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Plenarprotokoll 16/118 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 118. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Peter Götz, Gerd Bollmann und Jörg van Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Christoph Waitz als Mitglied im Beirat nach § 39 des Stasi-Un- terlagen-Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 8, 13 und 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Erklärung durch die Bundesre- gierung: Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand – Chancen für den Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit an Beitragszahler zurückgeben – Beitrags- senkungspotenziale nutzen (Drucksache 16/6434) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilse Falk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Errichtung ei- nes Sondervermögens „Kinderbetreu- ungsausbau“ (Drucksache 16/6596) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer 12137 A 12137 B 12137 B 12138 C 12138 D 12138 D 12138 D 12139 A 12144 C 12146 B 12148 A 12150 C 12152 C 12155 B 12157 A 12158 B 12160 B 12161 A 12161 D 12163 A 12164 B 12167 B 12164 C

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Plenarprotokoll 16/118

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

118. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

I n h a l t :

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord-neten Peter Götz, Gerd Bollmann und Jörgvan Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wahl des Abgeordneten Christoph Waitz alsMitglied im Beirat nach § 39 des Stasi-Un-terlagen-Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung der Tagesordnungspunkte 8, 13und 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

Abgabe einer Erklärung durch die Bundesre-gierung: Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand –Chancen für den Arbeitsmarkt . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 4:

Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel,Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Überschüsse der Bundesagentur für Arbeitan Beitragszahler zurückgeben – Beitrags-senkungspotenziale nutzen(Drucksache 16/6434) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Franz Müntefering, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ilse Falk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . .

Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . .

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . .

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Errichtung ei-nes Sondervermögens „Kinderbetreu-ungsausbau“(Drucksache 16/6596) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze,Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Kinderbetreuungsausbau mitmehr Mitteln, Fachkräften und Quali-tät ausstatten – Rechtsanspruch aufGanztagsbetreuung 2010 einführen(Drucksache 16/6601) . . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz,Grietje Bettin, Kai Gehring, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Angebot und Qualitätder Kindertagesbetreuung schnellerund verlässlicher ausbauen – Realisie-rung nicht erst 2013(Drucksache 16/6607) . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Bericht der Bundesregierung über denStand des Ausbaus für ein bedarfsge-rechtes Angebot an Kindertagesbetreu-ung für Kinder unter drei Jahren 2007(Drucksache 16/6100) . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 5:

Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, MiriamGruß, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDP: Chancenge-rechtigkeit von Beginn an(Drucksache 16/6597) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . .

Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Steffen Kampeter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . .

Dieter Steinecke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 34:

a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Wohngeldgesetzes und desZwölften Buches Sozialgesetzbuch(Drucksache 16/4019) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines … Ge-setzes zur Änderung des Jugendge-richtsgesetzes und anderer Gesetze(Drucksachen 16/6293, 16/6568) . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei-ten Gesetzes zur Änderung des Regio-nalisierungsgesetzes(Drucksache 16/6310) . . . . . . . . . . . . . . .

d) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Finanzierung der Beendigungdes subventionierten Steinkohlenberg-baus zum Jahr 2018 (Steinkohlefinan-zierungsgesetz)(Drucksache 16/6566) . . . . . . . . . . . . . . .

e) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Regelung der Weiterverwen-dung nach Einsatzunfällen (Einsatz-Weiterverwendungsgesetz – Einsatz-WVG)(Drucksache 16/6564) . . . . . . . . . . . . . . .

f) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die Feststellung des Wirt-schaftsplans des ERP-Sondervermögensfür das Jahr 2008 (ERP-Wirtschafts-plangesetz 2008)(Drucksache 16/6565) . . . . . . . . . . . . . . .

g) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Bundesversor-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 III

gungsgesetzes und anderer Vorschriftendes Sozialen Entschädigungsrechts(Drucksache 16/6541) . . . . . . . . . . . . . . . .

h) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei-ten Gesetzes zur Änderung des Zwölf-ten Buches Sozialgesetzbuch undanderer Gesetze(Drucksache 16/6542) . . . . . . . . . . . . . . . .

i) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 9. Februar2007 zwischen der BundesrepublikDeutschland und Australien über dieSoziale Sicherheit von vorübergehendim Hoheitsgebiet des anderen Staatesbeschäftigten Personen („Ergänzungs-abkommen“)(Drucksache 16/6567) . . . . . . . . . . . . . . . .

j) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Änderung des Fi-nanzverwaltungsgesetzes und andererGesetze(Drucksache 16/6560) . . . . . . . . . . . . . . . .

k) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Legehen-nenbetriebsregistergesetzes(Drucksache 16/6559) . . . . . . . . . . . . . . . .

l) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper,Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Deutsche Forschungsflotte leistungsfä-hig erhalten – mittel- und langfristigeProgramme erarbeiten(Drucksache 16/4064) . . . . . . . . . . . . . . . .

m) Bericht des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung ge-mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech-nikfolgenabschätzung (TA)TA-Projekt: Biobanken für die human-medizinische Forschung und Anwen-dung(Drucksache 16/5374) . . . . . . . . . . . . . . . .

n) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Nationales Reformprogramm Deutsch-land 2005 bis 2008Umsetzungs- und Fortschrittsbericht2007(Drucksache 16/4560) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusatztagesordnungspunkt 6:

a) Antrag der Abgeordneten Hans-JoachimOtto (Frankfurt), Christoph Waitz, ChristianAhrendt, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Notwendige Verbesse-rungen am Telemediengesetz jetzt ange-hen(Drucksache 16/5613) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten HorstMeierhofer, Michael Kauch, AngelikaBrunkhorst, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: Verpackungsver-ordnung sachgerecht novellieren – Wei-chen stellen für eine moderne Abfall-und Verpackungswirtschaft in Deutsch-land(Drucksache 16/6598) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 35:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Zweiten Gesetzes über die Bereini-gung von Bundesrecht im Zuständig-keitsbereich des Bundesministeriumsder Justiz(Drucksachen 16/5051, 16/6626) . . . . . . .

b) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Pflichtversicherungsgesetzes undanderer versicherungsrechtlicher Vor-schriften(Drucksachen 16/5551, 16/6627) . . . . . . .

c) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Protokoll vom28. Oktober 1993 zur Änderung des Eu-ropäischen Übereinkommens vom30. September 1957 über die internatio-nale Beförderung gefährlicher Güterauf der Straße (ADR)(Drucksachen 16/6121, 16/6610) . . . . . . .

d) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Gesundheit zu dem An-trag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe,Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bioethi-sche Grundsätze auch bei Arzneimittelnfür neuartige Therapien sicherstellen(Drucksachen 16/4853, 16/5582) . . . . . . .

