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Plenarprotokoll 17/142 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 142. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 Inhalt: Tagesordnungspunkt II: (Fortsetzung) a) Zweite Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Bundes- haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2012 (Haushaltsgesetz 2012) (Drucksachen 17/6600, 17/6602) . . . . . . . b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Finanz- plan des Bundes 2011 bis 2015 (Drucksachen 17/6601, 17/6602, 17/7126) II.10. Einzelplan 04 Bundeskanzlerin und Bundeskanz- leramt (Drucksachen 17/7123, 17/7124) . . . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Petra Merkel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.11. Einzelplan 05 Auswärtiges Amt (Drucksachen 17/7105, 17/7123) . . . . Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16907 A 16907 A 16907 B 16907 C 16913 C 16920 D 16924 D 16928 D 16932 B 16934 D 16936 B 16938 A 16940 B 16941 B 16943 A 16944 A 16944 D 16945 D 16946 D 16948 D 16947 A 16947 A 16951 A 16952 C 16953 C 16955 B 16956 C 16957 B 16958 D 16960 A 16961 B 16962 C 16963 D 16964 A 16964 D Inhaltsverzeichnis

Deutscher Bundestag · 2020. 6. 12. · Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 III b) Zweite und dritte Beratung des von

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Plenarprotokoll 17/142

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

142. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

I n h a l t :

Tagesordnungspunkt II: (Fortsetzung)

a) Zweite Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die Feststellung des Bundes-haushaltsplans für das Haushaltsjahr2012 (Haushaltsgesetz 2012)(Drucksachen 17/6600, 17/6602) . . . . . . .

b) Beratung der Beschlussempfehlung desHaushaltsausschusses zu der Unterrich-tung durch die Bundesregierung: Finanz-plan des Bundes 2011 bis 2015(Drucksachen 17/6601, 17/6602, 17/7126)

II.10. Einzelplan 04

Bundeskanzlerin und Bundeskanz-leramt(Drucksachen 17/7123, 17/7124) . . . .

Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . .

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Petra Merkel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16907 A

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16907 B

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16934 D

16936 B

16938 A

16940 B

16941 B

16943 A

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . .

Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . .

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II.11. Einzelplan 05

Auswärtiges Amt(Drucksachen 17/7105, 17/7123) . . . .

Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . .

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Herbert Frankenhauser (CDU/CSU) . . . . . . .

II.12. Einzelplan 14

Bundesministerium der Verteidi-gung(Drucksachen 17/7113, 17/7123) . . . .

Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . .

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . .

Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt X:

a) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer(Köln), Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Umbenennung von Bun-deswehrkasernen und Straßennamenauf den Bundeswehrliegenschaften(Drucksache 17/7485) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU undFDP: Einvernehmensherstellung vonBundestag und Bundesregierung zumBeitrittsantrag der Republik Montene-gro zur Europäischen Union und zurEmpfehlung der EU-Kommission vom12. Oktober 2011 zur Aufnahme vonBeitrittsverhandlungen – Stellung-nahme des Deutschen Bundestages ge-mäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-setzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über dieZusammenarbeit von Bundesregierungund Deutschem Bundestag in Angele-genheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/7768) . . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Fraktion der SPD: Einverneh-mensherstellung von Bundestag undBundesregierung zur Empfehlung der

16966 B

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16970 B

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EU-Kommission vom 12. Oktober 2011zur Aufnahme von Beitrittsverhandlun-gen mit Montenegro – Stellungnahmedes Deutschen Bundestages gemäßArtikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzesi. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-sammenarbeit von Bundesregierungund Deutschem Bundestag in Angele-genheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/7809) . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten ManuelSarrazin, Volker Beck (Köln), MarieluiseBeck (Bremen), weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Einvernehmensherstellungvon Bundestag und Bundesregierungzur Empfehlung der EU-Kommissionvom 12. Oktober 2011 zur Aufnahmevon Beitrittsverhandlungen mit Monte-negro – Stellungnahme des DeutschenBundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Ge-setzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bun-destag in Angelegenheiten der Europäi-schen Union (Drucksache 17/7769) . . . . . . . . . . . . . . .

e) Antrag der Fraktion der SPD: Bei derVergabe von Exportkreditgarantienauch menschenrechtliche Aspekte prü-fen(Drucksache 17/7810) . . . . . . . . . . . . . . .

g) Antrag der Abgeordneten Krista Sager,Kai Gehring, Sylvia Kotting-Uhl, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Wissenschafts-zeitvertragsgesetz wissenschaftsad-äquat verändern(Drucksache 17/7773) . . . . . . . . . . . . . . .

h) Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck(Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. FrithjofSchmidt, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Für eine Strategie zur europäischen In-tegration der Länder des westlichenBalkans(Drucksache 17/7774) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt XI:

a) Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 17. Juni 2010 zwischender Regierung der BundesrepublikDeutschland und dem Ministerrat derRepublik Albanien über die Seeschiff-fahrt(Drucksachen 17/7237, 17/7683) . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 III

b) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes über die Statistik derÜberschuldung privater Personen(Überschuldungsstatistikgesetz –ÜSchuldStatG)(Drucksachen 17/7418, 17/7698) . . . . . . .

c)–k)Beratung der Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses: Sammelübersich-ten 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344und 345 zu Petitionen(Drucksachen 17/7656, 17/7657, 17/7658,17/7659, 17/7660, 17/7661, 17/7662, 17/7663,17/7664) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II.13. Einzelplan 23

Bundesministerium für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwick-lung(Drucksachen 17/7119, 17/7123) . . . .

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . .

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . .

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dirk Niebel, Bundesminister BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt III:

Antrag der Bundesregierung: Fortsetzungder Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der EU-geführten Opera-tion Atalanta zur Bekämpfung der Pirate-rie vor der Küste Somalias auf Grundlagedes Seerechtsübereinkommens der Verein-ten Nationen von 1982 und der Resolutio-

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16988 D

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16996 B

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16999 A

17001 A

17002 B

17003 B

17005 A

17005 B

17006 C

17007 D

17008 B

nen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816(2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. De-zember 2008, 1897 (2009) vom 30. Novem-ber 2009, 1950 (2010) vom 23. November2010 und nachfolgender Resolutionen desSicherheitsrates der Vereinten Nationen inVerbindung mit der Gemeinsamen Aktion2008/851/GASP des Rates der Europäi-schen Union vom 10. November 2008, demBeschluss 2009/907/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 8. Dezember2009, dem Beschluss 2010/437/GASP desRates der Europäischen Union vom 30. Juli2010 und dem Beschluss 2010/766/GASPdes Rates der Europäischen Union vom7. Dezember 2010(Drucksache 17/7742) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Guido Westerwelle,

Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .Thomas Kossendey (CDU/CSU) . . . . . . . . . .Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . .Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt IV:

Antrag der Bundesregierung: Fortsetzungdes Einsatzes bewaffneter deutscher Streit-kräfte bei der Unterstützung der gemeinsa-men Reaktion auf terroristische Angriffegegen die USA auf Grundlage des Arti-kels 51 der Satzung der Vereinten Nationenund des Artikels 5 des Nordatlantikver-trags sowie der Resolutionen 1368 (2001)und 1373 (2001) des Sicherheitsrates derVereinten Nationen(Drucksache 17/7743) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Guido Westerwelle,

Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Thomas Kossendey (CDU/CSU) . . . . . . . . . .Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . .Katja Keul (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

17010 A

17010 B17011 D17013 A17014 B

17015 B17016 A

17017 B

17017 C17018 D17019 D17020 D

17021 D17022 D

17023 C

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16907

(A) (C)

(D)(B)

142. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsetzen unsere Haushaltsberatungen – Tagesordnungs-punkt II – fort:

a) Zweite Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2012 (Haushaltsgesetz 2012)

– Drucksachen 17/6600, 17/6602 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus-haltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrich-tung durch die Bundesregierung

Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015

– Drucksachen 17/6601, 17/6602, 17/7126 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider (Erfurt)Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz (Herborn)

Dazu rufe ich ohne weitere Vorankündigungen denTagesordnungspunkt II.10 auf:

Einzelplan 04Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

– Drucksachen 17/7123, 17/7124 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleRüdiger KrusePetra Merkel (Berlin)Dr. h. c. Jürgen KoppelinDr. Gesine LötzschDr. Tobias LindnerPriska Hinz (Herborn)

Über den Einzelplan 04 werden wir später namentlichabstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache dreieinhalb Stunden vorgesehen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dasso beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sigmar Gabriel (SPD):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es genü-

gen drei Zahlen, um den von der Bundeskanzlerin vorge-legten Haushalt zu bewerten:

Die erste Zahl ist die Summe neuer Schulden, dieCDU/CSU und FDP im laufenden Jahr, 2011, aufgenom-men haben. Sie beträgt nach Auskunft der Bundesregie-rung 22 Milliarden Euro.

Die zweite Zahl ist die Summe der Steuermehreinnah-men laut Steuerschätzung vom Herbst 2011 und dieSumme der Zinsersparnisse im kommenden Jahr. Diebeiden Summen ergeben im Saldo eine Entlastung imJahr 2012 in Höhe von mindestens 4,3 Milliarden Euro.

Die dritte Zahl ist die Summe neuer Schulden, dieSie, Frau Bundeskanzlerin, im kommenden Jahr, 2012,trotz dieser Entlastung um 4,3 Milliarden Euro aufneh-men wollen. Die Zahl liegt nicht etwa um 4,3 MilliardenEuro niedriger als im Jahr 2011, sondern, im Gegenteil:Angela Merkel und ihr Finanzminister wollen im kom-menden Jahr trotz steigender Steuereinnahmen, trotz ge-ringerer Zinsbelastungen, trotz sinkender Arbeitslosig-keit, trotz sinkender Sozialabgaben nicht etwa wenigerSchulden aufnehmen, sondern die Neuverschuldung umsage und schreibe 4 Milliarden Euro auf 26 MilliardenEuro erhöhen.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Pfui!)

Es geht nicht um den Vergleich von Äpfeln und Bir-nen,

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr wohl!)

wie sich angesichts dieser drei Zahlen der Herr Bundes-finanzminister gestern herauszureden versucht hat. Es

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16908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Sigmar Gabriel

(A) (C)

(D)(B)

geht vielmehr, meine Damen und Herren, um die Um-stände, unter denen die Schulden erhöht werden sollen.In einer Zeit sehr guten Wirtschaftswachstums, in einerZeit stetig steigender Staatseinnahmen vergrößern Sie,vergrößert diese Koalition den Schuldenberg Deutsch-lands.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!)

Die Schuldenbremse in unserer Verfassung will übrigensdas genaue Gegenteil: in guten Zeiten sparen und inschlechten Zeiten investieren. Sie stellen diese Schul-denbremse in unserer Verfassung auf den Kopf, FrauBundeskanzlerin. Das ist verheerend, und deshalb wer-fen Ihnen das auch alle vor.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Nor-bert Barthle [CDU/CSU]: Unfug!)

Ihr Finanzminister hat gestern so gereizt reagiert, weil ersich dabei ertappt gefühlt hat. Denn Bundesrechnungs-hof, Bundesbank, Wirtschaftsweisen – alle kritisierendas. Wie sagte die Frau Bundeskanzlerin, wie sagten Sie,Frau Merkel, noch hier im Bundestag: Wir sparen, aller-dings intelligent. – Das nennt man dann wohl Intelli-genzbestie.

(Heiterkeit bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

– Ich zitiere sie nur. – Wenn Sie der Öffentlichkeit sagen:„Wir sparen, aber intelligent“, und die Schulden erhö-hen, dann wollen Sie doch die Öffentlichkeit für dummverkaufen und zum Narren halten. Das haben Sie dochvor.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Nor-bert Barthle [CDU/CSU]: Sie verkaufen dieÖffentlichkeit für dumm! Wir wollen wissen,wo wir nächstes Jahr landen bei den Schulden!– Volker Kauder [CDU/CSU]: Jeder Markt-schreier ist besser als Sie!)

Sie erklären landauf, landab, dass die Zeiten steigen-der Staatsverschuldung endlich zu Ende sein müssten.Sie verordnen Europa einen ganz harten Sparkurs. Wasdenken Sie eigentlich, wie glaubwürdig diese Politik inEuropa ist, wenn Sie hier in Deutschland, unter weit bes-seren Bedingungen als in allen anderen Staaten Europas,die Schulden erhöhen? „Deutschland geht es so gut wielange nicht.“

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

– Man kann Sie ausrechnen; Sie sind wirklich ganz put-zig. Wir haben darüber gewettet, ob Sie an der Stelle klat-schen. Aber Sie haben den letzten Satz noch nicht gehört;es handelt sich um ein Zitat von Ihrer Kanzlerin. – Derletzte Satz lautet: Deshalb ist das zentrale Thema derAbbau von Schulden und die Haushaltskonsolidierung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bei-fall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-

ten der FDP – Norbert Barthle [CDU/CSU]:Genau das machen wir!)

Das ist das, was Sie gesagt haben; aber jetzt machen Siedas genaue Gegenteil.

Ich habe ja Humor. Aber dass Sie selbst öffentlich er-klären: „Wir wollen weniger Schulden machen“,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

und damit durch die Lande ziehen und dann im Bundes-tag für nächstes Jahr 4 Milliarden Euro mehr Schuldenbeschließen als für dieses Jahr, obwohl es Deutschlandso gut geht, und gleichzeitig anderen Ländern empfeh-len, sie sollen ihre Schulden senken, obwohl sie in derKrise stecken, das ist wirklich nicht zum Lachen. Das isteine ziemlich finstere Angelegenheit, was Sie hier inDeutschland veranstalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich verstehe Sie: Sie haben sich an das Handeln derKanzlerin nach dem Motto „Was stört mich mein Ge-schwätz von gestern?“ längst gewöhnt, wir noch nicht;das ist der einzige Unterschied in der heutigen Debatte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, die öffentlichen Kommen-tare zu Ihrer Finanzpolitik sind entsprechend. Das Han-delsblatt spricht von „deutscher Heuchelei“. Die Finan-cial Times Deutschland titelt: „Bundesbank rechnet mitSchäuble ab“ und zitiert dann die Bundesbank – viel-leicht klatschen Sie jetzt wieder –:

„Mit dem Bundeshaushalt 2012 ist eine merklicheAbkehr von den Konsolidierungsbeschlüssen vomJuni 2010 verbunden“ …

Das kann man wohl sagen. Warum klatschen Sie jetzt ei-gentlich nicht? Das ist eine Beurteilung der Bundesbank.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

– Bisschen nervös, oder? Es wird ja so unruhig bei Ih-nen. Fühlen Sie sich ertappt, oder was ist der Grund?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was hatten Sie der deutschen Öffentlichkeit nicht al-les versprochen: 80 Milliarden Euro wollten CDU/CSUund FDP zwischen 2011 und 2014 einsparen. Wir – an-ders als Sie – erinnern uns noch ganz gut an die voll-mundigen Versprechungen vor einem Jahr. Was sollte daalles passieren! Ein Jahrhundertpaket sollte es werden.Kleiner geht es bei Ihren Selbstinszenierungen ja meis-tens nicht.

Schauen wir uns einmal an, was aus Ihrem Jahrhun-dertpaket geworden ist: 4 Milliarden Euro sollte die Ab-schaffung der Wehrpflicht einsparen. Aufgrund derdesaströsen Fehlleistung Ihres einstigen bayerischen Su-perstars fallen jetzt Mehrkosten an. 6 Milliarden Eurosollte die Beteiligung des Finanzsektors an den Kostender Finanzkrise bringen. Ergebnis: ersatzlos gestrichen.Weit mehr als 10 Milliarden Euro sollte die Streichungvon Steuersubventionen und Steuervergünstigungen er-bringen. Ergebnis: wieder Fehlanzeige.

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Und was ist eigentlich aus der von Ihnen so lautstarkangekündigten Mehrwertsteuerreform geworden? Nurweil es die Phrasendrescherei Ihrer Koalition so schön il-lustriert: Was ist mit den Milliardenbeträgen, die durchBürokratie- und Personalabbau eingespart werden soll-ten? Das Gegenteil ist passiert.

Besonders auffällig sind die Versorgungsfälle in denFDP-Ministerien.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie reden vom Sparen, schaffen aber 480 neue Stellen al-leine in den Bundesministerien. Beeindruckend – dasmuss ich zugeben – sind die 166 neuen Stellen, die al-leine im Entwicklungsministerium von Herrn Niebel ge-schaffen wurden – ein Ministerium, das er eigentlicheinmal ganz abschaffen wollte. Ausgerechnet eine Par-tei, die so gerne über den schlanken Staat und Entbüro-kratisierung schwadroniert, bringt noch schnell die letz-ten Mitarbeiter aus der FDP-Parteizentrale in einemsicheren Job bei der Bundesregierung unter.

(Christian Lindner [FDP]: Quatsch!)

Das ist aus Ihren Versprechungen zum Personalabbaugeworden, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

So kann man die Liste weiter fortsetzen. Aus IhremJahrhundertwerk, Frau Merkel, ist wohl eher eine Tages-baustelle geworden. Wo Sie von anderen Staaten mas-sive Einschnitte zum Abbau der Verschuldung fordern,muten Sie sich selbst gar nichts zu – im Gegenteil: Stattzu sparen, ziehen Sie auch noch die Spendierhosen an.

6 Milliarden Euro soll die Steuersenkung kosten, dieden Geringverdienern in Deutschland gar nichts bringt.

(Otto Fricke [FDP]: Das ist doch gar nicht der Haushalt jetzt, das ist 2013!)

– Der Zwischenruf von Herrn Fricke ist wirklich klasse.Ich kann Ihnen den nicht vorenthalten. Er sagt: Das istdoch erst später, das ist doch nicht gleich in einem Jahr. –Verstehen Sie eigentlich gar nicht, Herr Fricke, dass wiruns mit wirtschaftlichen und konjunkturellen Risikenauseinandersetzen müssen? Deshalb müssen wir jetztsparen, und zwar jeden Cent, damit wir morgen wiederArbeitsplätze in diesem Land sichern können. Das habenSie überhaupt nicht begriffen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde es auch interessant, sich mit dem Inhalt die-ser Steuersenkung auseinanderzusetzen. Der Geringver-diener – für den soll sie ja vorgenommen werden – be-kommt freundlicherweise 0 Cent; der zahlt nämlichkeine Steuern. 40 Prozent der deutschen Haushalte ha-ben nichts von dem, was Sie da planen. Der Durch-schnittsverdiener mit einem Einkommen von 2 250 Eurohat eine monatliche Steuerersparnis von 4 Euro.

(Otto Fricke [FDP]: Ist das nichts?)

Glauben Sie eigentlich selbst an Ihre Sprüche, dass dasden Massenkonsum und die Binnenkonjunktur inDeutschland fördern soll?

Herr Kollege Fricke, Sie fragen: Ist das nichts? Ichwill Ihnen einmal sagen, was die Folge ist. Die Folge istnicht, dass der Durchschnittsverdiener 4 Euro mehr hat.Die Folge ist, dass Sie in diesem Zusammenhang 2 Mil-liarden Euro von den Städten und Gemeinden bezahlenlassen. In der Folge wird der, der von Ihnen 4 Euro imMonat geschenkt bekommt, mit höheren Kindergarten-gebühren und anderen städtischen Abgaben belastet wer-den. Das ist das Ergebnis, das dabei herauskommenwird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die Gemeinden kostet das Ganze 2 Milliarden Euro, unddeswegen müssen wir darüber reden. Denn die Kommu-nen sind immer diejenigen, die bei Ihrer Steuerpolitikam Ende daran glauben müssen. Das war schon beimHoteliergesetz so.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf unsere ges-trige Debatte zum Kampf gegen Rechtsextremismus inDeutschland zurückkommen.

(Zurufe von der FDP)

– Hören Sie einmal zu. – Denn zwischen dem Ausblutender Städte und Gemeinden in Deutschland und dem Er-starken des Rechtsextremismus gibt es für mich einenganz eindeutigen Zusammenhang: Dort, wo sich Ge-meinden und Städte aufgrund ihrer Finanznot zurückzie-hen, dringen Neonazis ein. Wo Jugendeinrichtungen ge-schlossen werden, Vereine, Ehrenamt und Sport nichtmehr ausreichend gefördert werden und Freizeit- undKulturangebote verschwinden, dort entstehen sozial ent-leerte Räume. In diese sozial entleerten Räume dringenRechtsradikale ein.

(Zurufe von der CDU/CSU)

– Da Sie hier unruhig werden: Sie sind doch genau wiewir der Überzeugung, dass es uns nachdenklich machenmuss und zum Handeln auffordert, wenn die NPD denKommunen anbietet, den Betrieb von Jugendzentren undKindergärten fortzuführen, wenn sie wegen der kommu-nalen Finanznot geschlossen werden sollen. Das sinddoch praktische Beispiele, die wir in Deutschland prä-sentiert bekommen. Ich sage Ihnen: Mindestens so wich-tig wie ein Verbot der NPD, mindestens so wichtig wiedie sichtbare Präsenz der Polizei in den Stadtvierteln undGemeinden, in denen die Rechtsradikalen die Herrschaftübernehmen wollen, ist es, die soziale und kulturelleVerwahrlosung in unseren Städten und Gemeinden zubekämpfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

So wichtig die Debatten im Bundestag auch sind: DerKampf um Demokratie und gegen den Rechtsextremis-mus wird nicht hier im Parlament entschieden, sondernvor Ort. Die soziale und demokratische Gesellschaft be-

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ginnt in der sozialen und demokratischen Stadt und Ge-meinde. Es ist deshalb ein Fehler, den Kommunen noch-mals Geld zu entziehen, ob durch Steuersenkungen oderdurch Kürzungen der Programme für die soziale Stadt-entwicklung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die 6 Milliarden Euro für die Steuersenkung als Kauf-preis für das Stillhalten der FDP bei der Euro-Achterbahnwaren noch nicht genug. Frau Bundeskanzlerin, Sie muss-ten auch noch die CSU bedienen. Da haben Sie dann zu-lasten der Verschuldung unseres Landes eine wahrlichabenteuerliche Verabredung getroffen: 150 Euro im Mo-nat – Milliardenbeträge – sollen Eltern jetzt bekommen,wenn sie ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken.Ich muss wirklich fragen: Wie verrückt oder – besser –wie verantwortungslos muss man eigentlich sein, um aufdiese Idee zu kommen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Selbst die Bild-Zeitung ist fassungslos, Frau Bundes-kanzlerin. Dort steht:

Statt Milliarden für ein unsinniges Betreuungsgeldzu verpulvern, sollte die Regierung jeden Cent indie Kinderbetreuung investieren!

Wo die Bild-Zeitung recht hat, hat sie recht: Das wäreein angemessener Umgang mit dem Thema gewesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist übrigens – ich sage das an die CSU gerichtet –keineswegs so, dass Eltern, die ihre Kinder in die Kin-dertagesstätte bringen, Rabeneltern sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Viele von denen müssen das übrigens, weil ihre Löhneso niedrig sind, dass beide arbeiten gehen müssen. Dawäre ein echter Mindestlohn eine richtige Hilfe für dieEltern von Kindern; auch da wäre der Mindestlohn rich-tig,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

aber nicht so ein Papiertiger, wie Sie ihn auf Ihrem Par-teitag beschlossen haben. Fast 1,5 Millionen Menschenin Deutschland stocken ihren Lohn mit Arbeitslosen-geld II auf; 320 000 von ihnen sind sogar sozialversiche-rungspflichtig in Vollzeit beschäftigt. Stundenlöhne von3,18 Euro, 5,33 Euro und 6,19 Euro sind eine Schandefür unser Land.

(Beifall bei der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Von Gewerkschaften tarifiert!)

Die FDP, die hier jahrelang eine Politik zur Bekämpfungder Tariffähigkeit der deutschen Gewerkschaften ge-macht hat, wirft jetzt den Gewerkschaften vor, dass siedas nicht durch Tariflöhne verhindern können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das halte ich für eine Unverschämtheit den Gewerk-schaften gegenüber, wie ich sie selten gehört habe.

Das alles kostet den Staat viel Geld: Mindestens7 Milliarden Euro geben wir für Lohnzuschüsse aus. Üb-rigens: Wenn sich die Sozialministerin jetzt Sorgen umdie Altersarmut macht, ist das berechtigt. Aber irgend-wer muss ihr einmal erklären, dass es Altersarmut nichtohne Erwerbsarmut gibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich finde, das muss doch irgendwann einmal bei Ihnenankommen.

Das eigentliche Problem ist aber, dass Sie nicht ver-standen haben, was die CDU-Arbeitnehmer wirklichwollten. Sie wussten, dass zwei Dinge wichtig sind:

Erstens. Mindestlohn bedeutet: Einer, der Vollzeit ar-beiten geht, muss hinterher nicht zum Sozialamt, umsich den Rest zu holen, damit er die Miete bezahlenkann; denn das ist unwürdig. Ein Mindestlohn ist nurdann ein guter Mindestlohn, wenn er von Hartz IV undSozialhilfe unabhängig macht.

Zweitens. Ihre CDU-Arbeitnehmer wussten, dass esum die Würde der Arbeit geht und es demütigend ist,Menschen, die Vollzeit arbeiten, hinterher zum Sozial-amt zu schicken. Deshalb wollten die CDU-Arbeitneh-mer einen gesetzlichen Mindestlohn für alle, der von So-zialhilfe unabhängig macht. Daher ist es eine Schande,Frau Bundeskanzlerin, dass Sie Ihren Arbeitnehmern inden Rücken gefallen sind; denn das ist gerade nicht dasErgebnis der Mindestlohndebatte auf Ihrem Parteitag.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das kostet uns 7 Milliar-den Euro, die bei der Senkung der Verschuldung oder beiunseren Schulen besser aufgehoben wären. Wir müssenRecht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wiederher-stellen. Frau Bundeskanzlerin, gut 10 Milliarden Eurohaben Sie insgesamt nächtens in Ihrer Koalitionsrundeverteilt, um das Stillhalten Ihrer Koalitionspartner zu er-kaufen. Die 10 Milliarden Euro zulasten der Verschul-dung sind so etwas wie eine Stillhalteprämie in Ihrer Ko-alition gewesen. Wo sind allerdings, Frau Kanzlerin, dieSparvorschläge für diese 10 Milliarden Euro? Nichts zusehen! Stattdessen machen Sie Politik auf Pump. Das istgenau die alte Politik, die wir nicht mehr gebrauchenkönnen – weder in Griechenland noch in Italien noch inDeutschland, Frau Dr. Merkel, weder dort noch hier.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn wann, wenn nicht jetzt, wo die Steuerquellen spru-deln, wollen wir eigentlich Schulden abbauen? Wann,wenn nicht im wirtschaftlichen Aufschwung, wollen wir

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Vorsorge treffen für die mit Sicherheit wieder kommen-den wirtschaftlichen Schwierigkeiten?

Frau Bundeskanzlerin, irritiert Sie eigentlich garnicht, dass Sie inzwischen einhellig Ihr eigener Sachver-ständigenrat der Wirtschaftsweisen, der Bundesrech-nungshof und sogar Ihr ehemaliger Kanzleramtsberaterkritisieren? Ich weiß nicht, Frau Kanzlerin, was Sie untereiner Schuldenbremse verstehen. Wir verstehen darun-ter, dass man weniger neue Schulden macht – und nichtmehr.

(Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU])

– Sie scheinen das eher mit dem Gaspedal zu verwech-seln. Sie haben offenbar bei der Verfassungsänderungnicht ganz aufgepasst.

(Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU])

– Ich kann verstehen, dass Sie das von mir nicht hörenwollen. Aber unangenehmer wird es – warten Sie ab –,wenn Sie hören, wer noch alles Ihnen das sagt.

Dass Ihr Finanzminister den Ausgangswert der Ver-schuldung bewusst manipuliert und zu hoch angesetzthat, um Ihre viel zu geringe Absenkung der Verschul-dung optisch zu verkleistern, schreibt Ihnen die Bundes-bank ins Stammbuch. Dort heißt es – ich zitiere –:

Nach Artikel 143 d GG wäre eine entsprechendeAbsenkung des Ausgangswertes und damit auchdes Anpassungspfades allerdings letztlich geboten.

Damit keine Missverständnisse aufkommen, was dieBundesbank damit meint, erklärt der Bundesbankpräsi-dent – ich zitiere –: Deutschland darf keine Zeit verlie-ren, seinen Haushalt auszugleichen. – Aber Sie erhöhendie Schulden. Das kritisiert Herr Weidmann in seinemBericht der Bundesbank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Manchmal, Frau Dr. Merkel, habe ich den Eindruck,Sie halten das alles für Ratschläge an die Adresse Grie-chenlands, Italiens oder Portugals. Aber, ehrlich gesagt,Herr Weidmann meint Sie ganz persönlich. Er ermahntSie in diesem Bericht, keinen Verfassungsbruch zu bege-hen. Sie sind aber drauf und dran, genau das zu tun, nurweil Sie Ruhe in der Koalition haben wollen und sicheine Kriegskasse für den Wahlkampf anlegen wollen.Denn um nichts anderes geht es hier.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ganz schä-big!)

Das eigentlich Besorgniserregende an dieser Kritik derBundesbank ist allerdings nicht einmal die kurzfristigeWirkung Ihrer Schuldenpolitik, sondern die Bundesbanksorgt sich um das Vertrauen der internationalenFinanzmärkte auch in die Schuldentragfähigkeit Deutsch-lands. Ich zitiere noch einmal die Bundesbank:

Bei weiteren Belastungen geht das Vertrauen in dieTragfähigkeit auch der deutschen Staatsfinanzenverloren.

Die Bundesbank befürchtet also auf gut Deutsch: Einzu geringer Schuldenabbaupfad jetzt kann dazu führen,dass bei einem wirtschaftlich schlechteren Klima diedeutschen Staatsschulden so stark steigen, dass auch un-ser Land in die Schwierigkeiten gerät, in die inzwischenFrankreich gekommen ist. Sie befürchtet also, dass dieZinsen für deutsche Staatsanleihen steigen und wir in ei-nen ähnlichen Teufelskreis geraten könnten wie unsereeuropäischen Nachbarn.

Der Spiegel bezieht sich in einem Artikel auf diesenBericht der Bundesbank und nennt Sie deshalb zu Rechteinen „Scheinriesen“, Frau Bundeskanzlerin. Fest steht:Der Bundesfinanzminister kann beim Schuldendienstenorm sparen, weil immer mehr Anleger die deutschenStaatsanleihen suchen und das Zinsniveau deshalb sinkt.Ganz nebenbei kassiert er auch noch Zinsen für die Kre-dite an Griechenland.

Wenn wir diese Krisengewinne stillschweigend kas-sieren, selbst keine Schulden abbauen, gleichzeitig aberandere Länder lautstark für ihr Schuldengebaren kritisie-ren, obwohl deren Lage weitaus schlechter ist, gibt esviele in Europa, die wegen dieser arroganten Haltung Ih-rer Regierung, Frau Merkel, meine Damen und Herren,zu Recht die Faust in der Tasche ballen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben in den letzten 24 Monaten Ihre Position zurEuro-Krise ständig gewechselt. Sehr lange wollten Siedie Krise im europäischen Währungsraum den betroffe-nen Nachbarn selbst überlassen. Ich halte es für dengrößten Fehler Ihrer Amtszeit, dass Sie der europäischenHerausforderung sehr lange nur mit nationalen Antwor-ten und nur mit dem Eigeninteresse Ihrer Regierung be-gegnet sind. Erst als nacheinander ein Land nach demanderen zum Spielball der Finanzmärkte wurde, habenSie gemerkt, dass Ihre nationalen Antworten nicht rei-chen. Nun ist die Verunsicherung so groß, dass selbst dergigantische Rettungsschirm mit 1 Billion Euro nichtmehr ausreicht. Im Gegenteil: Die Finanzmärkte miss-trauen uns nicht nur, sie wetten sogar auf das Auseinan-derbrechen der Euro-Zone.

Nichts von dem, was Sie jeweils in Ihren Regierungs-erklärungen zum Euro im Bundestag erklärt haben, hatWirkung gezeigt. Das meiste ist hinterher sowieso wie-der verändert worden. Die Zinsen für die Krisenstaatensteigen. Stattdessen erhalten die Staaten der Euro-Zoneauf den internationalen Kapitalmärkten selbst dann keinGeld zu erträglichen Zinsen, wenn sie massive Sparpro-gramme auflegen. Im Kern geht es jetzt darum, dass wirendlich die entscheidende Frage beantworten: Stehenwir in Europa füreinander ein, und kann ein Investor inder Euro-Zone sicher sein, dass er sein geliehenes Geldzurückerhält, ja oder nein? Diese Frage werden wir, sounangenehm das ist, endlich beantworten müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich gehört dazu Klarheit über den Abbaupfadhinsichtlich der Schulden in Europa, aber auch inDeutschland, und eine gemeinsame Finanz-, Wirt-

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schafts- und Steuerpolitik. Statt dies klar zu beantwor-ten, zwingen Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Europäi-sche Zentralbank immer weiter dazu, Staatsanleihenaufzukaufen. 200 Milliarden Euro beträgt inzwischendas Risiko der Europäischen Zentralbank, für das wir ge-meinschaftlich haften.

(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ja! – CarstenSchneider [Erfurt] [SPD]: Das wollen sie nichthören!)

Wollten Sie, Frau Merkel, nicht genau das verhin-dern? Wollten Sie nicht ebenso, Frau Bundeskanzlerin,verhindern, dass die Europäische Zentralbank zur No-tenbank wird, die Staaten durch das Anwerfen der No-tenpresse bedient? Wir wollten doch keine Schulden-und Transferunion in Europa zulassen. Aber genau daspassiert gerade durch die Hintertür der EuropäischenZentralbank.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie wollen doch Euro-Bonds!)

Das sind Euro-Bonds durch die Hintertür, aber ohne je-den Einfluss darauf, wie sich die Staaten hinterher be-nehmen. Das ist das, was Sie derzeit zu verantworten ha-ben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Nor-bert Barthle [CDU/CSU]: Wie steht denn dieSPD zu den Euro-Bonds? Gibt es dazu eineAussage?)

Die „Merkel-Bonds“, die die EZB ausgibt, sind su-perbequem für die Regierungschefin in Deutschland. Siekann sich nämlich öffentlich hinstellen und sagen: Ichwill das alles nicht, aber leider sind die unabhängig, des-wegen dürfen die das weiterhin machen. – Vor allen Din-gen hat das den Vorteil: Wenn die EZB diese Arbeitmacht, braucht sie Ihre seltsame Koalition nicht zu fra-gen, weil sie natürlich nicht weiß, welches Chaos entste-hen würde, wenn Sie sich mit den Realitäten der Europä-ischen Zentralbank auseinandersetzen müssten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Bundeskanzlerin, Sie spielen mit dem Feuer. Siezwingen Europa in einen Zweifrontenkrieg. Sie zwingendie Staaten, die schon in der Rezession sind, zu immerweiteren Sparmaßnahmen, sodass sie nicht weniger, son-dern höhere Schulden produzieren. Sie verhindern, dasssie sich zu einigermaßen fairen Zinsen auf dem Kapital-markt refinanzieren können. Beides zusammen führt zueiner von Ihrer Politik zu verantwortenden und organi-sierten Rezessionsgefahr. Sie können den Staaten undEuropa nicht beide Hände fesseln: die Zinsschraube aufder einen Seite und die Schuldenschraube auf der ande-ren. Wenn beide Hände gefesselt sind, dann werden dieLeute in Europa und am Ende auch in Deutschland ar-beitslos! Das ist das, was Sie gerade vorbereiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen Ihre Politik ändern. Sie wollen keineEuro-Bonds, wie sie die Wirtschaftsweisen vorschlagen.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Was will die SPD eigentlich?)

– Passen Sie auf: Es ist doch gar nicht so schlimm, wennSie gegen uns sind. Seien Sie aber wenigstens für das,was Ihre eigenen Sachverständigen sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Was wollen Sie denn?)

Ihre Sachverständigen schlagen einen Schuldentilgungs-fonds für Europa vor, und Ihre Kanzlerin ist nicht einmalbereit, darüber öffentlich zu beraten. So gehen Sie mitdenen um, die Sie auf dem Weg zu einer besseren Politikberaten sollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen deutlich mehr als diese beiden Mühl-steine der europäischen Politik. Europa braucht mehr alsein reines Sparprogramm. Wir brauchen auch gezielteWachstumsprogramme in den Ländern, damit es wiederEntwicklungsperspektiven gibt.

(Zuruf von der FDP: Jetzt will er wieder Geld ausgeben!)

– Ja, genau. Und wissen Sie, wo ich es herhaben will?Von denen, die Sie ständig schonen, genau Sie!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will, dass die Finanzmärkte endlich einen Teil desGeldes zurückgeben, das wir wegen ihnen haben versen-ken müssen. Und Sie – Sie schützen die Finanzmärktevor dieser Steuer.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ja, wir wollen Geld ausgeben für Wachstum, wir wol-len die Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen.Wenn 48 Prozent der jungen Menschen in Griechenland,40 Prozent in Spanien und fast 30 Prozent in Frankreicharbeitslos sind, wer soll denn dann die Zukunft Europasaufbauen? Die Leute dürfen nicht in ihrer Existenz ge-fährdet werden. Wir können das nicht sich selbst über-lassen. Sie überlassen die Finanzmärkte lieber sichselbst.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was wollen Sie tun?)

Ja, wir wollen sie besteuern, auch in der Euro-Zone, undwir wollen das Geld in den Kampf gegen die Arbeits-losigkeit in Europa investieren. Das ist der Unterschiedzwischen uns beiden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu-ruf)

– Ich habe leider nicht mit, womit ich gut auf Leute wieSie, die mich „Westentaschenkommunist“ nennen, rea-

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gieren könnte. Es ist zwar schon viel behauptet worden,aber dass einer behauptet, ich würde in eine Westen-tasche passen, ist noch nicht passiert.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wissen Sie, wenn ich das schon höre: Das nächste Mal le-sen wir Ihnen einmal – wir suchen eine nette Rede heraus,mit der das geht – Karl-Hermann Flach vor. Das war malIhr Generalsekretär. Wissen Sie, was der sagt? Wir müs-sen endlich die Vermögenden und die Erbschaften stärkerbesteuern, damit der Staat Einfluss hat und Wachstumkreieren kann. Er, der bei Ihnen früher Generalsekretärwar, würde heute wahrscheinlich wegen Linksabwei-chung aus der FDP ausgeschlossen; das nehme ich starkan.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie wissen wollen, warum Sie da stehen, wo Sieheute stehen: weil solche Leute bei Ihnen heute keineChance mehr hätten. Das ist der Grund, warum Sie bei2 Prozent gelandet sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Bundeskanzlerin, natürlich müssen wir an dieVeränderung der europäischen Verträge herangehen. Dasgilt aber nicht nur für die Stabilitätskriterien, sondernauch für eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik inder Euro-Zone; denn sonst bleibt die Währungsunion einTorso. Wenn Sie auf diesem Weg auch das Thema einerFiskalunion mit angehen wollen, haben Sie uns an IhrerSeite. Wenn Sie allerdings nichts von dem tun, dann zah-len in absehbarer Zeit auch die Deutschen die Zeche fürIhren verfehlten Kurs.

In Deutschland zeichnet sich gerade ab, dass dieExportindustrie bereits den Preis für Ihre doppelte Re-zessionsstrategie in Europa zu zahlen hat. Statt nun be-herzt zu sparen und damit Risikovorsorge für eineschwierige Wirtschaftslage zu treffen, geben Sie dasGeld aus. Wir sagen Ihnen: Lassen Sie die nutzlosenAusgaben! Gewerkschaften und Arbeitgeber fordernschon jetzt, die Kurzarbeiterregelung zu verlängern. Dieahnen doch, dass es da losgeht. Das hat ein sozialdemo-kratischer Arbeitsminister durchgesetzt, und Sie wollendas jetzt auslaufen lassen. Wir werden die Kurzarbeiter-regelung wieder brauchen, um Jobs in Deutschland zusichern. Wissen Sie, wie viel diese Regelung kostet? Inder Krise hat sie 6 Milliarden Euro gekostet. Das sinddie 6 Milliarden Euro, die Sie gerade für Ministeuersen-kungen verplempern. Für die Leute wird es wichtigersein, ihren Job und damit ihren Lohn zu behalten, als4 Euro Steuersenkung durch den Unfug zu bekommen,den Sie hier verbreiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu-ruf)

– Nein, ich wehre mich nicht dagegen, dass die Leute4 Euro bekommen. Ich glaube nur, dass sie dieses Geldgar nicht bekommen werden, weil die Gebühren bei denKommunen steigen. Außerdem brauchen wir das Geld,um die Jobs zu erhalten. Die Leute sind doch nicht

dumm! Die wissen doch, dass die Wirtschaftskrise naht,und sie wollen, dass der Staat handlungsfähig ist undnotfalls wieder eine Kurzarbeiterregelung bezahlenkann. Das sind die Forderungen von Gewerkschaftenund Arbeitgebern – und nicht der Blödsinn, den Sie damit den Steuersenkungen verbreiten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser Haushalt entlarvt alle Sprechblasen, auch dieder Kanzlerin, aus den letzten zwei Jahren. Wie hieß esnoch am 31. Januar dieses Jahres, Frau Merkel, aus Ih-rem Munde?

Die Regierung hat einen klaren Kompass für denAbbau der Schulden.

Diesen Kompass sollten Sie zur Reparatur bringen. InSee stechen würde ich damit jedenfalls nicht, meine Da-men und Herren.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin, Frau

Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Meine Rede in der heutigenGeneraldebatte will ich nicht beginnen, ohne zunächstauf die Ereignisse einzugehen, die seit dem 4. Novem-ber, seit einem scheinbar routinemäßigen Polizeieinsatznach einem Banküberfall in Eisenach, Schritt für Schrittans Licht kommen.

Die Nachrichten über das eigentliche Ausmaß derVerbrechen sind schockierend. Wir wissen heute, dasswir es mit einer rechtsextremistischen Gruppe ausZwickau zu tun haben, der eine grausame Mordserie undschreckliche Gewaltakte zur Last gelegt werden. Wirsind entsetzt über das Maß an Hass und Fremdenfeind-lichkeit, das hier zum Ausdruck kommt. Ich denke heutezuallererst an die Opfer: Enver Şimşek, AbdurrahimÖzüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kiliç, YunusTurgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, MehmetKubaşik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. UnsereGedanken sind bei ihnen und bei allen weiteren Men-schen, die den grausamen Gewalttaten dieser Gruppezum Opfer gefallen sind.

Ich sage es noch einmal für die ganze Bundesregie-rung: Unsere Pflicht gegenüber den Angehörigen derOpfer ist es, alles zur Aufklärung dieser furchtbaren Ta-ten und ihrer Hintergründe zu unternehmen. Das erlit-tene Leid lässt sich nicht wiedergutmachen. Aber wirsind es den Angehörigen schuldig, sie zu unterstützen.Ich begrüße daher ausdrücklich den Vorschlag von Bun-desjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, dieOpfer und ihre Familien aus dem Fonds für Opfer extre-mistischer Übergriffe zu entschädigen. Ich danke auchBundespräsident Wulff, dass er sich heute mit Angehöri-

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gen trifft und damit ein Zeichen der Zuwendung und derVerbundenheit des ganzen deutschen Volkes setzt.

Die Tatsache, dass solch eine rechtsextremistischeZelle existiert, schweigend solche Gräueltaten begehtund über ein Jahrzehnt unentdeckt im Untergrund agiert,ist ohne Beispiel. Was die Ermittler, die mit ihrer Arbeiterst am Anfang sind, an Perversion im Denken und Han-deln, an Menschenfeindlichkeit und -verachtung aus ei-nem verfestigten rechtsextremen Milieu ans Tageslichtbringen, beunruhigt nicht nur mich zutiefst. Es scho-ckiert unser Land und seine Bürger, und es ist eine Ge-fahr für uns auch mit Blick auf andere in der Welt.

Justiz- und Sicherheitsbehörden stehen angesichts ei-ner Vielzahl von Pannen und Versagen vor sehr grundle-genden Fragen. In der letzten Woche hat sich das Kabi-nett mit diesen Verbrechen befasst. Die Innen- undJustizminister von Bund und Ländern haben mit einerkurzfristig anberaumten Konferenz reagiert und ersteEntscheidungen getroffen. Wir prüfen alle rechtsstaat-lichen Mittel, auch die schwierige Frage von Parteiver-boten. In der Vergangenheit wurde bereits eine Fülle vonVereinigungen verboten. Bei Razzien wurden immerwieder verhetzendes, menschenfeindliches Propaganda-material und Schusswaffen sichergestellt. Wir nehmendie Gefahren des Rechtsextremismus sehr ernst. Aberwir sollten uns alle den Vorwurf, auf irgendeinem Augeblind zu sein, ersparen. Das treibt nur einen Keil in dieGemeinsamkeit der Demokraten.

Der Kampf gegen Extremismus jeglicher Couleur unddie Stärkung der Demokratie sind Daueraufgaben für je-den von uns. Deshalb hat die Bundesregierung allein2011 so viele Mittel für die Extremismusprävention wienie zuvor bereitgestellt, und wir werden das auch weitertun.

Diese Taten sind nicht mehr und nicht weniger als einAngriff auf unser demokratisches Gemeinwesen. Die ges-trige Abstimmung hat eines gezeigt: dass wir entschlos-sen sind, unser offenes, tolerantes und menschlichesZusammenleben gegenüber gemeinen Verbrechern undmenschenverachtenden Ideologien zu verteidigen. Daswar das Signal von gestern, ein wichtiges Signal.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Diese Debatte über den Bundeshaushalt 2012 findetin einer Zeit statt, in der wir insgesamt vor vielen undschwierigen Herausforderungen stehen. Die größte Auf-gabe ist zweifellos die Überwindung der Krise im Euro-Raum. Dabei hat sich das Parlament in den vergangenenMonaten in mehreren Abstimmungen in großer Mehrheitganz klar für die Zukunft entschieden, für eine Zukunftin einem gemeinsamen Europa. Zuletzt am 26. Oktoberwar parteiübergreifende Unterstützung des DeutschenBundestages vorhanden, als es um die Abstimmung überdie EFSF ging. Gerade weil viele von Ihnen diese Unter-stützung nicht leichten Herzens gewähren konnten, weilriesige Summen zur Disposition stehen, gerade wegenmancher Zweifel und Unsicherheiten angesichts dessen,was noch vor uns liegt, möchte ich noch einmal ganzherzlich dafür danken, dass Sie diese Rückendeckungdurch den Deutschen Bundestag gegeben haben.

Sie haben damit deutlich gemacht: Deutschlands Zu-kunft ist untrennbar mit der Zukunft Europas verbunden.Deutschlands und Europas Zukunft sind untrennbar ver-bunden mit dem Zustand der internationalen Staatenge-meinschaft und den globalen Herausforderungen, die wirnur gemeinsam bewältigen können. Gleichzeitig ist klar:Jedes Land muss seinen Beitrag dazu leisten. Genau daserleben wir in diesen Tagen in Europa: gemeinschaftli-ches Handeln und Eigenverantwortung.

Wir sind in den vielen Monaten der Beschäftigungmit der Schuldenkrise im Euro-Raum Schritt für Schritt,glaube ich, sehr klar zu einer Analyse dessen gekom-men, was in der Vergangenheit falsch gemacht wurde:erstens eine übermäßige Staatsverschuldung, zweitenseine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit in einigen derStaaten – das hat damit zu tun, dass sich die globale Ent-wicklung hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit gerade auchauf anderen Kontinenten sehr beschleunigt hat – unddrittens grundlegende Mängel in der Konstruktion derWirtschafts- und Währungsunion. Deshalb gehören Kri-senbewältigung, also Beschäftigung mit der Vergangen-heit, und Vorsorge für die Zukunft unmittelbar zusam-men.

Ich möchte noch einmal auf die Beschlüsse vom26. Oktober zurückkommen. Da gab es zum einen dasGriechenland-Programm. Dazu muss man sagen: Hiersind wir zu einer Vereinbarung über eine freiwillige Um-schuldung Griechenlands gekommen. Herr Gabriel,wenn Sie heute davon sprechen, dass es eine Verunsiche-rung darüber gibt, ob man für europäische Staatsanlei-hen noch das wiederbekommt, was man einmal inves-tiert hat, dann muss ich sagen, dass das sehr viel mitdieser freiwilligen Restrukturierung zu tun hat. Diese istnotwendig, weil der IWF, die Kommission und die Euro-päische Zentralbank festgestellt haben, dass die Schul-dentragfähigkeit Griechenlands nicht gegeben ist.

Sie haben sehr markig und oft gefordert, dass mannun endlich einmal einen richtigen Schuldenschnitt ma-chen soll. Ich habe immer wieder gesagt: Lasst uns die-sen Schritt sehr wohl vorbereiten. Ich sage: Er ist richtig,aber wir sehen auch die Nebenwirkungen diesesSchnitts, ganz klar.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Erst jetzt! Warum ha-ben Sie so lange gewartet?)

Denn jetzt steht die Frage im Raum – sie hätte zu je-dem Zeitpunkt im Raum gestanden –: Was passiert mitanderen Ländern? Deshalb ist es ganz wichtig, zu sagen– dies haben wir beim Europäischen Rat am 21. Juli2011 getan –: Griechenland ist ein Ausnahmefall. Hierist die Verschuldung sehr, sehr hoch, und deshalb muss-ten wir zu diesem Mittel greifen.

Wir haben dann einen weiteren Vertrauensverlust er-lebt durch die unerwartete Ankündigung eines Referen-dums; verbunden gewesen damit wären im Falle einesNeins bei einem solchen Referendum auch die Konse-quenzen. Das alles hat Themen auf die Tagesordnunggebracht, mit denen sich die internationalen Finanz-märkte, die ja keine anonymen Größen sind – es sind

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zum Teil die Anleger von Lebensversicherungen undviele andere –, befassen müssen.

Der Ausgangspunkt ist, dass Griechenland die Schul-dentragfähigkeit nicht hat. Jetzt müssen wir schauen,dass wir unsere Instrumente so weit entwickeln – dasgeht leider ziemlich langsam, auch nach den Beschlüs-sen vom 26. Oktober –, dass wir uns dagegen wappnenund wehren können.

Die griechische Frage ist jetzt noch nicht geklärt, weilwir noch nicht die Voraussetzungen für die Auszahlungder nächsten Tranche haben. Dazu ist erforderlich – ichmuss das heute hier in diesem Parlament noch einmal sa-gen; wir stimmen da, glaube ich, alle überein –, dass wirnicht nur die Unterschrift des griechischen Premiermi-nisters haben, sondern auch die Unterschriften der dieRegierung in Griechenland tragenden Parteien. Ansons-ten kann es keine Auszahlung der sechsten Tranche ge-ben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das sind doch Ihre Freunde, nichtunsere! – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Dassind doch die Verantwortungslosen aus IhrerParteienfamilie, die da nicht unterschreiben! –Ulrich Kelber [SPD]: Mit denen sind Sie imEuropaparlament in einer Fraktionsgemein-schaft! – Weiterer Zuruf von der SPD: WelchePartei weigert sich denn?)

– Schauen Sie mal: Es ist doch wirklich der Ernsthaftig-keit gegenüber kleine Münze, ob das nun eine Partei ist,die zur Europäischen Volkspartei gehört. Umso bittererist es, dass derjenige nicht unterschreibt, für mich. Aberich wünsche Ihnen nicht, dass Sie einmal in eine Lagekommen, wo auch von Ihnen einer etwas nicht tut, waserwartet wird. Also wirklich!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wir handelnverantwortungsvoll! – Dr. Gregor Gysi [DIELINKE]: Kleinkariert!)

Zweitens. Immer wieder ist gesagt worden: Wir brau-chen eine Rekapitalisierung der europäischen Banken. –Dazu haben wir einen Beschluss gefasst. Ich hoffe, dassdie europäische Bankenaufsicht am 30. November, wennder nächste Ecofin-Rat tagt, auch die präzisen Zahlenbekannt gibt, wie die Rekapitalisierung ablaufen wird.Denn die Tatsache, dass wir jetzt seit Wochen darübersprechen, aber noch keine komplette Klarheit da ist, trägtauch nicht zur größeren Sicherheit bei. Wir haben ges-tern am Beispiel einer deutschen Bank gesehen, welcheUnsicherheiten dann die Banken selbst haben.

Auch da ist es so: Die internationale Staatengemein-schaft hat von uns verlangt – sicherlich mit guten Grün-den –, auch die Risiken bei Staatsanleihen einem Stress-test zu unterziehen. Aber dies hat nicht nur eine positiveWirkung – dass wir genügend Kapital für die Banken ha-ben –, sondern es hat wiederum auch eine negative Wir-kung, weil natürlich, wenn man Stresstests auch beiStaatsanleihen macht, sofort die Diskussion aufkommt:

Was kriege ich für meine Staatsanleihen wieder? Dasheißt, wir sind durch die übermäßige Verschuldung ineine Situation geraten, in der es den goldenen Weg, derkeine Risiken kennt, nicht mehr gibt. Deshalb müssenwir diesen richtigen Weg immer sehr sorgsam finden.

Drittens. Wir haben hier miteinander beschlossen,dass wir die EFSF schaffen und gleichzeitig die Mög-lichkeiten einer Hebelung prüfen. Auch hier müssen am29. oder 30. November die entsprechenden Beschlüssebezüglich der Leitlinien endlich gefällt werden, damitdie Suche nach potenziellen Investoren dann in die rich-tige Runde gehen kann; denn ohne Leitlinien überzeugtman Investoren nicht.

Jetzt wird beklagt, dass die europäische Währungsu-nion eine Zentralbank hat, die – das ist richtig und unter-scheidet die europäische Währungsunion von der Situa-tion von Nationalstaaten wie Großbritannien und denVereinigten Staaten von Amerika – die einzig und allein,das war die Voraussetzung für diese Währungsunion, fürdie Geldwertstabilität verantwortlich ist. Das ist ihrMandat; das übt sie aus. Ich wäre sehr vorsichtig, dieEuropäische Zentralbank unentwegt zu kritisieren.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Kein Mensch hat das gemacht!)

Ihre Unabhängigkeit, die wir alle so hochhalten, bestehtin jeder Richtung, ob sie etwas tut oder ob sie etwasnicht tut. Das ist ähnlich wie beim Bundesverfassungs-gericht. Es ist, glaube ich, auch ganz wichtig, dass Eur-opa sich auf solche unabhängigen Instanzen gründet.Deshalb darf an dem Mandat für die Europäische Zen-tralbank nach meiner festen Überzeugung nichts, aberauch gar nichts geändert werden, meine Damen und Her-ren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das hat in dieser Schuldensituation aber nun zurFolge, dass wir nach der Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts, aber auch nach unseren Beschlüs-sen hier immer eine endliche Menge an Geld zur Verfü-gung haben, mit der wir Schutzwälle aufbauen können– das liegt in der Definition der Fonds, der EFSF oderÄhnlichem –, und damit gegenüber den Märkten natür-lich ein Stück weit angreifbarer sind, als es Länder sind,die nach ihrer Tradition eher Geld drucken können undin denen die Zentralbanken Staatsanleihen aufkaufenkönnen.

Dennoch: Angesichts des politischen Konstrukts derEuropäischen Union und des Euro-Raums, in dem eseine nationale Hoheit für die Budgets und eine gemein-same Währung gibt, tritt jetzt der eigentliche Wider-spruch oder die eigentliche Kalamität zutage, dass näm-lich letztlich keine europäische Möglichkeit besteht,durchzugreifen und einzugreifen, wenn ein Land sich andie gemeinsamen Verabredungen des Stabilitäts- undWachstumspakts permanent nicht hält. Das eigentlicheProblem ist, dass wir in den zehn Jahren mindestens60 solcher Verstöße hatten und dass in keinem der Fälleirgendeine Wirkung entfaltet wurde, wodurch ein Landdaran gehindert worden wäre, so weiterzumachen. Des-

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halb ist Vertrauen verloren gegangen, Vertrauen der in-ternationalen Märkte in die Handlungsfähigkeit.

Deswegen sage ich: Ich halte es für außerordentlichbekümmerlich – sage ich mal –, unpassend, dass dieKommission heute Euro-Bonds in verschiedener Aus-prägung vorschlägt, also so tut, als könnten wir – daswird die kommunikative Wirkung sein, selbst wenn dasvielleicht nicht so gesagt wird – durch Vergemeinschaf-tung der Schulden aus den Mängeln der Struktur der eu-ropäischen Währungsunion herauskommen. Genau daswird nicht klappen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb darf man das Pferd nicht von hinten aufzäu-men, sondern man muss jetzt mit dem nächsten Schritt be-ginnen und sagen: Wenn wir wieder Vertrauen bekommenwollen, dann dürfen wir freiwilligen Beteuerungen nichtmehr glauben, sondern dann wird man verlangen, dassvertraglich, rechtlich bindend durchgesetzt wird – dazubrauchen wir Vertragsänderungen –, dass die Regeln deseuropäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts auch ein-gehalten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist der erste Schritt in Richtung einer Fiskalunion,in Richtung eines politischen Gebäudes, das natürlichauch Harmonisierungen in Bereichen nach sich ziehenwird, die in nationaler Kompetenz liegen. Das genau warder Grund, warum ich für einen Euro-Plus-Pakt eingetre-ten bin, einen Pakt, in dem wir über Arbeitsrecht, überRenteneintrittsalter und über Harmonisierung von Steu-ersystemen sprechen, und das war der Grund, warum ichmit dem französischen Präsidenten verabredet habe, dassDeutschland und Frankreich zum Jahrestag des Élysée-Vertrags im Jahre 2013 ein gemeinsames Unternehmen-steuerrecht vorlegen wollen, damit wir ein gutes Beispielfür mehr Gemeinsamkeit im Euro-Raum geben, weil esanders auf Dauer nicht funktionieren wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jür-gen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Was passiert bis dahin?)

Es hat keinen Sinn, dass man, wie es oft geschieht– mit welchen Wortschöpfungen auch immer –, ver-sucht, leichte Lösungen vorzugaukeln, sondern wir müs-sen den Vertrauensverlust Schritt für Schritt abarbeitenund Vertrauen wieder zurückbekommen. Das muss na-türlich mit einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit undeinem Wachstumspfad kombiniert werden, den wir inder Europäischen Union einschlagen. Hier können wirvieles zur Vervollkommnung des Binnenmarktes tun;hier können auch wir in Deutschland noch einiges tun.Wir können vieles tun durch bessere Ausnutzung derStruktur- und Kohäsionsfonds, die von den Ländern, diejetzt sparen müssen, ja noch gar nicht ausgenutzt wur-den, und vor allen Dingen können wir vieles tun, indemwir für die zukünftige finanzielle Vorausschau noch ein-mal überlegen, ob die Struktur der Struktur- und Kohä-sionsfonds richtig ist oder ob wir das Wachstum damitgar nicht so gefördert haben, wie wir uns das eigentlichgewünscht haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das ist es, wie wir Europa angehen müssen. Zumindestist das meine Überzeugung.

Die Bundesregierung wird beim Europäischen Rat am8. und 9. Dezember 2011 genau diese Vorschläge vor-bringen. Weil politisches Vertrauen verloren gegangenist, wird dieses Vertrauen auch nur durch politischeMaßnahmen Schritt für Schritt wiedergewonnen werdenkönnen. Das ist unsere Überzeugung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Natürlich schaut die Welt jetzt auf Europa, weil allewissen, dass wir in der globalen Verflechtung alle ge-meinsam für das Wirtschaftswachstum verantwortlichsind. Das wurde auch durch das G-20-Treffen in Cannesausgedrückt. In den nächsten Jahren wird sich – ichglaube, die Gruppe der G 20 auf der Ebene der Staats-und Regierungschefs hat sich bewährt – im weltweitenGefüge vieles verschieben. Man sieht das zum Beispielschon am internationalen Währungssystem. Wir werdenSchritt für Schritt zu einem multipolaren Währungssys-tem kommen, indem zum Beispiel auch China eine grö-ßere Rolle in dem Maße spielt, wie China bereit ist, ei-nen Wechselkurs zuzulassen, der den Fundamentaldatender eigenen Wirtschaft entspricht. Aber diese Tendenzist erkennbar. Die Arbeiten am gemeinsamen Weltwäh-rungssystem sind unter der französischen Präsident-schaft deutlich vorangekommen.

Wir brauchen vor allen Dingen weiterhin – dafür sindalle europäischen Teilnehmer in Cannes sehr stark einge-treten – eine Regulierung der Finanzmärke, die dieDinge endlich wieder geraderückt, nämlich dass die Fi-nanzwirtschaft im Dienste der Realwirtschaft und derMenschen zu stehen hat und nicht umgekehrt. Da sindwir noch nicht angelangt; das sage ich ausdrücklich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Thomas Oppermann [SPD]: Na, dann mal los!Gut, dass Sie diese Erkenntnis inzwischenauch haben!)

Das wird auch nicht von alleine passieren, sonderndazu muss der gemeinsame Wille der Regierungen dasein. Deshalb ist es nicht erfreulich, dass wir auch in die-sem Jahr kein globales Einvernehmen darüber erreichthaben, dass eine Finanztransaktionsteuer die richtigeAntwort und, wenn man es global machte, die beste Ant-wort wäre. Deshalb werden wir jetzt ganz intensiv denVorschlag der Kommission für die Erhebung einer Fi-nanztransaktionsteuer im europäischen Raum weiter dis-kutieren. Da sich in Europa schon vieles geändert hat,werde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Wir sind alle ei-ner Meinung, dass eine Finanztransaktionsteuer ein rich-tiges Zeichen wäre, um zu zeigen: Wir haben verstan-den, dass die Finanzmärkte ihren Teil zur Gesundung derVolkswirtschaften beitragen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir haben in Cannes einen wichtigen Erfolg errungen– wir haben bei der Finanzmarktregulierung schon eini-

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ges geschafft –, nämlich dass jetzt klar ist, dass die29 systemischen, weltweit agierenden Bankinstitute, diebisher als „too big to fail“ galten, also zu groß, um plei-tezugehen, in Zukunft Auflagen bekommen, damit dasnicht mehr durch die Gemeinschaft, durch die Bürgerin-nen und Bürger gezahlt werden muss. Das ist ein wichti-ger Schritt. Aber mindestens so wichtig wie dieserSchritt ist, dass wir ähnliche Regulierungen auch für dieSchattenbanken bekommen. Deshalb war es gut, dassdas Financial Stability Board den Auftrag bekommenhat, uns bis zum nächsten G-20-Treffen hierfür Vor-schläge zu machen.

Angesichts der Finanzkrisen ist ein Thema leider et-was in den Hintergrund geraten, das ich hier aber auch er-wähnen möchte, weil die CO2-Emissionen in diesem Jahrweltweit so hoch waren wie nie zuvor. Demnächst wirddie Konferenz zum Klimaschutz in Durban stattfinden.Wir befinden uns in einer ausgesprochen schwierigen undunerfreulichen Situation; ich will das klar beim Namennennen. Das Kioto-Protokoll läuft aus. Wir sind nicht soweit – das wird in Durban leider nicht passieren –, dasseine Anschlussregelung für das Kioto-Protokoll gefun-den wird.

Das heißt nichts anderes – das bringt für Europa na-türlich schwierige Situationen mit sich –, als dass geradedie großen Emittenten der Zukunft, teilweise auch schonder Gegenwart, wie China, Indien, Brasilien usw., imAugenblick noch nicht bereit sind, bindende internatio-nale Abkommen zur Reduktion oder aber zur Begleitungihrer CO2-Emissionen einzugehen. Das bedeutet, dasswir leider eine Welt bekommen werden, in der zwar dieBedeutung der neuen Wirtschaftskräfte, der aufstreben-den Ökonomien wirtschaftlich größer wird, aber diesnicht mit einer entsprechenden Beteiligung auch an denFragen der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes ein-hergeht.

Europa wird hier einen sehr klaren Kurs fahren. Un-sere Reduktionsziele stehen fest. Diese werden wir nichtändern. Wir werden sie auch weiterhin international bin-dend halten. Aber wenn wir uns anschauen, dass dereuropäische Anteil an der Weltproduktion tendenziellabnehmen wird, dann ist schon heute sicher: Das2-Grad-Ziel im Klimaschutz kann man nicht erreichen,wenn nicht die aufstrebenden Ökonomien bereit sind,bindende Verpflichtungen einzugehen.

Deshalb geht es jetzt in Durban vor allen Dingen da-rum, den ärmsten und gefährdetsten Ländern weiterzu-helfen. Wir müssen auf dem Weg, den wir in Kopenha-gen gefunden haben, dem sogenannten CopenhagenAccord, mit freiwilligen Verpflichtungen weitergehen.Aus diesen Verpflichtungen wird aber klar, dass dann,wenn ihnen nichts hinzugefügt wird, das 2-Grad-Ziel biszum Jahre 2050 nicht erreicht werden kann.

Meine Damen und Herren, wenn wir uns die internati-onale Situation ansehen, dann sind neben dem Klima-schutz und der Bewältigung der Finanzkrise auch im si-cherheitspolitischen Bereich intensive Entwicklungen zubeobachten. Das ist auf der einen Seite der sogenanntearabische Frühling mit Höhen und auch mit Enttäu-schungen. Ich will ausdrücklich sagen, dass die Wahl zur

parlamentarischen Versammlung in Tunesien ein ausge-sprochen erfreuliches Ereignis war. Wir beobachten mitBangen die Entwicklung in Ägypten. Wir sehen mitSchrecken die Entwicklung in Syrien. Ich will ganz ein-deutig sagen, dass die gesamte Bundesregierung mitaller Kraft daran arbeitet, dass wir endlich eine UN-Sicherheitsratsresolution gegen die Menschenrechtsver-letzungen in Syrien bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Es ist nicht mehr verständlich, dass das, was dort pas-siert, nicht endlich auch in Form einer UN-Sicherheits-ratsresolution geahndet wird.

Der Bundesaußenminister wird Gastgeber einer Kon-ferenz über die Zukunft Afghanistans sein.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das darf er noch?)

Diese Afghanistan-Konferenz in Bonn wird vor allenDingen den politischen Prozess hin zu einem friedlichenund stabilen Afghanistan im Fokus haben. Hier sind vonder deutschen Seite sehr große Anstrengungen erbrachtworden. Wir werden dafür auch international sehr geach-tet. Ich glaube, es ist wichtig, noch einmal in Erinnerungzu rufen: Wir sind in Afghanistan wegen Afghanistan,aber auch wegen unserer eigenen Sicherheit. Deshalbbleibt es in unserem Interesse, auch nach 2014 Afghani-stan zur Seite zu stehen, um nicht wieder einen Staat zuhaben, der nicht stabil ist und von dem internationalerTerrorismus ausgehen kann.

Meine Damen und Herren, wir wissen, dass unsereSoldatinnen und Soldaten nicht nur in Afghanistan, abervor allem auch dort ihren Dienst tun. Deshalb möchteich auch in dieser Debatte noch einmal daran erinnern,dass wir 2011 bereits sieben Gefallene haben und seitBeginn der Mission 52 Soldaten zu Tode gekommensind, davon 34 durch Feindeinwirkung. Ich möchte dieGelegenheit nutzen, unseren Soldatinnen und Soldatenfür ihren Dienst in unserem Interesse ein herzliches Dan-keschön zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin sehr froh, dass sich heute schon abzeichnet, dasswir, wenn wir im Dezember und Januar die nächste Ver-längerung des Afghanistan-Mandats diskutieren, dieZahl unserer Soldaten verringern können: von heute ma-ximal 5 350 auf 4 900 mit weiteren Reduzierungen biszum Ende des Mandatszeitraums. Ich bedanke mich beiallen, die sich mit dem Gedanken tragen, dies zu unter-stützen. Je breiter dieses Mandat vom Hohen Haus getra-gen wird, desto besser ist es für die Soldatinnen und Sol-daten.

Wir haben als eine der großen Reformen dieser Legis-laturperiode die Bundeswehrreform zu nennen. Wir wis-sen, dass wir natürlich mittelfristig Einsparungen haben.Aber ich will ausdrücklich sagen – ich danke auch allenin den Wahlkreisen und Ländern, die dies bei der Um-

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strukturierung eingesehen haben –, dass es keine Um-strukturierung ohne Veränderung gibt. Ich will dem Bun-desverteidigungsminister dafür danken, dass er diesdurch gute Vorbereitung und Einbindung so gestaltet hat,dass sich die Schmerzen, die damit verbunden sind, inGrenzen halten und die Einsicht in die Reform über-wiegt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Natürlich müssen wir auch in Deutschland unserenBeitrag für die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinentsund unseres Landes leisten. Dabei stehen zwei Fragenim Vordergrund. Die eine heißt: Wovon wollen wir inDeutschland in Zukunft leben? Wir sind ein Land, indem sich die Bevölkerungszusammensetzung verändert.Wir werden mehr Ältere haben und weniger Jüngere.Wir werden eine vielfältigere Bevölkerung haben, weilder Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund zu-nimmt, und wir werden weniger werden. Darauf müssenwir uns in allen Facetten vorbereiten.

Wenn wir uns fragen, wovon wir leben wollen, dannist sicherlich eine der großen und hier im Hause parteiü-bergreifend entschiedenen Veränderungen die unsererEnergiepolitik gewesen. Wir haben verstanden, dass wirin den nächsten Jahren diesen Wandel hin zum Zeitalterder erneuerbaren Energien gestalten müssen. Das gehtnicht mit Nein, sondern nur mit Ja. Deshalb hat die Bun-desregierung einen Monitoringprozess in Gang gesetzt.Wir werden jährlich dem Parlament berichten. Die Ar-beit ist noch nicht getan. Der Bundeswirtschaftsministerund der Bundesumweltminister werden gemeinsam die-sen Prozess mit aller Intensität voranbringen. Wir wer-den auch Konflikten nicht aus dem Wege gehen, die da-mit verbunden sind, dass neue Infrastruktur gebautwerden muss. Ohne die wird das Zeitalter der erneuerba-ren Energien nicht zu erreichen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich glaube, es ist auch gut, dass wir in der Endlager-frage ein neues Herangehen vereinbart haben. Hier wirdes in Gesprächen mit den Ländern bis zum Sommer kon-krete Ergebnisse geben. Ich sage ganz ausdrücklich: DerUmstieg auf die erneuerbaren Energien ist eine Genera-tionenaufgabe. Das wird in einer Legislaturperiodeselbstverständlich nicht zu machen sein.

Ein Zweites im Zusammenhang mit der Frage, wovonwir leben wollen: Wir müssen die Aufmerksamkeit dar-auf lenken, dass wir in vielen Bereichen heute von derSubstanz leben. Deshalb ist es ein ganz wichtigerSchwerpunkt in diesem Haushalt, dass wir mehr in dieVerkehrsinfrastruktur investieren. Nur so werden wir alsein Land im Zentrum Europas überhaupt wettbewerbsfä-hig sein. Das ruft bei den Grünen nur ein schmales Lä-cheln hervor, weil man darauf nicht so viel Wert legt,

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was?)

angefangen von den Autobahnen bis hin zu den Bahnhö-fen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber wir sind davon überzeugt, dass wir ohne moderneInfrastruktur kein Land mit Wohlstand sein können. Des-halb ist die Verkehrsinfrastruktur ein wesentlicher Be-standteil der Frage, wovon wir morgen leben wollen.

(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Moderne Infrastruktur!)

Wir sind uns vielleicht mehr einig darüber, dass un-sere Zukunftschancen, auch angesichts der demografi-schen Veränderungen, vor allen Dingen in dem Erfolgbei Innovation, in der Kreativität der Menschen in unse-rem Lande und in der produktiven Unruhe, weiter nachder besten Lösung zu suchen, liegen. Die Bundesregie-rung ist genau auf dem richtigen Pfad, wenn sie in dieserLegislaturperiode 6 Milliarden Euro mehr für Forschungund 6 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgibt. Dasgab es bisher in der Geschichte der Bundesrepublik nochnie. Die Ausgaben dafür sind höher denn je. Das sindZukunftsinvestitionen, die wir dringend brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wissen, dass wir angesichts der demografischenVeränderungen darauf achten müssen, dass Kinder mitMigrationshintergrund einen guten Schulabschluss ha-ben, die deutsche Sprache vernünftig lernen und in dieArbeitswelt integriert werden. Wir wissen, dass wir un-ter 3 Millionen Arbeitslose haben – eine so niedrige Zahlhat es seit der deutschen Einheit nie gegeben –,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

dass wir mit über 41 Millionen Menschen im Übrigenmehr Erwerbstätige haben, als wir jemals hatten, unddass die Zahl der versicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnisse deutlich zugenommen hat. Aber wirwissen auch, dass wir noch viel zu tun haben. Die Aus-gaben im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit sinken aneinigen Stellen, aber durch die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze sinken sie in der Summe nicht so, wie wir uns dasvorstellen. Deshalb liegt der Fokus auf der Bekämpfungder Langzeitarbeitslosigkeit und in ganz besondererWeise auf der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit derer,die jung sind und noch ein langes Leben vor sich haben.Diese müssen in Arbeit gebracht werden. Dabei habenwir Erfolge vorzuweisen.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Ich weiß gar nicht, warum Sie so schreien. Ich erinneremich an die Schröder-Zeit und daran, wie Sie in SachenArbeitslosigkeit dastanden. Wir haben die Zahl der ju-gendlichen Arbeitslosen halbiert. Das hätten Sie einmalschaffen sollen. Das waren sieben verschwendete Jahrein diesem Bereich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir bieten Chancen für junge Menschen. Deshalbwerden wir da weitermachen. Gleichzeitig wissen wir,dass wir auch einen Fachkräftebedarf haben und um diebesten Köpfe auch von außen werben müssen. Deshalbhaben wir zwei Dinge gemacht: Erst einmal haben wirdie Berufsabschlüsse derjenigen anerkannt, die aus ei-nem anderen Land kommen und dort ihren Berufsab-

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schluss erworben haben. Auch dazu hätten Sie siebenJahre Zeit gehabt, wenn Ihnen das so am Herzen gelegenhätte. Sie haben das nicht gemacht. Die Bundesbildungs-ministerin hat es jetzt in mühevoller Kleinarbeit ge-macht. Wir haben auch die Länder dafür gewonnen, demzuzustimmen. Jetzt muss es nur noch umgesetzt werden.Das ist ein Riesenerfolg, weil Menschen in Zukunft end-lich wieder entsprechend ihrer Qualifikation arbeitenkönnen. Das sind wir diesen Menschen schuldig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gleichzeitig werden wir die Blue-Card-Richtlinie umset-zen und die Gehaltsschwelle für diejenigen, die nachdrei Jahren durch eine Überprüfung, ob sie auch wirklichArbeit haben, eine Niederlassungserlaubnis bekommen,von 66 000 Euro auf in Zukunft 48 000 Euro absenken.Auch das ist eine Reaktion auf die Erfordernisse.

Wir werden auch intensiv an dem Thema Integrationweiterarbeiten. Ende Januar wird der nächste Integra-tionsgipfel stattfinden. Wir werden von der Situationwegkommen, nur Einzelfälle zu betrachten, und künftigganz klare Zielvorgaben machen, was wir bei der Inte-gration erreichen wollen. Auch das ist eine Weiterent-wicklung.

Wir wissen: Vorbereitung auf den demografischenWandel heißt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Wir ha-ben bereits in der letzten Legislaturperiode mit der Rentemit 67 darauf reagiert. Wir tun das jetzt mit einer Erwei-terung der Pflegeleistungen. Zum ersten Mal werden wirsowohl für die Betroffenen von Demenzerkrankungenals auch für die pflegenden Angehörigen und die Be-schäftigten in den Pflegeheimen die Leistungen deutlicherweitern. Zwar kann man immer sagen, das sei zu we-nig. Aber es ist erst einmal das richtige Signal, um Men-schen und ihren Angehörigen zu helfen, die heute vonder Pflegeversicherung nicht erfasst werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir werden einen Einstieg in die private Vorsorgevornehmen. Die Arbeiten zum neuen Pflegebegriff wer-den in dieser Legislaturperiode abgeschlossen werden.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie arbeiten mit Hochdruck!)

– Herr Kuhn, man kann so tun, als ob dies einfach wäre.Das ist es aber nicht. Ich habe mich sehr intensiv damitbeschäftigt. Man kann nicht einfach einen neuen Pflege-begriff einführen, in dessen Folge es anschließend vielenbesser geht, viele aber auch schlechter dastehen alsheute. Das wollen wir nicht. Wir machen das gründlich,damit wir für die Pflegenden nicht eine einzigartige Ent-täuschung produzieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit der Familienpflegezeit haben wir ein wichtiges Sig-nal zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesetzt.

Ich möchte noch ein Wort zur Wahlfreiheit und zumBetreuungsgeld sagen. Als wir damals das Elterngeldeingeführt haben, hat jeder das schwedische Vorbild inden höchsten Tönen gelobt und gesagt, dass man vonden skandinavischen Ländern fürchterlich viel lernen

könne und dass die das prima machten. Die machen dasim Übrigen auch prima, was die Vereinbarkeit von Berufund Familie angeht. Aber schauen Sie sich bitte einmaldie Regelungen an: Dort gibt es das Elterngeld und dasBetreuungsgeld. Das gibt es in Schweden, in Finnlandund in Norwegen. Wollen Sie uns etwa erzählen, dassdas die Länder sind, in denen man Familienpolitik somacht, wie Sie es nicht wollen? Man sorgt für die Ver-einbarkeit von Beruf und Familie und für Wahlfreiheit.Akzeptieren Sie das doch einmal! Machen Sie keine Ro-sinenpickerei – Elterngeld ja, aber ansonsten ist es dasLetzte, was wir machen. Das, was Sie tun, ist nicht fair.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man kann sagen – daran kommt niemand vorbei –,dass sich die Situation in Deutschland in den letzten Jah-ren verbessert hat, obwohl wir noch viele große Aufga-ben vor uns haben und obwohl wir bereits viele Schrittein Richtung einer nachhaltigen Politik gegangen sindund die Nachhaltigkeitslücken noch längst nicht an allenStellen geschlossen haben.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: NachhaltigerUnsinn ist das! – Gegenruf des Abg. VolkerKauder [CDU/CSU]: Unsinn ist das, was Siesagen!)

Nach vielen Einschränkungen in der Wirtschafts- undFinanzkrise ist es erfreulich – Sie werden nicht bestrei-ten, dass das erfreulich ist –, dass die Realeinkommen inDeutschland in diesem Jahr gestiegen sind und auch imnächsten Jahr steigen werden.

Jetzt kommen wir zu einem ganz spannenden Punkt:

(Zurufe von der SPD: Oh! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das wurde auch Zeit!)

Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, dassdie Regelsätze für das Arbeitslosengeld II jedes Jahr an-zupassen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat unsschon vor vielen Jahren aufgegeben, dass angesichts derLebenshaltungskosten nicht nur die Regelsätze für Lang-zeitarbeitslose anzupassen sind, sondern genauso derGrundfreibetrag im Steuersystem.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn Sie den Menschen in Deutschland ernsthaft sagenmöchten: „Wir tun etwas für die, die leider keine Arbeithaben, aber für die, deren Verdienst im Eingangssteuer-bereich liegt, tun wir nichts“, dann können wir das gernein der Öffentlichkeit austragen. Ich sage Ihnen unter demMotto „Wer arbeitet, muss mehr haben als dann, wenn ernicht arbeitet“: Wir werden dafür Mehrheiten bekom-men. Dass man den Grundfreibetrag angleichen muss, istüberhaupt keine Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn der Hartz-IV-Satz um 10 Euro steigt und die Steu-erentlastung nur 4 Euro beträgt, dann werden Sie eherMühe haben, das zu erklären. Ich würde an Ihrer Stellenicht zu laut davon sprechen, sondern sagen: 4 Euro sinddas Mindeste, was man machen muss.

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Wenn Sie sich den Verlauf der Steuerprogression imEingangssteuerbereich anschauen – den kennen Sie ge-nauso gut wie wir –,

(Sigmar Gabriel [SPD]: Einsparungen!)

und den Menschen sagen wollen: „Wir heben denGrundfreibetrag an; das müssen wir machen, weil unsdas Bundesverfassungsgericht das abverlangt“, Sie abernicht bereit sind, Verschiebungen vorzunehmen, sodassdie Progression nicht mehr steigt, dann diskutiere ich mitIhnen darüber wieder gerne in der Öffentlichkeit.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Einsparungen!)

Das sind die Belastungen, die auf die Kommunen unddie Länder zukommen. Weil wir uns freuen, dass dieBruttolöhne im Jahr 2011 im Durchschnitt um 3,4 Pro-zent steigen, aber auch wissen, dass wir eine Inflations-rate von 2,3 Prozent haben, wollen wir in Zukunft das,was durch die Inflation verloren geht, durch eine weitereVerschiebung des Steuertarifs kompensieren. Weil wirwissen, dass die Kommunen und die Länder den darausresultierenden Steuerausfall wahrscheinlich nicht aus-gleichen können, sagen wir: Der Bund übernimmt dasganz. – Das ist das, was wir für die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in der Republik tun, die in der Kriseviel geleistet haben. Ich finde das nicht nur vernünftig,sondern auch absolut gerecht. Steuergerechtigkeit, da-rum geht es.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, nun möchte ich auf daseingehen, was Sie zu den Verschuldungsraten und denAusgabepositionen gesagt haben. Die Steigerung imBundeshaushalt lag in der Vergangenheit bei 1 Prozent.

