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung

    Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derFDP vor.

    Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung vier Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.

    Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,Gerhard Schröder.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der Verantwortung für die Zukunft unseresLandes habe ich der Regierungserklärung ein doppeltesMotto vorangestellt. Es beschreibt, worum es heute geht:Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.

    Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zukämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht,dass der Krieg vermieden werden kann.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetztdie Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind,

    um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der so-zialen Entwicklung in Europa zu kommen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Die Lage – das spürt jeder hier im Haus, aber auchdraußen – ist international wie national äußerst ange-spannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die oh-nehin labile Konjunktur.

    Deutschland hat darüber hinaus – das gilt es ebenfallszu sehen – mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen,die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkos-ten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmerzu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden istund die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt,mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Aus-gaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen,übrigens nicht zuletzt, seit an den Börsen allein inDeutschland während der vergangenen drei Jahre rund700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet wordensind.

    In dieser Situation muss die Politik handeln, um Ver-trauen wieder herzustellen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

    Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachs-tum und für mehr Beschäftigung verbessern.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Detlef Parr[FDP])

    Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welcheMaßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierungvorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen – fürKonjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, fürdie soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.

    Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenver-antwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedemEinzelnen abfordern müssen.

    (Beifall des Abg. Detlef Parr [FDP])

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leistenmüssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflichTätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige ge-meinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unserZiel zu erreichen.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Es wird höchste Zeit!)

    Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt diedramatische internationale Lage einige deutliche Wortezur Krise in und um den Irak. In den vergangenen Tagenund Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengun-gen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lö-sen. Gemeinsam mit unseren französischen Freunden,aber auch mit Russland, China und der Mehrheit imWeltsicherheitsrat sind wir mehr denn je davon über-zeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmit-teln im Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werdenkann und herbeigeführt werden muss.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. GesineLötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

    Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irakunter dem Druck der internationalen Gemeinschaft in-zwischen besser und auch aktiver kooperiert.

    Die Zerstörung der al-Samud-Raketen ist ein sicht-bares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: DieInspektionen und die Inspekteure sind ein wirksames In-strument, das jetzt nicht beendet werden darf.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. GesineLötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

    Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wirnachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen. Des-halb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik desFriedens beharrt haben, anstatt in eine Logik des Kriegeseinzusteigen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. GesineLötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

    Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfas-send und nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch des-halb, damit die Wirtschaftssanktionen, unter denen vorallen Dingen das irakische Volk leidet, gelockert undschließlich aufgehoben werden können. Das sind die Be-dingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihenkönnen. Wir sollten daran festhalten, mit all unsererKraft mitzuhelfen, dass diese Bedingungen realisiertwerden können.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine

    Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau[fraktionslos])

    Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auchunsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Welt-ordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfas-send wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basiseines starken und geeinten Europas tun. Es geht um dieRolle Europas in der internationalen Politik. Aber esgeht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidun-gen in der Welt von morgen.

    Beides – auch das ist Gegenstand dieser Debatte –werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts-und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer wer-den, und zwar in Deutschland als dem größten Land inEuropa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit na-türlich auch in Europa.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaft-lichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten ei-nerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Euro-pas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus denAugen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesell-schaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.

    Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner In-stitutionen und mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt.Deutschland hat dazu unter allen Bundesregierungenentscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der wiruns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Konti-nents, der Kriege und Nationalismen überwunden hatoder dabei ist, sie zu überwinden. Heute kann und mussEuropa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirt-schaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen exportie-ren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Deutschland leistet hierzu – das dürfen wir ruhigselbstbewusst, ja sogar stolz sagen – einen entscheiden-den Beitrag, politisch wie finanziell. Wir finanzieren dieEuropäische Union zu einem Viertel. Wir zahlen jedesJahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischenKassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht unsmit Abstand zum größten Nettozahler der Gemeinschaft.Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa dieÜberzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser istals Konfrontation – ich denke, darüber sind wir uns indiesem Hohen Hause einig –, sondern auch, weil unsereuropäisches Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht stattauf ungezügelter Herrschaft des Marktes, nur gemein-sam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest ge-macht werden kann.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Um in Europa eine führende Position einnehmen zukönnen, haben wir gemeinsam mit Frankreich und Groß-britannien für die beiden bevorstehenden Gipfel in Brüs-sel und Athen Vorschläge für eine europäische Indus-triepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen wir

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und dieChemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben.Denn die Industrie ist – das ist in Brüssel gelegentlichvernachlässigt worden – das Fundament unserer Wirt-schaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeitder europäischen Industrie verbessern. Das ist die Grund-idee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiativemit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair,die wir unseren Partnern in der nächsten Woche auf demGipfel in Brüssel vorlegen werden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort„Mut zur Veränderung“ auch und gerade im Innern unse-res Landes bereits genannt. Um unserer deutschen Ver-antwortung in und für Europa gerecht zu werden, müs-sen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wirmodernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft,oder wir werden modernisiert, und zwar von den unge-bremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseitedrängen würden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]:Das ist ein richtiger Schmarren!)

    Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahrenpraktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen,etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instru-mente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerech-tigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohn-nebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.

    (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

    Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbaudes Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweis-bar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den To-desstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, dieSubstanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brau-chen wir durchgreifende Veränderungen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Das haben Sie 1998 verhindert!)

    Hierzu hat die Regierung in den vergangenen Jahren vie-les auf den Weg gebracht.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)

    – Wir sind es gewesen und nicht Sie.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU –Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: DieDeutschland zugrunde richten – um Ihren Satzzu vervollständigen!)

    Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte privateVorsorge, die die zweite Säule der Rentenversicherungdarstellt, auf den Weg gebracht.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Wo ist denn der Herr Riester?)

    Diese private Vorsorge als zweite Säule unter das Dachder Altersversorgung und Alterssicherung zu stellen, dashaben viele große Länder in Europa noch vor sich. UnterIhrer Führung ist mit solchen Reformen nie begonnenworden, geschweige denn, dass sie je zu Ende gebrachtworden sind.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir haben eine mehrstufige Steuerreform beschlos-sen, die Bürger und Unternehmen um insgesamt56 Milliarden Euro entlastet.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Ökosteuer!)

    Wir haben die Gesellschaft modernisiert: in der Energie-politik, im Familienbereich und beim Staatsangehörig-keitsrecht ebenso wie durch eine moderne Zuwande-rungsregelung, der Sie sich nicht verschließen dürfen,wenn Sie ernsthaft für Reformen in diesem Land eintre-ten wollen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir haben unsere Investitionen in Forschung ver-stärkt und damit begonnen, die Bedingungen für schuli-sche und vorschulische Bildung zu verbessern. Es giltaber einzuräumen: Wir haben feststellen müssen, dassdiese Schritte nicht ausreichen. Vor allem reicht auch dieGeschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den ver-änderten Bedingungen anpassen, nicht aus. Das ist derGrund, warum wir bei den Veränderungen weitergehenmüssen.

    Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Struktur-reformen.

    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Donnerwetter!)

    Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehntsbei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Gene-rationen gesichert und die Fundamente unseres Gemein-wesens gestärkt.

    Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen verspro-chen, die Maßnahmen, die wir in den Bereichen, die ichgenannt habe, planen, Punkt für Punkt zu erläutern.

    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was versprochenwird, wird doch nie gehalten! – Michael Glos[CDU/CSU]: Versprochen – gebrochen!)

    Dabei geht es vor allen Dingen um drei Bereiche:

    Der erste ist „Konjunktur und Haushalt“. Die dramati-sche Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balancezwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen undsteuerlicher Entlastung zu schaffen.

    (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Also mehr Steuern!)

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und ego-istisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind,die Kosten aber durch Verschuldung auf künftige Gene-rationen abzuwälzen. Das ist kein verantwortbarer Weg.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidie-rung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart haben,fest. Nur: Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpre-tiert werden.

    (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP –Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt ist die Katzeaus dem Sack!)