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e) Beschlussempfehlung des Rechtsausschus-ses: Übersicht 8 über die dem DeutschenBundestag zugeleiteten Streitsachen vordem Bundesverfassungsgericht(Drucksache 16/6452) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) – m)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 269, 270,271, 272, 273, 274, 275 und 276 zu Peti-tionen(Drucksachen 16/6443, 16/6444, 16/6445,16/6446, 16/6447, 16/6448, 16/6449,16/6450) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne-ten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, WinfriedHermann, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein-führung eines Erneuerbare Energien Wär-megesetzes – EEW(Drucksachen 16/3826, 16/5361) . . . . . . . . . .

Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . .

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 6:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für die Angelegenheiten der Euro-päischen Union

– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Regierungskonferenz zurÄnderung der vertraglichen Grundla-gen der Europäischen Union und Un-terrichtung der Bundesregierung ent-sprechend Ziffer VI der Vereinbarungzwischen Deutschem Bundestag und

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der Bundesregierung über die Zusam-menarbeit in Angelegenheiten der Eu-ropäischen Union

– zu dem Antrag der Abgeordneten MarkusLöning, Dr. Werner Hoyer, Michael Link(Heilbronn), weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: EU-Regierungs-konferenz schnell zum Erfolg führen

– zu dem Antrag der Abgeordneten RainderSteenblock, Jürgen Trittin, OmidNouripour, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:EU-Regierungskonferenz – Für einehandlungsfähige und demokratischeEU

(Drucksachen 16/6399, 16/5882, 16/5888,16/6632) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . .

Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kurt Bodewig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Reform des Verfahrens in Fami-liensachen und in den Angelegenheitender freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG)(Drucksache 16/6308) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 V

Gesetzes zur Klärung der Vaterschaftunabhängig vom Anfechtungsverfahren(Drucksache 16/6561) . . . . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes übergenetische Untersuchungen zur Klä-rung der Abstammung in der Familie(Drucksache 16/5370) . . . . . . . . . . . . . . . .

Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 7:

Antrag der Abgeordneten Jürgen Koppelin,Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, BirgitHomburger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Missbilligung der Äuße-rungen des Bundesministers der Verteidi-gung Dr. Franz Josef Jung zum Abschussvon in Terrorabsicht entführten Flugzeu-gen(Drucksache 16/6490) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger(FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Bernd Siebert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . .

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . .

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tagesordnungspunkt 9:

a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenJens Ackermann, Kerstin Andreae, IngridArndt-Brauer und weiteren Abgeordneteneingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Grundgesetzes zurVerankerung der Generationengerech-tigkeit (Generationengerechtigkeitsge-setz)(Drucksache 16/3399) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze,Katja Kipping, Jan Korte, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE:Soziale Gerechtigkeit statt Generatio-nenkampf – Für eine nachhaltige Poli-tik des Sozialstaates im Interesse vonJung und Alt(Drucksache 16/6599) . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . .

Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales

– zu dem Antrag der Abgeordneten VolkerSchneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr.Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE: Zwangsverren-tung stoppen – Beschäftigungsmöglich-keiten Älterer verbessern

12236 A

12236 B

12236 C

12240 B

12241 B

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VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

– zu dem Antrag der Abgeordneten IrmingardSchewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Zwangsverrentung von Langzeitarbeits-losen ausschließen

(Drucksachen 16/5902, 16/5429, 16/6625) . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Neuregelung des Rechtsbera-tungsrechts(Drucksachen 16/3655, 16/6634) . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Ver-braucherinnen und Verbraucher beim Ver-kauf von Immobilienkrediten stärken(Drucksache 16/5595) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

12250 A

12250 B

12251 C

12252 C

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12255 B

12256 C

12256 C

12257 C

12258 C

12260 A

12261 B

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12263 B

12263 C

12264 C

12266 A

Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 15:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Tech-nikfolgenabschätzung

– zu dem Antrag der Abgeordneten MarcusWeinberg, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss,Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD: Bildungsbe-richterstattung fortführen und weiter-entwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaPieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP: Bildungsberichterstattung inDeutschland und deren Weiterentwick-lung

– zu dem Antrag der Abgeordneten PriskaHinz (Herborn), Kai Gehring, KristaSager, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Bildungsforschung und Bildungsbe-richterstattung stärken

(Drucksachen 16/5415, 16/5409, 16/5412,16/6614) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Kultur und Medien zu dem An-trag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto(Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. KarlAddicks, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP: Klare Konzepte für den Baudes Berliner Schlosses(Drucksachen 16/5961, 16/6595) . . . . . . . . . .

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Förderung der betrieblichen Al-tersversorgung(Drucksache 16/6539) . . . . . . . . . . . . . . .

12267 C

12269 A

12269 C

12270 B

12270 C

12272 A

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 VII

b) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L.Kolb, Christian Ahrendt, Daniel Bahr(Münster), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Abgabenfreie Entgelt-umwandlung über 2008 hinaus fortfüh-ren und ausbauen(Drucksache 16/6433) . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 8:

Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BeitragsfreieEntgeltumwandlung – Erst prüfen, dannentscheiden(Drucksache 16/6606) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses zu dem Antrag der AbgeordnetenUlla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Bleiberecht als Menschenrecht(Drucksachen 16/3912, 16/4827) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Modernisierung des Rechts derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung(LSVMG)(Drucksache 16/6520) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Unterrichtung durch den Präsidenten desBundesrechnungshofes: Bericht nach§ 99 der Bundeshaushaltsordnung überdie Umsetzung und Weiterentwicklungder Organisationsreform in der land-wirtschaftlichen Sozialversicherung(Drucksache 16/6147) . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 18:

Antrag der Abgeordneten Krista Sager, KaiGehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kooperation und Koordi-

12272 A

12272 A

12272 B

12272 C

12272 D

nation im Europäischen Forschungsraumverbessern(Drucksache 16/6454) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge-setzes zur Änderung des Versicherungsauf-sichtsgesetzes(Drucksache 16/6518) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

a) Antrag der Abgeordneten Elke Hoff,Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Deutschland muss rüstungskon-trollpolitische Glaubwürdigkeit bewei-sen – Angepassten KSE-Vertrag demDeutschen Bundestag zur Abstimmungvorlegen(Drucksache 16/6431) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten WinfriedNachtwei, Alexander Bonde, JürgenTrittin, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Angepassten Vertrag über Konventio-nelle Streitkräfte in Europa ratifizieren(Drucksache 16/6605) . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 9:

Antrag der Abgeordneten Dr. Karl-TheodorFreiherr zu Guttenberg, Eckart von Klaeden,Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie derAbgeordneten Dr. Rolf Mützenich, GertWeisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:Die Krise des KSE-Vertrages durch neueImpulse für konventionelle Abrüstung undRüstungskontrolle in Europa beenden(Drucksache 16/6603) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 23:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Vierten Buches Sozialgesetz-buch und anderer Gesetze(Drucksache 16/6540) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12273 A

12273 A

12273 B

12273 C

12273 C

12273 D

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VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Tagesordnungspunkt 22:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz zu dem Antrag der Abge-ordneten Cornelia Behm, Undine Kurth(Quedlinburg), Ulrike Höfken, Bärbel Höhnund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Dem Verlust an Agrobiodiversitätentgegenwirken(Drucksachen 16/5413, 16/5752) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 25:

Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig,Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich(Hof), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenAnnette Faße, Brunhilde Irber, RenateGradistanac, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Messen und Geschäftsrei-sen als Chance für den TourismusstandortDeutschland(Drucksache 16/5958) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 24:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung zu dem Antrag der Abgeordneten HorstFriedrich (Bayreuth), Michael Kauch, JanMücke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP: Oldtimer von Feinstaub-Fahrverboten ausnehmen(Drucksachen 16/4060, 16/6327) . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 10:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeuregelung des Wohngeldrechts und zurÄnderung anderer wohnungsrechtlicherVorschriften(Drucksache 16/6543) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

12274 A

12274 B

12274 C

12275 A

12275 C

12277 A

Anlage 2

Mündliche Frage 11 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Speicherung von IP-Adressen und weiterenDaten von Nutzern der Internetseiten vonBundesministerien und nachgeordnetenEinrichtungen unter anderem durch dasBundeskriminalamt, insbesondere vor demHintergrund des Berufungsurteils desLandgerichts Berlin gegen das Bundesjus-tizministerium

Antwort Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär

BMI (117. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) . . . . . .

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts zuden Anträgen:

– Bildungsberichterstattung fortführen undweiterentwickeln

– Bildungsberichterstattung in Deutschlandund deren Weiterentwicklung

– Bildungsforschung und Bildungsbericht-erstattung stärken

(Tagesordnungspunkt 15)

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . .

Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Andreas Storm, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts zudem Antrag: Klare Konzepte für den Bau desBerliner Schlosses (Tagesordnungspunkt 14)

Renate Blank (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Weis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12277 C

12278 A

12279 D

12281 A

12281 D

12282 C

12284 A

12284 B

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 IX

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . .

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Förderung derbetrieblichen Altersversorgung

– Antrag: Abgabenfreie Entgeltumwand-lung über 2008 hinaus fortführen und aus-bauen

– Antrag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung –Erst prüfen, dann entscheiden

(Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-nungspunkt 8)

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . .

Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts:Bleiberecht als Menschenrecht (Tagesord-nungspunkt 16)

Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12284 C

12285 B

12285 D

12286 B

12287 C

12289 A

12290 A

12291 C

12292 B

12292 D

12293 D

12294 C

12295 C

12296 D

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Modernisie-rung des Rechts der landwirtschaftlichenSozialversicherung (LSVMG)

– Unterrichtung: Bericht nach § 99 der Bun-deshaushaltsordnung über die Umsetzungund Weiterentwicklung der Organisations-reform in der landwirtschaftlichen Sozial-versicherung

(Tagesordnungspunkt 19 a und b)

Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . .

Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . .

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . .

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Kooperation und Koordinationim Europäischen Forschungsraum verbessern(Tagesordnungspunkt 18)

Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Än-derung des Versicherungsaufsichtsgesetzes(Tagesordnungspunkt 21)

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . .

12297 B

12299 A

0000 A12300 B

12301 A

12301 D

12302 C

12303 B

12304 A

12305 D

12307 B

12308 D

12310 B

12311 B

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X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . .

Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

– Deutschland muss rüstungskontrollpoliti-sche Glaubwürdigkeit beweisen – Ange-passten KSE-Vertrag dem Deutschen Bun-destag zur Abstimmung vorlegen

– Angepassten Vertrag über KonventionelleStreitkräfte in Europa ratifizieren

– Die Krise des KSE-Vertrages durch neueImpulse für konventionelle Abrüstung undRüstungskontrolle in Europa beenden

(Tagesordnungspunkt 20 a und b und Zusatz-tagesordnungspunkt 9)

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Vierten Buches Sozialgesetzbuch und an-derer Gesetze (Tagesordnungspunkt 23)

Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12312 B

12313 D

12314 B

12315 A

12316 A

12317 C

12318 C

12319 C

12320 A

12321 C

12324 A

12325 B

12326 B

12327 A

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 12

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts:Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegen-wirken (Tagesordnungspunkt 22)

Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Botz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . .

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . .

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 13

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Messen und Geschäftsreisen alsChance für den Tourismusstandort Deutsch-land (Tagesordnungspunkt 25)

Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . .

Brunhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 14

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts zudem Antrag: Oldtimer von Feinstaub-Fahrver-boten ausnehmen (Tagesordnungspunkt 24)

Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . .

Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12327 C

12328 A

12329 B

12330 A

12330 C

12331 C

12332 B

12333 A

12334 A

12335 A

12336 C

12337 C

12338 B

12338 D

12340 A

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12343 B

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 XI

Anlage 15

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelungdes Wohngeldrechts und zur Änderung ande-rer wohnungsrechtlicher Vorschriften (Zusatz-tagesordnungspunkt 10)

Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12344 B

Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . .

Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Karin Roth, Parl. Staatssekretärin BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12346 A

12346 C

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12137

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118. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-

ginnen und Kollegen!

Ich habe einige Mitteilungen zu machen, bevor wir inunsere Tagesordnung eintreten.

In der letzten Septemberwoche haben die KollegenPeter Götz, Gerd Bollmann und Jörg van Essen ihre60. Geburtstage gefeiert.

(Beifall)

Im Namen des ganzen Hauses möchte ich dazu herzlichgratulieren und alle guten Wünsche übermitteln.

Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass der KollegeChristoph Waitz anstelle der Kollegin Gisela Piltzneues Mitglied im Beirat nach § 39 des Stasi-Unter-lagen-Gesetzes werden soll. Sind Sie mit diesem Vor-schlag einverstanden? – Das sieht ganz so aus. Dann istder Kollege Christoph Waitz in den Beirat gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen FDP und DIELINKE

Haltung der Bundesregierung zu Veränderun-gen bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengel-des I und bei der Rente ab 67 und entspre-chenden Äußerungen des Bundesministers fürArbeit und Soziales Franz Müntefering

ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD und FDP

Menschenrechte und Demokratie in Birmadurchsetzen

– Drucksache 16/6600 –

ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald

Leibrecht, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Den Gemeinsamen Standpunkt der EU zuBirma/Myanmar stärken

– Drucksachen 16/5608, 16/6611 –

Berichterstattung:Abgeordnete Holger Haibach Detlef Dzembritzki Harald Leibrecht Monika Knoche Kerstin Müller (Köln)

(ZP 1 bis ZP 3 siehe 117. Sitzung)

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkNiebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit anBeitragszahler zurückgeben – Beitragssen-kungspotenziale nutzen

– Drucksache 16/6434 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten InaLenke, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Chancengerechtigkeit von Beginn an

– Drucksache 16/6597 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren(Ergänzung zu TOP 34)

a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenHans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph

Redetext

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Präsident Dr. Norbert Lammert

Waitz, Christian Ahrendt, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDP

Notwendige Verbesserungen am Tele-mediengesetz jetzt angehen

– Drucksache 16/5613 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenHorst Meierhofer, Michael Kauch, AngelikaBrunkhorst, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Verpackungsverordnung sachgerecht novel-lieren – Weichen stellen für eine moderneAbfall- und Verpackungswirtschaft inDeutschland

– Drucksache 16/6598 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenKoppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Missbilligung der Äußerungen des Bundes-ministers der Verteidigung Dr. Franz JosefJung zum Abschuss von in Terrorabsicht ent-führten Flugzeugen

– Drucksache 16/6490 –

ZP 8 Beratung des Antrags der AbgeordnetenIrmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, BrittaHaßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prü-fen, dann entscheiden

– Drucksache 16/6606 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart vonKlaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowieder Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, GertWeisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Krise des KSE-Vertrages durch neueImpulse für konventionelle Abrüstung undRüstungskontrolle in Europa beenden

– Drucksache 16/6603 –

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschuss

ZP 10 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-gelung des Wohngeldrechts und zur Änderunganderer wohnungsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/6543 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 8, 13 und 26 werden abge-setzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunkte 14und 15, 16 und 17, 18 und 19, 20 und 21, 22 und 23 so-wie 24 und 25 jeweils getauscht. Das ist ja alles sehrübersichtlich und deswegen sicherlich sofort verständ-lich.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:

Der in der 115. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträg-lich zusätzlich an den Rechtsausschuss (6. Ausschuss)und den Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zurMitberatung überwiesen werden.

Jahressteuergesetzentwurf der Bundesregie-rung 2008 (JStG 2008)

– Drucksache 16/6290 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie mit diesen vorgetragenen Veränderungeneinverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann istdas so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatz-punkt 4 auf:

3 Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-rung

Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand – Chancenfür den Arbeitsmarkt

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkNiebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

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Präsident Dr. Norbert Lammert

Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit anBeitragszahler zurückgeben – Beitragssen-kungspotenziale nutzen

– Drucksache 16/6434 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion der FDP vor, über den wir später na-mentlich abstimmen werden. Ich weise jetzt auch schondarauf hin, dass wir im Laufe des Nachmittags, vermut-lich gegen 17 Uhr, eine weitere namentliche Abstim-mung haben werden.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister für Arbeit und Soziales, FranzMüntefering.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben unser Regierungsprogramm in Mese-berg mit dem Satz eingeleitet:

Deutschland befindet sich im Wandel. Die Globali-sierung und die demographische Entwicklung stel-len Politik und Gesellschaft vor große Herausforde-rungen

– aber auch vor große Chancen. Dann haben wir dieWege und die Instrumente beschrieben und vorgezeich-net, die zu diesen Zielen führen: zu Aufschwung, zuTeilhabe, zu Wohlstand in Deutschland. Zu diesen We-gen und Instrumenten will ich sprechen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bundesregie-rung nimmt die Herausforderung an und nutzt die Chan-cen. Wir sind dankbar für jeden, der dabei mitmacht: inder Wirtschaft, den Gewerkschaften, den Verbänden, denKirchen, den Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Ichwill stellvertretend einige nennen.

Ich nenne Betriebsräte aus Nordhausen, die sich enga-gieren für die Kolleginnen und Kollegen, die Sorge ha-ben um ihre Arbeitsplätze. Ich nenne kleine und großeUnternehmen, die wir auszeichnen für ihr vorbildlichesVerhalten in ihren Unternehmen im Zusammenwirkenmit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Ich nenne die Integration durch Sportaktionen in Ber-lin-Kreuzberg, wo Ehrenamtliche in den Vereinen dafürsorgen, dass junge Menschen von der Straße geholt wer-den und eine Perspektive bekommen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich nenne zwei junge Frauen, die ich gestern kennen-gelernt habe. Sie begleiteten schwer behinderte, spas-

tisch gelähmte junge Menschen in Rollstühlen. Diesejungen Frauen sind aus Wuppertal und arbeiten als As-sistentinnen, als Betreuerinnen für diese jungen Men-schen. Wenn man das erlebt, weiß man, dass es großartigist, wie sie sich da engagieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Ich nenne junge Auszubildende, die ich in Münchenkennengelernt habe. Sie stehen jeden Morgen so auf,dass sie um 5 Uhr losfahren können irgendwo im Bay-ern-Land, um in München die Ausbildung zu machen.Sie sagen: Jawohl, wir machen das. Wir lernen, wir wol-len die Ausbildung, und wir wollen anschließend in ei-nen guten Beruf hineinkommen.

Ich nenne eine große Spedition, die sich, was die Aus-zubildenden angeht, entschieden hat, zunächst einmal100 Ausbildungsplätze für Hauptschülerinnen und Haupt-schüler anzubieten. Sie sagen: Wir stellen 300 ein;100 davon nehmen wir aus der Hauptschule.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich nenne die Laufer Mühle, eine Einrichtung, in derich vor wenigen Wochen war – Frau Schmidt und HerrMüller waren dabei –, wo wir mit Menschen sehr enga-giert darüber gesprochen haben, was sie tun, damit die,die sonst keine Chance am Arbeitsmarkt hätten, solcheChancen bekommen.