(Klaus Hagemann [SPD]: Und die Schulden?)

Das wurde zu Ihren Zeiten so gut wie nie erreicht, um esganz vorsichtig zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir uns aufgrund der Tatsache, dass das Wirt-schaftswachstum in diesem Jahr stärker ist, als wir prog-nostiziert haben, dafür entscheiden, das zusätzliche Geldnicht in letzter Minute auszugeben, um die Verschuldungzu verringern, und sagen: „Wir haben eine geringereVerschuldung, weil wir ein höheres Wachstum haben,und nächstes Jahr eventuell eine höhere Neuverschul-dung, weil das Wachstum dann wieder geringer ist“,dann ist das ehrlich. Dann finde ich das richtig, und dannist Ihre Argumentation wohlfeil.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es um Europa und Deutschland geht, ist Ihre Ar-gumentation an Doppelzüngigkeit nicht zu überbieten.Wenn Sie über Griechenland, Portugal, Spanien und an-dere Länder sprechen, dann sagen Sie jedes Mal mit Trä-nen in den Augen, wie schlimm es ist, dass dort keinWachstum mehr stattfinden kann, weil man dort die Ver-schuldung abbauen muss, und was es für eine üble PolitikDeutschlands ist, darauf zu beharren, dass die Stabilitäts-kriterien wieder eingehalten werden. Wenn gleichzeitigwir die Stabilitätskriterien einhalten und uns ganz

Europa bittet – weil wir das können –, wenigstens danneinen Beitrag zum Wachstum zu leisten, dann werfen Sieuns das vor. Das passt nicht zusammen, meine Damenund Herren. Das werden wir auch immer wieder sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sig-mar Gabriel [SPD]: Sie machen ja nichts! Siemachen ja immer nur Schulden!)

Jeder in Europa sagt: Ihr habt glücklicherweise nochWachstum, könnt einen Beitrag leisten und unsere Pro-dukte kaufen. – Denn inzwischen ist unser Wachstumnicht mehr exportgetrieben.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Sagen Sie das eigent-lich auch der Bundesbank? Was sagt HerrWeidmann dazu?)

– Ich habe die Eigenschaft, überall gleich zu sprechen,ob ich mit Ihnen rede, mit meinen politischen Freunden,mit der Bundesbank oder mit meinen europäischen Kol-legen. Das macht mein Leben so einfach, weil ich über-all gleich spreche und nicht doppelzüngig spreche. Dasist mein Vorteil.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unser Wachstum ist inzwischen binnenmarktgetrie-ben; das ist gut, und das ist richtig. Wir tun im Rahmendessen, was wir können, das, was dazu notwendig ist.

Wir müssen die Fragen beantworten: Wovon wollenwir morgen leben? Wie wollen wir morgen zusammen-leben? Die Bundesregierung geht da Schritt für Schrittvoran. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird weiterso sein, auch im nächsten Jahr, dass wir vor riesigenHerausforderungen in einer Welt stehen, die sich massivändert. Es gibt Herausforderungen, mit denen sich nochkünftige Generationen beschäftigen werden. Aber wirkönnen sagen: Unser Land hat gute Ausgangsbedingun-gen. Die christlich-liberale Koalition stellt sich mit Ent-schlossenheit genau dieser Aufgabe. Ich sage Ihnen: Un-ser Ziel ist eine menschliche Gesellschaft und eineerfolgreiche Gesellschaft – das ist die Botschaft an dieMenschen in unserem Land –, und dafür werden wirweiter arbeiten.

Herzlichen Dank.

(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Klaus Ernst (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich möchte als Erstes ausaktuellem Anlass auf Ihre Aussagen zum Rechtsterroris-mus in unserem Land eingehen. Sie haben hier richtiger-weise die Gemeinsamkeit der Demokraten angespro-chen. Das freut mich. Es ist uns gestern gelungen, hiereine gemeinsame Erklärung zu verabschieden.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16921

Klaus Ernst

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Allerdings, Frau Merkel, muss sich diese Haltung inIhrer Partei noch herumsprechen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Vor einigen Wochen ist in Sachsen aber mit ZustimmungIhrer Fraktion und mit Zustimmung der NPD die Immu-nität des Fraktionsvorsitzenden der Linken aufgehobenworden, weil er sich gegen die braune Brut in Deutsch-land zur Wehr gesetzt hat, auch mit seiner Anwesenheitbei Demonstrationen. Das ist alles andere als die von Ih-nen angesprochene Gemeinsamkeit der Demokraten.

(Beifall bei der LINKEN)

Was wir jetzt brauchen, Frau Merkel und liebe Kolle-ginnen und Kollegen der CDU, der CSU und der FDP,ist, dass wir die Menschen in unserem Land deutlichstärken, die sich auch außerhalb der Parlamente gegenNeofaschismus wehren – oft begibt man sich in Gefahr,wenn man das tut –, und dass wir ein Signal geben, dassdas gesamte Parlament, alle Parteien, alle Fraktionen,alle Abgeordneten in Deutschland, die Demokraten sind,diese Menschen in unserem Land unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Solange wir da unterscheiden und solange wir da einePolitik machen, wie sie Ihre Regierung betreibt, indemSie die Menschen, die Unterstützung bräuchten, unterGeneralverdacht stellen, wenn es um die Frage geht, obsie Geld und Unterstützung des Staates bekommen,wenn sie sich bei Projekten oder Ähnlichem engagieren,so lange ist es mit der Solidarität und mit der Zusam-menarbeit aller Demokraten noch nicht weit her. Des-halb sage ich: Ändern Sie an dieser Stelle Ihre Politik!Sorgen Sie dafür, dass wir den Geist der Entschließung,die wir gestern hier verabschiedet haben, tatsächlich um-setzen und dass wir alle gemeinsam in diese Richtunggehen! Nur dann hat das Sinn; sonst lassen wir die Men-schen alleine, die sich gegen Neofaschismus wehren.

(Beifall bei der LINKEN)

Einen zweiten Punkt muss ich ansprechen, weil ichIhnen das so nicht durchgehen lassen kann, Frau Merkel:die Steuersenkungen. Ja, wir sind mit Ihnen der Auffas-sung – auch wenn Sie das nicht sonderlich zu interessie-ren scheint –, dass es notwendig ist, Steuergerechtigkeitin unserem Lande wiederherzustellen. Ein Punkt dabeiist, dass wir mit Blick auf die Steuerprogression durchden sogenannten Mittelstandsbauch im Steuertarif einevernünftige Regelung finden müssen. Wir sind auch derAuffassung, dass es notwendig ist, den Spitzensteuersatzneu zu regeln. Aber wir unterscheiden uns hier deutlichvon Ihnen, weil wir meinen, dass man, wenn man solcheVorschläge in der jetzigen Haushaltslage der Bundesre-publik Deutschland einbringt, auch erklären muss, woman das Geld dafür hernehmen will. Diese Erklärungbleiben Sie schuldig. Sie machen Geschenke, ohne siegegenzufinanzieren. Wenn wir solche Vorschläge ma-chen würden, wäre was los in diesem Haus. Aber Sieglauben, Sie könnten sich das leisten. Das ist nicht ak-zeptabel.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Merkel, Sie haben wenig darüber gesprochen,wie es den Menschen in unserem Lande wirklich geht.Wie geht es zum Beispiel den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern in diesem Land? Sie haben gesagt, künf-tig würden die Reallöhne steigen. Zum zweiten Mal inder Geschichte der Republik mussten trotz eines Auf-schwungs, den Sie – insbesondere die Kolleginnen undKollegen von der FDP – so gerne loben, die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer seit 2008 einen Reallohn-verlust von 1,5 Prozent hinnehmen. Sie haben nach die-sem Aufschwung weniger in der Tasche als vorher. Dasist Ausdruck des Zustands unseres Landes. Wir habeninsbesondere Einkommensverluste im Niedriglohnsektorzu verzeichnen. Jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte in un-serem Lande arbeitet für weniger als 1 800 Euro brutto.Jeder dritte Arbeitnehmer verdient so wenig, dass er imAlter mit einer Rente unterhalb der Grundsicherungrechnen muss. Seit 2005 hat Deutschland rund 60 Milli-arden Euro ausgegeben, um die Einkommen wegen derDumpinglöhne wenigstens auf Sozialhilfeniveau aufzu-stocken, weil es keinen allgemein verbindlichen Min-destlohn gibt. Frau Merkel, mit dem, was Sie auf IhremParteitag abgezogen haben, als Sie so getan haben, alswürden Sie einen Mindestlohn einführen, führen Sie dieLeute hinter die Fichte. In Wirklichkeit verweigern Siedie Einführung eines allgemein verbindlichen Mindest-lohns in Deutschland – vor und nach Ihrem Parteitag.Das ist die Wahrheit, und das werden wir den Menschenauch sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Michael Sommer, der Vorsitzende des DGB, hat recht,wenn er sagt, Arbeit in diesem Land sei inzwischen sobillig wie Dreck geworden, und diese Regierung trägtdie Verantwortung dafür.

Kommen wir zu den Rentnerinnen und Rentnern. Sietun so, als würde sich die Lage der Rentnerinnen undRentner verbessern, weil sie im nächsten Jahr eine saf-tige Rentenerhöhung bekommen. Die Realität ist: DieRentenerhöhung 2012 wird nur knapp die erwartete In-flation ausgleichen. Das heißt, die Lage der Rentnerin-nen und Rentner wird sich nicht verbessern. Die Be-standsrenten sind seit Ende 2008 real um 1 Prozentgesunken, seit der Jahrtausendwende nach Auskunft derBundesregierung um 7 Prozent. Das heißt, die Lage derRentnerinnen und Rentner in unserem Land verschlech-tert sich ebenso wie die Lage der abhängig Beschäftig-ten.

Jetzt können wir uns noch darüber unterhalten, obvielleicht die Arbeitslosen besonders von dem Auf-schwung profitieren; denn Sie brüsten sich ja damit, dasswir zusätzliche Beschäftigung in unserem Land haben.Ja, die haben wir, und darüber freuen wir uns auch. Wirfreuen uns aber nicht darüber, welcher Art diese zusätzli-che Beschäftigung ist. Jede dritte offene Stelle, die beiden Arbeitsagenturen gemeldet ist, ist inzwischen nurnoch ein Leiharbeitsjob. In Deutschland haben wir einenAufschwung bei der prekären Beschäftigung zu ver-zeichnen: Minijobs, Leiharbeit, befristete Jobs, Teilzeit-arbeit. Das ist die Realität der Menschen in unseremLand. Jeder zweite Arbeitnehmer unter 24 Jahren hat nur

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noch einen befristeten Arbeitsvertrag. Über solche Zu-stände am Arbeitsmarkt kann man sich offensichtlichnur freuen, wenn man ein Parteibuch der CDU oder derFDP hat. Die Menschen freuen sich darüber nicht; siewollen vernünftige Arbeitsplätze und gute Arbeit. Diesverhindern Sie mit Ihrer Deregulierungspolitik am Ar-beitsmarkt.

(Beifall bei der LINKEN)

Außerdem möchte ich mit Blick auf das Leistungsniveaudarauf hinweisen, dass natürlich auch die Erhöhung desArbeitslosengeldes II die Inflation der letzten Jahre nichtausgleicht und damit auch die Arbeitslosengeld-II-Be-zieher weniger haben als vorher.

Wo, bitte schön, ist dann Ihr Aufschwung, Frau Mer-kel? Wo, bitte schön, geht es allen Menschen besser?Das versprechen Sie doch so gerne.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Lohn-quote eingehen, also den Anteil der Löhne und Gehälteram Volkseinkommen. Die Lohnquote hat sich von 2000bis 2010 von 72 auf 66 Prozent verringert. Das bedeutet:Hätten wir noch die alte Verteilungsrelation, hätten imJahr 2010 die Arbeitnehmer in der Summe 112 Milliar-den Euro mehr gehabt. Sie haben mit Ihrer Politik desLohndumpings dazu beigetragen, dass die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer massive Einbußen bei ihremLohneinkommen hinnehmen mussten.

Frau Merkel, Sie haben einen großen Teil Ihrer Rededer Finanzkrise gewidmet. Das möchte ich auch machen.Diese Haushaltsdebatte steht unter dem Eindruck derschwersten Finanzkrise, die Europa seit dem Ende desKrieges erlebt hat. Was offensichtlich zu Ihnen nochnicht durchgedrungen ist – das sagen Ihnen auch alle an-deren –, ist die Tatsache, dass wir offensichtlich amRande einer neuen schweren Rezession stehen.

Wer sich anschaut, wie diese Regierung in der Kriseagiert, der muss unweigerlich den Eindruck bekommen,dass die Regierung weder vernünftige Analysen nocheine vernünftige Strategie hat. Frau Bundeskanzlerin, esstimmt ja möglicherweise, dass Sie immer dasselbe sa-gen. Aber das bezieht sich immer nur auf einen be-stimmten Zeitraum. Denn jedes halbe Jahr erzählen Siehier im Bundestag das Gegenteil von dem, was Sie einhalbes Jahr zuvor gesagt haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Das gilt insbesondere bei der Bewältigung der Finanz-krise.

In der letzten Legislaturperiode haben Sie noch jedeRegulierung der Finanzmärkte abgelehnt. Inzwischenfordern Sie selbst eine Regulierung der Finanzmärkte.Anfang 2010 haben Sie noch jede Hilfe für Griechenlandabgelehnt. Inzwischen haben wir ein Vielfaches unseresSteueraufkommens dafür verpfändet.

Heute sperren Sie sich als einzige Regierung gegenEuro-Bonds und eine Direktfinanzierung der Euro-Staa-ten durch die EZB. Ich prophezeie Ihnen, Frau Merkel:Diese Position werden Sie kein halbes Jahr mehr durch-halten. Wenn Sie sie jedoch durchhielten, würden Sie

den Bestand der gemeinsamen europäischen Währunggefährden.

Hätten Sie die Forderungen der Linken schon früheraufgegriffen, dann wären wir nicht in der jetzigen Situa-tion.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt wäre bei Ihnen endlich einmal etwas Einsicht nötig.Sie müssen erkennen, dass die Maßnahmen, die Ihre Re-gierung den anderen Staaten, insbesondere Griechen-land, aufoktroyiert, gescheitert sind, und damit auch IhrePolitik.

Sie wollten mit Ihrer Politik – auch mit Ihrer Aufla-genpolitik – die Schulden Griechenlands verringern. Dashat im Ergebnis dazu geführt, dass die Schulden Grie-chenlands – neuester Stand von gestern – einen Rekord-stand von 360 Milliarden Euro erreicht haben; das sind165,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Frau Merkel,die Politik, die Sie Europa verordnen, ist gescheitert. DerSchuldenstand steigt, und das wissen Sie selbst ganz ge-nau.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Kern ist diese Krise eine Krise der entfesselten Fi-nanzmärkte. Wo liegen die Ursachen für diese Problema-tik? Um sich das klarzumachen, muss man einen Blickauf das werfen, was zwischen 2000 und 2010 inDeutschland passiert ist. Die Reallöhne sind um 4,5 Pro-zent nach OECD-Erkenntnissen gesunken. Deutschlandwar damit das einzige Industrieland mit sinkenden Löh-nen.

Gleichzeitig hat Deutschland im selben Zeitraum1,5 Billionen Euro an Auslandsüberschüssen aufgebaut.Mit anderen Worten: Die deutsche Wirtschaft hat für1,5 Billionen Euro mehr exportiert als importiert. Fazit:Ja, die Deutschen sind Exportweltmeister. Darüber kön-nen wir uns freuen.

Leider aber sind wir Exportweltmeister, weil wir auchWeltmeister im Lohndumping sind. Das ist eine der Ur-sachen für die Verwerfungen in Europa. Der Zusammen-hang ist sehr einfach: Die deutsche Wirtschaft hat sichmit sinkenden Löhnen Wettbewerbsvorteile auf Kostender europäischen Nachbarn verschafft.

An dieser Stelle möchte ich Herrn Trittin zitieren.

(Zuruf von der CDU/CSU)

– Bei seiner Rede haben Sie damals auch genölt. – Erhat recht. Er hat nämlich gesagt: Die Defizite der einensind die Überschüsse der anderen.

Wer wissen will, was das im Einzelnen bedeutet, dersollte einmal nach Griechenland fahren. Ich habe das inder letzten Woche gemacht. Dort konnte ich erleben,dass man im griechischen Supermarkt inzwischenMilch, Joghurt und Wurst aus Deutschland einkaufenkann. Wir haben die Situation, dass Deutschland seineLebensmittelexporte nach Griechenland seit 2000 fastverdoppelt hat. Es ist unglaublich.

Ob Sie es hören wollen oder nicht, meine Damen undHerren: Diese Krise hat ihren Ausgangspunkt auch in

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Deutschland. Sie wird auch das Gesicht dieses Landesverändern. Das deutsche Entwicklungsmodell – Wachs-tum auf Kosten der eigenen Arbeitnehmer und der be-nachbarten Volkswirtschaften – ist an sein Ende gekom-men. Vor diesem Ende stehen wir jetzt.

(Beifall bei der LINKEN)

Das haben alle in Europa begriffen, aber Ihre Regie-rung nicht. Nichts spricht mehr Bände als das, was dieVertreter dieser Regierung selbst zu diesem Thema zumBesten geben. Ich zitiere hier stellvertretend den Wirt-schaftsminister, Herrn Rösler. Er sagte in der letzten Wo-che der Süddeutschen Zeitung – ich habe es fast nicht ge-glaubt –:

Ich bin bei Wirtschaftsministertreffen immer dereinzige, der Exportüberschüsse gut findet.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)

Da kann ich nur sagen: sehr schlau. Er merkt gar nicht,dass wir mit den Exportüberschüssen, die wir in Deutsch-land produzieren, die Probleme der anderen verursachen.Man denkt bei solchen Aussagen unwillkürlich an denGeisterfahrer auf der Autobahn, der im Radio hört: Ihnenkommt ein Fahrzeug entgegen. Der Geisterfahrer sagt:Was heißt denn hier „ein Fahrzeug“? Hunderte! – Genauso ist die Situation in der Bundesregierung.

(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Oh, was für ein Unsinn!)

Die zweite Ursache für die Probleme, die wir an denFinanzmärkten zu konstatieren haben, liegt im Verhält-nis der Staaten und ihrer Finanzierung. Wie ist der Zu-sammenhang? 2008 und 2009 mussten alle Staaten mitviel Geld das Bankensystem retten. Allein in Deutsch-land stieg der Schuldenstand um 265 Milliarden Euro,wohlgemerkt ohne Rettungsschirm. Die Staaten rettetendie Banken mit Geld, aber sie hatten das Geld nicht. DieStaaten borgten sich das Geld bei den Banken, die sievorher gerettet haben. Jetzt sind wir in der Situation,dass sich die Banken das Geld zu 1,25 Prozent Zinsenbei der Europäischen Zentralbank leihen und es zu Wu-cherzinsen – in Portugal aktuell 20 Prozent für kurzfris-tige Laufzeiten – an die Staaten zurückleihen. Wie be-scheuert sind wir eigentlich, dass wir uns das antun?

(Beifall bei der LINKEN)

Was für ein absurdes System! Wir lassen uns mit Wu-cherzinsen über den Tisch ziehen.

Die Strategie bei der Krisenbekämpfung scheitert je-den Tag aufs Neue. Sie wollen erzwingen, dass die Grie-chen, die Portugiesen, die Spanier, die Franzosen – ja, ir-gendwann auch die Deutschen – die Wucherzinsen derBanken zahlen, und zwar nicht die Millionäre oder dieUnternehmen oder die Gutverdiener, sondern die einfa-chen Leute: die Arbeitnehmer mit ihren Löhnen, dieRentner mit ihren Renten, die Arbeitslosen mit dem Ar-beitslosengeld, die Kranken mit Einschnitten im Ge-sundheitssystem, die Kinder mit dem vernachlässigtenöffentlichen Bildungssystem.

Die Folgen dieser Politik sind sehr dramatisch. Wer indiesen Tagen Athen besucht, der erlebt eine Stadt im Fie-

ber: Die Rentner müssen mit gekürzten Renten die durchSteuererhöhungen drastisch gestiegenen Preise für Güterdes täglichen Bedarfs bezahlen. Die nominalen Rentenim öffentlichen Sektor sanken bis jetzt um 10 Prozent.Die Arbeitslosen werden in Angst und Schrecken ver-setzt, weil sie nach einem Jahr Arbeitslosigkeit sogarihre Krankenversicherung verlieren. Kleine Selbststän-dige werden in den Ruin getrieben. Man sieht leere Lä-den und keine Leute mehr in den Lokalen. Hunderttau-senden droht die Abschaltung des Stroms, weil sie dieneue Sondersteuer nicht zahlen können. Die Jugendar-beitslosigkeit hat sich auf 43,5 Prozent erhöht. 200 000kleine Gewerbebetriebe sind pleite. Frau Merkel, wennSie sich einmal mit der wirklichen Lage in Griechenlandvertraut machen würden, dann würden Sie nicht dieFrage stellen, ob die griechischen Senioren zu früh inRente gehen, sondern würden fragen, ob die griechi-schen Eltern in diesem Winter noch ihre Kinder ernährenkönnen; das ist die Frage, die sich den Griechinnen undGriechen stellt.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben von einem Vertrauensverlust in Europa ge-sprochen. Ja, Frau Merkel, das stimmt: Die Bürgerinnenund Bürger vertrauen Europa nicht mehr, weil sie Eur-opa als Bedrohung empfinden: als Bedrohung für dieEinkommen, die Renten und die Sozialstandards. Des-halb sage ich Ihnen: Lassen Sie diese Politik sein. Wennwir Europa und den Euro wieder auf die Füße stellenwollen, dann müssen wir über Konjunkturmaßnahmenreden, die dazu führen, dass die Menschen in Europa Ar-beit kriegen, und nicht darüber, wie wir den Sozialstaatzerschlagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Letztendlich merken wir, dass es um zwei Dinge geht.Zum einen geht es um die Frage der Zerschlagung derSozialsysteme. Diese Politik wird aber gegen den Willender Bevölkerung durchgesetzt. Frau Merkel, ich fragemich schon, welches Demokratieverständnis Sie haben,wenn Sie und andere Regierungschefs in Europa offen-sichtlich aufs Heftigste protestieren, wenn in Griechen-land die Frage einer Volksabstimmung ins Spiel gebrachtwird, bei der die Menschen selbst darüber entscheidensollen, ob sie sich die Sozialleistungen kürzen. Wäre esnicht sinnvoll, zu sagen: Demokratie heißt auch, dass dieMacht vom Volk ausgeht? Das bedeutet auch, dass dasVolk selbst entscheiden darf, in welche Zukunft es gehenwill.

(Beifall bei der LINKEN)

Genau das wird verhindert.

Welches Demokratiemodell steht uns in Europa be-vor, wenn in Griechenland und Italien – das geschieht in-zwischen auf Druck der Europäischen Union – Regie-rungschefs regieren, die nie kandidiert haben? Sie habensich nie einer Wahl der Bürgerinnen und Bürger gestellt.Welches Demokratiemodell steht uns bevor, wenn manin diesen Ländern inzwischen offensichtlich die Regie-rungsgeschäfte den Bankern überlässt und selbst nichtmehr fragt, ob der eine oder andere auch die politischeQualifikation für das Amt hat, das er ausüben soll? Das,

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Klaus Ernst

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was wir hier erleben, ist eine Kapitulation der Demokra-tie vor den Banken, und Sie befürworten diese, FrauMerkel.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit dieser Politik sind wir dabei, das Demokratie-und Sozialstaatsmodell in Europa zu zerstören. Ihre Hal-tung dazu, Frau Merkel, ist deutlich geworden. Sie ha-ben Anfang September gesagt, man müsse vor allen Din-gen dem Wunsch der Märkte nachkommen, denEuroparettungsschirm marktkonform auszugestalten.Wer bestimmt eigentlich die Richtlinien der Politik?Manchmal habe ich den Eindruck, dass Sie bei diesenFragen Ihre Redezeit vielleicht direkt Herrn Ackermannübertragen sollten. Dann wüssten wir wenigstens, wo ge-nau wir dran sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Leitbild und das Ihrer Regierung ist eine Demo-kratie, die sich im Zweifelsfall dem Willen der Märkteunterordnet. Ihre Doktrin heißt nichts anderes, als die In-teressen der Banker vor die Interessen der Bürger zustellen. Sie haben mit Ihrer Politik der Erpressung daseuropäische Projekt entleert und die EU zum Inkasso-büro der privaten Banken gemacht. Diese Politik wirdsich rächen.

Wir schlagen drei Punkte vor, um die Dinge wieder indie richtige Richtung zu lenken. Erstens. Wir wolleneine Entkopplung der Staatsfinanzierung von den Fi-nanzmärkten. Den Unsinn, den ich vorhin dargestellthabe, wollen wir beenden. Dazu schlagen wir vor, dasswir eine Bank für öffentliche Anleihen gründen, die sichdirekt bei der EZB verschuldet und dann das Geld, dassie von der EZB bekommen hat, zu tragbaren Zinsen un-ter vernünftigen Auflagen an andere Staaten weiterver-leiht. Eine vernünftige Auflage wäre für Griechenlandeben nicht das Senken des Sozialniveaus, sondern fürGriechenland wäre es vernünftig, den Rüstungshaushaltherunterzufahren und die großen Vermögen zu besteu-ern. Das wäre ein anderer Weg, den die Griechen gehenkönnten.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Wir schlagen vor, das Bankensystem künf-tig öffentlich-rechtlich zu organisieren. Es gibt gegen-wärtig nur die Alternative: Entweder übernimmt derStaat die Banken, oder die Banken übernehmen denStaat. So weit sind wir. Die Zukunft in der Bundesrepub-lik Deutschland gehört nicht dem „Modell DeutscheBank“, sondern sie gehört eher dem „Modell Sparkasse“.

Drittens. Wir schlagen einen neuen europäischen Sta-bilitätspakt vor. Ein Staat kann seine Wettbewerbsfähig-keit steigern, ein gemeinsames Europa muss aber nachanderen Regeln funktionieren. Wir müssen letztendlichdafür sorgen, dass es in ganz Europa – so wie es das Sta-bilitätsgesetz in Deutschland vorschreibt – ausgegli-chene Handelsbilanzen gibt.

Sie haben eine gemeinsame Steuerpolitik und eine ge-meinsame Wirtschaftspolitik angesprochen. Dem müssteeine gemeinsame Lohnpolitik folgen. Es kommt vor al-len Dingen darauf an, dass wir uns in Deutschland auf

gemeinsame Mindeststandards verständigen. Wir brau-chen Mindestlöhne, Mindeststeuern und Mindeststan-dards für die soziale Absicherung. Weiter brauchen wireine Vereinbarung, dass Europa nicht ein Europa derWirtschaft und der Banken, sondern ein Europa der Bür-ger wird.

(Beifall bei der LINKEN)Wenn wir das nicht schaffen, dann wird dieses Europa– und zuerst der Euro – auseinanderbröseln.

Ich möchte zum Schluss einen Vorschlag machen, dersehr einfach umzusetzen wäre. Wir wissen, dass die grie-chischen Millionäre ihr Geld ins Ausland – offensicht-lich auch in die Bundesrepublik Deutschland – tragen.Ich schlage vor, dass wir alle Konten von Griechen, aufdenen sich über 1 Million Euro befinden, erst einmaleinfrieren und mit der griechischen Regierung klären, obdieses Geld durch Steuerhinterziehung angehäuft wer-den konnte. Wenn dem so ist, dann führen wir das Geldder griechischen Staatskasse zu. Das reduziert das grie-chische Defizit.

(Beifall bei der LINKEN)Ein Politikwechsel ist dringend notwendig, sowohl in

Deutschland als auch in Europa. Er ist vor allen Dingendeshalb notwendig, weil Sie mit Ihrer Politik den Sozial-staat in Europa zerstören und die Demokratie abbauen.Das führt nicht zu Wohlstand, sondern zu einer Entwick-lung nach rechts in ganz Europa. Das wollen wir verhin-dern.

Ich danke Ihnen für das Zuhören.(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – VolkerKauder [CDU/CSU]: Na, dann mal los! Ver-hindert mal! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt der nächste„freie Radikale“!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Für die FDP-Fraktion erhält nun Rainer Brüderle das

Wort.(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Thomas Oppermann [SPD]: Aber heute malein bisschen sachlich! – Gegenruf des Abg.Volker Kauder [CDU/CSU]: Das müssen Siegerade sagen, Herr Oppermann!)

Rainer Brüderle (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Red-

nerkarussell bei der SPD ist schon putzig. Die KollegenSteinmeier, Gabriel und Steinbrück wechseln sich beiden Kerndebatten ab und halten hier ihre Bewerbungsre-den.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Herr Brüderle, so viel Zeit haben Sie auch nicht!)

Vorpreschen tut keiner. Wenn Schröder, Scharping undLafontaine früher das Trio Infernale waren, dann sindheute Steinmeier, Gabriel und Steinbrück das Trio Im-mobile. Sie machen so etwas wie ein Kanzlerkandida-tenmikado.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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Wer sich von ihnen als Erster bewegt, der hat verloren.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Mensch, du warst auch schon mal besser!)

Herr Gabriel, zwischen Soll und Ist und Soll und Ha-ben besteht ein Unterschied.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist schon wie-der Karneval?)

Im Haushalt 2011 betrug die Ermächtigung zur Kredit-aufnahme 48,4 Milliarden Euro. Das sind 22 MilliardenEuro mehr; denn für 2012 sind rund 26 Milliarden Euroneue Schulden vorgesehen. Das Ist wird niedriger sein.Sie haben in Ihren Reihen immer ein Problem: zwischenSoll und Haben,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

zwischen Soll und Ist und zwischen Mein und Dein. Dasist Ihr historisches Problem.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Gabriel, Sie sagen, die Regierung muss sparen,und verweisen auf Griechenland. Das ist Ihr Job, dafürgibt es auch die Elefantenrunde, aber glaubwürdig ist esnicht. Die SPD-Fraktion hat in diesem Haushalt zusätzli-che Ausgaben in Höhe von 5 Milliarden Euro vorge-schlagen. Das ist Ihre Realität. Einsparvorschläge? Fehl-anzeige! Sie machen nichts!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es gibt Steuererhöhungsvorschläge im halben Dut-zend und mehr. Von Entschuldung sprechen, aber eigent-lich die Schleusen öffnen wollen – so geht das nicht. Wirsind hier nicht bei „Wünsch Dir was“, hier ist „So isses“!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Schlecht ist es!)

Statt der Regierung eine Nase zu drehen, sollten Siesich lieber an die eigene Nase fassen. Als Finanzministerwollte Herr Steinbrück für das Jahr 2012 fast 60 Milliar-den Euro Schulden machen. Wir kommen mit wenigerals der Hälfte aus.

(Thomas Oppermann [SPD]: Wegen des Kon-junkturprogramms, gegen das ihr gestimmthabt!)

Zur Einhaltung der Schuldenbremse liegen wir rund15 Milliarden unter der maximalen Nettokreditauf-nahme. Die christlich-liberale Koalition hält Deutsch-land auf einem Wachstumspfad, und die Konsolidierungwird durchgeführt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Thomas Oppermann [SPD]: Ihr habt am we-nigsten damit zu tun!)

Bei der Wirtschaftsentwicklung verbreitet die Oppo-sition graue Novemberstimmung, aber Sie überzeichnen,Sie malen schwarz.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Draußen herrscht Nebel! Das könnenSie nicht bestreiten! Gehen Sie einmal raus!)

Mit der Realität in Deutschland hat das wenig zu tun.Gesamteuropa mag am Rande einer Rezession stehen,Deutschland nicht. Die deutsche Wirtschaftskraft stabili-siert Europa. Wir wachsen in diesem Jahr noch einmal– das ist außergewöhnlich – um 3 Prozent. Das ist einebemerkenswerte Größe. Nächstes Jahr kommt es eher zueiner Normalisierung und zu einer Abschwächung, dannhaben wir nur noch 1 Prozent Wachstum. Der Arbeits-markt ist mehr als robust. Wir bekommen seit MonatenZahlen, die Lichtjahre von den Ergebnissen von Grün-Rot entfernt sind.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Der Arbeitsmarkt ist robust. Es gab noch nie 41 Milli-onen Beschäftigte in Deutschland. Das hat diese Regie-rung erreicht. Deutschland ist die Bezugsgröße, der si-chere Hafen für die europäische Entwicklung.

Unsere stabilitätspolitischen Vorstellungen sind rich-tig. Das belegt die Entwicklung in Deutschland. Das istein Kraftakt. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich derRegierung Merkel/Rösler dafür, dass wir unsere Partnerhinsichtlich dieser Entwicklung bei der Stange halten.

Andere in Europa wollen die Schuldenkrise mit derNotenpresse lösen. Sie besitzen neuerdings Kreativität:Zuerst wollten sie eine Banklizenz für die EFSF. Das hatDeutschland zu Recht verhindert. Dann ging es um denGriff nach dem Gold der Deutschen Bundesbank. Dashaben wir auch zu Recht verhindert. Andere wollen dieEZB nach dem Vorbild der Fed umgestalten. Auch daswerden wir verhindern. Stabilitätsorientierte Politik fürDeutschland sollte nationaler Konsens sein; das sollteauch auf Ihrer Agenda stehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Steinmeier hat diese Linie im Plenum vertreten.Er hat uns sogar kritisiert. Er hat gesagt, mit der EFSFwürde es zu langsam gehen. Das würde die Notenbankunter Druck bringen. Jetzt kommt Steinmeiers frühererChef, Herr Schröder, aus seiner Ecke hervor und fordert,die Notenpresse anzuwerfen, Geld zu drucken. Das istimmerhin konsequent. Schröder hat den Stabilitätspaktruiniert und die Griechen in die Euro-Zone gelassen.Jetzt den Euro komplett fertigzumachen, zeugt von einergewissen Logik, von einer gewissen Konsequenz; es istaber falsch.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Was Steinmeier sagt, juckt Steinbrück nicht. Ich zi-tiere Steinbrück:

Allerdings zeigen die Fed der USA und die Bank ofEngland, dass in Krisenzeiten genau dies

– gemeint ist die Staatsfinanzierung mit der Notenpresse –

die Rolle von Notenbanken ist.

Zitat Ende. Das erklärt Herr Steinbrück wörtlich in sei-nen Anmerkungen zur Verschuldungs- und Bankenkrise.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ja und?)

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In deutsche Sprache übersetzt heißt das: Steinbrück willwie Frankreich und andere die große Geldkanone anset-zen, das Geld drucken und nicht die Statik in Europa inOrdnung bringen. Das ist der falsche Weg.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das machen Sie doch selbst!)

Deswegen ist die Lage bei Ihnen völlig konfus.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das widerspricht der deutschen Stabilitätstradition.Wir alle haben den Menschen in Deutschland verspro-chen, der Euro werde genauso stabil sein, wie dieD-Mark es war. Deshalb müssen wir für diese Stabili-tätskultur kämpfen und die Ängste der Menschen inDeutschland ernst nehmen. Im Gencode der Deutschenist die Angst vor der Hyperinflation eingeprägt, währenddie Amerikaner Angst vor der Deflation haben. Das er-klärt die unterschiedlichen Verhaltensweisen diesseitsund jenseits des Atlantiks. Ich glaube, Steinbrück solltelieber weiter Schach spielen, aber dieses Mal die Figurenrichtig aufstellen. Das würde ihn vielleicht weiterbrin-gen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Tätä! Tätä! Tätä!)

Herr Gabriel fordert jetzt wieder Euro-Bonds. Das istPolitik nach Schlagzeile. Ihr haushaltspolitischer Spre-cher, Carsten Schneider, hat heute Morgen im Morgen-magazin genau das als nicht machbar und falsch erkannt.Vielleicht hören Sie das einmal nach. Er gilt als Fach-mann. Vielleicht hilft Ihnen das weiter. Als Ihre Basisdamals rebellierte, haben Sie die Pläne für die Euro-Bonds wieder in die Schublade gelegt. Als das Verfas-sungsgericht klare Grenzen gezogen hat, waren Sie sehrleise. Die SPD-Fraktion hat in ihrem Entschließungsan-trag einen großen Bogen um Euro-Bonds gemacht.Euro-Bonds sind der falsche Weg. Sie setzen den Zins-mechanismus außer Kraft. Das ist Einheitszins! Das istZinssozialismus! Sozialismus ist immer falsch, auch beiden Zinsen!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Steinbrück hat bislang einen Schuldenschnitt fürGriechenland gefordert. Jetzt sagt er, man hätte für dieAnleihen Griechenlands von Anfang an Garantien aus-sprechen sollen. Ständig neue Äußerungen.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Quatsch!)

– Ich kann das alles belegen. – Hätte, könnte, sollte – dieSPD im Konjunktiv; mit klarer Politik hat das nichts zutun.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Bilden Sie sich doch einmal eine Meinung. Sagen Siesie, auch wenn sie falsch ist; aber haben Sie wenigstenseine Meinung!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sig-mar Gabriel [SPD]: Trinken Sie einmal einenSchluck! Das beruhigt!)

Als es bezüglich Griechenland hier zum Schwur kam,Herr Gabriel, haben Sie die Biege gemacht. Ich habeIhre Rede von Mai 2010 dabei: nirgends klare Positio-nen. Eine Enthaltung zu organisieren, ist kein Konzept,das ist ein politisches Armutszeugnis. Auch das hat mitkraftvoller Politik nichts zu tun. Ich empfehle ein biss-chen Zurückhaltung. Beim Euro-Thema haben Sie wirk-lich keine klare Linie.

Das Zeitalter der Staatsverschuldung führt zu Pump-kapitalismus an den Finanzmärkten. Wir haben dortSchneeballeffekte. Das müssen wir verändern, korrigie-ren; denn das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts zutun. Das steht auf der Agenda einer bürgerlichen Regie-rung: wieder zu Maß und Mitte zurückkehren, die Rela-tion zwischen Risiko und Haftung wiederherstellen undwieder nach Adam Riese rechnen. Das ist unsere Politik,sie ist nachhaltig. Wir flüchten nicht in Schulden. Das istbürgerliche Gemeinschaftsleistung. Deshalb werden wirdiesen erfolgreichen Kurs kraftvoll gemeinsam fortset-zen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)

Wir brauchen eine Risikobremse am Kapitalmarkt, an-dere Eigenkapitalunterlegungen, Transparenz bei Schat-tenbanken. Hier ist vieles aus dem Ruder gelaufen. HerrGabriel, Rot-Grün hat mit Hegdefondsderivaten den Dra-chen der Finanzmärkte gemästet.

(Thomas Oppermann [SPD]: Zwei Hedge-fonds!)

Wenn nun Sigmar als Siegfried auftreten will, dann istdas eine Komikrolle. Erst den Drachen zu züchten undsich dann als Gegner aufspielen zu wollen – das ist un-redlich, unglaubwürdig. Das sind Theaternummern, aberdas ist keine reale Politik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sig-mar Gabriel [SPD]: Mit Theater kennen Siesich aus!)

Mich hat dieser Tage anderes unruhig gemacht: Derrussische Präsident will eine eurasische Union. Der ame-rikanische Präsident wendet sich verstärkt dem Pazifikzu.

(Thomas Oppermann [SPD]: Die wenden sichalle von Ihnen ab! – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was schließen Siedaraus?)

Das sollte uns aufhorchen lassen. Aus der Hinwendungzu Asien darf keine Abwendung von Europa werden.Europa muss sich neu aufstellen. Wir müssen Strukturenund Handlungsfähigkeit schaffen. Das gilt übrigensnicht nur für den Euro. Es führt uns vor Augen: Europahat vieles anzupacken. Wir brauchen auch eine stärkereIntegration der Außen- und Sicherheitspolitik und einegemeinsame Sicherheitsarchitektur, wenn Europa in derWelt noch eine Rolle spielen will. Die Koalition hat zweiwichtige strategische Entscheidungen getroffen: Wir eb-nen den Weg zu einer Freiwilligenarmee und beginnenmit dem Abzug unserer Truppen aus Afghanistan.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

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Der internationale Einsatz erfordert ein Maß an Flexibi-lität und Professionalität, das man nur mit einer Freiwil-ligenarmee leisten kann. Deshalb war der Schritt konse-quent. Dank an den Verteidigungsminister de Maizière,der ein vernünftiges Konzept, das auch umsetzbar ist,auf den Weg gebracht hat.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Anders als sein Vorgänger!)

Wir werden ihn dabei unterstützen.

In Afghanistan ist der Scheitelpunkt des deutschen mi-litärischen Engagements überschritten. Das neue ISAF-Mandat wird eine Reduktion des Truppeneinsatzes vor-nehmen. Die Bonner Afghanistan-Konferenz im Dezem-ber wird eine langfristige politische und wirtschaftlichePartnerschaft der Staatengemeinschaft mit Afghanistanauf den Weg bringen. Außenminister Guido Westerwellehat dabei unsere volle Unterstützung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Thomas Oppermann [SPD]: Gut, dass Sie denauch mal erwähnen!)

Wenn wir die erreichten Fortschritte dauerhaft sichern,können wir bis 2014 die Sicherheitsverantwortung wei-testgehend oder vollständig in afghanische Hände legen.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein ver-lässlicher Partner. Deutschland hat Exporterfolge, wirdvon der Welt bewundert, manchmal aber auch kritisiert.

Die Opposition fordert immer, wir müssen von unse-ren hohen Exportüberschüssen herunterkommen. Ichgehe davon aus, Sie wollen Deutschland nicht schlechtermachen, obwohl ich manchmal daran Zweifel habe. ImKern geht es, wenn Deutschland besser werden soll, umeine höhere Binnennachfrage. Schauen wir doch einmal,was die Opposition für eine höhere Binnennachfrage imAngebot hat. Sie wollen die Steuern erhöhen. Das erhöhtkeine Binnennachfrage. Die Linkspartei macht geradeein Familienunternehmen Oskar/Sahra & Co. GmbH,neues menschliches Antlitz des Sozialismus.

(Zurufe von der LINKEN)

– Sie sollten bei dem Thema ruhig sein. Dazu haben Siewirklich nichts beizutragen.

Bei der SPD sind es 32 Milliarden Euro mehr Steuern,bei den Grünen ebenfalls. Sie unterscheiden sich in ihrenSteuervorstellungen nur hinter dem Komma, obwohlman bei der Reaktion auf die Reden eine gewisse Eiszeitfeststellt. Es gab bei der Rede von Gabriel nur wenig,fast keinen Beifall von den Grünen.

Darüber hinaus wollen Sie Euro-Bonds mit höherenZinsen für Deutschland. Das schwächt die Binnennach-frage. Auch das ist kein Beitrag hierfür.

Sie wollen höhere Einnahmen im Bereich der Sozial-versicherung. Auch das schwächt die Binnennachfrage.

Wir machen es anders: Wir entlasten die Menschen.In der vergangenen Woche haben wir einen erstenSchritt im Bereich der Rentenbeiträge gemacht. Arbeit-nehmer und Arbeitgeber werden um 2,5 Milliarden Euroentlastet. Gleichzeitig steigen die Renten. Das ist gut für

die Binnennachfrage. Im Gegensatz zu Zeiten der Vor-gängerregierung steigen bei uns die Nettolöhne. ImJahre 2013 werden weitere Schritte zur Entlastung, bei-spielsweise bei den Rentenbeiträgen, folgen.

Nun geht es darum, etwas für die kleinen und mittle-ren Einkommen zu tun. Ich nenne die Stichwörter „Exis-tenzminimum“ und „kalte Progression“. Die kalte Pro-gression ist eine verdeckte Steuererhöhung. Weil dieNominalwerte steigen, kassiert der Staat mehr ab. Das isteine Steuererhöhung. Das kann doch nicht im Interessegerade der Vertreter der Bezieher kleiner Einkommenbei uns im Lande sein. Der Staat darf sich doch nichtüber die Inflation bereichern.

Ich möchte Herrn Steinmeier ganz persönlich anspre-chen. Herr Steinmeier – Sie sind anwesend, nur weiterhinten im Saal –, vor zehn Jahren haben wir gemeinsameine Steuerreform auf den Weg gebracht. Ich habe dasdamals über Rheinland-Pfalz mit möglich gemacht. Dasfanden nicht alle in der FDP schön, aber ich habe es ge-macht, weil ich überzeugt war, dass es richtig für unserLand war. Ich erwarte von der SPD und von Ihnen ganzpersönlich: Verhindern Sie bei der Entlastung, Abmilde-rung der kalten Progression und dem Existenzminimum,eine Blockade Ihres Parteivorsitzenden. Das würde IhreKernwählerschaft elementar treffen. Sie müssen hier dieInteressen der Menschen über parteitaktische Spielchenstellen, so wie ich es gemacht habe. Ich spreche Sie per-sönlich an.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi-derspruch bei der SPD sowie bei Abgeordne-ten der LINKEN)

Die Binnennachfrage wird durch die Tarifpolitik ge-stärkt. Ich habe als Wirtschaftsminister gesagt, dass ichfür faire Lohnerhöhungen bin. Ich wiederhole dies. DieArbeitnehmer haben sich ihren Anteil am Aufschwunghart erarbeitet und werden diesen auch bekommen. DieTarifrunden werden widerspiegeln, dass wir die Binnen-nachfrage stärken. Der Staat investiert auch noch zusätz-lich. Wir haben eine Mobilitätsmilliarde in diesem Haus-halt auf den Weg gebracht, weil es richtig ist, Straßen,Brücken und weitere Infrastruktur auszubauen. Wir tundas ganz offensiv. Mit den Grünen gelingt es ja nichteinmal, 3,5 Kilometer Flüsterbeton in Berlin auf denWeg zu bringen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Teilen der SPD ist das peinlich. Sie merken, die Grünenmeinen es ernst mit der Deindustrialisierung. Alles, wasKrach macht, riecht und dampft, wollen die Grünenplattmachen, es sei denn, es ist eine Biogasanlage; diesebleibt natürlich bestehen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Trittin will Finanzminister werden. Er hat sichgeäußert, die Staatsquote sei eine bloße Recheneinheit.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ist es!)

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Da kann man nur sagen, dass da zwei Welten aufeinan-dertreffen: Trittin und die Volkswirtschaft. Die passenüberhaupt nicht zusammen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Trittin, Wirtschaft ist immer rechnen. Aber hiergeht es um etwas anderes. Sie wollen eine höhere Staats-quote. Es ist ein Unterschied, ob wir eine Staatsquotevon 60, 50, 40 oder 35 Prozent haben. Das kann mandort, wo Sie regieren, sehen. In Stuttgart gibt es ein wei-teres Ministerium mit 180 neuen Stellen, in Mainz zweiweitere Ministerien. Der grüne MinisterpräsidentKretschmann fliegt als einziger mit dem Hubschrauberzur Ministerpräsidentenkonferenz nach Lübeck, dieDienstkarosse fährt 800 Kilometer hinterher. So sieht eskonkret aus. Sie haben als Opposition die Froschperspek-tive und als Regierung die Vogelperspektive. Vogel undFrosch, das passt aber nicht zusammen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und derCDU/CSU – Heiterkeit bei Abgeordneten derSPD)

Sie nennen Bill Clinton als Vorbild für die Haushalts-sanierung. Das ist sehr interessant; denn Clinton hat denHaushalt mit Wachstum saniert. Sie aber sind gegenWachstum. Ich kann mich erinnern, als die Grünen in dieParlamente einzogen, hatten manche die Aufkleber„computerfreie Zone“. Ich sage Ihnen: Wer Fortschritts-feindlichkeit sät, wird Piraten ernten. Das trifft Sie vollins Mark. Fortschrittsfeindlichkeit führt nicht zu weite-ren Wachstumschancen, aber diese brauchen wir, um inDeutschland voranzukommen. Wir sind stolz auf unsereerfolgreiche Wirtschaft, auf den Mittelstand und die In-dustrie, im Maschinenbau und in der chemischen Indus-trie, im Fahrzeugbau und in anderen Bereichen.

Wir mobilisieren die Potenziale im Land mit Investiti-onen in Bildung und Forschung. Hier werden die Ausga-ben auf fast 13 Milliarden Euro angehoben. Wir ermögli-chen Fachkräftezuzug, indem die Schwellen abgesenktwerden – dies war nicht so einfach, aber wir haben es ge-meinsam endlich geschafft –, damit wir zukünftige Ta-lente gewinnen können.

Wir packen die Pflegereform an. Wir helfen Pflegebe-dürftigen und vor allen Dingen den Angehörigen. Dieje-nigen, die betreuen und pflegen – ich kenne im privatenBereich solche Fälle –, sind für mich wahre Heldinnenund Helden des Alltags.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ihnen zu helfen, ist notwendig und richtig. Eine Größen-ordnung von 1 Milliarde Euro ist wahrlich keine Lappa-lie. Unser Generalsekretär Christian Lindner hat ange-sprochen, dass dem Renten-Riester, weil wir dieergänzende Kapitaldeckung einführen, ein Bruder hinzu-gefügt wird, nämlich der Pflege-Bahr. Das ist der rich-tige Einstieg; denn wir wollen Generationengerechtig-keit betreiben.

Deutschland ist unverändert die Lokomotive der eu-ropäischen Entwicklung. Die anderen orientieren sich an

uns und schauen, wie wir es machen, damit sie erfolgrei-cher werden. Das muss so bleiben.

Dieser Haushalt ist ein Dreiklang aus Investieren, Sta-bilisieren und Entlasten, unter Beachtung der Schulden-bremse. Wir verstetigen das Wachstum. Deshalb ist esauch richtig, jetzt nicht zu stark auf die Bremse zu treten,sondern die Fahrt zu halten. Das ist eine intelligente,wachstumsfreundliche Konsolidierungspolitik. Das, wasdie Regierung hier macht, ist maßgeschneidert und ge-nau richtig.

Die Rot-Grünen mäkeln und nörgeln; das ist kein Bei-trag. Wir arbeiten. Dabei bleibt es. Das ist der Unter-schied. Wir sind erfolgreich.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Oh ja! Sie vor allem! 2 Prozent!)

Sie werden weiter meckern. Nur, das hilft uns nicht wei-ter.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin RenateKünast. Bitte schön, Kollegin Renate Künast.

(Christian Lindner [FDP]: Jetzt kommt der Blick aus der Froschperspektive!)

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach die-

ser Rede könnte man fragen: Was denn nun, Frau Mer-kel?

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ach Gott!)

Sie haben alles so schön beschrieben, alles so schön er-klärt.

(Otto Fricke [FDP]: Oh! Sie haben es wohl zum ersten Mal verstanden!)

– Ja. Ich habe gesehen, dass Sie fröhlich applaudiert ha-ben; es war wahrscheinlich große Erleichterung da. –Frau Merkel hat wieder einmal schön erklärt, wie dieDetails sind. Aber was ich nicht gehört habe, ist die Ant-wort auf die Frage, wo die Reise mit Deutschland hinge-hen soll, wo die Reise in der Europäischen Union hinge-hen soll. Von welcher Zukunft sind Sie eigentlichgezogen, Frau Merkel? An dieser Stelle war Ihre Redeeine echte Fehlanzeige.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben jetzt zwei Jahre lang gewartet, dass dieseKoalition endlich beginnt, vernünftige Politik zu ma-chen. Aber ich denke, das kommt nicht mehr. Was jetztnur noch geschieht, ist das Auslaufen der Regierungs-zeit. Wir brauchen aber eine Politik, die sich wirklichden zentralen Fragen der Gesellschaft und der heutigenZeit widmet, die auf den demografischen Wandel ein-

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geht und darauf Antworten gibt. Was Sie machen, ist einbisschen Pflegereform, sodass man sich aussuchen darf,ob man isst, gewaschen wird oder menschliche Zuwen-dung bekommt. Das ist doch keine Alternative. Manmuss zum Beispiel den Mut haben, eine echte Pflege-reform zu machen, und das kann nur heißen, eine Bür-gerversicherung zu schaffen. Aber zu solchen grundsätz-lichen Dingen haben Sie überhaupt keinen Mut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein anderer Punkt: die Situation der Jugendlichen.Meine Damen und Herren, die befinden sich immer nochin Warteschleifen. Die befinden sich in Kommunen, dieihrer Bildungsaufgabe nicht nachkommen können. Diebefinden sich in Kommunen, in denen schon lange keineJugendarbeit mehr stattfindet und deshalb Rechtsext-reme immer mehr Platz und Raum haben und auf dieSchulhöfe gehen. Da reicht es aber nicht, Frau Merkel,hier nur noch einmal das Bekenntnis der Demokraten,das Bekenntnis des gestrigen Vormittags, anzusprechen.Ich will hier und heute hören, wie Sie die Kommunenmit mehr Geld ausstatten und für mehr Bildung undmehr Jugendarbeit quer durchs Land sorgen wollen.Dazu haben Sie gar nichts gesagt, kein Wort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wie geht sozialer Zusammenhalt? Wie geht eineWirtschaftspolitik angesichts des Klimawandels? Wiewollen Sie der Schuldenkriese beikommen und mehrGerechtigkeit schaffen? Wie soll es eigentlich mit demEuro weitergehen? Grundlegend ist doch eines klar: Wirbrauchen eine andere Art des Wirtschaftens in Deutsch-land; sie muss sich grundlegend ändern. Wir müssenweg von dem Motto „Wachstum, Wachstum, Wachstum“und der Vorstellung, dass wir das, was herauskommt,nutzen können, wie es dieses Jahr der Fall ist. Selbstkonservative Ökonomen und die Europäische Kommis-sion sagen: Wir müssen anders wirtschaften. Wir müssenuns nach Finanzkrise und gigantischen Schuldenbergenjetzt anstrengen, dass wir endlich zu gesellschaftlicherWohlfahrt, zu mehr Gemeinwohl kommen. – Aber wasmachen Sie? Sie reden nur über Wachstum,

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist dochUnfug! Wollen Sie, dass die Wirtschaftschrumpft? Wollen Sie etwa eine Schrumpf-kur?)

haben hier und heute aber nicht einmal angesprochen,dass wir lernen müssen, das Wachstum vom Naturver-brauch, vom Rohstoffverbrauch abzukoppeln, um nurein Beispiel zu nennen. Wir brauchen ein anderesWachstum, aber das andere haben Sie in Ihrer Rede ankeiner einzigen Stelle angesprochen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieses andere Wirtschaften funktioniert übrigens nureuropäisch, nur in diesem Zusammenhalt, nur wenn dieEuropäische Union stärker dabei wird, die Grundlagenzu verändern, Ressourcen zu schonen, das Klima zu

schützen und den ökologischen und sozialen Umbauwirklich systematisch zu betreiben. Wir brauchen einegroße soziale und ökologische Transformation inDeutschland und in Europa mit dem Euro, einer gemein-samen Währung, als Kern.

Sie, Frau Merkel, haben ja gerade heute – an andererStelle noch schärfer – gesagt: „Wenn der Euro scheitert,dann scheitert Europa“. Uns allen ist wohl klar, dass einScheitern Europas nicht hinnehmbar ist und dass wir unsdas schon gar nicht leisten können. Was bitte schön istdann aber Ihr Kompass? Sie reden immer von einemKompass. Was sind eigentlich die Maßnahmen, die Sieergreifen wollen?

Auf dem Parteitag in Leipzig – das wurde ja schonveralbert – haben Sie in jedem dritten Satz gesagt: „einKompass“. Bei diesem Kompass hier habe ich das Ge-fühl, Merkel macht es wie folgt: Sie geht erst einmalohne Kompass los. Wenn sie vor einer Wand steht undsie fest im Auge hat, dann schaut sie auf den Kompass,und dann geht es den ganzen langen Weg zurück. Dann,Frau Merkel, ist aber immer schon extrem viel Zeit ver-loren. So war Ihre Rede heute auch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Immer viel Zeit verloren:

Denken Sie einmal an die Finanztransaktionsteuer. Dahaben Sie alle miteinander auf die unglückselige FrauHomburger gewartet, die gesagt hat: So etwas gibt es garnicht. Sie haben sich auch an keiner Stelle scharf dafüreingesetzt, dass Finanztransaktionen wie jede anderewirtschaftliche Tätigkeit eben auch besteuert werden.Jetzt soll sie doch kommen, und Sie kämpfen dafür. EinSatz lautete einmal: Keinen Cent für Griechenland gebenwir. – Dann wurden es Milliarden. Ein anderer Satz wareinmal: Ein Rettungsschirm wird nicht gebraucht. –Dann kamen Irland und Portugal. Eine EU-Wirtschafts-regierung war immer böse, weil man hier nichts abgebenwill. Jetzt soll sie doch kommen. Heute sagen Sie fak-tisch: Niemals Euro-Bonds! – Ich bin mir sicher, sie wer-den kommen – oder wir haben es wirklich versemmelt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alle Ihre Verzögerungen, Frau Merkel, haben die Kriseverschlimmert und uns real Geld gekostet.

Zur Hebelung: Wir haben uns in einer der letzten Ple-narsitzungen ja intensivst mit dem Thema „Hebelungdes EFSF“ auseinandergesetzt. Viele von uns erinnernsich noch daran, wie man versuchte, zu verstehen oderanderen draußen zu erklären, was das eigentlich ist. Jetztstellen wir was fest? Die Hebelung funktioniert nicht.Sie ist bei Chinesen, Russen und anderen eiskalt abge-blitzt, weil ihnen die niedrigen Absicherungen gar nichtreichen und weil sie nicht wissen, ob sie der Handlungs-fähigkeit der Europäischen Union und der Euro-Zoneüberhaupt vertrauen können.

Frau Merkel, es kann doch nicht sein, dass Sie sichheute hier hinstellen und zu dem Vorschlag der Europäi-schen Kommission zu verschiedenen Varianten derEuro-Bonds, der heute kommt, nur sagen, dass sie fürch-

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ten, dass es irgendwie kommunikativ eine Fehlentwick-lung gibt. So geht es nicht, Frau Merkel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier[SPD])

Wir müssen an dieser Stelle doch eines sagen: Die Vor-schläge der Europäischen Kommission sind rational zuanalysieren. Einer dieser drei Vorschläge wurde sogarvom Sachverständigenrat der Bundesregierung faktischmitentwickelt. Wir müssen an dieser Stelle doch analy-sieren, was das Beste für uns wäre.

Frau Merkel, ich rate Ihnen: Entwickeln Sie dochdort, wo Sie Sorgen haben, Zwischenschritte. Wenn esnoch etwas dauern wird, bis die Euro-Bonds kommen,dann ist es Ihre Aufgabe, sich hier hinzustellen und zusagen: Mittelfristig kommen sie, aber wir fordern hierRegeln für die Wirtschaftsregierung und Sanktionsme-chanismen. Sie müssen dann auch sagen, was Sie aktuelltun wollen, um sich mit der Bankenlizenz für die EFSFauseinanderzusetzen.

An dieser Stelle haben Sie aber nur bedenkenschweragiert. Schon wieder haben wir die Sorge, dass mit IhrerVerhaltensweise Zeit verplempert und es teurer wird fürDeutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zur EZB: Hier belaufen sich die Lasten, die wir durchdie Ankäufe von Staatsanleihen eventuell zu tragen ha-ben werden, mittlerweile auf 54 Milliarden Euro. Inso-fern kann und darf man nicht einfach nur hinsehen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 27 Prozent von 200 Milliarden Euro!)

Was mich eigentlich mindestens genauso geärgert hat,ist diese Mischung, dass Sie am Vormittag beim Euro-Krisengipfel eine Variante verkünden – wir haben sie un-terstützt –, die mit vielen Risiken für den Bundeshaus-halt verbunden ist, aber andererseits die Menschen, diesich um die Bildung ihrer Kinder sorgen, quer durchsLand, vornean in den Kommunen, mit der Frage zurück-lassen: Wo soll das alles enden? Ihre Antwort, Frau Mer-kel, die Antwort von Schwarz-Gelb auf die Frage, wodas enden soll und ob dieser Weg halbwegs sicher ist, istdie Ankündigung einer Steuersenkung. Absurder geht esnicht, Frau Merkel, und inakzeptabler geht es auch nicht!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich denke, Sie merken doch gar nicht, was die Men-schen in Deutschland empfinden. Sie haben Angst umdie Stabilität ihrer Währung. Sie haben Angst, dass esbald kein funktionierendes Gemeinwesen in Deutsch-land mehr gibt. Gemeinwesen fängt in den Kommunenan: bei der Kinderbetreuung, den Kindergärten, denSchulen, der ganztägigen Betreuung, wo Kinder auchder bildungsfernen Schichten oder Kinder von Migran-ten Chancengerechtigkeit erleben, die Möglichkeithaben, sich in diesem Land zu entwickeln. Sie aber ver-

künden an dem Tag der größtmöglichen potenziellenVerschuldung eine Steuersenkung.

Die Wirtschaft in Deutschland wartet auf die Basis-infrastruktur. Herr Brüderle glaubt immer noch, wennman nur neue Maßstäbe in der Asphaltierung Deutsch-lands setzen würde, sei die nötige Infrastruktur für Deutsch-land geschaffen. Das ist natürlich albern, Herr Brüderle.Das wissen Sie selbst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nein, es geht um etwas ganz anderes. Zur Verbesserungder Infrastruktur in diesem Land wäre eine grundsätzli-che und flächendeckende Breitbandversorgung nötig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Infrastruktur in unserem Land wäre angesichtsder großen Containertransporte einmal unter dem Aspektzu sehen: Wie finanzieren wir den Bau der Schiene, umGüter ökologisch zu transportieren? Auch die Wirtschafterklärt – aber vielleicht haben Sie diesen Kontakt vorlauter Sorgen um Ihre 2 Prozent auch schon aufgegeben,Herr Brüderle –: Zur Basisinfrastruktur gehören der Er-halt und die Sanierung vorhandener Straßen und Brü-cken, anstatt neu zu asphaltieren. Darin müssen wir Geldinvestieren, nicht in richtungslose Steuersenkungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Was gehört noch zu einem funktionierenden Gemein-wesen? Dazu gehört auch ein ordentlicher Lohn; das isthier schon angesprochen worden. Zur Grundvorausset-zung in unserem Land gehört – das könnte Ihnen einKompass zeigen, aber Sie machen eine Politik ohneKompass –, dass Leute, die den ganzen Tag über arbei-ten, von ihrer Hände Lohn leben können, ohne aufs Amtgehen zu müssen. Aber Sie handeln nach dem Motto:Tun wir etwas für unser soziales Image. Dann gibt viel-leicht auch endlich der Arbeitnehmerflügel Ruhe. Undwir haben ein Wahlkampfthema weniger. – In Wahrheitgeht es Ihnen doch gar nicht um den Mindestlohn. Das,was Sie abgeliefert haben, ist kein Mindestlohn und istnicht einmal eine verlässliche Lohnuntergrenze. Von die-sem Lohn kann kein Mensch leben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Schauen wir uns das einmal genau an. Sie vereinbareneine Lohnuntergrenze und lassen immer noch zu, dassunterschreitende Tarife gezahlt werden. Wie soll mandenn von 4 oder 5 Euro leben? Sie haben eine Zeit langso getan, als würde sich der Mindestlohn an dem Lohnfür Zeitarbeit orientieren, aber nicht einmal das. Sie sind,vornean Frau von der Leyen, als Tigerin gestartet und alsBettvorlegerin gelandet – mehr nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Sie sagen, Sie wollten etwas für Facharbeiter tun.Aber überlegen Sie einmal – Sie haben das Thema Mi-

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Renate Künast

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grantinnen und Migranten kurz angetippt –: Wie wollenSie eigentlich mit solchen Löhne Migrantinnen und Mig-ranten mit guten Bildungsabschlüssen hier halten? Diesesind doch die Ersten, die gehen. Sie öffnen die Gesell-schaft nicht für sie, damit sie sich hier weiterentwickelnkönnen, und Sie sorgen auch nicht für eine entspre-chende Lohnentwicklung.

Derzeit haben wir die Situation, dass aus den Kindernder Einwanderer Auswandererkinder werden, weil sie inBrüssel oder in Istanbul willkommen sind und bessereLöhne bekommen. Zu diesem Thema haben Sie garnichts gesagt, Frau Merkel. Sie müssten als Allererstessagen – das wäre auch kostengünstig zu haben –: Wirschaffen die doppelte Staatsbürgerschaft und quälen diejungen Leute nicht mit einem Optionsmodell, bei demsie sich entscheiden müssen, welche der beiden Staats-bürgerschaften sie wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dann würden Sie aufgrund des großen Fachkräfte-mangels, den wir erleben, auch nicht das machen, wasSie gerade so nett angekündigt haben, Frau Merkel,nämlich mehr Fachkräfte ins Land zu holen, indem mandie Gehaltsschwelle von 66 000 auf 48 000 Euro redu-ziert. Der weltweite Run auf Fachkräfte ist so groß, dassIhr Vorschlag von 48 000 Euro geradezu putzig ist. Für48 000 Euro kriegt man keinen Vertrag mit einem ganznormalen Ingenieur. Der Inder geht irgendwohin, abernicht nach Deutschland.

(Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Be-kommt er da mehr oder weniger?)

– Weil Sie danach fragen, Frau Merkel: Die Fachkräftekommen hierhin mit Jobverträgen über 40 000 oder auch43 000 Euro. Auf 48 000 Euro kommen sie gar nicht.Das schaffen sie allenfalls in anderen Ländern. Deshalbkommen diese Fachkräfte nicht. Das ist auch der Grunddafür, dass andere Migrantinnen und Migranten, Men-schen mit guter Ausbildung, abwandern.

Zu alledem haben wir noch das Thema Rechtsextre-mismus. Menschen, die anders aussehen, müssen sich indieser Gesellschaft Sorgen machen, ob sie, wenn sie zumBeispiel an einer Universität oder in einem Unternehmentätig sind, hier sicher mit ihrer Familie leben können.Das ist noch ein Grund zu sagen: Wir klären die rechts-extremen Taten nicht nur auf, sondern wir sorgen auchdafür, dass die Projekte gegen Rechtsextremismus in denKommunen mit ausreichenden Mitteln ausgestattet wer-den, damit sie tatsächlich in der Breite arbeiten könnenund Sicherheit produzieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier[SPD])

Sie, Frau Merkel, haben gesagt, es müsse mit einemneuen Kompass losgehen, und Sie wollen für das neue,menschliche Deutschland sorgen. Sie sind mit IhrenKonzepten völlig aus der Zeit gefallen. Nehmen wir al-lein das, was Sie mit dem ewigen Hin und Her und Ih-rem Vorwärts und Rückwärts in der Atompolitik ge-

macht haben. Sie haben einmal gesagt: Wer irgendwoaussteigt, muss auch wissen, wo er einsteigt. – Sie wis-sen heute noch nicht, wo Sie einsteigen.

Sie kommen beim Ausbau der erneuerbaren Energiennicht weiter. Das ist ein Dauerzankapfel. Sie wollen al-lenfalls die Förderung neuer Kohlekraftwerke, dann ausGeldern des Emissionshandels. Das ist der einzigePunkt, in dem bei Ihnen noch traute Einigkeit herrscht.Sie haben keinen Vorschlag gemacht, wie die Ener-giewende strukturiert und finanziert wird.

Sie haben Durban angesprochen, Frau Merkel. Ja, dieKlimakonferenz in Durban steht unter ganz besondererBeobachtung. Ihr Chefberater, Herr Schellnhuber, hatvon einem Endspiel für den Klimaschutz gesprochen.Was aber bieten Sie? Sie haben sich mit ihm als Klima-berater geschmückt. Aber daraus sind nicht mehr Forde-rungen hervorgegangen. Es ist nicht mehr dabei heraus-gekommen. Sonst hätten Sie jetzt dafür Sorge getragen,dass die Europäische Union, ohne Bedingungen zu stel-len, in Durban zusagt, Europa wird seine CO2-Emissio-nen um 30 Prozent reduzieren. Aber nicht einmal mitdieser Morgengabe gehen Sie dorthin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Minderungsziele sind nirgendwo wirklich ange-gangen worden. Wie wäre es mit dem Abbau ökologischschädlicher Subventionen? Wie wäre es mit der Redu-zierung und Änderung des Dienstwagenprivilegs? Statt-dessen gibt es kostenlose CO2-Zertifikate für Energie-versorger. So werden wir nicht weiterkommen, meineDamen und Herren.

Sie haben keine Vorschläge zu einer wirtschaftlichenEntwicklung Deutschlands. Ich habe es gerade ange-sprochen. Beim Thema wirtschaftliche und ökologischeZukunft Deutschlands weiß man gar nicht, welche Zu-kunft Sie sehen. Es gilt immer nur: „Beton hilft viel“.Sie machen noch die Witze aus vorigen Jahrzehnten, ma-chen aber keine Vorschläge.

Mein letzter Punkt. Die Blockade in dieser Gesell-schaft lösen Sie nicht auf. Frau Merkel, Sie haben IhreRede mit dem Satz beendet, diese Gesellschaft sollmenschlicher werden. Aber Menschlichkeit fängt beimBegriff „Gerechtigkeit“ an, und da haben Sie versagt. Zumehr Gerechtigkeit gehört, dass unsere Haushalte nichtweiter verschuldet werden, wie Sie es tun. Zu mehr Ge-rechtigkeit gehört, dass man das Geld nicht für zwei sichwidersprechende Zwecke ausgibt. Zum einen geben Siedas Geld für den Bau von Kitas aus – aber nicht genug –,zum anderen geben Sie Geld für das Betreuungsgeld aus,damit die Eltern ihre Kinder nicht in die Kitas schicken.Das ist haushalterisch bekloppt, um es einmal direkt zusagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist nicht menschlicher und nicht gerechter, Frau Mer-kel, wenn Sie gerade die Kinder, die es am nötigsten hät-ten, davon fernhalten, eines Tages gute Fachkräfte zu

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Renate Künast

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werden, die Deutschland so braucht. Sie sind einfachdoppelzüngig an der Stelle.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na!)

Sie reden vielleicht immer das Gleiche – darin liegt auchder Mangel, weil Sie sich nicht weiterentwickeln –, aberSie reden auch immer das Falsche, bis hin zum ThemaFrauen. Das kann ich Ihnen nicht ersparen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Sie denken an Ihre Redezeit?

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Ja. – Das ist ein Armutszeugnis nach 60 Jahren

Grundgesetz, Frau Merkel. Beim Thema „Frauen alsFachkräfte der Gegenwart“ zeigt sich nur eines, nämlichdass zwei Ministerinnen draußen eine Show abziehen.Aber nachher passiert zur Verbesserung der Erwerbs-möglichkeiten von Frauen faktisch nichts. Vom Betreu-ungsgeld bis Quote ein absoluter Ausfall.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt, meine Damen und Herren, wäre es Zeit dafür,Deutschlands Wirtschaft für das 21. Jahrhundert fit zumachen, Familien und Frauen richtig zu fördern, ihnenEntwicklungsmöglichkeiten zu geben, Kinder in denMittelpunkt zu stellen, die Energiewende zu nutzen undeine wettbewerbsfähige Wirtschaft zu organisieren. Aberich stelle fest: Schwarz-Gelb hat zwei Jahre lang demLand geschadet. Die Menschen warten auf eine neue Re-gierung.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Woran wir uns schon gar nicht orientieren werden, istder Merkel’sche Kompass. Merkels Kompass führt nichtweiter. Damit sind Sie, egal ob auf hoher See oder imWald, immer orientierungslos. Deutschland aber hatmehr verdient.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion der CDU/CSU unser Kollege Volker Kauder. Bitteschön, Kollege Volker Kauder.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Volker Kauder (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Frau Künast, einer Ihrer letzten Sätze fordert mich gera-dezu heraus, weil er ein Beweis dafür ist, wie falsch Sieliegen und wie wenig Sie überhaupt von der Befindlich-keit der Menschen wissen. Sie haben gesagt: Deutsch-land wartet auf eine neue Regierung. – Sie haben auchgeglaubt, Berlin warte auf eine neue Regierung und Sieseien dabei. Sie sind draußen. So wie dieser Satz nichtgestimmt hat, stimmt auch jener nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legenheute einen Bundeshaushalt vor, der entgegen dem, wasSie, Herr Gabriel, heute sehr lautstark gesagt haben,

(Zuruf von der SPD: Richtig vor allen Din-gen!)

etwas Außergewöhnliches bietet, nämlich die größte Ab-senkung der Nettoneuverschuldung in der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Sie haben immer neue Schulden gemacht. Wir senkendie Nettokreditaufnahme. Das ist der Unterschied.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir stehen in Europa vor einer großen Herausforde-rung. Ja, ich würde sogar sagen: Wir erleben in Europaeine Zeitenwende. Das, was in dieser Zeitenwende not-wendig ist, um Orientierung zu behalten und das Rich-tige zu tun, hat die Bundeskanzlerin in wenigen klarenStrichen gezeichnet. Sie, Herr Gabriel, haben dagegenkleinkariert Parteipolitik gemacht. Sie haben auf die gro-ßen Fragen überhaupt keine Antwort gegeben. Deswe-gen ist es auch richtig, dass Sie, Herr Gabriel, mit IhrerSPD auf der Oppositionsbank sitzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hu-bertus Heil [Peine] [SPD]: Tolle Argumente!)

Wir zeigen mit diesem Bundeshaushalt, dass wir das,was wir in Europa teilweise fordern, damit es besserwird, nämlich die Neuverschuldung zurückzufahren undsich an die Schuldenbremse zu halten, im eigenen Landmachen. Sie, Herr Gabriel, haben die Schuldenbremseheute besonders erwähnt. Ich kann mich noch entsinnen,wie schwer es war, die SPD in ihrer Breite davon zuüberzeugen, dass die Schuldenbremse richtig ist. IhreGeneralsekretärin Nahles hat gesagt: Schuldenbremseheißt, dass man keine Politik mehr machen kann. Sowird in Ihren Reihen gedacht. Die Schuldenbremse wardas einzig Richtige, um die Haushalte in Europa auf ei-nen richtigen Weg zu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit dem, was wir jetzt machen, gibt Europa eine Ant-wort für die Zukunft. Bisher war Europa eine Antwortauf die Geschichte, nämlich: Nie wieder Krieg, Friedenin Europa. Jetzt wird Europa eine Antwort für die Zu-kunft. Diese Zukunft heißt: Perspektiven in einem hartenWettbewerb für unser Land und für die jungen Men-schen.

Frau Künast, ich kann mich über Sie nur wundern – ichwundere mich auch darüber, dass die SPD da Beifall ge-klatscht hat –: Sie haben hier in einem pauschalenSchnitt erklärt, Wachstum müsse anders aussehen. Ichwill Ihnen einmal etwas sagen – ich habe mir das bei denGrünen genau angeschaut –: Sie haben gesagt, be-stimmte Wirtschaftsbereiche müssten schrumpfen undgeschrumpft werden. In diesem Zusammenhang habenSie die Automobilindustrie genannt. 1 Million Menschenarbeiten in der Automobilindustrie. Wer die Automobil-industrie schrumpfen will, macht den Wirtschaftsstand-ort Deutschland kaputt.

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Volker Kauder

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(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben gesagt, die energieintensive Wirtschaftmüsse schrumpfen. 1 Million Menschen arbeiten in die-sem Bereich und auch in Teilen großer Zukunftsberei-che; ich denke nur an die Karbonherstellung. Wer alsosagt, die energieintensive Wirtschaft in Deutschlandmüsse schrumpfen, der hat gerade keine Perspektive fürWachstum, für die Beschäftigung von jungen Menschenund für Innovationen in unserem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weiterhin haben Sie gesagt, die Landwirtschaft müsseschrumpfen. Mehr als 1 Million Menschen arbeiten inder Landwirtschaft. Wie kann man einen solchen Unsinnsagen, die Landwirtschaft müsse schrumpfen? Wir wol-len doch Produkte ortsnah produzieren und verkaufenund nicht immer aus der ganzen Welt importieren müs-sen. Wer wie Sie die Landwirtschaft schrumpfen will,der muss Produkte aus der ganzen Welt einführen. Das,was Sie da erzählen, ist Unsinn.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Re-nate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Nein! Sie erzählen einen Unsinn! Wir sinddoch die, die Arbeitsplätze in der Landwirt-schaft schaffen!)

Die SPD hat da auch noch Beifall geklatscht; das ist er-staunlich.

Ich habe jetzt drei Bereiche genannt, in denen insge-samt 3 Millionen Menschen beschäftigt sind. Ich kannIhnen nur sagen: Die Konzepte, die Sie zusammen mitder SPD haben, haben in Ihrer Regierungszeit genaudazu geführt, dass zwar geschrumpft wurde, aber dassdie Arbeitslosigkeit auf 5 Millionen gestiegen ist. Das istIhre Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben dann dafür gesorgt, dass die Arbeitslosigkeitauf einen der niedrigsten Werte überhaupt gesunken ist.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sieauf dem Leipziger Parteitag auch immer ge-sagt!)

Die beste Zahl, über die wir uns wirklich freuen – wirsind nicht stolz, sondern wir freuen uns darüber –, ist,dass die Jugendarbeitslosigkeit halbiert wurde und invielen Ländern unter 2 Prozent liegt. Herr Gabriel, Siehaben hier vollmundig gesagt, wie schwierig es sei, dassdie Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern bei über40 Prozent liege. Das sehen auch wir so. Aber das, wasSie diesen Ländern als Konzept verordnen, führt nicht zueinem besseren Ergebnis. Schauen Sie sich einmal dasan, was wir gemacht haben. Das reduziert die Jugend-arbeitslosigkeit. Diesen Weg werden wir energisch wei-terbeschreiten und weitergehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Neben der Haushaltskonsolidierung – WolfgangSchäuble hat gestern ausdrücklich darauf hingewiesen –machen wir natürlich auch entscheidende Schritte, umunser Land in der Infrastruktur fitzumachen. Natürlich

sind die modernen Straßen unserer Zeit die Entwick-lungsachsen, die wir brauchen, um Daten zu übertragen.Wir brauchen das schnelle Internet, damit die ländlichenRäume nicht abgehängt werden. Aber solange die Pro-dukte, die wir herstellen, nicht aus dem Drucker kom-men, müssen wir sie transportieren. Deswegen brauchenwir auch Investitionen in den Schienen-, Straßen- undWasserwegebau.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dazu höre ich Unglaubliches aus dem Land, in demdie Grünen den Ministerpräsidenten und den Verkehrs-minister stellen, nämlich aus Baden-Württemberg. DasBundesverkehrsministerium sagt mir, dass die baden-württembergische Landesregierung beschlossen hat,keine einzige Investitionsmaßnahme vorzusehen. Dazukann ich nur sagen: Eine gewisse Zeit kann man dasdurchhalten. Aber Sie führen das Land Baden-Württem-berg damit absolut in den Schatten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich kann nur hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger inBaden-Württemberg am kommenden Sonntag erkennen,was notwendig ist: Investitionen und Innovationen.Beim Bürgerentscheid am kommenden Sonntag mussderjenige – so irrsinnig sich das anhört –, der Ja sagenwill, mit Nein stimmen. So führen Sie die Leute an derNase herum. So geht es unter dem ersten grünen Minis-terpräsidenten in diesem Land zu!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist klar, dass wir es in Europa mit einer Staats-schuldenkrise zu tun haben – Gott sei Dank handelt essich nicht um eine Euro-Krise –

(Lachen des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

und dass wir diese Staatsschuldenkrise nur bewältigenkönnen, wenn nicht ständig neue Schulden gemacht wer-den.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja, super Erkennt-nis!)

Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.

Ich bin vollkommen anderer Meinung als Sie, HerrGabriel, der Sie von Anfang an dafür waren, einenSchuldenschnitt herbeizuführen. Es gibt sicherlich vieleExperten, die Ihre Meinung teilen. Aber wir sind uns si-cher in dem Punkt einig, dass wir mehr Gemeinsamkeitin Europa, in der Euro-Zone brauchen, um den Euro zustabilisieren. Glauben Sie, Herr Gabriel, dass wir auchnur einen einzigen entscheidenden Schritt vorangekom-men wären, wenn wir von Anfang an nach dem Mottoverfahren wären: „Es gibt Hilfen und Unterstützung,aber Veränderung muss nicht sein“? Die Kanzlerin hatsich zur Solidarität bekannt, aber auch die notwendigenModernisierungen und Reformen durchgesetzt. Nur sokommt Europa voran. Sie hätten genau das Gegenteilvon dem provoziert, was notwendig und was richtig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

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Volker Kauder

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Frau Bundeskanzlerin, der Weg, den Sie eingeschla-gen haben, ist richtig. Wir brauchen in Europa Verände-rungen. Wir brauchen insbesondere Vertragsänderungen,um Haushaltsdisziplin durchzusetzen, und gemeinsameRegeln, um Europa voranzubringen. Ich begrüße dasZiel außerordentlich, gemeinsam mit Frankreich einenersten wichtigen Schritt bei der Unternehmensbesteue-rung zu tun. Das zeigt, in welche Richtung es gehenmuss. Wir alle müssen bereit sein, Veränderungen hinzu-nehmen und Opfer zu bringen. Ich sage Ihnen: Eine sol-che Bereitschaft wird es aber nicht geben, wenn das ge-macht wird, was Herr Gabriel will und was sein Finanz-und Haushaltsexperte für falsch hält. Wir dürfen nichteinfach Euro-Bonds einführen. Eine Vergemeinschaf-tung von Schulden hat noch nie eine Verbesserung imSystem gebracht. Deswegen sind wir radikal dagegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen jetzt die Veränderungen angehen. Ich bin si-cher, dass wir aus der konkreten Situation und aus derErkenntnis heraus, dass sich hier einiges tun muss, unserZiel erreichen können.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben darauf hingewiesen,dass der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit – daswar ein schönes Signal – die Bundesregierung bei denVerhandlungen auf europäischer Ebene unterstützt hat,sodass wichtige Ziele erreicht werden konnten. Ichnenne beispielsweise die Beteiligung des privaten Sek-tors mit den Risiken, die Sie beschrieben haben. Not-wendig ist die Botschaft, dass nicht alles allein am Steu-erzahler hängen bleibt, sondern dass auch der privateSektor beteiligt werden muss. Deswegen begrüße ichalle Initiativen und den mit dem Ziel, dass wir zu einerFinanztransaktionsteuer kommen, weiter aufgebautenDruck. Ich bin mir sicher – auch wenn einige jetzt nochdagegenhalten –: Die Erkenntnis wird sich durchsetzen,dass wir nur so Zustimmung für die notwendigen Maß-nahmen und Erneuerungen erreichen können.