    Er lässt Raum und er muss auch Raum lassen für Reakti-onen auf unvorhergesehene Ereignisse. Phasen wirt-schaftlicher Schwäche – in Deutschland und in Europasind wir in einer solchen – dürfen eben nicht durch pro-zyklische Politik ausgeglichen werden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir sind uns in Europa mit unseren Partnern einig,dass wir auch Möglichkeiten zu Reaktionen auf unvor-hersehbare Ereignisse brauchen, die möglicherweise alsFolgen der Verschärfung von Krisen in Regionen in derWelt eintreten. Auch diese Möglichkeit gibt der Stabili-tätspakt durchaus her. Wir werden diese Möglichkeitenzusammen mit unseren Partnern offensiv nutzen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Völlig falsche Signale!)

    Allerdings: Der Verweis auf den Stabilitätspakt unddie europäische Verantwortung darf nicht als Ausredebenutzt werden, jetzt hier nichts zu tun. Auch in der jet-zigen Situation müssen und wollen wir Wachstumsim-pulse setzen. Das muss für die Ermunterung privater In-vestitionen ebenso gelten wie für die öffentlichenInvestitionen, insbesondere für die in den Kommunen.

    (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie zum Beispiel?)

    Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachs-tums oder wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichenInvestitionen auf hohem Niveau zu halten.

    (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Hoch? Wo sind die?)

    Der Bund – wir werden das bei den Haushaltsberatun-gen diskutieren – kommt dieser Verantwortung durchausnach.

    (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist ja lachhaft!)

    Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesemJahr auf 26,7 Milliarden Euro.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Ja, durch die Flut!)

    Wir werden aber auch die Finanz- und Investitions-kraft der Kommunen nachhaltig stärken müssen. Dabeisetzen wir auf folgende Maßnahmen:

    Erstens. Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden be-absichtigt die Bundesregierung, sie von ihrem Beitragzur Finanzierung des Flutopferfonds zu befreien.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Das bringt Mehreinnahmen in einer Höhe von800 Millionen Euro.

    Zweitens. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz unddie Abgeltungsteuer werden voraussichtlich noch indiesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund 1 Milliarde Euroführen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachenbei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden[CDU/CSU]: Abrakadabra!)

    – Eine solche Reaktion von Ihnen habe ich erwartet.Aber an dieser Stelle zeigt sich, wie Ihre Politik wirklichist: alles ablehnen und immer mehr fordern.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Jede einzelne Maßnahme wird blockiert. Auf jede Blo-ckade, die Sie machen, erfolgt eine neue Forderung. Dasist vollkommen unverantwortlich. Damit werden Sie nichtlange durchkommen. Seien Sie sich dessen ganz sicher!

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Ganz ruhig bleiben!)

    Drittens. Wir werden die Kommunen ab dem 1. Ja-nuar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozial-hilfeempfänger entlasten. Das heißt, für bis zu1 Million Sozialhilfeempfänger wird künftig die Bun-desanstalt für Arbeit materiell zuständig sein.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe ent-lastet. Sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zumBeispiel für Investitionen bei der Kinderbetreuung nut-zen können.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es muss aber auch klar sein: Diese Regelung soll dieKommunen nicht von ihrer Verantwortung entbinden,mitzuhelfen und alles dafür zu tun, dass Menschen Ar-beit in den Strukturen finden, die bei den Kommunenaufgebaut worden sind. Die unterschiedliche Finanzie-rung darf nicht zu geteilter Verantwortung führen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Viertens. Die Bundesregierung wird zum 1. Janu-ar 2004 die Gemeindefinanzen grundlegend reformie-ren. Zurzeit arbeitet eine Kommission,

  • Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2483

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

    an der Sie, wie Sie wissen, beteiligt sind, mit Hochdruckan einer Umsetzung dieser Reform. Im Mittelpunkt wirdübrigens nach unserer Auffassung eine erneuerte Gewer-besteuer stehen, die die Einnahmen verstetigt und denGemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Auch an diesem Punkt werden Sie zeigen können, ob Siebereit sind, Verantwortung für das Ganze zu überneh-men, oder ob Sie weiterhin allein aus parteipolitischerOrientierung egoistisch Ihr eigenes Süppchen kochenwollen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Fünftens. Wir werden über die Kreditanstalt fürWiederaufbau ein Investitionsvolumen in Höhe voninsgesamt 15 Milliarden Euro mobilisieren:

    (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Woher?)

    7 Milliarden Euro für ein kommunales Investitionspro-gramm und 8 Milliarden Euro für die private Wohnungs-bausanierung. Für dieses Investitionsprogramm wird derBund aus eigenen Mitteln eine attraktive Refinanzierungsicherstellen. Das kommunale Programm ist für länger-fristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser,Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infra-struktur bestimmt. Dieses Programm – dessen bin ich si-cher – sorgt vor allen Dingen für Arbeit in der Bauwirt-schaft und im Handwerk. Es kommt den Bürgerinnenund Bürgern und denen unmittelbar zugute, die in klei-nen und mittelständischen Betrieben arbeiten.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemenund überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden dieohnehin attraktiven Zinskonditionen noch einmal deut-lich verbessert. Das wird zu mehr Investitionen führen.Mir liegt aber daran, festzustellen, dass dies kein kurz-fristiges und schuldenfinanziertes Konjunkturprogrammist. Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmennoch Steuern erhöhen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zuunseren Strukturreformen auf der Angebotsseite, dieich Ihnen erläutern werde. Beides bedingt einander:Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls.Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Refor-men indessen ins Leere.

    Deswegen setzen wir an beiden Seiten an. Wir werden– wie geplant – die nächsten Stufen der Steuerreform miteinem Entlastungsvolumen von rund 7 Milliarden Euroam 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998von 25,9 auf 15 Prozent und der Spitzensteuersatz von53 auf 42 Prozent sinken.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – HansMichelbach [CDU/CSU]: Völlig neu! TotaleÜberraschung!)

    Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenü-ber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkun-gen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten. Auch dasgehört zur Wahrheit in diesem Land.

    (Beifall bei der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

    Wollte man die Forderungen, die in die Welt gesetztwerden – sie gehen übrigens keineswegs nur zulastendes Bundes, sondern auch zulasten der Länder und derKommunen; das wissen Sie doch alle –, wirklich reali-sieren, ginge das nur über eine Neuverschuldung oderdie Erhöhung von Verbrauchsteuern. Anders wäre dasnicht vernünftig finanzierbar.

    (Zuruf von der FDP: Einsparungen!)

    Beide Wege, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, hierder Mehrwertsteuer, und eine Verschuldung in dieserGrößenordnung, sind nicht zu verantworten. Deshalbbleibt es bei den Festlegungen, die wir getroffen haben.Das ist planbar für die Steuerbürgerinnen und -bürgerund für die Unternehmen und das ist der richtige Weg.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinser-träge einführen und dadurch erreichen, dass im Auslandangelegte Gelder straffrei zurück transferiert werden.

    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir hätten esgern noch einmal deutlicher beschrieben! –Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    – Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie das sagen. DerSinn der Abgeltungsteuer ist nicht zuletzt derjenige, dasswir auf diese Weise Geld, das im Ausland liegt, zurück-holen. Es ist doch besser, es arbeitet in Leipzig oder Gel-senkirchen, als dass es in Liechtenstein schwarz Zinsenbringt. Das ist der Sinn dieser Regelung.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt[FDP]: Ja! Natürlich!)

    Wir brauchen Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch,aber wirksam sein. Über die Art und Weise, wie das ge-schieht, sind wir gegenüber denjenigen, die das in derzweiten Kammer mitzuentscheiden haben, durchaus ge-sprächsbereit. Über die Ausgestaltung dieser Kontrollenwerden wir mit der Mehrheit im Bundesrat zu reden ha-ben. Ich bin sicher, dass wir aus der Sache heraus eineEinigung finden, weil das Ziel, das wir verfolgen, ver-nünftig ist und eigentlich jedem einleuchten müsste.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

  • 2484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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    Es muss in diesem Zusammenhang Verlass darauf sein,dass mit dieser Operation nur diese und keine anderenZiele verfolgt werden.