Ich nenne dies alles stellvertretend. Vieles wäre nochzu nennen. Was ich damit sagen will, ist: Es sind inDeutschland viele neben der Politik, außerhalb der Poli-tik unterwegs, die sich engagieren und die mithelfen,dass dieses Land vorankommt. Denen sagen wir unserenDank und unseren Respekt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir tun unsere politische Arbeit, und wir tun sie mitZuversicht. Denn die vergangenen Jahre haben gezeigt:Gestaltung ist möglich, auch ehrgeizige Ziele sind er-reichbar. Wir simulieren keinen Idealzustand fürDeutschland. Aber es gibt auch keinen Grund zur Ver-zagtheit. Die Aufgaben sind groß. Wir wissen, die Ar-beitslosigkeit ist hoch, sie ist zu hoch. Die Verteilung derBildungs- und Lebenschancen ist ungerecht. Auch dieVerteilung des Vermögens ist ungerecht. Aber das Poten-zial für eine gute und erfolgreiche gemeinsame Zukunftin unserem Land ist groß. Vom Erfolg aller sollen allesozial gerecht profitieren – heute, aber auch morgen undübermorgen. Deshalb müssen wir heute die Saat legenfür den Wohlstand von morgen und für nachhaltiges unddauerhaftes Wachstum auch für die nächsten Jahrzehnte.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Heute dürfen wir selbstbewusst feststellen: Die An-strengung zahlt sich aus. Deutschland ist auf einem gu-ten Weg. Die Bundesregierung der Großen Koalition istfest entschlossen, zum Nutzen unseres Landes und sei-ner Menschen diesen Weg zu gehen, auch wenn es an-strengend ist – und es ist anstrengend; manchmal ma-chen wir es uns unnötig anstrengend.

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Bundesminister Franz Müntefering

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Weg zu Wachs-tum, Teilhabe und Wohlstand heißt auch und zuvorderst„mehr und gute Arbeit“; denn Arbeit ist sinnstiftend fürjeden Menschen. Sie ist die Bedingung für Wohlstand,der gemeinsam erwirtschaftet wird. Deshalb bleiben derKampf für mehr und gute Arbeit und die Bekämpfungder Arbeitslosigkeit herausragende Ziele dieser Bun-desregierung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Mehr Arbeit ist möglich. Deutschland ist wettbe-werbsfähig. Dazu tragen wir bei, und das werden wirauch weiter tun. Deutschland hat noch mehr Arbeit, dieauch mobilisiert werden muss. Ein paar Beispiele:

Dienst Mensch am Mensch. Wir haben in Mesebergbeschlossen, dass die Gesundheitsministerin ein Kon-zept zu der Idee „Dienst Mensch am Mensch“ imBereich Pflege vorlegt. Da gibt es gerade in einer älterwerdenden Generation, in einer älter werdenden Gesell-schaft viele Aufgaben, große Bedarfe und große Chan-cen. Das Gesundheitswesen einschließlich des ganzenPflegebereichs ist, wenn man so will, die größte Bran-che, die wir in dieser Gesellschaft haben. Da wird es Ar-beitsplätze und noch mehr Arbeitsplätze geben als bis-her. Wir müssen dieses ganze System nicht nur begreifenals etwas, worüber wir sprechen, wie wir Geld sparenwollen. Das Gesundheitswesen und das Pflegewesensind nicht dann am besten, wenn wir möglichst wenigausgeben, sondern wenn die Menschen, die darauf ange-wiesen sind, etwas davon haben. Das dürfen wir bei alldem, was wir tun, nicht aus den Augen verlieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Zweites Beispiel: Haushalt. Dass es da Möglichkeitengibt, mehr und legale und sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung zu organisieren, das zeigt uns zum Bei-spiel unser Nachbar Frankreich. Dienstleistungen im pri-vaten Bereich müssen so weit wie möglich aus demNebel der Schwarzarbeit herausgeholt und geordnetwerden. 2008 werden wir aktiv werden: Haushalt alsAuftraggeber – das wollen wir stärker systematisierenund damit zusätzliche Impulse setzen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Drittes Beispiel: Infrastruktur. Gerade bei der Infra-struktur leben wir an vielen Stellen von der Substanz;das ist vielen nicht bewusst. Das gilt ganz besonders fürden kommunalen Bereich, bei Gebäuden, Wegen undKanälen. Wir geben deutlich weniger für diesen Bereichaus als Anfang der 90er-Jahre. Damals waren es 2,8 Pro-zent unseres BIP, heute sind es 1,4. Die Gemeinden zumBeispiel geben aktuell nur 18 Milliarden Euro im Jahraus. Wir bräuchten aber das Doppelte oder Vierfache.Wenn wir heute nicht reparieren und instandsetzen, wirdes morgen oder übermorgen um ein Vielfaches teurer.Deshalb müssen wir in die Infrastruktur des Landes in-vestieren. Diese Infrastruktur ist ein Gut, eine Bedin-gung dafür, dass wir Hochleistungsland und Wohlstands-

land bleiben können. Wir, Bund, Länder und Gemeinden– ich nenne die beiden Letztgenannten ganz ausdrück-lich –, müssen den Mut haben, die Arbeitsplätze, die esgibt, zu heben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir haben zu Beginn der Koalition das 25-Milliarden-Programm vereinbart. Das setzt sich fort. Das führt dazu,dass wir in diesem und in den kommenden Jahren stabil9,1 Milliarden Euro für Investitionen des Bundes imVerkehrswesen zur Verfügung haben.

Viertes Beispiel: energetische Gebäudesanierung.Sie ist von besonderem Gewicht und ein Gewinn in drei-facher Hinsicht: Energetische Gebäudesanierung bringtArbeitsplätze vor Ort, bei den kleinen und mittleren Un-ternehmen; sie ist gut für den Klimaschutz, und sieamortisiert sich in fünf bis zehn Jahren; denn die Ener-giepreise werden nie wieder so niedrig sein, wie sie malgewesen sind. Wir müssen diese Linie der energetischenGebäudesanierung fortsetzen. Wir müssen das intensi-vieren. Wir müssen die Chance nutzen, mit Umweltthe-men, mit einer vernünftigen Klimapolitik Arbeitsplätzezu schaffen. Das ist eine alte Idee, die so aktuell ist, wiesie nur sein kann. Heute wissen wir alle: Wer vernünf-tige Umweltpolitik, wer vernünftige Klimapolitik macht,muss deshalb nicht in die Zeit der Sandalen und langenLocken zurückfallen, sondern kann das im Wohlstands-leben aller tun.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und derCDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts gegen Sandalen!)

– Zwischenfragen sind zwar nicht erlaubt, Zwischenrufevon mir aus aber schon. Ihr seht ja heute auch alle ge-pflegt aus. Das ist mit euch alles anders geworden.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und derCDU/CSU – Widerspruch beim BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Hochleis-tungsland sein wollen – und das wollen wir –, dann müs-sen wir Hochbildungsland sein. Wir haben in den ver-gangenen Tagen zur Kenntnis nehmen dürfen, dass dieNobelpreise für Physik und Chemie an Deutsche verge-ben worden sind. Von hier aus meinen und sicherlich Ih-rer aller Glückwunsch an die Professoren Grünberg undErtl.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDPund der LINKEN sowie bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind stolz auf die beiden. Und natürlich: SchönenGruß an all die jungen Grünbergs und Ertls: Machtvoran! Wir möchten, dass ihr in zehn oder 20 Jahrenauch die Nobelpreise bekommt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – FritzKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Undjetzt noch Glückwünsche an die Frauennatio-nalmannschaft!)