Dieser Weg in Europa ist der einzige, der uns dorthinbringt, dass wir wettbewerbsfähig werden, dass wir Zu-kunftschancen haben und dass dieses Europa die richtigeAntwort auf die Herausforderungen in der Zukunft ist.Wir wollen dieses Europa, wir wollen ein starkes Eur-opa. Aber wir wollen ein Europa, in dem jedem klar ist,dass jeder seine Verantwortung für die Stabilität derWährung zu tragen hat. Dieser Weg wird schwer; aberich bin sicher: Er wird erfolgreich gegangen werdenkönnen.

Bei allem Blick auf Europa und auf unsere Aufgabenist es auch notwendig, dass wir nicht vergessen, was sichum uns herum in der Welt tut; denn wir werden von vie-len Entwicklungen in der Welt beeinflusst. So sehen wirmit großer Sorge – ich bin dankbar, dass es heute ange-sprochen worden ist –, was sich beispielsweise in Nord-afrika entwickelt. Ja, es ist richtig, dass Tunesien auf ei-nem guten Weg ist. Aber was wir aus Ägypten hören,muss uns große Sorgen machen.

Es waren gerade jetzt wieder Vertreter der in Deutsch-land lebenden Kopten in Ägypten. Sie kamen vor zweiTagen zurück und haben mir berichtet. Da kann man nur

sagen: Es ist eine dramatische Situation. Es gibt nocheinmal den Kampf gegen das Militär und gegen eine Re-gierung, die die Interessen des Volkes offenbar nichternst nimmt. Diesen Kampf unterstützen wir. Aber wirerwarten bei einem Wandel von einer Diktatur zu einermodernen Gesellschaft natürlich auch, dass in diesemLand alle ihre Religion frei leben können. Deswegen ru-fen wir den Ägyptern zu: Seht in erster Linie darauf,dass ihr Ägypter seid, und nicht darauf, dass ihr einerReligionsgemeinschaft angehört! Nur so werdet ihr zueinem modernen Land werden. Wenn wir euch helfenund unterstützen – was wir machen wollen –, erwartenwir, dass die Menschenrechte eingehalten werden, unddazu gehört die Religionsfreiheit ganz existenziell.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutschland ist auf einem guten Weg. Wir werden allunsere Kraft nicht nur für unser Land einsetzen, sondernauch für eine gute Entwicklung in Europa. Ich spüre beivielen Gesprächen – wir hatten in der letzten WocheKolleginnen und Kollegen aus allen europäischen Län-dern zu einer Tagung bei uns – den Wunsch und die Be-reitschaft, diesen Weg, auch wenn er nicht einfach wird,gemeinsam zu gehen. Wir alle wissen: Dieses Europawar eine großartige Antwort auf die Geschichte, und die-ses Europa ist eine notwendige und großartige Antwort,wenn es um unser aller Zukunftschancen geht. Deswe-gen ist es im deutschen Interesse, für einen starken Euround für ein starkes Europa zu streiten. Da haben Sie uns,Frau Bundeskanzlerin, an Ihrer Seite.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion der Sozialdemokraten unser Kollege Joachim Poß.Bitte schön, Kollege Joachim Poß.

(Beifall bei der SPD)

Joachim Poß (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Bundeskanzlerin, Ihre heutige Rede war einBeleg dafür, wie Sie in staatstragendem Ton den Proble-men, die sich in unserem Lande stellen, ausweichen odersie nur bedingt wahrnehmen wollen.

Zum Rechtsextremismus haben Sie Richtiges gesagt.Aber Ihre Feststellung, dass es nicht richtig sei, wenn imPlenum gesagt werde, dass beim Rechtsextremismus zuviele auf einem Auge blind waren, kann so nicht stehenbleiben, Frau Bundeskanzlerin.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Denn das war so; das ist die zutreffende Beschreibungder Situation. Wenn wir alle in diesem Hause gemeinsam– was ja nicht selbstverständlich ist – in dieser Frage ei-nen Neuanfang wollen, dann müssen wir auf eine falscheGeschichtsanalyse, wie sie von Ihnen gekommen ist,verzichten.

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Joachim Poß

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(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das Wesen Ihres Vorgehens, Frau Merkel, ist, dassTaktik und nicht politischer Gestaltungswille Ihr Redenund Handeln bestimmt. Sie haben gesagt, Sie sprächenimmer gleich, egal wo Sie sind. Aber jeder, auch in denReihen von CDU/CSU und FDP, weiß es besser. Das hatdoch das Elend in Ihrer Koalition verstärkt: dass Sienicht überall gleich reden.

Sie sind, Frau Merkel, Ihrer Führungsverantwortungfür Deutschland in den letzten anderthalb Jahren insge-samt nicht gerecht geworden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit einem anderen Verhalten hätten Sie die finanziellenRisiken für unser Land begrenzen können. Sie habendarauf verzichtet, weil Sie nur einen Maßstab für Ihr Re-den und Handeln haben: die parteitaktische Situationvon CDU, CSU und FDP. Das reicht nicht für die Füh-rungsverantwortung, die man in dieser Position hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Belobigungen von Herrn Brüderle oder HerrnKauder in allen Ehren, aber sie reichen nicht aus, um vondieser Realität abzulenken, die ich hier zusammenfas-send geschildert habe.

In Ihrer Haushaltspolitik wird nach dem Motto „Nachmir die Sintflut“ agiert: Lasten werden durch ihre ge-planten Steuersenkungen und das Betreuungsgeld in dieZukunft verschoben. Diese Lasten werden Ihren politi-schen Erben hinterlassen; die müssen sich dann damitauseinandersetzen – abgesehen davon, dass auch unsereKinder und Enkel mit den Folgen zu kämpfen habenwerden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eine solche Politik, die wegen Orientierungslosigkeit dieRealitäten verweigert und zur Ablenkung die Oppositiondiffamiert, kann nicht zukunftsweisend sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Von Ihrem 80-Milliarden-Euro-Supersparpaket sind– Sigmar Gabriel hat darauf hingewiesen – vor allemStreichungen von 40 Milliarden Euro bei Arbeitslosenund sozial Schwachen übrig geblieben. Frau Merkel, icherinnere mich noch daran, wie Sie im Fernsehen dasSparpaket verteidigt haben. Sie haben gesagt: Wir sor-gen für den sozialen Ausgleich, indem wir zum BeispielUnternehmen belasten. Was ist davon übrig geblieben?Nichts. Stattdessen wächst das soziale Ungleichgewichtin unserer Gesellschaft immer weiter. Das ist das Er-gebnis Ihrer Politik.

(Beifall bei der SPD)

Angesichts dessen sage ich zu den Vorwürfen zu unse-rem sozialdemokratischen Finanzkonzept, die auch heutewieder vorgebracht worden sind: Unser Finanzkonzeptist das einzige Konzept, das den Schuldenabbau mit derFinanzierung von Zukunftsinvestitionen und einer Ent-lastung der Kommunen, die dringend notwendig ist, ver-

bindet. Niemand sonst hat ein solches Konzept auf denWeg gebracht. Um es einmal ganz klar zu sagen: Wir ha-ben im Hinblick auf den Haushalt 2012 die richtigen An-träge gestellt. Das ist schließlich belegt. Sie können mitdiesem Konzept jedenfalls nicht konkurrieren.

Wenn wir zur Finanzierung dieses gerechten und soli-den Konzepts eine stärkere Belastung von Spitzenver-dienern und Vermögenden verlangen, dann ist das nurrecht und billig, um den sozialen Zusammenhalt in unse-rer Gesellschaft zu wahren.

(Beifall bei der SPD)

Aber darum geht es Ihnen nicht, Frau Merkel. Daswar auch beim Thema Mindestlohn zu spüren. Das hattenichts mit Überzeugung zu tun. Nachdem die Wirt-schaftsverbände, die Sie für Ihre angestrebte Wieder-wahl brauchen, anfingen, Druck auszuüben, haben Sieeinen Schwenk hin zu dieser schlechten Lösung auf ih-rem Parteitag vollzogen. Das steckt doch dahinter.

Daher kann man sagen – das schlägt sich überall inden Ergebnissen Ihrer Politik nieder –: Sie haben einenausgeprägten Machtwillen; aber es fehlt Ihnen der Ge-staltungswille, jedenfalls der Wille, in unserer Gesell-schaft die Dinge zum Besseren zu gestalten.

(Beifall bei der SPD)

Das kann man noch differenzieren und ausbuchstabie-ren: Was tun Sie denn gegen Kinderarmut oder die her-aufziehende Altersarmut? Was soll denn die Pflegelö-sung, die Sie jetzt vorschlagen? Die Sachverständigenund Betroffenen lehnen Ihre Beschlüsse zur Pflege na-hezu unisono als Stückwerk ab. Hier ist viel mehr nötigals das, als Sie vorlegen. Eine Reform ist das jedenfallsnicht.

Was tun Sie, um strukturschwachen Kommunen zuhelfen? Ihre Gemeindefinanzkommission ist letztlich ge-scheitert, weil Ihnen nicht viel mehr einfallen wollte alsdie Aushöhlung der Gewerbesteuer. Ihr Ziel war auchhier nur, die Lasten von den Unternehmen auf die Bürge-rinnen und Bürger abzuwälzen. Das ist mit uns nicht zumachen. Das haben wir nicht mitgemacht, das haben an-dere nicht mitgemacht, und das haben auch die kommu-nalen Spitzenverbände nicht mitgemacht. Sie dürfen indiesem Lande keine Politik gegen die Kommunen betrei-ben, so wie Sie es versucht haben.

(Beifall bei der SPD)

Die Übernahme der Grundsicherung im Alter durchden Bund war kein Ergebnis der Gemeindefinanzkom-mission, sondern Teil des Kompromisses zu Hartz IV.Auf Druck der Sozialdemokraten und der kommunalenSpitzenverbände mussten Sie das zugestehen. So lautetdie historische Wahrheit, und nicht so, wie Sie sie zumTeil darstellen.

(Beifall bei der SPD)

Die Reihe Ihrer großen Ankündigungen und Projekte,die zu nichts geführt haben, lässt sich ohne Problemefortführen. Frau Merkel, wie viele Bildungsgipfel sindeigentlich in den zwei Jahren Schwarz-Gelb an Ihnen ge-scheitert? Die SPD-Bundestagsfraktion beantragt in die-

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Joachim Poß

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ser Woche für 2012 weitere 300 Millionen Euro für denAusbau von Krippenplätzen und 400 Millionen Euro fürden Ausbau von Ganztagsschulen.

(Otto Fricke [FDP]: Wollten Sie nicht sparen?)

Das ist gut für die Zukunft unserer Kinder. Es wäre einegute und zukunftsgerichtete Politik, wenn Sie diesen An-trägen zustimmen würden.

Aber Sie blockieren sich selbst durch das fragwürdigeund teure Betreuungsgeld; das ist hier schon mehrfachdargestellt worden. Die Milliarden, die Sie in das Be-treuungsgeld stecken wollen, fehlen beim Ausbau derBetreuungsinfrastruktur.

(Beifall bei der SPD)

Man kann einen Euro eben nicht zweimal ausgeben.

Außerdem: Erst das Elterngeld, das wir in der GroßenKoalition gemeinsam vereinbart haben, um die Eltern imBeruf zu halten, dann das Betreuungsgeld, um dieFrauen vom Beruf fernzuhalten. Wie gaga ist das eigent-lich, was Sie da vorschlagen?

(Thomas Oppermann [SPD]: Obergaga!)

Wo, Frau Merkel, ist Ihre Initiative zur Behebung dergroßen Infrastrukturdefizite? Eines der erfolgreichstenProgramme, „Soziale Stadt“, wird von Ihnen weiterhinsträflich vernachlässigt. Wenn Sie es mit Ihrem Geredevon einer Politik für mehr Wachstum und einer besserenInfrastruktur wirklich ernst meinen, dann setzen Sie hieran und stocken Sie die Programmmittel entsprechendauf. Wir dürfen unsere Städte sozial und kulturell nichtverkommen lassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion der FDP unser Kollege Dr. Hermann Otto Solms.Bitte schön, Kollege Solms.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Zunächst einmal möchte ich mich bei der Frau Bun-deskanzlerin für ihre brillante Rede heute bedanken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das war eine wirklich glasklare Positionsbeziehung, diefür die interne Auseinandersetzung genauso wie für dieeuropäische Auseinandersetzung wichtig ist, in der sichdie Bundesregierung und wir alle gegenwärtig befinden.

In der Generalaussprache kommt es darauf an, zukennzeichnen: Was sind eigentlich die zentralen Ergeb-nisse der Politik unserer Koalition? Das herausragendeErgebnis ist die positive Entwicklung auf dem Arbeits-markt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie ist sozialpolitisch und überhaupt der Kern der politi-schen Bemühungen. Die positive Entwicklung ist dasKennzeichen einer sehr erfolgreichen Wirtschaftspolitik.Sie führt auch zu einer erfolgreichen Finanzpolitik. Es istschon herausragend, dass wir heute eine so niedrige Ar-beitslosigkeit haben, dass wir die Arbeitslosigkeit nahezuhalbiert haben – nur noch 2,7 Millionen Arbeitslose –,dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigten auf über 28 Millionen und die Zahl der Erwerbstä-tigen auf 41,4 Millionen gestiegen ist.

Das ist sozialpolitisch deshalb entscheidend, weil wirdamit Menschen in die Lage versetzen, ihren Lebensun-terhalt mit ihrer eigenen Arbeit zu verdienen und ihreFamilie zu ernähren, und sie nicht auf staatliche Trans-fers und Hilfen von außen angewiesen sind. Das ist diesozialste Politik, die man überhaupt machen kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich weiß nicht, ob den Kollegen von der Oppositiondabei etwas auffällt: Die Regierungen, die in den letzten20 Jahren die sozialsten Ergebnisse überhaupt erzielt ha-ben, waren unter Beteiligung der FDP, der immer unso-ziales Verhalten vorgeworfen wird.

(Beifall bei der FDP)

Wir wissen, worauf es ankommt, nämlich auf eine intel-ligente Mischung aus staatlicher Regulierung, Freiheitan den Märkten und Wettbewerb zur Leistungsanspor-nung. Deswegen wurde dieses fantastische Ergebnis er-zielt. Darauf sind wir Liberale ganz besonders stolz.

(Beifall bei der FDP)

Denn es zeigt sich, dass diese Politik viel erfolgreicherist als die Erhöhung der Mittel für soziale Kassen oderdie Schaffung neuer sozialer Bürokratien, die sich nurdarum kümmern, Geld auszugeben, aber nicht auf dieErgebnisse achten.

Die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist also das He-rausragende. Sie, die Sozialdemokraten und die Grünen,hätten eigentlich ebenfalls Grund, stolz darauf zu sein,weil Sie einen Beitrag dazu geleistet haben: Sie habendie Arbeitsmarktreformen durchgeführt. Aber Sie vonder SPD haben den Vater der Arbeitsmarktreformen,Wolfgang Clement, aus der Partei geekelt. Nun wollenSie diese Reformen rückabwickeln. Deswegen ist esklar, dass Sie sich nicht dazu bekennen können, stolzdarauf zu sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir fahren jetzt die Ernte ein: Die Beiträge zur Ren-tenversicherung können gesenkt werden.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Besser nicht!)

Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bleiben auf ei-nem niedrigen Niveau; es bestand die Gefahr, dass siewieder angehoben werden müssen. Die Beiträge zur ge-setzlichen Krankenversicherung müssen nicht angehobenwerden, obwohl das von Ihnen immer wieder vorausge-sagt worden war. Hier entlasten wir die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer genauso wie die Unternehmen.

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Dr. Hermann Otto Solms

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Das ist das Ergebnis einer guten Arbeitsmarkt- und Wirt-schaftspolitik.

Natürlich fahren wir die Ernte auch im Haushalt ein;denn 2,5 Millionen mehr Beschäftigte sind 2,5 Millionenmehr Steuerzahler und Beitragszahler und 2,5 MillionenMenschen weniger, die von den Transfers leben müssen.Dadurch ergibt sich eine Verbesserung des Finanzsaldosdes Staates und der Sozialkassen: Er steigt um rund50 Milliarden Euro. Das finden wir jetzt im Haushaltvor, sodass wir am Ende des Jahres weniger als 25 Milli-arden Euro Neuverschuldung haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es kommen im Übrigen immer Klagen von den Ge-meinden und Ländern. Sie sind an dem Ergebnis abervoll beteiligt. Sie haben natürlich auch erhebliche zu-sätzliche Einnahmen, aber sie schaffen es nicht, ihreAusgaben so zu gestalten, dass sie ihre Verschuldungentsprechend abbauen können. Sie steigern ihre Ausga-ben nämlich in dem gleichen Maße, wie ihre Einnahmenwachsen. In manchen Ländern steigen diese sogarschneller als die Einnahmen. Ich nenne Nordrhein-West-falen und Baden-Württemberg als Beispiele. Das ist einAusdruck von Verantwortungslosigkeit. Von daher kannder Wähler durchaus anhand der Ergebnisse der Politikerkennen, wer wo Verantwortung trägt.

Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf die Euro-Bonds. Ich kann die Haltung, welche die Bundeskanzle-rin hier eingenommen hat, voll und ganz unterstützen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Super!)

Wir müssen wissen – das sage ich auch an die Adresseder Oppositionsparteien –, dass die deutsche Regierungbei ihren Verhandlungen unter ganz erheblichem interna-tionalem Druck steht: sei es vonseiten der Kommission,sei es vonseiten der Schuldnerländer in Europa oder seies vonseiten der Angelsachsen, die es gewohnt sind, dieDruckerpresse anzuschmeißen, um die Probleme durchInflation zu lösen. Das alles wollen wir nicht. Das dürf-ten auch Sie nicht wollen. Wenn das der Fall ist, solltenSie die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung und auchuns hier im Parlament – weil wir das alles mit beschlie-ßen – dabei unterstützen, damit wir als geschlosseneKraft auftreten können; denn die Stabilisierung in Eur-opa kann nur gelingen, wenn Deutschland als Vorbildgenommen wird.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ge-schlossenheit ist in der Vergangenheit ja eheran Ihnen gescheitert!)

Wir haben eine vorbildliche Haushaltsentwicklung, müs-sen uns aber in den nächsten Jahren wahrscheinlich nochmehr anstrengen, wenn die Konjunktur etwas nachlässt.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte die Oppositionsfraktionen auffordern, dieRegierung im internationalen Bereich zu unterstützen.Es handelt sich um eine schwere Aufgabe. Die Krise istdurch die Verschuldung der Staaten entstanden. Sie kann

nur gelöst werden, indem diese Verschuldungspolitik be-endet und die Verschuldung abgebaut wird.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Die Verschuldung ist nicht durch die Märkte entstanden,sondern durch die Staaten. Wenn man die Ursachen be-kämpfen will, muss man die Staatsverschuldung in allenLändern zurückführen – auch wenn das nur unter Druckgelingt.

Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Frau Bun-deskanzlerin, ich bin in einem Punkt – das sage ich auchHerrn Kauder – sachpolitisch einfach anderer Meinung.Die Finanztransaktionsteuer kann die Zwecke, die Siemit ihr verbinden, nicht erfüllen.

(Joachim Poß [SPD]: Aha!)

Das ist das Problem. Deshalb hat sich der Nobelpreisträ-ger Tobin kurz vor seinem Tod von dieser Idee verab-schiedet. Er hat gesagt: Das kann nicht funktionieren.Das kann nicht gelingen. Vergesst es! – Sie könnte nurfunktionieren, wenn sie weltweit eingeführt werdenwürde. Wenn es Ausweichstandorte gibt, werden die ge-nutzt.

Das eigentliche Problem besteht erstens darin: Die Fi-nanztransaktionsteuer wird nicht von den Akteuren aufden Finanzmärkten bezahlt, sondern von den Kunden,den Anlegern und Sparern, die ihre Altersvorsorge auf-bauen. Sie wird also auch von den Riester-Rentnern be-zahlt. Die Banken bezahlen das nicht, die leiten dasdurch. Es handelt sich um eine Umsatzsteuer.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist bei jederMehrwertsteuer so! – Dr. Barbara Hendricks[SPD]: So ein Blödsinn! – Zuruf des Abg. Ul-rich Kelber [SPD])

Zweitens können Sie nicht sicherstellen, dass dieTransaktionen dort stattfinden, wo der deutsche Fiskusseine Hand im Spiel hat. Das geht nämlich ganz automa-tisch. Gehen Sie zur Deutschen Börse nach Frankfurtund lassen Sie sich das erklären. Es steht schon in denProgrammen, dass die Umsätze dort stattfinden, wo dieKosten für die Umsätze am niedrigsten sind. Das habendie in Brüssel nun auch erkannt und sind auf die schlaueIdee gekommen, man müsse das an den Wohnort desAuftraggebers binden. Ich möchte Sie einmal fragen:Wie wollen Sie denn Zürich, London, Singapur, Panama– wer immer da infrage kommt – dazu zwingen, die Auf-traggeber bekannt zu geben, damit die besteuert werdenkönnen?

(Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])

Das ist völlig ausgeschlossen. Es kann nicht funktionie-ren und wird kein Steueraufkommen bringen, weil dieUmsätze dann in Sekundenschnelle von europäischenhin zu anderen Standorten weglaufen. Das ist heute imelektronischen Zeitalter überhaupt kein Problem mehr;es geschieht ganz automatisch.

Wenn Sie die Banken und Bankakteure besteuernwollen, müssen Sie an die Bilanzsumme oder den Ge-

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Dr. Hermann Otto Solms

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winn herangehen, dürfen aber keine Umsatzsteuer ma-chen, welche die Bankkunden, aber nicht die Bankentrifft.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Frak-

tion der CDU/CSU unsere Kollegin Gerda Hasselfeldt.Bitte schön, Frau Kollegin Gerda Hasselfeldt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein

Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung in unseremLand, auf die Beschäftigtenzahlen und auch auf die Ent-wicklung der öffentlichen Einnahmen und Ausgabenmacht deutlich: Deutschland ist der Wachstumsmotor,der Jobmotor in Europa. Deutschland ist im europäi-schen Vergleich, was die Staatsfinanzen betrifft, ein Hortder Stabilität und der Solidität. Deutschland ist Vorbildfür viele andere Länder in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für viele an-dere westliche Industriestaaten. Wir haben dies denMenschen in unserem Land zu verdanken: den Unter-nehmern, den Arbeitnehmern und denen, die in den Ta-rifverhandlungen verantwortungsvoll entschieden ha-ben. Sie werden von einer Regierung regiert, die ihnenFreiheit und auch die Früchte ihrer Arbeit lässt.

(Zuruf von der LINKEN: Was?)

Und das, meine Damen und Herren, ist gut so.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gut, dass gerade in dieser Zeit eine bürgerlich-christlich-liberale Regierung in der Verantwortung ist.

(Beifall des Abg. Rainer Brüderle [FDP])

Es sind Tatsachen: Bei der wirtschaftlichen Entwick-lung und der Haushaltskonsolidierung ist DeutschlandVorreiter. Im Jahr 2010 und im Jahr 2011 – auch das istTatsache – haben wir haushaltstechnisch jeweils besserabgeschnitten, als es vorgesehen war. Das ist nichtselbstverständlich, sondern auch das ist Ausfluss vonRegierungshandeln und Handeln der Menschen in unse-rem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Tatsache ist auch, dass die Defizitgrenze, die im europäi-schen Stabilitäts- und Wachstumspakt vereinbart wurde,trotz der Krise, die vor einigen Jahren zu bewältigenwar, wieder eingehalten wird. Tatsache ist auch, dass wirvoraussichtlich schon vor 2016 die mit der Schulden-bremse vereinbarten Grenzwerte einhalten werden. Dasist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Diese mussman mit dem vergleichen, was Sie uns nach Ihrer Regie-rungszeit hinterlassen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir hatten nicht nur andere Daten bei der Verschul-dung; von Solidität und Stabilität der öffentlichen Finan-zen war gar nicht die Rede. Von einer guten wirtschaftli-chen Entwicklung, geschweige denn einer gutenBeschäftigtenentwicklung, war auch nicht die Rede.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das Ge-genteil war der Fall!)

Die 5 Millionen Arbeitslosen, die Sie uns hinterlassenhaben, sind heute mehrfach angesprochen worden.

Das Allerschlimmste, was Sie uns hinterlassen haben,ist das, was Sie damals auf europäischer Ebene verein-bart haben:

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Angerichtet ha-ben!)

Weil Sie selbst nämlich unsolide gewirtschaftet und dieKriterien nicht beachtet haben, haben Sie diese dannauch noch auf europäischer Ebene aufgeweicht und soeine Einladung an alle anderen europäischen Staatenausgesprochen, sich ebenso zu verhalten. Genau mit die-sem Phänomen haben wir uns heute zu beschäftigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lehren aus derStaatsschuldenkrise sind eindeutig. Wer sich am Prinzipstabiler Staatsfinanzen versündigt, der versündigt sichnicht nur gegenüber den künftigen Generationen, son-dern den bestrafen auch die Märkte. Das ist eindeutig.Sie können das übrigens erkennen, wenn Sie die Ent-wicklung unserer Bundesanleihen auf den Finanzmärk-ten beobachten. Da sehen Sie, wie wir dafür belohntwerden. Das sind unabhängige Schiedsrichter, die überdie Solidität der öffentlichen Haushalte richten und ihreAktionen danach ausrichten.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was sind das? Unabhängige Schiedsrichter?)

Die Rendite der deutschen Bundesanleihen ist soniedrig wie selten zuvor, die Kurse für die Bundesrepub-lik waren selten so günstig. Das ist Ausdruck von Solidi-tät. Weil die Märkte so reagieren, gibt es bei der Be-kämpfung der Staatsschuldenkrise keine Alternative zueiner vernünftigen, sparsamen Konsolidierungspolitikund einer guten Wettbewerbspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Krise wird nicht dadurch gelöst, dass die Noten-banken unbegrenzt öffentliche Anleihen aufkaufen, auchwenn der frühere Bundeskanzler Schröder das jetzt wie-der gefordert hat. Sie wird auch nicht dadurch gelöst,dass Euro-Bonds aufgelegt werden, dass die Schuldenvergemeinschaftet werden. Ich bin der Bundeskanzlerinund dem Bundesfinanzminister ausdrücklich dankbar,dass sie sich so klar und eindeutig gegen eine Verge-meinschaftung der europäischen Schulden ausgespro-chen und sich deutlich und klar von den Vorschlägen wie

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Gerda Hasselfeldt

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Euro-Bonds distanziert haben und dies auch auf europäi-scher Ebene bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck brin-gen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]:Frau Hasselfeldt, was macht denn die EZB?)

Meine Damen und Herren, nachhaltige Finanzpolitikbedeutet nicht nur Sparen und Konsolidieren. Nachhal-tige Finanzpolitik bedeutet auch Zukunftssicherung.Nachhaltige Finanzpolitik bedeutet auch Verstetigungund Erhöhung der Investitionen. Nachhaltige Finanz-politik bedeutet auch, die soziale Balance zu wahren undSpielraum zu schaffen durch eine gerechte Steuerpolitik.Auch dies kommt in diesem Haushalt zum Ausdruck:durch die Erhöhung der Ansätze für Bildung und For-schung, durch die Erhöhung der Ansätze für die Infra-struktur, insbesondere für die Verkehrsinfrastruktur. Alldas ist notwendig, um die Basis für eine gute Zukunft zuschaffen. All dies haben wir in den vergangenen Jahrenmit Erfolg gemacht.

Nun zur Steuerpolitik. Die vorgesehene Erhöhung desExistenzminimums, die vorgesehene Erhöhung desGrundfreibetrags – das ist hier schon mehrfach ange-sprochen worden –, ist verfassungsrechtlich geboten.Das ist notwendig.

(Klaus Hagemann [SPD]: Jawohl!)

Wenn Sie sich an unserer Verfassung orientieren, dannkönnen Sie sich dagegen nicht verwehren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Klaus Hagemann [SPD]: Das machtdoch keiner! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]:Das tut doch keiner! – Joachim Poß [SPD]:Legen Sie Zahlen vor!)

– Ich bin noch nicht fertig. – Das ist der eine Teil diesesKonzepts. Der zweite Teil betrifft das Problem der soge-nannten kalten Progression.

(Joachim Poß [SPD]: Legen Sie doch einmalZahlen vor! Sie verweigern sie seit einemJahr!)

– Herr Poß, wir haben im Finanzausschuss lange genugmiteinander gearbeitet.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Und was hat esgenutzt? – Heiterkeit bei Abgeordneten derCDU/CSU – Gegenruf des Abg. Joachim Poß[SPD]: Ich weiß, worüber ich rede! Im Gegen-satz zu Ihnen! – Gegenruf des Abg. AlexanderDobrindt [CDU/CSU]: Das ist falsch! Sie ha-ben keine Ahnung!)

Sie wissen so gut wie ich, dass durch die kalte Progres-sion nichts anderes bewirkt wird als eine heimliche staat-liche Ausbeutung der Lohn- und Einkommensteuerzah-ler. Nichts anderes ist die kalte Progression.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Das ist eine heimliche staatliche Ausbeutung der Lohn-und Einkommensteuerzahler. Die kalte Progression führt

nämlich dazu – das ist Folge des Zusammenwirkens vonProgression und Inflation –, dass bei denen, die arbeiten,die Geld verdienen, von einer Lohnerhöhung mehr alsnotwendig, mehr als gerecht wäre, vom Staat abkassiertwird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Genau das soll korrigiert werden. Das ist ein Akt der so-zialen Gerechtigkeit. Das ist ein Akt der Steuergerech-tigkeit – nichts anderes.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Dasmuss belegt werden!)

Jetzt will ich noch ein Wort zu dem heute schon häu-fig angesprochenen Betreuungsgeld sagen. Frau Künast,Sie haben gesagt, dass die Kinder in den Mittelpunkt ge-stellt werden sollen. Da stimme ich Ihnen völlig zu. Dasgilt für die Bildungspolitik, für die Familienpolitik undalle anderen Bereiche der Gesellschaftspolitik. Die Kin-der sind das Allerwichtigste, was wir in unserem Landhaben. Das gilt nicht nur für die eigenen Kinder, sondernfür alle Kinder in unserer Gesellschaft, egal aus welchensozialen Schichten sie kommen, aus welchen Regionensie kommen oder in welchem Alter sie sind. Sie sind dasWichtigste. Keine Diskussion darf uns zu viel sein, wennes darum geht, wie wir die Zukunft unserer Kinder gutgestalten können, wie wir sie so gestalten können, dasssie künftig Verantwortung für dieses Land übernehmenkönnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In unserer Gesellschaft, in unseren Familien hat sichvieles verändert, nicht zuletzt durch die veränderte Rolleder Frau. Darauf geben wir Antworten. In den vergange-nen Jahren haben wir eine Fülle von verschiedenen Ant-worten gegeben. Ich meine nicht nur das Elterngeld, son-dern auch den großen Beitrag, den der Bund beimAusbau der Kinderbetreuungseinrichtungen leistet, ob-wohl er nicht zuständig ist. Auch das muss einmal er-wähnt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir unterstützen vonseiten des Bundes die Länderund Kommunen bei der Aufgabe, den Rechtsanspruchauf einen Kinderbetreuungsplatz für die Zwei- und Drei-jährigen ab 2013 zu realisieren. Genau dort setzt das Be-treuungsgeld an. Wir wissen, dass etwa die Hälfte derEltern ihre Kinder in der vertrauten Umgebung aufwach-sen lassen wollen. Das ist völlig nachvollziehbar. Die ei-nen entscheiden sich relativ früh für eine Betreuung ineiner Kinderbetreuungseinrichtung, und zwar schon abdem zweiten, dritten Lebensjahr des Kindes und nichterst ab Vollendung des dritten Lebensjahres. Anderewollen dies zu Hause selbst erledigen. Wiederum andereziehen es vor, die Großeltern, Geschwister, Nachbarn,Tagesmütter oder andere damit zu beauftragen und sichvon ihnen wenigstens teilweise unterstützen zu lassen.

Meine Damen und Herren, es entspricht unseremGrundsatz der Wahlfreiheit,

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Gerda Hasselfeldt

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(Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])

dass die Eltern frei entscheiden können, wie sie es ma-chen wollen.

(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Was finanziertder Staat? – Swen Schulz [Spandau] [SPD]:Sagen Sie das Frau Böhmer, oder wem?)

Ich bin bis zu dieser Argumentation einen weiten Weggegangen; ich will das gerne zugeben. Ich habe michvon den Argumenten überzeugen lassen, von nichts an-derem. Und ich habe mich überzeugen lassen von denWünschen der Eltern, die deutlich zum Ausdruck brin-gen, dass sie selbst entscheiden möchten. Wenn der Staatdurchschnittlich 1 000 Euro für einen Kinderbetreuungs-platz ausgibt, dann ist es nur gerecht, wenn man sagt,dass diejenigen, die das nicht in Anspruch nehmen, ei-nen Teil davon, nämlich 150 Euro, für die privat organi-sierte Betreuung bekommen sollen. Das ist ein Akt derGerechtigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: ObSie damit die eigenen Frauen überzeugt ha-ben?)

Man kann ja so oder so argumentieren. Diese Leis-tung jedoch als Herdprämie zu bezeichnen,

(Johannes Kahrs [SPD]: Genau!)

stellt nicht nur eine Diffamierung und Beleidigung allderjenigen dar, die diese Leistung in Anspruch nehmenwollen oder werden, sondern es grenzt wirklich an Eh-renrührigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, dieser Haushalt ist deutlich geprägt von Soli-dität und Stabilität der öffentlichen Finanzen. Er gibt dierichtigen Wachstumsimpulse und bewahrt die sozialeBalance. Wir sind mit der eingeschlagenen Richtung inden vergangenen Jahren gut gefahren. Und deswegenwerden wir diesen Weg fortsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Voll gegen dieWand gefahren sind Sie!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die

Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Rüdiger Kruse. –Bitte schön, Kollege Kruse.

(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Rüdiger, jetzt nett bleiben!)

Rüdiger Kruse (CDU/CSU):Natürlich, mache ich. – Herr Präsident! Meine sehr

geehrten Damen und Herren! Zu diesem Haushalt gibt esBerichterstatter, und diese Berichterstatter haben einThema, und auf das will ich gerne eingehen.

Wir haben in der heutigen Generaldebatte viel überdas Gemeinwesen gehört. Ein Gemeinwesen ist so etwaswie ein Organismus. Ein Organismus hat Blutbahnen,

Nervenstränge und Muskelgewebe, hat also, um es insTechnische zu übersetzen, eine Infrastruktur.

Wir haben im Bereich der Infrastruktur Akzente ge-setzt, und zwar doppelte. Bei Infrastruktur denkt man zu-nächst an Lkw und Schiffchen. Johannes Kahrs und ichdenken, weil wir von der Küste kommen, mehr anSchiffe; andere Leute, die mit der Eisenbahn gespielt ha-ben, denken an diese. In diesen Tagen denken wir viel-leicht sehr häufig an Eisenbahnen und an Bahnhöfe. Mitder Infrastruktur, mit diesem zentralen Herz- und Ner-vensystem des Organismus, in deren Instandhaltung undErweiterung wir jedes Jahr 10 Milliarden Euro investie-ren, befähigen wir das Wirtschaftssystem unseres Lan-des, die Arbeitnehmer und die Unternehmer, die Gelderzu erwirtschaften, die wir hier umverteilen dürfen. Ohneeine funktionierende Infrastruktur hätten wir keine funk-tionierende Wirtschaft und könnten nicht jährlich160 Milliarden Euro für soziale Zwecke im weitestenSinne ausgeben.

Wenn wir trotz der Notwendigkeit, Ausgaben zu re-duzieren, 10 Prozent mehr für Infrastruktur ausgeben,dann kann man mit Recht davon ausgehen, dass das eineRendite haben wird. Das wird nicht nur eine wirtschafts-politische, sondern auch eine sozialpolitische Renditehaben. Denn unser Grundsatz ist, dass sozial ist, was Ar-beit schafft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Dr. Barbara Hendricks [SPD]:Sozial ist, was gute Arbeit schafft!)

Es wurde schon gesagt, was für einen großen Vorteil esdarstellt, wenn die Menschen Arbeit haben.

Natürlich macht Arbeit Spaß und erfüllt, aber es gibtauch einen großen anderen Bereich. Ein Land mussnämlich auch eine kulturelle Infrastruktur bereitstellen.Kultur ist natürlich Ländersache – das betone ich –, unddie Länder haben sich das überlegt. Dieser Bereich ist janicht sozusagen übrig geblieben, sondern die Länder ha-ben in der Föderalismusdiskussion gesagt: Das ist unswichtig, weil wir uns damit identifizieren können und sounser Bild prägen und unsere Unterschiedlichkeit lebenkönnen. Daran sollten sich die Länder erinnern.

Aber auch der Bund hat eine Aufgabe in der Kultur.Ich bin sehr zufrieden und stolz, dass es bei den drei letz-ten Etats, 2010, 2011 und 2012, die ich mitberaten habe,in diesem Bereich trotz der allgemeinen Entwicklungimmer einen stetigen Aufwuchs gegeben hat. Wir erhö-hen die Mittel für Kultur um etwa 5 Prozent; das ist eingutes Ergebnis.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir tun dies im Rahmen von Maßnahmen, über die wiruns nicht in zwei, drei oder vier Jahren ärgern müssen.Es wäre natürlich nett, wenn wir allen Intendanten imLande die Gehälter erhöhen würden – das ist ein schönerGedanke; der eine oder andere hätte es verdient –, aberes würde uns strukturell belasten.

Wir machen deshalb sehr viel im Bereich Denkmal-schutz. Es gibt ein Denkmalschutz-Sonderprogramm.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16941

Rüdiger Kruse

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Dieses hat einen mehrfachen Nutzen. Die 30 MillionenEuro, die wir dort investieren, können Sie im Prinzipbeim Programm „Soziale Stadt“ mitverbuchen, weilDenkmäler in Kommunen die Selbstidentifizierung er-möglichen. Das ist der eine Grund. Der zweite Grund ist:Wir geben keine Mittel, wenn es nicht ein Nutzungskon-zept für ein Denkmal gibt. In aller Regel geht es um so-ziale oder kulturelle Zwecke. Das heißt, mit diesem Pro-gramm, das natürlich gleichzeitig Wirtschaftsförderungist, fördern wir auch das Programm „Soziale Stadt“, undzwar mit 30 Millionen Euro; dieser finanzielle Umfangist in der heutigen Zeit ausgezeichnet.

Wir liefern eine Möglichkeit der kulturellen Entfal-tung. Das ist wichtig. Bürgerliche Politik ist so zu be-schreiben, dass sie Identitäten und Individualität fördert.Alles, was extrem links oder extrem rechts von bürger-licher Politik liegt, löst diese zugunsten einer gefähr-lichen Schimäre, eines kollektiven Gesamtbildes auf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das heißt – das ist das Interessante –, dass in der Kultur-szene das Persönlich-Politische häufiger in das eine oderandere Extrem gehen mag, aber die Möglichkeiten undArbeitsbedingungen sind innerhalb eines bürgerlich de-mokratischen Systems am größten, weil hier die Freihei-ten betont und nicht infrage gestellt werden, weil Kunstund Kultur nicht für einen Verkündungsauftrag miss-braucht werden. Das ist, glaube ich, wichtig in der De-batte um das Leitbild sozialer Gesellschaften.

In einer Welt, in der wir hinsichtlich der Bevölke-rungszahlen und der Wirtschaftskraft nicht mehr die Be-deutendsten sein werden, ist es natürlich wichtig, dasswir ein Ort sind, der anregt und der aufgrund seiner be-wahrten und in die Zukunft geführten kulturellen Kom-petenz attraktiv ist, sodass viele Menschen an diesen Ortkommen, um mit uns gemeinsam Zukunft zu gestalten.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Frak-

tion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Petra Mer-kel. Bitte schön, Frau Kollegin Petra Merkel.

(Beifall bei der SPD)

Petra Merkel (Berlin) (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Staats-minister Neumann, ich bin sehr froh, dass Sie wiederhier sind. Ich freue mich, dass Sie genesen sind und dasswir gemeinsam über den Kulturbereich diskutieren kön-nen.

Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat in denHaushaltsberatungen eine Reihe von Änderungsanträgeneingebracht, um ein Bildungspaket umzusetzen, den na-tionalen Pakt für Bildung und Entschuldung. Dieser Paktsieht jährlich Ausgaben in Höhe von 2 Milliarden Eurovor; bis 2016 sind Mehrausgaben im Bildungsbereich in

Höhe von 10 Milliarden Euro vorgesehen. Meine Kolle-ginnen und Kollegen werden, wenn es um die einzelnenEtats geht, auf diesen Bildungspakt zurückkommen undauch über den Entschuldungspakt reden. Insofern fasseich mich hier kurz.

Bildung heißt selbstverständlich auch kulturelle Bil-dung. Auch für den Etat des Beauftragten für Kultur undMedien haben wir Mittel eingeplant. Unser Konzeptsieht für die Bereiche Medienkompetenz, Integrationund Fortbildung zusätzliche Mittel in Höhe von 5 Millio-nen Euro vor, 2 Millionen Euro davon sollten für Ju-gendprojekte und für Projekte zur medialen Bildung vonKindern und Jugendlichen eingesetzt werden, und0,5 Millionen Euro hatten wir für die Medienkompetenz-forschung vorgesehen. Es ist bedauerlich, dass die Koa-litionsfraktionen diesen Anträgen nicht zugestimmt ha-ben.

Wir jedoch haben einigen Anträgen der Koalitionsfrak-tionen zugestimmt. Drei Beispiele dazu: 30 MillionenEuro für ein Denkmalschutz-Sonderprogramm – dazuwerde ich gleich noch kommen –, 2,5 Millionen Euro fürdie Weiterförderung der Völklinger Hütte und zusätz-liche Mittel für das Haus der Kulturen der Welt, nämlich3,3 Millionen Euro für ein mehrjähriges Projekt.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte ein weiteres Thema ansprechen, mit demich seit Jahren immer wieder in Berührung komme undvon dem ich meine, dass es eine größere Bedeutung hat,als wir ihm beimessen: die Bewahrung von Kulturgut.Viele Stücke sind in einem so schlechten Zustand, dassman um ihren Erhalt bangen muss, viele sind kontami-niert, sodass sie gar nicht ausgestellt werden können,und viele Exponate, die in Museen lagern, lösen sichleise und langsam auf. Kunstwerke und Schätze aus Pa-pier, Textilien oder Holz sind von Zerfall und Zersetzungbedroht. Skulpturen und Gemälde sind der Zerstörungdurch Klima- und Umweltgifte ausgesetzt.

Die Bewahrung von Kulturgut geschieht auf mehre-ren Ebenen: durch Untersuchungsmethoden, die Expo-nate nicht zerstören, durch Messungen, bei denen Schad-stoffe entdeckt werden, und durch dauerhafte Sicherungvon Exponaten. Sie können sich vorstellen, dass drin-gend Forschungsmittel nötig sind, um in diesen Berei-chen tätig zu werden, weil jedes Material eine andereBehandlung braucht.

In Deutschland haben wir kompetente Einrichtungen,die sich mit diesem Thema befassen, zum Beispiel dieForschungsallianz Kulturerbe, eine Kooperation zwi-schen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Fraun-hofer-Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft, dieBAM, die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, das Netzwerk zur interdisziplinären Kultur-guterhaltung in Deutschland, N.i.Ke., und die DeutscheBundesstiftung Umwelt. Die Arbeiten dieser Institutio-nen sollten Sie, Herr Staatsminister Neumann, mit demKulturetat unterstützen und verstärken.

Ich komme zu den denkmalgeschützten Gebäuden.Den Regierungsfraktionen ist es erneut gelungen, einSonderprogramm aufzulegen; das begrüße ich sehr.

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Petra Merkel (Berlin)

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(Johannes Kahrs [SPD]: Das war aber unsere Initiative! War mühsam genug!)

Die beiden letzten Programme waren sehr erfolgreichund haben in Deutschland sichtbare Spuren hinterlassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

30 Millionen Euro stehen nun 2012 für die Sanierungdenkmalgeschützter Bauten zur Verfügung. Sehr gut andiesem Programm ist übrigens, dass sich sowohl Kom-munen als auch Länder und Private beteiligen und so ausden 30 Millionen Euro fast 60 Millionen Euro werdenkönnen. Das ist gut investiertes Geld; denn es kommt so-wohl den Regionen als auch dem vor Ort tätigen Hand-werk zugute.

(Beifall des Abg. Norbert Barthle [CDU/CSU])

Bei der energetischen Sanierung denkmalgeschützterBauten hakt es allerdings. Wie viel hätte man gewonnen,wenn man Energieeffizienz auch schon bei der Sanie-rung berücksichtigen würde? Hier mein Appell an denBeauftragten für Kultur und Medien: Tun Sie etwas,auch mit Mitteln aus diesem Sonderprogramm! NutzenSie die Energiewende, und unterstützen Sie energieeffi-zientes Sanieren!

(Beifall bei der SPD)

Unterstützen Sie die Forschung in diesem Bereich, undunterstützen Sie Kooperationen auch im Denkmal-schutz! Das sind keine Mittel, die ausschließlich für Or-chideen, die in irgendeinem Zusammenhang mit denk-malgeschützten Gebäuden stehen, bereitgestellt werden,sondern es geht um Verfahren, die man, wenn sie entwi-ckelt worden sind, auch bei ganz normalen Objekten an-wenden kann. Übrigens: Sie schaffen auch Arbeits-plätze.

(Beifall bei der SPD)

Es passiert bereits etwas auf diesem Gebiet. Die Deut-sche Bundesstiftung Umwelt zum Beispiel veranstaltetim Dezember dieses Jahres eine Tagung zum ThemaDenkmal und Energie. Auf das Ergebnis bin ich ge-spannt.

(Johannes Kahrs [SPD]: Wir auch! Das ist wichtig!)

Und: Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutzhat in einem Positionspapier im April dieses JahresHandlungsfelder zur energetischen Sanierung aufge-zeigt, die ich sehr gut finde. Auch hier könnte man mitdem Kulturetat Impulse setzen.

(Beifall bei der SPD)

Noch sind wir in Deutschland bei der Entwicklungvon Verfahren zur Sanierung von Kulturgut spitze. Da-mit das so bleibt, brauchen wir aber weiter Forschungs-mittel, um die Entwicklung neuer Techniken und Tech-nologien voranzutreiben. Diese Chancen müssen wirnutzen.

Kultur hört ja nicht an Grenzen auf – auch nicht ander deutschen Grenze –, und die deutsche Kulturpolitikebenfalls nicht. Deswegen weise ich kurz auf eine Ne-ver-ending Story hin: Tarabya, die Künstlerakademie,konnte im Oktober in Istanbul eröffnet werden. Bis aller-dings die ersten Künstlerinnen und Künstler dort einzie-hen, wird es noch ein wenig dauern. Nach einigen Wi-derständen und nach dem Einsatz der Kolleginnen undKollegen aus dem Unterausschuss „Auswärtige Kultur-und Bildungspolitik“ ist es gelungen, dieses Projekt indie Spur zu bringen.

(Beifall bei der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: Gegen die Bundesregierung!)

Ich möchte Herrn Staatsminister Neumann für diegute Zusammenarbeit danken. In diesen Dank schließeich selbstverständlich sein Haus und das Haushaltsrefe-rat ganz besonders mit ein. Ich danke auch meinen Kol-leginnen und Kollegen sowie meiner Mitberichterstatte-rin und meinen Mitberichterstattern.

Zum Schluss will ich noch ein anderes Thema anspre-chen. Ich danke Professor Parzinger und Michael Nau-mann an dieser Stelle ganz besonders. Beide haben inhervorragender Art und Weise gegen die von VivienStein in ihrem Buch Heinz Berggruen: Leben & Legendevorgebrachten Diffamierungen Stellung bezogen undden Vorwürfen widersprochen. Beide haben mir aus derSeele gesprochen.

(Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/CSU])

Ich bin noch immer froh, dass sich Heinz Berggruenentschlossen hatte, nach Deutschland zurückzukehren,und dass er nach Berlin zurückgekommen ist. Ich binauch sehr froh darüber, dass der Erweiterungsbau desMuseums Berggruen aus Bundesmitteln finanziert wirdund im Sommer nächsten Jahres eröffnet werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Ich bedanke mich bei der Familie Berggruen für ihr gro-ßes Engagement in Berlin und bei Ihnen für Ihr Zuhören.

Danke sehr.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist

unser Kollege Wolfgang Börnsen. Bitte schön, KollegeWolfgang Börnsen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Johannes Kahrs [SPD])

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Petra Merkel, ich möchte Ihnen für die konstruktive,wenn auch kritische, und sehr anerkennende Rede herz-lich danken. Das ist nicht selbstverständlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD – Swen Schulz

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Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

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[Spandau] [SPD]: Mal sehen, was jetzt von Ih-nen kommt!)

Was bleibt, ist die Kultur. Ob der Kölner Dom, dieVolkslieder unseres Landes, der Faust von Goethe, die-ser Reichstag hier oder Beethovens Ode an die Freude:Was bleibt, ist die Kultur. Die Kultur ist das Fundamentunserer Gesellschaft. Sie gibt Menschen Orientierungund Identität, sie schafft Lebensmut und Lebensfreude.Deshalb ist es angemessen, die Kultur hier im Rahmendes Kanzleretats zu diskutieren. Hier gehört sie hin.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP und der Abg. Petra Merkel[Berlin] [SPD])

Deutschland, unser Land, ist ein kraftvolles, ein krea-tives, ein vitales Kulturland.

(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ja, das sehen wir!)

Es sind die Künstlerinnen und Künstler, die Kulturschaf-fenden, die schöpferischen Mitbürger, die diesen Reich-tum unseres Landes ausmachen. Sie tragen zur Leben-digkeit, aber auch Einheit unserer Gesellschaft bei, zuIntegration, Zufriedenheit und Lebensperspektive. Ihnenhaben wir ganz besonders für ihren Einsatz hier zu dan-ken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP sowie der Abg. Tabea Röß-ner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Doch auch die Arrangeure der Kultur – die Dirigen-ten, die Galeristen, die Regisseure, die Bibliothekare,aber auch die Kassiererin in einer Volkstanzgruppe – ge-hören dazu; denn ohne sie wäre Kultur für alle von allennicht zu realisieren. Auch ihnen gilt deshalb unser Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN sowie des Abg. Burkhardt Müller-Sönk-sen [FDP])

Der Preis, den wir für diese Leistung zu zahlen haben,ist relativ klein. Er entspricht 1,9 Prozent des Volumensaller Haushalte – mehr nicht. 9 Milliarden Euro gebenBund, Länder und Gemeinden in Deutschland für dieKultur aus. Die Gemeinden und die Länder tragen daranden Hauptanteil.

Wenn man nur einmal die Musikkultur als Beispielnimmt, dann kann man erkennen, wie wichtig, notwen-dig und ertragreich dieser Einsatz ist: Über 50 000 Chörebeleben unsere Gesellschaft, es gibt die gleiche Anzahlinformeller Musikvereinigungen, also insgesamt über100 000 Gruppen. Es gibt 750 erstklassige Orchester undMusiktheater und 50 000 Rock-, Jazz- und Popbands.Wir haben die reichhaltigste Musikszene in Europa.Nicht zu vergessen: 40 Millionen Kulturtouristen kom-men jährlich nach Deutschland, um diesen Reichtum zugenießen. Das bringt insgesamt 85 Milliarden Euro anEinnahmen für unser Land.

Sie hier im Parlament tragen durch Ihre Entscheidungzur Kulturattraktivität unseres Landes bei. Dabei ist dieHöhe des Kulturetats die Gretchenfrage. Mit der Ent-scheidung von heute und von dieser Woche erfährt derHaushalt von Staatsminister Bernd Neumann seinesiebte Steigerung im siebten Jahr. Unser Bremer Kollegekann eine noch nie dagewesene Erfolgsgeschichte ver-buchen. Danke!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dahinter stecken trotz eines lahmen Beines unermüdli-cher Einsatz, viel Geschick und kluge Diplomatie. Herz-lichen Dank und weiterhin gute Genesung!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Auch die Beibehaltung des verminderten Mehrwert-steuersatzes gehört dazu. Sie sichert die Existenz fürviele Kulturschaffende. Die Buchpreisbindung gehörtebenso dazu. Alle diese Fundamente müssen wir sichernund dürfen sie nicht abbauen. Was sich hier so lockervom Pult verkünden lässt, ist immer im Wettbewerb mitanderen Politikbereichen durchzusetzen. Gleich ob Si-cherheit oder Soziales, Finanzkonsolidierung, Forschungoder Bildung: Sie alle sind von grundlegender Bedeu-tung.

Ich bedanke mich bei meinen Kollegen im Haushalts-ausschuss: Jürgen Koppelin, Petra Merkel, RüdigerKruse und Herbert Frankenhauser.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wieso ha-ben Sie mich nicht erwähnt?)

Sie alle haben eine Lanze für die Kultur gebrochen, weilsie davon überzeugt sind, dass sie das Fundament unse-rer Gesellschaft bleiben soll. Das gilt auch für die Kolle-gen der Opposition im Haushaltsausschuss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP sowie des Abg. Wolfgang Wieland[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der Zugewinn, den wir für die Kultur haben, ist einZugewinn für unsere Gesellschaft, aber der Preis dafür– damit komme ich zum Schluss – ist die Neuverschul-dung. Das ist mehr als ein Schönheitsfehler. Auch wennunser Anteil nur minimal ist, wäre es doch gerechtfertigt,dass wir in unseren Überlegungen maßvoll sind. Wir alsKulturpolitiker haben nicht nur eine Fach-, sondern aucheine Gesamtverantwortung.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke un-

sere Kollegin Frau Dr. Lukrezia Jochimsen. Bitte schön,Frau Kollegin.

(Beifall bei der LINKEN)

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Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

setze jetzt die Ode an die Kultur des Kollegen Börnsenauf etwas andere Art und Weise fort.

Es ist eben die Kultur, die unser Wertefundamentbildet. Es sind die Künste, die … ganz wesentlichdie Basis unseres Gemeinwesens bilden.

Wer hat das wohl gesagt? – Richtig, Staatsminister Neu-mann, hier an dieser Stelle in seiner Rede zum Kultur-haushalt in erster Lesung. Wie wahr ist diese Bewertung.Wie doppelt wahr klingt sie uns jetzt in einer Zeit, da wirmit blankem Entsetzen das mörderische und unerkannteTreiben von Rechtsterroristen in unserem Land zurKenntnis nehmen müssen.

Das Gebot der Stunde heißt doch: Wie machen wirdie Kultur tatsächlich zu unserem Wertefundament? Wiefördern und stärken wir die Künstlerinnen und Künstlerin unserem Land, dass die Künste tatsächlich die Basisunseres Gemeinwesens bilden können?

(Beifall bei der LINKEN)

Das erreichen wir nicht mit einem pompösen Schloss-bau in Berlin samt einem Freiheits- und Einheitsdenkmalauf dem Platz davor.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau! –Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das tut euchweh!)

Das erreichen wir erst recht nicht mit fortgesetzter Fi-nanzierung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-nung“, in der der Zentralrat der Juden seine Mitarbeit ru-hen lässt und Vertreter von Roma und Sinti gar nicht erstvorgesehen sind. Das erreichen wir auch nicht mit einemsatten Zuschuss von 2,2 Millionen Euro pro Jahr für dieBayreuther Festspiele.

(Beifall bei der LINKEN)

Was wir brauchen, ist zweierlei:

Erstens. Kulturelle Bildung unserer Kinder, und zwarBildung gegen Rassismus und Gewalt von früh an,wohlgemerkt: für alle unsere Kinder.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese kulturelle Bildung muss in unserem Land und da-mit in der Kulturpolitik einen neuen Stellenwert erhal-ten.

Ich weiß, dass im Etat des Beauftragten der Bundes-regierung für Kultur und Medien zusätzliches Geld fürweitere Modellprojekte zur Verfügung steht. Aber Mo-dellprojekte reichen nicht aus. Es muss eine echte Bil-dungskampagne für Kinder und Jugendliche auf denWeg gebracht werden. Ich habe das schon vor drei Jah-ren an dieser Stelle eingefordert. Heute gilt diese Forde-rung brennender denn je. Kinder und Jugendliche dürfenden braunen Verführern nicht länger zur Beute werden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowieder Abg. Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Die jahrelang unerkannte Nazi-Mordserie in unseremLand ist doch auch eine geistige und kulturelle Krise. Esist nicht nur eine Krise der Behörden, der Verfassungs-ämter und der Polizei, nein, es ist auch eine geistige undkulturelle Krise.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Zweitens. Ohne Künstlerinnen und Künstler gibt eskeine Künste. Deshalb müssen endlich Schritte unter-nommen werden, die soziale Lage der Kulturschaffen-den entscheidend und wirksam zu verbessern. Um dieMisere wissen alle Verantwortlichen nun lange genug.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht um Initiativen, Gesetze und Umdenken statt nurum Einzelförderung oder Preise. Darüber müssen sichder Staatsminister, die Kulturpolitiker aller Fraktionenund der Kulturausschuss in einer Zeit wie dieser klarwerden und sich aufs Handeln verständigen.

Zum Schluss in diesem Zusammenhang ein Beispiel:In Weimar gibt es seit Jahren ein renommiertes Kunst-fest. Eröffnet wird es stets mit dem großen Orchester-konzert „Gedächtnis Buchenwald“, kostenlos und zu-gänglich für alle, und einer Gedenkveranstaltung für dieOpfer des KZ. An keinem anderen Ort in Deutschlandgehen Kunst und Erinnern so direkt ineinander über.

Für dieses Kunstfest, vom Land Thüringen, der StadtWeimar und bisher zeitlich begrenzt von der Bundeskul-turstiftung gefördert, wurde für 2012, von der SPD undauch von uns unterstützt, ein Antrag auf Mitfinanzierungdurch den Bund in Höhe von 500 000 Euro gestellt. DieKoalition lehnte ab. Staatsminister Neumann sagte ge-genüber der Thüringischen Landeszeitung, er fördere nurnachhaltige Projekte; ob das Kunstfest über 2013 hinausexistiere, sei nicht sichergestellt. Aber es geht doch umdas Jahr 2012. Welch eine Logik und welch ein Schadenfür ein Projekt, das wir in diesen Zeiten dringender brau-chen denn je! Bitte lassen Sie uns umdenken.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion

der FDP unser Kollege Reiner Deutschmann. Bitteschön, Kollege Deutschmann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Reiner Deutschmann (FDP):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag haben Unionund FDP vor zwei Jahren Folgendes geschrieben – ichzitiere –:

Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eineunverzichtbare Investition in die Zukunft unsererGesellschaft.

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Reiner Deutschmann

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Dazu bekennen wir uns auch ausdrücklich in Zeiten derEuro-Krise. Der Kulturhaushalt wächst, und das schonseit Jahren. Für 2012 stehen 5,1 Prozent mehr Mittel zurVerfügung.

Ich möchte Kulturstaatsminister Bernd Neumann so-wie allen Beteiligten, insbesondere aber auch dem Haus-haltsausschuss des Deutschen Bundestages für die inZeiten des Sparens nicht selbstverständliche Erhöhungdes Kulturetats danken. Der Deutsche Bundestag setztdamit ein starkes Zeichen, dass der Förderung von Kunstund Kultur in Deutschland ein besonderer Stellenwertzukommt. Ich würde mir wünschen, dass eine solchePrioritätensetzung in absehbarer Zeit auch in allen Län-dern und Kommunen zum Normalfall wird.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, in diesenZeiten kann man sicherlich nicht alle Ziele umsetzen, dieman sich zu Beginn der Haushaltsberatungen gesetzt hat.Die Rückführung der Staatsschulden im Rahmen derSchuldenbremse hat absoluten Vorrang. Dennoch ist esuns gelungen, einige wichtige Projekte in den Haushalt2012 neu aufzunehmen oder zu verlängern.

Herausragend ist gewiss die bereits genannte Verlänge-rung des Denkmalschutzprogramms. Zur Substanzerhal-tung und Restaurierung stehen nun zusätzliche 30 Millio-nen Euro zur Verfügung. Damit wird dem Verfall wichtigerKulturgüter von nationalem Rang weiter Einhalt geboten.Ich denke, wir zollen damit auch dem kürzlich verstorbe-nen und von uns allen verehrten Professor Dr. Kiesowund der von ihm lange Jahre geleiteten Deutschen Stif-tung Denkmalschutz unseren besonderen Respekt undzeigen unsere Anerkennung;

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

denn gerade dort, wo der Staat mit gutem Beispiel vo-rangeht, engagiert sich auch die Zivilgesellschaft.

Eine weitere Erhöhung betrifft den Haushalt des Bun-desbeauftragten für die Stasiunterlagen. Der BStU kann sobeispielsweise in einen zukunftsorientierten Internetauf-tritt investieren. Durch diese Neugestaltung wird mehrInformationsmaterial für Kinder und Jugendliche bereit-gestellt, und es gibt spezielle Seiten für die Lehrerfortbil-dung. Zudem wird der BStU – dem Gedenkstättenkonzeptentsprechend – zusammen mit der AntistalinistischenAktion ein Dokumentations- und Bildungszentrum imHaus 1, Normannenstraße, aufbauen, eine Dauerausstel-lung, die die Funktion des Ministeriums für Staatssicher-heit im System der SED-Diktatur darstellen wird.

Entscheidend wird auch in der Normannenstraße, wieim Netz, der Dialog mit der jungen Generation sein. Hiermöchte ich Roland Jahn zitieren, der in seiner Antritts-rede im März sagte:

Je besser wir begreifen, wie die Diktatur in derDDR im Alltag funktioniert hat, desto besser kön-nen wir, hier und heute, Demokratie gestalten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nicht zuletzt ist es uns auch gelungen, etwas für denSchutz einer besonderen Welterbestätte in Deutschlandzu tun. Für dringend notwendige Investitionen in dasWeltkulturerbe Völklinger Hütte im Saarland wird einZuschuss von 2,5 Millionen Euro gewährt. Damit wirdetwas getan für den Erhalt eines Wahrzeichens der Inge-nieurbaukunst, das bereits 1994 von der UNESCO in dieListe der Welterbestätten aufgenommen wurde.

Ohne ins Detail zu gehen, möchte ich dem Haushalts-ausschuss auch besonders dafür danken, dass er der Stif-tung TANZ-Transition und dem Gleimhaus in Halber-stadt Gelder zur Verfügung gestellt hat. Die StiftungTANZ-Transition hilft Tänzerinnen und Tänzern nachdem Ende ihrer körperlich sehr fordernden Tanzkarriere,ein neues Erwerbsfeld zu finden. Das Gleimhaus in Hal-berstadt steht als Stätte der Aufklärung und ist im Blau-buch der Bundesregierung verzeichnet. Anlässlich des150-jährigen Jubiläums im Jahr 2012 wird dort einegroße Sonderausstellung unter dem Titel „Tempel derFreundschaft, Schule der Humanität, Museum der Auf-klärung“ stattfinden.

Zum Schluss möchte ich nicht unerwähnt lassen, dassim Etat des Bundeswirtschaftsministers wieder 3,5 Mil-lionen Euro für die vielfältigen Aktivitäten der InitiativeKultur- und Kreativwirtschaft eingestellt sind. Hervorzu-heben ist hier die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwi-schen dem BMWi und dem BKM.

Abschließend und nach vorne blickend, hoffe ich,dass es uns auch im nächsten Jahr gelingen wird, einenso ausgewogenen und in die Zukunft weisenden Kultur-haushalt aufzustellen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Letzte Rednerin unserer Debatte ist unsere Kollegin

Frau Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen. – Ich wäre sehr dankbar, wenn wir der Rednerinnoch die gebotene Aufmerksamkeit schenken würden.

Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Danke, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und

Herren! Freie Kunst und freie Presse sind die Säulen ei-ner Demokratie. Gerade in Zeiten wie diesen ist es des-halb unsere Aufgabe, diese Pfeiler zu stabilisieren. Wirkönnen und sollten nicht das Schreiben für den Journa-listen übernehmen oder der Bildhauerin den Meißel füh-ren. Das Grundgesetz schützt Kunst und Presse vorstaatlichem Einfluss – und das ist auch gut so.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Aber wir haben die Möglichkeit, Leitplanken zu set-zen. Ein Beispiel: Das Presse-Grosso ist in Gefahr. Da-bei ist dieses Vertriebssystem ein wichtiger Garant fürdie Pressevielfalt in Deutschland. Ob klein oder groß:Jeder Verlag hat mit seinen Zeitungen den gleichen Zu-

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Tabea Rößner

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gang zum Verkaufsregal. Doch jetzt will ein großer Ver-lag aussteigen. Ich frage Sie, was die Bundesregierungplant, um das seit 60 Jahren bewährte System zu erhal-ten. Hier müsste eine neue Leitplanke gesetzt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Presse ist in der Krise, Auflagen sinken, Lokalre-daktionen werden geschlossen und Personal wird abge-baut. Eine gute Berichterstattung wird immer schwieri-ger. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es noch genaudrei Regionalzeitungen. Dort, wo demokratische Medienfehlen, verteilt die NPD Gratisblätter an alle Haushalte.Deshalb brauchen wir starke Medien vor Ort, die infor-mieren, die aufklären und die den Rechten die Maske ab-reißen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Wie reagiert die Bundesregierung? Sie legt einen Ge-setzentwurf zur Pressefusionskontrolle auf den Tisch.Aber ob das den kleinen Verlagen wirklich helfen wird,bezweifle ich. Sie können damit nur leichter von denGroßen geschluckt werden. Nun kann man sagen: Dasist völlig normal in den Märkten. – Aber weil derMedienmarkt so sensibel ist, braucht er besondere Re-gulierungen. Um aber den Verlust an Vielfalt in der Pres-selandschaft zu verhindern, sind erleichterte Übernah-mebedingungen der völlig falsche Weg.

Es stellt sich die Frage, wie Zeitungen – oder besser:wie Journalismus – zukünftig überhaupt finanziert wer-den können, gerade angesichts der immer größeren Nut-zung des Internets. Die Bundesregierung hat darauf seitBeginn ihrer Amtszeit nur eine Antwort: das Leistungs-schutzrecht. Diese Antwort predigt die Kanzlerin bei al-len Verlegertreffen wie das neue Evangelium der Presse.Ein Leistungsschutzrecht würde Verlage aber nicht ret-ten und käme vor allem wieder nur den Großen zugute,ganz abgesehen von den rechtlichen Unklarheiten undder Frage, wie viel von den geplanten Einnahmen ei-gentlich bei den Journalisten selbst ankäme.

Offenbar hat sich ein Teil der Koalition unserer Mei-nung angeschlossen, dass dieses Gesetz nichts bringt.Daher mein Rat: Lassen Sie diesen Gesetzentwurf in derSchublade und kümmern Sie sich um die relevanten Fra-gen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Aber auch diese wollen Sie leider nicht angehen.

In der Internet-Enquete sollte ein Gutachten überneue Geschäftsmodelle in Auftrag gegeben werden. Wirhatten uns darauf geeinigt, und Gutachter wurden ange-fragt. Aber kurz vor der endgültigen Beauftragung wirddas Ganze abgeblasen. Dazu kann ich nur sagen: Es gehtIhnen gar nicht um die Sache. Sie wollen nicht in die Zu-kunft denken. Sie verharren in der Vergangenheit.

Auch von Ihnen, Herr Staatsminister Neumann, habeich auf diese brennenden Fragen bisher keine Antworten

erhalten. Dabei ist gerade Ihr Ressort ein wichtiges Res-sort für unsere Demokratie. Aber dem werden Sie leidernicht gerecht. Weder befördern Sie die Debatte um Me-dienvielfalt noch unterstützen Sie den Kulturbereich inseinem Beitrag für Demokratie.

Sie könnten in Ihrem Haushalt zum Beispiel ein For-schungsprojekt des Archivs für Jugendkulturen fördern.Dort werden pädagogische Konzepte entwickelt, die imkünstlerischen Diskurs Diskriminierung, Gewalt undRassismus entgegenwirken sollen. Unseren Antrag dazuhaben Sie aber abgelehnt. Dass die Bundesregierung einJugendkulturprojekt gegen Rechtsextremismus nicht för-dern will, ist insbesondere vor dem aktuellen Hinter-grund das absolut falsche Signal.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Luc Jochimsen hat darauf hingewiesen: Demokratiebil-dung ist auch eine kulturpolitische Aufgabe.

Ähnlich wie bei den Zeitungen stoßen auch an Orten,wo das kulturelle Leben tot ist, Rechtsextreme in dieseLücken und verbreiten in Konzerten ihre Hasslieder.Deshalb brauchen wir gerade dort soziokulturelle Zen-tren, die das Wegbrechen der Kultur verhindern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Durch eine Aufstockung des Fonds „Soziokultur“ unddurch eine Stärkung der Bundesvereinigung Soziokultu-reller Zentren könnten Sie sich deutlich positionieren.Doch auch das tun Sie nicht.

Die Bundesregierung ist mit der Maßgabe angetreten,die tragenden Säulen der Demokratie für die Zukunft zufestigen. Aber nach der Hälfte der Legislaturperiodebleibt leider nur das Fazit: Sie können nicht einmal denBeton dafür anmischen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmel-

dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen damit zur namentlichen Abstimmungüber den Einzelplan 04, Bundeskanzlerin und Bundes-kanzleramt, in der Ausschussfassung. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen. – Sind alle Plätze besetzt? – Das istder Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht derFall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmungwird Ihnen später bekannt gegeben.1)

1) Ergebnis Seite 16948 D

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Vizepräsident Eduard Oswald

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Darf ich Sie bitten, die Plätze wieder einzunehmen? –Wir fahren fort.

Ich rufe den Punkt II.11 auf:

Einzelplan 05Auswärtiges Amt

– Drucksachen 17/7105, 17/7123 –

Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertSven-Christian Kindler

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unsererDebatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unserKollege Klaus Brandner. Bitte schön, Kollege KlausBrandner.

(Beifall bei der SPD)

Klaus Brandner (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Bevor ich zum Einzelplan des Auswärtigen Amteskomme, möchte ich es nicht versäumen, Dr. Morhard,dem Leiter des für den Haushalt zuständigen Referats,und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die of-fene, präzise und konstruktive Zusammenarbeit zu dan-ken. Das beziehe ich aber auch auf den Minister und seinUmfeld. Ich denke, dass es in der kurzen Zeit zwischendem Berichterstattergespräch und der Ausschusssitzung– dazwischen lag nur eine Woche – sehr viel Arbeit zuerledigen gab. Das ist mit großer Präzision und Sorgfaltgeschehen. Dafür herzlichen Dank!

(Beifall bei der SPD)

Bevor ich auf die Eckpunkte des Haushalts 2012 ein-gehe, möchte ich zwei Entwicklungen ansprechen, diedie Beratungen und die Zukunft des Auswärtigen Amtstangieren.

Die erste Entwicklung ist die UNESCO-Irritation.Viele rätseln bis heute, warum es zu der unglücklichenIrritation durch die angekündigte Sperrung sämtlicherUNESCO-Beiträge kam. Wir Sozialdemokraten warenam Morgen der Bereinigungssitzung sehr überrascht, dieAnträge der Koalition auf Sperrvermerke über alleUNESCO-Positionen über eine Höhe von immerhin10,8 Millionen Euro zu hören. Erfreulicherweise hat dieKoalition, namentlich die Kollegen Frankenhauser undKoppelin, diese Anträge sehr schnell zurückgezogen. Ichfinde, dieser Vorstoß war ein kapitaler Fehler.

(Beifall der Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD] und Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

Es ist gut, dass die Anträge zurückgezogen worden sind.Kollege Stinner wurde in der Frankfurter Allgemeinen

Zeitung mit der Aussage zitiert, dass dies ein falschesSignal war, das nach außen gesendet worden ist. Damithat der Kollege Stinner, wie ich meine, uneingeschränktrecht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)

Ich sprach von zwei Entwicklungen. Ein Zweites hatIrritationen ausgelöst, nämlich die Kooperationsverein-barung des BMZ mit dem AA. Das war eine weitereÜberraschung, die unmittelbar nach der Bereinigungs-sitzung auf den Tisch kam. Wir hatten den Haushalt AA2012 abgeschlossen – „geschlossen“, wie es formalheißt –, und dann erreichte uns eine Mail mit weitrei-chenden und finalisierenden Kooperationsregelungenzwischen BMZ und AA. Darüber wurde in der gesamtenBeratungszeit nicht ein Wort verloren. Ich will dazu zweiDinge feststellen, erstens eine politische Bewertung undzweitens eine formale Bewertung vornehmen.

Die politische Bewertung. Im gestrigen Berichterstat-tergespräch haben wir Fragen zur Umsetzung der Ko-operationsvereinbarung besprochen und vorberaten. Ichdarf an dieser Stelle dem Minister danken, dass er an ei-nem Punkt gleich eingelenkt hat. Er hat klargestellt, dassdie Förderkriterien und Modalitäten für die politischenStiftungen, sofern sie für ihre Tätigkeit in Osteuropakünftig über das AA finanziert werden sollten, an dieFörderkriterien des BMZ angepasst werden, dass diesealso übernommen werden. Damit hat er zumindest einenBeitrag zur Beruhigung in der Stiftungsszene geleistet.Dafür darf ich Ihnen an dieser Stelle danken, Herr Mi-nister.

Ich will ein Weiteres sagen. Völlig unverständlich er-scheint mir zum Beispiel die Regelung in Punkt 11 derVereinbarung, und da werde ich unruhig. Ich zitiere:

AA unterstützt den Wunsch des BMZ, innerhalbder Bundesregierung die ODA-Koordinierung alsKernkompetenz zu übernehmen, und geht davonaus, dass BMZ sich bei der ODA-Koordinierung re-gelmäßig mit AA abstimmt.

Wenn ich an die politischen Freundschaften innerhalbIhrer Partei momentan und die Vergangenheit des Minis-ters denke, dann tut mir der Minister wirklich leid. Wennman Kernkompetenzen an ein anderes Ministerium über-trägt, das in der Sache außenpolitisch wichtige Weichen-stellungen vornimmt, dann habe ich große Sorgen dahingehend, welche Abstimmungsschrammen und welcheAuseinandersetzungen zwischen den Häusern, insbeson-dere zulasten des AA, entstehen können.

(Beifall bei der SPD)

Mir reicht es nicht aus – das will ich an dieser Stelle sa-gen –, festzustellen, dass Kernkompetenzen abgegebenwerden; denn Sie sagen ja selbst in der Vereinbarung: Esist davon auszugehen, dass eine Abstimmung erfolgt. –Es ist davon auszugehen! Die Abstimmung muss garnicht zwingend erfolgen.

Wer den Aufwuchs des Etats des Auswärtigen Amtssieht – er besteht in diesem Jahr fast ausschließlich aus

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16948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Klaus Brandner

(A) (C)

(D)(B)

ODA-Mitteln; von dem Aufwuchs von 203 MillionenEuro sind 190 Millionen Euro ODA-Mittel –, der er-kennt, dass diese Mittel für das AA elementar sind, undhat große Sorge, dass auf diese Art und Weise die Politikdes AA nicht mehr so unabhängig sein kann, wie wir sieuns wünschen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will zu den Eckpunkten des Haushalts 2012 kom-men. Lassen Sie mich dazu einen Bogen schlagen undauf den Etat generell eingehen. Der Etat steigt um etwa6,5 Prozent. Dadurch entstehen neue Handlungsspiel-räume für das AA, die genutzt werden müssen. Wir be-grüßen das uneingeschränkt. Insofern ist es schön, dassder Etat in diesem Jahr so deutlich wächst. Damit wer-den essenzielle Außenpolitikfelder wie zum Beispiel dieSicherung von Frieden und Stabilität wieder gestärkt. Sowurden zum Beispiel die Mittel für den Titel für Krisen-prävention und friedenserhaltende Maßnahmen von90 Millionen Euro auf 120 Millionen Euro angehoben.Das entspricht einer langjährigen Forderung der Sozial-demokraten. Wir begrüßen dies ausdrücklich.

Aber ich will an dieser Stelle gleich sagen, dass beiallen neuen Handlungsspielräumen in diesem Bereichdurch die Kooperationsvereinbarung zwischen BMZ undAA im Titel des BMZ 15 Millionen Euro wieder abgezo-gen werden sollen, ohne zu wissen, welche Maßnahmenbetroffen sind, die dann nicht mehr oder nur noch einge-schränkt durchgeführt werden können. Es fehlt letztlichan einem schlüssigen Konzept. Ein solches ist dringendanzumahnen. Ich bin dankbar, dass auch die Koalitions-kollegen auf Initiative des Kollegen Frankenhauser ei-nen entsprechenden Änderungsantrag in der nächstenHaushaltsausschusssitzung einbringen werden, umschnellstens das Programm für diese Vereinbarung zu er-halten, damit wir entsprechend politisch agieren können.

Ich möchte nun auf die Transformationspartnerschaftmit Nordafrika und dem Nahen Osten zu sprechen kom-men. Ausdrücklich begrüße ich, auch als Vorsitzenderder Deutsch-Ägyptischen Parlamentariergruppe, dass für2012 und 2013 zusätzlich 100 Millionen Euro zur Verfü-gung gestellt werden. Aber auch das sind wiederumODA-Mittel. Wenn die Kernkompetenzen für diese Auf-gaben beim BMZ liegen und nicht mehr beim AA, dannmuss man sich fragen, wie diese Aktivitäten, die wich-tige Projekte und Maßnahmen zur Förderung der jungenDemokratie auf den Weg bringen, zukünftig erfolgenkönnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich gehe jedenfalls davon aus, meine Damen und Her-ren, dass hier dringend für Klarheit gesorgt werdenmuss; denn der Demokratisierungs- und Transformati-onsprozess braucht einen langen Atem. Er braucht im

Übrigen auch längere Finanzierungszeiträume als, wiezurzeit angepeilt, zwei Jahre. Wir Sozialdemokraten ste-hen dafür, dass Deutschland über mehrere Jahre hinwegals verlässlicher Partner diesen Prozess unterstützt undauch in Zukunft weiter unterstützen wird und will.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte noch den Bereich der auswärtigen Kultur-und Bildungspolitik ansprechen. Auch hier kann erfreu-licherweise eine Rücknahme der im Regierungsentwurfangekündigten Kürzungen bei den Schulen im Auslandfestgestellt werden. Ich freue mich sehr, dass Sie endlichEinsicht gezeigt und etwas gegen die mittlerweile chro-nische Unterfinanzierung der Schulen im Ausland getanhaben. Aber ich will an dieser Stelle auch sagen: Dasdarf nicht davon ablenken, dass die Finanzierung diesesBereichs im Kern einer Täuschung unterliegt. Denn dieschwarz-gelbe Koalition hat in ihrem politischen Pro-gramm vorgesehen, dass in dieser Legislaturperiode12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung ausgege-ben werden sollen. Der Anteil daran für auswärtige Bil-dung und Forschung im Haushalt des AA ist aber nichtextra ausgewiesen, sondern verschwindet im Gesamtetatund dient damit als Verfügungsmasse. Wir bestehen dar-auf, dass die Mittel sichtbar gemacht werden und an derrichtigen Stelle ankommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die SPD hat – das möchte ich an dieser Stelle anspre-chen – einen Pakt für Bildung und Entschuldung aufge-stellt. Dieser setzt verlässliche Schwerpunkte. Er stärktdie deutschen Auslandsschulen, aber auch die Mittler-organisationen. Durch diesen Pakt würden im nächstenJahr 80 Millionen Euro zusätzlich fließen und bei denvielen renommierten Bildungsinstitutionen im Auslandankommen. Wir hoffen darauf, dass wir bald wieder diepolitische Mehrheit haben, um solche Vorhaben in dieTat umsetzen zu können. Denn Verlässlichkeit ist einwichtiges Zeichen unserer Außenpolitik. Dazu gehörtauch die auswärtige Kulturpolitik, für die wir uneinge-schränkt stehen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen

das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zumEinzelplan 04 – Geschäftsbereich der Bundeskanzlerinund des Bundeskanzleramtes – bekannt: abgegebeneStimmen 580, mit Ja haben 319 Kolleginnen und Kolle-gen gestimmt, mit Nein 261. Es gab keine Enthaltung.Der Einzelplan 04 ist damit angenommen.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16949

Vizepräsidentin Petra Pau

(A) (C)

(D)(B)

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 580;davon

ja: 319nein: 261

Ja

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)Axel E. Fischer (Karlsruhe-

Land)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef Göppel

Peter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max Lehmer

Paul LehriederIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-Drüggelte

Uwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang Zöller

FDP

Jens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-

DugnusFlorian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van Essen

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16950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Vizepräsidentin Petra Pau

(A) (C)

(D)(B)

Ulrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)

Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

Nein

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnMarco BülowPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsUlrich Kelber

Lars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Axel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Swen Schulz (Spandau)Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-Zeul

Dr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Dr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel Troost

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16951

Vizepräsidentin Petra Pau

(A) (C)

(B)

Kathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergJörn WunderlichSabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeMarieluise Beck (Bremen)Volker Beck (Köln)Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald Ebner

Hans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsOliver Krischer

Agnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthMonika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte Pothmer

Tabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

(D)

In der Debatte zum Einzelplan 05 – Auswärtiges Amt –hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Frak-tion das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Rainer Stinner (FDP):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch außenpolitisch stellt die Euro-Schuldenkrise si-cherlich die größte Herausforderung dar, der wir uns ge-genwärtig gegenübersehen. Wenn ein kanadischer Kol-lege zu mir sagt, er habe sich den Wecker gestellt, ummitzubekommen, wie der Deutsche Bundestag zur EFSFabstimmt, wenn uns chinesische Finanzpolitiker sagen,dass Deutschland der Anker ist, an dem das Weltfinanz-system hängt, dann erkennen wir die außenpolitische Di-mension dieser Debatte.