    Wir werden Gewinne aus Veräußerungen – das istbeschlossen – in Zukunft besteuern. Die Kehrseite ist,dass deshalb die Substanz von Vermögen steuerfrei blei-ben kann. Auch das muss klargestellt werden.

    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist der Beifall?)

    Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unsererReformagenda. Eine dynamisch wachsende Wirtschaftund eine hohe Beschäftigungsquote sind die Vorausset-zungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und damitfür eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Wirwollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeitenkann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.

    Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue For-men der Beschäftigung und der Selbstständigkeit geöff-net. Wir haben das Programm „Kapital für Arbeit“aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermitt-lung der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir ha-ben Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden in einneues Gleichgewicht gebracht.

    Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzu-bauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommenkann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln undsie nicht bloß zu verwalten.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    In den letzten Monaten haben wir – teilweise auch ge-meinsam – erhebliche Anstrengungen unternommen,den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren: Wir haben dieZeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkun-gen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmenihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel de-cken können. Wir haben die gering bezahlten Jobs bis800 Euro massiv von Abgaben entlastet.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La-chen bei der CDU/CSU)

    – Ich dachte, Sie hätten sich daran beteiligt. Das ist dochnicht schlimm. Es kann durchaus auch einmal etwas Ver-nünftiges aus Ihren Reihen kommen. Das ist doch keineFrage.

    (Ludwig Stiegler [SPD]: Selten genug!)

    Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit werden wir weiter deutlich verbessern.

    Unser System der Arbeitsvermittlung hat unver-kennbare Schwächen. Zu Zeiten der Vollbeschäftigungfiel das nicht weiter ins Gewicht und dann haben wir uns20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die Fehlentwick-lungen zu korrigieren.

    Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aberjetzt müssen die Unternehmen, die offene Stellen zu be-setzen haben, diese Angebote einer erneuerten Arbeits-verwaltung auch annehmen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäf-tigung verlängert, wie es gefordert worden ist, für dieüber 50-Jährigen sogar ohne zeitliche Grenze. Auch dasist eine Maßnahme, um ältere Arbeitslose wieder in Be-schäftigung zu bringen. Ich appelliere an die Wirtschaft,das auch zu tun. Denn es ist nicht Sache der Bundesre-gierung, sondern der Unternehmen, so zu verfahren,dass auch jemand, der 50 oder älter ist, im Betrieb seineChance behält oder wiederbekommt. Das ist eine Verant-wortung, die nicht nur bei der Politik abzuladen ist, son-dern die die ganze Gesellschaft und speziell die Wirt-schaft angeht. Auch sie müssen Verantwortung für dasGemeinwesen übernehmen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Refor-men hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen undunsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbil-dungsplätze bereitgestellt werden. Aber es muss auchklar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzungder Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird esdurchaus eine Zeit dauern, bis die entsprechenden Refor-men auf dem Arbeitsmarkt greifen. Einfach die aktiveArbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschenBundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuenStrukturen aufgebaut sind und ihre Wirkung entfaltenkönnen – das kann nicht die Lösung sein und das wirdauch nicht die Lösung sein.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir werden speziell in Ostdeutschland für eine Über-gangszeit noch einen zweiten Arbeitsmarkt brauchen.Das gilt übrigens nicht nur für Ostdeutschland, sondernauch für andere besonders benachteiligte Regionen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabeibelassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Ar-beitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über dasSystem unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sinddie sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brau-chen?

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollenund können, zum Sozialamt gehen müssen, während an-dere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zurVerfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.

    (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Deswegen wird jetzt die Statistik geändert!)

    Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleicher-maßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedli-cher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolg-reiche Integration sein.

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    Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistun-gen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen de-rer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund,warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen-legen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auchdas gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveauder Sozialhilfe entsprechen wird.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Wo bleibt der Bei-fall? – Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler[SPD]: Jetzt bellen sie wieder wie die Hunde!– Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    – Herr Schauerte, wenn Sie noch einen Moment zuhörenkönnten. Es kommt ja noch etwas.

    (Lachen bei der CDU/CSU – Eckart vonKlaeden [CDU/CSU]: Es kommt tatsächlichnoch etwas!)

    Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen,denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir da-mit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einenJob annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistun-gen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte ZeitLangzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufneh-men, deutlich mehr als die bisherigen 15 Prozent derTransfers belassen. Das soll und wird ein Anreiz für dieAufnahme von Arbeit sein.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal fürdiejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die längerals zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wirdkünftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zu-rückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir wer-den die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mitSanktionen rechnen müssen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und dasSozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe derJahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben. Aberauch hier vorweg eine Bemerkung: Der Kündigungs-schutz, wie er zum Wesen unserer sozialen Marktwirt-schaft gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern aucheine ökonomische und eine kulturelle Errungenschaft.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Unser Land ist nicht durch Gesetze des Dschungels oderdurch bedenkenloses „Hire and Fire“,

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Donnerwetter!)

    sondern durch selbstbewusste Arbeitnehmer stark ge-worden, deren Motivation eben nicht Angst ist, sondernder Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern et-was zu leisten.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir wissen aber, welche gewaltigen Veränderungenan der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft stattfin-den. Wir müssen deshalb auch den Kündigungsschutzfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für dieUnternehmen besser handhabbar machen. Das gilt insbe-sondere für die Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern. Für sie muss und wird diepsychologische Schwelle bei Neueinstellungen über-wunden werden. Der Wirtschafts- und Arbeitsministerhat dazu Vorschläge entwickelt. Diese werden ohne Ab-striche umgesetzt werden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU:Oh! Oh!)

    – Ich kann Ihnen das gerne erläutern, wenn Sie das wol-len. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das sogenannte Puffermodell nutzen, wonach dann, wenn einsechster Mitarbeiter eingestellt wird, wenn also dieGrenze von fünf überschritten wird, der erste Arbeitneh-mer quasi in den Kündigungsschutz hineinwächst. DasProblem ist unter Umständen, dass das schwierig zu kal-kulieren ist und dass Arbeitsgerichte Schwierigkeiten beider Umsetzung haben. Deswegen hat der Wirtschafts-und Arbeitsminister ein anderes Modell entwickelt, dasvorsieht, dass die Zahl derjenigen, die befristet einge-stellt werden – Sie kennen die diesbezüglichen Regelun-gen –, und die Zahl derjenigen, die als Leih- und Zeitar-beiter eingestellt werden, nicht auf die Obergrenzen fürdie Betriebe angerechnet werden. Mein Eindruck ist,dass dies das wirkungsvollere, das bessere Modell ist.Deswegen wird es auch umgesetzt werden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Aber das wird nicht reichen. Man muss das im Zusam-menhang sehen.

    Darüber hinaus werden wir – Sie sollten das durchausin Kumulation sehen – eine wahlweise Abfindungsre-gelung bei betriebsbedingten Kündigungen einführen.Im Falle solcher Kündigungen soll der Arbeitnehmerzwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einergesetzlich definierten und festgelegten Abfindungsrege-lung wählen können.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umge-stalten, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeitendie Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unter-nehmen gehalten werden können. Statt der Sozialaus-wahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer derBetriebszugehörigkeit sollen in Zukunft die Prioritätenauch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Ar-beitgebern erarbeitet und verbindlich gemacht werden.Das erhöht die Planungssicherheit für die Betriebe undsenkt die Hürde für Neueinstellungen.

    Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiterenMaßnahme. Für Existenzgründer werden wir die maxi-male Befristung von Arbeitsverhältnissen auf vier Jahreverdoppeln. Existenzgründer werden zudem in den ers-

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    ten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die Hand-werks- und Industrie- und Handelskammern freigestellt.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. FriedrichMerz [CDU/CSU])

    Abgerundet wird diese Strategie für mehr Beschäfti-gung durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarz-arbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die uns allebeschämen müssen.