– Das kommt dazu.

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Bundesminister Franz Müntefering

Bildung ist unser Schicksal. Bildung ist die entschei-dende Bedingung, damit wir Wohlstandsland bleibenkönnen. Deutschland muss die Zahl der Schulabbrecherdeutlich reduzieren und die Zahl der Studenten deutlicherhöhen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Und insbesondere den Kindern mit Migrationshinter-grund müssen wir ein ehrliches und wirksames Angebotmachen.

Ich habe einen Bürgerbrief bekommen, der sich, weiler kurz ist, zum Zitieren eignet:

Meine Enkelin Claudia besuchte mich mit FreundFabio.

So schreibt mir diese Frau.

Fabio stellte sich vor: Schweizer, in Sizilien gebo-ren, fünfjährig mit den Eltern in die Schweiz einge-wandert, kam in die Schule. Der Lehrer stellteSprachschwierigkeiten fest. Da bekam Fabio zweiJahre Einzelunterricht in Deutsch auf Staatskosten,machte Abi und studierte.

Die Briefschreiberin fragt abschließend:

Wie viele deutsche Ingenieure hätten wir mehr,wenn wir unsere Immigrantenkinder vergleichbarförderten?

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP, der LINKEN unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist eine sehr berechtigte und sehr nachdenklich ma-chende Frage, eine Frage, die den Finger in die Wundelegt.

Das gilt auch für Ausbildung. Eine gute Ausbildungist noch immer der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.Der Ausbildungsmarkt ist erfolgreich. Zum Beginn desAusbildungsjahres sind bundesweit bislang 530 700 Aus-bildungsverträge abgeschlossen worden. Aber rund29 000 Jugendliche sind noch unversorgt. Im letzten Jahrum diese Zeit waren es noch knapp 50 000. Das beweist:Es ist besser geworden. Aber trotzdem gilt auch in die-sem Jahr, dass wir jetzt alle Anstrengungen in die Nach-vermittlungen legen müssen, und zwar gemeinsam: Poli-tik, Betriebe und Sozialpartner. Die 40 000 Plätze fürEinstiegsqualifizierung, die die Bundesregierung fördert,werden dabei entscheidend mithelfen, so wie das Pro-gramm „U 25“ und der neue Qualifizierungskombi, derrückwirkend am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft tritt.

Ein weiteres wichtiges Element haben die Koalitions-fraktionen mit dem Konzept „Jugend, Ausbildung undArbeit“ eingebracht. Wir haben in Meseberg verabredet,dass wir die Prüfung sehr bald abschließen werden undschauen, was wir in den Bereichen Ausbildungsbonusfür überdurchschnittlich ausbildende Betriebe, Ausbil-dungskostenzuschüsse für die Ausbildung bestimmterGruppen von benachteiligten Altbewerbern, Einsatz vonAusbildungspaten und Verstärkung der personellen Res-sourcen der Berufsberatung umsetzen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im September wardie Arbeitslosigkeit in Deutschland so niedrig wie seitzwölf Jahren nicht mehr: 1 Million arbeitslose Men-schen weniger als vor zwei Jahren, 694 000 weniger alsvor einem Jahr. Bei den über 50-Jährigen sind 191 000weniger arbeitslos – das sind 17,4 Prozent – als vor ei-nem Jahr. Bei den unter 25-Jährigen sind 103 000 weni-ger arbeitslos – das sind 19,6 Prozent – als vor einemJahr. Dazu kommen 1 Million offene Stellen. Wann kön-nen wir in Deutschland eigentlich von einem Erfolg derpolitischen Arbeit sprechen, wenn nicht an dieser Stelle?

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Erfolge sind überall vorhanden, aber sie verteilen sichregional noch sehr unterschiedlich, dramatisch unter-schiedlich. Der Kreis Eichstätt meldet mit 1,8 ProzentArbeitslosigkeit de facto Vollbeschäftigung, während amanderen Ende der Skala die Stadt Görlitz mit21,6 Prozent eine Arbeitslosigkeit aufweist, die deutlichmacht: Wir haben das Ziel „Arbeit für alle“ noch langenicht erreicht. Deswegen werbe ich für einen Kommu-nalkombi, um in Regionen mit besonders verfestigterLangzeitarbeitslosigkeit mehr Chancen auf Arbeit zu er-öffnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen in dieser Situation in Deutschland den Wegfinden, denen, die aus der Geschichte heraus in ganz be-sonderer Weise Schwierigkeiten haben, am ArbeitsmarktArbeit zu finden, besondere Hilfe zu geben. Wir müssendiese Situation des Landes nutzen – 1 Million offeneStellen –, dafür zu werben, dass sich strukturell etwasverändert. Ein Unterschied von 20 Prozent zwischenEichstätt und Görlitz darf nicht bleiben. Dafür müssenwir miteinander streiten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich bin gegen Schönmalerei. Ich werbe für Realis-mus. Aber ich bin gegen die Propheten des Depressiven,die mir immer noch zu oft begegnen

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und die eines auf jeden Fall nicht sind, nämlich ins Ge-lingen verliebt. Das muss man aber sein, wenn es gelin-gen soll.

Dieser Tage, am 4. Oktober, las ich in einer ddp-Ti-ckermeldung über die Arbeitslosigkeit in der Gruppeder Älteren, von einer wichtigen Person veranlasst:

Nach wie vor würden jeden Monat rund 100 000 äl-tere Menschen über 50 Jahre arbeitslos, seit Jahres-beginn seien es eine Million Menschen. Es seienauch kaum mehr Menschen über 50 als früher, diewieder einen Job erhielten. Und viele davon fändennur kurzfristige Beschäftigung oder Leiharbeit.Hier gebe es dringenden Handlungsbedarf …

Richtig ist: Im September gab es mehr als 102 000 Zu-gänge aus der Generation 50 plus in Arbeitslosigkeit.Es gab aber im September auch 141 000 Abgänge von„50-Plus-ern“ aus der Arbeitslosigkeit heraus.

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Bundesminister Franz Müntefering

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Seit Anfang 2007 stehen 1 004 000 Zugänge von„50-Plus-ern“ in Arbeitslosigkeit 1,235 Millionen neuenStellen gegenüber, die von über 50-Jährigen besetzt wur-den: über 230 000 neue Chancen und Perspektiven.