Deshalb ist es ganz wichtig, dass ich für meine Frak-tion eingangs feststelle: Selbstverständlich liegt die Zu-kunft Deutschlands nur in Europa.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Selbstverständlich kann deutsche Außenpolitik nur euro-päisch eingebettet denkbar sein. Selbstverständlich wer-den wir unsere Verantwortung für die Stabilität der euro-päischen Währung entsprechend wahrnehmen. Etwasanderes ist für die liberale Partei nicht denkbar.

(Beifall bei der FDP)

Das sind wir vor unserer Geschichte schuldig, vor allemaber vor den Anforderungen der Zukunft, die nur euro-päisch denkbar ist.

Das zweite wichtige Thema ist sicherlich der Um-bruch in der arabischen Welt. Hier möchte ich gleich ein-gangs mit einem Missverständnis – um es höflich auszu-drücken – aufräumen, nämlich dem Missverständnis imRahmen der Anschuldigung, deutsche Außenpolitik seihier isoliert. Genau das Gegenteil ist der Fall.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Von Marokko über Tunesien bis nach Libyen und Ägyp-ten wird Deutschland als wichtiger Partner zur Problem-lösung angesehen und herangezogen. Das können Sieüberall in diesen Ländern erkennen.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glau-ben Sie doch selbst nicht!)

– Aber selbstverständlich. Fahren Sie doch nach Kairo,fahren Sie nach Tunis, dann werden Sie sehen, dass mandort auf Deutschland schaut. – Nicht ohne Grund ist inLibyen gefordert worden, dass Deutschland vom erstenTage an ein wichtiges Mitglied der Libyen-Kontakt-gruppe bleibt. Daher geht der Anwurf der Opposition,wir seien hier isoliert, völlig ins Leere.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein weiteres Markenzeichen deutscher Außenpolitikist die zunehmende Zahl von bilateralen Kooperationenmit China, Russland, Palästina oder Israel. Eine solch in-tensive Kooperation hat es vorher nie gegeben. Das isteine neue Qualität deutscher Außen- und Sicherheitspo-litik.

Die deutsche Außenpolitik ist in den letzten zwei Jah-ren, bezogen auf das deutsch-polnische Verhältnis, einengroßen Schritt weitergekommen. Ein Signal dafür ist dasgemeinsame Vorgehen von Herrn Westerwelle undHerrn Sikorski gegenüber Russland. Ich möchte deutlichsagen, dass die Bemühungen unserer StaatsministerinPieper zur Verbesserung des deutsch-polnischen Verhält-nisses nur in den höchsten Tönen zu würdigen sind.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU])

Auf diesem Gebiet haben wir viel erreicht. Wir könnensagen, dass das deutsch-polnische Verhältnis so gut istwie noch niemals zuvor. Das stellen wir mit Freude fest.

In Bezug auf Afghanistan haben diese Bundesregie-rung und insbesondere dieser Außenminister ein neuesKapitel aufgeschlagen. Die Londoner Konferenz im Ja-

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16952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Dr. Rainer Stinner

(A) (C)

(D)(B)

nuar 2010 hat erstmals – zu spät, aber immerhin – er-möglicht, dass wir in der NATO ein gemeinsames Ver-ständnis und eine gemeinsame Strategie für dasAfghanistan-Problem entwickelt haben.

Der Bundesaußenminister hat zu Beginn dieses Jahreszwei Ankündigungen gemacht: zum einen, dass derÜbergang der Verantwortung zur Mitte dieses Jahres be-ginnen sollte, und zum anderen, dass zum Ende des Jah-res 2011 mit einer verantwortbaren Reduzierung derdeutschen Soldaten in Afghanistan begonnen wird.Beide Versprechen werden eingehalten. Bei dem Man-dat, das wir im Dezember erstmals beraten werden, istdie Obergrenze, wie Ihnen mitgeteilt worden ist, deutlichreduziert worden.

Die Afghanistan-Konferenz in Bonn ist ein weiteresZeichen dafür, welche Rolle Deutschland internationalbei der Problemlösung spielt. Wir können stolz daraufsein, dass die ganze Welt nach Deutschland bzw. nachBonn kommt, um an diesem schwierigen Problem wei-terzuarbeiten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit befinden wir uns an einem wesentlichen Kern-punkt deutscher Außenpolitik, nämlich dem Einsatz derBundeswehr. Wir sind dafür. Wir wissen, dass es wich-tig, notwendig und verantwortungsvoll ist, deutsche Sol-daten einzusetzen. Das tun wir in Afghanistan, im Ko-sovo, in Bosnien-Herzegowina, vor Libanon und amHorn von Afrika. Aber wir alle wissen, dass endgültigeLösungen natürlich nur auf politischem Wege erreichbarsind. Es ist ein Kernpunkt deutscher Außenpolitik, dasswir diesen Ansatz weiterentwickelt haben. Nicht um-sonst haben wir in dieser Legislaturperiode erstmalseinen Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und ver-netzte Sicherheit“ eingerichtet. Das entspricht der Denk-richtung der Bundesregierung.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-schluss sagen: Natürlich haben wir bei der Gemein-samen Außen- und Sicherheitspolitik der EuropäischenUnion noch ein dickes Brett zu bohren; das stimmt ohnejeden Zweifel. Es ist aber auch ohne jeden Zweifel rich-tig – damit komme ich zu dem zurück, was ich eingangsgesagt habe –: Ohne Europa wird Deutschland in Zu-kunft nicht bestehen können. Wir müssen uns entschei-den, ob wir und unsere nachfolgenden Generationen inZukunft als Einzelstaat Objekt weltpolitischer Entschei-dungen sein wollen oder ob wir im Rahmen europäischerSolidarität, eines europäischen Verbundes, weiter Sub-jekt dieser Entscheidungen sind,

(Beifall des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU])

das heißt, ob wir weiter an den weltpolitischen Entschei-dungen teilnehmen wollen. Wir wollen Letzteres. Daswill auch die Bundesregierung. Dabei unterstützen wirsie.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das warauch schon mal besser!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Michael Leutert für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Michael Leutert (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister, von meiner Seite recht herzlichen Dankan Sie und an die Berichterstatter für die Informationenund die fairen Verhandlungen. Ich möchte am Anfangein Lob aussprechen: Es gibt jedes Jahr zu jedem Minis-terium eine Bemerkung des Bundesrechnungshofes. IhrMinisterium sticht durchaus positiv hervor: Wenn esProbleme gibt, werden sie schnell beseitigt.

Ich muss Ihnen allerdings sagen: Das war es dannauch schon mit Lob. Denn wenn man sich die Zahleneinmal anschaut, muss man feststellen: In Ihrem Bereichherrschen einigermaßen chaotische Zustände. Ichmöchte das gerne darstellen. Es gibt bei Ihnen ein Aufund Ab: Im letzten Jahr sind die Mittel des AA um90 Millionen Euro gekürzt worden, 2012 gehen die Mit-tel wieder um 203 Millionen Euro nach oben, in der mit-telfristigen Finanzplanung sehen wir, dass es wieder um208 Millionen Euro nach unten gehen soll. Das zeigtsich natürlich auch bei den einzelnen Haushaltstiteln, dieuns sehr wichtig sind, zum Beispiel bei den Mitteln fürhumanitäre Hilfe und Krisenprävention: Letztes Jahrsind die Mittel um 96 Millionen Euro gekürzt worden,jetzt steigen sie um 82 Millionen Euro an. Bezüglich dermittelfristigen Finanzplanung haben wir eine Vermu-tung; ich komme gleich darauf zurück.

Ich möchte zunächst einmal auf eine neue Entwick-lung eingehen. Am 17. Oktober hatten wir unser Bericht-erstattergespräch. Am 8. November hatten wir die Berei-nigungssitzung. Zwei Tage später, am 10. November,bekamen wir ein Papier auf den Tisch: eine Koopera-tionsvereinbarung zwischen dem BMZ und dem Aus-wärtigen Amt. Nun weiß ich nicht, was Ihr Ziel ist; viel-leicht sind es die ersten Schritte zur Auflösung desBMZ, die Sie einmal angekündigt hatten. Fest steht: Siehaben in diesem Papier auch angekündigt, dass von denMitteln für die zivile Krisenprävention wiederum15 Millionen Euro weggenommen werden sollen. Datauchen bei mir natürlich einige Fragen auf. Die ersteFrage ist: Warum führen wir dann überhaupt noch Be-richterstattergespräche? Die zweite Frage ist: WelcheProjekte sollen denn überhaupt zum BMZ überführt wer-den? Wir hatten seinerzeit eigentlich einen Aufwuchsder Mittel im Haushalt für diesen Bereich geplant. Dastellt sich für mich die dritte Frage: War das eigentlicheine Irreführung von uns Haushältern? Die Kürzung derMittel für die Projekte, die zum BMZ überführt werdensollen, war nämlich schon eingeplant.

Es sieht aber nicht nur im Haushalt so aus, sondernauch bei einigen Programmen. Ich möchte hier beispiel-haft das Aussteigerprogramm für die Taliban nennen.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16953

Michael Leutert

(A) (C)

(D)(B)

Vor knapp zwei Jahren, letztes Jahr im Januar, wurdehier groß angekündigt: Es gibt einen Kurswechsel; wirhaben sozusagen ein Wundermittel für Afghanistan ge-funden; 50 Millionen Euro sollen für das sogenannte Ta-liban-Aussteigerprogramm bereitgestellt werden. – Jetzt,nach zwei Jahren, ist es so: Wir haben nicht wirklich ge-naue Erkenntnisse darüber, welche Ergebnisse vorliegen.Wir können so viel sagen: Es gibt ungefähr 30 000 Auf-ständische. Von denen sind angeblich 2 000 integrations-willig. Das Ergebnis ist jetzt, dass in den knapp zweiJahren 170 ehemalige Aufständische in Lohn und Brotgebracht worden sind, im Übrigen im Bereich der Mi-nenräumung. Selbst der ehemalige Innenminister vonAfghanistan hat kürzlich der Welt erklärt, er sehe denFriedensprozess als gescheitert an.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke schlägtvor, etwas mehr Ordnung in diesen Bereich hineinzu-bringen. Ich möchte Ihnen vorschlagen: Schließen Siedoch bitte demnächst eine Kooperationsvereinbarungmit dem Verteidigungsministerium ab. Dabei geht es umFolgendes: Wir schlagen vor – dazu liegen auch Anträgeder Linken vor –, dass der Haushalt des AuswärtigenAusschusses ein klar ziviler Haushalt ist. Alles Militäri-sche hat aus diesem Haushalt zu verschwinden.

(Beifall bei der LINKEN)

Damit meinen wir die über 47 Millionen Euro, die fürden NATO-Zivilhaushalt oder die Erweiterung desNATO-Hauptquartiers vorgesehen sind. Außerdemschlage ich vor, noch einmal in Betracht zu ziehen – dar-über haben wir schon vor zwei Jahren gesprochen –, dieRückerstattungen der UN in Bezug auf Militärauslands-einsätze, die im Verteidigungsetat landen, an das Aus-wärtige Amt zurückzubuchen; denn die Beiträge an dieUN werden ebenfalls aus dem Etat des AuswärtigenAmts gezahlt.

Wir schlagen außerdem vor, dass Sie die Kürzungenbeim Titel „Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungskont-rolle und Nichtverbreitungszusammenarbeit“ zurück-nehmen. Das ist eine Sache, die uns extrem wichtig ist.Seit Ihrem Amtsantritt wurde dieser Titel von 64 Millio-nen Euro auf 40 Millionen Euro heruntergefahren. Wennwir die derzeitige Situation betrachten, können wir Fol-gendes feststellen: In Libyen tauchen G-36-Gewehre ausdeutscher Produktion auf, die eigentlich für Ägypten be-stimmt waren. Der Spiegel meldete am 13. November:Maschinenpistolen von Heckler & Koch aus deutscherProduktion wurden in Indien an Polizeieinheiten ausge-geben, die in Menschenrechtsverletzungen verstricktsind. – Es werden Leopard-Panzer deutscher Produktionnach Saudi-Arabien geliefert. Mittlerweile ist es so, dassdie ehemalige Kanzlermaschine im Iran herumfliegt,wahrscheinlich mit Ahmadinedschad.

Wenn ich diese Entwicklung betrachte, dann muss ichsagen: Wir brauchen diese Gelder in Zukunft für Rüs-tungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie diesen Vorschlägen der Linken folgenkönnten, dann könnten wir eventuell diesem Haushalt

zustimmen. Ich vermute allerdings, Sie werden auf IhrenPfaden weiterwandeln. Deshalb kann ich Ihnen nur sa-gen: Wir müssen den Haushalt ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Vor einem Jahr waren alle Augen auf die Ge-schichte und den Wandel in Europa gerichtet. Wir feier-ten das Jubiläum des Einigungsvertrages, den Zwei-plus-Vier-Vertrag und letztendlich unsere deutsche Ein-heit. Der Europäische Auswärtige Dienst war geradefrisch geschaffen und das neue Strategische Konzept derNATO verabschiedet worden. Deutschland war mit sehrgroßer Unterstützung in den Weltsicherheitsrat gewähltworden. Es hatte zu einer sehr erfolgreichen Konflikt-diplomatie und dank unseres Bundesaußenministers zueiner Entspannung der Lage zwischen Serbien und demKosovo beigetragen.

Unmittelbar zu der Zeit, als wir über den Haushaltdiskutiert haben, ereignete sich südlich Europas etwas,womit wir alle nicht gerechnet hatten. Im Dezember2010, beginnend mit der Selbstverbrennung eines jungenMannes, entstand im Nahen und Mittleren Osten Un-ruhe. Daraus erwuchs der arabische Frühling, mit demwir so nicht gerechnet hatten. Das stellt die AußenpolitikDeutschlands vor eine besonders große Herausforde-rung.

Schon früh haben gerade die Koalitionsfraktionenund auch die Bundesregierung – an der Spitze unser Au-ßenminister – deutliche Initiativen ergriffen. Sie sind inTunesien, in Ägypten und, wie wir aktuell sehen, in Sy-rien tätig geworden, wo wir an führender Stelle versu-chen, dem Unrecht entgegenzutreten und deutlich zumachen, wo unsere wertebezogene Außenpolitik in die-sem Zusammenhang steht. Das ist nicht einfach; denndie Erwartungshaltung, die wir gerade in Bezug auf denarabischen Frühling hatten, ist an vielen Stellen schonjetzt – das kann man zumindest als Zwischenbilanz hierso sagen – enttäuscht worden. Es gab viele naive Haltun-gen. Manche Fehleinschätzung gibt es nach wie vor.

Wir freuen uns über Demokratisierungsprozesse, ma-chen uns aber gleichzeitig über Radikalisierungstenden-zen große Sorgen. Trotzdem darf man nicht alles über ei-nen Kamm scheren. Die Menschen in Tunesienbeispielsweise haben bewusst eine Entscheidung für al-Nahda getroffen. Deshalb lohnt es sich auch, genau hin-zuschauen, mit welchen handelnden Personen man esdort zu tun hat. Da gibt es Moderate, da gibt es zum TeilExtremisten. Deshalb ist gerade der persönliche Einsatzall derjenigen, die sich in der Region besonders engagie-ren, notwendig. Es ist wichtig, sich dort einzubringen,

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um die jungen und sich herausbildenden Demokratienaufzubauen und dafür zu sorgen, dass das, was wir andemokratischen Werten vertreten, dort Einzug hält. Dasfunktioniert nur, wenn man behilflich ist, eine funktio-nierende Parteiendemokratie und damit eine parlamenta-rische Demokratie aufzubauen. Diesen Beitrag leistetdas Auswärtige Amt in hervorragender Art und Weise.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir in die Region insgesamt blicken, stellen wirfest: Wir machen uns an vielen Stellen große Sorgen.Die Schwierigkeiten unseres tagtäglichen Handelns lie-gen darin, dass es eben nicht Schwarz und Weiß gibt.Saudi-Arabien ist vorhin schon angesprochen worden.Ich glaube, keiner von uns hat ein gutes Gefühl dabei,wenn man sich in diesen Regionen bewegt, weil keinersagen kann: Man weiß immer alles zu 100 Prozent, undman hat immer mit all dem recht, was man sagt.

Trotzdem sind außenpolitische Entscheidungen häu-fig nicht nur emotionale Entscheidungen, sondern in ers-ter Linie natürlich auch interessengeleitete Entscheidun-gen. Gerade dann, wenn man nicht von einer Schwarz-Weiß-Einteilung sprechen kann, muss man gewisseGrauzonen benennen und auch in Kauf nehmen. So be-findet sich diese Bundesregierung mit unserer parlamen-tarischen Unterstützung auf dem Weg zahlreicher Vor-gängerregierungen, die sich im Übrigen auch mit denRealitäten arrangieren mussten; denn gerade im NahenOsten ist tatsächlich nicht alles so, wie wir es uns wün-schen würden.

Im Hinblick auf den Irak wünschen wir uns, dass nachdem Abzug der Amerikaner, der unmittelbar bevorsteht,mehr Frieden und mehr Freiheit Einzug halten. Das giltallerdings nur für einen Teil des Irak. Es gibt eine kleine,engagierte Region, nämlich Nordirak bzw. Kurdistan,die dafür sorgt, dass das, was wir voranbringen wollen,beispielsweise die Religionsfreiheit, eine Chance be-kommt. Das gilt für den größeren Teil des Irak leidernicht.

Unser Engagement, das sich vor allem auf die Länderdes arabischen Frühlings konzentriert, gilt der gesamtenRegion. Wir hoffen natürlich, dass der Irak kein zweiterLibanon wird. Wir müssen mit den Möglichkeiten, diewir haben, umgehen. Das Auswärtige Amt und die Ent-wicklungshilfe machen dies. Die sehr erfolgreiche Reisevon Bundesminister Niebel zu Beginn dieses Jahreszeigt, dass wir bereit sind, Verantwortung zu überneh-men und in die Region zu gehen. Mit einem wirtschaft-lichen Austausch können wir teilweise mehr bewirkenals mit Worten, die wir hier zu diesem Thema finden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Eine der maßgeblichen Leitlinien unserer Nahostpoli-tik – deshalb freue ich mich auch, dass sich die Bundes-regierung in den vergangenen Wochen so engagiert ein-gesetzt hat – ist und bleibt, den Nahost-Friedensprozessvoranzubringen. Da die Erwartungshaltung insbesonderein Israel wesentlich höher geworden ist, als das noch voreinigen Jahren der Fall war – damals haben israelischePolitiker vor allem auf Amerika gesetzt –, wird uns allen

eine besondere Verantwortung zuteil. Dieser müssen wirgerecht werden. Deswegen wiederhole ich hier, was un-sere Bundeskanzlerin 2008 in ihrer historischen Rede inder Knesset gesagt hat: Für uns steht unumstößlich fest,dass die Sicherheit Israels ein Teil der deutschen Staats-räson ist. – Danach richtet sich ein Großteil unserer Au-ßenpolitik in dieser Region und darüber hinaus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das bedeutet, dass es für uns zu keinem Zeitpunkt ak-zeptabel ist, dass sich das Mächtegewicht weiter ver-schiebt.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was heißt denn das?)

Es ist auch nicht akzeptabel, dass es ein Land wie derIran unter dem Deckmantel eines zivilen Programmswagt – wie wir heute durch die Berichte der Internatio-nalen Atomenergie-Organisation wissen –, eine hegemo-niale Stellung einzunehmen, und zwar mit der strategi-schen Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen. Wirsagen ganz klar Nein zu einer atomaren Aufrüstung die-ser Region. Es sollten alle diplomatischen Möglichkei-ten ausgeschöpft werden. Dazu gehören auch weiter ge-hende Sanktionen, um den Iran von diesem Wegabzubringen.

(Beifall des Abg. Roderich Kiesewetter [CDU/CSU])

Hier ist Deutschland besonders gefragt, und zwarnicht in erster Linie als Vermittler, sondern als ein Land,das vorangeht und deutlich macht – trotz zahlreicher gu-ter Erfahrungen im bilateralen Handel mit dem Iran; erhat über Jahre stattgefunden –, dass hier politisch schonlängst eine rote Linie überschritten worden ist. Deshalbbegrüße ich es ausdrücklich, dass der amerikanische Prä-sident, der französische Präsident und der britische Pre-mierminister härtere Sanktionen auf den Weg bringenwollen, um deutlich zu machen, dass der Iran uns schonviel zu lange an der Nase herumführt. Ich glaube, dieBundesregierung ist auf dem richtigen Weg, wenn siediese Bemühungen unserer Verbündeten unterstützt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir blicken voller Sorge in einige Regionen. Bleibenwir einen kurzen Moment bei den Veränderungen im Na-hen Osten und den Umwandlungsprozessen in der arabi-schen Welt. Wir wollen, dass die universellen Men-schenrechte wie Freiheit für alle Menschen gelten. DieFrauenrechte kommen teilweise zu kurz. Diesbezüglichwaren die Hoffnungen weitaus größer. Die Realisierungdieser Rechte in dieser Region bleibt hinter den Hoff-nungen zurück. Ferner möchte ich ansprechen, dass ge-rade die Fraktion der Christdemokraten und der Christ-sozialen voller Solidarität und voller Mitgefühl an derSeite der verfolgten Christen in dieser Region steht. Mitgroßer Sorge blicken wir – vor allem unser Fraktionsvor-sitzender engagiert sich in dieser Frage sehr stark – aufdie Situation der Christen in der Region, sei es im Irak,sei es in Ägypten. Wir beobachten die Situation der

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Philipp Mißfelder

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christlichen Minderheit dort mit großer Sorge. Zu De-mokratie und Freiheit gehört für uns eben auch Religi-onsfreiheit. Das will ich hier deutlich zum Ausdruckbringen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Außenpolitik ist in erster Linie wertegebun-den. Natürlich steht sie immer in einem Spannungsver-hältnis zu einer interessengeleiteten Außenpolitik, geradeim Falle einer wichtigen Exportnation, die Deutschlandnun einmal ist.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das heißt auch: Panzer exportie-ren!)

– Zu den Panzern sage ich gerne noch etwas. Wir habenhier ja schon mehrmals darüber diskutiert. Sie persönlichtragen für frühere Entscheidungen zwar nicht die Verant-wortung, aber ich weise Sie trotzdem noch einmal daraufhin, dass sich auch andere Regierungen in einem schwie-rigen Spannungsverhältnis befanden und schwierige Ab-wägungsentscheidungen zu treffen hatten. Ich denke,dass die strategischen Argumente, die wir hier mehrmalsangeführt haben, am Ende überwiegen. Natürlich bewegtman sich in einer Grauzone, wenngleich klar ist, dass dasVerfahren genauso transparent, genauso demokratischund genauso abgewogen durchgeführt wurde wie bei al-len anderen schwierigen Waffenexporten der Vergangen-heit. Der Unterschied ist nur, dass wir weniger Waffenexportieren, als die Herren und die Damen von der Grü-nen-Fraktion es früher getan haben.

Zum Abschluss möchte ich an ein vergessenes Themaerinnern, an Weißrussland. Wir engagieren uns – das istganz klar – auch für die in weißrussischen Gefängnissenverbliebenen Gefangenen, die vom letzten Diktator inEuropa unterdrückt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Diesbezüglich sollten wir als Deutscher Bundestag weit-aus mehr tun und uns viel stärker engagieren.

Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Kindler für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inden letzten Jahren hat diese schwarz-gelbe Koalition imBereich des Haushalts des Auswärtigen Amtes geradebei der Menschlichkeit gekürzt,

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Was?)

nämlich in der Titelgruppe 07, bei Krisenprävention,Friedenserhaltung und humanitärer Hilfe. Wenn ich jetztin den Haushaltsentwurf schaue, stelle ich fest, dass un-ser Druck und unsere Anträge Wirkung gezeigt haben:Sie nehmen einen Teil dieser brutalen Kürzungen wiederzurück. Das ist auch gut.

Was ich aber nicht verstehe, ist Folgendes: Herr Mi-nister Westerwelle, Sie sagen immer, dass Abrüstung ei-ner Ihrer Schwerpunkte sein soll, weil Sie sie besonderswichtig finden. Warum haben Sie dann nicht die Kür-zung im Bereich der Abrüstung korrigiert? Warum fristetdie Abrüstung immer noch ein Nischendasein im Haus-halt? Warum wird in diesem Haushalt kein Schwerpunktbeim Thema Abrüstung gesetzt?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber auch bei den Ansätzen in den Bereichen zivileKrisenprävention und humanitäre Hilfe bleiben Sie hin-ter den Notwendigkeiten zurück. Das ist eine zaghafteFehlerkorrektur. Was wir brauchen, ist ein langfristigesKonzept zur Absicherung von humanitärer Hilfe undKrisenprävention. Wir haben dafür einen Finanzierungs-vorschlag unterbreitet: Wir wollen die Ticketabgabe imFlugverkehr erhöhen und damit eine langfristige Finan-zierung erreichen. Die Koalition hat das abgelehnt.

Weiterhin brauchen wir eine nachhaltige Finanzie-rung. Gerade im Bereich der Krisenprävention wirktesich dieses Hin und Her, dieses Auf und Ab, diese Kür-zung fatal aus. Dadurch wurde massiv Vertrauen zer-stört, in der Szene, aber auch international.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Brandner [SPD])

Wenn wir den Blick nach Nordafrika und den NahenOsten werfen, so wissen wir, dass Außenpolitik nachhal-tig sein muss. Die Menschen aus verschiedenen arabi-schen Ländern sind für Demokratie, für Rechtsstaatlich-keit auf die Straße gegangen. Diese verdienen unserenRespekt, unsere Solidarität, aber auch unsere finanzielleUnterstützung. Denn wir wissen, dass das Ende einerDiktatur oder Gewaltherrschaft nicht bedeutet, dass essofort Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gibt. Deswe-gen ist es wichtig, dass Transformationsgelder in diesemHaushalt bereitgestellt werden. Das große Problem istnur – daran zeigt sich die mangelnde Nachhaltigkeit Ih-rer Politik –: Es ist nicht richtig finanziert. Die ODA-Mittel sind nicht in die Finanzplanung eingestellt. Weildemokratischer Aufbau Zeit braucht, müssen Sie sichdafür einsetzen, Herr Westerwelle, dass die Gelder lang-fristig und nachhaltig finanziert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Überhaupt nicht nachhaltig und verlässlich für dieDemokratisierung der arabischen Welt ist, wenn Sie alsRegierung Diktaturen, in denen Menschenrechte undDemokratie mit Füßen getreten werden, und Gewaltherr-scher unterstützen. Einerseits Reden für mehr Demokra-tie halten, andererseits 200 Kampfpanzer nach Saudi-Arabien liefern wollen, das ist keine Grauzone, Herr

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Mißfelder, sondern eine schizophrene und zynische Au-ßenpolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Ins Bild passt auch, dass Ihre Haushälter, Herr Wester-welle, alle Gelder für die UNESCO in der Bereinigungs-sitzung sperren wollten. Die Arbeit der UNESCO in vie-len Krisenregionen der Welt hätte Schaden genommen.Aber dies hätte auch dem Multilateralismus insgesamtschweren Schaden zugefügt. Deswegen war es sehr gut,dass auf massiven Druck von uns diese Sperrung verhin-dert wurde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Diese peinliche Geschichte zeigt wieder einmal erschre-ckenderweise, wie inkompetent und unzuverlässig dieschwarz-gelbe Außenpolitik ist.

Zur Kompetenz der Außenpolitik. Mit dem Staatsmi-nister Hoyer verlässt jetzt ein erfahrener Außenpolitikerdiese Regierung. Man muss sich fragen: Welches Gewichthat die deutsche Außenpolitik bald in der Welt? Dazu mussman sich einmal vergegenwärtigen, wer die neue Spitzedes Auswärtigen Amtes ist: Herr Westerwelle, Frau Pie-per, Frau Homburger. Daran kann man klar sehen, welcheRolle Deutschland zukünftig außenpolitisch in der Weltspielen wird.

Wir haben gerade in der Debatte zum Bundeskanzler-amt gehört, welche Relevanz die Energiewende für un-sere Gesellschaft hat. Das ist eine ganz wichtige Frage.Nach dem nuklearen Super-GAU in Fukushima sindhunderttausend Menschen hier auf die Straße gegangen,haben den Atomausstieg erzwungen und dafür gesorgt,dass alte Schrottreaktoren abgeschaltet wurden und dieLaufzeitverlängerung zurückgenommen wurde. Dochwas macht diese Regierung international? Diese Regie-rung will international weiter neue Atomkraftwerkebauen.

Der interministerielle Ausschuss, in dem Sie Mitgliedsind, Herr Westerwelle, hat erst im September die Grund-satzzusage für die Hermesbürgschaft für das AKW Angra 3verlängert, obwohl wir längst wissen, dass es für Angra 3kein Sicherheitskonzept, kein Evakuierungskonzept gibt,es in einem erdbeben- und erdrutschgefährdeten Gebieterrichtet werden soll, es keine unabhängige Atomaufsichtin Brasilien gibt und inzwischen die Menschen in Brasi-lien in Umfragen nach Fukushima gegen den Bau vonAngra 3 sind. Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Wester-welle: Sorgen Sie im interministeriellen Ausschuss dafür,dass die Hermesbürgschaft nicht gegeben wird. Ihre Au-ßenpolitik ist schon schizophren und unzuverlässig ge-nug. Machen Sie das nicht noch schlimmer, sondern sor-gen Sie dafür, dass dieser Hochrisikomeiler Angra 3endgültig beerdigt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Djir-Sarai

das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wenn wir eine Debatte über den Haushalt desAuswärtigen Amts führen, so ist klar, dass diese Debattemehr sein muss als das einfache Vortragen des reinenZahlenwerkes. Daher ist es wichtig, dass wir bei einersolchen Debatte auch die wichtigsten außenpolitischenEreignisse des Jahres betrachten und daraus Schlussfol-gerungen für die deutsche Außenpolitik ziehen.

Das für mich nach wie vor unglaublichste außenpoli-tische Ereignis des Jahres bis zu diesem Zeitpunkt ist derAufstand in der arabischen Welt. Dieses Ereignis und diedamit verbundene politische Entwicklung wird nicht nurNordafrika, nicht nur die arabischen Länder, sondern diegesamte Welt nachhaltig beeinflussen.

Der Aufstand in der arabischen Welt ist daher eineHerausforderung für die deutsche und die europäischeAußenpolitik. Auf diese Herausforderung muss einekluge europäische Außenpolitik vorbereitet sein. Ich bindankbar, dass die deutsche Außenpolitik auf diese Her-ausforderung vorbereitet ist. Ich bin auch dankbar, dassdie deutsche Entwicklungspolitik auf diese Herausforde-rung bestens vorbereitet ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin dankbar und sehr zufrieden, dass für 2012 zu-sätzlich Mittel für Maßnahmen der Demokratieförderungin diesen Regionen bereitgestellt wurden. Es werden neueMittel in Höhe von 50 Millionen Euro für die Transfor-mationsländer zur Verfügung gestellt. Dabei werdenwichtige Projekte, angefangen bei guter Regierungsfüh-rung, Institutionenberatung und Korruptionsbekämpfungbis hin zu Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung, un-terstützt. Das ist sehr gut und auch notwendig.

Genauso notwendig ist es nach wie vor, sich intensivund aufmerksam mit Afghanistan zu beschäftigen. Auchzehn Jahre nach Einsatzbeginn ist die zukünftige Ent-wicklung dieses Landes trotz der vielfältigen Bemühun-gen der internationalen Gemeinschaft schwer vorherzu-sehen. Afghanistan ist und bleibt ein schwieriges Thema.Besonders der Abzug der deutschen Truppen, der baldansteht, wird das Land vor eine große Herausforderungstellen. Auch hier bin ich sehr dankbar, dass das finanzi-elle Engagement für Afghanistan in 2012 auf dem bishe-rigen hohen Niveau fortgesetzt wird. Wir wollen undkönnen nicht ewig in Afghanistan bleiben. Wir wollenund können Afghanistan aber weiterhin zur Seite stehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vor diesem Hintergrund sind der gewählte Ansatz unddie damit verbundenen Projekte der Bundesregierungvöllig richtig. Wir sind nicht nur Gastgeber einer Konfe-

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Dr. Bijan Djir-Sarai

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renz, sondern wir haben eine Führungsrolle bei der Ge-staltung der Zukunft Afghanistans. Deutschland wirdden politischen Prozess der Aussöhnung und Reintegra-tion nicht nur begleiten, sondern auch unterstützen.

Unterstützenswert finde ich es aber auch – ich kommezu einem anderen Bereich –, dass bei den Mitteln fürauswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht gespartwird. Im Haushalt 2012 werden wir den größten Postenfür auswärtige Kultur- und Bildungspolitik in der Ge-schichte des Auswärtigen Amtes haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist – Kollege Brandner, das haben Sie gerade bestä-tigt – eine wesentliche Säule der deutschen Außenpoli-tik. Das Auswärtige Amt hält an der Maxime fest: keineMittelkürzungen bei Bildung und Forschung. Dabeikonnten die Ansätze für Stipendien, Wissenschaftsbezie-hungen und die deutsche Sprache auf dem hohen Niveauder Vorjahre gehalten werden. Das ist, wie ich finde, einrichtiger Ansatz.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung zumHaushalt machen. Das Auswärtige Amt trägt, wie auchdie anderen Ressorts, zur Konsolidierung des Bundes-haushaltes bei. Das Auswärtige Amt nimmt seine origi-nären Aufgaben erfolgreich wahr und trägt gleichzeitigsolidarisch zur Erreichung der Kriterien der Schulden-bremse bei. Das ist gut und muss bei solchen Debattenebenfalls lobend erwähnt werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Edelgard Bulmahn (SPD):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! In einer Haushaltsdebattegeht es in erster Linie um Zahlen – scheinbar. In Wirk-lichkeit geht es um politische Zielsetzungen, es geht umpolitische Strategien – in diesem Fall um außenpoliti-sche Strategien –, und es geht um Schwerpunktsetzun-gen. Deshalb freue ich mich, Herr Bundesminister, dassSie jetzt doch in dieser Debatte reden werden, obwohldies ursprünglich offensichtlich nicht geplant war. AlsParlament erwarten wir, dass Sie Ihre politischen Ziel-setzungen und Strategien darlegen. Das ist das guteRecht des Parlaments.

(Beifall bei der SPD)

Wenn ich auf die Zahlen schaue, kann ich sagen, dasssie auf den ersten Blick erfreulich sind. Das Budget desAuswärtigen Amtes wächst um 6 Prozent. Gerade imBereich der zivilen Krisenprävention und der auswärti-gen Kulturpolitik gibt es Aufwüchse; das haben meine

Kollegen bereits gesagt. Man könnte meinen, alles seigut. Ich würde mich freuen, wenn es so wäre. Das istaber leider nicht der Fall. Das zeigt ein Blick auf die mit-telfristige Finanzplanung. Die Steigerungen sind von nursehr kurzer Dauer. Bereits für das Jahr 2013, also dasübernächste Jahr, sind Kürzungen um 5 Prozent geplant.

Ich will auch an die Tatsache erinnern, dass es in die-sem Jahr, im Jahr 2011, besonders große und, offen ge-sagt, auch sehr fatale Kürzungen gerade im Bereich derzivilen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung gab.Dort fehlten im Vergleich zum Jahre 2010 mehr als80 Millionen Euro.

Wenn ich das zusammenfasse, dann muss ich leidersagen, dass die Zahlen des Haushalts zeigen, dass esnicht mehr als ein kurzes Aufflackern ist, wenn Sie nichtlangfristig und dauerhaft die Mittel für die zivile Krisen-prävention und humanitäre Aufgaben aufstocken. Erstdann, meine sehr geehrten Herren und Damen, wird eswirklich zu einer überzeugenden Strategie.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg.Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Ein kurzfristiges Auf und Ab hilft leider niemandem.Deshalb sage ich ausdrücklich: Notwendig ist eine lang-fristige Aufstockung dieser Haushaltstitel.

Was die jetzige Regierungskoalition betrieben hat, isteine Schadensbegrenzung. Die Nichtregierungsorganisa-tionen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerund, wie ich denke, nicht zuletzt auch die Oppositionsind gegen die Haushaltskürzungen in diesem JahrSturm gelaufen. Die Proteste sind scheinbar auch bei derBundesregierung angekommen. Das ist gut. Aber: Bittenicht nur für ein Jahr, sondern auf Dauer!

(Beifall bei der SPD)

Ich finde, Sie müssten hier Mut haben und gerade in denBereichen der zivilen Krisenprävention und der humani-tären Hilfe die Akzente richtig setzen und die Haushalts-mittel auf Dauer, auch in der mittelfristigen Finanzpla-nung, aufstocken.

Ich will als weiteren Punkt ausdrücklich den arabi-schen Frühling nennen, weil der arabische Frühling, dieUmbrüche in Nordafrika und die Rufe nach Demokratieund Menschenrechten im Nahen Osten für uns alle – überalle Fraktionen hinweg – ein ganz wichtiges und auch einermutigendes Signal darstellen.

Ich will aber auch sagen, dass die Nachrichten, dieuns aus Syrien oder aktuell aus Kairo erreichen, deutlichmachen, dass der Wunsch nach Demokratie und politi-scher Selbstbestimmung in diesen Ländern auf massivenWiderstand stößt. Menschen werden verfolgt und getötet.Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Demokratiebewe-gung, diejenigen, die wirklich für mehr Selbstbestimmungund Demokratie eintreten, eine starke Unterstützung ausder Bundesrepublik Deutschland erhalten

(Beifall bei der SPD sowie des Abg.Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

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Edelgard Bulmahn

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und dass sie diese Unterstützung – wiederum – nicht nurkurzfristig erhalten.

Ein solcher Transformationsprozess ist nicht in zweiJahren abgeschlossen; er dauert länger. Deshalb mussauch hier die Hilfe langfristig geleistet werden, und siemuss schwerpunktmäßig gegeben werden; denn sonsthat Außenpolitik keinen Erfolg. Eine außenpolitischeStrategie hat nur dann Erfolg, wenn sie langfristig ver-folgt wird, wenn auch die langen Linien stimmen undwenn die Schwerpunkte richtig gesetzt sind.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD])

Nur dann können wir – und das müssen wir auch – un-sere Beiträge leisten: zum wirtschaftlichen Aufbau, zumAufbau demokratischer Strukturen, zum Aufbau vonJustiz, Polizei und Verwaltung in diesen Ländern, umnur einige Beispiele zu nennen. Dazu braucht es zweifel-sohne eine finanzielle Grundlage, aber eben auch denpolitischen Gestaltungswillen und eine politische Kon-zeption.

Das, meine sehr geehrten Herren und Damen, gilt imÜbrigen auch für Afghanistan. Es reicht eben nicht, nurfinanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Notwendigist auch das politische Konzept. Da stelle ich schon dieFrage – auch an Sie, Herr Bundesminister –: Wo ist daspolitische Konzept für die Afghanistan-Konferenz, dieschon in zwei Wochen in Bonn stattfinden wird?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD –Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Istdoch schon längst da!)

Wir haben im Auswärtigen Ausschuss noch nicht eineinziges Wort dazu gehört. Wir haben auch im Bundes-tag dazu noch keine Aussagen gehört. Wenn man zweiWochen vorher nicht weiß, wohin man will, dann habeich große Sorge, ob diese Konferenz zu dem Erfolg füh-ren wird, den wir alle wollen. Wir alle wollen einen Er-folg dieser Konferenz, weil wir wissen, dass dies für dieEntwicklung in Afghanistan von immenser Bedeutungist.

Aber dazu gehört auch, dass der Bundesaußenminis-ter und die Regierung wissen, was sie erreichen wollen,und durch Verhandlungen den Weg dazu bereiten, sodasssie dann auch praktisch prüfen können: Haben wir ei-gentlich das erreicht, was wir uns vorgenommen haben?Bisher müssen wir hier ein großes Fragezeichen setzen;denn wir zumindest wissen davon nichts. Es kann jasein, dass Sie das mit Ihren Mitarbeitern erörtert haben.Aber ich denke, zum politischen Prozess gehört auch,dass man Verbündete und Mitstreiterinnen und Mitstrei-ter hat. Nur dann kann man einen politischen Erfolg er-zielen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie, Herr Westerwelle, haben immer – ich finde: zuRecht – darauf hingewiesen, dass man mit militärischenMitteln keine Konflikte lösen kann, sondern dass man da-für Politik und zivile Mittel braucht. Wir, die SPD-Frak-tion, haben schon vor etwa einem Jahr Vorschläge für dieWeiterentwicklung einer an zivilen Mitteln orientierten

Außenpolitik gemacht und dargestellt, wie hier unseresErachtens Fortschritte erzielt werden können. Es istschade, dass es bisher keine Stellungnahme und auchkeine Positionierung der Regierungsfraktionen dazu gibt.Ich appelliere an die Kolleginnen und Kollegen, dass diesgeleistet wird, weil wir sonst nicht vorankommen. Ichglaube, es ist gut, wenn man gerade bei diesen Fragenmiteinander um die richtigen Wege, um die richtigen In-strumente und auch um die richtigen Lösungen streitet.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollegin Bulmahn, Sie können gerne weiterreden,

aber das geschieht dann auf Kosten Ihrer Fraktionskolle-gen.

Edelgard Bulmahn (SPD):Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich will dann wie folgt

schließen: Es muss darum gehen, die außenpolitischeStrategie und die Konzeption nicht nur für die Afghani-stan-Politik, sondern insgesamt für die nächsten zweiJahre darzulegen, anstatt zum Beispiel über fachlicheKompetenzen und ein Hin- und Hergeschiebe zwischenden beiden Häusern BMZ und Auswärtiges Amt zu strei-ten. Ich habe die Hoffnung, dass das in dieser Debattevielleicht noch gelingen wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Erika Steinbach (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Kollegin Bulmahn, Sie irren. Die Bundes-regierung macht eine kontinuierlich menschenrechtskon-forme Politik – auch hinsichtlich der Krisenprävention.

(Michael Leutert [DIE LINKE]: Saudi-Arabien!)

Diese Bundesregierung hat noch keinen Präsidenten zumlupenreinen Demokraten erklärt, der ein solcher niemalsgewesen ist. Das muss ich auch einmal deutlich hinzufü-gen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Außenpolitik ist auch Menschenrechtspolitik. Das istheute in allen Redebeiträgen zu erkennen gewesen. DieHerausforderungen, denen sich Deutschland im Bereichder Menschenrechte gegenübersieht, sind in den letztenJahren nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: In vielenBereichen prallen religiöse, ethnische oder ideologischeVorstellungen nach wie vor sehr aggressiv aufeinander,und es gibt im Bereich der Menschenrechte leider auch,wie am Beispiel von Russland zu erkennen ist, dramati-

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Erika Steinbach

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sche Rückentwicklungen – dort, wo man es nicht vermu-ten sollte und wo man sich anderes erhofft hätte.

Die Einhaltung von Menschenrechten ist ethischesFundament für die demokratische, für die kulturelle undsogar auch für die wirtschaftliche Entwicklung eines je-den Landes. Dafür engagieren wir uns hier im DeutschenBundestag, und dafür engagiert sich die deutsche Au-ßenpolitik dieser Regierung kontinuierlich – von Anbe-ginn an.

Wir leben in sehr turbulenten Zeiten. Der gesamteNahe Osten ist im Umbruch. Die Hoffnungen der Men-schen, die dort leben, sind gewachsen. Durch die tunesi-sche Revolution wurde der arabische Stein ins Rollengebracht. Volksbewegungen in Ägypten, Libyen undBahrain folgten und gaben den Anstoß für den politi-schen Wandel in diesen Ländern, allerdings – auch dasist heute in den Beiträgen schon deutlich geworden – mitnoch offenem Ausgang.

Bei aller Euphorie ist auch Skepsis durchaus ange-bracht:

So hat der Übergangsrat in Libyen nach dem TodeGaddafis angekündigt, die zukünftige Verfassung an derScharia ausrichten zu wollen. Was das bedeutet, weiß je-der, der sich damit beschäftigt.

In Tunesien wurde im vergangenen Monat gewählt,und die islamistische Ennahdha-Partei ist jetzt mit gro-ßem Vorsprung stärkste Kraft im Parlament geworden.Die Ennahdha-Partei spricht von Freiheit und Demokra-tie. Wir hoffen sehr, dass dies auch umgesetzt wird.Gleichzeitig fordert sie aber die Einhaltung einer stren-gen religiösen Linie, und es gibt vor diesem HintergrundÜbergriffe von Salafisten auf Kinos und Fernsehstatio-nen, die Filme von Regisseurinnen ins Programm aufge-nommen haben. Die Möglichkeiten der Frauen sind alsodeutlich eingeschränkt. Welche Rechte werden dieFrauen und die anderen Menschen, die nach ihren Über-zeugungen in diesem Land leben wollen, dort denn zu-künftig haben? All das ist völlig offen.

In Ägypten werden in der kommenden Woche die ers-ten freien Parlamentswahlen seit sehr, sehr langer Zeit be-ginnen. Das ist hocherfreulich, aber auch in Ägypten – daskönnen wir nun Abend für Abend, Tag für Tag beobach-ten – wollen islamistische Kräfte, die sich derzeit im Hin-tergrund halten, die Wahlen gewinnen, und sie machenmobil. Überschattet werden die Vorbereitungen der Wah-len zudem durch Unruhen und Repressionen durch dasMilitär, durch den Geheimdienst und durch die Polizei.

Anfang November titelte Zeit Online wörtlich: „FürKopten gibt es keinen Arabischen Frühling“. Weiterschrieb sie:

Die Christen sind die Verlierer der Revolution: Siewerden verfolgt und getötet.

Es gab am 9. Oktober ein Massaker in Kairo. Im An-schluss an diese grausame Tat wurde – das ist gut – dasneue Antidiskriminierungsgesetz auf den Weg gebracht,mit dem Benachteiligungen aufgrund religiöser Zugehö-

rigkeiten unter Strafe gestellt werden. Das ist ein wichti-ges Zeichen, wie ich meine. Viele Ägypter hoffen nunauf Freiheit und Menschenrechte nach den Wahlen. Ichglaube, wir alle hier im Hause hoffen mit ihnen, dasssich diese Sehnsüchte in Ägypten am Ende erfüllen wer-den.

Mit großer Sorge sehen wir die Entwicklung in Syrien.Aber die Menschen haben trotz des brutalen Vorgehensdes Assad-Regimes die Angst vor den syrischen Geheim-diensten überwunden und gehen Tag für Tag auf dieStraße und versuchen, sich ihre Freiheit zu erkämpfen.Das ist für ein Volk, das über Jahre hinweg nur ein Lebenim Ausnahmezustand kannte, das sich jetzt wehrt, das in-zwischen 3 500 Tote und mehr als 10 000 Verhaftete, Ge-folterte und Gequälte zu beklagen hat, sehr bewunderns-wert. Auch dieser Freiheitsbewegung wünschen wir vielErfolg und danach einen verantwortungsvollen Umgangmit ihrer Freiheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber die Instabilität der gesamten Region wird auchvon der transnational organisierten Kriminalität genutzt.Überall, wo es die Möglichkeiten dazu gibt, kann mandas beobachten. Erst in den vergangenen Tagen erreich-ten uns Meldungen von Organentnahmen an Flüchtlin-gen auf der Sinaihalbinsel in einem ganz erschreckendenAusmaß. Medienberichten zufolge sind Tausende davonbetroffen. In diesem Zusammenhang kann man nicht nurvon korrupten Ärzten oder Medizinern sprechen. Dahin-ter steckt organisierte Kriminalität.

Der Einsatz für Menschenrechte ist über den arabi-schen Raum hinaus weltweit nach wie vor dringend ge-boten. Es ist Kern unserer werteorientierten Außenpoli-tik, dass wir uns für Menschenrechte einsetzen.

Wir befinden uns in den Haushaltsberatungen. Geldist wohl wichtig; es wird mit diesem Haushaltsplan aus-reichend Geld zur Verfügung gestellt. Aber noch wichti-ger ist, dass wir diese Themen immer wieder aufgreifen.Die Bundesregierung, der Außenminister, die Bundes-kanzlerin sprechen überall dort, wo sie das Wort ergrei-fen, immer wieder Menschenrechte mit der entsprechen-den Sensibilität an; wir hier im Hause – davon nehmeich niemanden aus – versuchen in Gesprächen mit Men-schen aus anderen Ländern immer wieder, zu erklären,was Menschenrechte bedeuten. Wir können nicht davonausgehen, dass alle ihren Wert sofort erkennen, etwa die-jenigen, die nicht so wie wir in Freiheit leben durften.Daran können wir alle gemeinsam mitarbeiten – überden Haushaltsplan hinaus.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido

Westerwelle, hat das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich nicht nur fürdie konstruktive Debatte, wie sie bislang stattgefundenhat, sehr herzlich zu bedanken, sondern ausdrücklichauch allen Berichterstattern meinen Dank auszuspre-chen. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit mit den Be-richterstattern und dem Haushaltsausschuss sachorien-tiert gewesen ist und dass die aufgeworfenen Fragen, diewir gestern, Herr Kollege Brandner, mit den Berichter-stattern erörtert haben, beantwortet werden können.Über die zeitliche Abfolge habe ich Ihnen gestern dasNotwendige gesagt.

In der Sache will ich die Frage beantworten, die Sieals Vertreter der Haushälter der größten Oppositionsfrak-tion hier im Hohen Hause angesprochen haben: Warumlegen wir die Strukturen der humanitären Hilfe zusam-men? Warum ist das unsere politische Absicht? Warumarbeiten wir daran? Das hat einen ganz einfachen Grund:Es soll die Effizienz unserer Arbeit erhöhen. Es ist nichtlogisch und auch nicht sinnvoll, dass beispielsweise beieiner humanitären Katastrophe das Kochgeschirr überdas Auswärtige Amt angeliefert wird und die Nahrung,die darin gekocht wird, über ein anderes Ministerium be-zogen wird. Wenn solche Strukturen zusammengelegtwerden, bündelt das unsere Kräfte und erhöht die Effizi-enz.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieser Gedanke steckt dahinter; es sind keine geheimenAbsichten. Deswegen sage ich das hier noch einmal.

Frau Kollegin Bulmahn, Sie haben die Frage gestellt,warum ich nur kurz bzw. am Schluss der Debatte spre-che. Ich will es Ihnen sagen: Bei uns ist es übliches Par-lamentsverständnis, dass die Minister nur auf Wunsch inder zweiten und dritten Beratung sprechen und dass dasParlament Priorität hat.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei Ihnen ist das offensichtlich anders. Sie wünschensich etwas anderes. Wir haben – übrigens gerade in derZeit der Opposition – immer großen Wert darauf gelegt,dass die zweite und dritte Beratung die Stunde des Parla-ments ist. Aber wenn Sie es möchten, werde ich selbst-verständlich das Wort ergreifen. Weil wir den Haushaltin der ersten Beratung mit einer ausführlichen Einbrin-gungsrede von mir vorgestellt haben, rege ich aber an,dass Sie, wenn Sie ein Defizit sehen, interfraktionell einestrategische Debatte zur Außenpolitik vereinbaren, diedann auch etwas mehr Redezeit für alle Beteiligten mitsich bringt. In Anbetracht der Umbrüche in der Weltglaube ich: Hohe Zeit wäre es.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber das ist Ihre Entscheidung als Abgeordnete desDeutschen Bundestages.

Ich möchte zwei sachliche Anmerkungen machen, diemir besonders wichtig sind. Das betrifft zunächst einmal

den arabischen Frühling. Wir sprechen von einem arabi-schen Frühling; das ist aber in Wahrheit eine unscharfeBegrifflichkeit. Der arabische Frühling, wenn wir ihn sonennen wollen, hat übrigens auch nicht in Tunesien be-gonnen, sondern mit der Farbe Grün im Iran. Wir solltenniemals vergessen, dass es im Iran nicht nur ein Nuklear-programm gibt, das wir zu besprechen haben, sondernauch viele freiheitsliebende Menschen, die unterdrücktwurden und werden. Wir wollen sie nicht vergessen, nurweil die Scheinwerfer zurzeit nicht dorthin gerichtetsind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist das Selbstverständnis: zu differenzieren statt nurzu dem etwas zu sagen und zu tun, was gerade in denAbendnachrichten besonders wichtig ist. Das bewegtmich genauso wie Sie.

Ein Beispiel: Mit etwas Glück und Konsequenzkönnte es sein, dass der Friedensplan des Golfkoopera-tionsrates endlich auch durch Präsident Salih für Jemenangenommen wird. Es wäre allerhöchste Zeit, dass dastatsächlich geschieht. Zurzeit schaut man nicht dorthin,aber die Menschen im Jemen haben immer noch berech-tigte Wünsche und Sehnsüchte. Man hat auch nicht imBlick, was evolutionär vorangeht: die Reformen, die inden drei Monarchien Marokko, Jordanien und Omaneingeleitet worden sind. Man schaut nicht dorthin, weiles keine entsprechenden Bilder gibt. Trotzdem unter-stützt die Bundesregierung den Transformationsprozessin den evolutionären Ländern genauso wie in den revolu-tionären Ländern. Das ist meiner Meinung nach der rich-tige Ansatz.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)Wenn Sie sich selbst prüfen, dann müssten Sie sich auchdahinter versammeln und sagen: Das ist die richtige Po-litik.

In Tunesien gibt es doch positive Signale, nämlichdass diese Wahlen friedlich stattgefunden haben. Dortwird Geschichte geschrieben. Nach Jahrzehnten derHerrschaft von Ben Ali ist das, was dort stattgefundenhat, Geschichte. Das Ende der Geschichte ist noch nichtklar. Aber es ist ein Anfang gemacht. Deswegen müssenwir das konstruktiv unterstützen, aber auch immer undimmer wieder hinschauen.

Für Ägypten gilt, was ich in Ägypten gesagt habe, aufdem Tahrir-Platz und an anderen Orten: Die Revolutionin Ägypten hängt an einem seidenen Faden. Wir müssenunsere ganze Kraft einsetzen, damit aus einem Transfor-mationsprozess ein wirklicher Wandel wird. Die Men-schen in diesen Ländern haben nicht nur gegen alte Dik-tatoren und autokratische Regime, sondern auch füretwas demonstriert: für Lebenschancen, Demokratie,Freiheit und Pluralität. Dabei müssen sie zu jeder Stundeunsere Unterstützung haben, egal welcher Partei wir an-gehören. Das ist die Gemeinsamkeit der Demokraten.Das ist die werteorientierte Außenpolitik, Frau KolleginSteinbach, die Sie zu Recht angesprochen und eingefor-dert haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle

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Zu Afghanistan habe ich bereits Regierungserklärun-gen abgegeben. Wir verfolgen den mit Ihnen besproche-nen Weg. Darauf haben Sie sich öffentlich positiv einge-lassen. Warum soll hier Schärfe hineingebracht werden?

Ich will eine Schlussbemerkung zu einem aus meinerSicht zentralen Thema machen. Viele Fragen sind wich-tig, auch zum Thema Nahost, aber dazu fehlt mir dieZeit. Ich will abschließend nur noch eine Bemerkungmachen. Wir haben heute Morgen eine lebendige undwichtige Diskussion über das Krisenmanagement in Eur-opa geführt. Ich möchte als Außenminister nur einen Ge-danken hinzufügen: Ich glaube, es reicht nicht, wenn wirdie Menschen in Europa und auch in Deutschland mit-nehmen wollen, dass wir uns ausschließlich über dasKrisenmanagement austauschen, sondern es ist ebensonotwendig, dass wir alle gemeinsam eine europäischeGeschichte schreiben und erkennen, dass es hier inWahrheit nicht nur um die europäische Frage geht, son-dern auch um die deutsche Frage. Es geht darum, obDeutschland unbeirrt Teil der europäischen und interna-tionalen Gemeinschaft sein will, und ich glaube, wirsollten uns nicht nur mit der Lösung der Krise auseinan-dersetzen und kontrovers darüber streiten, sondern wirsollten alle gemeinsam auch die Meinung vertreten: Wirsind eingebettet in Europa, und diesbezüglich darf nie-mand Zweifel säen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sagen Sie das mal der FDP!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Minister Westerwelle, es reicht einfachnicht aus, dass Sie sich hier hinstellen und positiv überden arabischen Frühling sprechen; denn Sie haben aufder anderen Seite bis kurz vor Schluss an der Seite vonDiktatoren wie Mubarak gestanden.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr rich-tig!)

Es ist auch nicht akzeptabel, dass Sie, wie jetzt aktuell,beharrlich zu den über 30 Toten auf dem Tahrir-Platz ge-schwiegen haben. Ihr Schweigen war eine Schande, HerrMinister. Überhaupt hat die Regierung lange gebraucht,um über die Massaker auf dem Tahrir-Platz zu sprechen.Es war auch nur die Rede von Nachrichten, und es er-ging ein Appell an beide Seiten, keine Gewalt mehr an-zuwenden. Ich empfinde das als beschämend.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Und Siegratulieren Fidel Castro zum Geburtstag! Dasist Ihre Auffassung von Menschenrechten!)

Der vorgelegte Haushalt, Herr Minister, ist gerade inBezug auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr einfachnur unseriös. Insbesondere nennen Sie nicht die wirkli-

chen Kosten des NATO-Kriegs in Afghanistan. Seit zehnJahren führt die Bundeswehr nunmehr Krieg am Hindu-kusch. Es ist nicht nur für die zahlreichen Opfer derdeutschen Kriegspolitik fatal, was dort in unserem Na-men geschieht. Laut dem Institut der deutschen Wirt-schaft kostete der deutsche Anteil an diesem schmutzi-gen Krieg bisher bis zu 33 Milliarden Euro. Jährlichschlage der deutsche Kriegseinsatz mit bis zu 3 Milliar-den Euro zu Buche. Das ist auch vor dem Hintergrundder aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise einfach uner-träglich. Was könnte mit diesem Geld alles getan wer-den?

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man diese Kriegskosten beispielsweise aufmeinen Wahlkreis Bochum umrechnet, wird die ganzeDimension klar. Die Kriegskosten treffen nämlich auchunsere Kommunen. Umgerechnet bezahlt die Stadt Bo-chum über 13 Millionen Euro jährlich für den Afghanis-tan-Krieg. Das ist doppelt so viel, wie die Stadt Bochumbisher jährlich für die Gesundheitsvorsorge ausgibt.Während in den Städten und Gemeinden Theater, Biblio-theken, Schwimmbäder, ganze Schulen bis hin zu Kran-kenhäusern geschlossen werden, steht diese Bundesre-gierung dafür, dass dies noch viele Jahre so weitergehensoll. Wir als Linke sagen: Hier ist eine Umkehr nötig. Je-der Euro und jeder Cent für diesen verbrecherischenKrieg ist einer zu viel.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre Rede vom Abzugsdatum 2014 ist, wie sich jetzterneut herausstellt, eine Legende, eine glatte Lüge. ImVorfeld der Petersberg-II-Konferenz nächste Woche inBonn wird über ein Stationierungsabkommen verhan-delt, das eine Präsenz von NATO-Truppen über das Jahr2024 hinaus vorsieht. Diskutiert wird über bis zu 50 000ausländische Soldaten, die dauerhaft am Hindukuschbleiben sollen. Allein um die Bevölkerung hier inDeutschland zu täuschen, erzählen Sie das Märchen vomAbzug.

(Michael Brand [CDU/CSU]: Reden Sie mal über Menschenrechte in Afghanistan!)

Sie reden vom Abzug und vom Frieden, aber Sie führenKrieg. Hören Sie endlich auf, den Menschen Sand in dieAugen zu streuen!

(Beifall bei der LINKEN)

Krise und Krieg sind lediglich zwei Seiten ein undderselben Medaille. Der NATO-Krieg in Afghanistanmuss beendet werden. Die Bundeswehr muss umgehendabgezogen werden. Diesen Krieg können wir uns imWortsinne nicht mehr leisten. Deshalb unterstützt dieLinke die Proteste gegen die Petersberg-Konferenz, aufder wieder in alter kolonialistischer Manier fernab vonAfghanistan über die Zukunft und auch über die Men-schen Afghanistans mit korrupten Regierungen undKriegsverbrechern wie Karzai entschieden werden soll.Während Sie diese Kriegsverbrecher hofieren, wird sichdie Linke an der Seite der hiesigen Bevölkerung an denProtesten gegen diesen Krieg beteiligen.

(Beifall bei der LINKEN)

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Wie sehr diese Bundesregierung weiterhin auf die Mi-litarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspoli-tik setzt, lässt sich an Details des Haushaltsentwurfsdeutlich erkennen. So lässt sich die Bundesregierungihre zivilen Ausbildungspartnerschaften für Jugendlichein Drittstaaten gerade einmal 1,3 Millionen Euro kosten.24 Millionen Euro hingegen stellt sie für die Ausbildungund Ausrüstung afrikanischer Soldaten und Polizisten imRahmen der G-8-Initiative bereit.

Ähnlich sieht es bei den deutschen Beiträgen zu denVereinten Nationen aus. Von den knapp über 600 Millio-nen Euro, die an die UN fließen, gehen über 400 Millio-nen Euro direkt an deren Militärmissionen. Davon kos-ten allein die UN-Missionen in der DemokratischenRepublik Kongo, im Südsudan und auch in Somalia dieHälfte, wo Sie wieder einmal völlig illegitime, korrupteRegierungen absichern. Wir brauchen aber eine Stär-kung der Vereinten Nationen mit ihren zivilen Strukturenund keine Militarisierung der UNO. Die Linke will des-halb die Stärkung des Völkerrechts und nicht seine Aus-höhlung.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Aushöhlung sieht man auch bei Ihrer aktuellenSanktionspolitik gegen den Iran. Nicht nur, dass IhreSanktionen die Bevölkerung im Iran schwer treffen wer-den. Das erinnert auch fatal an die Politik gegenüberdem Irak vor dem Angriff der Koalition der Willigen2003. Viele fühlen sich an die Kriegsvorbereitungen vondamals erinnert. Wieder einmal werden die Berichte vonGeheimdiensten für bare Münze genommen, wie es HerrMißfelder hier dargestellt hat, obwohl man doch spätes-tens seit dem Irakkrieg sehr vorsichtig mit derlei Infor-mationen umgehen sollte. Die Bundesregierung musssich hier klar positionieren. Es ist zweifelhaft, wenn Siesich auf der einen Seite gegen einen Krieg gegen denIran erklären, aber auf der anderen Seite eine konflikt-verschärfende Sanktionspolitik mittragen, die einenmöglichen Krieg mit dem Iran näher rücken lässt. Wirbrauchen hier eine politische Lösung. Ein neuer Kriegim Nahen und Mittleren Osten wäre wirklich verhee-rend. Sie haben hier die Möglichkeit, zu erklären, dassKrieg für Sie nicht weiter, wie in der Vergangenheit, einMittel der Politik ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum Schluss. Ziel der Linken ist es, dassdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik wieder Friedens-politik wird. Doch statt Frieden exportieren Sie immerweiter Krieg und auch deutsche Rüstungsgüter in alleWelt. Ich finde, eine andere und friedliche Außenpolitikist möglich. Das sind wir den Menschen in Afghanistan,in Saudi-Arabien, im Jemen, in Ägypten und auch an-derswo schuldig. Aber vor allem sind Sie das der großenMehrheit der Bevölkerung in Deutschland schuldig.

Verwenden wir die vielen Milliarden Euro Kriegskos-ten endlich für soziale und ökonomische, für zivile undvernünftige Projekte, hier und anderswo. Die Sicher-heitspolitik muss im Interesse der Mehrheit der Bevölke-rung sein und nicht im Interesse der Rüstungsindustrieund der Eliten.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Manuel Sarrazin das Wort.

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Herr Minister, Sie haben eben Eur-

opa und die Geschichte, die wir erzählen müssen, ange-sprochen. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wiruns angewöhnt haben, die wichtigen Debatten über dieZukunft der Europäischen Union mit dem Finanzminis-ter oder mit Beamten im Kanzleramt zu führen und nichtmit Ihnen. Ich muss Ihnen auch ganz ehrlich sagen, dassich das nicht gut finde.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das liegt aber an Ihnen!)

– Herr Stinner, tun Sie mir bitte den Gefallen und lassenSie mich diesen Punkt zu Ende bringen. – Ich habe nie-mals einen Europaminister erlebt, der in einer solchenKrise monatelang so wortlos zur Zukunft Europas gewe-sen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich habe in der Geschichte Europas bisher keine liberalePartei erlebt – außer vielleicht Fidesz, die einmal eine li-berale Partei gewesen ist –, die es in dieser entscheiden-den Frage nicht geschafft hat, zusammenzuhalten unddie Minderheit in ihrer Partei auch einmal zur Räson zubringen.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:Dann sind Sie aber dauernd mit einer Augen-binde durch die Gegend gelaufen!)

Ich nehme es Ihnen nicht ab, wenn Sie mir jetzt zurufen,das liege an mir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Der Minister ist inder letzten Sitzungswoche in den Ausschuss gekommenund hat gesagt, dass er in den Ratsformationen seit Mo-naten für Vertragsänderungen werbe.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das stimmt doch!)

Aber wir sind zum ersten Mal im Oktober in einemDrahtbericht darüber unterrichtet worden. Er hat uns of-fen ins Gesicht gesagt, er sei an unseren Anregungen in-teressiert. Das Strategiepapier des AA lag aber schonlängst vor.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Siemüssen es lesen! Wird Ihnen das nicht vorge-legt im Büro?)

Deshalb möchte ich Ihnen ganz deutlich sagen: DieserAußenminister wird der Rolle als Europaminister, als zu-ständiger Minister für Europapolitik nicht gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sevim DaðdelenSevim Dağdelen

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Manuel Sarrazin

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Ich kann Ihnen noch etwas sagen, was Sie bei diesemStrategiepapier falsch machen. Sie haben mit Herrn Rös-ler in der Welt geschrieben – das bezog sich auf Vertrags-änderungen; ich zitiere –:

Nichts ist für uns wichtiger, als die Bürgerinnenund Bürger auf diesem Weg anzuhören, zu beteili-gen und zu überzeugen.

Ihnen fällt das schon bei uns schwer. Sie haben tage-,wochenlang in Brüssel Ihr Strategiepapier und Ihre Vor-stellungen vorgetragen, ohne es uns zuzuleiten. Irgend-wann habe ich eine entsprechende Anforderung gestellt,nachdem in den Zeitungen darüber berichtet wurde. Dar-aufhin wurde uns dieses Papier zugeleitet. Aber das hatnichts mit dem zu tun, was Sie angekündigt haben, näm-lich die Bürger auf dem Weg anzuhören, zu beteiligenund zu überzeugen. Das ist Hinterzimmerpolitik, die wirsonst eher aus dem Kanzleramt gewohnt sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister, das, wofür Sie sich einsetzen, ist einGrundfehler, den wir nicht wiederholen sollten. Wirbrauchen Vertragsänderungen – ich hoffe, dass die Kol-legen im Europäischen Parlament dieses Thema nocheinmal auf die Tagesordnung setzen werden –, die in ei-nem echten europäischen Konvent und vor allen Dingenunter Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Sozial-partner zustande kommen und die zu mehr europäischerDemokratie unter Berücksichtigung sozialer Fragen füh-ren. Solche Änderungen dürfen nicht einfach nur von ir-gendwelchen Beamten in Brüssel, im Kanzleramt odervielleicht noch im Élysée ausverhandelt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Europäische Union ist – das haben wir immer be-tont – mehr als eine Wirtschaftsunion; darüber sind wiruns einig. Umso wichtiger ist es jetzt, den Menschen zuerklären, dass wir – um die Wirtschafts- und Solidar-union, um die Union des Rechts und der Freiheit zu be-wahren – mehr Wirtschaftsunion brauchen werden. DieWahrheit ist – da haben Sie recht, Herr Stinner –: Klein-staaterei wird nicht der Weg aus der Krise sein. Wenn je-der Nationalstaat in Europa seinen eigenen Weg geht,wird uns die Krise einholen und überholen. Das kannnicht der Weg in die Zukunft sein. Wir müssen unserGlück, als Deutsche in Europa eingebunden zu sein,deutlicher zum Ausdruck bringen. Wir brauchen daherkeinen schwachen Europaminister, der sich monatelangzu den angesprochenen Themen im Wesentlichen aus-schweigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir angesichts der Schlagzeilen sehen, dass wirvielleicht am Vorabend der entscheidenden Zuspitzungder Krise stehen, und da es vielleicht schon in den nächs-ten Tagen und Wochen darauf ankommen wird, ob wir indieser Situation zusammenhalten oder nicht, muss ichsagen: Hören Sie auf, plump rote Linien zu benennen!Sagen Sie zuallererst, dass Deutschland alles tun wird,um den Euro zu retten und die Europäische Union zu-

sammenzuhalten. Dann können Sie Maßgaben formulie-ren. Hören Sie auf, wie Herr Westerwelle und Herr Brü-derle rote Linien zu ziehen, die den Zweifel darannähren, dass wir dabei sein werden, wenn es darum geht,dieses Europa zusammenzuhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Unsicherheit, die Ihre Regierung verbreitet, ist fatal.

Ihr Krisenmanagement hat Europa nicht auf das vorbe-reitet, was in den nächsten Tagen und Wochen kommenwird. Sie haben die europäischen Institutionen, die han-deln könnten, geschwächt. Sie haben die Parlamentenicht ausreichend beachtet und beteiligt. Wir werden dennotwendigen Weg ohne starke Unterstützung des Außen-ministers gehen. Ich wünsche mir, Herr Westerwelle, dassauf Ihrem Stuhl ein echter Europäer sitzt. Es ist Pech füruns, dass Sie bislang nicht haben liefern können. Ich wün-sche mir, dass Sie eine europäische Stimme in der Bun-desregierung sind. Allein mir fehlt der Glaube. Ich hoffe,dass Sie die Zeit, die Ihnen noch bleibt, nutzen, um es bes-ser zu machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Link das

Wort.

Michael Link (Heilbronn) (FDP):Herr Kollege Sarrazin, unsere Zusammenarbeit ist im

Ausschuss und auch sonst sehr konstruktiv. Das ändertsich periodisch immer wieder, wenn hier im Plenum Re-den gehalten werden.

Ich bin sehr erstaunt darüber, in welcher Form Siedargelegt haben, was diese Koalition in der gesamtenZeit der Euro-Krise gemacht hat. Unsere Prämisse ist,die Euro-Zone zusammenzuhalten und die Währungsu-nion dort fortzuentwickeln, wo wir dringend Änderun-gen brauchen. Exakt das tun wir mit Anträgen und tutder Bundesaußenminister durch entsprechendes Werbenseit der Zuspitzung der Krise. Er hat insbesondere dafürgeworben, die Lehre aus dem zu ziehen, was wirklichfalsch gelaufen ist. Rot-Grün hat – daran möchte ich er-innern – 2002, 2003 und 2004 den Stabilitäts- undWachstumspakt entkernt. Daraus müssen wir dringendLehren ziehen. Der Bundesaußenminister wirbt deshalbgemeinsam mit der Bundesregierung für entsprechendeVertragsänderungen.

(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])

Wir gehen das konsequent an.

Wir erwarten bei diesem Punkt, dass immer dann,wenn es ernst wird, wenn nämlich Sanktionen tatsächlichverhängt werden sollen, von der Grünen-Fraktion mehrkommt als nur ein Kuschelkurs, ein Weiter-so, ein Ganz-schnell-die-Schleusen-Öffnen. Wir sollten nicht nur einWunschkonzert machen, sondern deutlich sagen, dass wirwirklich bereit sind, die Lehren aus dieser Krise zu zie-hen. Da würde ich mir von den Grünen mehr Beiträge

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Michael Link (Heilbronn)

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wünschen. Morgen zum Beispiel hätten sie die Gelegen-heit dazu. Morgen diskutieren wir den EU-Haushalt. Ichwarte bis zum jetzigen Moment auf einen Antrag der Grü-nen-Fraktion dazu.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Sie haben das Wort.

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Verehrter Kollege Link, wir arbeiten im Ausschuss

wirklich sehr gut zusammen, und das kann man auch sa-gen. Ich glaube aber, dass wir uns dessen bewusst seinmüssen, in welcher Lage wir sind. Ich glaube, dass in derLage, in der wir sind, gewisse Fragen des Klein-Klein– 2004, 2005 – –

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Klein-Klein? Groß-Groß! – Michael Link [Heilbronn] [FDP]: Dassind die Ursachen der Krise! – Weitere Zurufevon der FDP)

– Frau Homburger, Entschuldigung! Wenn Sie jetzt hierso reinblöken, möchte ich Sie einmal darauf hinweisen:

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was ist das für ein Stil?)

Wir haben im Juli hier den Antrag gestellt, automatischeSanktionen einzuführen. Den haben Sie abgelehnt. Siehaben es in Brüssel gekippt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich wollte nur gerade darauf hinweisen, dass es ausmeiner Sicht zwei große Schwierigkeiten gibt:

Erstens brauchen wir Vertragsänderungen; darüber re-den wir schon lange. Wir brauchen weiter gehende Ver-tragsänderungen als die, die diese Bundesregierung, wieich glaube, vorschlagen wird. Wir brauchen vor allemdie Verbindung der künftigen Wirtschaftsunion oderWirtschaftsregierung, wie auch immer wir es nennen,mit der Frage der Demokratie. Wir werden die Men-schen auf diesem Weg nicht mitnehmen können, wennwir nicht dazu stehen, das demokratisch zu machen, daszu legitimieren und die europäische Demokratie damitzu verbessern. Ich glaube, dass ich mir mit vielen Libe-ralen im Europäischen Parlament und in Europa in dieserFrage einig bin. Aber ich sehe nicht, dass dieser Außen-minister dieses Thema auf die Tagesordnung bringt; erlässt es sich von den Finanzministerien diktieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Sie sehen doch, dass wir ohne eine Gover-nance nicht aus dieser Krise kommen werden. Aber dieseBundesregierung hat die europäischen Institutionen, diedie Governance liefern können, auf den Marschbefehl derKanzlerin in der Rede von Brügge hin kleingehalten. Dahätte ich mir gewünscht, dass der Außenminister dage-genhält und ein Plädoyer dafür abgibt, dass wir ohne dasEuropäische Parlament, ohne die Europäische Kommis-sion nicht aus dieser Krise herauskommen werden.

Wir werden in den nächsten Tagen – vielleicht aucherst in den nächsten Wochen – erleben, dass viel größereHerausforderungen und Anforderungen auf uns zukom-men werden, als wir bisher glauben. Diese Herausforde-rungen werden alle in diesem Haus, auch uns, vor großeFragen stellen. Ich möchte einfach, dass die Unsicher-heit, die über die Position dieser Regierung und vor al-lem der FDP bisher besteht – ich weiß: nicht alle von Ih-nen können etwas dafür –, nicht neu genährt wird überrote Linien, die Sie ziehen und an die wir stoßen werden.Das ist meine Sorge, weil ich genau weiß: Das, was aufuns zukommt, werden wir nicht mit einfachen Mehrhei-ten, Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb, lösen können; dawird mehr gefordert sein. Darum bitte ich Sie, keine ro-ten Linien zu ziehen, zumindest nicht als Erstes, sondernzunächst die Aussage zu machen: Wir werden alles tun,was nötig ist, um Europa zusammenzuhalten und denEuro zu retten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Bevor es in der Debatte weitergeht: Ich nehme an,

dass alle Fraktionen wie auch diejenigen, die uns zuhö-ren, die Belebung der Debatte begrüßen. Wir solltentrotzdem, wenn wir bestimmte Reaktionen von Kolle-ginnen und Kollegen bewerten, bei unserer Wortwahl andie parlamentarische Ausdrucksweise denken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Michael Stüb-gen das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Michael Stübgen (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will amAnfang ganz kurz auf Ihren Beitrag eingehen, Herr Sar-razin. Sie haben sich gerade nachdrücklich darüber be-schwert, dass der Bundesaußenminister sich – angeblich– nicht um Europapolitik kümmert. Das ist Ihr Vorwurf;Sie sehen das so. Das wundert mich allerdings, da eskeine zwei Wochen her ist, dass Sie sich sowohl bei unsim Europaausschuss als auch öffentlich heftig darüberbeschwert haben, dass der Außenminister europapoli-tisch tätig geworden ist. Er hat Grundlinien für eine Ver-tragsänderung entworfen, von der Sie gesagt haben, dasssie gut und richtig wäre. Sie haben allerdings gesagt, erdürfe das nicht, bevor er mit Ihnen geredet hat. Sie müs-sen sich schon entscheiden, was Sie wollen, das eineoder das andere. Beides zu kritisieren, ist aber ein biss-chen merkwürdig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind überhaupt nicht der Meinung – es stimmtauch nicht –, dass das Auswärtige Amt und der Bundes-außenminister europapolitisch nicht aktiv sind. Natürlichgibt es immer Fragen, die aktuell im Ecofin und in derEuro-Gruppe geklärt werden müssen. Das hat etwas mitder Substanz der Probleme zu tun. Aber wir wissen sehr

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Michael Stübgen

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genau und beraten auch im EU-Ausschuss regelmäßigdarüber, wie wichtig die Arbeit des Auswärtigen Amtsist. Das sieht man auch an der mittelfristigen Finanzpla-nung. Bei dem mehrjährigen Finanzrahmen der EU fürdie Jahre 2014 bis 2020 geht es um einen Billionenhaus-halt, wie Sie alle wissen. Über diese Arbeit des Auswär-tigen Amts steht in der Tat nicht jeden Tag etwas in derZeitung; dennoch ist sie von fundamentaler Bedeutung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Damit bin ich bei meinem ersten Thema. Ich glaube,es ist sehr wichtig, dass wir im Rahmen der mittelfristi-gen Finanzplanung verstärkt ein Augenmerk auf denHaushaltsvollzug seitens der Europäischen Kommissionrichten. Wir als Koalitionsfraktionen werden morgen ei-nen Antrag, der sich substanziell und detailliert mit denVorschlägen für den nächsten Finanzrahmen der Europä-ischen Union beschäftigt, einbringen. Ich will nur einDetail herausgreifen, das uns als Haushaltsgesetzgebernicht beim Haushalt 2012, aber im Rahmen der mittel-fristigen Finanzplanung sehr direkt treffen könnte.

Es geht um den Sachverhalt, dass die EuropäischeKommission vor ungefähr einem halben Jahr festgestellthat, dass sich im Bereich der sogenannten RAL – reste àliquider –, also nicht ausgeführter Verpflichtungsermäch-tigungen, eine „Bugwelle“ aufbaut, die ein Ausmaß er-reicht, das seinesgleichen bisher nicht kennt. Was sindsogenannte nicht ausgeführte oder nicht vollendete Ver-pflichtungsermächtigungen? Die Europäische Union gibt– anders als die nationalen Haushaltsgesetzgeber – für be-stimmte Projekte in den Mitgliedsländern Teilfinanzie-rungen oder Vollfinanzierungen als Verpflichtungser-mächtigungen. Die Projekte dauern manchmal mehrereJahre; manche Projekte verschieben sich auch. Dadurchentstehen nicht vollendete Verpflichtungsermächtigun-gen. Insoweit ist das normaler europäischer Haushalts-vollzug. Bisher war es so, dass sich beim Übergang voneiner Finanzplanung zur nächsten Verpflichtungsermäch-tigungen in Höhe eines zweistelligen Milliardenbetragesangesammelt hatten. Auch dies war normaler Haushalts-vollzug; sie konnten im laufenden Haushalt berücksich-tigt werden.