    (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Trostlos!)

    Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität,Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auchein Gebot der gesellschaftlichen und ökonomischen Ver-nunft. Wir haben bereits durch die Hartz-Reform legaleBeschäftigung attraktiver gemacht.

    Für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Groß-unternehmen gewiss wichtig. Aber der Motor desWachstums ist und bleibt der Mittelstand.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]:Richtig! Wo er Recht hat, hat er Recht!)

    Mittelständische Unternehmen klagen über hohe Lohn-nebenkosten und über bürokratische Vorschriften. Des-halb werden wir kleine Betriebe künftig deutlich besserstellen. Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetrieberadikal vereinfachen, die Buchführungspflichten redu-zieren und auch damit die Steuerbelastung kräftig sen-ken.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)

    Mit dem Small Business Act verbessern wir die Start-bedingungen in die Selbstständigkeit.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Reden Sie Deutsch!)

    Wer sich selbstständig macht und damit für sich und an-dere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennungund unsere politische Unterstützung.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es darf nicht sein – auch das gilt es klar zu machen –,dass Unternehmensgründer und viele kleinere Unterneh-men inzwischen mehr Zeit für ihre Bankengesprächeaufwenden als für die Entwicklung und Vermarktung ih-rer Produkte.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir müssen in diesem Zusammenhang auch deutlichmachen, dass ungeachtet von Schwierigkeiten gerade imFinanzierungssektor – Schwierigkeiten übrigens, dieauch durch Managementfehler in diesem Bereich ent-standen sind und nicht durch die Politik –

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    die in diesem Markt tätigen Institute ihre eigentlicheAufgabe, nämlich nicht zuletzt die mittelständischeWirtschaft mit Finanzierungsmöglichkeiten zu versor-gen, besser wahrnehmen müssen, als das in der letztenZeit der Fall gewesen ist.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Die Bundesregierung, die staatlichen Institutionen kön-nen nicht an die Stelle der privaten Finanzierungsinsti-tute treten. Sie können nur ergänzend tätig werden. Des-halb haben wir mit dem Programm „Kapital für Arbeit“und den so genannten Nachrangdarlehen, die bei der Be-wertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behan-delt werden können, die Kreditbedingungen für dieUnternehmen verbessert. Aber die langfristigen Refinan-zierungsmöglichkeiten müssen durch die privaten Insti-tutionen dargestellt werden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass Entbüro-kratisierung und mehr Flexibilität immer nur von der ei-nen Seite der Gesellschaft eingefordert werden könntenund werden dürften. Nein, wir müssen auch das Hand-werksrecht modernisieren und so verschlanken, damites im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt,mehr Arbeitsplätze entstehen und die, die es gibt, etwadurch erleichterte Betriebsübernahmen besser gesichertwerden können, als das in der Vergangenheit der Fallwar.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich will in diesem Zusammenhang drei mir besonderswichtige Punkte ansprechen:

    Erstens. In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssie-gel des Meisterbriefes besonders ankommt, soll undmuss er auch künftig erhalten bleiben. Das sind alle Be-reiche, in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahrenfür die Gesundheit oder das Leben anderer verursachenkönnte. Ich weiß, dass das schwer abzugrenzen seinwird; aber es ist notwendig, auf diesem Gebiet endlichzu Veränderungen zu kommen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Zweitens. Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollenwir künftig den Aufbau einer selbstständigen Existenzerleichtern.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einenRechtsanspruch auf die selbstständige Ausübung ihresHandwerks erhalten.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Drittens. Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber alsselbstständiger Einzelunternehmer braucht der Chef ei-nes Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig wird

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    es ausreichen, wenn er einen Meister in seinem Hand-werksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr Flexibi-lität und erleichtert Firmenübernahmen, was dringendnotwendig ist.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

    – Sie sollten einmal zuhören.

    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Es lohnt ja gar nicht bei Ihnen!)

    Ich habe Ihnen klar gesagt, wo es geht und wo es bishernicht geht: In einer GmbH hat man bisher keine Pro-bleme. Da gilt das, was ich gesagt habe. In einem Einzel-unternehmen gilt das bisher nicht.

    (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Falsch! Dasind Sie schlecht informiert, Herr Bundeskanz-ler!)

    Also werden wir das auch für die Einzelunternehmenmöglich machen, weil das sinnvoll ist, und so geschiehtes auch.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich inDeutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeits-beziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufignicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einerkomplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbe-werb sein muss. Die Verantwortlichen – Gesetzgeber wieTarifpartner – müssen in Anbetracht der wirtschaftlichenSituation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungs-spielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern.Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Opti-onen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spiel-räume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.

    Übrigens, in der Praxis gibt es – auch das gilt es ein-mal klar zu machen – eine Vielzahl erfolgreicher Bei-spiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden desgeltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte mannicht kleinschreiben.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es läuft ja auch alles prima!)

    Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze ge-schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe ver-bessert.

    Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Stand-ort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlagevon Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehaltder Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unter-liegen.

    (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Flasche leer!)

    Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatischeUnbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggres-sive Angriffe auf das Tarifsystem.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungenein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden.Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und esist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzesgibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das istnicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung;denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Ver-antwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zuübernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteres-sen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stel-len.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlangdessen, was es bereits gibt – aber in weit größerem Um-fang –, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das invielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht,wird der Gesetzgeber zu handeln haben.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissver-ständlich klarstellen: Wir werden das Recht auf Mitbe-stimmung nicht antasten

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht ab-schaffen. Der Flächentarifvertrag schafft, wenn er flexi-bel gehandhabt wird, gleiche Konkurrenzbedingungen ineiner Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitneh-mern Planungssicherheit und zwingt zur beständigenSteigerung der Produktivität.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Mir ist noch etwas wichtig – auch das gehört in einesolche Debatte –: Ohne mutige und verantwortungsbe-wusste Betriebsräte – das gilt es zu unterstreichen – wür-den heute viele Betriebe nicht mehr existieren, meineDamen und Herren.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebs-räte und auch Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazuleisten, dass Betriebe weiter arbeiten können. Natürlichmüssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern.Aber – auch das gilt es in einer solchen Debatte einmalklar zu machen – sie haben so viel für Wohlstand und so-ziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen, dieman gelegentlich aus den Reihen von CDU/CSU undFDP hört,

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

    eine geschichtslose Unverschämtheit sind.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang ineine bestimmte Richtung des Hauses noch einmal daranerinnern, dass die weitaus größte Zahl unternehmeri-scher Misserfolge nicht die Gewerkschaften und nichtdie Betriebsräte zu verantworten haben, sondern

    (Zurufe von der CDU/CSU: Sie!)

    dass sie auch – das gehört ebenfalls in eine solche De-batte, auch wenn Sie das vielleicht nicht hören mögen –auf krasse kaufmännische und strategische Fehler imManagement zurückgehen. Diese Fehler werden dannoft genug noch mit millionenschweren Abfindungen ver-gütet.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt[FDP]: Unter Zustimmung der Gewerkschaf-ten! Was hat denn der Herr Zwickel geschrie-ben? – Zurufe von der CDU/CSU)

    – Mein Eindruck ist, dass Sie das gern unter den Teppichkehren würden.

    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein, im Ge-genteil!)

    So wichtig es auf der einen Seite ist, Flexibilität zu for-dern, so wichtig ist es auf der anderen Seite, deutlich zumachen, dass sich auch in der bundesdeutschen Unter-nehmenskultur etwas bewegen und verändern muss.Auch dafür wird zu sorgen sein.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich kann Ihnen gleich Beispiele liefern.

    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Telekom! – Michael Glos [CDU/CSU]: Zwickel!)

    Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbändenund den Kammern für den Erhalt des dualen Ausbil-dungssystems gestritten – übrigens ein Ausbildungssys-tem, um das uns noch immer viele Länder der Welt be-neiden.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Die Bundesregierung hat, wie die Länder und die Kom-munen im Übrigen auch, mit diversen Förderprogram-men dafür gesorgt, dass junge Menschen eine Chanceauf Ausbildung und Arbeit bekommen. Wir waren unsmit den Verbänden der Wirtschaft einig, dass die Verant-wortung dafür, dass jede und jeder am Anfang ihres oderseines Berufslebens nicht in Arbeitslosigkeit fällt, nichtallein bei der Politik abgeladen werden kann, sonderndass diese Verantwortung auch bei den Betrieben liegt.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110 000 be-triebliche Ausbildungsplätze – Ausbildungsplätze, dienicht von der Politik geschaffen werden können. 30 Pro-zent aller Unternehmen bilden aus, viele davon über Be-darf, und ich bin dankbar dafür.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrersozialen und übrigens auch ökonomischen Verantwor-tung. Sie sägen damit an dem Ast, auf dem sie selber sit-zen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirt-schaft, dass sich die unternehmerische Verantwortungnicht nur auf ein gutes Jahresergebnis erstreckt. Unter-nehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftlicheVerantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächstund vor allem im Engagement für diejenigen, die amAnfang ihres Berufslebens stehen. Das ist ein zentralesGebot der Wirtschaftsethik, aber auch der blanken Nütz-lichkeit für unsere Gesellschaft.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zu-rückzuziehen, sondern sie muss zu der getroffenen Ver-abredung zurückkehren.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz suchtund ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatzbekommen! Davon können wir nicht abweichen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ebenso wie ich die Forderung an die Tarifparteien ge-richtet habe, Öffnungsklauseln zu schaffen, damit be-triebliche Bündnisse entstehen können, muss ich dieForderung an die Wirtschaft richten, die gegebene Zu-sage einzuhalten. Wenn nicht, werden wir auch in die-sem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung kommenmüssen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Jeder weiß, ich bin kein Freund der Ausbildungs-abgabe. Aber ohne eine nachhaltige Verbesserung derAusbildungsbereitschaft und ohne die Übernahme derzugesagten Verantwortung für diesen Bereich ist dieBundesregierung zum Handeln verpflichtet und sie wirddas auch tun.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Dazu gehört aber auch: Wer bereit ist auszubilden,dem darf das nicht deshalb versagt werden, weil er be-stimmte formale Voraussetzungen nicht erfüllt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungenso umgestalten, dass jeder, der einen Betrieb mindestensfünf Jahre lang erfolgreich geführt hat, auch ausbildendarf.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/

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    CSU]: Dann schafft doch gleich den Meister-brief ab!)

    Genauso klar muss sein: Junge Menschen haben einRecht auf neue Chancen, auf Ausbildung und diesesRecht muss ihnen die Gesellschaft gewähren. DiesemRecht – das muss genauso klar festgestellt werden – ent-spricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auchanzunehmen. Geschieht das nicht, wird das zu Sanktio-nen führen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass dasfunktioniert.

    Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Ab-sicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfas-sungsauftrag. Sie sind nach meiner festen Überzeugungdas Fundament unserer Gesellschaftsordnung.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eineganz und gar unsinnige Debatte, in der so getan wird, alsstünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzu-schaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer angesichtsradikal veränderter Bedingungen der ökonomischen Ba-sis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereitsverloren.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wiedie unsere eine wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaathaben kann. Anders als in einem Sozialstaat lässt sichZusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in einer Ge-sellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art undDauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellenGegebenheiten dramatisch verändern, gar nicht organi-sieren. Aber wir müssen aufhören – das ist der Kern des-sen, was wir vorschlagen –, die Kosten von Sozialleis-tungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen,immer nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzu-bürden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durchUmstrukturierungen im System und durch Abbau vonBürokratie erreichen. Aber es wird unausweichlich nötigsein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprücheund Leistungen, die schon heute die Jüngeren über Gebührbelasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten,dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben sen-ken. Ich betone noch einmal: Mit den Stufen 2004 und2005 werden wir das tun. Durch unsere Maßnahmen zurErneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wirdie Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer ein-fach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführenmüssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeits-losengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für dieüber 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil diesnotwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu be-

    halten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor demHintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Ar-beitsanreize zu geben.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Helle Begeisterung bei den Roten!)

    – Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Daskann doch gar nicht anders sein und das habe ichüberhaupt nicht anders erwartet. Es gibt gelegentlichMaßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keineBegeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht.Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sieauch umsetzen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Um auf die Rente zurückzukommen: Die Reform derRentenversicherung im Jahr 2001 war sicherlich eineder wichtigsten rentenpolitischen Entscheidungen seitder Einführung der dynamischen Rente 1957. Weil darü-ber so viel und so viel Unsinniges verbreitet worden ist,will ich sagen: Bis Ende vergangenen Jahres wurden imBereich der individuellen Altersvorsorge 3,4 MillionenVerträge abgeschlossen; bei der betrieblichen Altersvor-sorge waren es etwa 2 Millionen. Das sind, bezogen aufdie 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerin unserem Land, immerhin 15 Prozent.

    (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Das ist nicht genug – keine Frage. Aber nach einem Jahrist das eine ganze Menge.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir müssen uns endlich einmal entscheiden, ob wir ei-ner Reformmaßnahme in einem schwierigen Umfeld, ineinem häufig rechtlich und auch politisch sehr vermachte-ten Umfeld Zeit geben wollen, ihre Wirkung zu entfalten,oder ob wir uns nur dranmachen wollen, jeden Ansatz vonReformen gleich wieder zu zerreden, weil er dem einen zuweit und dem anderen nicht weit genug geht.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Gleichwohl gilt, bezogen auf dieses System, dass wirin unseren Annahmen zu pessimistisch und zu optimis-tisch zugleich waren: zu optimistisch, was die Beschäfti-gungsentwicklung anging, und zu pessimistisch im Be-zug auf die durchschnittliche Lebenserwartung, dieglücklicherweise – aber mit Problemen für die Alters-vorsorge – immer größer wird. Aus diesen beiden Grün-den ist es nötig, bei der Rentenversicherung nachzujus-tieren. Dabei muss der Grundsatz beibehalten werden,dass die Renten für die alten Menschen so sicher wie nurirgendwie möglich gemacht werden und die Beiträge be-zahlbar bleiben. Das heißt auch, dass wir noch in diesemJahr von Herrn Rürup ergänzende Vorschläge erwarten,wie die Rentenformel angesichts dieser Veränderungenneu zu fassen und entsprechend anzupassen ist.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

  • 2490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    Ich denke, wir sind uns klar darüber, dass alle, aberauch wirklich alle in der Gesellschaft einen Beitrag leis-ten müssen. Es betrifft natürlich die Mitglieder der Bun-desregierung und auch andere. Deshalb wird es – keinZweifel – auch für die Gehälter der Bundesminister undder Staatssekretäre eine erneute Nullrunde geben.

    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politischePersonal von Einschnitten nicht verschont bleiben kann.

    Noch einen Aspekt: Wie ich höre, haben sich die Län-der darauf verständigt, dass auch die Beamten einen Bei-trag zur Erneuerung des Sozialstaates und zur Konsoli-dierung der Länderhaushalte leisten sollen und leistenwerden. Der Bund, der hier die Gesetzgebungsarbeit zumachen hat, ist durchaus bereit, auf die Vorschläge, diedie Länder untereinander offenbar vereinbart haben, po-sitiv einzugehen. Denn klar ist: Auch aus diesem Bereichheraus muss es Solidarität geben.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es gibt kaum einen Bereich der Politik, den die Men-schen mit so hohen Erwartungen, aber auch mit so gro-ßen Sorgen betrachten wie die Reformen des Gesund-heitswesens. In der Tat, die Reform der gesetzlichenKrankenversicherung ist der wichtigste, auch notwen-digste Teil der innenpolitischen Erneuerung, weil wir nurmit einer Reform das hohe Niveau der medizinischenVersorgung für die Zukunft werden sichern können.Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichenKrankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitglie-dern ist immer noch enorm leistungsfähig. Qualität undStandards im deutschen Gesundheitswesen sind im inter-nationalen Vergleich immer noch vorbildlich.