Wenn man solche Darstellungen in solchen Meldun-gen liest, in denen die 100 000 minus genannt werden,aber die 140 000 plus nicht, dann kann einen schon derheilige Zorn packen. Von bewusster Täuschung ist dasnicht ganz weit entfernt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Insgesamt haben wir im zweiten Quartal 2007 eineBeschäftigungsquote von 52 Prozent bei den über 55-Jäh-rigen. Das waren 1968, als Rot-Grün begann, 37,7 Pro-zent.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: 1968? Da war ich erst 12!)

– 1998. Habe ich etwas Falsches gesagt?

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, 1968!)

– 1998. Ich habe das Gefühl, das ist schon lange her; da-her kommt das vielleicht bei mir.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

1998 waren es also 37,7 Prozent. Im zweiten Quartaldieses Jahres sind es 52 Prozent. Jetzt sage ich noch eineZahl, weil ich mir das gestern noch einmal differenzierthabe heraussuchen lassen: Bei den 55- bis 59-Jährigenliegt der Anteil jetzt bei 67,2 Prozent. Über zwei Drittelder 55- bis 59-Jährigen sind wieder in Beschäftigung.Mit Verlaub, darauf dürfen wir alle miteinander stolzsein. Das ist eine gute Entwicklung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Mese-berg nicht nur Akzente für mehr Arbeit, sondern auchfür gute Arbeit gesetzt. Wir haben in der Koalition eineschwierige, aber doch Einigung über zwei Instrumenteerzielt, um Lohndumping und Dumpinglöhne zu verhin-dern: erstens das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wirverändern das Entsendegesetz und werden nächstes Jahrallen Branchen, die die Voraussetzungen erfüllen, hiereinen allgemeinverbindlichen Mindestlohn ermöglichen.

(Zuruf von der LINKEN: Was ist mit der Post?)

Zweitens aktualisieren wir das Mindestarbeitsbedingun-gengesetz, um auch diejenigen Branchen für Mindest-lohnregelungen zu erreichen, in denen die Tarifbindungunter 50 Prozent liegt und die deshalb nicht ins Entsen-degesetz aufgenommen werden können. Auch das pas-siert in 2008. Darauf haben wir uns in der Koalition ge-einigt; das setzen wir um.

Noch in diesem Jahr nehmen wir zu alten Bedingun-gen nach bisherigem Modus den Bereich Briefdiensteins Entsendegesetz auf.

(Beifall bei der SPD)

Die Tarifparteien haben sich auf einen Tarifvertrag geei-nigt und den Antrag auf Aufnahme ins Gesetz und aufAllgemeinverbindlichkeit für ihren Tarifvertrag gestellt.Wir gehen die Umsetzung und die Aufnahme ins Arbeit-nehmer-Entsendegesetz jetzt zügig an, sodass bis zumNeujahrstag zeitgleich mit dem Ende des Briefmonopolsin Deutschland ein allgemeinverbindlicher Mindestlohnfür Briefdienste möglich ist. Ich möchte das.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Ziel von Mindestlohnrege-lungen ist es, zu verhindern, dass mit DumpinglöhnenMenschen unwürdig behandelt werden und mit Lohn-dumping ehrliche und faire Unternehmer in die Kniekonkurriert werden.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu guter Arbeit ge-hört, dass wir im Bundesministerium für Arbeit und So-ziales an einem Konzept zur Humanisierung der Arbeits-welt arbeiten. Auch das haben wir in Meseberg nocheinmal miteinander vereinbart. Da geht es um Präven-tion, um Gesundheitsschutz, um alters- und alternsge-rechte Arbeit, um Möglichkeiten zur Qualifizierung, umfamiliengerechte Arbeitswelt. Außerdem haben wir inMeseberg vereinbart, dass wir analysieren und prüfen,was im Bereich Zeitarbeit geschieht. Die Zeitarbeit hatsich inzwischen zu einer soliden und seriösen Brancheentwickelt. Das ist gut, und das soll auch so bleiben. Da-bei wollen wir sie stützen und stabilisieren.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Aber wir müssen prüfen, ob die Methode Zeitarbeitüberall so ausgestaltet ist, wie wir uns das vorgestellt ha-ben.

(Beifall bei der SPD)

Zeitarbeit darf nicht dazu führen, dass Belegschaftenausgegliedert und dann drei Tarifstufen niedriger wiederzurückgeholt werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)

Zeitarbeit soll nicht zu Dauerarbeit werden und schongar nicht zum Zweck willkürlich herbeigeführter niedri-ger Löhne.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Kornelia Möller [DIELINKE]: Dafür habt ihr aber gesorgt!)

Wir werden uns dazu melden.

Meine Damen und Herren, gute Arbeit, das heißtauch: Chancen zur Weiterbildung und Weiterqualifi-zierung. Hier ist Deutschland Entwicklungsland.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Allerdings!)

Hier sind wir eindeutig nicht auf der Höhe der Zeit. Unsfehlen in Deutschland nachweisbar Maschinenbau- und

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Bundesminister Franz Müntefering

Elektroingenieure. Dazu haben wir in Meseberg dreiPunkte beschlossen:

Erstens und zuvorderst wollen wir das eigene Poten-zial nutzen. Das heißt, wir müssen alle Menschen, die le-gal in Deutschland sind, bilden, ausbilden und qualifizie-ren. Das, was wir an Potenzial haben, sind dieMenschen. Wir brauchen sie. Mit ihnen müssen wir dieAufgaben, die wir in diesem Land zu erfüllen haben, er-füllen. Das ist die erste Bedingung in diesem Zusam-menhang.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Kurzfristig, zum 1. November, öffnen wir zweitensden Arbeitsmarkt für Maschinenbau- und Elektroinge-nieure aus den zwölf neuen EU-Mitgliedstaaten. Für siewird das Prinzip der Nachrangigkeit am deutschen Ar-beitsmarkt aufgehoben. Ausländische Studenten habennach Abschluss ihres Studiums wie bisher ein Jahr Zeit,Arbeit zu finden. Neu ist: Auch für sie entfällt das Prin-zip der Nachrangigkeit.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Das heißt, sie können sich gleichrangig am deutschenArbeitsmarkt bewegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Drittens. Wir wollen eine arbeitsmarktadäquate Steu-erung der Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräftevorsehen. Die Bundesregierung wird ein Konzept zurZuwanderung entwickeln, das den Interessen unseresLandes auch in der nächsten Dekade Rechnung trägt.Bei der Erarbeitung dieses Konzepts sollen quantitativeund qualitative Instrumente geprüft und die Erfahrungenanderer Länder bei der arbeitsmarktbezogenen Steue-rung der Zuwanderung einbezogen werden. Es geht umeine arbeitsmarktadäquate Arbeitsmigration. Aber ichsage noch einmal: Zuerst sind die zu qualifizieren, die inunserem Lande sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist einreiches Land. Dennoch gibt es Armut. Gegen existenz-gefährdende Armut haben wir verlässliche Solidar-und Grundsicherungssysteme.