Die Europäische Kommission hat allerdings festge-stellt, dass diese Entwicklung dazu führen könnte, dasswir bis zum Jahr 2014, also bis zum Beginn der neuenmittelfristigen Finanzplanung, nicht ausgeführte Ver-pflichtungsermächtigungen in Höhe von bis zu 250 Mil-liarden Euro haben; das wäre knapp ein Viertel des ge-samten Haushalts von 2014 bis 2020. Wenn dies eintritt,wird Folgendes passieren: Wir, die Geberländer, die Net-tozahlerländer, haben dann nicht nur den Beitrag für dasneu anlaufende Finanzprogramm zu zahlen, was völlignormal wäre – das wird ausgehandelt und einstimmigbeschlossen –, sondern zusätzlich, ohne dass wir unsvorher darauf einstellen können, diese 250 MilliardenEuro, sodass die ersten Jahre, die Jahre 2014 bis 2016,unkalkulierbar werden. Dies würde bedeuten, dass füruns als Haushaltsgesetzgeber nicht nur unsere Beiträgean die Europäische Union für die mittelfristige Finanz-planung, sondern auch die Haushalte für das jeweilsnächste Jahr unkalkulierbar würden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das kom-plexe Ursachengeflecht für diese Entwicklung ist wohlüberwiegend objektiv zu erklären. Ich erhebe hier alsonicht den Vorwurf, dass die Europäische Kommission da-für verantwortlich ist – vielleicht zum Teil; es gibt aberobjektive Gründe, die im Wesentlichen aus der Wirt-schafts- und Finanzkrise der letzten Jahre herrühren.Nicht akzeptabel ist allerdings die Tatsache, dass wir seitdem Zeitpunkt vor mehr als sechs Monaten, als die ersteMitteilung der Europäischen Kommission über ausste-hende Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von250 Milliarden Euro ergangen ist, keine konkrete Analyse– zumindest wurde sie uns nicht vorgelegt – darüber be-kommen haben, welche es sind und mit welchen Laufzei-ten, geschweige denn irgendwelche Vorschläge gemachtwurden, wie wir dieses Problem bis 2014 beheben oderzumindest stark reduzieren können.

Ich halte dies allerdings für ein eklatantes Versäumnisder Kommission. Sie ist für die Haushaltsdurchführungverantwortlich und hat daher die Verpflichtung, solchenEntwicklungen entgegenzuwirken. Sie kann nicht sagen:Darüber sollen sich die Mitgliedsländer einmal Gedan-ken machen. Das halte ich für uns als deutschen Gesetz-geber nicht für hinnehmbar. Ich erwarte daher von derEuropäischen Kommission, dass sie erstens umgehenddie Analyse des konkreten Problems fortsetzt und unsdas Ergebnis vorlegt und uns zweitens sehr bald kon-krete Vorschläge dazu macht, wie wir diesem Problembegegnen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Anstatt dass sich die Europäische Kommission mitdiesen und anderen dringenden Problemen beschäftigt,meint der Präsident der Kommission, Herr Barroso, unsmit allerlei Variationen von Euro-Bonds beglücken zumüssen. Ich bin überrascht, dass das bei dieser Debattenoch keine Rolle gespielt hat. Wir haben gelernt, dass esinzwischen einen neuen Begriff hierfür gibt: Stabilitäts-anleihen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in derKürze der Zeit will ich hierzu nur ein paar Anmerkungenmachen. Seit gut anderthalb Jahren haben wir es mitMenschen zu tun, die sich berufen fühlen, immer wiederneue Vorschläge und Rettungspläne zu machen, ohneeinmal darauf einzugehen, was bei der vorliegenden Be-schlusslage überhaupt umgesetzt werden muss. Da gibtes so einiges: Wir müssen die Guidelines im Zusammen-hang mit EFSF II umsetzen. Das ist sowieso längst über-fällig und muss noch in diesem Jahr geschehen. Ich gehedavon aus, dass das passiert. Außerdem müssen wir dasGriechenland-II-Paket mit der Gläubigerbeteiligung spä-testens Anfang nächsten Jahres vorstellen. Wir braucheninsofern keine Vorschläge zu Euro-Bonds oder diversenVariationen.

Ich will aber noch auf einen weiteren Punkt eingehen.Auf die deutschen Haushalte – und zwar auf die vonBund, Ländern und Gemeinden – würden bei der Ein-führung von Euro-Bonds, egal in welcher Form, im-mense Kosten zukommen. Das Hauptproblem ist aberFolgendes: Wenn wir bei der Einführung von Euro-Bonds einen ganz massiven Aufwuchs der Gewährleis-

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Michael Stübgen

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tungen der Euro-Länder – gerade derjenigen, die nochTriple-A sind – hätten, würden dabei mit Sicherheit ei-nige Euro-Länder – vielleicht nicht sofort Deutschland –in das Downgrading beim Rating geraten. Das würde miterhöhten Zinsgebühren einhergehen und würde die Ver-schuldenssituation noch verschlechtern. Damit würdenwir die Situation noch weiter verschlimmern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Selbst wenn man das alles für hinnehmbar hält, bleibtein weiteres Problem der Euro-Bonds, das sich in denletzten Jahren und insbesondere in den letzten Wochenganz besonders an Griechenland gezeigt hat: Mankonnte beobachten, dass die Entwicklung in den letzenanderthalb Jahren sehr schleppend vorangegangen ist.Sie ist aber nur deshalb überhaupt vorangegangen, weildas Land nach den Vorgaben des bisherigen Hilfspro-gramms alle drei Monate nachweisen muss, dass es dieKonditionalitäten einhält und seine eigenen Reformbe-mühungen mit allen Anstrengungen umsetzt.

Sobald in Griechenland bisher der Eindruck entstan-den ist, jetzt habe man erst einmal für drei Monate Luft,sind die Reformanstrengungen liegengeblieben. Wir ha-ben jetzt mit einer neuen Regierung die Chance auf Ver-änderung. Ich hoffe, dass diese Regierung es endlichschafft, das enorme Ungleichgewicht der griechischenReformpolitik abzuschaffen – bislang wurde nämlich nurbei Renten, Arbeitslosengeld, Sozialversicherung etc.eingespart, aber die großen Einkommensbezieher undVermögensbesitzer zahlen nach wie vor fast keine Steu-ern. Das Ganze ist aber nur durch den direkten Druck derständigen Kontrolle erfüllbar. Euro-Bonds würden dieseKontrolle unmöglich machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen wären sie der falsche Weg. Wir können nurauf dem Weg weitergehen, den wir bisher gegangensind.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Axel Schäfer hat für die SPD-Fraktion

das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bei der heutigen Debatte geht es, insbesondere was Eur-opa anbelangt, um eine Frage, über die wir 2010, 2009,2008, 2007 und davor nie diskutieren mussten.

Es geht nicht mehr um die Frage: Wie werden wir dieVertiefung und Erweiterung der EU gestalten? Jetzt gehtes um die Frage: Wie werden wir die EU erhalten? Dasist eine Debatte, die wir in 60 Jahren noch nicht führenmussten. Deshalb muss unsere Debatte in diesem Hausedem auch angemessen sein. Weil das so ist, möchte ichdie Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP nuran zwei Punkten kritisieren:

Der erste Punkt betrifft das, was Kollege Stübgenzum Thema Griechenland gesagt hat. In Griechenlandbesteht das Problem zurzeit darin, dass die Vereinbarun-gen, die unter den Parteien und mit der Troika in Europagetroffen worden sind, von einer Kraft nicht getragen,nicht unterzeichnet werden und deshalb nicht umgesetztwerden können, nämlich von der christdemokratischenOpposition, also von Ihren Parteifreunden. Das ist dasaktuelle Problem in Griechenland. Deshalb bitte ich Sie:Reden Sie mit Herrn Samaras. Sie kritisieren auch HerrnBarroso. Auch er ist einer Ihrer Parteifreunde. Sie kön-nen doch hier nicht sagen, es gebe bei diesen Themeneine Kakofonie, obwohl es doch letztlich immer um IhreLeute geht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie desAbg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Der zweite Punkt. Kollege Stinner, die Rede, die Siegehalten haben, betraf weniger den Bundestag als dieMitglieder Ihrer eigenen Partei. Ich kann nur hoffen,dass die europäischen Überzeugungen, die Sie hier vor-getragen haben, von den Mitgliedern Ihrer Partei tat-sächlich getragen und bei der Abstimmung entsprechendzur Geltung gebracht werden. Denn es ist wichtig, dasswir die FDP an dieser Stelle an Bord behalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir über Demo-kratie reden: Es geht nicht, dass ein Ministerpräsident inEuropa, der die mutigsten Sparmaßnahmen, die es bisherüberhaupt gab, und die schwierigsten Einschnitte, dieman sich vorstellen kann, vorgenommen hat – dagegenwaren Hartz IV und alles andere in unserem Lande nurein leises Säuseln –, auch von der Bundesregierung be-schämt und beschädigt wird. Papandreou hat gesagt: Ichtrete vor die Bürgerinnen und Bürger und mache meineigenes Schicksal von der Volksabstimmung abhängig. –Sie tun so, als wäre es etwas Unrechtes, den Bürgerinnenund Bürgern in einem Volksentscheid die Entscheidungüber elementare Fragen zu überlassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will auf etwas hinweisen, was in Europa, abgese-hen vom luxemburgischen Parlament, wahrscheinlich nurfür den Bundestag gilt: Wir haben in diesem Hause seit40 Jahren bei allen wichtigen, grundlegenden Entschei-dungen zur EU bzw. davor zur EG eine Übereinstimmungzwischen den Christdemokraten, den Sozialdemokraten,der FDP und – seit 1983 – den Grünen. Dieses kostbareGut, dass wir, egal in welcher Konstellation oder Koali-tion wir waren, dieses Europa gemeinsam entwickelt undvorangebracht haben, müssen wir in der jetzigen Situa-tion erhalten; darum wird es gehen.

Ich bin überzeugt: Wir werden 2012 vor ganz andereFragen gestellt als vor die, über die wir heute diskutie-ren. Wir werden nämlich vor die Frage gestellt werden:Ist es tatsächlich vorstellbar, dass die Euro-Zone zusam-menbricht, oder können wir das verhindern? SchauenSie sich bitte die Analysen der SWP und anderer seriöserWissenschaftler an: Sie stellen Projektionen auf, die unswirklich Sorge machen sollten. Die Politik muss an derStelle agieren und darf nicht nur reagieren.

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Axel Schäfer (Bochum)

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Was Aktion anbelangt, ist Folgendes das Wichtigste– und es ist gut, dass sich Sozialdemokratinnen, Sozial-demokraten und Grüne da einig sind –: Wir dürfen nichtmehr Dinge ausschließen, von denen wir wissen, dasswir sie gebrauchen könnten. Wir müssen auf den Erfah-rungen der letzten 15 Monate aufbauen, in denen immerwieder Sachen ausgeschlossen wurden, die dann amnächsten Tag realisiert worden sind. So werden wir inder Europapolitik nicht weitermachen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb müssen wir auch aussprechen, worum eshierbei geht. Es darf nicht ausgeschlossen werden, sowie es heute der Präsident der Europäischen Kommis-sion – wie gesagt: ein Christdemokrat – vorgeschlagenhat: Euro-Bonds, oder wie auch immer man gemein-schaftliche Anleihen nennt. Am Schluss darf natürlichauch nichts ausgeschlossen werden, was die Aktivitätenim Bereich des Geldes bei der Europäischen Zentralbankanbelangt, und zwar nicht, weil die SPD jetzt sagenwürde „Prima, möglichst schnell Euro-Bonds!“ oder dieGrünen vielleicht sagen würden „Prima, die EZB mussjetzt geldpolitisch tätig werden!“

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Sie wollen die Notenpresse anwerfen!)

Die Frage der Notenbank wird dann eine Rolle spielen,wenn es darum geht, ob Europa erhalten werden kannoder zerstört wird. Das müssen wir uns bewusst machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der Situation, in keiner anderen, werden wir sein. Wirsind im Jahre 2012 – zum Glück gibt es da so wenigeWahlen – nicht mehr in der Situation, über ökonomischeDogmen zu reden; wir werden über politische Hand-lungsfähigkeit reden. Wir müssen weniger, als es heutegeschehen ist, über Preise reden; wir müssen mehr überWerte reden. Wir müssen nicht wie die Kanzlerin überDemoskopie reden, sondern über Demokratie.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Um diese europäische Demokratie wird es im Jahre 2012gehen. Ich kann, liebe Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU und der FDP, nur an Sie appellieren: DenkenSie an den Weg, den wir von Mai 2010 bis jetzt, zumNovember 2011, gegangen sind. Sie mussten alle Vor-schläge, die wir gemacht haben, entweder übernehmenoder stillschweigend annehmen. Verschließen Sie sichnicht den Notwendigkeiten des Jahres 2012. Es geht umunser gemeinsames Europa, um das, was uns in dieserGesellschaft zusammenhält. In dieser Hinsicht werdennicht nur Grüne und Sozialdemokraten, sondern auchChristdemokraten und Liberale in Deutschland wie inganz Europa ihre Verantwortung anders wahrnehmenmüssen, als sie das bisher getan haben.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind noch in der Opposition, haben aber diese Ver-antwortung wahrgenommen und werden sie auch in Zu-kunft wahrnehmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Frankenhauser für die Uni-

onsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herbert Frankenhauser (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Den Letzten beißen die Hunde. Ich versuche abertrotzdem, als Haushälter in die Niederungen des Haus-haltes einzusteigen, nachdem hier fast eineinhalb Stun-den lang prächtige „tours d’horizons“ gefahren wordensind.

Herr Kollege Schäfer, Sie sehen, wie schnell sich dieZeiten ändern. Herr Samaras hat schriftlich zugesagt,dass er die Auflagen mittragen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Bis gestern hater sie strikt abgelehnt!)

Es stellt sich die Frage, ob er Phoenix sieht oder ob esunsere Außenpolitik war. Ich stelle das anheim.

Gestatten Sie mir, dass ich noch ein paar Minutenlang etwas zum Haushalt sage. Wenn ich richtig infor-miert bin, soll es sich um eine Haushaltsdebatte handeln.Wie es ohne Geld in der Außenpolitik aussehen würde,werde ich am Schluss meiner Ausführungen zum Bestengeben.

Zunächst möchte ich mich beim Auswärtigen Amtsehr herzlich bedanken. Das betrifft an erster Stelle denMinister, aber auch Herrn Dr. Morhard. Er ist für dieHaushälter immer ein idealer Ansprechpartner. Die Zu-sammenarbeit hat hervorragend funktioniert. Genausoherzlich möchte ich mich für die exzellente Zusammen-arbeit unter den Kolleginnen und Kollegen bedanken.An der Stelle möchte ich dem Auswärtigen Amt auch fürdie vorzügliche Betreuung danken, die viele unsererKolleginnen und Kollegen bei den Botschaften im Aus-land erfahren. Selbst Kolleginnen und Kollegen aus demEuropäischen Parlament nehmen die Einrichtungen derdeutschen Botschaften viel lieber in Anspruch als die desmerkwürdigen Europäischen Auswärtigen Dienstes.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Na, na!)

Ich kann erfreulicherweise mitteilen, dass der Haus-halt des Auswärtigen Amtes im Verlaufe des Bereini-gungsverfahrens auf nunmehr 3,324 Milliarden Euro er-höht werden konnte. Übrigens sei den Kolleginnen undKollegen der Opposition ins Stammbuch geschrieben,dass dies der höchste Haushalt ist, den das AuswärtigeAmt jemals hatte. Lieber Herr Kollege Kindler, es istnicht so, dass wir Ihretwegen einen Schrecken bekom-men und gezittert haben, vielmehr haben wir das aus ei-

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Herbert Frankenhauser

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genem Antrieb gemacht. Wir setzen gerne eine vernünf-tige, den Notwendigkeiten angepasste Haushaltspolitikdurch.

Wie weit wir mit Ihnen kommen würden, lässt sich anfolgenden Zahlen ablesen: Die Linken haben Zusatzaus-gaben in Höhe von 155,9 Millionen Euro ohne Deckunggefordert. Bündnis 90/Die Grünen waren etwas beschei-dener: Bei ihnen waren es 139,7 Millionen Euro ohneDeckung.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die Deckung habe ich vorhin vor-getragen!)

– Das waren letztes Jahr irgendwelche Abgaben aufFlugtickets. Das ist auch in die Hose gegangen, HerrKollege Kindler. – Bei der SPD sind es immer noch80 Millionen Euro.

(Klaus Brandner [SPD]: Mit Deckung!)

– Nein, nicht mit Deckung, Herr Kollege. Wir machennoch einmal ein Privatissimum in Addition und Subtrak-tion.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dann wird sich herausstellen, dass es 80 Millionen Euroohne Deckung sind.

Wir betreiben keine Außenpolitik nach Kassenlage,sondern wir machen sie mit der notwendigen finanziel-len Ausstattung. Zum Beispiel haben wir – was, glaubeich, eine ganz wichtige Maßnahme war – den Schul-fonds um 15 Millionen Euro erhöht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte mich noch einmal an die voll besetzteBundesratsbank wenden.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Länder erklären uns ständig, wie dringend notwen-dig die Auslandsschulen sind, aber aus der Finanzierunghaben sie sich mittlerweile völlig zurückgezogen. Eswäre doch eine schöne Geschichte, wenn sich die Herr-schaften vielleicht im Bundesrat treffen würden,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP –Michaela Noll [CDU/CSU]: Die können dasnachlesen!)

um darüber nachzudenken, uns zu unterstützen. Um ei-ner Mär vorzubeugen: Wir haben den größten Ansatz fürauswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Immer wiederwird das Gegenteil behauptet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Konsolidierung des Bundeshaushaltes ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe, sie kann nicht nur vonwenigen gemacht werden, und sie kann auch nicht vorKulturträgern haltmachen. Als besonders inakzeptabelempfinde ich es, wenn sich sogenannte Zuwendungs-empfänger an dem, was wir an Zuwendungen aufbringen– und zwar sehr reichlich – öffentlich Kritik üben.

Wir haben in einem ersten Schritt versucht, die not-wendige Personalausstattung für das Auswärtige Amtbereitzustellen; denn es kann nicht sein, dass wir aus po-litischen Erwägungen sehr viele Auslandsvertretungenneu eröffnen, diese aber keine adäquate Personalausstat-tung haben.

Zum versöhnlichen Abschluss – ich bin der letzteRedner zu diesem Einzelplan – möchte ich Ihnen ein Ge-dicht von Alice von Gaudy aus der Zeit Friedrichs desGroßen vortragen, in dem es darum geht, wie es ohne ad-äquate Mittelausstattung aussehen könnte. Ich zitiere– mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin –:

… Auch unterbreite ich ehrfürchtigst Eure Majes-tät,dass es mit solchener Sparsamkeit nicht weitergeht. Die Gelder zur Repräsentation –gehorsamst zu melden – sind allzu knapp. Erhalt ich keine Subvention, ich schaffe – gehorsamst – die Pferde ab, ingleichen die Equipage. Soll man am Londoner Hofe sehnPreußens Gesandten zu Fuße gehen,wegen sumissest zu pauvrer Gage?Der König

– ich könnte auch sagen: Haushaltsausschuss –

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

liest es und lächelt fein.Dann taucht er den spitzen Gänsekiel ein,und schreibt an den Rand des Gesandtenberichts:Subvention – jetzt und künftig – nichts. Er möge sans gene zu Fuße spazieren …

In diesem Sinne kann man nur feststellen: Das Auswär-tige Amt ist bei dieser Koalition bestens aufgehoben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 05– Auswärtiges Amt – in der Ausschussfassung. Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Einzelplan 05 ist mit den Stimmen der Koa-litionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-fraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt II.12 auf:

Einzelplan 14Bundesministerium der Verteidigung

– Drucksachen 17/7113, 17/7123 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus KalbKlaus-Peter WillschBernhard Brinkmann (Hildesheim)Dr. h. c. Jürgen KoppelinDr. Gesine LötzschDr. Tobias Lindner

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Vizepräsidentin Petra Pau

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Zum Einzelplan 14 liegen zwei Entschließungsan-träge der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungs-antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über diewir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmenwerden.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeBernhard Brinkmann für die SPD-Fraktion.

Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Siemir, dass ich mich zu Beginn meiner Ausführungen beiden Kolleginnen und Kollegen Berichterstattern sowiebeim Ministerium für die in den vergangenen Wochenuns zur Verfügung gestellten Unterlagen sehr herzlichbedanke. Alle Fragen sind bestens beantwortet und alleWünsche erfüllt worden. Die Unterlagen, die uns zurVerfügung gestellt worden sind, haben uns die Beratungüber den Einzelplan 14 einfacher gemacht. Es war wieimmer eine angenehme und zielorientierte Zusammenar-beit.

Der Einzelplan 14 für das Haushaltsjahr 2012 bildetzum ersten Mal die neuen Strukturen, die Neuausrich-tung unserer Bundeswehr ab. Hierfür sind entgegen derPlanung Ihres Vorgängers, Herr Minister de Maizière,31,9 Milliarden Euro vorgesehen. Ich stelle erneut fest:Die vollmundigen und nicht haltbaren Sparvorgaben desHerrn zu Guttenberg sind damit endgültig Makulatur,und das ist auch gut so.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehenseit jeher für eine moderne und leistungsfähige Bundes-wehr ein, die fest in unserer Gesellschaft verankert ist.Wir stehen dafür, dass unsere Streitkräfte – neue Struktu-ren hin oder her – eine Parlamentsarmee sind und blei-ben.

Heute Morgen, im Zusammenhang mit dem Einzel-plan des Bundeskanzleramts, sind Sie, Herr Minister deMaizière, für das, was Sie auf den Weg gebracht haben,gelobt worden. Das teile ich uneingeschränkt. Eine Aus-sage der Bundeskanzlerin aber wird uns in den nächstenWochen, Monaten, vielleicht auch erst in Jahren einho-len. Die vollmundigen Sparversprechen des Herrn zuGuttenberg sind kaschiert worden. Die Frau Bundes-kanzlerin hat erklärt: Durch diese Reform wird es mittel-fristig zu Einsparungen kommen. – Ich stelle hier einmalfest: Belastbare Zahlen liegen bis heute nicht vor. Ichgehe davon aus, dass sie uns in den nächsten Jahren auchnicht geliefert werden können. Wer den Einzelplan undseine Strukturen kennt, wer weiß, wie sich das auf derAusgabenseite letztendlich auswirkt, der muss zurKenntnis nehmen, dass hier nur ein sehr geringes Ein-sparpotenzial vorhanden ist.

Die umfassende Neuausrichtung der Bundeswehr, dasEnde der Wehrpflicht, der damit verbundene Umbau der

Streitkräfte hin zu einer Freiwilligenarmee sowie dieStandortschließungen werfen weiterhin zahlreiche Fra-gen auf und stellen uns vor die eine oder andere Heraus-forderung. Es steht außer Frage, dass all diese Neuerun-gen nicht ohne eine entsprechende Anschubfinanzierungzu realisieren sind und dafür noch etwas länger Vorsorgegetroffen werden muss. Meine Fraktion ist fest davonüberzeugt, dass eine erfolgreiche Reform nur gelingenkann, wenn die Menschen, die in der Bundeswehr Diensttun, aktiv eingebunden, also mitgenommen werden. DieZuversicht und Motivation derer, die von den Verände-rungen unmittelbar betroffen sind, gilt es unbedingt zuerhalten. In 2012 und in den folgenden Jahren wird sichzeigen, ob diese Zahlen nur der Anfang sind, wenn esdarum geht, den bevorstehenden Prozess erfolgreich vo-ranzubringen.

Unsere Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilenAngestellten sind das zentrale Kapital der Bundeswehr.Höchst professionell und pflichtbewusst leisten sie ihrenDienst im In- und Ausland. Man kann nicht oft genugbetonen, dass ihre Aufgaben mit einem hohen Risikoverbunden sind. Dieses Risiko bedeutet in manchen Fäl-len auch den Einsatz von Gesundheit und Leben, nichtzu vergessen die persönlichen Entbehrungen für die imEinsatz Befindlichen selbst und in einem hohen Maßeauch für deren Familien. Ich möchte die Gelegenheitnutzen, hierfür einmal meinen persönlichen Dank, meineAnerkennung und meinen Respekt zum Ausdruck zubringen. Ich würde mich freuen, wenn sich dem alleFraktionen anschließen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist mir ein Anliegen, zu betonen – ich denke, dassauch dies große Zustimmung findet –, dass wir hinterunseren Soldatinnen und Soldaten sowie hinter den zivi-len Mitarbeitern und Helfern stehen. In diesem Kontextdürfen auch die Reservisten nicht vergessen werden, dieeinen ganz hervorragenden Job machen, die eine ganzhervorragende Arbeit leisten.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer bei der Bundes-wehr arbeitet, der hat ein Recht darauf, fair behandelt zuwerden. Dies gilt namentlich auch für die zivilen Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter, die angesichts einer vorgese-henen Stellenreduzierung auf 55 000 Dienstposten einenAnspruch auf ein angemessenes Maß an Sozialverträg-lichkeit haben. Davon abgesehen, dass diese Stellenkür-zungen aus Sicht der SPD-Fraktion unverhältnismäßighoch sind und deutlich moderater ausfallen müssen, ist esuns ein unbedingtes Anliegen, dass es keine betriebsbe-dingten Kündigungen geben darf. Meine Fraktion wirdsich daher bei den bevorstehenden Beratungen und Ent-scheidungen vehement dafür einsetzen, dass bei diesemVorhaben nicht die Zahlen, sondern die Menschen imVordergrund stehen. Natürlich kostet eine solche Maß-nahme Geld – das steht außer Frage. Es bleibt abzuwar-ten, ob der angedachte Ansatz der Versetzung von Bun-deswehrmitarbeiterinnen und -mitarbeitern in andere

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Bernhard Brinkmann (Hildesheim)

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Ministerien in diesem Zusammenhang eine geeigneteMaßnahme sein wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch nichtsweiter als eine Hilfsbrücke, wenn die Personalreduzie-rungen dadurch finanziert bzw. realisiert werden sollen,dass man 1 Milliarde Euro in den Einzelplan 60 umbucht.Ein solches Konstrukt, das mit Haushaltswahrheit und-klarheit nichts zu tun hat, wird von der SPD klar abge-lehnt. Meine Fraktion ist der festen Überzeugung, dass esnach dem genannten Grundsatz wesentlich sinnvoller undtransparenter gewesen wäre, wenn man hierfür eine sepa-rate Haushaltsstelle mit der Bezeichnung „Neuausrich-tung der Bundeswehr“ im Einzelplan 14 eingestellt hätte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Minister hatEnde Oktober sein Konzept für Schließungen von Bun-deswehrstandorten vorgestellt. Die hierin festgelegtenSchließungen und Reduzierungen von Standorten betref-fen Tausende von Soldatinnen und Soldaten sowie zivileMitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Wechsel desDienstorts wird mit unterschiedlicher Härte auch bei de-ren Familien ankommen. Es steht aus Sicht der SPD außerFrage, dass dies nur dann angemessen abgefangen werdenkann, wenn hierfür ausreichende finanzielle Mittel bereit-gestellt werden. Auch hierfür ist im Haushalt bisher keineentsprechende Hinterlegung erfolgt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus den bisherigenReformen ist uns bekannt, dass auch die Veräußerungder nicht mehr benötigten Liegenschaften einen unge-heuren Kraftakt bedeutet. Die hiervon betroffenen Städteund Gemeinden können die frei werdenden Flächennicht alleine vermarkten. Hierfür ist die für den Februar2012 geplante Informationsveranstaltung der BImA einerster wichtiger Schritt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-schließend noch einige positive Ergebnisse für den Vertei-digungshaushalt 2012 ansprechen. Wir haben gemeinsamerreicht, dass 25 Millionen Euro für Kleinwaffenmunitionund 30 Millionen Euro unter der Überschrift „Infanteristder Zukunft“ in den Haushalt eingestellt worden sind. Dassind Dinge, die wir gemeinsam in den Beratungen undauch in der Bereinigungssitzung auf den Weg gebrachthaben. Ich finde, dass alle diese gemeinsamen Entschei-dungen einmal hervorgehoben werden sollten. Denn beiallen gegensätzlichen Ansätzen von Koalition und Oppo-sition wollen wir doch alle nur eines, nämlich die richti-gen Impulse für unsere Bundeswehr, unseren Haushaltund unser Land setzen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Minister,

die letzten Wochen – eigentlich das ganze Jahr, das hin-ter uns liegt – waren für alle, die sich für die Bundes-wehr interessieren, unstreitig eine ziemlich spannendeZeit. Das hat natürlich Auswirkungen auf das, was aufuns zukommt. Wir haben das Thema „Strukturreformder Bundeswehr“ in all seinen Facetten bearbeitet. DasMinisterium hat hier eine vorbildliche Arbeit geleistet.Was die Begleitung unserer Arbeit als Berichterstatterim Haushaltsausschuss anbelangt, kann ich mich demDank, den der Kollege Brinkmann gegenüber dem Hausausgesprochen hat, ausdrücklich anschließen. Das warwie immer exzellent. Unsere Fragen wurden schnell, zu-verlässig und zutreffend beantwortet. In dieser Zusam-menarbeit fehlt es an nichts. Das spiegelt die Auffas-sung, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, gutwider. Das funktioniert hervorragend. Danke dafür.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will auch dafür danken, Herr Minister de Maizière,dass Sie sich die nötige Zeit genommen haben, um dieanstehenden Standortfragen mit der gebotenen Zügig-keit, aber eben auch der notwendigen Gründlichkeit vor-zunehmen. Wir alle sind schon lange genug im Haus-haltsausschuss, um zu wissen, dass wir nicht nachMilchmädchenrechnung sagen können: 31 geschlossen,90 reduziert, das ergibt einen Einsparbetrag x. KollegeBrinkmann hat dankenswerterweise signalisiert, dass erdiesem Trugschluss nicht aufsitzt, sondern weiß, dassein Umbau erst einmal Geld kostet.

Nun gibt es, wie immer, wenn Standortentscheidungenanstehen, natürlich fröhliche und weniger fröhliche Ge-sichter. In meinem eigenen Wahlkreis befindet sich keinBundeswehrstandort mehr, dort ist nur noch ein Depot,das abgewickelt wird. Aber wir haben natürlich gespanntauf die Nachbarschaft, auf Diez, geschaut und uns ge-freut, dass das Schloss Oranienstein weiterhin Sanitäts-standort bleiben wird. Wir müssen aber genauso zurKenntnis nehmen, dass die Freiherr-vom-Stein-Kasernekeine Zukunft mehr haben wird. Das ist nun einmal so.

Daher ist es wichtig, dass die Entscheidungen nachrationalen und ordentlichen Maßstäben getroffen wer-den. Das ist, glaube ich, hier geschehen. Klare Kriterienwurden angelegt: die Eignung der Liegenschaft für dieAuftragserfüllung, die Anbindung an geeignete Ausbil-dungs- und Übungsmöglichkeiten, die Verkehrsanbin-dung des Standortes, die räumlichen Zusammenhänge imRahmen des Aufgaben- und Übungsverbundes, die Lie-genschaftsbetriebskosten, also Bauunterhaltung, Bewirt-schaftung und Bewachung, Erfordernis und Kosten vonInfrastrukturmaßnahmen, bisherige mittelfristig und lang-fristig erforderliche Infrastrukturinvestitionen und Ver-fügbarkeit und Vielfalt von Bildungseinrichtungen, öf-fentlichen Betreuungs-, Freizeit- und Fürsorgeeinrich-tungen.

Ich glaube, das ist ein umfassender Strauß an Indika-toren, die man angelegt hat, um zu den richtigen Ent-scheidungen zu kommen. Jeder von uns, der in seinerNähe einen betroffenen Standort hat, bekommt natürlichPost vom Bürgermeister, der Konversion fordert, aberauch von Soldaten und anderen Personen, deren persön-liche Lebensplanung durch die Standortschließungen

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oder Entscheidungen intensiv betroffen wird. Daher istes gut, dass man darauf verweisen kann, dass hier nacheinem sehr rationalen und nüchternen Maßstabsystemvorgegangen wurde.

Lassen Sie mich noch etwas zu unserer Detailarbeitim Haushaltsausschuss sagen. Wir haben noch ein paarkleinere Änderungen vorgenommen. Eine Auswirkungder Abschaffung der Wehrpflicht ist natürlich, dass esden Zivildienst als automatischen Zusatznutzen der Wehr-pflicht nicht mehr gibt. Aber mit dem Bundesfreiwilli-gendienst ist für die Träger von ehrenamtlicher gemein-nütziger Arbeit im Sozial- und Umweltbereich sowie inanderen Bereichen die Möglichkeit geschaffen worden,Ersatz zu bekommen.

Wir haben durch einen Haushaltsvermerk dafür Sorgegetragen, dass überschüssiges Material, das in der Bun-deswehr abgängig ist, übernommen werden kann, undzwar nicht nur durch das THW, sondern auch durch an-dere anerkannte Katastrophenschutzorganisationen. Ichdenke, dass wir damit nicht nur den freiwilligen Wehr-dienst, sondern auch andere Organisationen, die demMotto „Wir.Dienen.Deutschland.“ verpflichtet sind, un-terstützen.

Durch die Entscheidungen, die getroffen worden sind,verfolgen wir das Ziel, eine Armee zu haben, die mit biszu 185 000 Soldaten dem zukünftigen Einsatzspektrumgerecht werden kann und wird. Es geht in der Zukunftnicht mehr um die Verteidigung der Landesgrenzen, son-dern zukünftige Einsätze erfolgen vor allem an der Seiteunserer Partner innerhalb der EU und innerhalb derNATO. Dabei steht die Sicherung der Seewege zumSchutz unserer Handelsschifffahrt genauso auf der Tages-ordnung wie Einsätze gegen den international operieren-den Terrorismus, die von hoher Intensität und mit hohenRisiken verbunden sind.

Wir brauchen natürlich eine schlagkräftige Truppe,die schnell und flexibel einsatzbereit und verlegefähig istund deren Ausbildung in Deutschland sich darauf kon-zentriert, sie bestmöglich auf ihr Einsatzspektrum vorzu-bereiten. Wir haben, damit dieser Umbau gut gelingenkann, versucht, auch im Personalbereich – dazu wirdJürgen Koppelin noch etwas sagen – Vorsorge zu treffen.Wir wollten unter anderem verhindern, dass im Bereichder Portepeeträger Beförderungsstaus eintreten. Dane-ben haben wir auch besonders an die zivilen Beschäftig-ten im mittleren Dienst gedacht.

Bei internationalen Einsätzen und bei der Zusammen-arbeit mit unseren Partnern kommt es natürlich auch dar-auf an, dass wir kooperationsfähig sind. Deshalb habenwir gesagt – das geht über das, was das Haus dazu vor-geschlagen hat, hinaus –: Wir brauchen einen Einstieg indas Vorhaben „Infanterist der Zukunft – Erweitertes Sys-tem“ und wollen hierfür eine Anschubfinanzierung; Kol-lege Brinkmann hat diesen Aspekt dankenswerterweiseangesprochen und auch mit unterstützt. Es ist nämlichAusdruck einer Parlamentsarmee, dass wir die wesentli-chen Entscheidungen hier im Parlament und in der Regelzusammen treffen. Für das Projekt „Infanterist der Zu-kunft“ haben wir daher mit einer Anschubfinanzierungvon 30 Millionen Euro Vorsorge getroffen.

Das Thema Munition ist ebenfalls angesprochen wor-den. Die entsprechenden Mittel, die für Munition fürkleine Waffen gedacht sind, werden um 25 MillionenEuro erhöht. Wir haben die Berichte von Soldaten, dieaus einem Einsatz zurückgekehrt sind, und die Anregun-gen, die uns über den Wehrbeauftragten, auf dem Dienst-weg gleichermaßen, erreicht haben, aufgenommen. Wirsagen: Wenn wir unsere Armee in einen Einsatz schi-cken, dann muss sie ordentlich ausgerüstet und ordent-lich ausgebildet sein. – Wir als Parlament fühlen uns inder Pflicht, dafür Sorge zu tragen, auch wenn das beidem einen oder anderen Item vielleicht noch nicht derFall sein sollte.

Wir müssen uns darüber hinaus natürlich auch überandere Themen Gedanken machen. Wir wissen, dass Ge-spräche über langfristige Programme der Beschaffungund über die Spielräume, die wir in diesem Bereichbrauchen, laufen. Sie alle kennen das von der Europäi-schen Verteidigungsagentur angestoßene Konzept „Poo-ling & Sharing“. Hier geht es um die Frage: Welche Ei-genschaften und Fähigkeiten fassen wir auf einergeeigneten Aggregatstufe zusammen und sagen: „Daserledigen verschiedene Länder gemeinsam“, und beiwelchen Fähigkeiten spezialisieren sich die Armeen dereinzelnen Nationen? Dieser Ansatz muss im Umfeld ei-ner schwierigen Budgetsituation in allen Partnerländernsicherlich verstärkt verfolgt werden. Wir sind da zu allenDiskussionen bereit.

Wir wissen auch: Wenn wir im Hinblick auf Ausrüs-tung und Verträge Entgegenkommen erzielen und mit derIndustrie Möglichkeiten erörtern wollen, die Größe deseinen oder anderen Beschaffungsauftrags zu variieren,dann sollten wir ihr auch auf anderen Märkten helfen.

(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)

Dabei sind natürlich die strikten Kriterien, die wir dafürentwickelt haben, einzuhalten.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sind die geheim? – Gegenruf des Abg.Joachim Spatz [FDP]: Ach was! Die kommendoch von euch!)

Es gibt genügend Nachfrage nach ordentlicher deut-scher Präzisionstechnologie und Wertarbeit. Das Parla-ment und die Regierung können hier also helfen. Dassollte für uns alle eine wichtige Aufgabe sein, nicht zu-letzt angesichts von 80 000 Arbeitsplätzen in diesem Be-reich und des Rufs, den Deutschland auf diesem Feldhat, weil es auch hier über exzellente Spitzentechnolo-gien verfügt.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Spitzen-technologie zum Töten!)

Sie sehen: Es bleibt viel zu tun. Aber der Zug fährt indie richtige Richtung. Ich bedanke mich nochmals aus-drücklich für das gute Miteinander, auch innerhalb derBerichterstattergruppe. Mein Dank gilt aber auch demMinisterium.

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Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Einzelplan 14 na-türlich zustimmen.

Danke sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Welch Überraschung!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Christine Buchholz (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst

müssen wir feststellen, dass die Bundesregierung offen-sichtlich beschlossen hat, das Verteidigungsministeriumvon den Sparbemühungen des Bundes auszunehmen. Siehatten uns versprochen, dass auch beim Militär gespartwerden muss; das war eine zentrale Begründung für dieBundeswehrreform. Aber jetzt stellen wir fest: Der Etatdes Verteidigungsministeriums ist nicht verkleinert wor-den. Aber nicht nur das: Wenn wir die NATO-Kriteriendafür, was Verteidigungsausgaben sind, anlegen, dannmüssen noch weitere 3,7 Milliarden Euro aus anderenHaushaltstöpfen dazugezählt werden. Das sind 1 Mil-liarde Euro mehr als noch im laufenden Jahr. Auf dieseWeise versteckt, wächst das Verteidigungsbudget 2012im Vergleich zu 2011 um 1,2 Milliarden Euro auf 35,4 Mil-liarden Euro an. Seien Sie so ehrlich, das den Steuerzah-lern zu sagen!

(Beifall bei der LINKEN)

Aber auch diese Rechnung ist noch lange nicht voll-ständig. Ich möchte das einmal anhand der Kosten fürden Krieg in Afghanistan deutlich machen: Die reineneinsatzbedingten Kosten für ISAF im Verteidigungsetatbelaufen sich auf rund 800 Millionen Euro. In Wirklich-keit ist es aber mehr als das Vierfache.

Die erste Mogelpackung. Die Regierung rechnet so-gar innerhalb des Verteidigungsetats die Kosten für denEinsatz runter. Beispielsweise wird der Grundsold fürdie eingesetzten Soldaten nicht dem Einsatz zugeschrie-ben. Dabei könnte die Zahl der Soldaten drastisch redu-ziert werden, wenn die Regierung endlich damit aufhö-ren würde, Soldaten ins Ausland zu schicken.

(Beifall bei der LINKEN)

Dasselbe gilt auch für die Transportflugzeuge, Schützen-panzer, Tornados, AWACS und andere Sachen. Sie wol-len in Zukunft ja zwei dieser Einsätze durchführen kön-nen. Das können wir uns sparen.

(Beifall bei der LINKEN)Die zweite Mogelpackung. Die Kosten für den Ein-

satz werden in andere Ressorts ausgelagert, seien es dieKosten für die Nachversorgung der Verwundeten undHinterbliebenen, die Kosten für die Entschädigung derzivilen afghanischen Opfer – wenn sie denn überhauptbezahlt wird und nicht, wie im Fall des Kunduz-Massa-kers, nicht bezahlt wird – und auch die Kosten für den

Polizeieinsatz, der eng mit dem Militäreinsatz verwobenist.

Die dritte Mogelpackung. Die gesellschaftlichen Fol-gekosten, zum Beispiel durch die Schäden, die die betei-ligten Soldatinnen und Soldaten an Körper und Seele er-litten haben, werden im Haushalt überhaupt nicht berück-sichtigt.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschungkommt nach Einrechnung all dieser Kosten zu folgen-dem Ergebnis – ich zitiere –:

… kostet jedes weitere Jahr, in dem Deutschlandam Einsatz in Afghanistan teilnimmt, zusätzliche2,5 bis 3 Milliarden Euro.

Und das alles für einen Krieg, der den Menschen in Af-ghanistan Tod und Leid bringt, das alles zur Stabilisie-rung einer Regierung, die korrupt, unbeliebt und voll-ständig abhängig von der internationalen Schutztruppeist.

Schauen wir uns den Präsidenten Karzai an, mit demder Außenminister im Dezember gemeinsam eine Kon-ferenz in Bonn veranstalten wird. Citha Maaß von derStiftung Wissenschaft und Politik sagte kürzlich:

Die Drogenindustrie durchdringt Politik und Wirt-schaft in Afghanistan wie ein Krebsgeschwür.

Der Halbbruder des Präsidenten galt bis zu seiner Er-mordung im August als der Pate von Kandahar. Ein an-derer Bruder Karzais ist in die dubiosen Geschäfte derKabul Bank verstrickt, durch die er und seine Geschäfts-freunde sich auf Kosten der Geberländer um HunderteMillionen Dollar bereichert haben. Derweil ist laut derHilfsorganisation Oxfam jedes dritte Kind in Afghanis-tan unterernährt. Dieser Winter könnte sich zu einer Ka-tastrophe entwickeln.

Wie dramatisch die Lage der Bevölkerung ist, zeigtauch das Beispiel der Millionenstadt Kabul. Es gibt dortkein Abwassersystem, und laut der Kreditanstalt fürWiederaufbau wäre es dort nötig, Investitionen in Höhevon 1,5 Milliarden Dollar zu tätigen. Dafür ist aber keinGeld da. Es gäbe viel zu tun, aber die Bundesregierungbevorzugt es, beim Aufbau und bei der Entwicklung zukleckern. Geklotzt wird nur beim Militär, und das ma-chen wir nicht mit.

(Beifall bei der LINKEN)So ist es auch kein Wunder, dass laut einer im Okto-

ber veröffentlichten Umfrage der Konrad-Adenauer-Stif-tung 56 Prozent der afghanischen Bevölkerung dieNATO-Truppen als Besatzungsmacht empfinden. Auchin Deutschland hat die Mehrheit das falsche Spiel derBundesregierung mit Afghanistan durchschaut. Weil Tö-ten und Sterben für einen sinnlosen Krieg nicht attraktivsind, gibt die Bundesregierung dann auch noch 200 Mil-lionen Euro für ein Attraktivitätsprogramm der Bundes-wehr aus, um die Rekrutierungsziele der Bundeswehr er-reichen zu können.

Wir sagen: Beenden Sie die Auslandseinsätze derBundeswehr, allen voran die Beteiligung am Krieg inAfghanistan!

(Beifall bei der LINKEN)

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Christine Buchholz

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Nutzen Sie die freiwerdenden Mittel für friedliche undsoziale Maßnahmen, die den Menschen in Afghanistanund in Deutschland zugutekommen!

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe von den Linken natürlich keinen anderen Redebei-trag erwartet, aber ich möchte mich beim KollegenBrinkmann und auch beim Kollegen Willsch für ihreBeiträge recht herzlich bedanken, zeigen sie doch, dasswir wirklich Gemeinsamkeiten haben.

Kollege Brinkmann hat darauf aufmerksam gemacht:Die Bundeswehr ist unsere Parlamentsarmee. Die Be-richterstattergespräche – darin schließe ich die KolleginLötzsch als Berichterstatterin ausdrücklich mit ein; IhrBeitrag, Frau Buchholz, hat das leider nicht wiedergege-ben – waren davon getragen, dass wir uns für die Bun-deswehr und für die Angehörigen der Bundeswehr ver-antwortlich fühlen. Ich finde, die Angehörigen derBundeswehr müssen das Gefühl und die Sicherheit ha-ben, dass wir ihre Sorgen und Nöte kennen und dass wirgemeinsam versuchen, diese Probleme zu lösen, auchwenn das manchmal nicht von heute auf morgen geht.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wir haben vonIhnen auch nichts anderes erwartet! Immerdasselbe!)

Die Angehörigen der Bundeswehr haben Anspruchdarauf, angesichts eines solchen Haushalts zu wissen:Wie sieht zukünftig ihr Dienst aus? Davon waren auchunsere Beratungen geprägt. Es gab – das will ich aus-drücklich sagen; das finde ich sehr angenehm – sehrviele Übereinstimmungen. Zum Beispiel waren wir unsalle darüber einig – dabei schließe ich den KollegenLindner mit ein –, dass die Bundeswehrsoldaten im Aus-land das beste Material bekommen müssen, das vorhan-den ist, und dass wir uns darum bemühen. Dafür möchteich mich bei allen recht herzlich bedanken, bei Ihnen,Frau Buchholz, natürlich nicht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Thema Afghanistan, Herr Bundesminister, durch-zieht die Debatte am heutigen Tag. Deswegen lassen Siemich direkt einen Punkt ansprechen, der mir bei denHaushaltsberatungen aufgefallen ist und dem ich weiternachgehen werde. Da wir über Ihren Etat sprechen, willich ganz klar sagen, dass mir das große Sorgen macht.2010 hatten wir 100 Fälle, in denen hohe Geldbußen ge-gen Soldaten im Auslandseinsatz verhängt wurden. Im-merhin kam es hier zu Einnahmen von insgesamt

112 000 Euro. Das sind im Durchschnitt 1 000 Euro proSoldat als Geldstrafe. In diesem Jahr geht das genausoweiter. Ich wäre sehr dankbar, wenn man diesen Dingennachgeht. Nach meiner Auffassung scheint da irgend-etwas nicht in Ordnung zu sein. Nicht nur ich, sondernsicherlich auch die Berichterstatter hätten gerne eine um-fassende Aufklärung darüber, warum es dort so hoheGeldstrafen gibt.

Natürlich, wenn man hier im Deutschen Bundestagüber Auslandseinsätze beschließt, dann muss nach zehnJahren Afghanistan darüber nachgedacht werden: Wannkann der Abzug erfolgen? Ich bin sehr froh, auch als je-mand, der diesem Einsatz in Afghanistan immer sehrkritisch gegenübergestanden hat, dass nun Schritt fürSchritt – in der Debatte zum Haushaltsplan des Auswär-tigen Amts ist darauf schon hingewiesen worden – derRückzug eingeleitet wird. Ich möchte an dieser Stelleauch sagen: Wenn die Bundeswehr aus Afghanistan zu-rückgekehrt ist, sollten und dürfen wir Afghanistan auchnach 2014 nicht vergessen. Das wird auch weiterhin un-sere Aufgabe bleiben.

Wenn wir von Gemeinsamkeiten sprechen, hätte we-nigstens dies der Linken eine kleine Bemerkung wertsein sollen: Ich bin sehr froh, dass es uns mit diesemHaushalt endlich gelungen ist, dass die Radargeschädig-ten der Bundeswehr und, das sage ich in Richtung derLinken, auch die Radargeschädigten der NVA einenAusgleich bekommen.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sehr rich-tig!)

Ich möchte mich bei Staatssekretär Schmidt ausdrück-lich dafür bedanken – das war eine gute gemeinsame Ar-beit –, dass wir jetzt endlich zu einer Lösung gekommensind. Ich sage allerdings auch: Wenn man weiß, dassmanche Fälle 40 Jahre alt sind, dann schämt man sichein bisschen, auch hier für uns, für den Bundestag. Wirhätten schneller reagieren müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Mit diesem Verteidigungsetat sind etwa 500 Stellen-anhebungen im militärischen Bereich und etwa 300 Stel-lenanhebungen im zivilen Bereich verbunden. Dabeigeht es vor allem darum, die langen Wartezeiten für dieFeldwebellaufbahn endlich zu verkürzen. Solche Warte-zeiten darf es nicht mehr geben. Damit folgen wir auchdem Vorschlag des Ministeriums. Im Haushaltsentwurfwaren zusätzlich Verbesserungen bei 6 000 Planstellenvorgesehen. Das ist ein guter Vorschlag gewesen.

Zu den Grünen muss ich sagen: Die von euch gestell-ten Anträge kann ich nicht verstehen. Das, was ihr for-dert, hätten wir nie machen können. So soll die Zahl derSoldatinnen und Soldaten auf 160 000 gesenkt werden.Ich will die anderen Forderungen gar nicht mehr vorle-sen. Ich dachte, dass diese Zeiten bei den Grünen vorbeiseien. Aber mit euren vielen Kürzungsvorschlägen falltihr in eurer Entwicklung wieder ein paar Jahre zurück.Ihr solltet noch einmal schauen, ob das wirklich so not-wendig war.

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Dr. h. c. Jürgen Koppelin

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Wir haben eine Verbesserung der Versorgung der imAusland verletzten Soldaten beschlossen. Damit ist diesoziale und finanzielle Versorgung unserer Bundeswehr-angehörigen erheblich verbessert worden. Das trifft übri-gens auch auf traumatisierte Soldaten zu. Ihnen gilt nachwie vor unsere Fürsorge.

Die Bundeswehr wird verkleinert; darüber ist schongesprochen worden. Das haben wir hier im Bundestagbeschlossen. Es ist selbstverständlich, dass wir dannauch finanzielle Mittel bereitstellen müssen, um den Ab-bau sozialverträglich zu gestalten. Den Betroffenen,Kollege Brinkmann, ist es übrigens egal, ob diese Mittelaus dem Einzelplan 60 oder dem Einzelplan 14 kommen.

Durch die Verkleinerung der Bundeswehr – dasmusste jedem klar sein – müssen auch Standorte ge-schlossen werden. Für die betroffenen Orte ist das oftbitter. Das weiß ich. Die Entscheidungen sind schmerz-haft, aber notwendig. Es ist schließlich nicht das ersteMal, dass wir Standorte schließen.

Wenn jetzt der Ruf kommt, diesen Orten finanziell zuhelfen, dann finde ich diese Forderung durchaus berech-tigt. Ich darf allerdings die Sozialdemokraten und anderedaran erinnern, dass es in früheren Fällen – in meinemWahlkreis gab es drei große Standorte – null finanzielleHilfe gab. Meine Leute an den drei Standorten haben nieetwas gesehen. Damals haben Sozialdemokraten Stand-orte geschlossen.

Ich habe allerdings gelernt – das will ich Ihnen nichtvorenthalten, Herr Minister –: Eigentlich ist nur einerschuld daran, dass die Standorte geschlossen werden.Das sind nicht Sie. Wir haben einen Kollegen, der auchLandesvorsitzender der SPD in Bayern ist, nämlich HerrPronold. Ich dachte, er wäre heute anwesend, um sich zuengagieren. Er ist der Auffassung, dass die Standort-schließung durch Herrn Seehofer erfolgt ist.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU –Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Deshalb ist er schuld!)

Ich habe die Presseerklärung mitgebracht. Darin heißtes, Herr Seehofer habe damals dem Koalitionsvertragzugestimmt, in dem die Bundeswehrreform beschlossenwurde. Hätte er nicht zugestimmt, dann würden auchStandorte in Bayern nicht geschlossen werden. Eskommt aber noch stärker: Damit habe Herr Seehofer dieWehrpflichtarmee geopfert. Nun kommt noch etwas.Das hätte ich nie von den Sozialdemokraten gedacht.Kollege Pronold schreibt weiter:

Es war ein kapitaler Fehler von Seehofer und derCSU, das Verteidigungsministerium nach demRücktritt von Guttenberg aufzugeben.

Ich hätte nie gedacht, dass sich Sozialdemokraten dafüreinsetzen, dass das Verteidigungsministerium auch wei-terhin christlich-sozial geführt wird. Aber man lerntdazu und hört das gern.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU –Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Indiesen Fragen halten die Bayern zusammen!)

Es ist schon gesagt worden: Alle Rüstungs- und Be-schaffungsmaßnahmen werden überprüft. Bundesminis-ter de Maizière hat zu Recht am 14. Oktober die Bericht-erstatter informiert und gesagt, wohin die Reise gehensoll. Es wird erhebliche Reduzierungen geben. MEADSwar immer ein Steckenpferd von uns. Insoweit ist derAntrag der Grünen auch in diesem Punkt überflüssig. Ihrbraucht nur nachzulesen, was der Rechnungshof ge-schrieben und der Minister uns mitgeteilt hat. Dann sehtihr genau, wohin die Reise gehen soll.

Das Problem sind allerdings – das ist keine leichteAufgabe für den Verteidigungsminister –, die Gesprächemit der Industrie. Damit komme ich zum Schluss, HerrPräsident. Denn es geht überwiegend um Beschlüsse undlange Verträge, die ihr seinerzeit unter Rot-Grün einge-tütet habt und die wir jetzt versuchen müssen zu korri-gieren. Ich bin aber sehr optimistisch, dass wir einensehr starken Verteidigungsminister haben, der mit der In-dustrie sprechen wird. Denn wir brauchen nicht die Sa-chen, die ihr irgendwann bestellt habt, sondern wir brau-chen modernes Gerät.

Herzlichen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Jetzt hat der Kollege Dr. Tobias Lindner von Bünd-

nis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schonmehrfach erwähnt worden: Wir beraten heute den erstenVerteidigungshaushalt im Lichte, vor allem aber inKenntnis der Details der Bundeswehrreform. Es gibtmehrere Gründe dafür, unsere Streitkräfte zu reformie-ren. Ein Grund sind die haushaltspolitischen Rahmenbe-dingungen.

Ihr Vorgänger, Herr Minister – das ist der mit derneuen Frisur –, hat bereits im Mai 2010 festgestellt, dassder – ich zitiere – „mittelfristig höchste strategische Pa-rameter …, unter dem die Zukunft der Bundeswehr ge-staltet werden muss“, die Schuldenbremse sei. Das Spar-ziel, mit dem Sie die aus unserer Sicht durchausvernünftige Abschaffung der Wehrpflicht begründen,wurde im Jahr 2010 mit 8,3 Milliarden Euro angegeben.

Auch Sie, Herr de Maizière, haben dieses Ziel mitge-tragen, wenn auch in anderer Funktion. Aber auch Siesaßen damals mit am Kabinettstisch. Ein Blick in denEntwurf zum Einzelplan 14 zeigt, dass von diesem Spar-ziel nicht einmal die Hälfte übriggeblieben ist.

Begonnen hat das Ende des Sparens mit der Stre-ckung des Sparziels. Anfang dieses Jahres wurde be-schlossen, dass wir erst im Jahr 2015 den vollen Sparbei-trag erbringen sollen. Als Nächstes – auch das wurdeerwähnt – wurden mehr als 1 Milliarde Euro in den Ein-zelplan 60 eingestellt, sodass es möglich ist, Personal-ausgaben für Zivilbedienstete dorthin auszulagern. Mitanderen Worten: Das ist nichts anderes als 1 MilliardeEuro zusätzlich im Verteidigungsbereich. Mit den

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Dr. Tobias Lindner

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Grundsätzen von Haushaltsklarheit und Haushaltswahr-heit hat dieser Verschiebebahnhof nichts gemein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dass Sie Ihr eigenes Sparziel offenbar selbst nichtsehr ernst nehmen und für glaubwürdig halten, wird erstrecht deutlich, wenn man versucht, sich auf Ihre mittel-fristige Finanzplanung, also auf den 44. und 45. Finanz-plan der Bundeswehr, einen Reim zu machen. Im 44. Fi-nanzplan finden sich noch die erwähnten Einsparungenvon 8,3 Milliarden Euro. Schaut man in den 45. Finanz-plan, so findet man Einsparungen von nur noch 2,3 Mil-liarden Euro. Allein 2014 wollen Sie 3 Milliarden Euromehr ausgeben. Mit Haushaltskonsolidierung hat dasnichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man nachfragt – so wie ich dies getan habe –,warum das Ganze so ist, dann bekommt man von dieserRegierung allen Ernstes die Antwort, dass das geringereSparziel alleine den Mietzahlungen, die die Bundeswehrvon diesem Jahr an zu leisten hat, geschuldet ist. Das istder Punkt, an dem spätestens Schönreden beginnt. Eswar letztes Jahr bekannt, dass die Bundeswehr ihre Lie-genschaften übertragen muss, Mietzahlungen zu leistenhat und eine Kompensation erhält. Es war bekannt, dassdiese Zahlungen anfallen werden, und es war im letztenJahr noch möglich, Einsparungen auszuweisen. In die-sem Jahr ist plötzlich nichts mehr möglich. Das ist inetwa so, als wenn man Anfang Dezember plötzlichmerkt, dass am 24. Weihnachten ist und das Geld nichtreicht. Ähnlich überraschend kommen nämlich dieseMietzahlungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nein, Herr Minister, mit Ihrer Sparankündigung sind Siebei der Reform als Tiger gesprungen und als Bettvorle-ger gelandet.

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das haben wir irgendwo schon einmal gehört!)

Es gibt aber neben dem Sparbeitrag auch andere Not-wendigkeiten, warum wir eine Reform unserer Streit-kräfte brauchen. Wir müssen die Bundeswehr an die si-cherheitspolitischen Realitäten anpassen. Es ist richtig,Herr de Maizière: Sie krempeln den Laden mit IhrerBundeswehrreform kräftig um. Aber dennoch greifenSie viel zu kurz. Sie verharren in alten Denkmustern undhaben die Chance vertan, unsere Streitkräfte auf ihrewahrscheinlichsten Kernaufgaben zu konzentrieren. MitIhrem Anspruch „Breite vor Tiefe“ zwingen Sie dieBundeswehr, an überflüssigen und kostspieligen Fähig-keiten, wie beispielsweise der nuklearen Teilhabe, fest-zuhalten. Das muss ein Ende haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der Konsequenz ist die Bundeswehr mit 185 000Soldatinnen und Soldaten viel zu groß und zu teuer. WirGrüne fordern eine fokussierte Bundeswehr mit 160 000Soldatinnen und Soldaten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Warum?)

– Warum? Das sind Forderungen des Generalinspek-teurs, dessen eigene Berechnungen, die wir übernehmenund anpassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Märchen,die Sie da erzählen!)

Ich komme zum Schluss. Ihr Vorgänger Karl-Theodorzu Guttenberg veröffentlicht in diesen Tagen ein neuesBuch. Sein Titel, also nicht der Titel von Herrn zu Gut-tenberg, sondern der des Buches, passt wie ein Fazit zuIhrer Reform. Er lautet: Vorerst gescheitert.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Thomas de

Maizière.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasJahr 2011, das jetzt schon fast zu Ende geht, war in derTat ein Jahr vieler sehr, sehr wichtiger Entscheidungenfür die Bundeswehr. Es begann mit der Aussetzung derWehrpflicht. Das Zweite war die Vorlage der Verteidi-gungspolitischen Richtlinien im Mai. Es folgte im Zu-sammenhang damit die Festlegung des Gesamtumfangsder Streitkräfte – es war schon die Rede davon – bis zu185 000: 170 000 plus 5 000 plus x. Der nächste Schrittwar die Beschlussfassung über den Haushalt auf Regie-rungsebene mit dem 45. Finanzplan, der hier sehr unter-schiedlich bewertet wird. Ich finde das Ergebnis gut.Darauf komme ich gleich noch einmal zurück.

Es folgte dann die Entscheidung über die Grobpla-nungen im Einzelnen: Wie groß soll das Heer sein, wiegroß die Luftwaffe oder wie groß die Marine? In der Tat,Herr Lindner, haben wir uns für den Grundsatz „Breitevor Tiefe“ entschieden. Wir sind zum Beispiel dem Vor-schlag des von mir im Übrigen wirklich sehr geschätztenVorsitzenden der sogenannten Weise-Kommission,Herrn Weise, nicht gefolgt und haben nicht gesagt: Wisstihr was? Wir können im Rahmen von „Pooling &Sharing“ auf die Marine verzichten; denn Großbritan-nien hat eine Marine.

(Zuruf von der SPD: Hat er nicht vorge-schlagen!)

– Na ja, so ähnlich schon. Das würde nicht nur bei HerrnBartels, Herrn Koppelin, Herrn Gädechens usw. auf Pro-bleme stoßen, sondern das wäre auch falsch. Der Grundsatz„Breite vor Tiefe“ ist, wenn die Breite eine vernünftigeForm hat, richtig. In dieser Auffassung unterscheidenwir uns.

Es folgten die Entscheidung zur Verkleinerung undUmstrukturierung des Ministeriums, das Reservisten-konzept, die Liste mit Angaben zu den Großgeräten, dieAufsetzung eines neuen Beschaffungs- und Rüstungs-

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prozesses – dazu sage ich gleich noch ein paar Worte –und schließlich die Stationierungsentscheidung am26. Oktober. Diese war – Herr Willsch und einige anderehaben es bereits gesagt – eine Folge der vorhergehendenEntscheidung. Die Stationierungsentscheidung ist nichtdie Neuausrichtung, sondern eine logische Folge von all-dem. Ich verstehe die Sorgen und Nöte der Betroffenenvor Ort, ob es die Angehörigen, der Bäcker um die Eckeoder der Bürgermeister sind. Darüber wird zu sprechensein. Die Entscheidung selbst war notwendig. Ich be-danke mich für die – jedenfalls im Großen und Ganzen –damit verbundene Akzeptanz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ausgangspunkt unserer Überlegung war das Ziel,über Streitkräfte zu verfügen, die dem Stellenwert undder Verantwortung unseres Landes entsprechen und beidenen Auftrag und Mittel zusammenpassen. Die Neu-ausrichtung ist – wir haben darüber diskutiert – sicher-heitspolitisch begründet. Sie ist mit Blick auf unserekleiner werdenden Jahrgänge demografisch abgesichert,und sie ist solide finanziert. Wir brauchen die Neuaus-richtung, um die Herausforderungen und Gefährdungenunserer Sicherheit zu meistern.

Die Finanzausstattung mit 31,9 Milliarden Euro istnicht üppig. Aber sie ist angemessen, und sie ist – soweitdas angesichts der Zeit, in der wir leben, überhaupt mög-lich ist – mittelfristig gesichert. Folgendes ist uns gelun-gen – ich will nur ein paar Beispiele nennen; einige sindschon genannt worden –:

Wir werden ein zusätzliches Reformbegleit- undAttraktivitätsprogramm in Höhe von 200 Millionen Euroaufstellen. Es wird in den nächsten Jahren etwas auf-wachsen.

Wir haben die Ausgaben für die internationalen Ein-sätze um 250 Millionen Euro erhöht. Frau Buchholz, daswollten wir tun, weil wir finden, dass der Schutz der Sol-daten, die in unserem Auftrag tätig sind, oberste Prioritäthat.

(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Ich glaube, es geht eher um Ihre Interessen!)

Wir haben die Ausgaben für die Materialerhaltung ge-genüber der bisherigen Planung um 212 Millionen Euroverstärkt; denn da gab es immer einen Engpass. Das warauch immer eine Art Sparbüchse: Wenn es nicht gereichthat, dann wurde beim Benzin gespart. Das wollen wirändern.

Darüber hinaus nehmen wir – Herr Koppelin hat dar-auf hingewiesen; dafür bin ich besonders dankbar –6 000 Planstellenverbesserungen für die Mannschafts-dienstgrade und rund 500 Stellenhebungen für Soldatenund zivile Mitarbeiter im unteren Bereich vor. Gesternhat Herr Schneider im Zusammenhang mit der ersten Le-sung des Etats des Finanzministeriums Stellenhebungenkritisiert.

(Iris Gleicke [SPD]: Das stimmt doch nicht! Erhat das Vollsaugen kritisiert! Bitte einmal dasProtokoll nachlesen!)

Einige haben ihn mit Zwischenrufen darauf hingewie-sen, dass das zumindest für diesen Bereich nicht geltenkann. Wenn man für die Kleinverdiener etwas macht,dann verdient das Lob und nicht Tadel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich werde den Dank an meine Mitarbeiterinnen undMitarbeiter im Ministerium weitergeben. Gerne erwidereich den Dank, und zwar nicht nur an die Berichterstatteraller Fraktionen, sondern auch an deren Mitarbeiter undan den Haushaltsausschuss im Ganzen.

Ein solcher Stil und ein solches Klima in diesen De-batten, nämlich dass nicht mit Leidenschaft um die gro-ßen Themen der Sicherheits- und Verteidigungspolitikgerungen wird, sondern dass es hier eine große Einigkeitgibt, ist, zumindest wenn man sich einmal die Ge-schichte der westdeutschen Bundesrepublik anschaut,nicht selbstverständlich. Die PDS-Linken schließen sichda aus. Um es einmal so zu sagen: Ich wäre aber auchbesorgt, wenn es anders wäre.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU undder FDP – Beifall bei Abgeordneten der LIN-KEN)

Bei allen anderen freue ich mich darüber. Vielleichtdenken die Grünen einmal darüber nach, ob Sie bei allerKritik im Einzelnen, die man natürlich haben kann unddie auch wir haben – die SPD kritisiert die Reduzierungauf nur noch 55 000 zivile Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter; die Grünen plädieren sogar für eine noch kleinereArmee mit 160 000 Soldaten; sie haben allerdings niegesagt, ob etwa auch die freiwillig Wehrdienstleistendenund andere dazugerechnet werden sollen –, nicht dochwieder zu einem Konsens zurückkommen wollen. Wennich die momentanen Differenzen ausblende, muss ichfeststellen: Dass Union, FDP und SPD in Bundeswehr-fragen einen Konsens hatten, hat dieser Republik in denletzten 60 Jahren ziemlich gutgetan. Ich möchte, dassdas so bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein Wort zur Rüstungsindustrie. Herr Koppelin hatbereits darauf hingewiesen, dass wir schwierige Gesprä-che geführt haben. Man muss wissen, dass die Entwick-lung in anderen Staaten ähnlich verläuft. Aber ich musswiederholen – das sagen alle meine Kollegen; der fran-zösische Verteidigungsminister kommt nachher in denVerteidigungsausschuss –: Unsere Beschaffungsprozessesind absolut unzureichend. Das liegt an der Besteller-seite, aber auch an der Unternehmensseite. Die Qualitätstimmt oft nicht. Preisabsprachen werden nicht eingehal-ten, und es wird nicht pünktlich geliefert. So können wirnicht weitermachen. Wir werden sehr harte Gesprächeführen, mit dem Ziel, das zu ändern, aber nicht um ein-zusparen, sondern um überhaupt wieder Spielraum fürneue Beschaffungen zu bekommen.

Ein Wort zum Reformbegleitprogramm. Wir redenviel über Strukturen. Aber es geht hier in erster Linie umMenschen, um die Soldatinnen und Soldaten sowie umdie zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Für sie allewollen wir etwas tun, und zwar sowohl für diejenigen,

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière

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die bleiben – sie sollen eine Erhöhung der Vergütung fürbesondere zeitliche Belastungen erhalten –, als auch fürdiejenigen, die die Bundeswehr verlassen müssen. Daskann man angesichts des Personalabbaus bei den zivilenBeschäftigten in den vergangenen 20, 30 Jahren viel-leicht großzügig nennen. Aber ich halte es für angemes-sen. Derjenige, von dem viel verlangt wird, kann auchein besonderes Maß an Fürsorge erwarten. Das wollenwir hiermit bieten. Ich hoffe, dass wir über den entspre-chenden Gesetzentwurf, sobald er vorliegt, zügig beratenwerden.

So viel zu den Entscheidungen in diesem Jahr. Daswar, ehrlich gesagt, noch der leichtere Teil der Übung;denn jetzt geht es um die Umsetzung. Sie wird schwierigund ist nicht in einem Jahr zu machen. Dafür brauchenwir Jahre. Wir müssen das alles kontinuierlich umsetzen,Mentalitäten verändern, den Spaß an Verantwortung för-dern und so arbeiten, dass Führen mit Auftrag auf allenEbenen Realität und nicht nur Anspruch ist; das dauert.Die Mühen der Ebenen sind oft größer als die Mühendes Aufstiegs.

Wir müssen das alles bei laufenden Einsätzen tun.Wir werden im Dezember in erster Lesung über denISAF-Einsatz in Afghanistan beraten; Herr Koppelinund andere haben davon in der außenpolitischen Debatteschon gesprochen. Ich würde mich freuen, wenn auchhier große Einigkeit über Ziel und Umsetzung bestünde.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ohne uns!)

– Darüber freue ich mich.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Danke sehr, wir auch!)

Wir werden später die Anträge auf Fortsetzung derBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an Ata-lanta und an Active Endeavour diskutieren. Der franzö-sische Verteidigungsminister kommt nachher in den Ver-teidigungsausschuss. Wie gesagt, wir müssen alles beilaufenden Einsätzen machen. Es handelt sich quasi umeine Operation am offenen Herzen. Wir wollen bündnis-fähig bleiben und unseren Verpflichtungen nachkommenund gleichzeitig Umstrukturierungen vornehmen. Dasverlangt viel Kraft, viel Aufmerksamkeit, viel Fürsorgeund viel Unterstützung. Ich spüre diese Unterstützungfür die Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter hier und außerhalb desHauses. Dafür bedanke ich mich. Ich bitte darum, dabei-zubleiben, auch wenn es bei der Umsetzung das eineoder andere Problem gibt. Ich freue mich über die Zu-stimmung zum Einzelplan 14, die wir hoffentlich gleicherleben werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die SPD spricht nun der Kollege Rainer Arnold.

Rainer Arnold (SPD):Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich mit dem Positiven beginnen: Es ist in

der Tat so, Herr Minister, dass seit dem Ministerwechselim Frühjahr dieses Jahres der Grundkonsens in der Si-cherheits- und Verteidigungspolitik zumindest zwischender Mehrheit der Fraktionen hier im Hause wieder deut-licher ist und einfacher herzustellen ist. Wir haben das,glaube ich, in den letzten Wochen bewiesen, als es da-rum ging, die Einsatzversorgung für die Soldaten, dieEntschädigungsregelungen für die Radargeschädigtenund – ich hoffe, dass das gelingt – die Kommunikationder Soldaten im Auslandseinsatz mit der Heimat zu ver-bessern. Ich bin sehr dankbar, dass diese Verantwortungbei einer Reihe von wichtigen Entscheidungen sichtbarwurde, die die Haushälter getroffen haben.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte unserem Haushälter Bernhard Brinkmannein besonderes Dankeschön aussprechen, der nicht nureinen Blick für Zahlen, sondern auch einen Blick für das,was die Soldaten brauchen, hat. Herzlichen Dank, Kol-lege Brinkmann!

Herr Minister, manche Journalisten schreiben, nach-dem Sie am heutigen Tag 266 Tage im Amt sind: Ja, derMinister administriert sicherlich konsequenter als seinVorgänger, der eher Überschriften produziert hat. – Dasist gut; ich will das gar nicht bekritteln. Aber ich glaube,es ist zunehmend berechtigt, zu fragen, ob jenseits derAdministration auch die notwendigen politischen Im-pulse von Ihnen gesetzt werden. Es ist an der Zeit, dasssie gesetzt werden. Ich nenne nur zwei Beispiele.

Wir kommen nicht voran bei der Debatte in unsererGesellschaft, auch nicht parlamentarisch, über die Frage:Welche Rolle und welche Verantwortung hat das größteWirtschaftsland nicht nur in der Finanz-, sondern auch inder sicherheitspolitischen Welt?

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Verteidigungs-politische Richtlinien mal nachlesen!)

Hier gibt es noch viel zu klären. Hätten wir das ge-schafft, wäre es einfacher, über Einsätze zu reden und zuentscheiden. Ich glaube, Sie sind schon in einer besonde-ren Verantwortung, solche Debatten voranzubringen.Die Sozialdemokraten hätten Sie bei dieser Diskussionals Partner.

Dasselbe gilt für die Frage: Welche Chancen bietetdie Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitikauf europäischer Ebene in einer Situation, in der alleLänder sparen müssen? Wir haben wiederholt darübergesprochen. Sie sagen, Sie machten lieber konkretekleine Schritte, als großen Reden zu halten. Ich will auchgar nicht sagen, dass diese kleinen Schritte falsch sind.Das ist die eine Seite. Aber nachdem Frankreich undGroßbritannien, zwei Länder, die in ihrer Vorgehens-weise strategisch übereinstimmen, eine aus ihrer Sichtgute Vereinbarung getroffen haben und in Europa voran-gehen, brauchen wir natürlich eine Antwort Deutsch-lands. Es ist schön, dass der französische Verteidigungs-minister heute hier ist; das reicht aber nicht aus. Wirbrauchen auch auf europäischer Ebene jenseits der klei-nen Schritte eine strategische Debatte.

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière

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Rainer Arnold

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Eines ist ganz besonders wichtig: Bei den militäri-schen Fähigkeiten der Europäer, auch in der Vernetzung,ist man weiter und fortschrittlicher als bei den politi-schen Prozessen in Europa. Deshalb wäre es Aufgabedes Außenministers, der Bundeskanzlerin und des Ver-teidigungsministers, Impulse für diese politischen Pro-zesse zu geben.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich bei dieser Haushaltsberatung einpaar Sätze zu den Finanzen sagen. Herr Minister, die So-zialdemokraten hatten recht: Ein Einsparvolumen von8,3 Milliarden Euro ist nicht zu erbringen. Das ist deut-lich geworden. Es wäre schön und ein Zeichen vonGröße, wenn auch Sie sagen könnten: Ja, auch ich habemich in Neuhardenberg blenden lassen; ich habe ge-glaubt, dass man 8,3 Milliarden Euro einsparen kann.– Sie sagen aber in Wirklichkeit: Wir können 8,3 Milli-arden Euro einsparen; aber ich brauche mehr Geld. –Das passt nicht zusammen. Das steigert auch nicht dasVertrauen in die finanziellen Vorgaben für die Streit-kräfte in den nächsten Jahren.

Sie praktizieren „linke Tasche – rechte Tasche“, in-dem Sie Kosten, die eigentlich im Verteidigungsressortanfallen, zum Beispiel für die Berechnung der Gehälter,in andere Ministerien verlagern. Sie sind mehr als einVerteidigungsminister: Bundesminister der Verteidi-gung. Für den Gesamthaushalt ist es kein Gewinn, wennSie so vorgehen. Was Sie da machen, ist vielleicht tak-tisch klug; es ist aber, fürchte ich, ein Fehler. Es ist des-halb ein Fehler, weil der größte Personalkörper sein ei-genes Personal nicht mehr bei der Hand hat und damitKompetenzen sowie das Verständnis für den Soldatenbe-ruf geringer werden. Das ist ein strategischer Fehler.

Ich sehe schon vor mir, wie irgendwann einmal einFinanzminister sagt: Moment, ihr Verteidigungspoliti-ker, wir erbringen für euch mit der Gehaltsabrechnungund allem, was daran hängt, Leistungen, und die stellenwir dem Verteidigungsressort in Zukunft selbstverständ-lich sichtbar, der Haushaltsklarheit wegen, in Rechnung. –Herr Minister, wenn Sie in solchen Fragen schon nichtauf die Opposition hören wollen, sehen Sie wenigstensvon dem Schritt ab, die Verantwortung für das Personalauszulagern. Lassen Sie das. Hören Sie auf die Personal-vertretung. Nehmen Sie auch die gesetzlichen Bedenkenin diesem Bereich ernst.

(Beifall bei der SPD)

Nun haben Sie viel über die Reform geredet. Ich willausdrücklich sagen: Vieles von dem, was hier angesto-ßen wurde, findet unsere Unterstützung. Ich kann hiernicht mit Klein-Klein jeden einzelnen Punkt herausgrei-fen. Aber eines, Herr Minister, ist nicht richtig, nämlichwenn Sie sagen: Die Reform ist sicherheitspolitisch be-gründet, gut finanziert und demografiefest. – Die Re-form ist sicherheitspolitisch nicht begründet. Die Welthat sich, was die Sicherheitspolitik angeht, in den letztenzwei, drei Jahren nicht wirklich verändert. Das Geld istknapper. Das ist gar kein Vorwurf; es wäre auch knapp,wenn die Sozialdemokraten regieren würden. Aber wirsollten es ehrlicherweise auch sagen.

Die Reform ist auch nicht solide nachhaltig finanziert.Wir werden am Ende weniger Soldaten, weniger Ausstat-tung und weniger Fähigkeiten haben, und die Schere zwi-schen den Ansprüchen, die wir Politiker an die Streit-kräfte und ihre Fähigkeiten haben, und den finanziellenMöglichkeiten der Bundeswehr wird nicht geschlossen.Das Problem wird auf niedrigerem Niveau in die Zukunfttransferiert. Darüber sind wir sehr unglücklich.

Wir sind auch nicht froh über Ihre These „Breite vorTiefe“, die Sie hier geäußert haben. So kann man in vie-len Bereichen vorgehen, aber nicht in allen. Manchmalist diese These ganz bequem, weil man keine Prioritätensetzen muss. In Wirklichkeit führt „Breite vor Tiefe“aber dazu, dass die Durchhaltefähigkeit der Streitkräftein vielen Bereichen beschädigt wird und dass eher wie-der einige hohle Strukturen entstehen werden. Wir hättenuns sehr gewünscht, dass man mit Blick auf mangelndeFähigkeiten in den Vereinten Nationen und in der Euro-päischen Union wenigstens die Fähigkeiten, die wirklichknapp sind und mit denen Deutschland Gewicht, Ein-fluss und Interessen einbringen könnte, nicht eindampft.Das gilt für Hubschrauber, für Feldjäger, auch für mari-time Fähigkeiten und für manches andere mehr. Ichglaube, hier macht man einen großen strategischen Feh-ler.

Lassen Sie mich zum Schluss ganz kurz einige bedeut-same Punkte ansprechen. Sie sagen, Sie wollen die Men-schen mitnehmen. Das ist wichtig. Auch wir wollen allestun, damit die Soldaten Vertrauen in die Bundeswehr undin deren konzeptionelle Gestaltung finden. Aber wir müs-sen aufpassen. Eine Armee im Einsatz mit hohen Belas-tungen, die von Soldaten im Alter von 23 Jahren getragenwerden, verdient unsere Anerkennung und unseren Re-spekt. Deshalb ist es gut, wenn die Opposition zusammenmit der Regierung das Mandat für Afghanistan erteilt.

Wir können aber nicht erwarten, dass das zwangsläu-fig spurlos an den Menschen und damit an den Streit-kräften vorübergeht. Deshalb muss man bei der Perso-nalgewinnung und der Präsentation der Bundeswehrnach außen sehr sorgfältig vorgehen. Ich will gar nichtüber die Vorfälle in der letzten Woche reden. Wir müssendarauf achten, dass nach außen ein korrektes Bild desSoldatenberufes präsentiert wird, das der Vielfalt undder Kompliziertheit dieses Berufes – der Soldat mussnicht nur kämpfen können, sondern in Zukunft auch vie-les andere beherrschen – gerecht wird. Denn nur wennwir Menschen finden, die verstehen, was die Bundes-wehr und ihre Aufträge in der Demokratie bedeuten,werden wir auch in Zukunft noch die Bundeswehr ha-ben, die wir alle miteinander wollen. Unsere dringendeBitte ist, das noch einmal sorgfältig zu reflektieren. Wirsollten darüber auch im Verteidigungsausschuss einegründliche Debatte führen.

Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Joachim Spatz von der

FDP-Fraktion.(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten

der CDU/CSU)

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Joachim Spatz (FDP):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Die Bundeswehrreform, die wir zurzeitdurchführen, hat eigentlich mehr Aufmerksamkeit ver-dient, als sie in diesen bewegten Zeiten erhält, weil sienämlich auf neuen verteidigungspolitischen Herausfor-derungen basiert. Es ist, Kollege Arnold, überhaupt keinWiderspruch, wenn Sie sagen, dass die sicherheitspoliti-schen Herausforderungen heute dieselben sind wie voreinigen Jahren. Dann hätten Sie die Bundeswehrreformja auch damals schon durchführen können, Herr KollegeArnold.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Rainer Arnold [SPD]: Wirhaben auch eine gemacht!)

Sie haben Truppenreduzierungen vorgenommen, wirmachen eine Strukturreform. Deswegen unterscheidetsich diese Reform von Reformen in früheren Jahren. AmEnde werden nicht nur Reduzierungen herauskommen,sondern auch klare Schwerpunktverlagerungen. Es gibteine klare Schwerpunktbildung beim Heer, weil dort,wie wir alle wissen, die Einsatzformen der Zukunft lie-gen.

Meine Damen und Herren, obwohl auch diesmal wie-der Standorte betroffen waren, ist die Diskussion nachmeiner Wahrnehmung sehr sachlich, kriterienorientiertund dadurch ohne große Widerstände verlaufen. Deshalbganz herzlichen Dank an das Ministerium und alle Frak-tionen, die diesen Prozess unterstützt haben! Es ist eine– jedenfalls im Moment – gelungene Reform. Wir hof-fen, dass die Umsetzung genauso konsequent stattfindet.