    Aber Krisenzeichen auch in diesem System sind un-übersehbar. Einnahmen und Ausgaben der Krankenkas-sen entwickeln sich weiter auseinander. Vor allem gilt:Die Strategie der Kostendämpfung ist eindeutig an ihreGrenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kostendurch Über- und Fehlversorgung verursacht. Jeder kenntdas und jeder hat Beispiele vor Augen. Wir werden des-halb Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen,auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystemverkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaumein anderes gesellschaftliches System.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hohen Haus Einig-keit erzielen können: Das Gefühl einer gemeinsamenVerantwortung im Gesundheitssystem ist nahezu ver-schwunden. Viele agieren nach dem Grundsatz des ra-schen, auch des bedenkenlosen Zugriffs. Eine Mentalitätder Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität ver-drängt. Deshalb sage ich: Hier ist auch in den Haltungenaller Akteure ein Umdenken notwendig. Wir haben Ein-nahmeverluste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit; der me-dizinische Fortschritt, der an sich erfreulich ist, wird dieKosten im Gesundheitssektor weiter nach oben treiben.

    Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürgerinnen undMitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger ein-zahlen – das kann auch nicht anders sein –, aber weitausmehr Leistungen in Anspruch nehmen.

    Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähn-lich. Dabei zeigt sich die Alternative: Entweder wir las-sen die Entwicklung treiben – dann bleibt nur die Ein-schränkung medizinischer Leistungen oder eine vomAlter abhängige Zuteilung von medizinischer Versor-gung – oder wir entschließen uns zu Reformen, die dashohe Gut Gesundheit für alle finanzierbar halten. Dererste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen wollen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jede und jeder erhal-ten die notwendige medizinische Versorgung, und zwarunabhängig von Alter und Einkommen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Das erwarten die Menschen von uns. Sie erwarten auch,dass wir am Solidarprinzip in der Krankenversicherungprinzipiell festhalten.

    Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wiraber einschneidende Kurskorrekturen. Ein Teil der not-wendigen Maßnahmen wird im zuständigen Ministeriumvorbereitet. Zum Finanzierungsteil wird die Rürup-Kommission bis Mai ihre Vorschläge vorlegen.

    Ein paar wesentliche Punkte sind schon jetzt zu nen-nen. Erfolg werden wir nur haben, wenn zwei Ziele un-strittig sind: hohe Qualität der Gesundheitsversorgungund kostenbewusstes Verhalten von Ärzten, Krankenkas-sen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen, aberauch der Versicherten.

    Der Staat muss dabei helfen, den Abbau von Verkrus-tungen zu ermöglichen. Er muss mehr Wettbewerb imSystem zulassen und fördern

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weiße Salbe!)

    und kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der Kassen-ärztlichen Vereinigungen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Dieses Vertragsmonopol hat sich überlebt. Wir werdenes den Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelver-träge mit den Ärzten abzuschließen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unter-schiedlichen Krankenkassen ebenfalls Modernisierungs-bedarf.

  • Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2491

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Klar gesagt: So viele Krankenkassen werden es nichtbleiben können. Wir werden hier auf die Schaffung über-schaubarer und leistungsfähiger Strukturen dringen.

    Qualitätssicherung wird die zweite große Ressourcesein, die wir ausschöpfen werden. Die Sicherung vonQualität gehört zu den Schlüsselaspekten einer wirk-lichen Reform der gesetzlichen Krankenversicherung.Wir brauchen klare Standards; diese werden wir schaf-fen.

    Darüber hinaus werden wir – das ist für vieleschmerzlich – den Leistungskatalog überarbeiten undLeistungen streichen. Wir müssen neu bestimmen, waskünftig zum Kernbereich der gesetzlichen Krankenversi-cherung gehört und was nicht.

    Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahn-behandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlenzu lassen. Ich halte das nicht für richtig.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei derZahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchtenicht, dass man den sozialen Status der Menschen wie-der an ihren Zähnen ablesen kann.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich habe mich lange mit einer Forderung auseinandergesetzt, die von vielen Seiten erhoben worden ist, näm-lich der Forderung, private Unfälle aus dem Leistungs-katalog der gesetzlichen Krankenversicherung heraus-zunehmen. Dies ist eine Forderung, die wirklich eineernsthafte Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob dieseForderung umgesetzt werden sollte,

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzungzwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden über-haupt möglich ist.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Ich zweifle auch daran, ob die an sich wohlfeile For-derung, Extremsportarten aus dem Leistungskatalog he-rauszunehmen, viel bringt. Zudem ist auch hier fraglich,ob Abgrenzungen möglich sind.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Mir ist beispielsweise nicht einsichtig, warum Sport-unfälle insgesamt einer besonderen Versicherungs-pflicht unterworfen werden sollten. Damit würden wirvor allem den Breitensport treffen,

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    einen Bereich, der zur Gesundheitsförderung und zurKrankheitsprävention beiträgt. Er ist zudem gerade fürdie Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehrwichtig.

    Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorgeim Hinblick auf das Krankengeld. Hier handelt es sichum einen klar abgrenzbaren Kostenblock, der auch fürdie Zukunft überschaubar bleibt. Die Kostenbelastungfür den Einzelnen durch eine private Versicherung bliebebeherrschbar. Medizinisch notwendige Leistungen wür-den nicht berührt.

    Außerdem werden wir das tun müssen, was wir imRahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht haben:die Befreiung der gesetzlichen Krankenversicherung voneiner Reihe so genannter versicherungsfremder Leistun-gen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das ausdem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werdenmuss.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir brauchen, glaube ich, auch ein neues Nachdenken– das will ich hier sehr deutlich sagen – über die öffent-liche Debatte über Zuzahlungen und Selbstbehalte. For-men von Eigenbeteiligungen sind im geltenden Systemlange bekannt. Sie haben Steuerungswirkung.

    (Zuruf von der FDP: Ach nein!)

    Sie halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Siehaben Seehofer diskriminiert! – Volker Kauder[CDU/CSU]: Schäbig! – Dr. Norbert Lammert[CDU/CSU]: Der Groschen ist zu spät gefal-len! – Weitere Zurufe von der SPD und derCDU/CSU)

    – Herr Glos, hören Sie einmal einen Moment zu! – Ichsage das doch, weil wir in diesem Bereich ohnehin nurweiterkommen, wenn die Mehrheit dieses Hauses unddie Mehrheit des Bundesrats entschlossen sind, einedurchgreifende Reform auch durchzusetzen; sonst gehtes ja nicht.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Früher habt ihr euch immer verwei-gert!)

    Weil das so ist und weil ich weiß, dass Sie ganz be-stimmte – für Sie elementare – Forderungen aufgestellthaben, macht es doch aus meiner Sicht – ich will einesolche Reform – keinen Sinn, so zu tun, als seien die füralle Zeiten indiskutabel. Das brächte doch niemandenweiter.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

  • 2492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    Weil ich weiterkommen will, werde ich die Punkte, diefür Sie existenziell sind, zumindest in die Diskussioneinbeziehen müssen; das kann doch nur vernünftig sein.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wenn Sie sagen, das sei eine Veränderung in der ei-nen oder anderen Position, dann gebe ich Ihnen Recht.Ich stehe doch hier, weil es Veränderungen geben muss,weil das die angemessene Reaktion auf veränderte Zu-stände in unserer Gesellschaft ist.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werdenmuss, sollten wir – ich komme jetzt zu den Instrumenten –Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren undSelbstbehalte nutzen. Menschen mit geringem Einkom-men, Kinder, auch chronisch Kranke – auch darüber sindwir uns, glaube ich, einig – müssen davon ausgenommenwerden.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis,dass sich Gesundheitspolitik nicht auf die Heilung vonKrankheiten beschränken darf, sondern dass der Präven-tion Vorrang eingeräumt werden muss.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischenLänder orientieren, die durch systematische Förderunggesundheitsbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zurKostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.