Wir haben, was die Einsatzversorgung angeht, in die-sem Jahr mit sehr breitem Konsens etwas für die Solda-tinnen und Soldaten, aber auch für die zivilen Bedienste-ten der Bundeswehr im Ausland getan. Es ist zugesagt,die letzten noch offenen Fragen im Rahmen des Reform-begleitgesetzes zu klären. Das werden wir aufmerksamverfolgen und gegebenenfalls konsequent einfordern.

Ich denke, eines ist klar: Das Parlament steht mit brei-tem Konsens hinter den Soldatinnen und Soldaten sowiehinter den Zivilen, die wir ins Ausland entsenden. Diesgilt nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch, wenn eskonkret um Verwundungen an Leib und Seele geht oderdarum, Folgen für Familien einzudämmen. Dazu demHohen Hause ganz herzlichen Dank!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Einsätze im Ausland, geprägt durch den Afgha-nistan-Einsatz, sind immer besonderer Aufmerksamkeitwert. Es ist mir in diesem Zusammenhang wichtig, nocheinmal zu betonen, dass wir in Afghanistan den Zenitunseres militärischen Einsatzes überschritten haben. Esmuss klar sein – das wird auch durch die Mandate, diedie entsprechenden Reduzierungen vorsehen, deutlich –,dass die Übergabe in Verantwortung konsequent vorge-nommen werden muss und dass sich unsere Partner inAfghanistan darauf einstellen werden.

In diesem Zusammenhang noch ein Wort zum ThemaIndustrie; das ist vorhin bereits angesprochen worden.

Ich gebe eines sehr deutlich zu bedenken: Die Zusageder Amerikaner, die Hubschrauber in unserem RC Northpräsent zu halten, gilt nur bis zum September 2012. Esist wichtig, dass wir den Partnern auf industrieller Seiteklarmachen: Wenn sie diese Dinge mit uns auch in Zu-kunft auf Augenhöhe diskutieren wollen, ist es notwen-dig, dass wir auch nach dem September 2012 in unseremRC North entsprechend handlungsfähig bleiben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das muss eine klare Botschaft an diese Adresse sein.

Zum Schluss noch ein Wort zur internationalen Aus-richtung. Herr Kollege Arnold, Sie haben mit Recht dieeuropäische Perspektive angesprochen. Nur ist es Ihnenwahrscheinlich entgangen, dass die Außenminister desWeimarer Dreiecks, also Frankreichs, Polens undDeutschlands, unter Federführung unseres Außenminis-ters einen Brief an Frau Ashton geschrieben haben, umdie europäische Zusammenarbeit einzufordern, und dassItalien und Spanien diesem Schreiben mittlerweile beige-treten sind. Auch wenn das Ganze in diesem Fall nichtvom Verteidigungsminister, sondern vom Außenministerausgegangen ist, halte ich das für genau die Zielrichtung,die wir verfolgen müssen. Ihnen ist das, wie gesagt, leiderentgangen. Trotzdem ist es die Realität. Wir müssen andieser Stelle konsequent fortfahren.

Eines ist aber klar: Wir haben es damit zu tun, dassaus völlig verschiedenen Denkschulen und Erlebnistra-ditionen stammende Armeen und politische Führungenunter einen Hut gebracht werden müssen. Das wird ei-nige Zeit dauern. Die Notwendigkeit für ein solches Vor-gehen ist allerdings gewachsen. Wer die Äußerungen desUS-Präsidenten in Canberra ernst nimmt, in denen es umdie Schwerpunktverlagerung der amerikanischen Auf-merksamkeit in den pazifischen Raum geht, und das inden Zusammenhang stellt mit den Äußerungen des frü-heren Verteidigungsministers Gates, wird erkennen, dassdas den Europäern mehr Eigenverantwortung in ihremengeren Umfeld abverlangt.

Aufgrund der Haushaltslage wird das nur mit Koope-rationen gehen können. Das heißt, wir sind an dieserStelle zum Erfolg verurteilt, weil es die allumfassendeHilfestellung aus Amerika wahrscheinlich auch aus fi-nanziellen Gründen nicht mehr geben wird. Expertenschätzen, dass die Amerikaner 54 Milliarden Dollar inihrem Verteidigungshaushalt einsparen werden müssen.Dieses Geld wird fehlen, besonders in den Bereichen,auf denen früher die Schwerpunkte der Amerikaner la-gen, und die heute für sie nicht mehr ganz so wichtigsind. Ich sage es noch einmal: Wir sind dazu verurteilt,an dieser Stelle Erfolg zu haben.

Es ist aber besser, die Regierung hier nicht mit demSchwarzen Peter zu versehen, sondern bei unseren euro-päischen Partnern und in unseren Parteien dafür zu wer-ben, dass es in diesem Bereich eine stärkere Kooperationgibt.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Paul

Schäfer.

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach Ab-

schluss der Haushaltsberatungen bleibt nur eine Feststel-lung: Die Nöte der öffentlichen Haushalte werden immergrößer, die Sparvorgaben für das Bundesministerium derVerteidigung immer kleiner. Das ist schon bemerkens-wert. Denn am Anfang der Bundeswehrreform, mit derwir es zu tun haben, stand keine Festlegung im Koaliti-onsvertrag, kein großer Wurf, sondern ein großes Loch:das durch Bankenrettungen und Finanzmarktkrise ent-standene Riesenloch im Bundeshaushalt, weswegen einKonsolidierungsbeitrag aus dem Rüstungshaushalt ge-leistet werden sollte; immerhin 10 Prozent der Steuergel-der fließen dorthin. Davon ist nun wirklich nicht mehrviel, wenn überhaupt noch etwas, übrig geblieben; dasist schon gesagt worden. Wir hören jetzt wieder die altenTöne – „Bei der Sicherheit darf nicht gespart werden“ –,als ob wir uns wieder in der Bedrohungssituation desKalten Krieges befänden. Absonderlich!

(Beifall bei der LINKEN)

Die Zahlen sind hier genannt worden: Aus dem ur-sprünglichen Sparziel – 8,3 Milliarden Euro – wurdeschnell ein kleineres Sparziel: 4,3 Milliarden Euro. DerVerteidigungsminister darf sich beim Finanzminister sehrgroßzügig bedienen: Er erhält im nächsten Jahr 2 Milliar-den Euro zusätzlich für den Umbau der Bundeswehr. Ja,der Strukturwandel muss sozialverträglich gestaltet wer-den; das kostet Geld. Insofern ist es sogar zu loben, dassdas Weihnachtsgeld für Beamte, Richter und Soldaten,das gekürzt werden sollte – damit wären Sie wortbrüchiggeworden –, doch gezahlt wird; es wird aus diesen Mit-teln finanziert. Aber Sie sparen nicht an den Stellen ein,an denen energisch gespart werden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Rede ist von den irrsinnigen Beschaffungsvorha-ben aus den 90er-Jahren: Eurofighter, Tiger und A400M.Jetzt haben Sie festgestellt: Das ist selbst für Sie zu viel.Sie wollen also die Stückzahlen reduzieren. Was machtman? Man schickt die Minister dieser Regierung im In-teresse der Rüstungsindustrie auf Werbereise; sie sollenfür Absatz sorgen. So sieht die Abrüstungsagenda dieserBundesregierung aus.

(Beifall bei der LINKEN – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Skandalös!)

Die Rede ist auch vom Einstieg in neue Rüstungspro-jekte: EuroHawk, Fregatte 125, Schützenpanzer. DieRede ist von der strikten Ausrichtung der gesamten Bun-deswehr auf die Auslandseinsätze. Das hat seinen Preis.Etwas mehr als 1 Milliarde Euro sind ausgewiesen; denwahren Preis hat meine Kollegin Buchholz hier genannt.Das ist etwas, was wir uns nicht mehr leisten können undsollten.

Herr Koppelin, an dieser Stelle eine Anmerkung zuIhnen – nicht nur zu Ihnen –: Ja, dieses Parlament trägt

Verantwortung für die Bundeswehr und für die Entsen-dung der Bundeswehr ins Ausland. Wir sind ein Teil die-ses Parlaments. Deshalb sind auch wir betroffen, wennSoldaten tot nach Hause gebracht werden oder sie mit ei-ner Posttraumatischen Belastungsstörung zurückkom-men. Wir fragen uns nach dem Sinn und Zweck dieserEinsätze: Was erreicht man damit? Was richtet man da-mit an? Aus genau diesem Grund sagen wir: Holen Siedie jungen Leute aus Afghanistan zurück! So sieht un-sere Vorstellung von Verantwortung aus.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, es ist richtig: Die Streit-kräfte bedürfen einer grundsätzlichen Reform; aber siemuss in die richtige Richtung gehen. Wir sind nicht mehrmilitärisch bedroht – das sagen Sie selber –, und wir brau-chen die dafür eingesetzten Mittel an anderer Stelle: fürdie Bewältigung globaler Probleme. Genau deshalb sagenwir – das liegt in einem Entschließungsantrag vor –: Hal-bieren wir die Mittel für die Bundeswehr, richten wir dieStreitkräfte defensiv aus, beenden wir die Auslandsein-sätze, und rüsten wir jährlich um 5 Prozent ab! Das wäresicherheitspolitisch und volkswirtschaftlich vernünftig;das sollte hier beschlossen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist schön und gut, dass Sie, Herr Minister de Mai-zière, hier ein Reformbegleitgesetz angekündigt haben,bei dem es um die Sicherung der Interessen der Beschäf-tigten geht. Was Sie aber nicht vorlegen wollen, ist einordentliches Konversionsgesetz; da ist Fehlanzeige. DieReduzierung der Zahl der Soldaten, der Zivilbeschäftig-ten und der Standorte muss aber mit einer zielgerichtetenKonversionspolitik verbunden werden. Strukturbrüchedieser Art sind nur zu bewältigen, wenn sie langfristiggeplant sind, aktiv gestaltet sind, ausreichend finanziertsind und zwischen Bund und Ländern intensiv abge-stimmt werden. Nicht zu vergessen ist, dass die Bürge-rinnen und Bürger gründlich einbezogen werden müs-sen.

Ein solcher Strukturwandel ist kein normaler gesell-schaftlicher Prozess, sondern ein extrem wünschenswer-ter Prozess. Jede Photovoltaik- oder Windkraftanlage,die einen Schießplatz ersetzt, ist ein gesellschaftlicherFortschritt.

(Beifall bei der LINKEN)

Jeder Technologiepark anstelle eines Munitionsdepotsbedeutet Innovation statt Stillstand. Jede Wohnanlageanstelle eines Hangars für Kampfhubschrauber bedeutetmehr Lebensqualität für die Menschen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das gilt es jetzt zu begreifen, auch in den betroffenenKommunen und Regionen. Die zivile Nachnutzung derLiegenschaften eröffnet neue Möglichkeiten für Wirt-schaft, Umwelt und Beschäftigung.

Jetzt folgt das große Aber: Diese Chancen könnenvon den Kommunen nur genutzt werden, wenn ihnen ge-holfen wird, wenn sie finanziell unterstützt werden. Herrde Maizière, da reicht es eben nicht, zu sagen: In mei-

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Paul Schäfer (Köln)

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nem Topf ist nichts; darum soll sich doch die Bundes-anstalt für Immobilienaufgaben kümmern. – Nein, sofunktioniert das nicht. Wir brauchen einen gut ausgestat-teten Konversionsfonds des Bundes; wir brauchen dieBereitstellung verbilligter Kredite für die Gemeinden;wir brauchen eine veränderte Geschäftsgrundlage für dieBImA, die primär am Verwertungsinteresse der Gemein-den ausgerichtet ist und nicht an der Gewinnmaximie-rung für den Bund;

(Beifall bei der LINKEN)

und wir brauchen die Wiederbelebung von Strukturen,die alle Ebenen umfassen, um diesen Konversionspro-zess wirklich zu steuern.

Darum geht es in unserem zweiten Entschließungsan-trag – um nicht mehr und nicht weniger. Wir wollen dieBundesregierung zwingen, an dieser Stelle endlich ihrePflicht zu tun. Sie sollten unserem Antrag zustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour von

Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

glaube, dass ich die nächsten Sätze im Namen aller imHohen Hause sprechen darf. Wir haben heute die Mel-dung erhalten, dass zwei Soldaten in Baglan bei einemSprengstoffanschlag verletzt worden sind. Ich denke,dass wir alle ihnen beste, schnellstmögliche und vor al-lem vollständige Genesung wünschen. Vor allem ihrenFamilien wünschen wir gerade in diesen schwierigenStunden viel Kraft.

(Beifall im ganzen Hause)

Lieber Herr Koppelin, vor etwa drei Jahrzehnten isteinmal ein Hubschrauber bestellt worden, der für denEinsatz gegen die Panzerarmee aus dem Osten gedachtwar.

(Heiterkeit des Abg. Joachim Spatz [FDP])

Das war der Tiger. Ich weiß, dass Sie sich damals schongewünscht haben, dass die Grünen endlich wieder mitre-gieren mögen. Aber selbst heute fliegt das Ding nochnicht. Der Tiger – das hat der Kollege Spatz gerade de-zent angemerkt – war für ganz andere Aufgaben vorge-sehen zu der Zeit, als er bestellt wurde, als die, die heutezu bewältigen sind. Der Tiger ist in der Beschaffungdeutlich teurer geworden. Vor allem ist er, wie gesagt,noch nicht da. Seine Beschaffung ist teuer, spät und cha-otisch. Das ist ein Beispiel für viele Beschaffungspro-jekte. Man kann noch einige andere nennen.

Ich weiß, Sie würden da MEADS sagen.

(Zuruf von der FDP)

– Verehrter Kollege von der FDP, ich würde mir heuteecht Zwischenrufe dazu ersparen, wie es ist, der kleine

Koalitionspartner zu sein und sich nicht in allem durch-setzen zu können.

Als Grüner würde ich auf den MH-90, den NH-90und den A400M verweisen. All das ist am Ende immerwieder teuer, spät und chaotisch gewesen. Genauso trifftdas auch auf die jetzige Bundeswehrreform zu.

Die Bundeswehrreform trug am Anfang die Über-schrift „Größte Reform aller Zeiten“. Das war eine Idee.Damals gab es einen Minister, der dafür bekannt war,dass er Ideen hatte. Danach kamen Sie, Herr Minister.Sie haben diese Ideen – das muss man zugeben – geord-net. Sie haben einige Dinge zusammengeführt, die vor-her nicht zusammengepasst haben. Das ist erst einmal al-les andere als falsch.

Die Geburtsfehler der Reform sind aber immer nochvorhanden. Wenn man eine große Organisation refor-mieren will, steht die Aufgabenkritik am Anfang undnicht die Festsetzung einer Gesamtgröße, wie es damalsgeschehen ist. Das haben Sie ja jetzt revidiert.

Hinzu kommt, dass alles extrem teuer ist. Es geht da-bei nicht nur um die öffentliche Hand in toto, sondernauch um die Frage: Tut man der Bundeswehr heute einenGefallen, wenn man die Einsparungen, die demnächstsowieso fällig werden, nicht jetzt vornimmt, indem manneue und effizientere Strukturen schafft? Das ist in vie-len Teilen leider bisher nicht geschehen. Deshalb gibt esin vielen Fragen noch nichts Konkretes.

Wer mit den Soldatinnen und Soldaten redet, entdeckteine riesengroße Verunsicherung, weil wir nicht diegrößte Reform aller Zeiten, sondern die langwierigste al-ler Zeiten hatten. Es gab Ankündigungen, danach war-tete man auf Entscheidungen. Man wusste nicht, washinten herauskommt. Natürlich ist man verunsichert,wenn die Bundeskanzlerin persönlich verspricht, dassdas Weihnachtsgeld im nächsten Jahr kommen wird,aber doch nichts passiert. Auch das hilft nicht unbedingtdabei, Vertrauen zu gewinnen und sicherzustellen, dasseine große Reform sozialverträglich abläuft.

Es ist eigentlich schon ein kleiner Skandal und allesandere als vertrauensbildend, wenn Sie, Herr Minister,zulassen, dass Kommandeure aus der Presse oder durchAnrufe vom Bürgermeister erfahren, dass ihr Standortbetroffen ist und geschlossen werden soll. Das ist nichtwirklich verantwortungsvoll. Das bringt keine Ruhe indie Bundeswehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Florian Hahn [CDU/CSU]: Das verwechselnSie mit Struck!)

Wir bleiben dabei, dass wir in vielen Bereichen im-mer noch vor einem riesengroßen Fragezeichen stehen.Die Bundeswehrreform ist weiterhin – und nicht nur inder Umsetzung – ein Gerüst. Wo bleibt denn eigentlichdie ressortübergreifende Zusammenarbeit bei dieserBundeswehrreform? Ich kann sie nicht erkennen. Wo istdenn eigentlich eine Veränderung der Beschaffungs-struktur zu erkennen? Sie wollen bestehende Verträgeauflösen und neue abschließen. Wie aber in Zukunftneue Beschaffungen durchgeführt werden sollen, da die

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Omid Nouripour

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veränderten Strukturen so nicht mehr funktionieren, istmir bisher überhaupt nicht klar. Die Kommission, die Sieselbst zitiert haben, hat damals festgestellt, dass dasBWB so nicht mehr weiterexistieren sollte. Was sich nunaber ändert, außer dass zwei nicht ganz effiziente Struk-turen zusammengelegt werden, verstehe ich ohnehinnicht.

Mannschaftsdienstgrade beschäftigt die zentraleFrage: Wie können Laufbahnen flexibler und damit at-traktiver gestaltet werden? Es ist mir nicht wirklich klar,wie die Attraktivität der Bundeswehr so konzeptioniertwerden kann, dass die Breite der Gesellschaft auch nachder Aussetzung der Wehrpflicht von ihr widergespiegeltwerden kann.

Die Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerrinnenrechtesind ein Thema, das im 21. Jahrhundert wohl auch beider Bundeswehr auf die Tagesordnung gesetzt werdensollte. Die Perspektive der inneren Führung, über die wirGrüne sehr häufig diskutieren, wirft Fragen auf: Wohinwollen Sie mit der Bundeswehr? In welche Richtung solldas Konzept der inneren Führung weiterentwickelt wer-den? Das alles ist nicht klar.

Es ist alles so unglaublich vage, dass ich überhauptnicht zu sagen vermag, ob diese Reform wirklich vonhinten bis vorne Sinn macht. Wir werden Sie weiterhinkritisch begleiten. Wir hoffen, dass wir am Ende eine Ar-mee haben werden, die nicht größer ist, als sie sein muss,eine Armee, die im Dienste der Vereinten Nationen ihremaus dem Grundgesetz abgeleiteten Auftrag nachgehen kann.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – JoachimSpatz [FDP]: Aber nicht ohne Mandat!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst-Reinhard Beck

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Der uns vorliegende Verteidigungshaushalt mit sei-nen rund 31,8 Milliarden Euro musste unterschiedlichs-ten Vorgaben Rechnung tragen. Ich erinnere noch einmalkurz daran: Da ist zum einen die Bundeswehrreform, dasind zum anderen die nicht unerheblichen Kosten für dielaufenden Einsätze, und da ist nicht zuletzt die Notwen-digkeit von Einsparmaßnahmen im Bereich Haushalts-konsolidierung. Das sind die drei Ausgangspunkte. We-sentliche Bestandteile der Konsolidierungsmaßnahmensind die Aussetzung der Wehrpflicht, die Schaffung effi-zienterer Strukturen bei der Bundeswehr, die Reduzie-rung von Standorten und der sozial verträgliche Abbauvon Personal.

Trotz schwieriger Ausgangslage ist es gelungen, einenFinanzrahmen festzulegen, mit dem weiterhin eine ange-messene und verantwortungsvolle Sicherheitspolitik fürunser Land möglich ist. Dem Bundesminister für Vertei-

digung ist es gelungen, die Neuausrichtung nicht nur si-cherheitspolitisch zu begründen, sondern auch ausrei-chend solide zu finanzieren. Herr Kollege Arnold, indiesem Punkt sind wir unterschiedlicher Auffassung.

Mit dem Standortkonzept ist ein wichtiger Zwischen-schritt für die Reform erreicht. Im Namen meiner Frak-tion danke ich allen, die an der Neukonzeption der Bun-deswehr aktiv mitgewirkt haben. Zeit zum Ausruhengibt es aber nicht. Mit der Umsetzung steht uns allennoch ein hartes Stück Arbeit bevor, das vor allem dasPersonal bis an die Leistungsgrenzen fordern wird. HerrMinister, Sie haben vorhin von den Mühen der Ebenengesprochen, die jetzt vor uns liegen.

Eben dieses Personal als wichtigste Ressource derBundeswehr bedarf unserer besonderen Aufmerksamkeitund Fürsorge. Die Menschen in der Bundeswehr müssennun sehr schnell erfahren, wohin die Reise geht: Ändertsich mein Aufgabenfeld? Wo ist mein Standort? Wokann meine Familie leben? Wo gehen meine Kinder indie Schule? Habe ich in der Bundeswehr noch eine Pers-pektive, oder lohnt es sich für mich, die Streitkräfte zuverlassen? Das Gleiche gilt übrigens auch für die betrof-fenen Kommunen. Auch sie brauchen entsprechendePerspektiven und Planungssicherheit.

Denjenigen, die die Bundeswehr verlassen wollen,müssen rasch Perspektiven aufgezeigt werden. Dem Re-formbegleitgesetz – das ist schon mehrfach angespro-chen worden – wird dabei eine Schlüsselfunktion zu-kommen. Es darf nicht alles im Klein-Klein zerredetwerden, wenn wir die Bundeswehr attraktiv erhaltenwollen. Deshalb sind zeitlich begrenzte, gesetzlicheÜbergangsregelungen zum Abbau des militärischen unddes zivilen Personalkörpers notwendig.

Sollten die Zuwendungen des Bundes auf einem ver-gleichsweise moderaten Niveau bleiben – ich befürchte,dass dies der Fall sein wird –, müssen die Betroffenenselbst die Möglichkeit haben, in ihrem weiteren Arbeits-leben die entstandenen Versorgungslücken zu schließenoder darüber hinaus mehr zu verdienen. In diesem Zu-sammenhang darf die Hinzuverdienstgrenze nicht zumTabu erklärt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Geradezu sträflich wäre es aber, jene zu vernachlässi-gen, die bei der Bundeswehr bleiben, auf deren Dienstund Leistung wir tagtäglich angewiesen sind und auf diewir uns verlassen können müssen. Ihnen hat unsere Auf-merksamkeit ebenso zu gelten – und nicht nur währenddes Übergangs zur neuen Struktur.

Die Bundeswehr steht auf dem Arbeitsmarkt im Wett-bewerb mit großen und mittelständischen Unternehmen.Dies ist eine andauernde Herausforderung. Die Bundes-wehr muss sich, so meine ich, in diesem Wettbewerbnicht verstecken. Aber sie kann in einigen Bereichenbesser werden. Die Forderungen nach mehr Fürsorge,zum Beispiel hinsichtlich einer besseren Vereinbarkeitvon Familie und Dienst – Stichwort „Kinderbetreuung“ –,müssen jetzt konsequent angegangen und erfüllt werden.Ich nenne exemplarisch die Wahlmöglichkeit zwischen

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Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)

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Umzugskostenvergütung und Trennungsgeld sowie dieBereitstellung geeigneter Pendlerunterkünfte. Aber auchdie Anhebung der Sätze für mehrgeleisteten Dienst istein wichtiges Signal für unsere Soldatinnen und Solda-ten.

In diesem Zusammenhang – das ist vorhin kurz ange-sprochen worden – möchte ich auch die Wiedereinfüh-rung der Sonderzuwendung, im Volksmund „Weih-nachtsgeld“ genannt, besonders positiv hervorheben.Hier hat die Koalition ein wichtiges Versprechen einge-löst und dadurch, wie ich meine, an Glaubwürdigkeit zu-rückgewonnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gilt aber auch, die Ausrüstung der Bundeswehr aufdie aktuellen und die wahrscheinlichen künftigen Ein-sätze abzustimmen. Es gibt noch immer Defizite bei dervorhandenen Ausrüstung, die rasch behoben werdenmüssen.

Handlungsbedarf besteht aber auch bei der in Be-schaffung befindlichen Ausrüstung. Es ist vorhin schonmehrfach gesagt worden: Sie wurde zum Teil noch in derZeit des Kalten Krieges beschafft, und zwar in zu großerStückzahl für die nun kleinere Bundeswehr. Diese Groß-projekte schnüren uns die Luft ab, sodass wir jene Aus-rüstung, die wir für zukünftige Aufgaben brauchen, nichtbeschaffen können. Hier müssen Freiräume geschaffenwerden. Der Minister steht mit den Unternehmen im Ge-spräch, was wir ausdrücklich unterstützen. Letztlich gehtes nicht nur um Finanzmittel und Rüstungsgüter, son-dern auch um industrielle Kernkompetenzen in unseremLand. Beide Seiten müssen im Interesse der Soldatinnenund Soldaten im Einsatz eine Lösung finden.

Das richtige Gerät zur rechten Zeit im Einsatz zurVerfügung zu haben, das muss die Richtschnur unseresHandelns sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Voraussetzung dafür ist, dass das Beschaffungswesender Bundeswehr zukünftig schneller und kostengünstigerAusrüstung zur Verfügung stellt. Dies ist eine besondereHerausforderung für das Gelingen der gesamten Reform.Die ersten Ansätze stimmen mich hier durchaus optimis-tisch.

In den Haushaltsberatungen konnten wir beim Titelfür Handwaffenmunition eine Verbesserung erzielen;Kollege Willsch hat vorhin ausdrücklich darauf hinge-wiesen. Der Verbrauch im Einsatz und die einsatznaheSchießausbildung haben zu einem signifikanten Mehr-bedarf geführt. Ich hebe dies hervor, weil in diesem Be-reich den Bitten aus den Truppen im Einsatz und in derAusbildung unmittelbar Rechnung getragen werdenkonnte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch hinsichtlich der Beschaffung eines leichtenMehrzweckhubschraubers zur Verbringung von Spezial-kräften bei Nacht und unter Bedrohung sind wir auf ei-nem guten Weg.

Nachdem die Neuausrichtung der Bundeswehr in denwichtigsten Schritten planerisch vollzogen ist, müssenwir unser Augenmerk in Zukunft auch auf die europäi-sche Dimension unserer Sicherheitspolitik lenken. Ichnenne hier exemplarisch einige Themen: AGS, Luftbe-tankung, Air Policing, ein mögliches Joint Support Ship.Hier gibt es Möglichkeiten, knappe Ressourcen gemein-sam zu organisieren. Diesem Ziel dient auch das Kon-zept „Pooling & Sharing“, das nun zumindest in Kontu-ren Gestalt annehmen muss.

Seit einer Woche liegt auch die „Konzeption der Re-serve“ vor. Reservisten sind wichtige Multiplikatoren fürdie Bundeswehr. Sie üben verantwortungsvolle Tätigkei-ten in Bundeswehr und Zivilleben aus. Ihre zivilen Qua-lifikationen sind nun noch besser nutzbar zu machen fürdie Bedürfnisse der Streitkräfte. Wenn das gelingt, kön-nen unsere Reservisten Botschafter für die Bundeswehrsein und zum positiven Bild der Streitkräfte in der Ge-sellschaft beitragen.

Wir haben, wenn ich das kurz anmerken darf, eineneue Spitze des Reservistenverbandes. Ich darf an dieserStelle dem Kollegen Kiesewetter als neuem Präsidenten

(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Gar nicht da!)

und seinen Stellvertretern Erdel und Groschek herzlichgratulieren. Mit diesem Glückwunsch verbinde ich denDank an alle Reservistinnen und Reservisten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und derSPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Die Verbundenheit der Gesellschaft mit den Soldatin-nen und Soldaten ist wichtig für das gegenseitige Ver-ständnis. Gerade vor dem Hintergrund der Einsatzrealitätist dies unverzichtbar. Mit dem Beruf des Soldaten istRisiko für Leib und Leben verbunden. Dies ist wahr.Herr Kollege Nouripour, Sie haben darauf hingewiesen,dass wir heute wieder zwei verwundete Soldaten zu be-klagen haben, denen wir von hier aus unsere besten Ge-nesungswünsche übermitteln. Das ist schrecklich, kannaber trotz bester Ausrüstung und bester Ausbildung nievöllig verhindert werden. Umso wichtiger ist der Um-gang mit dieser Situation.

Bestmögliche Versorgung und Absicherung, auch vonHinterbliebenen und Angehörigen, verlangen Fingerspit-zengefühl und Großzügigkeit. Viele Veteranen kommengezeichnet aus dem Einsatz zurück. Die sanitätsdienstli-che Versorgung von Verwundungen, körperlich wie see-lisch, steht daher ganz oben auf unserer Agenda. DasParlament hat mit dem Einsatzversorgungs-Verbesse-rungsgesetz darauf reagiert und entscheidende Verbesse-rungen erzielt. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Ichdanke noch einmal allen, die daran Anteil hatten.

Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, ge-hen meine Gedanken zu unseren Soldatinnen und Solda-ten im Einsatz. Auch dieses Jahr werden Tausende vonihnen die Weihnachtstage fernab der Heimat und ge-trennt von ihren Familien feiern müssen. Sie tun dies indem Bewusstsein, unserer Sicherheit zu dienen. Sie die-

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Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)

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nen Deutschland. Sie verdienen unseren Dank und un-sere volle Unterstützung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels von

der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

einer differenzierten Debatte ist es wichtig, über Ge-meinsamkeiten und über Unterschiede zu reden. In denFragen der äußeren Sicherheit unseres Landes suchenwir Sozialdemokraten so viel Konsens wie möglich, aberwir müssen auch vor Fehlentwicklungen aus unsererSicht warnen und Alternativen vorschlagen.

Es hat keinen Sinn, mit jedem Regierungswechsel dieBundeswehr ganz neu zu erfinden. Die Bundeswehr, dieSoldatinnen und Soldaten sowie die Zivilbeschäftigtenbrauchen Kontinuität. Deshalb war es schlecht, dass IhrVorgänger, Herr Minister, Hals über Kopf eine Bundes-wehrreform angekündigt hat, ohne dass die vorherigeschon abgeschlossen war und ohne zu wissen, wohin erüberhaupt will. Das hat Vertrauen kaputtgemacht. Dar-unter leidet die Reform jetzt noch.

Sie hätten eine europäische Perspektive entwickelnmüssen: Was sollen deutsche Streitkräfte in Europa kön-nen? Was können die Partner machen? Wo sind unsereSchwerpunkte? Das ist unterblieben, und das ist teuer.

Deshalb haben wir künftig immer noch eine Univer-salarmee, die fast alles können soll, nur eben mit immerweniger Personal. Wir begrüßen, dass Sie unter diesenUmständen die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisver-teidigung jedenfalls nicht aufgegeben haben. Ihr Vorgän-ger hat das prüfen lassen.

Wir wollen keine Bundeswehr, die eine reine Expedi-tionsarmee wäre. Es ist deshalb richtig, dass das Heerweiter in Divisionen und Brigaden gegliedert ist. Auchden Rückgriff auf gekaderte Verbände halten wir fürrichtig.

Ob allerdings Deutschland und Europa auf langeSicht die Stärkung der deutschen Infanterie brauchen,wage ich zu bezweifeln. Das ist Ausfluss Ihrer ganz ak-tuellen Afghanistan-Politik. Hier wird der gegenwärtigschwierigste Einsatz zum Modell für die Zukunft derBundeswehr. Damit wäre ich vorsichtig. Wenn Ihre neueInfanteriestärke eines Tages hergestellt sein wird, ist hof-fentlich der Einsatz kämpfender Truppen in AfghanistanGeschichte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Genau über diese Zukunft des Landes in eigener Ver-antwortung berät in wenigen Tagen die internationaleAfghanistan-Konferenz in Bonn. Wir wünschen uns,dass der Übergang gelingt.

Wir begrüßen, dass die Führungsstrukturen der Teil-streitkräfte schlanker werden. Aus je drei Stäben wird je-weils einer – das war überfällig.

Verglichen mit anderen Teilstreitkräften schrumpftunsere schon kleine Marine am wenigsten, die Luftwaffeam stärksten. Dafür gibt es gute Gründe. Aber es hätteauch gute Gründe für eine stabile oder sogar leicht auf-wachsende Marine gegeben. Nach den Einsätzen aufdem Balkan und in Afghanistan wird sie immer noch einwesentlicher Träger der Auslandseinsätze unserer Bun-deswehr sein. Ihre Bedeutung nimmt eher zu. Hier hättenSie einen Schwerpunkt setzen können.

(Beifall des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU])

– Die Marinefraktion versteht, was gemeint ist.

Über den freiwilligen Wehrdienst haben wir schon ei-nige Male diskutiert. Ich bleibe dabei: Mit diesem Dienstist es Ihnen nicht ernst. Im Haushalt 2012 sind – das er-kennt man, wenn man genau hinschaut – keine 15 000,sondern nur 12 500 Dienstposten für freiwillig Wehr-dienstleistende reserviert. Sie fangen schon an, den Dienstwegzusparen. Das ist keine große Strategie der Freiwil-ligkeit, das ist kleinmütig.

Wo wir Ihnen vor allem energisch widersprechenmüssen, Herr Minister, ist Ihr Umgang mit den Zivilbe-schäftigten. Hier haben Sie eine Strategie, und dieseheißt Outsourcing:

Outsourcing in andere Ressorts der Bundesregierung,Stichworte: Gebührniswesen und Travel Management.Die Mitarbeiter bekommen neue Türschilder. Frage: Wasspart das? Es ist dann zwar nicht mehr der Einzelplan 14,aber immer noch der gleiche Bundeshaushalt, aus demdiese Bundeswehrangehörigen bezahlt werden müssen.

Outsourcing ans Militär, Stichwort: gemischte Ver-waltungsämter. Wieder stellt sich die Frage: Spart das et-was, oder sollen hier nur verfassungsrechtliche Schran-ken eingerissen werden?

Outsourcing an die Wirtschaft. Das ist Outsourcingim klassischen Sinn. Wenn Sie einen von zwei Marine-arsenalbetrieben schließen, wer macht dann die Arbeit?Die Marine wird ja bekanntermaßen und richtigerweisenicht halbiert. Also kürzen Sie auf lange Sicht bei denPersonalkosten und schichten um zu Sachposten. Wasspart das? Es wird teurer.

Ich warne vor Reformen um der Reform willen, Ver-änderungen um der Veränderung willen, Umzügen umdes Umziehens willen. Wenn Sie nicht erklären könnenoder wollen, welchen Vorteil eine Veränderung hat, dannunterlassen Sie diese Veränderung.

Lassen Sie als Bundesregierung die Kommunen mitden Folgen von Arbeitsplatz- und Kaufkraftverlust inden betroffenen Regionen nicht allein. Sie haben ange-kündigt, hier etwas zu tun. Wir warten auf Vorschläge.Verkehrsminister Ramsauers Idee, aus Liegenschaftsver-käufen ganz schnell Geld dafür zu mobilisieren, kommtmir irgendwie bekannt vor. Die Erfahrungen damals wa-ren ernüchternd. Verhandeln Sie lieber mit Ihren Kolle-

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Dr. Hans-Peter Bartels

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gen Schäuble und Ramsauer darüber, dass existierendeProgramme wie „Die soziale Stadt“ stärker und nichtschwächer ausgestattet werden! Machen Sie die vorhan-denen Bundesprogramme nutzbar für die Konversions-kommunen! Sorgen Sie für eine schnelle, preisgünstigeAbgabe der Liegenschaften, am besten zunächst an dieKommunen selbst!

Suchen Sie das Gespräch mit den Beschäftigten undden Gemeinden! Lassen Sie uns bei der Umsetzung derReform so viel Konsens wie möglich wahren! Sie habengesagt, das Motto sei: Der Sack ist zu. Ich glaube, dasswir auch nach der heutigen Debatte sage können: DasFass ist auf. – Und das ist keine Drohung.

Vielen Dank.(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letzter Redner zu diesem Einzelplan hat nun das

Wort der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Der heute hier zur Debatte stehende Verteidigungshaus-halt ist ein wichtiger Meilenstein bei der laufenden Re-form der Bundeswehr. An ihm wird deutlich, dass wir alschristlich-liberale Koalition es ernst meinen, wenn wirsagen, dass wir eine Bundeswehr aufstellen wollen, diestrukturell besser auf ihre Aufgaben ausgerichtet ist, diefür die Soldaten attraktiver ist, die besser ausgerüstetund die nachhaltig finanziert ist.

Der Verteidigungshaushalt 2012 umfasst 31,87 Milli-arden Euro. Im Vergleich: Im Jahr 2011 waren es31,55 Milliarden Euro. Der Aspekt „nachhaltige Finan-zierung“ wird erst recht deutlich, wenn man die mittel-fristige Finanzplanung betrachtet: 2013: 31,35 Milliar-den Euro, 2014: 30,95 Milliarden Euro, und 2015:30,43 Milliarden Euro. Die Bundeswehr wird deutlichkleiner werden, aber die Finanzierung bleibt in etwa aufdem jetzigen Niveau. Dass uns das gelungen ist, ohne ananderer Stelle gegen die Einsparauflagen der Schulden-bremse zu verstoßen, zeigt die Bedeutung, die wir alsKoalition einer gut ausgerüsteten und attraktiven Bun-deswehr zumessen. Genau in diesem Sinne, lieber HerrKollege Willsch, wurden ja in den parlamentarischenBeratungen weitere Verbesserungen für die Soldaten er-zielt: bei den Planstellen, aber auch – Sie haben dasThema Munition angesprochen – bei der Ausrüstung.Dafür auch von meiner Seite herzlichen Dank!

Man kann, wenn man nicht in der Verantwortungsteht, natürlich immer fordern, dass man an der einenoder anderen Stelle noch mehr hätte einsparen oder mehrhätte ausgeben müssen; in der heutigen Debatte hört manja beides. Aber ich finde, mit diesem Haushalt ist es unsgelungen, eine vernünftige Balance zu finden, auch undvor allem im Sinne der Bundeswehr. Das ist insbeson-dere ein Verdienst des Verteidigungsministers Thomasde Maizière, der die Reform, die sein Vorgänger, Karl-Theodor zu Guttenberg, eingeleitet hat, in hervorragen-der Weise fortgeführt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Meine Damen und Herren, der Haushalt 2012 und diemittelfristige Finanzplanung sind aber nur ein Meilen-stein in diesem Reformprozess. Wir sind noch langenicht am Ziel. Viele strukturelle Probleme sind nochnicht gelöst. Ich denke hier – das ist heute bereits mehr-fach angesprochen worden – zum Beispiel an den lang-wierigen Zulassungs- und Beschaffungsprozess, derdazu führt, dass Material entweder viel zu spät oder ineiner Konfiguration und Stückzahl kommt, die sichlängst überholt hat. Der Prozess bindet über viele Jahrehinweg Geld, das dann an anderer Stelle wieder fehlt,um die Bundeswehr mit dem zu versorgen und das zubeschaffen, was die Truppe heute viel dringenderbräuchte. Hier bleibt noch viel zu tun.

Was bereits entschieden ist, ist das zukünftige Statio-nierungskonzept der Bundeswehr. Auch hier möchte ichdem Minister und all denjenigen, die das Konzept imHintergrund vorbereitet haben, meinen höchsten Respektaussprechen. Das Ergebnis und die Art und Weise, wiees vorbereitet worden ist, waren erstklassig. Ich sage dasals jemand, der in seiner Heimat selbst von Standort-schließungen betroffen ist, der auch vor Ort danach ge-fragt wird und sie rechtfertigen muss. Ich weiß – ichkann da mit allen Kollegen mitfühlen –: Das ist nichteinfach. Aber verantwortungsvolle Politik darf nichtnach dem Motto vorgehen: Wasch mir den Pelz, abermach mich bitte nicht nass.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine Verkleinerung der Bundeswehr bedeutet auto-matisch auch weniger Standorte. Wenn ich das Ergebnisinsgesamt betrachte, stelle ich fest: Das Ziel, dass dieBundeswehr auch in Zukunft in der Fläche präsentbleibt, wurde weitestgehend erreicht.

(Beifall des Abg. Joachim Spatz [FDP])

Trotzdem gibt es Bereiche, die besonders hart getroffenwurden. Es geht jetzt darum, gemeinsam mit den betrof-fenen Kommunen und Regionen möglichst passgenaueLösungen zu erarbeiten, damit sie den Weggang derBundeswehr vor Ort möglichst angemessen kompensie-ren können.

In dem ganzen schwierigen Prozess, gerade bei derVorbereitung der Stationierungsentscheidungen, gab esfür mich persönlich immer wieder auch positive Mo-mente. Diese positiven, erfreulichen Momente waren im-mer dann, wenn ich miterleben durfte, wie sich ganze Re-gionen – an der Spitze oft die Bürgermeister, aber auchviele Vereine und Menschen aus der Zivilgesellschaft –mit ihren Soldaten vor Ort solidarisiert und für deren Ver-bleib in der Region gekämpft haben. Dabei wurde nichtnur deren Bedeutung für die regionale Wirtschaftskraftbetont. Herausgehoben wurden immer wieder auch dieLeistungen, die die jeweilige Einheit, insbesondere imEinsatz, für unser Land erbringt. Meine Damen und Her-ren, ich hoffe, dass es uns gelingt, die sichtbare Solidaritätmit der Bundeswehr, die wir an vielen Orten erlebt haben,auch in der Zukunft in dieser Form aufrechtzuerhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Page 84: Deutscher Bundestag · 2020. 6. 12. · Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 III b) Zweite und dritte Beratung des von

16986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Dr. Reinhard Brandl

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Neben den ganzen strukturellen Herausforderungen– eine ganze Reihe von ihnen wurde heute angespro-chen – ist es ja die große Aufgabe der Zukunft, genü-gend qualifizierten Nachwuchs für die Bundeswehr zugewinnen. Das entscheidet sich auch, aber eben nicht nuran den materiellen Rahmenbedingungen. Das entschei-det sich nämlich auch daran, ob die Gesellschaft sichtbarhinter dem Dienst und dem Einsatz der Soldaten steht.

Dazu können wir auch vonseiten des Parlaments eini-ges beitragen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 14– Bundesministerium der Verteidigung – in der Aus-schussfassung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan 14 ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte X a bis e sowie gund h auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten PaulSchäfer (Köln), Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Umbenennung von Bundeswehrkasernen undStraßennamen auf den Bundeswehrliegen-schaften

– Drucksache 17/7485 – Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss (f)Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP

Einvernehmensherstellung von Bundestag undBundesregierung zum Beitrittsantrag der Re-publik Montenegro zur Europäischen Unionund zur Empfehlung der EU-Kommission vom12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitritts-verhandlungen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-setzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-sammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenheiten derEuropäischen Union

– Drucksache 17/7768 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Einvernehmensherstellung von Bundestagund Bundesregierung zur Empfehlung derEU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zurAufnahme von Beitrittsverhandlungen mitMontenegro

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-setzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-sammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenheiten derEuropäischen Union

– Drucksache 17/7809 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten ManuelSarrazin, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einvernehmensherstellung von Bundestagund Bundesregierung zur Empfehlung derEU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zurAufnahme von Beitrittsverhandlungen mitMontenegro

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-gesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über dieZusammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenheiten derEuropäischen Union

– Drucksache 17/7769 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Bei der Vergabe von Exportkreditgarantienauch menschenrechtliche Aspekte prüfen

– Drucksache 17/7810 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungFederführung strittig

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten KristaSager, Kai Gehring, Sylvia Kotting-Uhl, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16987

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Wissenschaftszeitvertragsgesetz wissenschafts-adäquat verändern

– Drucksache 17/7773 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieluiseBeck (Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. FrithjofSchmidt, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Strategie zur europäischen Integra-tion der Länder des westlichen Balkans

– Drucksache 17/7774 – Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei derdie Federführung strittig ist.

Tagesordnungspunkt X e. Interfraktionell wird Über-weisung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/7810 zur Vergabe von Exportkreditgarantien andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Frak-tionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführungbeim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, dieFraktion der SPD wünscht Federführung beim Aus-schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion der SPD – Federführung beim Ausschuss fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe – abstimmen. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlagist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführungbeim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – ab-stimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-schlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Über-weisungsvorschlag ist mit gleichem Stimmenverhältnisangenommen.

Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen:Tagesordnungspunkt X a bis d sowie g und h. Interfrak-tionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt XI a bis k auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt XI a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom

17. Juni 2010 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und dem Minis-terrat der Republik Albanien über die See-schifffahrt

– Drucksache 17/7237 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/7683 –

Berichterstattung:Abgeordneter Uwe Beckmeyer

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/7683, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/7237 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-genommen.

Tagesordnungspunkt XI b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Statistik der Überschuldung privaterPersonen (Überschuldungsstatistikgesetz –ÜSchuldStatG)

– Drucksache 17/7418 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend(13. Ausschuss)

– Drucksache 17/7698 –

Berichterstattung:Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-BeckerChristel HummeFlorian BernschneiderHeidrun DittrichKatja Dörner

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/7698, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/7418 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Frak-tion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionenangenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.

Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt XI c bis k,also zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses.

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16988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Tagesordnungspunkt XI c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 337 zu Petitionen

– Drucksache 17/7656 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 337 ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt XI d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 338 zu Petitionen

– Drucksache 17/7657 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 338 ist ebenfalls ein-stimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt XI e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 339 zu Petitionen

– Drucksache 17/7658 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 339 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegen-stimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung vonBündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt XI f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 340 zu Petitionen

– Drucksache 17/7659 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 340 ist einstimmig angenom-men.

Tagesordnungspunkt XI g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 341 zu Petitionen

– Drucksache 17/7660 –

Wer ist dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Sammelübersicht 341 ist bei Gegenstimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller übrigenFraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt XI h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 342 zu Petitionen

– Drucksache 17/7661 –

Wer ist dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.

Tagesordnungspunkt XI i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 343 zu Petitionen

– Drucksache 17/7662 –

Wer ist dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Sammelübersicht 343 ist mit den Stimmen der Koaliti-onsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.

Tagesordnungspunkt XI j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 344 zu Petitionen

– Drucksache 17/7663 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 344 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen bei Gegenstimmen von SPD und Linke ange-nommen.

Tagesordnungspunkt XI k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 345 zu Petitionen

– Drucksache 17/7664 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 345 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositi-onsfraktionen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt II.13. auf:

Einzelplan 23Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung

– Drucksachen 17/7119, 17/7123 –

Berichterstattung:Abgeordnete Volkmar KleinLothar Binding (Heidelberg)Dr. h. c. Jürgen KoppelinDr. Dietmar BartschPriska Hinz (Herborn)

Hierzu liegen ein gemeinsamer Änderungsantrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünensowie zwei Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor.Außerdem liegen ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke und ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor, über die wir am Freitagnach der Schlussabstimmung abstimmen werden.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Lothar Binding von der SPD-Fraktiondas Wort.

(Beifall bei der SPD)

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Pressedes BMZ gestern entnommen, dass wir uns in einerschwierigen Haushaltslage befinden. Die Zinsen sindjetzt einmalig niedrig. Auch die Arbeitslosigkeit ist nied-rig – dank Olaf Scholz. Was wäre, wenn es die Kurzar-beiterregelung nicht gegeben hätte? Das Wachstum istkomfortabel – dank Steinmeier und Steinbrück. Wo wä-ren wir heute ohne die Konjunkturprogramme? DieSteuereinnahmen sind unerwartet hoch. Es wird gegenden Geist der Schuldenbremse gehandelt. Jedenfalls istdas die Schlussfolgerung, wenn man sich darauf verstän-digen kann, dass 26 Milliarden Euro Schulden mehr als22 Milliarden Euro Schulden sind.

Trotz dieser schwierigen Haushaltslage, von der Sieselbst sprechen, haben Sie 6 Milliarden Euro für Steuer-senkungen übrig, die keiner braucht und keiner will.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das hat heute Morgen unser Vorsitzender sehr schönausgeführt. Aber Sie haben keine Milliarde für ihren Be-reich zusätzlich übrig, um bezüglich der ODA-Quotewenigstens strukturell etwas zu tun, damit den Ärmstengeholfen werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich frage mich: Was wollen Sie eigentlich machen, wenndie Haushaltslage wirklich schwierig wird?

Zunächst einmal möchte ich mich bei dem Ministe-rium, also bei Dirk Niebel, dem Staatssekretär Beerfeltzund auch bei Herrn Schmidt für die wirklich gute Koo-peration im Rahmen der Haushaltsberatungen bedanken.Auch bei Priska Hinz als Hauptberichterstatterin und beimeinen Kollegen Dietmar Bartsch, Volkmar Klein undJürgen Koppelin möchte ich mich bedanken und last, butnot least auch beim Fachausschuss, der von den Haus-hältern natürlich immer viel mehr verlangt, als wir unterhaushalterischen Gesichtspunkten gewähren können.Das ist ein natürliches Spannungsverhältnis. Ich finde,dass Sascha Raabe und Bärbel Kofler das immer sehrfair machen, auch wenn wir zum Schluss einen schwieri-gen Kompromiss schließen müssen.

Ich bedanke mich bei allen für die gute Information,den harmonischen Verlauf, die offene Atmosphäre unddas faire Miteinander. Wir haben viele Wochen gelernt,gestritten und Ideen ausgetauscht. Wir haben noch bis2 Uhr nachts in der Bereinigungssitzung um Zahlen ge-fochten und über Strukturen debattiert.

Wenige Stunden – Stunden! – später erfährt das Parla-ment

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur ein Teil des Parlaments!)

– die meisten von uns übrigens aus der Presse –, dass dermit 129 Millionen Euro ausgestattete Titel „Entwick-lungsorientierte Not- und Übergangshilfe“ im BMZ-Haushalt ganz plötzlich aufgelöst werden soll. In denWochen davor war davon keine Rede: geheime Ver-schlusssache. Wir erfahren es direkt nach der Haushalts-beschlussfassung im Haushaltsausschuss und wundernuns.

95 Millionen Euro sollen an das Auswärtige Amt ge-hen. Westerwelle soll – wer mag dabei an Wahlkampfdenken? – als Katastrophenhelfer im Ausland für schöneBilder sorgen. 34 Millionen Euro werden im BMZ um-gruppiert. Sechs Stellen gehen an das Auswärtige Amt.Die Zuständigkeit für politische Stiftungen in Osteuropasoll auch an das Auswärtige Amt gehen. Was das für dieArbeit der Stiftungen bedeutet, wage ich mir nicht vor-zustellen. Vielleicht fragen Sie die Stiftungen danach.

Im Auswärtigen Amt sollen 46 neue Stellen in denBotschaften geschaffen werden, vom BMZ besetzt. Essollen auch 12 Stellen in Leitungspositionen geschaffenwerden. Vor der nächsten Wahl sollen so viele wie mög-lich abgesichert werden, war in der Presse zu lesen. Ja,wer wohl? Wenn zwei Minister mit dem Parlament soumgehen und diese beiden zufällig in einer Partei sind,dann könnte man dahinter mehr vermuten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Auf dieser Basis lohnt es sich eigentlich nicht, übereinen Haushalt zu reden, der schon wenige Stunden,nachdem wir ihn beschlossen haben, obsolet ist. Wasaber lese ich in der Zeitung? Da heißt es: „der größteEtat in der Geschichte des Ministeriums, der größte his-torische Personalzuwachs“ und „ein neues Zeitalter derKooperation“ zwischen Auswärtigem Amt und BMZ.Ich bin mir da nicht ganz so sicher.

Ich habe auch gelesen – das hätte von HeidemarieWieczorek-Zeul sein können –:

Dennoch dürfen wir unsere Partner nicht mit immerneuen Konzepten überfordern. … Konzepte wie„Hilfe zur Selbsthilfe“ … gibt es schon lange.

Weiter heißt es:Entwicklungspolitik begründet sich auch aus einermoralischen Verpflichtung, aus Solidarität undNächstenliebe heraus.

Das hat übrigens Herr Bundespräsident Wulff anlässlichder 50-Jahr-Feier des BMZ gesagt. Ich glaube, wir gebenihm recht.

Dirk Niebel spricht unter dem Stichwort „Eigeninte-ressen“ von Ökonomisierung, aber auch von symboli-scher Militarisierung.

(Widerspruch bei der FDP)

– Ich habe „symbolisch“ gesagt.

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Lothar Binding (Heidelberg)

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Es gibt eine Anzeige mit dem Titel „wirtschaft. entwi-ckelt. global“. Wer sich an das alte Logo der FDP erin-nert, weiß noch, dass es dort auch solche Punkte gab:F.D.P. In der Anzeige heißt es: „Wir wollen erreichen,dass Entwicklungspolitik und deutsche Wirtschaft Handin Hand arbeiten.“ Ich glaube, da ist was dran: EineHand wäscht die andere. Auf dieser Basis wird zurzeitEntwicklungspolitik gemacht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dabei ist es aber so, dass – ich zitiere – „Entwick-lungspolitik sich im Kern immer auf einen überparteili-chen Konsens“ stützt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch das hat nicht Heidemarie Wieczorek-Zeul gesagt,sondern unser Bundespräsident. Niebel allerdings, habeich in demselben Artikel gelesen, arbeitet daran, SPD-Spuren im Ministerium zu tilgen. Das bedeutet eine ganzandere Arbeitsrichtung in der Entwicklungspolitik. Ihmgeht es darum, Spuren anderer zu tilgen.

Aber woran arbeitet er noch? Ich meine, wir müssendafür ein bisschen Verständnis haben: Er kümmert sichum die FDP.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es werden zum Beispiel Mitarbeiter befristet eingestellt;diese Stellen werden aber nach kurzer Zeit entfristet.Das heißt dann im Ministerium „Auswahlverfahrenlight“. Dieser Zusatz ist auch nötig; denn wenn das Par-teibuch vor Qualifikation geht, dann braucht man einLight-Verfahren.

Es gibt allerdings auch andere Verfahren. Statt beste-hende Referate zu stärken, werden neue geschaffen. Bis-her gab es ein Referat für den Bereich private Wirt-schaft; jetzt sind es zwei. Bisher gab es zwei Referate fürZivilgesellschaft. Jetzt sind es drei. Früher gab es ein Re-ferat für Personal. Heute sind es zwei. Was ist die Idee?Sie verdoppeln sozusagen ein Referat und können damitpersonalpolitisch schön jonglieren, insbesondere wennSie aus anderen Ministerien und der GIZ 300 Stellen be-kommen und sie in einer gewissen Weise zu einer freienVerfügungsmasse in Ihrem Ministerium machen.

Es kommt noch etwas Besonderes hinzu: Durch dievielen neuen Strukturen gibt es einen erhöhten Abstim-mungsbedarf. Was folgt daraus? Man braucht neue Ab-teilungskoordinatoren. Das ist völlig klar. Ich weiß auch,wie sie besetzt werden sollen –

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

jedenfalls liegt die Vermutung nahe –; denn es werdenReferatsleiter verschoben.

Wem das zu abstrakt ist, dem rufe ich ein paar Namenin Erinnerung: Pätz, Vorstandsmitglied in der GIZ, miteiner Rückfallstelle auf B-Ebene im Ministerium. Einenpeinlichen Vorgang gab es um van Bebber – hier mussman sich einmal im Ministerium umhören –, Kreisvor-sitzender der FDP in Ahrweiler. Dreimal dürfen Sie ra-ten, wer Exekutivdirektor der Weltbank geworden ist:

ein ehemaliger Mitarbeiter von Genscher, rein zufällig.Dann kommt Christian Lüth, Friedrich-Naumann-Stif-tung, zum BMZ, nachdem er Deutschland in Hondurasauf das Peinlichste blamiert hat. Da merkt man schon, inwelche Richtung es geht.

Ich meine, wir brauchen Verstärkung in ganz anderenBereichen: in den Regionen, in den Sektoren. Wir brau-chen Antworten auf die Frage, wie die GIZ wirklich ge-steuert werden soll. Wir müssen die Armutsbekämpfungverstärken. Wir brauchen wenigstens einen Pfad zumAufbau der ODA-Quote. Im Haushalt ist dazu nichts zufinden. Das sind die wesentlichen Themen, um die wiruns kümmern müssen. Ich bin froh, dass meine Kollegendazu noch das Wort ergreifen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christiane Ratjen-

Damerau für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP):Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolle-

gen und Kolleginnen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Binding, im Gegensatz zu Ihnen möchteich heute zu der Frage Stellung nehmen, wie wir jeneMenschen auf dieser Welt unterstützen können, die nichtdas Glück haben, in einem der reichsten Länder dieserWelt geboren zu sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])

Entwicklungszusammenarbeit gibt es noch nicht sehrlange. Es gibt sie seit 50 Jahren. Die Vorstellung, dasswir eine Mitverantwortung für das Schicksal aller Men-schen dieser Welt tragen, ist ein neuzeitliches Konzept.In der Entwicklungspolitik gibt es noch viele ungelösteAufgaben, und somit bleibt sehr viel Raum für kontro-verse und auch innovative Diskussionen. Für mich heißtEntwicklungspolitik, anderen Chancen zu eröffnen, abergleichzeitig die eigenen Chancen zu nutzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der diesjährige Haushalt des Bundesministeriums fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibtden Anspruch wieder, dass Globalisierung eine Chancefür alle Menschen auf dieser Welt ist. Der Haushalt desBundesministeriums wächst in diesem Jahr um knapp2 Prozent auf 6 332 900 000 Euro an. Das sind 114 Mil-lionen Euro mehr als im vergangenen Jahr. 114 Millio-nen Euro mehr investiert die Bundesregierung in die Zu-kunft unserer Welt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist beschämend wenig!)

Trotz enger haushalterischer Spielräume haben wirdamit den dritten Rekordhaushalt in Folge in diesem

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 16991

Dr. Christiane Ratjen-Damerau

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Jahr. Dass es die gesamte Bundesregierung ernst meintmit der Entwicklungspolitik, zeigt sich an diesem Haus-halt. Der Anteil des BMZ am Bundeshaushalt steigt auf2,1 Prozent an. Das Ziel der ODA-Quote, 0,7 Prozentdes Bruttoinlandsproduktes in die Entwicklungshilfe zuinvestieren, haben wir zwar noch nicht erreicht, aber ichmöchte an dieser Stelle für uns alle betonen, dass wir andieser Vereinbarung der Weltgemeinschaft festhalten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die christlich-liberale Koalition hat 2009 – damalslag die ODA-Quote bei 0,35 Prozent – die Regierungs-verantwortung übernommen. 2010 lag sie bereits bei0,39 Prozent, und das bei einem um 3,6 Prozent höherenBruttoinlandsprodukt in Deutschland.

Ein wichtiger Aspekt einer zeitgemäßen Entwick-lungspolitik ist allerdings: Mit Geld alleine ist keinesinnvolle und langfristige Entwicklungspolitik möglich.Die Qualität und die Schwerpunkte der Entwicklungs-zusammenarbeit sind hier entscheidend. Wir Entwick-lungspolitiker und Entwicklungspolitikerinnen der Koali-tion sind der festen Überzeugung, dass eine nachhaltigeVerbesserung der Lebensbedingungen der Menschen inden Entwicklungsländern nicht durch eine dauerhafteAlimentation erzielt werden kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Für 2012 kann der Haushalt des BMZ als ein Wirk-samkeitshaushalt beschrieben werden, weil sich in ihmdie Zusammenführung der vormaligen Durchführungs-organisationen, der Gesellschaft für Technische Zusam-menarbeit, der InWEnt und des Deutschen Entwick-lungsdienstes, zur Gesellschaft für Internationale Zu-sammenarbeit wiederfindet. Dies ist die größte Struktur-reform in der Entwicklungspolitik seit der Gründung desBMZ und damit seit genau 50 Jahren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zudem setzt das Bundesministerium auf die Evaluie-rung der eigenen Arbeit. Dafür wird im Jahr 2012 ein ei-genes Institut gegründet. Für mich als Liberale ist esselbstverständlich, dass die Arbeit des Ministeriums aufden Prüfstand eines unabhängigen Evaluierungsinstitu-tes gestellt wird.

Wirksam ist der Haushalt auch deshalb, weil er denAufbau der Zivilgesellschaften durch private Träger wiedie Kirchen und Stiftungen in den Entwicklungsländernmehr als je zuvor stärkt und fördert. Denn um das Zieleiner nachhaltigen Bekämpfung der Armut und Struktur-defizite in den betroffenen Ländern zu erreichen, benöti-gen wir die Anstrengung und das Wissen gerade dieserInstitutionen. Ihre Arbeit beginnt meistens dort, wostaatliches Handeln nicht möglich ist.

Den Schwerpunkt der Entwicklungspolitik legen wirweiterhin auf Afrika. Die Armut in den betroffenen Staatenin Afrika lässt sich nur über Generationen hinweg undinsbesondere durch Investitionen in die Bildung derMenschen verringern. Daher verdoppeln wir die Anzahlder Bildungsmaßnahmen im Süden des Kontinents bis2013 gegenüber dem Jahr 2009.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dies ist nachhaltig und sorgt für die Chancen, die dannWohlstand schaffen. Wir geben zusätzliche Mittel zurVergabe von Krediten und investieren in Ausbildung undgute Regierungsführung.

Gleichzeitig sorgen wir mit dem Haushalt und der Ar-beit des Bundesministeriums dafür – da möchte ichgerne Bundesminister Niebel zitieren –, dass die Ent-wicklungszusammenarbeit stärker in der Gesellschaftverankert wird. Entsprechend organisiert sich das BMZneu und geht andere Wege.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Erst ein-mal im Parlament!)

So schafft es aus einer Vielzahl von unübersichtlichenAngeboten eine einzige Servicestelle mit Ansprechpart-nern zu allen Fragen des bürgerschaftlichen Engage-ments und der kommunalen Entwicklungszusammenar-beit.

Vieles kann jedoch ohne neue Mittel geleistet werden,und zwar allein durch eine bessere Koordinierung undeinen effizienteren Einsatz der Mittel. Aber für be-stimmte Maßnahmen brauchen wir mehr Geld. Deswe-gen bin ich mit dem Haushalt des Bundesministeriumssehr zufrieden und danke an dieser Stelle allen Beteilig-ten, die an diesem Haushalt mitgewirkt haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dieser Haushalt steht für die neue Wirksamkeit der Ent-wicklungszusammenarbeit und lässt uns gleichzeitig ei-nen Schritt hin zur Einlösung unseres Versprechens andie Welt – die Erfüllung der ODA-Quote – gehen.

Es gibt noch viel zu tun. Wir, die Politiker der westli-chen, wohlhabenden Welt, müssen gemeinsam an einemStrang ziehen.

(Zurufe der Abg. Priska Hinz [Herborn][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Ute Koczy[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Vielleicht hören Sie einmal zu!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen so lange an einem Strang ziehen, FrauKoczy, solange Menschen nicht genug zu essen habenund solange täglich Menschen an den Folgen von Armutund Unterernährung sterben. Lassen Sie uns daher ge-meinsam die Menschen unterstützen, die eben nicht dasGlück hatten, in dem reichsten Land der Welt geboren zuwerden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

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16992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011

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Heike Hänsel (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Aus aktuellem Anlass möchte ich von hieraus zuerst eine Solidaritätsadresse an die Menschen inKairo schicken, die im Moment auf dem Tahrir-Platz sit-zen und versuchen, die Demokratie dort zu verteidigen,

(Beifall bei der LINKEN)

und die im Grunde genommen eine zweite Revolutiongegen die Militärregierung beginnen. Herr Niebel, eswäre schon gut gewesen, von Ihnen aktuell etwas dazuzu hören. Es reicht nicht, dass Sie und Herr Westerwellesich dort feiern lassen. Jetzt braucht die Bevölkerung dieSolidarität von uns allen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Haushalt. Ich lese, dass Sie dieses Jahr einen Re-kordhaushalt verabschieden. Das steht auf Ihrer Webseite.

(Johannes Selle [CDU/CSU]: Das stimmt auch!)

Das ist sehr interessant. Ich kann mir das nur so erklären,dass es für Sie, Herr Niebel, ein Rekord ist, trotz der gro-ßen Unterstützung, die Sie hier aus dem Parlament er-fahren haben, trotz der vielen Unterschriften aus der Be-völkerung und trotz der vielen Appelle der Hilfsorgani-sationen einen solch mickrigen Aufwuchs für dasnächste Jahr zu organisieren, das ist wirklich ein Rekord,Herr Niebel.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Patrick Meinhardt [FDP]: Ach dulieber Gott!)

Die Halbzeitbilanz Ihrer Amtszeit ist katastrophal. Siemachen viel Show, organisieren viele Events und spre-chen von einer ganz neuen Ausrichtung der Entwick-lungspolitik. Wenn man sich das aber genau anschaut,dann stellt man fest, dass nicht viel dahinter ist. Sie wol-len zum Beispiel über eine neue Servicestelle mehr Bür-gerbeteiligung organisieren und die Zivilgesellschaft indie Entwicklungspolitik stärker einbinden. Das ist schönund gut. Aber zu den vielen Menschen, die bereits aktivsind, wenn es um Entwicklungsfragen geht, und auf dieStraße gehen, um das Erreichen des 0,7-Prozent-Ziels,die Einführung einer Finanztransaktionsteuer und einestrengere Regulierung der Finanzmärkte zu fordern unddie Bankenmacht zu brechen, gibt es von Ihnen keineReaktion, Herr Niebel. Diese Menschen werden syste-matisch ignoriert. Da brauchen Sie nicht von Bürgerbe-teiligung zu sprechen. Das ist ein Witz.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie machen Politik wie bisher, verkaufen sie aber neu.Sie sprechen von Eigenverantwortung und Wirtschafts-partnerschaften, meinen aber im Grunde die Förderungdeutscher Wirtschafts- und Rohstoffinteressen. Ich habegelesen – das ist interessant –, dass die neue Rohstoff-allianz, gegründet vom Bundesverband der DeutschenIndustrie, jetzt auch vom Entwicklungsministerium be-grüßt und unterstützt wird.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist doch sehr gut!)

Das ist also Ihre neue Entwicklungsausrichtung. Sie ma-chen Politik für die deutsche Großindustrie.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:Nein, für die Wertschöpfung! Das ist derPunkt!)

Sie sprechen von Liberalisierung, neuen Märkten undneuen Chancen. Aber im Grunde handelt es sich umnichts anderes als um den Griff in die neoliberale Mot-tenkiste.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)Denn genau diese Politik hat bislang Entwicklung in denLändern des Südens verhindert.

(Beifall bei der LINKEN)Viele Arbeitsplätze und kleinbäuerliche Existenzen wur-den dadurch vernichtet. Sie kommen mit den ewig altenRezepten des letzten Jahrhunderts und haben bis heutenicht bemerkt, dass der Kapitalismus nicht Teil der Lö-sung, sondern Teil des Problems ist.

(Beifall bei der LINKEN)Wir brauchen eine solidarische Weltwirtschaftsordnung,wenn wir nicht nur den reichen Eliten, die ab und zu derFDP Parteispenden zukommen lassen, sondern allen aufdieser Welt eine menschenwürdige Existenz ermögli-chen wollen.

Sie sehen sich als großer Reformer und haben intelli-genterweise die Not- und Übergangshilfe in das Auswär-tige Amt zur humanitären Hilfe verlagert. Das ist dieentwicklungspolitische Fehlleistung des Jahres. Es wärewichtig gewesen, die Not- und Übergangshilfe zusam-men mit der humanitären Hilfe im Entwicklungsministe-rium anzusiedeln, weil die Übergänge sehr schwierigsind und wir das entwicklungspolitisch gut organisierenmüssen. Statt die Not- und Übergangshilfe im Auswärti-gen Amt quasi zu versenken, wäre es vor allem wichtiggewesen, die Mittel dafür massiv zu erhöhen,

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

und zwar wegen der vielen Katastrophen, die wir haben,sei es in Pakistan, in Haiti oder in Ostafrika. Da siehtman nichts von Ihnen. Sie haben nur neue Posten für dieFDP im Außenministerium organisiert.

Am unrühmlichsten ist sicherlich Ihre Halbzeitbilanz,wenn es um Afghanistan geht. Sie haben leider die schonunter Rot-Grün begonnene zivil-militärische Zusam-menarbeit massiv vorangetrieben und die Hilfsorganisa-tionen, die staatliche Unterstützung bekommen, gezwun-gen, mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten. DieseMilitarisierung schreitet voran, zum Beispiel bei denKooperationsverträgen zwischen der GIZ und der Bun-deswehr. Dabei geht es nicht nur um Afghanistan, son-dern auch um zukünftige Militärinterventionen. Wir hin-gegen haben uns immer gegen eine Militarisierung derEntwicklungszusammenarbeit ausgesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

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Heike Hänsel

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Die soziale Situation in Afghanistan ist nach wie vorschwierig, nicht nur aufgrund von Korruption, sondernauch aufgrund des dort herrschenden Krieges; denn un-ter den Bedingungen eines Krieges ist keine Entwick-lung in einem Land möglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun findet nächste Woche in Bonn die große Afgha-nistan-Konferenz statt. Überall ist vom Abzug der Trup-pen die Rede. Dazu kann ich nur sagen: Das ist schlichteine Lüge. Es wird keinen kompletten Abzug der Trup-pen geben, allenfalls einen Teilabzug. Die Kanzlerin hatheute Morgen davon gesprochen, dass wir über 2014 hi-naus in Afghanistan präsent sein werden. Genau deswe-gen gehen immer mehr Menschen, insbesondere Frie-densgruppen, in Afghanistan auf die Straße. Sie fordern:Wir wollen keine Dauerbesatzung in Afghanistan. Wirwollen über unser Land selbst bestimmen.

Diese Gruppen werden von uns unterstützt. Auch siekommen nächste Woche nach Bonn.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie werden einen Gegenpunkt setzen. Sie werden inBonn auf der Demonstration am 3. Dezember und aufder Gegenkonferenz am 4. Dezember sprechen.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bin ich da eingeladen? Kann ich da auch kommen?)

Sie stehen für die Forderung nach einem wirklichen Ab-zug der Truppen, sie stehen für die Forderung nach ei-nem 100-prozentigen Abzug der Bundeswehr ausAfghanistan; denn nur so gibt es wirkliche Entwick-lungschancen für die Bevölkerung dort.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck[CDU/CSU]: Meine Frage hat sie nicht beant-wortet! Jetzt wollte ich kommen, und ich habeauch gefragt!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der nächste Redner ist der Kollege Volkmar Klein für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Volkmar Klein (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Klar, das ist hier eine Haushaltsberatung.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Genau!)

Trotzdem muss ich sagen: Man hat jetzt fast den Ein-druck – das war auch in den letzten Wochen so –, als seiGeld das Wertvollste, was Deutschland zu bieten hat; jemehr davon, umso besser. Dabei legt doch schon derName des Ministeriums, über das wir hier reden, eigent-lich anderes nahe. Es geht um wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung. Ich denke, wichtiger nochsind Austausch, Zusammenarbeit, Weitergeben von Er-fahrung und Teilhaben-Lassen an Erfahrungen.

(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, aber ohne Geld nichts los!)

Das gilt im Übrigen aber auch wechselseitig. Daswird jeder von uns so bestätigen können. Ich persönlichhabe langjährige Verbindungen nach Ghana. Wenn ichvon dort zurückkomme, dann fühle ich mich immer wie-der auch selbst bereichert. Insofern ist das natürlich einganz krasser Widerspruch zu dem, was wir gerade vonmeiner Vorrednerin gehört haben.

Ich denke, das Wertvollste, was wir in Deutschlandweiterzugeben haben, ist unsere positive Erfahrung mitder sozialen Marktwirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es wäre grandios, wenn es gelingt, in allen Teilen derWelt eine sich selbst tragende Entwicklung anzustoßen:sich selbst tragend, ökonomisch, ökologisch und sozial.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Immer dieser Etikettenschwindel!)

Das ist genau das, was wir unter Nachhaltigkeit verste-hen.

(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Lauter Über-schriften!)

Das heißt nicht, dass es darum geht, anderen irgend-wie eine Kopie unserer Lösungen zu oktroyieren, aberdas heißt, dass wir die Erfahrung weitergeben müssen,dass klare Regeln gebraucht werden sowie Verlässlich-keit, Spielräume für die Menschen, Ausgleich zwischenden Menschen. Das heißt auch, dass wir eine klare Er-wartung formulieren müssen. Egal welche Lösungen ineinem Land gefunden werden – wir erwarten von dendortigen Eliten zumindest, dass sie selber Vertrauen inihre Lösungen haben. Das ist, glaube ich, ein großes Pro-blem, über das wir viel zu wenig reden.

Natürlich geht das nicht ohne Geld; insofern warendie Zwischenrufe ja richtig. Es gibt das schöne russischeSprichwort: Durch Umrühren allein wird der Tee nichtsüßer, da muss Zucker hinein. – Das ist, finde ich, eintolles Sprichwort. Deutschland liefert ziemlich viel Zu-cker in alle Welt. Fast 6,4 Milliarden Euro umfasst derEinzelplan 23, der Haushalt des Ministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das istsehr viel Geld. Fakt ist, dass wir alle uns dafür gegenü-ber unseren Wählern verantworten müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen begründen, weshalb es richtig ist, so vielGeld zur Unterstützung anderer auszugeben. Ich finde,man kann das auch sehr gut begründen. Es ist richtig,weil unsere Verantwortung für den Nächsten nicht an un-seren Grenzen endet. Wir müssen einen Teil unserer Er-fahrungen, auch unseres Reichtums abgeben und mitdem Nächsten jenseits unserer Grenzen teilen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])

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Volkmar Klein

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– Ich bedanke mich für den breiten Applaus. Ein solcherwird sicherlich bei meinem nächsten Punkt erneut auf-branden.

Die Steigerung um 2,6 Prozent im Einzelplan 23

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und denBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Priska Hinz[Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wow! Wir wollen mehr sehen!)

– da ist ja der Beifall – ist angesichts der Steigerung desGesamthaushalts natürlich exorbitant groß. Wir habennämlich ein insgesamt stagnierendes Budget, das um nur0,1 Prozent steigt. Die Vorrednerin könnte sich vielleichtvom Kollegen Binding, der von Mathematik viel Ah-nung hat, genau erklären lassen, dass damit der Einzel-plan 23 praktisch die 26-fache Steigerung im Vergleichzum Gesamthaushalt erfährt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die Vergleichs-grundlage ist ja hanebüchen!)

– Gleich noch einmal von Lothar Binding erklären las-sen.

Die Budgetsteigerung, meine Damen und Herren, er-möglicht uns eine Ausweitung unseres Handelns. Beivielen einzelnen Positionen im Einzelplan 23 gibt esAufwüchse. Ich will einmal zwei Punkte herausgreifen.

Wir haben schon oft über die Situation in Ostafrikageredet. Insgesamt sind wir auf der Basis unserer Haus-halte in der Lage, Ostafrika mit 205 Millionen Euro zuunterstützen, inklusive – auch das muss erwähnt werden,gerade von denen, die die Bedeutung der internationalenOrganisationen immer hochhalten – des deutschen An-teils am Europäischen Entwicklungsfonds und bei derWeltbank. Das ist ein stolzes Ergebnis – auch angesichtsder enormen Not, die dort herrscht.

Als zweites Beispiel möchte ich erwähnen, dass esuns möglich sein wird, unter dem Stichwort „Yasuní“,das inzwischen quasi zu einem Synonym für Regen-waldschutz geworden ist, eine ganze Menge zu tun.

(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das ist ein schlech-tes Beispiel!)

Der Schutz des Regenwaldes im Amazonasgebiet istdurchaus auch für uns wichtig, weil die klimatischenAuswirkungen weltweit eine Rolle spielen. Auf der Ba-sis unserer Haushalte – dafür haben sich viele, insbeson-dere unser Kollege Christian Ruck, aber auch Kollegenaus anderen Fraktionen intensiv eingesetzt – wird es jetztmöglich sein, einiges in den Regenwaldschutz inEcuador zu investieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir warten drauf! – Dr. BärbelKofler [SPD]: Können Sie das mal konkreti-sieren?)

Es gibt einige berechtigte Zweifel daran, ob eine ein-fache Einzahlung in den ecuadorianischen Fonds lang-

fristig ausreicht, gerade unter Nachhaltigkeitsgesichts-punkten. Deswegen ist der jetzt von den beidenzuständigen Ministerien gefundene Kompromiss, Mittelaus dem Einzelplan 23 und darüber hinaus aus dem En-ergie- und Klimafonds zur Verfügung zu stellen, ein gu-tes Ergebnis; dadurch können wir hier einiges bewegen.

Aber nicht nur die Budgetsteigerung ermöglicht unseine Ausweitung des Handelns, sondern auch die Effizi-enzsteigerung. Im Haushalt 2012 ist die Fusion vonDED, InWEnt und GTZ zur GIZ abgebildet. Das ist einklarer Erfolg, auch des zuständigen Ministers.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Lange, auch schon in der früheren Regierung, hat dieCDU/CSU gefordert, das in Angriff zu nehmen. Die da-malige Ministerin hat es aber nicht geschafft. Jetzt wirdauf der Basis dieser Fusion unsere Arbeit mit Sicherheiteffektiver. Insofern möchte ich an dieser Stelle dem zu-ständigen Minister Dirk Niebel ganz herzlich gratulie-ren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vielleicht sollte ich eher uns allen hier gratulieren, dasswir einen solchen Minister haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ge-org Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich habe ja ge-sagt: Die Koalition darf sich loben!)

Ein agiler und erfolgreicher Minister agiert manchmalunter Umständen etwas voreilig. Das haben wir geradebei der Vereinbarung mit dem Auswärtigen Amt erlebt;darüber werden wir auch im Haushaltsausschuss nochberaten. Kollege Binding hat eben schon etwas dazu ge-sagt. Wenn er das nicht in so viel Oppositionsgetöse ver-packt hätte, wäre sogar etwas Richtiges daran gewesen.Wir werden sehen, ob die Frau Kollegin Hinz das gleichsachlich darstellt.

(Iris Gleicke [SPD]: Das haben wir jetztverstanden! – Priska Hinz [Herborn] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon können Sieausgehen!)

– Wir werden es sehen.

Insgesamt muss jenseits dieser Reformen mehr alsbisher darauf geachtet werden, wie erfolgreich wir arbei-ten. Wir müssen nämlich unser Geld – auch das sind wirdem Steuerzahler schuldig – wirklich effizient einsetzen.Deshalb ist es wichtig, das eben schon genannte Evaluie-rungsinstitut zu gründen, weil wir, so glaube ich, nochviel zu wenig über die tatsächliche Wirksamkeit unsererMaßnahmen wissen.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist es – auch dasist eben schon angeklungen –, sich nicht nur an die staat-lichen Strukturen der Partnerländer zu wenden. Denn dieAnalysen besagen für viele Länder, dass dort die Regie-rungen selbst Teil des Problems sind. Eine besonderseindrucksvolle Analyse hat uns die sambische Wissen-schaftlerin Dambisa Moyo vor zwei Jahren geliefert.

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Volkmar Klein

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(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Teilweise schon zurückgenommen!)

Deshalb ist es so wichtig, dass wir auch andere Bereichedeutlich stärker unterstützen, die nicht an die staatlichenStrukturen anknüpfen. Die Mittel für die Bereiche derKirchen, der Wirtschaft und der Bürgergesellschaft wer-den mit 8,5 Prozent wesentlich stärker ausgeweitet alsder durchschnittliche Haushalt.

Zum Abschluss noch zwei Punkte:

Erstens. Der Dank an die Beteiligten hier im Hause istschon ausreichend artikuliert worden. Ich möchte michan dieser Stelle aber auch bei all denjenigen bedanken,die in aller Welt – teilweise unter harten Bedingungen –Hilfe vor Ort leisten. Das ist im Interesse der Menschendort ganz toll, und es ist zugleich eine gute Visitenkartefür Deutschland. Dafür ganz herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Zweitens. Das wird Sie jetzt nicht wirklich überra-schen: Die CDU/CSU wird diesem Einzelplan zustim-men.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lo-thar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist jawirklich toll!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Priska Hinz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKlein, Ihr letzter Satz war wirklich völlig überraschend. –Meine Damen und Herren von der Koalition, es reichtnicht aus, sich nur mit Worten an dem 0,7-Prozent-Zielfestzuhalten, sondern man muss das Ziel dann auch er-reichen wollen. Man muss es tatkräftig ansteuern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Es reicht nicht aus, die internationalen Versprechun-gen vor sich her zu tragen, eine Koalitionsvereinbarungzu unterschreiben und dann in dem Haushalt, den dieRegierung vorlegt, nur noch ein wenig hin und her zuschieben, aber nicht wirklich den Willen kundzutun, das0,7-Prozent-Ziel zu erreichen oder sogar noch etwasdraufzusetzen. Das haben Sie versäumt, und Sie müssenertragen, dass wir Ihnen das immer wieder vorhaltenwerden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Positiv ist, dass die KfW-Mittel jetzt unter den Ge-währleistungsrahmen des Bundes fallen werden. Damitkann die ODA-Quote gesteigert werden. Das haben wirGrünen ja schon im letzten Jahr gefordert. Insofern sindSie uns gefolgt. Das ist wunderbar. Es reicht aber leider

nicht aus; denn die Barmittel müssen ebenfalls gesteigertwerden.