    (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch dieReserven zu sein, die in einer Modernisierung der Kom-munikationstechnologie in diesem Bereich liegen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Der elektronische Patientenausweis und die elektroni-sche Krankenakte sind nicht nur technologisch an-spruchsvolle Projekte, die wir bis spätestens 2006 funk-tionsfähig haben wollen; sie werden auch dazubeitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachver-sorgung zu vermeiden und auf diese Weise die Qualitätvon Behandlungen zu erhöhen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, Sie verstehen, dass ich mitbezifferten Prognosen vorsichtig bin.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Das kann man verstehen!)

    Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungs-und strukturpolitischen Maßnahmen können wir es

    schaffen, die Beiträge zur Krankenversicherung unter13 Prozent zu drücken.

    (Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])

    Ich habe das, was ich „Agenda 2010“ genannt habe,vorgestellt. Ich habe beschrieben, was wir leisten müs-sen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden – Schrittfür Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das an-packen – und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Un-ser Land hat – daran kann doch kein Zweifel bestehen –große Potenziale, Potenziale, die wir durch eine gemein-schaftliche Anstrengung wecken können und weckenmüssen.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber nicht mit dieser Regierung!)

    Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wirtun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumtwerden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln undHöchstleistungen zu erbringen. Diese Chancen wollenwir uns erarbeiten. Das heißt zuerst: Chancen für Bil-dung und Investitionen in Forschung und Entwick-lung.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weit rei-chende Strukturreformen mit verstärkten Investitionen inBildung und Forschung einhergehen müssen, wenn mandauerhaft Erfolg haben will. Aber Folgendes gilt es mit-einander zu überwinden: In keinem vergleichbaren In-dustrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohemMaße über die Bildungschancen wie in Deutschland.Das darf nicht so bleiben.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es darf nicht so bleiben, dass in Deutschland die Chancedes Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus derOberschicht sechs- bis zehnmal so hoch ist wie für einenJugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD – MichaelGlos [CDU/CSU]: Was ist eine „Ober-schicht“?)

    Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, dass je-der vierte ausländische Schüler ohne Schulabschlussbleibt. Auch das müssen wir im Interesse der jungenMenschen, aber auch im Interesse der Kohäsion unsererGesellschaft ändern.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Laurenz Meyer [Hamm][CDU/CSU]: Die auf der Bundesratsbank sinddafür verantwortlich! Da sitzen Ihre Genos-sen!)

    Wir sollten bei allem Respekt vor den unterschied-lichen Kompetenzen, die ich kenne und respektiere, zueiner nationalen Gesamtanstrengung kommen, um Stan-dards zu setzen

  • Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2493

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    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bitte nicht Ihre Standards!)

    und die Defizite, die ich beschrieben habe, zu überwin-den. Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung– anders wird es nicht zu machen sein –, die die pädago-gischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt. Wirbrauchen – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen –ein neues Interesse an naturwissenschaftlich-mathemati-schen Fächern.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es macht Sinn, wenn sich die Bundesregierung und dieMinisterpräsidenten der Länder auf eine gemeinsameStrategie in diesem Bereich verständigen und sie danngemeinsam – jeder in seinem Bereich – materiell unter-legen.

    Wir werden unser Wohlstandsniveau nur dann haltenkönnen, wenn wir in dieser schwierigen wirtschaftlichenSituation verstärkt in Bildung und Forschung investie-ren.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Das war der Grund dafür, warum in der vergangenen Le-gislaturperiode in der Forschungspolitik umgesteuertund der Etat dieses Ministeriums um 25 Prozent erhöhtwurde. Ich weiß, in diesem Jahr haben wir aus Gründender Konsolidierung und der Schwierigkeiten, die Sie allekennen, kürzer treten müssen. Aber das darf nicht sobleiben. Wir werden und müssen die Haushalte der gro-ßen Forschungsinstitutionen in den nächsten Jahren jähr-lich wieder um 3 Prozent erhöhen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Es ist klar geworden, dass uns die Ereignisse der ver-gangenen anderthalb Jahrzehnte dazu gezwungen haben,unseren Blick auf uns selbst und auf die sich verän-dernde Welt zu richten. Aber das reicht nicht mehr.Heute ist es für unser Land erforderlich, Strukturen zuverändern.

    (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das reicht nicht!)

    Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generatio-nen die Chancen auf ein gutes Leben in einer friedlichenund gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu ver-bauen. Das ist der Grund dafür, dass wir den Mut zu Ver-änderungen brauchen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuver-sicht in Europa werden – unseretwegen, aber auch Euro-pas wegen.

    Ich kann mir vorstellen, dass es in Verbänden und an-derswo viele Neunmalkluge gibt, die bereits unterwegssind, um neue Forderungen zu stellen, noch ehe die be-reits erfüllten Forderungen wirklich umgesetzt wordensind. Ihnen allen sage ich: Nicht alle Probleme, vor de-

    nen wir heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nichtalle Lösungen, über die wir heute diskutieren, könnenschon morgen wirken. Aber ich bin entschlossen, nichtmehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank ge-schoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSUund der FDP)

    Meine Damen und Herren, ich will nicht hinnehmen,dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern, weil dieKraft zur Gemeinsamkeit nicht vorhanden ist.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unsererWirtschaft, auf die Leistungen unserer Menschen, aufdie Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Tra-ditionen unseres Landes.

    (Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Nur nicht auf die Regierung!)

    Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinderzu schaffen. Wenn alle mitmachen und alle zusammen-stehen, dann werden wir dieses Ziel erreichen.

    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

    (Langanhaltender Beifall bei der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN erheben sich)

    Präsident Wolfgang Thierse:

    Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel,CDU/CSU-Fraktion.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-deskanzler, ich habe Ihnen 90 Minuten in aller Ruhe zu-gehört. Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie sich Schritt fürSchritt relativ mühevoll durch Ihr Referat gearbeitet ha-ben. Auch der Vernunftbeifall, der nur zu erklären ist,weil es bei Ihnen keine Alternativen gibt,

    (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

    kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der große Wurf fürdie Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheitnicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt!)

    Sie haben zum großen Teil nur Bekanntes wiederholtund vage Andeutungen gemacht. Aber immer dann,wenn es interessant und spannend wurde, gab es eisigesSchweigen auf Ihrer Seite in diesem Hause.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

  • 2494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003

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    Dr. Angela Merkel

    Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass IhrePolitik, Herr Bundeskanzler, nicht aus dem Verwaltendes Augenblicks herauskommt, aus dem Hetzen von Er-eignis zu Ereignis, dann war es das Theater um diese De-batte.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Nurkein Neid! Von Ihnen hat keiner etwas erwar-tet!)

    Es ist mir auch heute nicht ganz klar geworden, wereigentlich aus der Krise herausgeführt werden soll:

    (Zuruf von der FDP: Mir auch nicht!)

    Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Land, die Bundes-republik Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie haben noch immer nicht verstanden, dass es Situatio-nen im Leben gibt, in denen Reden Silber, Handeln da-gegen Gold ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, nur wenige hundert Metervon hier entfernt, im Bundesrat, hätten Sie heute zeigenkönnen, dass es Ihnen mit einer Debatte, die wirklichzum Fortschritt für Deutschland führt, ernst ist.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Sie hätten das Steuervergünstigungsabbaugesetz zu-rückziehen und sagen sollen, dass Steuererhöhungen ineiner solchen Situation Gift für die Wirtschaft sind. Daswäre ein Zeichen gewesen.

    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

    Dass einige Ihrer Ministerpräsidenten hier sitzen undnicht da, wo das Gesetz beraten wird, zeigt, dass sie dasgenauso sehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Franz Müntefering [SPD]: Wieso ist dann derHerr Stoiber hier, Frau Merkel?)