Wenn man sich die Finanzplanung anschaut, dann er-kennt man, dass im Jahr 2013 etwa 10 Prozent des Etatswegfallen sollen. Das heißt, wir wären dann unter demStatus von 2010. Wie wollen Sie denn da das 0,7-Pro-zent-Ziel erreichen?

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ein Rätsel!)

Diese Erklärung hätte ich gerne von Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Herr Minister, wir von der Opposition haben Ihnensogar zugestanden, dass Sie im Zuge der Fusion der Vor-feldorganisationen mehr Personal brauchen. Wir sind derMeinung, es hätte nicht ganz so viel sein müssen; wir ha-ben Ihnen aber zugestanden, dass Sie für die Steuerungmehr Personal bekommen; denn eine politische Steue-rung muss schon sein.

Nur frage ich mich dann – und ich frage es auch dieKoalitionäre –: Was soll denn das Personal bitte steuern,wenn es nicht auch mehr Barmittel gibt? Was sollen diedenn bitte schön machen?

(Zuruf von der FDP: Ihre Arbeit!)

Die Projekte und Programme müssen finanziell ausge-stattet sein, damit man überhaupt steuern kann. Um esmit einem ganz lapidaren Satz zusammenzufassen, denwir schon in den 80er-Jahren benutzt haben: Ohne Moosnix los. Ohne Geld werden Sie nicht weiterkommen. Dakönnen Sie zwar die Effizienz der Entwicklungszusam-menarbeit anmahnen, man kann aber nur dann effizientund effektiv helfen, wenn man dafür auch genügendGeld hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich komme zum Globalen Fonds. Wir sind uns ziem-lich einig darüber, dass er dringend notwendig ist, umKrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und Aids vorzu-beugen. Die Kanzlerin hat in internationalen Regie-rungsverhandlungen wieder die Bereitstellung der Mittelzugesagt. Und was macht der Entwicklungsminister? Erbekommt von der Organisation selbst einen Bericht übermögliche Korruptionsfälle und sperrt dann erst einmaldie Mittel. Da haben wir noch gesagt: Das ist okay; damuss man nachschauen. – Inzwischen will er auch dieletzte Tranche freigeben. Sehr gut! Aber was ist mit denMitteln für das nächste Jahr? Dann gibt es für diese Gel-der keinen eigenen Titel mehr. Die Gelder werden in denTitel „Bilaterale Finanzielle Zusammenarbeit“ einge-stellt. Da gehören sie nicht hin;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn die Mittel sollen nicht nach Gutsherrenart verteilt,sondern je nach Notwendigkeit freigegeben werden. Dawäre es sinnvoll gewesen, dass der Haushaltsausschusseine Sperre einrichtet.

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Priska Hinz (Herborn)

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(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ef-fektivität und Antikorruption!)

Dann hätten wir nach den Berichten sagen können: DasParlament will, dass die Mittel jetzt freigegeben werden.– Aber es entspricht nicht unserer Auffassung von demo-kratischer Kontrolle der Regierung durch das Parlament,dass Sie die Mittel nach Gutsherrenart sperren oder frei-geben können. Das kann ich Ihnen an dieser Stelle nichtersparen.

Wir haben den Minister bei der Fusion der Vorfeldor-ganisationen unterstützt. Wir haben ihn bei der Einrich-tung eines Evaluierungsinstituts und einer Serviceagenturunterstützt, wobei wir bei der inhaltlichen Ausgestaltungder Serviceagentur durchaus Probleme sehen, weil die Zi-vilgesellschaft nicht ausreichend eingebunden wurde.Herr Minister, es geht aber nicht – damit haben Sie alleVertreter des Hauses, die mit diesen Themen befasst sind,verärgert –, dass Sie kurz nach der Bereinigungssitzunggemeinsam mit dem Außenminister eine Vereinbarungauf den Weg bringen, wonach Mittel und Stellen vomBMZ ins Außenministerium und wieder zurück verscho-ben werden.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Gar nichts wird verschoben! Das ist doch Quatsch!)

Wenn es so kommt, wie Sie es vorhaben, ist Ihr Rekord-haushalt im Übrigen kein Rekordhaushalt mehr, weildann die Aufwüchse beim Auswärtigen Amt landen.

Man kann es ja so wollen, wie Sie es vorhaben; aber– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – es wäredas Mindeste gewesen, die Parlamentarier, die monate-lang über diesen Haushalt beraten haben, die jeden Titeldurchgegangen sind und mit Ihnen besprochen haben,die deutlich gemacht haben, wo vielleicht nur 10 000Euro draufkommen und wo 10 000 Euro runterkommensollen, ausreichend zu informieren, und zwar bevor Siesolch eine Vereinbarung treffen. Wir erwarten von Ihnen,dass Sie den Haushaltsausschuss in dieser Sache weiter-hin auf dem Laufenden halten und die Zustimmung dazueinholen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat der Bundesminister Dirk Niebel.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir sind in dieser Regierung angetreten, um dieWirksamkeit und Effizienz der Entwicklungszusammen-arbeit zu erhöhen. Dieser dritte Rekordhaushalt in Folge

(Lachen der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

gibt uns die Möglichkeit, unsere erfolgreiche Arbeit fort-zusetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich möchte mich bei den Berichterstatterinnen undBerichterstattern ausdrücklich für die – obwohl es in derDebatte im Deutschen Bundestag manchmal etwas an-ders klingt – hervorragende Zusammenarbeit bedanken.Wir haben einen sehr ergiebigen Diskussionsprozess ge-führt. Ich möchte mich auch bei den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern meines Hauses, des Bundesrechnungs-hofes und der anderen beteiligten Organisationen bedan-ken, die dazu beigetragen haben, dass wir diesen gutenHaushalt hier heute beschließen können.

Die Kolleginnen und Kollegen haben die Stellen an-gesprochen. Doch mein guter Freund Sigmar Gabriel hatheute Morgen in der Generaldebatte versucht, zu skanda-lisieren, und gesagt, ich würde das Haus mit 166 Stellenaufblähen.

(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, recht hat er!)

Um der Wahrheit Genüge zu tun, muss man darauf hin-weisen: Es sind 182 Stellen; im nächsten Jahr kommennoch einmal 30 hinzu. Das hat gute Gründe – Sie alle ha-ben es beschlossen –: Es geht um die Wiedererlangungder politischen Steuerungsfähigkeit gegenüber den Durch-führungsorganisationen. In diesem Prozess haben wir denBundeshaushalt – jetzt hören Sie bitte besonders gut zu –trotz der Einrichtung der Servicestelle, der Gründung desEvaluierungsinstituts und der Schaffung der politischenSteuerungsfähigkeit des Hauses um 300 Stellen netto ent-lastet. Das ist der größte Bürokratieabbau im Rahmen dergrößten Strukturreform, die diese Legislaturperiode gese-hen hat. Ich ahne, dass es in den nächsten zwei Jahrenkeine wesentlich größere geben wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Kollegin Hinz hat gerade beklagt, dass Stellenverschoben würden und sie davon überrascht gewesensei.

(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja!)

Wir können gerne über die Frage des Zeitpunktes strei-ten – das haben wir gestern sehr intensiv getan –, nichtaber über die Inhalte. Sie wissen, dass ein Bestandteilder Fusion darin besteht, die politische Steuerungsfähig-keit zu erlangen. Deswegen gibt es auch in Bezug auf dieAußenstruktur der deutschen Entwicklungszusammenar-beit die Notwendigkeit einer Veränderung. Das ist übri-gens auch im Kabinettsbeschluss zur Fusion so vorgese-hen.

Die 46 Stellen an Botschaften für sogenannte WZ-Re-ferenten – das sind die Mitarbeiter meines Hauses, diedort für die Umsetzung der Entwicklungspolitik sorgen –sind genauso gestaltet, wie es schon heute der Fall ist.Unsere Mitarbeiter werden an die Botschaften abgeord-net. Unsere Stellen werden dann vom Auswärtigen Amtbewirtschaftet. Ich wundere mich schon sehr, dass mandie Inhalte der wegweisendsten Verwaltungsvereinba-rung zwischen den beiden Häusern kritisiert. Damit wird

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Bundesminister Dirk Niebel

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endlich das hergestellt, was dieses Parlament – übrigensüber alle Fraktionsgrenzen hinweg – immer wieder ge-fordert hat.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So war es nicht gemeint! Das ist falsch!)

Es wurde mehr Kohärenz bzw. die Einhaltung dessen ge-fordert, was die OECD schon lange von uns verlangt hat:Klarheit bei humanitärer Hilfe und entwicklungsorien-tierter Nothilfe.

Lieber Kollege Lothar Binding, zu behaupten, wirhätten diese Klarheit bei humanitärer Hilfe, bei derÜbergangs- und Nothilfe geschaffen, damit der Außen-minister schöne Bilder von Katastrophen liefern kann,ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Diesen Zynismus kann ich euch nicht ersparen!)

Ich kenne überhaupt keine einzige Katastrophe, die eineinziges schönes Bild liefert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lo-thar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist zy-nisch gewesen! Ganz genau!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sieuns nicht über Geld reden, sondern über Verantwortung.Lassen Sie uns über die Verantwortung reden, die wir inder Welt wahrnehmen. Wir haben auf die Demokratiebe-wegungen in Nordafrika unmittelbar reagiert: mit dreiFonds, die ich aufgelegt habe. Ich möchte mich hier ganzbesonders bei den Kirchen und vor allem den politischenStiftungen bedanken, die uns dabei unterstützt haben,Demokratieprozesse begleiten zu können, damit die Weltauch hier ein Stückchen besser wird.

Lassen Sie uns über die Entwicklung ländlicherRäume reden, die in den vergangenen 10, 15 Jahrenschmählich vernachlässigt worden sind. Wir haben beider Katastrophe am Horn von Afrika sofort reagiert undmit über 160 Millionen Euro kurz- und mittelfristig ge-holfen. Wir machen mehr, weil wir dafür sorgen wollen,dass die nächste Dürre, die kommen wird, nicht gleichwieder zu einer Katastrophe führt. Deswegen entwickelnwir ländliche Räume. Das stellte sich in der Vergangen-heit vielleicht weniger charmant dar, weil die Ergebnisselängere Zeit brauchen und man sie nicht gleich medien-gerecht vermarkten kann. Wir wollen dazu beitragen, dieMenschen nicht nur zu versorgen, sondern für sie vorzu-sorgen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir übernehmen auch Verantwortung für den Reich-tum dieser Erde. Zum Beispiel schützen wir die Biodi-versität, indem wir der Regierung in Tansania helfen, an-dere Routen für die Straßen zu finden, die gebrauchtwerden, damit die Serengeti nicht zerschnitten wird.Hierzu kann man sagen: Dank deutscher Entwicklungs-zusammenarbeit muss die Serengeti nicht sterben.

Weiterhin haben wir den KAZA-Nationalpark erfun-den. KAZA bedeutet Kavango-Zambesi-Nationalpark.Das ist der größte Nationalpark der Welt. Er ist ungefährso groß wie Italien und erstreckt sich über fünf Staats-

grenzen hinweg. Bei diesen Staaten handelt es sich umNamibia, Angola, Sambia, Simbabwe und Botswana.Diese fünf Staaten versuchen, Biodiversität und wirt-schaftliche Entwicklung, den Schutz von indigenen Völ-kern sowie der Natur unter einen Hut zu bringen. Dassind fünf Staaten, die in der Vergangenheit oftmals sehrviele unterschiedliche politische Interessen hatten. Jetzthaben sie eine Vereinbarung über eine Art Schengen-Ab-kommen unterschrieben. Danach wird es ein einheitli-ches Visum für diesen Nationalpark geben. Das hätte esohne deutsche Entwicklungszusammenarbeit nicht gege-ben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])

Wir verbinden Werte mit Interessen. Manch ein linkerIdeologe mag es nicht glauben: Werte und Interessenkönnen sich hervorragend ergänzen. In diesem Sinnewerden wir auch in den nächsten Jahren die Entwick-lungszusammenarbeit in Deutschland reformieren, damitdie Menschen als Partner angesehen werden und guteErgebnisse für die Zukunft erzielt werden.

Ich danke ganz herzlich für die freundliche Aufmerk-samkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Bärbel Kofler

das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Bärbel Kofler (SPD):Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Es ist immer spannend, nach dem Herrn Minister zu re-den. Er hat wieder mit bescheidenen Worten sein eigenesArbeiten in den Mittelpunkt gestellt.

Ich hätte mir angesichts des vorliegenden Haushaltseine bescheidenere Rede von Ihnen gewünscht, undzwar aus zwei Gründen. Der eine ist ein haushalterischerGrund. Es ist leider kein Rekordhaushalt. Dieser Haus-halt wächst sehr bescheiden auf.

(Dagmar G. Wöhrl [CDU/CSU]: Aber er wächst!)

Sie haben ihn in den vergangenen Jahren und Monatenimmer schöngerechnet, indem Sie die mittelfristige Fi-nanzplanung herangezogen und gesagt haben: Von derausgehend ist das ein ganz toller Rekordhaushalt. Das istso, als würde man von seiner Firma eine Gehaltskürzungangedroht bekommen, die, nachdem andere für einen ge-kämpft haben, wieder zurückgenommen wird, und alswürde man dann behaupten, man hätte ein Rekordgehalt.Genau das machen Sie in Bezug auf diesen Haushalt, dasist aber falsch.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Harald Leib-recht [FDP]: Das haben Sie falsch verstanden!– Johannes Selle [CDU/CSU]: Sie haben nichtrichtig gerechnet!)

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Dr. Bärbel Kofler

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Ich hätte mir auch gewünscht, dass Sie den Drive, denIhnen das Parlament in Form einer fraktionsübergreifen-den Initiative für die Haushaltsverhandlungen mitgege-ben hat – Kollegin Hänsel hat es erwähnt –, genutzt hät-ten, die Mittel zur Armutsbekämpfung, die dringenderforderlich sind, bei Ihren Kollegen einzuwerben.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Ich hätte mir gewünscht, dass Sie hier und heute er-klären, wie der Aufwuchspfad aussehen soll; KolleginPriska Hinz hat es angesprochen. Frau Kollegin Ratjen-Damerau, es ist schön, wenn Sie im Koalitionsvertragund auch heute in Ihrer Rede am 0,7-Prozent-Ziel fest-halten, aber ich hätte schon gerne gewusst, wann Sie esmit welchen Haushaltsmitteln erreichen wollen. Auchdazu muss der Minister Stellung nehmen.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Dashat Sie in Ihrer Regierungszeit doch null inter-essiert!)

Zum zweiten Grund, warum ich glaube, dass Beschei-denheit angemessener gewesen wäre. Sie vermitteln denEindruck, als hätten wir alle Probleme auf dieser Weltbereits gelöst. Seit Ende Oktober sind wir 7 MilliardenMenschen auf der Erde. Laut World Food Programmeleidet immer noch jeder siebte Mensch auf der WeltHunger. Knapp 800 Millionen Menschen haben keinenZugang zu Bildung. Hunderte von Millionen Menschenhaben keinen Zugang zu Gesundheits- und sozialen Si-cherungssystemen. Künftig werden Millionen und Aber-millionen Menschen von den Folgen des Klimawandelsbetroffen sein: von Überschwemmungen, Dürre, Vertrei-bung aus den angestammten Wohngebieten, aus den Ge-bieten, wo sie ihre Nahrungsmittel anbauen und sich da-durch selbst ernähren können. Auf diese Probleme habenSie in den Haushaltstiteln und im Rahmen der Mittel, diediesem Haushalt zur Verfügung stehen, keine Antwortgegeben.

Ich möchte an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen:Sowohl das Umweltministerium als auch das BMZ lo-ben sich selbst sehr gerne, wenn es darum geht, welcheSummen man für den Klimaschutz eingestellt hat. Ichmöchte daran erinnern, dass man beim Energie- und Kli-mafonds für die nächsten Jahre eine Haushaltssperre inHöhe von 900 Millionen Euro in Bezug auf die Ver-pflichtungsermächtigungen vorgesehen hat. Das ist keinwegweisender Pfad. Ich hätte, ehrlich gesagt, gerne ge-hört, wie Sie das den Kolleginnen und Kollegen aus denanderen Ländern in Durban erklären möchten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Sie haben das Thema Wirksamkeit angesprochen. Ichhätte gerne etwas zur bevorstehenden Konferenz inBusan gehört, bei der es um die Wirksamkeit in der Ent-wicklungszusammenarbeit gehen soll. Es wird immer sogetan, als sei das ein Thema, das Sie persönlich erfundenhaben und das es vorher noch nie gegeben hat. Ich sagenur: Rom 2003, Paris 2005, Accra 2008. Um was geht esdabei? Es geht um die Stärkung der Eigenverantwortungder Partnerländer, um eine bessere Geberabstimmung,

eine gegenseitige Rechenschaftspflicht und um die tat-sächliche Umsetzung des Beschlossenen. Ich wieder-hole: Dazu gehören auch Geberzusagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier ist keine immer flachere Debatte gefordert, nachdem Motto: Weniger ist mehr, wir gestalten das nur einbisschen effektiver. Nun haben wir auch noch die TZ zu-sammengelegt. Damit haben wir der Wirksamkeit Ge-nüge getan.

Eigentlich hätte ich an dieser Stelle von Ihnen als Mi-nister gerne gehört, wie Sie sich im Lichte von Geberhar-monisierung und internationaler Zusammenarbeit in dieDebatte in Busan einbringen, wenn es um die Fragengeht: Wie finanzieren wir zum Beispiel den internationa-len Strukturaufbau – Stichworte: soziale Sicherung, Steu-erbehörden, Verwaltungen – in den verschiedenen Län-dern? Wie stellen wir uns eine weltweite Bekämpfungvon Steuerhinterziehung vor, die die Finanzstruktur be-sonders der Länder des Südens ganz entscheidend positivbeeinflussen würde? Wo stehen wir bei dem Thema „Be-kämpfung der Nahrungsmittelspekulation“? Was sagenSie zu dem Thema „Finanzierung durch eine weltweiteFinanztransaktionsteuer“? Wie werden Sie sich in dieseganzen Diskussionen einbringen? Zu all diesen Themenhört man von Ihnen leider nichts. Dabei haben diese The-men sehr viel mit der Wirksamkeit der Entwicklungszu-sammenarbeit zu tun.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt ein gutes Beispiel – die Kollegin Hinz hat dasbereits angesprochen –, an dem deutlich wird, dass Sie inden letzten zwei Jahren Entwicklungspolitik nach Guts-herrenart betrieben haben: der Global Fund. Der KollegeSascha Raabe wird das Thema Yasuní noch einmal an-sprechen. Ich finde, das ist das zweite Beispiel, das zeigt,dass Sie versuchen, Ihre Befindlichkeiten in Politik um-zusetzen. Zwei renommierte Institute, das Center forGlobal Development und Global Economy and Develop-ment, haben im Vorfeld der Konferenz zum ThemaWirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit in Busanfestgestellt, dass der Global Fund insbesondere auf denGebieten Effizienz, Transparenz und Lernen aus dem ei-genen Handeln ganz hervorragende Noten verdient. Indieser Hinsicht ist der Global Fund im Übrigen besserbewertet worden als Deutschland; das sollte uns zu den-ken geben. Außerdem haben die Fachpolitiker Ihrer ei-genen Fraktion im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung zum Ausdruck gebracht,dass sie Ihren Regierungsentwurf an nur einer Stelle kor-rigieren würden, nämlich an der Stelle, an der es um denGlobal Fund geht. Sie haben gesagt: Dieser Titel mit ei-nem Volumen von 200 Millionen Euro muss erhaltenbleiben. Das entspricht im Übrigen auch den Zusagender Kanzlerin auf internationaler Ebene. Angesichts alldessen bin ich wirklich mehr als verblüfft und irritiert,dass Sie es mithilfe Ihrer Haushälter geschafft haben,den Titel zum Global Fund aus dem Haushalt herauszu-nehmen. Sie nutzen einfach einen kleinen Buchhalter-trick – jetzt kommt es –: Sollten Sie feststellen, dass dieKorruptionsvorwürfe doch nicht stichhaltig sind, dann

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Dr. Bärbel Kofler

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könnte man der Finanziellen Zusammenarbeit wieder200 Millionen Euro wegnehmen und zu diesem Titelschieben. Das ist weder für den Bereich der FinanziellenZusammenarbeit zumutbar noch für die Vertreterinnenund Vertreter des Global Fund, die hervorragende Arbeitleisten und zur Aufklärung von Korruptionsfällen bei-getragen haben und nicht Korruptionsvorwürfe verdie-nen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hart-wig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das warja wohl mehr als recht und billig, dass sie dazubeigetragen haben! Das ist ja wohl unglaub-lich!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Kollegin, Sie kommen zum Ende?

Dr. Bärbel Kofler (SPD):Ich komme zum Ende. – Ich glaube, dass Sie mit die-

sem Haushalt viele Chancen, die Ihnen vom Parlamentgegeben worden sind, verpasst haben, dass Sie Ihrer in-ternationalen Verantwortung nicht gerecht werden. Sieversäumen es leider auch, Beiträge zu der Debatte aufinternationaler Ebene zu liefern. Man kann nur hoffen,dass in den nächsten Jahren andere Weichenstellungenvorgenommen werden.

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Für die CDU/CSU-Fraktion hat Dagmar Wöhrl das

Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Dr. Kofler, ich weiß nicht, was ein Ministerin sechs Minuten alles beantworten soll. Ich finde esphänomenal, was Sie hier erwarten.

(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Im Haushalt hat er ja nichts drinstehen!)

Man muss wirklich sagen: Alle Punkte, die Sie ange-sprochen haben, haben wir im Ausschuss behandelt.

(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Aber ohne den Mi-nister!)

Die Bundesregierung hat zu jedem dieser Punkte Redeund Antwort gestanden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will jetzt keine Argumente dafür anführen, wieder Haushalt im Einzelnen aufwächst. Er wächst, unddas ist in der heutigen Situation das Wichtige.

(Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP])

Wir leben in nicht einfachen Zeiten; das wissen wir. Wirhaben mit einer Schuldenkrise in anderen Ländern zukämpfen. Wir wollen den nachfolgenden Generationeneinen ausgeglichenen Haushalt hinterlassen. Wir sindauf einem guten Weg dorthin, und das ist das Wichtige.Ferner haben wir einen Haushalt, der wächst, und dashaben andere nicht, und dafür sind wir sehr dankbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sicher, auch wir hätten gerne mehr Geld. Es wäre ge-logen, wenn wir das Gegenteil behaupten würden. Wirmüssen uns fragen, wo wir neue Spielräume finden kön-nen. Vielleicht können wir zukünftig den Garantierah-men erweitern oder andere Dinge tun. Die Vorstellung„mehr Geld ist gleich mehr Entwicklung“ ist eindimen-sional. Die Summe des ausgegebenen Geldes sagt nichtsüber die Wirksamkeit und den Wert einer Hilfe aus. DasWichtigste für uns ist, das Geld richtig einzusetzen. Wirwissen, dass falsch eingesetztes Geld Eigeninitiative läh-men kann. Das ist das Schlimmste, was wir damit errei-chen können.

Vor allem wollen wir eines nicht: Wir wollen nicht et-was mit einer Hand geben, was mit der anderen Handwieder genommen wird. Ich spreche hier – da sind wiruns im Hause sicherlich einig – faire Wettbewerbsbedin-gungen an. Das ist der Schlüssel für die Bekämpfung vonArmut in der Welt. Hier haben wir noch sehr viel zu tun.Wir wissen, dass die Entwicklungsländer alleine aufgrundunfairer Handelsbedingungen mehr als 700 MilliardenDollar im Jahr verlieren. Das ist das Sechsfache von dem,was international für die gesamte Entwicklungshilfe aus-gegeben wird. Hier müssen wir zukünftig ansetzen. Wirmüssen faire Handelsbedingungen schaffen und wettbe-werbsverzerrende Maßnahmen beseitigen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP,der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Des-wegen: Weg mit dem Kapitalismus!)

Das heißt, nicht nur behandeln, sondern auch handeln.Dazu gehört auch mehr Wirksamkeit. Der Terminus istrichtig. Dazu gehören auch mehr Kohärenz und mehrTransparenz. Mit der Vorfeldreform sind wir den richti-gen Weg gegangen. Auch mit dem Evaluierungsinstitutist der Minister den richtigen Weg gegangen.

Die Problemlagen in der Welt ändern sich permanent.Wir haben jetzt das Jubiläum „50 Jahre Ministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ ge-feiert. Diejenigen, die damals in dem Ministerium zu-ständig waren, konnten sich gar nicht vorstellen, mitwelchen Problemen in der Welt wir in diesem Jahrzehntzu kämpfen haben. Deswegen ist es wichtig, dass maneine Entwicklungsarchitektur hat. Diese darf nicht soaussehen wie in der Vergangenheit, sondern man musssie immer wieder reformieren, man muss sie modernisie-ren, man muss sie immer wieder an die Gegebenheitenanpassen. Und das wird von dieser Regierung gemacht.

Wir sind keine Kolonialherren – so fühlen wir unsauch nicht –, die jemandem vorschreiben, was das Bestefür ihn ist. Aber wir wollen eines sein: Chancengeber indieser Welt. Und für uns stellt sich dann die schwierige

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Dagmar G. Wöhrl

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Frage: Wie ist man am besten Chancengeber? Es istwirklich naiv zu glauben, mit einer staatlichen Entwick-lungspolitik oder mit staatlichen Institutionen würdeman das ganze Elend und die ganze Armut in dieser Weltbeseitigen. Das sind immense Aufgaben. Frau Dr. Koflerhat die Zahlen genannt: Es sind 7 Milliarden Menschenauf der Welt. 2050 werden es 9 Milliarden Menschensein. Ein Mensch braucht täglich durchschnittlich 2 400Kilokalorien. Dies würde bedeuten, dass 50 Prozentmehr Nahrungsmittel auf der Welt benötigt werden. Wiewill man das zukünftig erreichen? Mit diesen Dingenmüssen wir umgehen. Jetzt schon hungern 925 Millio-nen Menschen auf der Welt. Wie erreicht man zukünftigErnährungssicherung? Wir nehmen uns deswegen zuRecht erstmals des Themas Landwirtschaft richtig an.Dafür bin ich dem Herrn Minister sehr dankbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieses Thema ist nicht nur von uns vernachlässigtworden, sondern auch international, auch von den Ent-wicklungsländern selbst. Hier müssen wir die Entwick-lungsländer viel mehr in die Pflicht nehmen.

Auf das Thema „Land Grabbing“ will ich nicht nähereingehen. Auch hier sind es die Länder selbst, die beidiesem Monopoly mitspielen. Deswegen ist es wichtig,auch hier international zu einem verbindlichen Rahmenzu kommen. Damit sind weitreichende sozio-ökonomi-sche Risiken verbunden: Seit 2001 sind weltweit bis zu227 Millionen Hektar erworben worden, 80 Prozent da-von werden überhaupt nicht bebaut. Es warten Banken,Fonds auf der ganzen Welt, dass die Lebensmittelpreisesteigen, um diese Grundstücke zu verwerten. Hier alsohaben wir sozio-ökonomische Risiken von Vertreibung,von Umsiedlung und vielem mehr.

Es geht darum, wie wir es schaffen, dass die Klein-bauern mehr Einkommen haben. Aber es geht auch da-rum, wie man die stark schwankenden Nahrungsmittel-preise stabilisiert. Wir wissen, dass gerade in denärmeren Ländern 70 Prozent des Einkommens für Nah-rung ausgegeben werden. In Deutschland sind es 10 Pro-zent. Wenn nun die Nahrungsmittelpreise steigen, dannwird in anderen Bereichen gespart. Dann gibt es keinGesundheitswesen, keine Schulen usw. mehr. Derzeit er-leben wir – da sind wir uns sicherlich im ganzen Hauseeinig – eine Metamorphose des Lebensmittelmarktes zueinem Finanzmarkt. Und das ist ein Unding. Inzwischengibt es ein internationales Zocken mit Grundnahrungs-mitteln, wie man es sich vorher nicht vorstellen konnte.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dagegen muss man was machen!)

Viele Fonds und Banken haben in diesem Rohstoff-monopoly ein immens großes Spielfeld entdeckt. Ichglaube, wir müssen dieses Thema angehen. Wir müssendafür eintreten, dass nicht an den Börsen, zum Beispielin Chicago, New York und London, entschieden werdendarf, was die Menschen in Zukunft zu essen haben odernicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD, der LINKEN unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Allein in Chicago ist im Mai dieses Jahres virtuell mitüber 350 Millionen Tonnen Weizen gehandelt worden.Das ist die Hälfte der ganzen Weizenproduktion derWelt. Da muss man sich schon Gedanken machen undfragen: Moment, wie kann ich diesen exzessiven Speku-lationen Grenzen setzen? Darf man mit wichtigen Nah-rungsmitteln wie Mais, Weizen und Soja, die gerade inden ärmeren Ländern gebraucht werden, spekulieren?Kann ich Positionslimits festlegen? Deswegen bin ichdankbar, dass man sich jetzt Gedanken darüber macht,eine internationale Datenbank zu den Nahrungsmittel-märkten auf der Welt aufzubauen, sodass man endlichInformationen über Angebot und Nachfrage hat. Bisjetzt hat man diese nicht. Bis jetzt kann man nicht über-blicken, wo auf der Welt Nahrungsmittel noch zur Verfü-gung sind, die an einem anderen Ort auf der Welt ge-braucht werden.

Wir wissen: Almosen verändern keine Strukturen.Wir wollen die produktiven Fähigkeiten der Menschenstärken. Ich glaube, wir sind uns einig: Die deutsche Ent-wicklungspolitik ist werteorientiert. Darf sie aber nichtauch interessenorientiert sein? Diese Diskussion ist mirfremd. Wir haben perspektivisch immer einen Drei-klang: Bildung, Demokratie und Wirtschaft. Wir wissenganz genau, dass wirtschaftliche Interessen keinen Vor-rang haben, sondern den entwicklungspolitischen Inter-essen dienen.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach ja?)

Das muss im Mittelpunkt stehen. Liebe Kollegen undKolleginnen von der Opposition, die Wirtschaft – dasmuss klar sein – ist ein unverzichtbarer Partner für eineerfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind in diesem Bereich stark; daher können wirden Schwächeren helfen. Wir investieren in Ausbil-dung, in Arbeitsplätze, in technisches Know-how, inUmweltstandards und Sozialstandards. Das können wirden Ärmeren bieten und sie so unterstützen. Damit binich voll auf der Linie unseres Ministers. Dieses Schub-ladendenken – für die Armen, für den Hunger ist dasEntwicklungsministerium zuständig und für die Außen-wirtschaftsförderung, die Exportförderung das Wirt-schaftsministerium – ist so nicht mehr möglich.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Kollegin.

Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU):Diese Dinge sind verzahnt, und unsere Politik muss

dem Rechnung tragen, wenn wir die Zukunft gestaltenwollen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ich dachte, das war der Auftrittsapplaus. – Das Wort

hat der Kollege Niema Movassat für die Fraktion DieLinke.

(Beifall bei der LINKEN)

Niema Movassat (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für

mich ist das Unwort des Jahres „Systemrelevanz“. Wa-rum? Alle fünf Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind anHunger, gleichzeitig wurden in den letzten Jahren Milli-arden und Abermilliarden Euro in den Industrieländernaufgebracht, um Banken zu retten, wie auch derzeit inder Euro-Krise. Der Widerspruch ist offensichtlich: Dieeinen, die Banken, werden als systemrelevant angese-hen, die anderen, die Menschen, nicht. Wäre dieMenschheit eine Bank, hätte man sie längst gerettet. Dasist die traurige Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie, Herr Niebel, haben flapsig gesagt, das Entwick-lungsministerium solle nicht mehr Weltsozialamt sein.Das ist es niemals gewesen. Dieses Ministerium subven-tionierte schon immer mit Entwicklungsgeldern deut-sche Großunternehmen. Ich habe hier eine Liste des Ent-wicklungsministeriums. Auf 100 Seiten werden allelaufenden Projekte mit deutschen Unternehmen im Rah-men öffentlich-privater Partnerschaften in den Entwick-lungsländern genannt: Firmen wie Bayer, Shell, Daimler,Nestlé, BASF und der Bundesverband der Deutschen In-dustrie, um nur einige wenige zu nennen. Sie alle bekom-men Entwicklungshilfegelder. Insgesamt sind es über1 600 Projekte. Dass das Instrument der öffentlich-priva-ten Partnerschaften schon bei uns in Deutschland erwie-senermaßen gescheitert ist, müsste sich eigentlich sogarbis zur FDP herumgesprochen haben.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)

Bei diesem Modell profitieren fast immer nur die Un-ternehmen und nicht die breite Bevölkerung. Die Berei-che, die für nachhaltige Entwicklung wichtig sind, wiekostenloser Zugang zu Bildung, Gesundheit und Wasser,machen gerade einmal 15 Prozent der Gelder aus. Den-noch geben Sie im neuen Haushalt schon wieder mehrfür die öffentlich-privaten Partnerschaften aus. Sie trei-ben damit die Außenwirtschaftsförderung auf die Spitze.Bei Ihnen gilt: Was gut für deutsche Unternehmen ist, istgut für die Entwicklung.

(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

Dabei muss gelten: Was gut für die Menschen ist, ist gutfür die Entwicklung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lo-thar Binding [Heidelberg] [SPD])

Geht es um die Ursachen von Armut, behaupten Sie,Korruption und schlechte Regierungsführung seien hier-für maßgeblich. Sie behaupten also, die Entwicklungs-länder seien selber schuld an ihrer Situation. Doch werhat die korrupten Regierungen oftmals erst an die Macht

gebracht oder sie korrumpiert? Wer hat den Daumen ge-hoben oder gesenkt über Regierungen und so über Auf-stieg und Fall entschieden? Wer hat den Entwicklungs-ländern strukturelle Anpassungsmaßnahmen aufgezwungenund damit Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystemezerstört? Das waren nicht die Völker Afrikas, Asiensoder Lateinamerikas. Das war der Westen.

(Beifall bei der LINKEN)

Keinen Funken sind Sie bereit, die Verantwortung derIndustrieländer für die Armut im Süden einzugestehen.Das ist wirklich ein Armutszeugnis.

Neulich haben Sie, Herr Niebel, betont, Sie wolltenbis 2015 das 40 Jahre alte Versprechen, 0,7 Prozent desBruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwick-lungszusammenarbeit auszugeben, einhalten. Sie feierndie aktuellen 0,39 Prozent als Erfolg. Abgesehen davon,dass ein guter Teil davon in die Förderung der deutschenWirtschaft fließt, ist es lächerlich, das zu feiern. WennSie das 0,7-Prozent-Ziel wirklich erreichen wollen,müssten laut Europäischer Kommission ab sofort jedesJahr knapp 2 Milliarden Euro zusätzlich in Ihren Haus-halt fließen. Legen Sie also einen Stufenplan vor, wie Siedas Ziel erreichen wollen, statt hier Nebelkerzen zu wer-fen!

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bevölkerung haben Sie dabei hinter sich. 92 Pro-zent der Bundesbürger sind laut einer aktuellen Umfragefür Entwicklungshilfe;

(Patrick Meinhardt [FDP]: Toll! Wir wollen aber Entwicklungszusammenarbeit!)

das ist ein Auftrag an Sie, Herr Niebel. Allerdings: Wersoll Ihnen überhaupt glauben, dass Sie das 0,7-Prozent-Ziel erreichen wollen, wenn Sie, wie jüngst geschehen,die Finanztransaktionsteuer ablehnen?

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!)

Während Ihre Koalition Ja dazu sagt, ist sie Ihnen nichtkreativ genug. Herr Niebel, das ist kein Malwettbewerb.Kommen Sie raus aus der Nein-Ecke!

(Patrick Meinhardt [FDP]: Kommen Sie mal rein in die Ja-Ecke!)

Die Finanztransaktionsteuer kann die nötigen Mittel ein-bringen, um den Entwicklungshaushalt deutlich aufzu-stocken.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Deutliche Mittelerhöhungen sind auch für Westafrikanötig. Dort bahnt sich die nächste Hungersnot an. Beidem Besuch einer Delegation des Entwicklungsaus-schusses in Niger schlug der dortige PremierministerAlarm. Deshalb fordert die Linke heute, 60 MillionenEuro zur Verfügung zu stellen, um die sich anbahnendeHungerkatastrophe in Westafrika zu verhindern. Organi-sationen wie das Welternährungsprogramm und dieWelthungerhilfe können mit dieser vergleichsweise klei-nen Summe Menschenleben retten. Lassen wir nicht zu,

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Niema Movassat

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dass sich die schrecklichen Bilder aus Ostafrika wieder-holen!

(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

Das Entwicklungsministerium scheint die Warnungendiesmal ernst zu nehmen. Es hat die Ursachen benannt:nicht nur zu geringe Niederschläge, sondern auch Preis-steigerungen bei Nahrungsmitteln auf den Weltmärkten.Die Nahrungsmittelpreise steigen wegen Nahrungsmit-telspekulationen; Frau Wöhrl hat es angesprochen. Manmuss endlich gegen diese Zockerei mit Nahrungsmittelnvorgehen. Hierzu sind viele Worte gefallen. Es müssenendlich Taten folgen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Sogar die USA sind mit einem Transparenzgesetz ei-nen ersten Schritt gegen Nahrungsmittelspekulationengegangen. Auch in Deutschland brauchen wir Maßnah-men, bis hin zum kompletten Verbot der Spekulation mitNahrungsmitteln. Dies wäre ein erster wichtiger Schritt,damit kein Mensch mehr an Hunger sterben muss, undes kostet keinen Cent.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Thilo Hoppe hat das Wort für Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe festgestellt, dass ich heute ein kleines Jubiläumhabe: Ich spreche zum zehnten Mal in der Schlussde-batte, also in der zweiten Lesung zum Einzelplan 23.

(Beifall des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])

Wenn man die ersten Lesungen dazuzählt, dann wird dasdie 18. oder 19. Rede zum Entwicklungshaushalt sein. Esist gar nicht so einfach, hier immer etwas Neues zu sa-gen.

(Dr. Christiane Ratjen-Damerau [FDP]: Ja, schön!)

Ich kann aber sagen: Es gibt eine Kontinuität. Ich habeimmer kritisiert, dass zu wenig in diesen Haushalt einge-stellt wurde – auch in rot-grünen Zeiten.

Ich habe mir diese Reden noch einmal angeschaut,durchgelesen – eine kann man sich sogar bei YouTubeanschauen – und festgestellt: Es gab meistens einenStimmungsumschwung von der ersten zur zweiten Le-sung. Die meisten Reden in der ersten Lesung habe ichnach dem Prinzip Hoffnung gehalten:

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Möge es uns gelingen, im Haushaltsverfahren gemein-sam noch mehr für den Entwicklungshaushalt herauszu-schlagen. In der zweiten Lesung kam dann fast immer

– bis auf eine Ausnahme – die Ernüchterung. 2004 gabes die Ausnahme: Da gab es einen erfolgreichen Auf-stand der Entwicklungspolitiker gegen den Finanzminis-ter und gegen die Chefhaushälter. Damals haben wir einePlafond-Erhöhung von etwa 100 Millionen Euro erreicht.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Aber was war denn 2005 und 2006?)

Das war keine Verschiebung innerhalb des Haushalts,sondern das waren im Vergleich zum Regierungsentwurfetwa 100 Millionen Euro mehr, allerdings auf einem ins-gesamt zu geringen Niveau.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Da fällt mir ja gleich der Kitt aus der Brille!)

Ich muss zugeben, dass in diesem Jahr die Enttäu-schung bei der zweiten Lesung besonders groß ist. Dashängt natürlich mit der Aufbruchstimmung im März zu-sammen, als wir den entwicklungspolitischen Konsensvorgestellt haben und die Presse gewettet hat: Daskommt über den Kreis der sogenannten Gutmenschengar nicht hinaus. – Es gab damals unglaublich viel Un-terstützung: nahezu alle NGOs, die Kirchen, Promi-nente, Andris Piebalgs. Viele haben diesen Aufruf alsounterstützt. Zum Schluss haben ihn 372 Parlamentarieraller Fraktionen auch unterschrieben.

Wir haben also zwar eine Mehrheit hier im Hause,aber leider nicht die Mehrheit in den Koalitionsfraktio-nen. Trotzdem möchte ich mich bei den Kollegen vonUnion und FDP bedanken, die sich für diesen Aufrufeingesetzt haben, denen es aber leider nicht gelungen ist,in ihren jeweiligen Fraktionen eine Mehrheit dafür zubekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

– Ja, das verdient natürlich Dank und Applaus.

Insgesamt ist es aber schon bitter. Wir haben wirklichgehofft, dass es uns gemeinsam gelingen würde, zu ei-nem ernsthaften Aufwuchs zu kommen. Man kann daszwar immer wieder als Rekordhaushalt bezeichnen, abernichts täuscht darüber hinweg: Wenn wir heute bzw. amFreitag darüber abstimmen, dann ist die Entscheidungdefinitiv gefallen – das wird uns auch durch den Ent-wicklungsausschuss der OECD bescheinigt –, dass wirdas 0,7-Prozent-Ziel nicht mehr fristgerecht bis 2015 er-reichen können; denn die ODA-Lücke wird zu groß.Man kann in nachfolgenden Jahren dann nämlich nichtohne Weiteres auf einmal so viel Geld zur Verfügungstellen, dass das Ziel doch noch bis 2015 erreicht wird,selbst dann nicht, wenn man jetzt Lottoscheine ausfüllenwürde und unverschämt viel Glück hätte;

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Dann hättest du die Knete verspielt!)

denn bei den Programmen und Projekten geht es ja auchdarum, dass sie anständig geplant werden müssen unddass eine Vorlaufzeit notwendig ist. Man kann nicht jedex-beliebige Summe auf die Schnelle absorbieren.

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Thilo Hoppe

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(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die Haushaltsstruktur stimmt nicht!)

Deswegen wäre es wichtig gewesen, dass wir nichtnur deutlich mehr Barmittel einstellen. Im Konsens ha-ben wir ja nicht nur allgemein 0,7 Prozent gefordert,sondern eine ganz konkrete Summe, nämlich 1,2 Milliar-den Euro mehr für Entwicklungszusammenarbeit undhumanitäre Hilfe. Es geht darum, die ODA-Quote ressort-übergreifend gemeinsam zu erreichen. Nur so wäre esmöglich gewesen, das Ziel doch noch zu erreichen.

Wie gesagt: Dies ist jetzt eigentlich die letzte Aus-fahrt von der Autobahn, von der abschüssigen Strecke,die uns zum Wortbruch führt. Das ist, wie gesagt,schade; das ist bitter. Sagen Sie jetzt bitte nicht, dieseSumme sei unrealistisch gewesen. Wir haben in diesenMonaten hier in diesem Hause ganz andere Summen be-wegt. Das ist einzig und allein eine Frage der Prioritäten-setzung. Diese Frage hat die Mehrheit von Union undFDP – ich spreche ja nicht von allen – leider auf eine Artund Weise beantwortet, die, wie ich glaube, eine Mehr-heit hier im Parlament und auch in der Bevölkerungnicht in Ordnung findet, enttäuschend findet, als Armuts-zeugnis empfindet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Wir haben einen Haushalt vorgelegt, der durchgerech-net ist, in dem alle Einzelposten abgefragt wurden undder auch mit den Durchführungsorganisationen durchge-sprochen ist. Er wäre realistisch gewesen. Damit hättenwir den notwendigen Schritt getan, aber leider wird eskeine Zustimmung dafür geben. Das finde ich sehr ent-täuschend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Jürgen Klimke hat jetzt das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jürgen Klimke (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondereder Opposition! Es ist eine alte Tradition und Ihr gutesRecht, gerade bei den Haushaltsberatungen, also bei derAbrechnung, nur die Fehlleistungen der Regierung zusehen und aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen.Aber die verbale Aufrüstung und die Polemik führen unsnicht weiter. Es geht vielmehr darum, die Zukunft derEntwicklungspolitik strategisch zu gestalten.

Hier würde ich mich über die Anerkennung des Mu-tes freuen, mit dem wir unsere Entwicklungspolitik ver-suchen zukunftsfähig zu machen. Wenn Anerkennungvielleicht zu viel sein sollte, dann wären konstruktiveGegenvorschläge gut. Aber wenn überhaupt keine Alter-nativen kommen oder die Alternativen meistens von ges-tern sind, dann ist das keine konstruktive Diskussion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Feiern zum 50-jährigen Jubiläum der Entwick-lungszusammenarbeit liegen nur wenige Tage zurück.Aber es ist aus meiner Sicht eine Zeitenwende. Es gehtmir darum, die strategische Ausrichtung unserer Ent-wicklungszusammenarbeit in diesem Zusammenhang zuanalysieren und deutlich zu machen, dass sich die Ent-wicklungszusammenarbeit mehr als andere Bereiche imUmbruch befindet.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege, Herr Raabe möchte Ihnen gern eine

Zwischenfrage stellen.

Jürgen Klimke (CDU/CSU):Nein, das machen wir hinterher bei einem Kaffee. –

Hier ist die Handschrift der christlich-liberalen Koalitiondeutlich zu spüren, auch wenn wir von der Union sicher-lich nicht alle Spuren der Vorgängerregierung tilgenkonnten, was wir, vielleicht anders als der Herr Minister,auch nicht unbedingt wollten.

Wir versuchen, kräftig umzubauen. Die Stichwortedieses Umbaus bzw. Aufbaus sind inzwischen schon ge-fallen, also: Vorfeldreform, Konzentration der Länder-liste, die Effektivierung unserer Arbeit, die Kohärenz,die stärkere Nachhaltigkeit bei den Maßnahmen und vorallen Dingen auch eine bessere Serviceorientierung. Aufall diese Punkte könnte man ausführlich eingehen. Ichmöchte jedoch drei weitere Themen kurz ansprechen.Ein Thema hat die Kollegin Wöhrl – das ist der erste As-pekt, die Einbeziehung der Wirtschaft – bereits ange-sprochen. Deshalb will ich darauf nur kurz eingehen.

Man kann es aus unserer Sicht nicht oft genug sagen:Die richtige Nutzung der Finanzkraft der Wirtschaft aufder einen Seite und die Schaffung von Chancen für deut-sche Unternehmen auf der anderen Seite, beispielsweisefür einen Marktzugang, sind nicht ehrenrührig. Wenndas richtig angegangen wird, kann das beiden Seiten die-nen, also auch den Partnerländern der deutschen Ent-wicklungszusammenarbeit. Das gilt im Übrigen auch fürdie Rohstoffversorgung. Hier sei nur das Konzept derRohstoffpartnerschaft genannt.

Gleichzeitig kann die Einbindung der Wirtschaft indie Entwicklungszusammenarbeit massiv zur Erhöhungmenschenrechtlicher, ökologischer und sozialer Stan-dards in den Entwicklungsländern beitragen, vor allenDingen auch im Zusammenhang mit der Unternehmens-verantwortung der Wirtschaft vor Ort. Zudem verfügtunsere Wirtschaft über ein Know-how, das wir entwick-lungspolitisch noch viel mehr nutzen sollten und kön-nen. Lassen Sie mich zum Beispiel auf das duale Systemverweisen, die berufliche Bildung. Hier wie auch bei denPPP-Programmen gibt es viele Förderinstrumente, dieeine noch sehr viel intensivere Zusammenarbeit ermögli-chen, auch zum Vorteil der Entwicklungsländer.

Ein zweites Thema, das ich für die Zukunft der deut-schen Entwicklungszusammenarbeit für ebenso wichtighalte, ist die Evaluierung unserer Arbeit, oder anders for-muliert: die starke Fokussierung auf die erzielten Wir-kungen. Das erfordert eine ganz andere Herangehens-weise und ist auch nicht so einfach wie die Über-

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Jürgen Klimke

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wachung der Durchführung von Leistungen. Zukünftigwollen wir nicht die Umsetzung von Maßnahmen evalu-ieren, sondern wir wollen beurteilen, ob der erhoffte ent-wicklungspolitische Nutzen eingetreten ist. Das machtdie Entwicklungszusammenarbeit effizienter und nach-haltiger.

Auf nationaler Ebene haben wir die Schaffung einesunabhängigen Evaluierungsinstituts vor uns. Das ist einwichtiger Schritt in eine richtige Richtung. Wir werdenversuchen, sehr intensiv an der konkreten Ausgestaltungmitzuarbeiten.

Eine dritte Herausforderung, die aus meiner Sicht mitder Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit inVerbindung steht, betrifft die Frage der Konditionierungvon Entwicklungsmaßnahmen. Der Begriff „Konditio-nierung“ bedeutet in unserem entwicklungspolitischenKontext die Erteilung von Auflagen an den Empfängerder Mittel. Eine in diesem Sinne von den Staaten zu er-füllende Bedingung ist vor allem eine gute Regierungs-führung, Stichwort „Good Governance“. Es sollte selbst-verständlich sein, dass wir in Staaten, in denen dieseVoraussetzungen fehlen und auch keine positive Ent-wicklung in dieser Hinsicht feststellbar ist, bestimmteFormen der Entwicklungsarbeit nicht ohne Weiteresdurchführen können und vor allen Dingen wollen.

Diese Erkenntnis haben die Parteien des linken Spek-trums aus meiner Sicht noch nicht verinnerlicht.

(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich möchte das an zwei Beispielen deutlich machen.

Zunächst geht es mir um die Verknüpfung von Men-schenrechten und entwicklungspolitischen Maßnahmen.Niemand stellt in Abrede, dass die Einhaltung von Men-schenrechten in der Entwicklungszusammenarbeit schonlänger eine Rolle spielt. Aber erst die christlich-liberaleRegierung hat es fertiggebracht, ein verbindliches, kohä-rentes Menschenrechtskonzept vorzulegen. Alle Ent-wicklungsprojekte werden zukünftig einem Menschen-rechts-TÜV unterzogen.

Diese entwicklungspolitische Vorgabe des BMZ um-fasst unter anderem einen Kriterienkatalog, mit dem dieRegierungsführung und die Menschenrechtssituation inden Partnerländern bewertet und beurteilt werden.Grundlage sind die Umsetzung der Menschenrechtskon-vention in nationales Recht, die Schaffung entsprechen-der Institutionen und Verfahren sowie die Ergebnisse derUmsetzung zentraler Menschenrechte. Die Ergebnisseder Bewertung sind dann Grundlage für Art und Ausge-staltung unserer entwicklungspolitischen Zusammenar-beit.

Hiermit haben wir ein völlig neues Instrument ge-schaffen, das aus meiner Sicht auch das Zeug zu einerVorbildfunktion gegenüber unseren europäischen Part-nern hat. Das habe ich im Übrigen in Brüssel sehen kön-nen, als wir dort kürzlich mit den Menschenrechtlern,den Entwicklungspolitikern und den Außenpolitikernder EU zusammengetroffen sind. Der Menschenrechts-

TÜV ist somit eine Entwicklung, die unter der SPD-Füh-rung des BMZ verschlafen wurde, auch weil die Minis-terin dies damals nicht wollte.

Dass eine solche Konditionierung wirksam ist, zeigtdas Beispiel Uganda. Als dort die Todesstrafe auf Ho-mosexualität eingeführt werden sollte, haben wir ange-kündigt, dass wir dann die Entwicklungszusammenar-beit beenden würden. Das Land hat das Vorhaben dannzurückgezogen.

Wir wollen die Rolle der Konditionierung sogar nochstärken. Denn die geplante Verdoppelung der Mittel auf0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens – das wollenwir erreichen – und die Konzentration auf die Hälfte derAnzahl der Partnerländer werden rein rechnerisch dieMittel pro Land vervierfachen. Das bedeutet, dass wir,wenn mehr Geld fließt, auch verstärkt Konditionen andie Vergabe des Geldes knüpfen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Im Übrigen gilt alles, was ich eben sagte, auch für dieKorruption. Wir haben das im Zusammenhang mit demGFATM ausführlich diskutiert. Ich glaube, dass das Ein-frieren der Mittel durch das BMZ zunächst richtig war;denn wir sind als Parlamentarier den Steuerzahlern ver-pflichtet. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern im-mer wieder deutlich machen, dass wir bei jedem einzel-nen Cent, der irgendwohin fließt, darauf achten, dass errichtig angelegt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass wir Steuergelderzum Fenster hinauswerfen, nur weil internationale Orga-nisationen ihre Aufgaben nicht richtig gemacht haben.

(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Lieber HerrKlimke, das stimmt doch so gar nicht! Daswissen Sie doch!)

Hier haben wir die Notbremse gezogen, und das ist auchrichtig.

Meine Damen und Herren, die genannten Beispielezeigen, dass wir in der Entwicklungszusammenarbeitnicht unbedingt das Rad neu erfinden müssen. Aber wirkönnen ganz entschieden Akzente setzen, und wir kön-nen vor allen Dingen durch neue Herangehensweisendeutlich machen, dass unsere Arbeit wirksamer undnachhaltiger ist.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Jürgen Klimke (CDU/CSU):Das haben wir uns, vor allem als Union, für die Zu-

kunft in der Entwicklungszusammenarbeit vorgenom-men.

Danke sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Für die SPD-Fraktion hat jetzt Sascha Raabe das

Wort.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Sascha Raabe (SPD):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Lieber Herr Hoppe, auch ich bin nunschon eine Weile bei Haushaltsdebatten dabei. In der Tatwar es noch nie so einfach wie in diesem Haushaltsjahrfür einen Entwicklungsminister, mit der Unterstützungvon 372 Kolleginnen und Kollegen einen deutlichenSchritt hin auf das 0,7-Prozent-Ziel im Jahr 2015 zu ma-chen. Aber dieser Minister – das ist eine Schande – hatdas nicht einmal versucht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser Minister hat sich nicht hinter das Parlament ge-stellt, er hat sich auch nicht hinter die Ärmsten der Ar-men gestellt, sondern er hat einfach gesagt: Das, was dieMehrheit des Deutschen Bundestags möchte, interessiertmich nicht. – Es interessiert ihn nicht, dass er in derPflicht steht, 1 Milliarde hungernden Menschen zu hel-fen, denen man natürlich auch mit Geld helfen muss.

Er hat das einfach ignoriert und auch nicht aufgenom-men, was Sie, Herr Kollege Klimke, gesagt haben. Siehaben behauptet, es gebe keine Alternativen. In diesemJahr war die Finanztransaktionsteuer, die wir als Ent-wicklungspolitiker vor 10, 20 Jahren – damals noch un-ter dem Namen „Tobin-Tax“ – immer wieder eingefor-dert haben, so greifbar nahe wie noch nie aufeuropäischer Ebene. Anstatt dass der Entwicklungsmi-nister jetzt den parteiübergreifenden Rückhalt des Parla-ments aufnimmt und sich dafür einsetzt, den Aufwuchs,den wir brauchen, mithilfe der Finanztransaktionsteuerzu finanzieren, also die besten Bedingungen nutzt, ist erderjenige in der Bundesregierung, der die Finanztransak-tionsteuer bis heute ablehnt, weil ihm freie Märkte undGewinne für Banken und Spekulanten wichtiger sind alsHilfe für die Armen. Herr Minister, das ist schäbig.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heinz-PeterHaustein [FDP]: Dummes Zeug!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege Raabe, möchten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Fischer zulassen?

Dr. Sascha Raabe (SPD):Gerne.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Bitte schön.

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):Herr Kollege Raabe, auch ich gehöre zu den über

300 Kolleginnen und Kollegen, die diesen Appell unter-schrieben haben. Wir haben diesen Appell natürlich un-

terschrieben, weil das unsere Zielsetzung ist. Aber es istfür jeden von uns, der unterschrieben hat, vollkommenklar, dass das nicht ausschließlich eine Aufforderung anden Minister ist, sondern dass diese Frage in die finanzi-elle Gesamtsituation dieses Landes eingepasst werdenmuss. Wer heute Herrn Steinmeier oder Herrn Gabrielhat reden hören, hat gehört, wie die finanzielle Lage ins-gesamt ist und welche finanziellen Möglichkeiten beste-hen.

Es gehört zur Redlichkeit, Folgendes – ich habe dasgerade ausgerechnet – zu erwähnen: 3,9 Milliarden Eurostanden im Haushalt 1998. Wenn der Aufwuchs währendIhrer Regierungszeit so wie der während der Großen Ko-alition und der darauffolgenden Koalition gewesen wäre,hätten wir bereits im Jahre 2005 einen Haushaltsansatzvon 7,4 Milliarden Euro gehabt, und wir hätten jetzt mitdem Zuwachs, den wir in den vergangenen Jahren zuverzeichnen hatten, 9,4 Milliarden Euro. Damit hättenwir fast das 0,7-Prozent-Ziel erreicht.

Es kommt immer auf die Basiswerte an. Ich möchteSie um Redlichkeit bitten und darum, anzuerkennen,dass Sie in der Zeit, in der Sie Verantwortung getragenhaben, nichts in Sachen Aufwuchs erreicht haben. ImGegensatz dazu steht das, was wir seit 2005 erreicht ha-ben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Sascha Raabe (SPD):Herr Kollege Fischer, gerne beantworte ich Ihre

Frage. Zum ersten Teil, nämlich wie die Kollegen Stein-meier und Gabriel dazu stehen, sage ich Ihnen: Sowohlder Kollege Sigmar Gabriel als auch der Kollege Frank-Walter Steinmeier haben den entwicklungspolitischenKonsens unterschrieben. Sie stehen damit in vordersterFront der Fraktion und der Partei für dieses Konzept,welches besagt, in den nächsten vier Jahren jeweils1,2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung zu stellen. DerEntwicklungsminister, der eigentlich der Erste seinmüsste, der so etwas unterschreibt, hat nicht unterschrie-ben. Wir als SPD sind uns einig, dass wir diesen Pfad ge-hen wollen. Wir haben bewusst gesagt, dass wir auchuns selbst in die Pflicht nehmen, weil wir davon ausge-hen, dass wir ab 2013 dem schwarz-gelben Spuk einEnde machen und wieder an der Regierung sein werden.Wir haben gesagt, dass wir auch dann 1,2 MilliardenEuro mehr zur Verfügung stellen werden.

Ich möchte auch auf Ihre Behauptung antworten, dasswir in den vergangenen Jahren, als wir Regierungsver-antwortung getragen haben, keinen Aufwuchs bei derODA-Quote gehabt hätten. Zu dem, was Sie über dieJahre 2002 bis 2005 gesagt haben – Sie haben nur dieZahl im Einzelplan 23 genannt –, muss man wissen, dasswir einen enormen Schuldenerlass hatten. Dieser ba-sierte auf unserer Initiative in Köln beim G-8-Gipfel.Wir haben Tausenden von Kindern in Afrika ermöglicht,in die Schule zu gehen, weil wir afrikanischen Länderndie Schulden erlassen haben. Das war ODA-anrech-nungsfähig. Deswegen mussten wir den Ansatz im Ein-zelplan 23 nicht so stark steigern.

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Dr. Sascha Raabe

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Wir haben dann in der Großen Koalition von 2005 bis2009 – Herr Fischer, deswegen wundern mich Ihre Äuße-rungen und die Ihrer Kollegen von der CDU –, als die Eu-ropäische Union im Jahr 2005 auf Druck von HeidemarieWieczorek-Zeul erstmals völkerrechtlich verpflichtendden Beschluss gefasst hat, den ODA-Stufenplan verbind-lich zu machen, beschlossen, im Jahr 2010 0,51 Prozentund im Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-mens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfü-gung zu stellen. Damals haben wir Aufwüchse gehabt.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja, in der Regierungszeit Merkel!)

Ich lese Ihnen das gerne einmal vor: im Jahr 20068,2 Prozent,

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Merkel!)

im Jahr 2007 unter Entwicklungsministerin HeidemarieWieczorek-Zeul und Finanzminister Peer Steinbrück7,6 Prozent,

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Merkel!)

im Jahr 2008 14,3 Prozent

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Merkel! Wo sind die sieben Jahre Schröder?)

und im Jahr 2009 13,2 Prozent. Sie haben gerade gesagt,in diesen Jahren sei nichts passiert.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nein, „von 1998 bis 2005“ habe ich gesagt!)

– Herr Kollege, seit es den Stufenplan gibt, haben wir inden letzten beiden Jahren vor Herrn Niebels AmtszeitAufwüchse im Bereich von 14,3 Prozent und 13,2 Pro-zent gehabt. Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht – FrauMerkel ist noch immer Bundeskanzlerin; da haben Sierecht –,

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie bleibtdas auch! Wir haben das gestern schon bespro-chen! Mindestens bis 2020!)

warum diese Kanzlerin das, was sie auf jedem Kirchen-tag sagt, nämlich dass sie zu diesem Versprechen steht,mit diesem Minister nicht umsetzt.

Herr Niebel, ich verstehe nicht – Sie sind doch sonstimmer so großspurig, sage ich einmal –, dass Sie es nichtschaffen, mit der Kanzlerin zu vereinbaren, dass Sie we-nigstens die gleichen Aufwüchse bekommen, wie sieIhre Vorgängerin bekommen hat. Es ist wirklich sehrschwach, Herr Minister, wenn Sie sich da mit ein paarProzent zufrieden geben. Es wären jetzt 1,8 Prozent ge-wesen, wenn man die Goldreserven herauslässt, die da-zugekommen sind. Das „Projekt 18“, das die FDP ein-mal vorhatte, hätten Sie lieber auf den Haushaltübertragen sollen. Da sind Sie bei 1,8 Prozent gelandet,genauso wie mit Ihrer Partei in Berlin. Da gehören Siemit diesem Haushalt auch hin.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Jetzt hätte Frau Pfeiffer noch eine Zwischenfrage.

Möchten Sie auch diese zulassen?

Dr. Sascha Raabe (SPD):Gerne.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Bitte schön.

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):Herr Kollege Raabe, ich habe gar keine Frage, son-

dern möchte folgende Feststellung machen: Wir habendiesen 0,7-Prozent-Aufruf zum Großteil unterschrieben,und zwar mit dem Vermerk, dass wir etwas vermeidenwollen, nämlich genau das, was hier passiert und was ichbeobachte: dass wir uns nach wie vor gegenseitig Vor-würfe machen, wer was wann getan hat, nicht getan hat,hätte tun sollen und was weiß ich was.

Dr. Sascha Raabe (SPD):Ja, der Kollege Fischer.

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):Ich behaupte: Das, was heute hier passiert und was

wir die ganze Zeit beobachten, ist rein theoretisch dieAufkündigung dieser Vereinbarung. Wir haben gesagt,dass wir genau das vermeiden wollen. Sie haben denAufwuchs nicht geschafft, und auch wir werden das nurbedingt schaffen. Wir hatten in den letzten Jahren einenAufwuchs, aber nie so hoch, wie wir es gewollt haben.Wir alle haben gesagt, dass wir einen Aufwuchs auf0,7 Prozent wollen. Irgendwann werden wir ihn mit mei-ner Unterstützung hoffentlich auch bekommen. Die Auf-kündigung dieses Konsenses ist meiner Meinung nachhier und heute passiert, indem wir das getan haben, wasHauptbestandteil des Konsenses war; denn eigentlichwollten wir uns gegenseitig keine Vorwürfe machen.

Sie brauchen nicht darauf zu antworten, Herr Kollege.Ich wollte das nur einmal feststellen.

Dr. Sascha Raabe (SPD):Doch, ich antworte gerne darauf, Frau Kollegin. Bei

dem Konsens – auch ich habe ihn unterschrieben – ginges doch nicht darum, dass wir etwas herbeibeten, uns et-was herbeiwünschen oder dass wir „Friede, Freude, Ei-erkuchen“ sagen nach dem Motto: Wir machen unskeine Vorwürfe. – Wir haben den Konsens vielmehr ge-macht, um in die Zukunft zu gucken und zu sagen: ImHaushalt 2012 fangen wir an, bis 2015 jeweils 1,2 Milli-arden Euro mehr zur Verfügung zu stellen.

Frau Kollegin, ich muss sagen: Es ist wirklich unkol-legial und ein Hammer von Ihnen, dass Sie sagen, derKonsens sei daran gescheitert, dass wir beklagen und an-prangern, dass dieser Minister unseren gemeinsamenKonsens einfach nicht umsetzt und anstatt 1,2 MilliardenEuro nur ein paar Millionen Euro in den Haushalt ein-stellt. Der Konsens ist heute hier in diesem Hause end-gültig gescheitert, weil dieser Minister das Geld imHaushalt 2012 nicht zur Verfügung stellt. Frau Kollegin,

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 17007

Dr. Sascha Raabe

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die Grundrechenarten werden wohl auch Sie ein biss-chen können. Das darf doch nicht wahr sein! RechnenSie doch einmal nach, welche Lücke zwischen 1,2 Mil-liarden Euro und den nun vorgesehenen 163 MillionenEuro klafft! Ich mache es Ihnen einfach, Frau Kollegin:Über 1 Milliarde Euro fehlt. Damit ist der Konsens auf-gekündigt. Das können Sie doch nicht in Abrede stellen.Es ist sehr schade, dass der Minister den Konsens aufge-kündigt hat.

(Beifall bei der SPD – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir haben doch nicht den Konsens un-terschrieben, damit der Minister das umsetzt!Was ist das denn?)

Der Minister hat auch den Konsens über andere par-teiübergreifenden Initiativen des Hauses, für die wir ge-meinsam zwei, drei Jahre gekämpft haben, mit diesemHaushalt aufgekündigt. Ich erinnere daran, dass 2008eine Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung nach Ecuador gereist ist.Ich habe damals die Ehre gehabt, diese Delegation zuleiten. Wir sind nach Ecuador gereist, um zu schauen, obes möglich ist, ein armes Land wie Ecuador zu unterstüt-zen, wenn es darauf verzichtet – das geht auf einen Vor-schlag der dortigen Regierung zurück –, Erdöl in einemRegenwaldgebiet zu fördern, das aufgrund seiner Bio-diversität, also seiner Artenvielfalt, einmalig ist. Der Prä-sident von Ecuador hat gesagt, wenn die internationaleGemeinschaft die Hälfte der möglichen Einnahmen ausder Erdölförderung ersetze, sei er bereit, auf die Erdölför-derung zu verzichten, den Lebensraum für die indigeneBevölkerung bestehen zu lassen und die Artenvielfalt zuschützen. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Par-teien haben damals gesagt: Ja, wir wollen diesen Vor-schlag unterstützen. – Dann wurden viele technischeFragen geklärt. Es gab viele Gespräche, auch direkt mitVertretern der ecuadorianischen Regierung. Schließlichhaben die damalige Ministerin und ihr StaatssekretärEcuador mitgeteilt, dass das Land für dieses Projekt mitungefähr 50 Millionen US-Dollar pro Jahr rechnenkönne. Das entspricht der Größenordnung, die Deutsch-land in ähnlichen internationalen Vereinbarungen festge-legt hat. Ich bin sehr froh, dass alle – CDU/CSU, FDP,Linke, Grüne und SPD – gesagt haben: Ja, das wollenwir.

Ähnlich wie beim entwicklungspolitischen Konsensist es enttäuschend, dass Minister Niebel nun sagt, dasinteressiere ihn nicht, da werde ein Präzedenzfall ge-schaffen. Da könne auch Saudi-Arabien kommen undfordern, dass seine Einnahmen ersetzt werden, wenn esauf die Erdölförderung verzichtet.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die Argumentation war schon etwas differenzierter!)

Herr Minister, wenn Sie schon nicht die Artenvielfalt inder Wüste von der Artenvielfalt im Regenwald unter-scheiden können, dann sollten Sie wenigstens in derLage sein, einen reichen Ölstaat von einem Entwick-lungsland zu unterscheiden.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Völlig daneben!Dass Sie auch noch die Stirn haben, Italien dafür zu kri-tisieren, dass es Schulden umwandelt, um in den entspre-chenden Fonds einzuzahlen, ist erbärmlich. Das ist aufder gleichen Linie wie damals, als Sie, als wir währendder Bankenkrise den Entwicklungsländern 100 Millio-nen Euro zur Verfügung gestellt haben, gesagt haben, da-für solle man lieber 2 500 Grundschullehrer einstellen.Sie spielen die Schuldenkrise in Europa oder sozialeProbleme in Deutschland gegen die Probleme und denHunger in der Welt aus. Das ist schäbig, Herr Minister.Das ist Stammtischniveau. Das haben diese Diskussionund der Entwicklungsausschuss nicht verdient.

(Beifall bei der SPD)

Mit dem Thema Artenvielfalt scheinen Sie in der Tatein gewisses Problem zu haben. Sie schützen nicht nurnicht die Artenvielfalt des Regenwaldes. Wenn man sichdie Personalstruktur Ihres Hauses anschaut, dann stelltman fest – Herr Kollege Binding hat das schon ange-sprochen –, dass Sie nicht die roten oder die grünen, son-dern nur die gelben Vögel fördern, um im Bild des Re-genwaldes zu bleiben. Angesichts der Personalstruktur,die Sie geschaffen haben, schreiben die Zeitungen, dassdas nichts anderes als Vetternwirtschaft ist und dass dasMinisterium zu einem Versorgungsamt für FDP-Funk-tionäre verkommen ist.

Vor diesem Hintergrund werden wir den Haushalt,den Sie hier vorgelegt haben, Herr Minister, leider ableh-nen müssen.

Im Anschluss werden wir auch über unsere Ände-rungsanträge abstimmen. Wir wollen gemäß dem ent-wicklungspolitischen Konsens 1,2 Milliarden Euromehr für Entwicklungszusammenarbeit, und wir wollenim Interesse der Artenvielfalt und des Regenwaldes inEcuador, dass der Yasuní-Nationalpark geschützt wird.Ich hoffe, dass möglichst viele Kolleginnen und Kolle-gen im Parlament dem zustimmen, auch wenn der Mi-nister seine Zustimmung leider verweigert und blockiert,anstatt die Sache zu befördern.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Der hat ein Minister-Syndrom!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Zu einer Kurzintervention geht das Wort an den Kol-

legen Thilo Hoppe.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Ich möchte als einer der Mitinitiatoren des entwick-

lungspolitischen Konsenses gern eines klarstellen: ZumGeist dieses Konsenses gehört es, dass wir aufhören mitgegenseitigen Schuldzuweisungen in die Vergangenheithinein.

(Dr. Christiane Ratjen-Damerau [FDP]: Wer macht das denn?)

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Thilo Hoppe

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– Das haben viele heute gemacht, aus mehreren Fraktio-nen. – Die Wahrheit ist: Von keiner Regierung sind bis-her die Aufwüchse in den Haushalt eingestellt worden,die notwendig gewesen wären, um dem 0,7-Prozent-Zielernsthaft näher zu kommen. Der Streit darüber, welcheRegierung das Wort etwas mehr oder etwas weniger ge-brochen hat, führt überhaupt nicht weiter. – Das ist daseine.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Dr. Christiane Ratjen-Damerau[FDP] und Heike Hänsel [DIE LINKE])

Das andere ist: Es steht nicht in dem Konsens, dass ir-gendwann einmal 0,7 Prozent erreicht werden sollen,wenn die Haushaltslage gut ist, sondern es ist eine ArtSelbstverpflichtung gewesen, sich mit allen Kräften da-für einzusetzen, dass im Haushalt 2012 für Entwick-lungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe 1,2 Milliar-den Euro mehr eingestellt werden. Darüber, dass diesnicht erfolgt ist, kann man zu Recht enttäuscht sein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Ein Punkt noch: Bei aller berechtigten Kritik – nichtder Entwicklungsminister allein bestimmt den Etat. Mankann fragen, ob er hart genug dafür gekämpft hat, ob erden Konsens unterstützt oder ob er diesen Rückenwindgenutzt hat. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat sich fürmehr Geld für ihr Ressort eingesetzt, hat sich aber oftnicht durchsetzen können. Man kann also nicht alleinden Entwicklungsminister dafür verantwortlich machen.Aber er hätte mehr kämpfen können und diesen Rücken-wind mehr nutzen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat Johannes Selle für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Johannes Selle (CDU/CSU):Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! In den letzten Wochen und Mona-ten hat das Thema Sparen in unseren Beratungen zumHaushalt 2012 eine große Rolle gespielt. Heute Morgenwurde uns von der Opposition vorgehalten, wir würdendas nicht konsequent genug machen. Konsolidierungbleibt unsere Verpflichtung. Heute Morgen war auchvom intelligenten Sparen die Rede. Für mich ist das keinSchimpfwort, sondern die Anerkenntnis, dass nicht jedespolitische Anliegen die gleiche politische Bedeutung be-anspruchen kann.

Die Not anderer Menschen zu sehen und sich zu fra-gen: „Was können wir tun?“, ist menschlich und vongrößter Bedeutung. Der entwicklungspolitische Haushaltsteigt gegenüber dem Vorjahr um 2,63 Prozent und da-mit wesentlich stärker als der Gesamthaushalt, der fastkonstant bleibt. Dass die Bedeutung der internationalenwirtschaftlichen Zusammenarbeit für Deutschland ge-

wachsen ist, kann man daran zum Teil ablesen. Ein Par-lamentarier weiß, dass für eine solche Entwicklung im-mer wieder mit guten Argumenten geworben werdenmuss, um eben Mehrheiten – hier für fast 164 MillionenEuro mehr – zu finden.

Liebe Kollegin der Opposition, Sie haben richtig be-merkt, dass nicht alle Wünsche der Entwicklungspoliti-ker der christlich-liberalen Koalition in Erfüllung gegan-gen sind.

(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Ihr hattet überhaupt nur einen Wunsch!)

Lieber Kollege Hoppe, herzlichen Dank für die nach-trägliche moderate Einschätzung der ganzen Geschichte.

An den Kollegen Raabe eine Bemerkung: Herr Fi-scher hat vollkommen recht. Eine große Differenz aufzu-holen, ist sehr viel schwerer, als eine kleinere Differenzaufzuholen. Wir agieren inzwischen in einem internatio-nalen Umfeld, in dem wir die Balance halten müssen.

Lassen Sie mich dennoch allen Kollegen Dank sagen,die mit guten Anträgen und mit Argumenten dazu beige-tragen haben, dass der Etat mehrheitlich Zustimmungfindet.

Dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung stehen knapp 2,1 Prozentdes Gesamthaushalts zur Verfügung. Über 50 Prozentdes Gesamthaushalts geben wir für soziale Zwecke inDeutschland aus. Ich sage das, weil ich immer wiederdie Frage beantworten muss, warum wir so viel Geld insAusland geben, obwohl wir im eigenen Land genügendsoziale Probleme haben. Ich denke, wir können dieseProportionen gut vertreten; denn neben der Menschlich-keit, die wir den Mitmenschen schuldig sind, tragendiese Mittel zu Frieden, zur Verringerung des Migra-tionsdrucks und zu wirtschaftlicher Entwicklung bei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir kennen viele Beispiele, die uns lehren, dass Geldallein die Probleme nicht lösen kann. Einmal geschaf-fene Fährverbindungen brechen zusammen, weil eskeine Ersatzinvestitionen gibt, einmal geschaffene Brun-nen verfallen, weil Wartung und Pflege nicht stattfinden.Die Effizienz zu erhöhen und wirklich Nachhaltigkeit zuerreichen, bleibt Daueraufgabe, umso mehr, da die Pro-bleme durch Wachstum der Bevölkerung und Verände-rung des Klimas objektiv wachsen. Durch die Globali-sierung kommen weitere Faktoren hinzu; das haben wirheute schon zur Kenntnis nehmen können.

Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob wir unse-rer internationalen Verantwortung gerecht werden kön-nen. Diese Frage kann schwer plausibel beantwortetwerden, weil nur schwer angegeben werden kann, wiehoch unsere internationale Verantwortung zu veranschla-gen ist. Wie wir gerade gehört haben, können wir trotzder beachtlichen Steigerung noch nicht unsere Selbstver-pflichtung erfüllen. Wir geben die Zielstellung trotzdemnicht auf.

(Beifall des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

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Johannes Selle

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Mit begründeter Sicherheit kann man feststellen, dasswir nicht alle Erwartungen, die an Deutschland gestelltwerden, erfüllen können. In diesem Jahr war ich mit demgeschätzten Kollegen Kekeritz von den Grünen in derZentralafrikanischen Republik, einem Land, das beimHuman Development Index auf Platz 178 von 179 Plät-zen rangiert. In fast allen Gesprächen mit Regierungs-vertretern und der Zivilgesellschaft wurden wir um einumfassendes Engagement gebeten. Unsere Expertise,unser Ansatz der nachhaltigen Entwicklung, unsere fairePartnerschaft und unsere wirtschaftliche Stellung in derWelt genießen hohe Wertschätzung. Ähnliches könnteich von der neuen Republik Südsudan, aber auch von derRepublik Sudan berichten, und auf den Wunsch nachstärkerem Engagement treffen wir nicht nur in Afrika.

Aus meiner Sicht ist es an der Zeit, dem Gedanken ei-nes stärkeren dauerhaften Engagements in einem Landoder einer Region in der Form näherzutreten, dass einProjekt mit Modellcharakter oder eine Patenschaft mög-lich wird. Das bedeutet neben finanzieller Zusammenar-beit eine vielfach höhere personelle Präsenz. AlbertSchweitzer ist für uns bis heute ein Beispiel dafür, dassErfolg vom Vormachen und Mitmachen abhängt. DasWohl der Menschen darf uns nicht nur aus der Ferne in-teressieren, sondern das Interesse daran muss zu mehrund intensiverer Nähe führen. Dadurch könnten langfris-tig der Verwaltungsaufbau und damit eine gute Regie-rungsführung unterstützt werden. Gleichzeitig würdenganzheitliche Konzepte zur Förderung der Landwirt-schaft oder Nutzbarmachung heimischer Ressourcenzum Wohle des Volkes leichter möglich. Zudem würdedie Zivilgesellschaft in Deutschland und im Partnerlandebenso motiviert wie die wirtschaftlichen Partner, ohnedie eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklungnicht funktionieren wird. Aber genau das soll das Zielwirtschaftlicher Kooperation und Entwicklung sein.

Ich finde deshalb den Ansatz des Bundesministersrichtig, Menschen aus unserem Land, die es zu einempersönlichen Anliegen gemacht haben, sich in Kirchenund Nichtregierungsorganisationen der Entwicklung inPartnerländern zu widmen, besonders zu unterstützen.Sie tun das sehr verdienstvoll. Dafür wollen wir auch andieser Stelle Dank sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Haushaltsansätze belegen diese Anerkennung.

Wenn wir über mehr Effizienz der eingesetzten Gel-der sprechen, dann heißt das nicht nur, im Partnerlanddarauf zu achten, sondern auch, die eigene Tätigkeit zuhinterfragen. Das hat Bundesminister Niebel gemachtund mit der Vorfeldreform auch erfolgreich umgesetzt.Das sollte bei einer solchen Debatte anerkannt werden,hilft es doch, Entwicklungspolitik dem Bürger gegen-über besser vertreten und die zur Verfügung gestelltenMittel effektiver zur Armutsbekämpfung einsetzen zukönnen. In diesem Sinne ist auch die Fokussierung auf50 Partnerländer, die schon zu zahlreichen Diskussionengeführt hat, zu begrüßen.

Frau Kofler, eine Bemerkung möchte ich noch ma-chen. Sie müssen wissen, dass die 200 Millionen Euro

für den GFATM in dem Haushaltstitel 866 01 unterge-bracht sind und deshalb auch zur Verfügung stehen.

An die Kollegin Hinz möchte ich den Satz richten,dass nach § 50 der Bundeshaushaltsordnung die Ministe-rien unter Zustimmung des BundesfinanzministeriumsVerschiebungen von Planstellen, Mitteln und Haushalts-stellen vornehmen können.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Darüber müssen Sie mich nichtbelehren, ich bin im Haushaltsausschuss!)

Möglicherweise ist der Zeitpunkt unglücklich – das kannsein –, in der Sache gibt es aber durchaus interessante,diskussionswürdige Aspekte. Wir werden das weiterhinkritisch begleiten. Insofern ist auch diese Kritik aus un-serer Sicht nicht gerechtfertigt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Johannes Selle (CDU/CSU):Ich bin gleich fertig.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Sie waren schon vor geraumer Zeit fertig.

Johannes Selle (CDU/CSU):Mit diesem Haushalt senden wir positive Signale, was

unser Engagement in der Welt anbelangt. Sie alle habendie Chance, einem guten Einzelplan 23 zustimmen zukönnen. Diese Chance sollten Sie sich nicht entgehenlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 23 –Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung – in der Ausschussfassung. Hierzu lie-gen uns drei Änderungsanträge vor, über die wir zu-nächst abstimmen.

Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7814. Wer stimmtdafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damitist der Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmungdurch SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke.CDU/CSU und FDP haben dagegen gestimmt.

Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Druck-sache 17/7812. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist eben-falls abgelehnt bei dem gleichen Stimmenverhältnis wiebei dem vorherigen Änderungsantrag.

Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/7813.Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem glei-chen Ergebnis abgelehnt.

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

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Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel-plan 23 – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung – in der Ausschussfassung.Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Einzelplan 23 ist somit angenommen bei Zu-stimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Opposi-tionsfraktionen haben abgelehnt.

Interfraktionell ist verabredet, den Änderungsantragder Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache17/7874 zu Einzelplan 32 – Bundesschuld – heute zu be-handeln und jetzt darüber abzustimmen. Wer stimmt fürdiesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Dieser Änderungsantrag ist einstimmig an-genommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt III auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterievor der Küste Somalias auf Grundlage desSeerechtsübereinkommens der Vereinten Na-tionen von 1982 und der Resolutionen 1814(2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008,1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1897(2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010)vom 23. November 2010 und nachfolgenderResolutionen des Sicherheitsrates der Verein-ten Nationen in Verbindung mit der Gemein-samen Aktion 2008/851/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 10. November 2008,dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 8. Dezember 2009,dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 30. Juli 2010 unddem Beschluss 2010/766/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 7. Dezember 2010

– Drucksache 17/7742 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen istes vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-minister Dr. Guido Westerwelle.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Kolleginnen und Kollegen! Die Pirateriebe-

kämpfung vor dem Horn von Afrika durch Atalanta istnicht nur breit in diesem Hause getragen, sondern sie istauch erfolgreich.

Seitdem Atalanta vor knapp drei Jahren die Arbeitaufgenommen hat, haben wir über 120 Schiffstransportedes Welternährungsprogramms schützen können, unddie Schiffe haben ihre somalischen Zielhäfen sicher er-reichen können. Über 700 000 Tonnen Nahrungsmittelund weitere wichtige Hilfsgüter konnten so nach Soma-lia gebracht werden. Nach Angaben der Vereinten Natio-nen sind insgesamt 4 Millionen Menschen auf dieseHilfe angewiesen. Damit gehört Somalia zu den größtenhumanitären Krisengebieten weltweit.

Die humanitäre Hilfe durch Lieferungen des Welt-ernährungsprogramms und anderer Hilfsorganisationenerfolgt fast vollständig auf dem Seeweg. Dass dieseHilfe bei den Menschen auch wirklich ankommt, istschon ein enormer Erfolg von Atalanta. Deswegenmöchte ich zuallererst den Frauen und Männern derBundeswehr und auch den anderen Bürgern Deutsch-lands, die bei dieser Aktion ohne Uniform engagiertsind, herzlich danken. Ich glaube, wenn man die Bildergesehen und sich ein wenig mit der Lage vor Ort befassthat, dann erkennt man: Das ist wirklich ein humanitärerAuftrag; es ist ein Gebot der Mitmenschlichkeit, dasswir die Hilfslieferungen vor Piraterie schützen. Eigent-lich müsste jeder in diesem Hohen Hause, wenn er nach-denkt und seinem Herzen folgt, diesem Mandat zustim-men.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Atalanta ist erfolgreich.Aber ich will hinzufügen: Die Pirateriebekämpfung vordem Horn von Afrika ist unzweifelhaft noch nicht amZiel. Immer noch befinden sich zehn Schiffe und etwa240 Personen in der Gewalt von Piraten. Immer nochsind die Schiffe des Welternährungsprogramms und dieHandelsschifffahrt durch die Piraterie bedroht. Zwarkönnen aufgrund des robusteren Vorgehens im Rahmenvon Atalanta und der Umsetzung von Selbstschutzmaß-nahmen in der zivilen Schifffahrt immer mehr Angriffeabgewehrt werden; die Zahl der Angriffe durch Piratenauf die Schifffahrt aber bleibt hoch. Die Gefahr, die vonden Piraten in den somalischen und den angrenzendenGewässern ausgeht, ist noch nicht gebannt.

Wir alle wissen um die großen Schwierigkeiten in So-malia; wir alle wissen um die Not der Menschen. Aberdaraus die einfache Schlussfolgerung zu ziehen, dassman die Piraterie entschuldigen oder erklären könnte,halte ich für einen schweren Fehler. Wir sollten den As-pekt der organisierten Kriminalität, die hinter dieser Pi-raterie steckt, nicht ignorieren und erst recht nicht ver-harmlosen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind darüber einig, dass wir gleichzeitig vor Ortvieles tun müssen, weil die Lage weiterhin extrem fragilist und durch die organisierte Kriminalität weiterhin ge-fährdet ist. Somalia wird noch lange nicht in der Lagesein, die Piraterie vor seiner Küste in eigener Verantwor-

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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle

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tung wirksam zu bekämpfen. Dies wird unzweifelhaftzunächst die Aufgabe der internationalen Gemeinschaftbleiben müssen.

Für die Bundesregierung bitte ich daher um Ihre Zu-stimmung zu der Fortsetzung der deutschen Beteiligungan der EU-geführten Operation Atalanta. Atalanta han-delt im Auftrag der Vereinten Nationen und auf Bittender somalischen Übergangsregierung. Der Rat der Euro-päischen Union hatte bereits am 7. Dezember 2010 dieVerlängerung von Atalanta bis zum 12. Dezember 2012beschlossen. Das heißt, das, was wir tun, ist nicht nurvölkerrechtlich gedeckt, sondern auch europäisch undinternational eingebettet.

Die Freiheit der Meere und die Sicherung der See-wege sind von besonderer strategischer Bedeutung. Daszu ignorieren, wäre ein Fehler. Es würde übrigens auchdas internationale Recht auf den Kopf stellen. Meine Da-men und Herren, Europa profitiert wie kein andererKontinent vom freien Fluss globaler Handelsströme:Durch das Seegebiet vor Somalia, vor allem durch denGolf von Aden, führt die wichtigste Handelsroute zwi-schen Europa, der arabischen Halbinsel und Asien.Diese Route offen zu halten, ist eine wichtige Aufgabeinternationaler Sicherheitspolitik und liegt im unmittel-baren deutschen Interesse. Ich kann nichts Schlechtesdaran erkennen, dass wir die Schiffe der internationalenGemeinschaft, auch unsere Schiffe, schützen. Das ist un-ser Recht. Ich glaube sogar: Es ist auch unsere Pflicht,unsere Schiffe und Besatzungen zu schützen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Deutschland gehört beiAtalanta kontinuierlich zu den führenden Beitragstellernund stellt gegenwärtig den Kommandeur der Kräfte imEinsatzgebiet. Wir werden damit unserer Verantwortunggegenüber unseren Partnern auch in der EuropäischenUnion gerecht.

Wir flankieren die Bekämpfung der Piraterie auf Seenatürlich durch Bemühungen zur Bekämpfung der Ursa-chen von Piraterie an Land und durch Unterstützungs-leistungen für den Wiederaufbau des somalischen Staa-tes. Wir leisten humanitäre Hilfe, um das unmittelbareLeid von Millionen Menschen zu lindern.

Wir tragen mit der Beteiligung an der European Trai-ning Mission Somalia, in deren Rahmen bislang rund2 000 Soldaten der somalischen Übergangsregierung aus-gebildet worden sind, zur Schaffung eines sicheren Um-feldes bei. Wir unterstützen die Ausbildung afrikanischerPolizisten, die als Trainer und Berater der somalischenPolizei eingesetzt werden. Wir beteiligen uns an den An-strengungen der Europäischen Union, gemeinsam mitden afrikanischen Partnern regionale Küstenwachen auf-zubauen, zu deren Aufgaben auch der Gewässer- und Fi-schereischutz zählen wird.

Wir unterstützen mit erheblichen Mitteln die Finanzie-rung der Mission der Afrikanischen Union in Somalia.Den Verfassungsprozess in Somalia fördern wir durcheine vom Max-Planck-Institut für Völkerrecht durchge-führte rechtliche Beratung. Wir helfen den Vereinten Na-tionen, die rechtsstaatlichen Kapazitäten in den Staaten

der Region auszubauen. Atalanta fügt sich ein in eineVielzahl von Maßnahmen, die ein gemeinsames Ziel ha-ben, nämlich die fragile Region am Horn von Afrika zustabilisieren. Das soll die Voraussetzung für eine bessereLebenssituation der Menschen vor Ort und die nachhal-tige Entwicklung Somalias schaffen. Sie sehen also, dasswir sehr wohl auch die zivilen und entwicklungspoliti-schen Aspekte der Stabilisierung mit Ernst und Energieanpacken. Derzeit ist aber auch der militärische Schutznotwendig. Zusammen wird ein Schuh daraus. Das ist,zusammen genommen, überzeugende Politik.

Ich bitte den Bundestag – wie bisher auch geschehen– um eine breite Unterstützung dieses Mandates.

Am heutigen Tag wurde leider die Nachricht übermit-telt, dass wieder zwei Soldaten in Afghanistan verletztworden sind. Von daher sollte man jeden Augenblickvoller Dankbarkeit auf die Menschen schauen, die wiralle schon persönlich besucht haben und die ganz per-sönlich ihren Körper und ihre Seele – ihre ganze Persön-lichkeit – dafür einsetzen, dass wir bei uns sicher lebenund auch anderen helfen können, die ohne uns ein ganzschreckliches Schicksal haben würden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Rolf Mützenich hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Rolf Mützenich (SPD):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In der Tat, Atalanta ist in erster Linie eine zi-vile und humanitäre Maßnahme. Ich glaube, wir solltenin diesem Hause gemeinsam überlegen – das ist an alleFraktionen gerichtet –, wie das Leid der Menschen inSomalia gemindert und die aktuelle Hilfe dort gesichertwerden kann. Vier Millionen Menschen sind davon be-troffen. Die Vereinten Nationen haben um Unterstützunggebeten. Ich finde schon, dass es zur Respekterweisungdazugehört, dass alle Fraktionen eine Antwort darauf ge-ben, damit insbesondere in Bezug auf die aktuellen Her-ausforderungen, denen sich dieses Land gegenübersieht,diese Hilfe auch gewährleistet werden kann.

Für meine Fraktion komme ich zu der Schlussfolge-rung, dass natürlich auch ein Schutz insbesondere für dieHilfstransporte erfolgen muss, die vonseiten der Verein-ten Nationen angefordert werden und die vielen Men-schen helfen. Deswegen unterstützen wir das, was derBundesaußenminister hinsichtlich dieses Mandates alsGesamtmission angesprochen hat.

Ich würde gerne, Herr Minister, noch auf weiterePunkte eingehen. Wir werden in der Zukunft über einigePunkte sicherlich in ein wenig stärkerem Maße diskutie-ren müssen. Ich verstehe schon, dass man das vonseitender Bundesregierung hier nicht so offen sagen kann – Par-lamentarier sollten das aber tun –: Das Problem Somaliasbesteht auch darin, dass einzelne Nachbarstaaten in der

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Dr. Rolf Mützenich

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Vergangenheit – das gilt aber offensichtlich auch für dieaktuelle Situation – Einfluss genommen haben bzw. wei-ter nehmen. Sie nehmen letztlich auch mit Gewalt Ein-fluss. Dabei kommt es auch zu schwierigen Situationen.

Wir müssen, finde ich, insbesondere die Nachbarstaa-ten dazu aufrufen, nicht mit Gewalt von außen in diesesLand einzugreifen, sondern am Aufbau Somalias aktivmitzuwirken. Das gehört zu der Diskussion, die wir hierführen, genauso dazu wie das Debattieren über den so-zialen und politischen Aufbau in Somalia.

In der Tat ist es richtig – das wird hier immer wiederangesprochen –, dass Armut und Piraterie zusammenge-hören. In dem Zusammenhang ist auch die Situation zunennen, vor die Somalia in den letzten Jahren und Jahr-zehnten gestellt wurde. Gleichzeitig will ich darauf auf-merksam machen, mit welchem Respekt wir den Men-schen begegnen sollten, die sich in Somalia ganz bewusstgegen Piraterie entscheiden und sagen: Das wird unseremLand, unserer Kultur und Tradition nicht gerecht. Deswe-gen warne ich vor vereinfachenden Schlussfolgerungen.Insbesondere nehme ich das auf, was Jack Lang, der Son-derbeauftragte der Vereinten Nationen, festgestellt hat. Ersagte, das Problem der Piraterie bestehe insbesondere da-rin – Herr Außenminister, Sie haben das angesprochen –,dass sie von der organisierten Kriminalität bzw. von deninternationalen Netzwerken unterstützt wird, indem diesedas Geld waschen, das die Piraterie erbringt. Es gehört zueiner ehrlichen Diskussion in der Europäischen Uniondazu, festzustellen, dass wir die Piraterie insbesonderedurch internationale Maßnahmen bekämpfen müssen, umorganisierte Kriminalität weiterhin zurückzudrängen.Man muss hinzufügen: Sie findet auch in westlichen Han-delsstädten statt.

Wir sollten uns immer wieder vergegenwärtigen:Piraterie ist nicht das Problem Somalias oder am Hornvon Afrika, sie ist auch in anderen Regionen ein Pro-blem. Sie ist auch ein historisches Phänomen, was mitdem einen oder anderen Land, das heute als Partner be-zeichnet wird, durchaus in einem Zusammenhang ge-standen hat. Ich würde gerne in dieser Runde aus einergültigen Verfassung zitieren, die der eine oder anderevielleicht kennt. Da heißt es:

Die Volksvertretung hat das Recht … Kaperbriefeauszustellen und Vorschriften über das Prisen- undBeuterecht zu Wasser und zu Lande zu erlassen.

Das ist keine Verfassung eines Landes im Südpazifik,das ist auch nicht die Verfassung der Malediven, sondernes ist die amerikanische Verfassung. Wir sollten uns ver-gegenwärtigen, dass dies durchaus noch aktuelles Rechtist.

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Na ja!)

– Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und Kollegendavon Gebrauch machen, aber will ich auf das histori-sche Phänomen aufmerksam machen, weil das zu einerpolitischen Diskussion dazugehört.

Regierungen und Parlamente haben die Piraterie zu-rückgedrängt. Gerade in einzelnen Staaten Asiens ist es

gelungen, die Probleme, die dort seit Jahrzehnten exis-tieren, einzudämmen, und zwar durch bessere Regie-rungsführung, aber auch durch Sicherungsmaßnahmen,die sie zum Schluss selbst ergriffen haben. Damals wur-den sie international unterstützt. Das beste Momentum,das diese Länder darin unterstützt, die Piraterie zu be-kämpfen, ist die regionale Zusammenarbeit. Deswegenmüssen wir nach meinem Dafürhalten noch viel stärkerdas regionale Zusammenwirken am Horn von Afrikastärken. Dazu müssen wir die Regierungen ermutigen.

Ich möchte auf eine innenpolitische Diskussion ein-gehen – auch das gehört zu diesem Thema –: Auch diedeutschen Reeder tragen Verantwortung. Die haben siein der Tat auch wahrgenommen. Es kann aber nicht sein,dass deutsche Reeder deutsche Schiffe ausflaggen unddamit ihrer sozialen Verantwortung in Deutschland nichtmehr gerecht werden, aber gleichzeitig vom deutschenStaat Sicherheitsmaßnahmen verlangen. Das müssen wirin einer solchen Debatte offen benennen; denn auch dieReeder tragen Verantwortung.

Ein weiterer Aspekt, den ich in Ihrer Rede gänzlichvermisst habe, war die Diskussion, die die Bundesregie-rung im August dieses Jahres hier geführt hat. Es gehtdarum, private Sicherheitsdienste, unter Umständenschwer bewaffnet, auf Schiffen zuzulassen. Dazu habenSie heute nichts gesagt. Ich hätte zumindest gerne ge-wusst, ob diese Angelegenheit im Kabinett vom Tischist, ob das staatliche Gewaltmonopol möglicherweisedurch derartiges Vorgehen weiter ausgehöhlt werdensoll, ob es weiterhin von der Initiative der Bundesregie-rung getragen ist oder ob es eine neue Entwicklung gibt?Das sollte in zweiter und dritter Lesung zu diesem Man-dat noch einmal angesprochen werden.

Wir vonseiten der SPD-Fraktion sehen beim Vorha-ben der Bundesregierung große Probleme. Die Pläne se-hen vor, dass private Sicherheitsfirmen zertifiziert undüberwacht werden sollen. Ich frage mich, ob das auchfür andere private Sicherheitsdienste, die es im interna-tionalen Umfeld gibt, gelten soll. Wir werden darübereine Debatte führen. Ich kündige hier schon an, dass wirin der nächsten Woche im Deutschen Bundestag intensi-ver über die privaten Sicherheitsfirmen debattieren wer-den. Wir, die SPD-Fraktion, haben dazu einen Antragvorgelegt.

Zur letzten Frage, die Sie am Rande angesprochen ha-ben. Rechtliche Fragen spielen in der Tat eine großeRolle. Im Zusammenhang mit diesem Mandat wurdeauch darüber diskutiert, ob ein spezieller Strafgerichts-hof für Piraterie eingerichtet oder zumindest eine weitereKammer beim Internationalen Seegerichtshof in Ham-burg angesiedelt werden sollte;

(Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen [FDP])

denn wir haben diesbezüglich rechtliche Schwierigkei-ten. Das Verwaltungsgericht Köln hat in einem besonde-ren Fall dargelegt, dass die rechtlichen Umgangsformenin Kenia – darum ging es in diesem Fall – nicht unserenStandards entsprechen. Deswegen fordere ich die Bun-desregierung insbesondere vor dem Hintergrund der der-

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Dr. Rolf Mützenich

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zeitigen Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsratauf, weitere Initiativen zu ergreifen, um hierzu im inter-nationalen Recht Änderungen herbeizuführen. Insbeson-dere fordere ich sie aber auf, zu diesem Thema im Parla-ment Stellung zu beziehen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Thomas Kossendey ergreift jetzt das Wort für die

Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bun-desminister der Verteidigung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die EU-Operation Atalanta steht letztendlich für denWillen und die Entschlossenheit der internationalen Ge-meinschaft, Piraterie am Horn von Afrika, aber auch imGolf von Aden zurückzudrängen. Gleichzeitig macht siedie Schiffsverkehre in dieser Region sicherer, und das istim Interesse der Menschen, die dort leben, weil90 Prozent der Hilfslieferungen, die die Vereinten Natio-nen über das Welternährungsprogramm dort hinbringen,auf dem Seeweg transportiert werden. Der Außenminis-ter hat mit eindrucksvollen Zahlen deutlich gemacht,dass diese Hilfslieferungen die Menschen vor Ort errei-chen. Die Hungersnot, über die in den letzten Wocheninsbesondere aus Somalia und vom Horn von Afrika be-richtet wurde, zeigt, dass diese Hilfe notwendiger dennje ist. Seit 2008 sind alle diese Hilfstransporte angekom-men; das ist anders als vorher. Daneben leistet Atalantaeinen ganz wichtigen Beitrag dazu, die Handelsschiffeauf sichere Seeverbindungslinien zu bringen.

Ich will noch etwas ins Gedächtnis rufen: Die Zahlder Überfälle durch Piraten liegt in etwa auf dem Niveauder letzten Jahre, die Zahl der erfolgreichen Entführun-gen konnte allerdings halbiert werden.

(Joachim Spatz [FDP]: So ist es!)

Dafür gibt es viele Ursachen. Das hängt auch damit zu-sammen, dass die Reeder ihr Verhalten geändert haben;der Kollege Mützenich hat das ja angesprochen. Um Ih-nen das mithilfe von Zahlen zu verdeutlichen: Wir habenam Horn von Afrika ungefähr 25 000 bis 30 000 Schiffs-passagen jedes Jahr, davon ungefähr 3 000 unter deut-scher Flagge. Natürlich haben Sie recht, Herr KollegeMützenich, wenn Sie sagen, dass die Reeder für ihreSchiffe und die Menschen auf ihren Schiffen eine beson-dere Verantwortung tragen. Diese fordern wir ein. Allezuständigen Stellen unserer Regierung stehen im ständi-gen Gespräch mit den Reedern. Dabei spielt natürlichauch die Frage der privaten Sicherheitsdienste eineRolle. Dieses Thema geht nicht in erster Linie das Ver-teidigungsministerium an. Ich kann aber sagen: Der Ver-kehrsminister und der Innenminister – beide sind dafürzuständig – klären im Augenblick den rechtlichen Rah-men, in dem diese Dienste erfolgen können. Ich sageaber auch: Deutsche Soldaten auf Schiffen, die nicht un-ter deutscher Flagge fahren – dieses Thema haben Sie

auch angesprochen –: Das geht völkerrechtlich nicht.Dafür brauchen wir Abkommen mit den Flaggenstaaten.Sie wissen, dass das nicht ganz leicht ist.

Neben den Maßnahmen, die die Reeder ergriffen ha-ben, um ihre Schiffe besser zu sichern – ich sage inKlammern: Manchmal ist es betrüblich, festzustellen,dass das längst nicht alle Reeder tun –, haben wir natür-lich auch durch die Änderung der Operationspläne beiAtalanta dazu beigetragen, dass wir jetzt energischerdurchgreifen können. Wir haben mehr Möglichkeiten,die sogenannten Vessel Protection Detachments an Bordzu bringen. Wir haben mehr Möglichkeiten, das Pirate-riematerial, das wir an Bord nehmen, sofort zu vernich-ten, auch ohne große Beweisbeschlüsse. Wir haben auchmehr Möglichkeiten, um uns um Mutterschiffe zu küm-mern; das ist ein Thema, das der Kollege Stinner mehr-fach angesprochen hat.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Richtig!)

Von den Ländern der Europäischen Union, die sich anAtalanta beteiligen, stellte die Bundesrepublik Deutsch-land in den letzten Jahren neben Spanien den stärkstenAnteil, nicht, weil die anderen nicht wollten, sondernschlichtweg, weil die anderen Länder im maritimen Be-reich zum Teil so stark reduziert haben, dass sie sich garnicht beteiligen können. Von den 27 Mitgliedstaatenbeteiligen sich im Wesentlichen Deutschland, Spanien,Frankreich, die Niederlande und Luxemburg an diesenAktivitäten. Wir wollen uns auch in Zukunft beteiligen.Für 2012 haben wir durchgängig eine Fregatte bereitge-stellt. Wir werden einen Einsatzgruppenversorger hinun-terschicken und ab April 2012 wieder ein Seeraumüber-wachungsflugzeug.

In den letzten Wochen sind häufig Berichte durch diedeutsche Presse gegeistert, nach denen die deutschenKräfte zwar Piraten an Bord ihrer Schiffe festsetzen, siedann aber mit Nahrungsmitteln auf einem kleinenSchlauchboot aussetzen und wieder nach Somalia zu-rückschicken. Lassen Sie mich dazu einiges sagen. Zu-nächst einmal: Das Primärziel von Atalanta ist ja nichtdie Piratenjagd. Wer das Mandat liest, weiß, dass dasnicht so ist. Das wird zwar häufig in der Öffentlichkeitso diskutiert, aber es steckt mehr dahinter. Wir haben dieRules of Engagement geändert. Wir können intensivereingreifen. Aber da, wo kein Kläger ist, werden wir auchkeinen Richter finden. Deswegen ist es in einigen Fällenauch nach dem internationalen Recht nicht unüblich,diejenigen, die man auf frischer Tat ertappt hat, zurück-zubringen. Wir haben noch keinen Gerichtshof, der in-ternational diese Straftaten aburteilt.

Ich glaube, niemand in diesem Hause wird einer Artund Weise das Wort reden, die menschenverachtendwäre. Die Piraten werden nicht einfach in ein Schlauch-boot gesetzt mit den Worten: Kommt irgendwie nachHause. – Ich bin sicher, dass es hier sonst Diskussionengäbe, die wir alle nicht wollen. Der Internationale Straf-gerichtshof, den Sie, Herr Mützenich, angesprochen ha-ben, müsste ja in den Vereinten Nationen seine Ursachefinden. Auch da wissen wir, dass das im Augenblick sehrschwer ist, weil längst nicht alle Länder der VereintenNationen das für sinnvoll halten.

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Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey

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Sie haben das Urteil vom Verwaltungsgericht Kölnangesprochen. Sie wissen, dass sich das auf einen Fallbezieht, der sich ereignete, bevor wir mit Kenia ausge-macht haben, dass die Gefangenen, die wir dorthin brin-gen, in Umständen gefangen gehalten werden, die men-schenrechtlich für uns verantwortbar sind. Sie wissenauch, dass unser Botschafter diese Prozesse und die Um-stände, unter denen die Gefangenen dort festgehaltenwurden, sehr intensiv beobachtet hat.

Eines muss aber klar sein: Das, was wir mit der deut-schen Marine auf See machen, ist nur ein Bekämpfenvon Symptomen. Wir brauchen jenseits dessen, was derVerteidigungsminister an Beitrag zu liefern hat, eineweitaus breitere Palette an Aktionsmöglichkeiten, umden Sumpf der Piraterie dort auszutrocknen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich meine, wir sollten das insgesamt anpacken.

All den Soldatinnen und Soldaten, die sich in denletzten Jahren dort engagiert haben, und zwar unter Be-dingungen, die weiß Gott nicht immer so sind, wie mansich das hier vorstellt, wenn man die Sonne über Dschi-buti scheinen sieht, sollten wir herzlich danken und siemit einem Mandat ausstatten, das von einer breitenMehrheit im Parlament getragen wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Christine Buchholz hat jetzt das Wort für die Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Christine Buchholz (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit drei

Jahren ist die Bundeswehr im Rahmen der EU-Militär-operation Atalanta vor der Küste Somalias unterwegs.

(Zuruf von der CDU/CSU: Erfolgreich!)

Das Ziel der Mission, so schreibt die Regierung imMandatstext, sei die Bekämpfung der Piraterie und dieSicherung der Versorgung der notleidenden MenschenSomalias. Das Mandat ermächtigt die Bundeswehr zur„Durchführung der erforderlichen Maßnahmen, ein-schließlich des Einsatzes von Gewalt, zur Abschre-ckung …“.

Wie das in der Praxis aussieht, konnten wir wiedereinmal Ende September sehen: Eine deutsche Fregatteversenkte zwei Schiffe in somalischen Gewässern undsetzte die Besatzung an Land ab.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die Unschuldsvermutung gilt anscheinend nicht in so-malischen Gewässern. Der Kommandeur vor Ort richtetund setzt auch gleich die Strafe um. Das entspricht nichtunseren Vorstellungen von rechtsstaatlichen Grundsät-zen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Strategie der Regierung hat keinen Erfolg. Hiermuss ich Ihnen widersprechen, Herr Westerwelle, das be-legen auch die Zahlen. Auch nach drei Jahren Atalantamüssen wir in diesem Jahr wieder konstatieren: DieÜberfälle von Piraten sind auf einem neuen Höchststand.

(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt doch nicht!)

Die Zahl der geglückten Entführungen stagniert auf ho-hem Niveau, und die Piraten haben ihr Operationsgebietweiter ausgedehnt. Von einer erfolgreichen Bekämpfungder Piraterie kann keine Rede sein.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Knapp an der Realität vorbei!)

Dabei sind sich alle einig, dass Piraterie zur See nichtmilitärisch zu bekämpfen ist. Das ist schon rein tech-nisch unmöglich. Dafür sind der zu überwachende See-raum und die Zahl der zu schützenden Schiffe viel zugroß.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Stinner zulassen?

Christine Buchholz (DIE LINKE):Nein, möchte ich nicht. Ich rede jetzt die vier Minuten

durch, und anschließend kann der Kollege Stinner gerneetwas sagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wird ja nicht ange-rechnet!)

Wer Piraterie wirklich bekämpfen will, muss die so-zialen und politischen Ursachen angehen. Hier ist dieBundesregierung keinen Schritt weiter als letztes Jahr.Denn immer noch beharrt sie darauf, eine von außen ein-gesetzte Regierung in Somalia an der Macht zu halten.Ihr Ansatz ist, Verhandlungen aus der Position der mili-tärischen Stärke zu führen. Die wichtigsten Rebellen-gruppen werden von den diplomatischen Gesprächenausgeschlossen.

Die Menschen in Somalia brauchen dringend Hilfe,aber sie brauchen zivile, humanitäre Hilfe.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie brauchen eine Abkehr von der menschenverachten-den neoliberalen Handelspolitik

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

und den Spekulationen mit Nahrungsmitteln, die auchzentrale Ursachen für die Krise und den Hunger in So-malia sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie brauchen keine Eskalation des Krieges, wie siemomentan stattfindet. Der Einmarsch kenianischer undäthiopischer Truppen in den letzten Wochen wird dieLage der Menschen in Somalia nur noch weiter ver-schlimmern. Wegen der Militäroperationen im Grenzge-biet können die vor der Dürre Flüchtenden nicht in die

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 17015

Christine Buchholz

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Flüchtlingslager in Kenia gelangen. Deswegen und weilwir eine grundsätzliche Umorientierung der Politik in Be-zug auf Somalia fordern, sagen wir: Herr Westerwelle,ändern Sie den eingeschlagenen Kurs!

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Nein!)

Hören Sie auf, an einer korrupten Marionette festzuhal-ten!

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Nein!)

Beenden Sie die Ausbildung von Bürgerkriegssoldatendurch die Bundeswehr!

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Nein!)

Denn das schafft kein sicheres Umfeld.

(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Setzen Sie auf gleichberechtigte Verhandlungen allerBürgerkriegsparteien, und geben Sie das Geld für huma-nitäre Hilfe statt für den Marineeinsatz aus!

(Beifall bei der LINKEN)

Zeigen Sie, dass Ihnen die Somalier wirklich wichtigsind und nicht, wie es in einem aktuellen Papier desEU-Rates heißt, die „geostrategische Bedeutung der Re-gion“.

Wir lehnen den Einsatz des Militärs zur Sicherungvon Handelsinteressen ab. Wir werden uns auch in die-sem Jahr klar gegen die Mission Atalanta stellen.

(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens[CDU/CSU]: Gott sei Dank stimmen Sie dage-gen! Die Marinesoldaten würden sich schä-men, wenn Sie zustimmen würden!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Omid Nouripour hat jetzt das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Natür-

lich ist es das Ziel jeder Militärmission, dass sie sich soschnell wie möglich überflüssig macht. Dass wir jetztbereits das vierte Mal über Atalanta entscheiden, zeigt,wie groß und schwer die Aufgabe ist, die zu bewältigenist, und dass wir vom Ziel immer noch weit entferntsind. Die Zahl der Angriffe steigt nicht mehr. Es ist gut,dass es immer weniger erfolgreiche Angriffe gibt, aberman kann nicht einfach sagen, dass Atalanta bisher einriesengroßer Erfolg ist; denn Atalanta allein kann dieProbleme nicht lösen.

Wir als Grüne haben in den letzten Jahren dem Man-dat mehrheitlich zugestimmt, weil wir gesagt haben: Esist eine notwendige Symptombekämpfung, nicht mehrund nicht weniger. In diesem Zusammenhang möchteich, Herr Außenminister, eines hier empört zurückwei-sen. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt:

Denkt einfach nach, dann müsst ihr zustimmen. – In un-serer Fraktion gibt es viele, die sich sehr intensiv mitdem Thema beschäftigt haben und aus diversen Gründenzu dem Ergebnis gekommen sind, dass sie Atalanta nichtzustimmen. Das ist also nicht nur eine Frage des Nach-denkens. Da werden Sie Ihren eigenen Aufgaben nichtgerecht.

Wir werden hier gleich Operation Active Endeavourbehandeln, eine Mission, die am Anfang Sinn gemachthat, aber in der Form, wie die Bundesregierung denMandatstext verhunzt, nicht wirklich zustimmungsfähigist. Man kann hier nicht einfach nur arrogant rufen:Denk doch einmal nach, dann musst du doch meinerMeinung sein. – So wird man der Ernsthaftigkeit einesMilitäreinsatzes nicht gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die notwendige Symptombekämpfung wirft ange-sichts des jetzt vorliegenden Mandatstexts einige Fragenauf. Antworten darauf kenne ich noch nicht; diese Fra-gen werden Thema in den Ausschussberatungen sein.Warum kostet die Mission jetzt das Doppelte? Warum istdie Mandatsobergrenze weiterhin dreimal so hoch wiedie Zahl der tatsächlich eingesetzten Soldatinnen undSoldaten? Welche „präventiven Maßnahmen“, wie es imMandatstext heißt, sind jetzt erlaubt? Diese waren imletzten Mandat noch nicht vorgesehen. Was bedeutet dieAussage aus den Koalitionsreihen, dass man jetzt auchschwer bewaffnete Mitarbeiter privater Sicherheitsfir-men an Bord der Schiffe zulassen möchte? Wird das jetztgemacht? Das wäre für uns ein Punkt, bei dem wir ernst-haft darüber nachdenken müssten, unsere Zustimmungzum Mandat zu verweigern. Oder ist die Bundesregie-rung bereit, zu sagen, dass Herr Uhl da wieder einmalnur vor sich hin redet?

Es geht auch um die Frage, wie mit den Festgesetztenzu verfahren ist. Herr Staatssekretär, da müssen Sie eineLösung bieten. Es gibt derzeit keine. Die Lösung, dieKollege Mützenich genannt hat, wird hoffentlich einesTages umgesetzt. Aber was passiert jetzt? Was machenSoldatinnen und Soldaten heute mit Festgesetzten? Esgibt derzeit keine Lösung. Das ist für die Soldatinnenund Soldaten zutiefst frustrierend. Das ist auch sehrteuer. Diese Situation muss schnellstmöglich verbessertwerden. Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, wirdder ganze Einsatz ein wenig absurd. Aber die politischenLösungen sind natürlich die zentralen.

Wir reden über eine der größten Hungerkatastrophen,die es in dem Land je gegeben hat. Im Übrigen, Frau Kol-legin Buchholz: Sie müssen bitte – um Gottes willen –auch einmal ein Wort dazu sagen, wie die Lebensmitteldes World Food Programme ohne einen militärischenSchutz tatsächlich an das Horn von Afrika kommen sol-len. Dazu haben Sie kein Wort gesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Wir haben natürlich weiterhin das Riesenproblem derillegalen Fischerei. Wir haben einen regionalen Konflikt,der deutlich zugenommen hat. Somalia wird auch immermehr zum Battleground regionaler Mächte. Dabei ist ein

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Omid Nouripour

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Riesenproblem, dass die EU nicht unbedingt einheitlichagiert. Die Franzosen unterstützen gerade die Interven-tion Kenias, die Briten sind in Uganda involviert, Eritreahat eine eigene Agenda, die Äthiopier ebenfalls, auchmit amerikanischer Unterstützung.

Ich vermisse innerhalb der EU ein wenig die Stimmeder Bundesrepublik Deutschland zu diesem Thema. Eswäre gut, wenn Deutschland sich dafür einsetzte, dass dieEuropäische Union einheitlicher agiert, damit wir zumBeispiel das, was die UN seit Jahren beschließt, endlichkonsequent umsetzen, nämlich ein Waffenembargo gegenSomalia. Dafür brauchen wir die Nachbarstaaten. Diesind aber zurzeit nicht damit betraut, mit der internationa-len Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Dieses Problemkann in Brüssel nicht gelöst werden. Aber in Brüssel kön-nen Lösungen dafür entwickelt werden, wie man dieseLänder besser unter Druck setzen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Philipp Mißfelder hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Nur ein Satz zu Frau Buchholz: Mir ist bei IhrerRede wieder einmal klar geworden, dass bei Ihnen – ichbeziehe das gar nicht auf Ihre Gesamtfraktion, weil es jaauch bei Ihnen viele gibt, die im Ausschuss vernünftigmitarbeiten – wirklich der Satz gilt: Ideologie vor Hilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das fällt mir an jedem Ihrer Beiträge auf. Ich versteheauch gar nicht, wieso sich Ihre Fraktion nicht einen Ge-fallen tut und auf die Beiträge an dieser Stelle einfachverzichtet.

Zum Kollegen Nouripour möchte ich nur sagen: Ichglaube, der letzte Punkt ist ein ganz wichtiger. Ich glaubeauch, dass sich die Bundesregierung dort zu Recht be-sonders engagiert und dass es in der Afrika-Politik nureuropäisch geht. Einzelmaßnahmen von Deutschlandoder Willenserklärungen unsererseits dürften hier alsonur relativ wenig bringen. Es ist tatsächlich so: Wennwir über die Ursachen in der Region selber reden, dannmuss man feststellen: Natürlich muss hier europäischesEngagement entwickelt werden. Die Vielstimmigkeitauch früherer Kolonialmächte an dieser Stelle ist geradeschon angesprochen worden. Dies bedaure ich natürlichsehr. Aber ich glaube, dass der Hinweis richtig war:Wenn man das Problem wirklich an der Wurzel packenwill, ist dort natürlich auch weiterhin Engagement not-wendig. Wir engagieren uns auch. Denn der Erfolg wirdnur an den Ergebnissen gemessen, und zwar zu Recht.

Deutschland steht als Mitglied der EU und der westli-chen Wertegemeinschaft für grundlegende Werte. Dazugehört natürlich die Durchsetzung von Rechtsstaatlich-keit, von Menschenrechten und des Völkerrechts insge-

samt. Dazu gehören auch freie Handelswege. Es ist keinSelbstzweck, nur Exportinteressen oder Importinteres-sen durchzusetzen. Es ist in der Debatte schon sehr plas-tisch geschildert worden, meine Damen und Herren, wiewichtig es ist, das World Food Programms zu unterstüt-zen und auch das Völkerrecht durch die Mission Ata-lanta weiter durchzusetzen, weil es im Endeffekt natür-lich auch darum geht, zu zeigen, dass wir die Regioninsgesamt für wichtig halten und nicht nur die Handels-wege im Blick haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Trotzdem: Als Exportnation und im Spannungsbogeneiner interessengeleiteten und werteorientierten Außen-politik spielt auch dieses Thema immer eine Rolle; wirlassen es auch gar nicht unter den Tisch fallen. Es istwichtig, auch den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlernzu sagen, warum die 558 Frauen und Männer – bei ihnenhaben wir uns gerade schon bedankt – mit ihrem Einsatzeinen wirklich wichtigen Beitrag leisten und warum wirdieses Mandat jetzt erneut verlängern müssen. Ihre Auf-gabe ist bei weitem noch nicht erledigt und ihre Missionnoch nicht zu Ende. Sie leisten an dieser Stelle wirklichHervorragendes. Ich möchte auch für meine Fraktionnoch einmal unterstreichen: Wir sind den Soldatinnenund Soldaten, auch und gerade deshalb, weil sie ihrenDienst unter sehr schwierigen Bedingungen tun, sehrdankbar für das, was sie dort tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Mission Atalanta und die Aufgabe, die damit zubewältigen ist, bleiben schwierig. Die Piraten bedrohendie Versorgung der hungernden Menschen in Somalia.Wenn die Lieferungen des Welternährungsprogrammsauf dem Seeweg nicht durchkommen, dann geht dieletzte Hoffnung – wirklich die letzte Hoffnung – verlo-ren. Insofern ist dies auch ein wichtiger Aspekt des hu-manitären Beitrags, der im Zentrum dieser Mission steht.

Die Bedrohung durch die Piraten ist nicht gebannt;die Zahlen sind vorhin schon vorgetragen worden. Esgibt tatsächlich immer mehr Zwischenfälle, selbst wenndie Aufklärungsquote vor allem dank des militärischenEngagements erhöht werden konnte.

Ich selbst finde auch, dass es richtig war, dass dieReeder einen Beitrag dazu geleistet haben. Wir habenimmer darauf gedrungen, dass wir die Aufgabe nicht perse übernehmen wollen. Gerade auch die Problematik derBeflaggung ist vorhin schon geschildert worden. Ichfinde es richtig, dass der Verband Deutscher Reeder aucheigene Maßnahmen ergriffen hat.

Zum Einsatz von privaten Diensten an dieser Stellemöchte ich ganz klar sagen, dass wir solche Lösungengrundsätzlich natürlich nicht bevorzugen. Ich finde esauch richtig, dass wir uns hier im Bundestag darüberweitestgehend einig sind. Ich finde es nicht richtig, wiedies in anderen Ländern gehandhabt wird, dass bei-spielsweise in den USA – in der Debatte in der nächstenWoche wird sich das zeigen – auch aus Kostengründenmehr und mehr auf private Sicherheitsdienste zurückge-griffen wird.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 17017

Philipp Mißfelder

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Wir haben heute Haushaltsberatungen. Wir leistenuns eine teure Bundeswehr, die gut ausgestattet, aber un-ter schwierigen Bedingungen auch in Einsätze geschicktwird. Selbst wenn das die teurere Variante ist: ZurDurchsetzung unserer Interessen ist das bei weitem diebessere Variante, als diesen Sektor zu privatisieren unddamit auch einer demokratischen Kontrolle zu entzie-hen. Ich stimme den Vorbehalten ausdrücklich zu.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Nichtsdestotrotz werden die Reeder dadurch nicht ausder Verantwortung entlassen, auch selber einen Beitragzu leisten und selbst zu überlegen, wie sie für Sicherheitsorgen können. Dafür gibt es auch technische Möglich-keiten, die teilweise auch genutzt werden. Das ist ja auchder richtige Weg, aber ich glaube, dass wir hier nicht al-leine die politische Verantwortung für die Sicherung derSeehandelswege übernehmen sollten, sondern dass tat-sächlich auch ein Beitrag der Reeder selbst notwendigist. Darum haben wir auch sehr lange und sehr intensivmit den Reedern diskutiert.

Meine Damen und Herren, ich bitte auch im Namenmeiner Fraktion, dass wir diesem Mandat in der zweitenLesung zustimmen. Ich halte es auf jeden Fall für sinn-voll, diesen Einsatz fortzuführen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bitte im Wei-teren um Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7742 an die Ausschüsse vorgeschlagen,die Sie in der Vorlage finden. – Damit sind Sie einver-standen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt IV auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-scher Streitkräfte bei der Unterstützung dergemeinsamen Reaktion auf terroristische An-griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-kels 51 der Satzung der Vereinten Nationenund des Artikels 5 des Nordatlantikvertragssowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373(2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-nen

– Drucksache 17/7743 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Verabredet ist es, eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demBundesminister Dr. Guido Westerwelle.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Nouri-pour, ich möchte zu Ihrem Beitrag von eben noch einenNachsatz machen.

Sie haben mich zitiert und gesagt, Sie seien ein biss-chen empört. Ich bitte, mich dann auch umfassend zu zi-tieren. Ich habe niemandem den Verstand abgesprochen,sondern ich habe gesagt: Wer ein bisschen nachdenktund sein Herz bewegt, der wird vor dem Hintergrund derTatsache, dass die 700 000 Tonnen Lebensmittel fastausschließlich über den Seeweg zu den Hungernden ge-langt sind, zu der Entscheidung kommen müssen – ausmeiner Sicht jedenfalls –, dass man diesem Mandat zu-stimmt.

Sie werden es mir nachsehen: Als Außenminister– auch schon vorher – bin ich sehr viel unterwegs. Ichsammle sehr viele Spendengelder. Gerade bei solchenhumanitären Katastrophen – das ist mit Abstand eine dergrößten, die wir weltweit derzeit kennen – möchte ichdenen, die spenden – auch den Bürgerinnen und Bürgernin Deutschland, die spenden –, sagen können: Wir tun al-les dafür, dass Ihre Spendengelder in Form von Nah-rungsmitteln auch wirklich bei den Betroffenen ankom-men.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich finde, das muss man einfach sehen.

Es bleibt Ihnen aber unbenommen: Nur so habe ichdas gesagt, und ich habe niemandem seine andere Mei-nung abgesprochen. Ich bitte Sie!

Wir kommen nun zu einem weiteren Mandat, einemschwierigen Mandat; das will ich hier unumwundenauch zum Ausdruck bringen. Unter dem Eindruck derfurchtbaren Terroranschläge des 11. Septembers hat derDeutsche Bundestag im November des Jahres 2001 erst-malig ein Mandat erteilt, damit sich deutsche Streitkräftean den Einsätzen zum Schutz gegen den internationalenTerrorismus beteiligen können.

Seit dem Sommer des Jahres 2010 ist dieses auf dieOperation Active Endeavour begrenzt. Viele von Ihnenbewegt die Frage – bei uns, bei Ihnen –, ob dieser Ein-satz zehn Jahre nach dem 11. September nicht abge-schlossen werden kann. Für diesen Abwägungsprozess– das möchte ich hier ausdrücklich sagen – habe ich gro-ßes Verständnis. Auch ich habe mir diesen Abwägungs-prozess nicht leicht gemacht und die völkerrechtlicheFrage mit unseren Experten und der Völkerrechtsbeauf-tragten nachdrücklich erörtert. Aber ich denke, dass sichdie Bundesregierung bewusst sein muss und bewusst ist,dass der Einsatz im Hause nicht unumstritten ist.

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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle

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Die Notwendigkeit einer umfassenden Bekämpfungdes internationalen Terrorismus bleibt aber bestehen. Sieist weiterhin eine der zentralen Herausforderungen fürdie internationale Staatengemeinschaft. Das hat erstkürzlich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mitder Resolution 1989 vom 17. Juni 2011 unzweideutig er-neut zum Ausdruck gebracht. Das ist eine neue Resolu-tion vom Sommer dieses Jahres.

Ein wichtiger Bestandteil der gemeinsamen Anstren-gungen der internationalen Gemeinschaft bleibt die Be-reitstellung entsprechender militärischer Fähigkeiten.Die NATO-geführte Seeraumüberwachungsoperationsteht für den gemeinsamen Handlungswillen der Staa-tengemeinschaft gegen die Bedrohung des internationa-len Terrorismus. Die deutsche Beteiligung an OAE dientder Unterstützung der gemeinsamen Reaktion der NATOauf die terroristischen Angriffe gegen die VereinigtenStaaten von Amerika. Das heißt, wir haben bei demMandat nicht nur die Geschichte, sondern selbstver-ständlich auch die Bündnisaspekte zu berücksichtigen.

Erst vor wenigen Wochen hat Präsident Obama einenBrief an den NATO-Generalsekretär Rasmussen ge-schrieben. In diesem Brief bedankt er sich im Namen desamerikanischen Volkes ausdrücklich für die Solidarität,die die NATO-Partner durch ihre Teilnahme an OAE bisheute zeigen. Auch dieser Aspekt muss mit erwogenwerden, wenn man hier zu einer Entscheidung kommenmöchte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deutschland ist ein verlässlicher Partner. Wir zeigenmit unserer Beteiligung an der Operation Solidarität imBündnis. Ich muss Ihnen das so sagen, weil Sie alle wis-sen, dass wir in diesem Jahr einiges versucht und bewegthaben. Alle unsere Partner, und zwar ohne Ausnahme,halten eine Fortsetzung von Active Endeavour für erfor-derlich. Ich bitte Sie, dies bei Ihrer Abwägungsentschei-dung mit zur Kenntnis zu nehmen.

Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern aber über-prüft die Bundesregierung, ob und wie die OperationActive Endeavour mittelfristig in ständige NATO-Ope-rationen integriert werden kann. Ich habe bereits mehr-fach meine Sympathie für diese Richtung zum Ausdruckgebracht, beim letzten Mal auch hier. Ich muss aber hin-zufügen: Wir können das nicht alleine tun. Es gibt Fort-schritte. Die werden Sie anerkennen. Wir brauchen denKonsens in der NATO. Um den zu erreichen, müssen wirauch mit der notwendigen Umsicht vorgehen.

Das neue Strategische Konzept der NATO definiertkollektive Verteidigung und kooperative Sicherheit alsKernaufgaben des Bündnisses. Beide Kernaufgabenwerden bei OAE miteinander verbunden. Die Operationdient der kollektiven Verteidigung gemäß Art. 5 desNATO-Vertrages; auf diesen völkerrechtlichen Zusam-menhang weise ich noch einmal hin. Darüber hinaus ver-folgt sie den Ansatz der kooperativen Sicherheit. Meh-rere Partnerstaaten der NATO beteiligen sich an OAE, soetwa Russland, die Ukraine und Marokko. Damit dientdie Operation auch der Vertrauensbildung zwischen den

Partnerstaaten. Auch diesen Gesichtspunkt dürfen wirnicht ignorieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die NATO legte bei OAE einen Schwerpunkt auf In-formationsgewinnung und Informationsverarbeitung.Alle Beteiligten profitieren durch ein verbessertes Lage-bild. Auch das darf nicht ignoriert werden. Wer würdebestreiten, dass ein solches Lagebild gerade im Südenunseres Bündnisgebietes und gerade zu diesen Zeitennotwendiger denn je ist? Schließlich gibt es Entwicklun-gen, die wir noch nicht zu Ende kalkulieren können, ge-rade im Bereich des südlichen Mittelmeeres.

Das Mittelmeer ist eine der Hauptadern des interna-tionalen Seeverkehrs. Die Unsicherheiten in der Regionsüdlich des Mittelmeeres nehmen derzeit leider nicht ab,sondern die Unsicherheiten nehmen zu. Präsenz undÜberwachung vor Ort sind daher weiter erforderlich.Auch wenn die Anwendung militärischer Gewalt in derVergangenheit überwiegend nicht zum Tragen gekom-men ist, was eine gute Nachricht ist, so sieht der Opera-tionsplan von OAE entsprechende Befugnisse weitervor. Darum ist es richtig, dass der Deutsche Bundestagüber dieses Mandat entscheidet.

Die NATO-geführte Seeraumüberwachungsoperationist sinnvoll und notwendig, und zwar aus sicherheitspoli-tischen wie aus bündnispolitischen Überlegungen. Dassage ich deshalb, weil ich weiß, dass das im Ausschussein Thema ist, und es war natürlich auch im letzten Jahrein wichtiges Thema. Das wissen Sie, und Sie wissen,dass das bei uns erwogen und genauestens erörtert wor-den ist. Damit wir die richtige Geschäftsgrundlage unse-rer Entscheidung haben, möchte ich es noch einmal fürdie Bundesregierung gewissermaßen amtlich einführen:Durch Art. 51 der UN-Charta und die Resolutionen 1368und 1373 sowie entsprechende Folgeresolutionen, vondenen ich eine bereits genannt habe, ist die Operationvölkerrechtlich eindeutig legitimiert. Das klarzustellen,sind wir auch den Soldatinnen und Soldaten der Bundes-wehr schuldig, die an dieser Mission mitwirken und de-nen wir aufrichtig danken und unsere Anerkennung zumAusdruck bringen möchten.

Ich bitte daher den Bundestag, dem Mandat zuzustim-men.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ullrich Meßmer hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

Ullrich Meßmer (SPD):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Außenminister, schon Ihre Begründung zeigt, dass das,was Sie am Schluss zum Thema Sicherheit gesagt haben,nämlich dass das Mandat völkerrechtlich abgesichert ist,offensichtlich nicht zutrifft. Ich würde mir das wün-schen, was wir vor einem Jahr angeboten haben, nämlichin der Ausschussberatung darüber zu reden, wie man ein

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Ullrich Meßmer

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Mandat formuliert, das nicht zu einer völkerrechtlichenDiskussion führt, das wir dann vielleicht im DeutschenBundestag gemeinsam zustande bekommen.

Auch wir haben ein Interesse daran, dass die neueNATO-Strategie greift. Das will ich alles gar nicht be-streiten. Aber wir reden über ein Mandat, das, wie ichfinde, eine Geschichte hat, die ursprünglich dadurch ent-standen ist, dass auch im Mittelmeerraum eine aktiveBekämpfung des Terrorismus stattfinden sollte. Wir re-den über ein Mandat, das gemeinsam mit einer anderenOperation, der Operation Enduring Freedom, entstandenund hier schon mehrfach gemeinsam verlängert wordenist.

Man hätte an dieser Stelle, wenn man sich Mitte 2010den wie so oft, auch von uns, vorgetragenen Argumen-ten, aus dem Mandat auszusteigen, gebeugt hätte odersie eingesehen hätte, auch dieses Mandat, über das wirjetzt reden, neu definieren und andere Begründungszu-sammenhänge herstellen müssen.

Lassen Sie mich zwei Punkte nennen, die ich zumTeil als widersprüchlich empfinde. Ich weiß, dass mirgleich wieder erklärt wird, was in den Resolutionensteht. Aber ich denke, eine Mission, die ausschließlichauf Präsenz und Informationsgewinnung ausgelegt ist,verdient es nicht mehr, dass noch ein Kampfauftrag fürdie Soldaten formuliert wird. Fast alles, auch die ge-samte Begründung zu diesem Antrag, spricht davon,dass man Präsenz zeigen, überwachen und helfen will.Aber nirgendwo, auch in der Begründung nicht, steht eindirekter Kampfauftrag. Am Ende steht ein Satz, HerrStaatssekretär, in dem darauf hingewiesen wird, dassdies möglich werden könnte. Grundlage für den Einsatzwar aber nicht, dass irgendetwas möglich werdenkönnte, sondern, wie der Außenminister zu Recht fest-stellte, der Anschlag im September 2001. Die Grundlagewar, dass ein Bündnisfall gegenüber einem Partnerlandder NATO festgestellt wurde und dass damit alle ver-pflichtet sind, entsprechend zu helfen. Jetzt, nach zehnJahren, stellt sich die Frage, wie weit wir von demThema weg sind oder ob man beliebig oft neue Begrün-dungen finden kann. Ich denke, damit müssen wir lang-sam Schluss machen. Wir müssen sagen, was wir wol-len, statt uns nur auf eine einmal getroffene Begründungzu berufen.

Ich will dazu auch deutlich sagen – die Frage wirdsich stellen, auch wenn es jetzt nicht unser Thema ist –:Wir wissen seit 2001, wie man einen Bündnisfall fest-stellt. Aber wir haben keine Regeln und Wege, wie manaus dem Bündnisfall herauskommt. Ich hätte mir ge-wünscht, Herr Westerwelle, dass Sie etwas dazu gesagthätten, welche Aktivitäten die Bundesregierung inner-halb der NATO ergriffen hat, um auch diese Fragen zuklären, damit wir im Parlament darüber informiert sind.

Bei uns überwiegen die Bedenken. Wir halten dasMandat in der Form, in der es beantragt wird, für über-holt. Wir möchten festhalten, dass wir keine aktuelleTerrorgefahr oder terroristische Aktivitäten im Mittel-meerraum sehen. Wenn wir sagen, dass wir diese Gefah-ren nicht sehen, so wollen wir uns nicht dem Vorwurfaussetzen, bündnisuntreu zu werden. Ich glaube, wir zei-

gen jeden Tag, zum Beispiel mit unseren Entscheidun-gen zu UNIFIL und zu ISAF, deutlich, dass wir bünd-nistreu sind. Aber – das sage ich in Richtung derRegierung – wenn wir im Mittelmeer hätten etwas mehrPräsenz zeigen und Bündnistreue beweisen wollen, dannhätten wir das im Zusammenhang mit der Entscheidungzu Libyen tun können. Dann hätten wir jetzt eine andereSituation, über die wir sprechen könnten.

Wir stimmen dem Antrag in der derzeitigen Fassungnicht zu, weil wir ihn nicht für zustimmungsfähig halten.Wir sind der Meinung, dass es sicherlich richtig undsinnvoll ist, weiterhin den Terrorismus zu bekämpfenund eine vernetzte Sicherheit herzustellen. Das sollteaber nicht auf dieser Rechtsgrundlage geschehen; wirsollten vielmehr darüber reden, wie ein solches Mandataussehen kann. Dafür werden wir sicherlich passendeGesprächspartner sein.

Es treibt uns schon die Sorge um, dass man nichtweiß, wann ein Bündnisfall, der vielleicht demnächstwieder eintritt, eigentlich beendet ist. Wir müssen drin-gend klären, wann ein Bündnisfall, der einmal eingetre-ten ist, beendet ist. Wir sind der Meinung, dass es sinn-voll wäre, dann das Gespräch weiterhin zu suchen. Eswäre auch gut, wenn es uns gelingen würde, gemeinsamein tragfähiges, der aktuellen Lage entsprechendes Man-dat zu formulieren. Aber ich habe den Eindruck, dassdiese Chance möglicherweise erneut vertan wird, es seidenn, wir finden in den nächsten Beratungen eine For-mulierung. Nachdem ich aber schon im letzten Jahr derDebatte gefolgt bin, habe ich die Befürchtung, dass wirauch in einem Jahr wieder an derselben Stelle stehenwerden.

Ich möchte noch einmal deutlich sagen: Die Beobach-tung, die Überwachung und das Sammeln von Informati-onen im Mittelmeerraum sind etwas anderes als das Be-kämpfen. Bündnissolidarität steht für uns zweifelsohneganz oben an, aber sie hat – das ist unsere Position –nichts mit dem Ursprung und der Grundlage dieses Man-dats zu tun. Deshalb werden wir voraussichtlich, je nach-dem wie die Beratungen ausgehen, diesem Mandat un-sere Zustimmung nicht erteilen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Thomas Kossendey hat jetzt das Wort für die Bundes-

regierung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bun-desminister der Verteidigung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Operation Active Endeavour ist ein deutlich sichtba-res Zeichen unserer Bündnissolidarität, insbesondere– auch das gilt noch nach zehn Jahren – gegenüber denVereinigten Staaten. Sie ist die einzige Artikel-5-Opera-tion der NATO, und sie dient der Abschreckung terroris-tischer Aktivitäten im Mittelmeerraum. Falls erforder-

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Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey

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lich – deswegen bitten wir Sie um Zustimmung zudiesem Mandat –, kann das auch bedeuten, dass dieseAktivitäten terroristischer Art aktiv bekämpft werdenmüssen.

Kollege Meßmer hat angedeutet, er sehe im Augen-blick keine Gefahr im Mittelmeerraum. Lieber KollegeMeßmer, wenn Sie sich vor Augen führen, dass sich dernordafrikanische Raum von Ost bis West im Augenblickin einem fundamentalen Umbruch befindet und dieseLänder selber im Mittelmeerraum nicht für Sicherheitsorgen können, dann müsste sich eigentlich bei Ihnen einanderes Bild einstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für uns und für alle, die bei der Operation Active En-deavour mitmachen, sendet diese Aktion ein ganz wich-tiges Signal der Entschlossenheit. Das wird auch durchdie Resolution der Vereinten Nationen sehr deutlich, vonder Außenminister Westerwelle gesprochen hat. Es solltefür uns ein Anlass zum Nachdenken sein, dass alleBündnispartner in der NATO das genauso sehen. Wirwerden unsere Politik deshalb weiterhin an dieser Linieausrichten. Wir werden den Bedrohungen des Weltfrie-dens und der internationalen Sicherheit durch terroristi-sche Aktivitäten im Einklang mit der Charta der Verein-ten Nationen Einhalt gebieten, und zwar im Wesent-lichen nach wie vor präventiv. Darum geht es ja bei ActiveEndeavour.

Diese Operation stützt sich auf das Maritime Kom-mando der NATO in Neapel. Deutsche Soldaten sind andiesem Kommando beteiligt. Die Operation Active En-deavour wirkt allein schon durch die maritime Präsenzim Mittelmeer und durch die Überwachung. Ich glaube,dass die Lagebilderstellung und die Kontrolle des See-verkehrs ein ganz wichtiger Beitrag sind, wenn wir Ter-ror präventiv bekämpfen wollen. Natürlich darf dabei,um abschreckend zu wirken, das exekutive Elementnicht fehlen. Deswegen bleibt es ein integraler Bestand-teil unseres Mandats. Aufklärung und Abschreckungsind das erste Ziel, ohne dass deswegen militärische Ak-tivitäten auszuschließen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wer schon einmal in Neapel zu Gast war, dem steht dieFortentwicklung dieses Mandats geradezu direkt vor Au-gen.

Diese Operation wird zu einer netzwerkbasierten See-raumüberwachung fortentwickelt. Das wollen wir dannim Rahmen einer ständigen NATO-Mission weiterfüh-ren. Ich glaube, darüber gibt es im Bündnis Konsens.Was wir allerdings brauchen, ist eine sehr präzise Ausar-beitung dieser Seeraumüberwachung. Was noch notwen-diger ist: Wir brauchen die technischen Möglichkeitendafür. Das wird in diesem und im nächsten Jahr soschnell nicht zu schaffen sein. Deswegen bitte ich Sieauch heute wieder, diesem Mandat zuzustimmen.

Für Sie sollte auch ein Anlass zum Nachdenken sein,dass Russland und die Ukraine an dieser Aufgabe, an derOperation Active Endeavour, mitwirken. Das ist durch-

aus ein deutliches Signal dafür, dass wir damit auch fürLänder jenseits der NATO Sicherheit schaffen. Ich nennezum Beispiel Marokko als beteiligtes Land.

Wir haben uns im letzten Jahr beteiligt und werdenuns im nächsten Jahr beteiligen mit zwei Fregatten undeinem U-Boot. Nach dem Ende der Operation UnifiedProtector beteiligen sich deutsche Soldatinnen und Sol-daten auch wieder im Rahmen des Einsatzes derAWACS-Aufklärungsflugzeuge. Die Integration von Fre-gatten auf dem Weg zu weiter entfernten Einsatz- undÜbungsgebieten im Rahmen der Operation Active En-deavour hat sich bewährt und ist letztendlich ein sinnvol-ler Umgang mit unseren knappen Ressourcen. Auch dassollten wir hier genügend respektieren.

Wir werden also, was das Mandat angeht, den bisheri-gen vernünftigen, völkerrechtlich eindeutig legitimiertenAnsatz konsequent fortführen. Das künftige Mandat istim Wesentlichen unverändert, beinhaltet allerdings auchAnpassungen an die Lage. Kollege Meßmer, wenn Siesich den Punkt „4. Auftrag“ einmal genau anschauen,werden Sie feststellen, dass wir im ersten und letztenAbsatz durchaus Änderungen vorgenommen haben, diesinnvoll sind und schon deutlich darauf hinweisen, inwelche Richtung dieses Mandat weiterentwickelt wer-den soll, damit wir es eines Tages in eine ständigeNATO-Operation überführen können.

Die Beteiligung an der Operation Active Endeavourunterstreicht unsere Bündnisfähigkeit. Die Operation hatnichts von ihrer Bedeutung verloren. Wir tun unserenSoldaten, die auf Schiffen und in Flugzeugen Dienst tun,einen Gefallen, wenn wir die Diskussion hier sachlichund sachgerecht führen und am Ende mit möglichst brei-ter Mehrheit zustimmen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Paul Schäfer hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle

Jahre wieder: Zehn Jahre nach den Terroranschlägen vonNew York und Washington sollen für die Antiterrormis-sion Active Endeavour 700 Soldatinnen und Soldatender Bundeswehr im Mittelmeer eingesetzt werden kön-nen. Der Einsatz von Gewalt ist gestattet – wozu, bleibtmehr als unklar. Ursprünglich sollten Al-Qaida-Terroris-ten Rückzugsmöglichkeiten versperrt werden und solltenTerroranschläge auf strategisch wichtige Transport-schiffe unterbunden werden. Ernsthafte Belege, dassman mit dieser Mission tatsächliche Bedrohungen undGefahren abgewendet hat oder abwenden könnte, gibt eskeine.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

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Paul Schäfer (Köln)

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An der Antiterrormission Enduring Freedom beteiligtsich die Bundesrepublik Deutschland aus guten Gründennicht mehr. Warum also sollten wir der Beteiligung ander Operation Active Endeavour zustimmen?

Zu welchen gedanklichen Verrenkungen und Verbie-gungen die Bundesregierung greifen muss, um diesesMandat zu begründen, zeigt der vorliegende Antrag: DerTerrorangriff von New York dauere quasi bis heute an,da es ja immer wieder Anschläge gegeben habe. Ent-schuldigung, aber wie man mit den Marineeinheiten imMittelmeer die Anschläge in London, Madrid oderDetroit hätte vereiteln können, das bleibt wirklich dasexklusive Geheimnis dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Noch einmal: Es gibt keine militärische Bedrohung,gegen die sich der Marineeinsatz richten könnte. DieNATO sagt doch selbst, dass es bei Active Endeavour imKern um etwas anderes geht: Ihr primäres Interesse giltder Etablierung eines umfassenden Systems der See-raumüberwachung.

(Beifall bei der LINKEN)

Staatsminister Hoyer hat schon im letzten Jahr von ei-nem innovativen Zentrum und einem Sicherheitsnetz-werk gesprochen. Das klingt harmlos, ist aber alles an-dere als harmlos. Es geht um eine machtpolitischeDemonstration, um Machtausübung und um eine Anma-ßung: Ohne Mandat der UNO, ohne Zustimmung derAnrainerstaaten will die NATO im gesamten Mittel-meerraum quasi dauerhaft polizeiliche Aufsichts- undKontrollfunktionen ausüben. Man verspricht sich davonVorteile wie die umfassende Kontrolle des Seehandels.Man will sich damit auch neue Optionen auf schnellemilitärische Reaktionen auf unliebsame politische Ent-wicklungen in den Anrainerstaaten erschließen.

Beim Libyen-Einsatz der NATO hat Active Endea-vour nur in den Anfangstagen eine kleine Rolle gespielt.Das kann sich aber beim nächsten Anlass ändern. ImAntrag der Bundesregierung deutet man zumindest an,dass aus der passiven Überwachung großer Räume auchoffensive militärische Handlungen werden können. InIhrem Antrag ist von der „Unterstützung spezifischerOperationen der NATO … in Reaktion auf mögliche ter-roristische Aktivitäten im Mittelmeer“ die Rede. Das istein weites Feld. Damit lässt sich vieles rechtfertigen,ohne dass dieses Parlament es kontrollieren kann. Undeinem solchen Mandat sollen wir zustimmen? Niemals!

(Beifall bei der LINKEN)

Es scheint überhaupt gängige Praxis zu werden,gestützt auf Art. 5 des NATO-Vertrages allgemeine Er-mächtigungen für Militäreinsätze aller Art zu erteilen.Beim jüngsten Besuch des Verteidigungsausschusses inBrüssel haben wir auch mit dem damaligen Direktor desMilitärausschusses, Herrn Di Paola, gesprochen. – Ja, erist der neue Verteidigungsminister Italiens. Auf meineFrage, wann denn die atlantische Allianz den Bündnis-fall aufzuheben gedenke, hat er sich völlig erstaunt ge-zeigt und gesagt, das sei doch ein symbolischer Akt der

Solidarität gewesen, und natürlich gelte diese Solidaritätüber den Tag hinaus. So gesehen stellt sich in der Tat dieFrage nach der Aufhebung des Bündnisfalles ebenso we-nig wie nach der Beendigung von Active Endeavour.Dann kann man diese militärischen Aktionen endlosweiterlaufen lassen und sie je nach Bedarf umfunktionie-ren. Genau das passiert hier. Dass damit de facto Kon-troll- und Mitentscheidungsrechte des Parlaments ad ab-surdum geführt werden, ist Ihnen offensichtlich ent-gangen.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Was machen wir denn hier? Wir beraten doch!)

Die Perspektive wird nicht deutlich, sondern diffusformuliert. Man wird über die Bedrohung, gegen die sichder Einsatz richtet, im Unklaren gelassen. Das Ziel desMarineeinsatzes ist so umfassend und unspezifisch, dassalles und jedes einbezogen werden kann. Die Risiken,sich in andere Einsätze zu verstricken, deuten Sie nur an;Sie benennen sie aber nicht klar. Daher ist die Notwen-digkeit einer deutschen Beteiligung an einer solchen Mi-litärmission mitnichten gegeben. Wir können zu diesemMilitäreinsatz nur Nein sagen.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Katja Keul hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Außenminister, Sie legen uns ein Mandatfür einen bewaffneten Einsatz von bis zu 700 Soldatenvor, um im Mittelmeer einen terroristischen Angriff aufdie Bündnispartner abzuwehren. Als völkerrechtlicheGrundlage für diesen Einsatz verweisen Sie auf das indi-viduelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht gegendie terroristischen Angriffe auf die USA vom 11. Sep-tember 2001. Dieser Angriff, so heißt es im Mandat,dauere bis heute an.

Ich will hier keine juristischen Ausführungen zur De-finition und zur Unmittelbarkeit eines Angriffs oder zurDefinition und zum Umfang des Selbstverteidigungs-rechts machen. Aber zu behaupten, die terroristischenAngriffe auf die USA im Jahr 2001 dauerten bis heute anund man dürfe deshalb überall auf der Welt für unbe-grenzte Zeit bewaffnete Einsätze ohne Mandat des Si-cherheitsrates auf den Weg bringen, das haben wir Ihnenschon bei OEF nicht durchgehen lassen, und das machenwir auch bei Active Endeavour nicht mit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Diesem Einsatz fehlt es an einer völkerrechtlichenLegitimation, was allein schon Grund genug wäre, dasMandat abzulehnen. Es gibt aber noch mehr guteGründe.

Der Einsatz der Bundeswehr im Mittelmeer steht we-der in einem zeitlichen noch in einem geografischen

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Katja Keul

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noch in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem An-schlag auf das World Trade Center. Der Auftrag lautet:aktive Bekämpfung möglicher terroristischer Aktivitätenim Mittelmeer. Was Sie hier seit zehn Jahren für möglichhalten, hat es bislang allerdings nicht gegeben.

Herr Kossendey, wenn Sie an dieser Stelle auf Nord-afrika und die Demokratiebewegung verweisen, findeich das eigentlich mehr als bedenklich. Brauchen wir ei-nen bewaffneten Einsatz, um die Demokratiebewegungzu überwachen? Das kann doch wohl nicht sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ach, FrauKeul!)

Durch den Einsatz, so heißt es weiter, werde – angeb-lich – ein Beitrag zur maritimen Sicherheit geleistet.Nun wissen wir alle, dass wir in der Tat ein massivesProblem mit der maritimen Sicherheit am Horn von Af-rika haben. Deshalb befürwortet meine Fraktion ganzüberwiegend den Atalanta-Einsatz der Marine zur Pira-tenbekämpfung.

(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sehr schön!)

Von Piraten im Mittelmeer war allerdings bislang nochnie die Rede, zumal es auch erstaunlich wäre, Piratenausgerechnet mit einem U-Boot bekämpfen zu wollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Geht auch!)

Obwohl seit Beginn des Einsatzes keine Terroristenim Mittelmeer gefunden wurden, sieht der Operations-plan nach wie vor die Anwendung militärischer Gewaltzur Erfüllung des Auftrages vor. Wozu soll das gut sein?Um Lagebilder zu gewinnen oder auszutauschen, brauchtes keinen bewaffneten Einsatz.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Als letzter Spiegelstrich steht bei den Aufgaben – Zitat –:

Unterstützung spezifischer Operationen der NATOoder weiterer Partner in Reaktion auf mögliche ter-roristische Aktivitäten im Mittelmeer.

Was für spezifische Operationen sollen das sein?Wenn Sie von uns ernsthaft eine Zustimmung erwarten,dann müssen Sie sich schon etwas genauer ausdrücken.

Ich habe den Mandatstext immer wieder gelesen, aufder Suche nach dem tieferen Sinn dieses Antiterrorein-satzes, und habe schließlich in der Begründung tatsäch-lich noch etwas gefunden. Dort heißt es nämlich – Zitat –:

Operation Active Endeavour bietet somit einen An-satzpunkt zur Implementierung der aktuellen Mari-timen Strategie der NATO …

Das ist die einzig schlüssige Begründung, die der Textenthält. Aber leider ist sie nicht geeignet, einen bewaff-neten Einsatz zu legitimieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie sich gegenüber denBündnispartnern endlich offen dafür einsetzen, diesen

Einsatz ebenso zu beenden, wie Sie auch OEF beendethaben.

Sie haben übrigens schon wieder vergessen, die Man-datsobergrenze angemessen herabzusetzen. Im letztenJahr schwankte die Zahl der Soldatinnen und Soldatenim Einsatz zwischen 0 und 430. Wieso beantragen Sietrotz Beendigung von OEF nach wie vor unvermindert700 Soldatinnen und Soldaten?

Im Mandatstext berufen Sie sich auf die anhaltendeBedrohung des Weltfriedens. Sie können sicher sein,dass uns Grünen der Weltfrieden ganz besonders amHerzen liegt.

(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Der Welt-frieden, jawohl!)

Um den Weltfrieden zu schützen, brauchen Sie aber an-dere, politische Lösungen. Mit einem zeitlich und geo-grafisch unbegrenzten Antiterrorkrieg wird Ihnen dasnicht gelingen, auch nicht mit U-Booten im Mittelmeer.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Mit dem Hinweis auf den Weltfrieden ha-ben Sie viel Zustimmung aus unseren Reihen ausgelöst.

(Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen [FDP])

Es schadet aber auch nicht, sich mit der Sache noch ein-mal zu beschäftigen; denn das, was Sie zum Thema Ter-rorismusbekämpfung gesagt haben, trifft nicht ganz zu.

Natürlich, wenn man im Bündnis zu einer gemeinsa-men Einschätzung kommt, ist das zeitlich nicht unbe-grenzt; darüber brauchen wir hier gar nicht zu diskutie-ren. Wir nehmen eine Mandatierung vor. Wir erneuernein Mandat. Es ist ja nicht so, dass wir das ohne Parla-mentsbeteiligung oder am Parlament vorbei tun. Wir dis-kutieren das Ganze zu einer für parlamentarische Ver-hältnisse späten Stunde. Die Erneuerung dieses Mandatsgeschieht hier absolut transparent. Wir tauschen hiersachliche Argumente aus. Die Beurteilung im Bündnisselber ist nun einmal eine andere als die, die Sie geradevorgenommen haben, auch indem Sie versucht haben, zupersiflieren, etwa durch den Hinweis auf die U-Boote.

Wenn man den internationalen Terror als Bedrohungernst nimmt, dann muss man tatsächlich bereit sein, sichauf bestimmte Szenarien einzulassen. Die NATO ist be-reit, sich darauf einzulassen und sich mit diesen Fragenzu beschäftigen. Gerade vor dem Hintergrund der Um-brüche in der arabischen Welt ist überhaupt nicht auszu-

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Philipp Mißfelder

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schließen, dass der Ansporn für Terroristen an manchenStellen zunehmen wird. Darauf reagiert die NATO adä-quat und maßvoll, wie ich finde. Deshalb steht diesesMandat zu Recht vor der Verlängerung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieses Mandat ist völkerrechtlich legitimiert; darangibt es überhaupt keinen Zweifel. Ich möchte auch andieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten danken. DieObergrenze ist bewusst gewählt: 349 Frauen und Män-ner sind aktuell für Active Endeavour im Einsatz. Fürden Fall, dass ein Schiff durch das Einsatzgebiet fährt– der Kollege Hardt hat das hier schon vor zwölf Mona-ten sehr plastisch geschildert –, gibt es unterschiedlicherechtliche Bewertungen, welche Reaktion darauf vondiesem Mandat gedeckt ist. Die Mandatsobergrenze istalso bewusst so hoch gesetzt worden, um nämlich recht-lichen Problemen aus dem Weg zu gehen. Das ist hierschon im vergangenen Jahr deutlich gemacht worden.Damals gab es darüber einen Streit zwischen dem Kolle-gen Hardt und dem Kollegen Nouripour. Dennoch wollteich das an dieser Stelle gerne noch einmal aufgreifen undIhnen erklären; denn es schadet ja nicht, festzustellen:Was vor einem Jahr richtig war, ist nach wie vor gültig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es gibt für uns drei Gründe, das Mandat fortzusetzen:

Der erste Grund ist die Sicherheit.

Zweitens ist die Fortsetzung notwendig, um im Mit-telmeerraum präsent zu sein, gerade weil wir in der La-geeinschätzung dazu kommen, dass wir nicht davon aus-gehen können, dass die Sicherheit auf den Seewegenautomatisch gegeben ist.

Der dritte Grund – das ist ein wichtiges Argument,und wir haben es auch an anderer Stelle schon häufig be-müht – ist die Bündnissolidarität. Das ist kein Selbst-zweck. Aber dort, wo es maßvoll und geboten ist und woder Einsatz und die Kosten des Einsatzes in einem über-schaubaren Verhältnis stehen, ist es richtig, den Wün-schen der NATO-Partner nachzukommen, selbst wennSie persönlich hier zu einem anderen Urteil kommen.Wir sollten eine solche Frage nicht allein entscheiden. Esist eine Frage der Teilhabe am Bündnis. Vor diesem Hin-tergrund werbe ich dafür, dass wir als Deutscher Bun-destag eine solche Mission nicht einseitig für beendeterklären, wie Ihre Fraktionen es leider getan haben. Viel-mehr müssen wir unserer Verantwortung im Bündnis ge-recht werden. Bündnissolidarität bedeutet für uns ebenauch, in Abstimmung mit den NATO-Partnern zu ge-meinsamen Ergebnissen zu kommen und sie im Deut-schen Bundestag gemeinsam zu vertreten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zur Erinnerung möchte ich sagen: Die Terrorgefahrist überhaupt nicht gebannt. In den vergangenen zehnJahren hat es fast jedes Jahr erhebliche Terrorbedrohun-gen gegeben, ob durch die Sauerland-Bomber, die Atten-tate in Madrid, den vereitelten Anschlag am DetroiterFlughafen oder den sogenannten Times-Square-Bomber.

Das Phänomen des internationalen Terrorismus ist welt-weit nicht gebannt. Wenn Sie hier sagen, im Mittelmeersei noch nichts passiert, möchte ich darauf hinweisen,dass die Präsenz der NATO, auch wenn es sich nur umeine geringe Präsenz handelt, vielleicht ein Grund dafürist, dass die Terroristen bei ihrer Einschätzung der Lagezu dem Ergebnis kommen, dass es sich nicht lohnt, dortaktiv zu werden oder Terroristenlinien aufzubauen. DieTerroristen wissen, dass die NATO an dieser Stelle ro-bust durchgreifen könnte.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Keul zu-

lassen?

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Ja, selbstverständlich.

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Vielen Dank, dass Sie um diese Uhrzeit noch Zwi-

schenfragen zulassen. – Herr Kollege Mißfelder, wennAnschläge in New York, Madrid oder sonst wo auf derWelt die bewaffnete Präsenz der NATO im Mittelmeererfordern, heißt das dann in der logischen Konsequenz,dass diese Präsenz überall auf der Welt erforderlich ist?Wo sind die Grenzen des Einsatzes, wenn ein Anschlagin New York einen bewaffneten Einsatz im Mittelmeerrechtfertigt? Wo sehen Sie die Grenzen für eine solcheReaktion?

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Das kann ich Ihnen erklären. Die Einschätzung der

Lage liegt dem zugrunde. Darüber wird innerhalb derNATO natürlich diskutiert.

Zu Ihrer Erinnerung: Die Anschläge, mit denen wiram 11. September 2001 konfrontiert worden sind, sindnicht in einem Vorort von New York konzipiert worden,sondern sie sind in Hamburg, in Pakistan, in Afghanistanund an ganz anderen Orten, von denen wir zum Teil garnichts wissen, konzipiert worden. Wenn man weiß, dassirgendwo eine terroristische Bedrohung vorhanden seinkönnte – die Einschätzung der Lage im Mittelmeerraumist in der NATO weitestgehend unumstritten –,

(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber wie ist die Lage? Das kann mandoch mal konkretisieren!)

schadet es nicht, Präsenz zu zeigen und auch robust auf-zutreten.

Ich möchte die Frage einmal andersherum beantwor-ten. Sie müssen sich eines vor Augen führen: Sollte estatsächlich hier in Deutschland oder anderswo in Europazu einem Anschlag kommen und dabei jemand nach-weislich über den Seeweg nach Europa gekommen sein,sollten terroristische Gruppierungen beispielsweise See-handelswege im Mittelmeer einschränken und dort einenAnschlag vornehmen können, nur weil wir damit nichtgerechnet haben, dann – das sage ich Ihnen ganz klar –bin ich nicht bereit, mich vor dem Hintergrund der heuti-

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Philipp Mißfelder

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gen Debatte hier hinzustellen und zu sagen: Meine Da-men und Herren, wir haben es nicht gewusst; dieses Sze-nario war überhaupt nicht denkbar. In Wirklichkeithandelt es sich nämlich um ein durchaus denkbares Sze-nario. Auch wenn es bisher nicht eingetreten ist, ist manim Bündnis zu der Einschätzung gekommen, dass es ein-treten kann. Deswegen werden wir unserer Bündnisver-pflichtung an dieser Stelle gerecht werden.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Möchten Sie auch noch die Zwischenfrage von Herrn

Nouripour zulassen?

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Nein. Ich möchte jetzt meinen Beitrag beenden und

zum Schluss einfach um die Zustimmung zu diesemMandat bitten, wenn wir hier darüber abstimmen wer-den.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sehr weise Ent-scheidung!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7743 an die Ausschüsse vorgeschlagen,die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sieeinverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-nung. Genießen Sie den restlichen Abend und die ge-wonnenen Einsichten.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Donnerstag, den 24. November2011, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 19.51 Uhr)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. November 2011 17025

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Anlage zum Stenografischen Bericht

Liste der entschuldigten Abgeordneten

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Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Burkert, Martin SPD 23.11.2011

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 23.11.2011

Glos, Michael CDU/CSU 23.11.2011

Granold, Ute CDU/CSU 23.11.2011

Groth, Annette DIE LINKE 23.11.2011*

Hoff, Elke FDP 23.11.2011

Höger, Inge DIE LINKE 23.11.2011

Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 23.11.2011

Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

23.11.2011

Kurth (Quedlinburg), Undine

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

23.11.2011

Liebich, Stefan DIE LINKE 23.11.2011

Nahles, Andrea SPD 23.11.2011

Roth (Heringen), Michael

SPD 23.11.2011

* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-

lung des Europarates

Schlecht, Michael DIE LINKE 23.11.2011

Schmidt (Fürth), Christian

CDU/CSU 23.11.2011

Schnurr, Christoph FDP 23.11.2011

Schreiner, Ottmar SPD 23.11.2011

Seiler, Till BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

23.11.2011

Dr. Strengmann-Kuhn, Wolfgang

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

23.11.2011

Ulrich, Alexander DIE LINKE 23.11.2011

Vaatz, Arnold CDU/CSU 23.11.2011

Werner, Katrin DIE LINKE 23.11.2011*

Wolff (Wolmirstedt), Waltraud

SPD 23.11.2011

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Anlagen

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ISSN 0722-7980