    Sie haben dieses Gesetz nicht zurückgezogen. Des-halb sage ich Ihnen voraus, dass wir es tun werden, weiluns Deutschland am Herzen liegt.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wir werden mit unserer Mehrheit im Bundesrat dafürsorgen, dass dieses zentrale Vorhaben Ihrer Regierung,das kontraproduktiv ist, nicht durchkommt; denn wirwollen, dass Ihre Politik in Deutschland nicht länger be-trieben wird und dass unser Land mit oder ohne Sie end-lich wieder nach vorne kommt, Herr Bundeskanzler.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Sie sich der Di-mension der Krise, in der wir uns befinden, wirklich be-wusst sind.

    (Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, dafür brauchen wir Sie!)

    Herr Bundeskanzler, in den letzten Tagen vor dieserRede haben Sie immer wieder von Opfern gesprochen.Viele, alle und nicht nur wenige müssten Opfer bringen.Ich gebe Ihnen ganz einfach zu bedenken, dass es schonunendlich viele Opfer Ihrer Politik gibt: 4,7 Millio-nen Arbeitslose sind Opfer Ihrer Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Ludwig Stiegler [SPD]: Rekordhalter sind im-mer noch Sie! Denken Sie mal an die Kohl-Zeit!)

    Das knappe Wirtschaftswachstum in diesem Land ist einOpfer Ihrer Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    40 000 Pleite gegangene Firmen sind Opfer Ihrer Politik.Die Kommunen sind Opfer Ihrer Politik.

    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist vollkommenlächerlich!)

    Ich sage Ihnen vor allen Dingen eines – auch das hatin der Rede vollkommen gefehlt –: Zuversicht, Optimis-mus und der Glaube an eine gute Zukunft sind in denvergangenen fünf Jahren in Deutschland verloren gegan-gen. Das ist eines unserer wesentlichen Probleme.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Bei Ihnen!)

    Die Krise, in der wir uns befinden – ich glaube, wennwir es nüchtern beschreiben, müssen wir es so nennen –,ist eine Krise der inneren Verfasstheit dieser Bundesre-publik Deutschland.

    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krise derCDU!)

    Sie ist insbesondere eine Krise der Wirtschafts- und So-zialpolitik, zugleich aber auch eine Krise der histori-schen Ausrichtung unserer Sicherheits- und Außenpoli-tik.

    Meine Damen und Herren, wo stehen wir denn heute?Wir müssen es uns noch einmal vergegenwärtigen: Tech-nologie, Digitalisierung und die Informationsgesell-schaft haben diese Welt dramatisch verändert,

    (Ludwig Stiegler [SPD]: So etwas! Gut, dassSie das bemerkt haben! – Franz Müntefering[SPD]: Das ist doch nicht neu!)

    sie haben zu einer Beschleunigung der Globalisierunggeführt und sie wirken in jede Familie hinein. Unser Le-ben wird sich auch in den nächsten Jahren ändern.

    (Ludwig Stiegler [SPD]: Ja, so was, das ist jaaufregend! – Gernot Erler [SPD]: Donnerwet-ter!)

    Schauen Sie sich einmal an, wie in den verschiedenenLändern der Welt auf diese Veränderungen reagiertwird.

  • Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2495

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    Dr. Angela Merkel

    (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wie reagieren Sie denn? – KatrinDagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was ist denn Ihre Reaktion?)

    Irland ist vom Armenhaus Europas zu einem der prospe-rierendsten Länder geworden. Die USA halten sich seitJahrzehnten in einem überdurchschnittlichen Auf-schwungprozess.

    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihr Konzept? –Gernot Erler [SPD]: Gehen Sie doch rüber!)

    China, Hongkong und Taiwan – das alles sind Länder,die die Chancen der Globalisierung nutzen. Wie steht esum Deutschland? In Deutschland – das ist unsere Situa-tion – ist die Zeit scheinbar stehen geblieben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich sage Ihnen ganz selbstkritisch – auch das gehörtdazu –: Vielleicht hat manches auch schon zu unsererRegierungszeit begonnen.

    (Jörg Tauss [SPD]: „Vielleicht“?)

    Mit Sicherheit hat sich der Prozess in den letzten fünfJahren aber in dramatischer Art und Weise verschlim-mert. Das ist das Problem, über das wir heute zu debat-tieren haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deutschland steht zweifellos an einem historischenScheideweg. Wir müssen deshalb sagen, was Politik leis-ten kann und was unser Gestaltungsanspruch ist.

    (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, was denn? – Albert Schmidt [Ingol-stadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: SagenSie es doch einmal! – Zurufe von der SPD)

    Präsident Wolfgang Thierse:

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständli-chen Erregung bitte ich darum, der Rednerin die Chancezu geben, gehört zu werden.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Alles Prole-ten!)

    Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

    Sie können wirklich davon profitieren, wenn Sie zu-hören.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Lachen bei der SPD)

    Der Gestaltungsanspruch von Politik kann die Men-schen in diesem Lande nur erreichen, wenn wir unsereZiele klar und eindeutig formulieren. Deshalb sage ichfür die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ich will, dassDeutschland innerhalb von zwei Legislaturperioden, dasheißt, bis zum Ende dieses Jahrzehnts, bis zum Jahre2010, wieder an der Spitze in Europa steht,

    (Hans-Peter Kemper [SPD]: Dann helfen Sie mit!)

    und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es um dieMenschen in diesem Lande geht. Wir wollen an dieSpitze Europas!

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

    Dazu brauchen wir mehr als irgendeine Agenda. Wirbrauchen einen Erfolgsweg. Wir wollen erreichen, dassDeutschland beim Wachstum unter den ersten drei Län-dern an der Spitze steht. Ich sage ganz konkret: Ich willerreichen, dass Deutschland bis 2010 seinen Bürgern soviel Arbeit verschaffen kann, wie es die Niederländer,die Briten und die Dänen schon heute schaffen. Das sindkeine außereuropäischen, sondern europäische Bei-spiele. Ich will, dass wir für Bildung und Forschung soviel ausgeben, wie es die Finnen schon heute tun. Dasbringt uns wieder an die Spitze Europas.

    (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler[SPD]: Wie denn? – Siegfried Scheffler [SPD]:Lächerlich, was Sie hier vortragen!)

    Uns alle in diesem Hause eint, dass wir nicht wissen,wie die Welt im Jahre 2010 aussieht. Wir wissen aber,dass der Erfolg nur mit einer freiheitlichen, leistungs-orientierten und gerechten Wirtschaftsordnung zu schaf-fen ist. Herr Bundeskanzler, das Wort „Freiheit“ ist pi-kanterweise in Ihrer ganzen Rede nicht ein einziges Malvorgekommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

    Ich weiß, dass wir dafür eine nationale Kraftanstren-gung brauchen. Bei allem, was aus unserer Sicht in dierichtige Richtung weist – ich komme in Einzelfällen da-rauf zurück –, sagen war, dass wir mitmachen. Wir bie-ten Ihnen eine nationale Kraftanstrengung an. Sie istmehr als das, was Sie heute hier vorgelegt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Weil wir das wissen, hat unsere Fraktion am10. Februar dieses Jahres einen Dreistufenplan be-schlossen.

    (Franz Müntefering [SPD]: Was? Noch einmal! Drei Stufen?)

    Wir haben festgelegt, was wir in der ersten Stufe tunmüssen. Wir müssen im Arbeitsmarkt, im Gesundheits-wesen, bei der Zurückziehung der Steuererhöhungen undbei der Entbürokratisierung Sofortmaßnahmen ergreifen.Darauf muss eine zweite Stufe folgen, diese reicht bis2004. Bis dahin müssen wir es schaffen, die sozialenSicherungssysteme wetterfest zu machen. Wir müsseneine Offensive für Forschung und Bildung starten, damitwir endlich die Grundlagen für einen Aufstieg legen.

    (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konkret!)

    Vor uns steht eine weitere schwierige Aufgabe. Ma-chen wir uns nichts vor: All das, was heute hier gesagtwurde, reicht bei weitem nicht aus, um die demographi-

  • 2496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Fre