(Zuruf von der LINKEN: Mindestlohn!)

Das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe decken dasExistenzminimum ab.

(Zuruf von der LINKEN: Sagen Sie!)

Ob das noch so ist und ob die Anpassungsmechanismenrichtig funktionieren, überprüfen wir gerade. Im Novem-ber werden wir valide Zahlen vom Statistischen Bundes-amt vorliegen haben. Und dann wird die Bundesregie-rung sehr rasch entscheiden, ob und wie reagiert werdenkann.

Wir haben in Meseberg ein weiteres aktives Instru-ment zur Armutsbekämpfung und zur Arbeitsschaffung

angepeilt. Wir arbeiten aktuell an einem Gesamtkonzept,das einen Bonus für Arbeit, den Erwerbstätigenzuschuss,mit dem bewährten und zu erweiternden Instrument desKinderzuschlags verbindet. Mit diesem neuen Instru-ment wollen wir Erwerbstätige, die vollbeschäftigt odernahe daran sind, aber mit ihrem Arbeitseinkommen nichtdas Existenzminimum erreichen, möglichst vor Hilfebe-dürftigkeit schützen. Sie fallen dann nicht mehr unter dieVermögensprüfung nach dem SGB II.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach unseren bisherigen Berechnungen könnten wir mitdiesem Instrument auch mehrere Hunderttausend Kinderaus der Hilfebedürftigkeit herausholen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Armutsbe-kämpfung haben wir vor allem die Kinder im Blick. Wirwollen und werden vom Interesse des Kindes her den-ken.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Aus materieller Armut darf keine Chancenarmut wer-den,

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

keine Armut an Bildung, keine Armut an Gesundheitund keine Armut an Teilhabe. Aber das passiert heuteoft. Gleiche Chancen auf Bildung, Ausbildung und Ar-beit zu organisieren, das ist und bleibt der Schlüssel, umArmut nachhaltig zu bekämpfen und ihr dauerhaft vor-zubeugen. Hier haben wir eine große Verantwortung.Alle stehen in dieser Verantwortung: Bund, Länder undGemeinden. Wir dürfen nicht an der falschen Stelle spa-ren. Das, was wir jetzt in die Kinder und Jugendlichenund in die Chancengerechtigkeit investieren, ist sehr gutangelegtes Geld, auch für die Zukunft unseres Landes.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vom Interesse des Kindes her zu denken, das führtnach meiner Überzeugung auch dazu, dass wir die Hilfeanders organisieren müssen als nur über direkte Geld-leistungen. Niedrige Kitagebühren, ein gesundes Mittag-essen in Kita oder Schule und spezielle Unterstützungbei der Einschulung, das könnten Hilfen sein, die direktbei den Kindern ankommen, die diese direkten Hilfenganz besonders brauchen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Armut zu bekämpfen und Teilhabe zu sichern, dassind unsere Ziele in Deutschland, aber darüber hinausauch in der Europäischen Union und in der Welt. Auchhier ist die Bundesregierung mit ihrer Politik aktiv. Wäh-rend unserer EU-Ratspräsidentschaft haben wir dasSoziale in Europa sichtbarer gemacht und das europäi-sche Sozialmodell gestärkt. Daran knüpfen wir in derTeampräsidentschaft mit Portugal und Slowenien an.Deshalb habe ich in dieser Woche in Lissabon einen Vor-stoß gemacht zur Ergänzung der integrierten Leitlinien,der Lissaboner Leitlinien, die im nächsten Jahr fortge-schrieben werden. Es soll in der Beschäftigungsleitlinieum die Bekämpfung von Armut bei Familien und Kin-

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Bundesminister Franz Müntefering

dern und um den Anspruch auf faire, gerechte Löhne ge-hen. Es gab dafür viel Zustimmung von den europäi-schen Partnern und Kommissionsvertretern. Wir werdenauch international den Prozess von Heiligendamm fort-setzen; auch das haben wir in Meseberg vereinbart.

Wir werden von hier aus nicht alle Probleme der Weltlösen können; aber wir können und wir wollen mithel-fen, dass soziale Kohärenz im Handeln der großen inter-nationalen Organisationen wie UNO, ILO, WTO, IWFund Weltbank gestärkt wird und Mechanismen für diesoziale Gestaltung der Globalisierung vorankommen.Denn das ist klar: Das Soziale ist Wachstums- und Stabi-litätsfaktor – bei uns im Land, in Europa und in der Welt.Deswegen liegt für Deutschland – Exportweltmeister,der wir sind – die soziale Gestaltung, auch die sozialeGestaltung der Welt, im wohlverstandenen eigenen Inte-resse.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Deshalb engagieren wir uns – die Bundeskanzlerin, derAußenminister, der Wirtschaftsminister, alle, die wir indiesem Kabinett, in dieser Bundesregierung unterwegssind – in Europa und darüber hinaus auch für diesenAspekt. Wenn wir über die Zukunftsfähigkeit von Arbeitund Sozialem in Deutschland sprechen, müssen wir wis-sen: Das verbindet sich aufs Engste mit der Frage, wie esdenn in Europa und darüber hinaus in dieser Welt weiter-geht. Wir wollen als reiches Land unseren Teil dazu bei-tragen, dass Armut in der Welt, soweit es denn nur mög-lich ist, bekämpft wird. Dass die soziale Dimensionbleibt, dass das Ökonomische und das Ökologische – dasist wichtig – um das Soziale ergänzt werden und dassdaraus eine vernünftige, kohärente soziale Politik wird– nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus –,dafür wollen wir in dieser Bundesregierung unseren Bei-trag leisten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unsereschöne Hauptstadt Berlin und ihre Menschen sind füreine gewisse Sprödigkeit bekannt. In Berlin heißt dashöchste Lob: Da kannste echt nich meckern!

(Heiterkeit)

Über Sinnhaftigkeit und Leistung dieser Großen Koali-tion wird seit ihrem Bestehen viel sinniert und viel ge-deutet, meistens skeptisch. Ich sage Ihnen voraus: Wennes die Große Koalition einmal nicht mehr geben wird– irgendwann in 17 500 Stunden oder so ähnlich –,

(Heiterkeit der Abg. Elke Ferner [SPD])

werden sich viele im Land umsehen und werden, wennsie die Leistungen der Großen Koalition bewerten, sa-gen: Da kannste echt nich meckern!

(Langanhaltender Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort erhält zunächst der Kollege Dirk Niebel fürdie FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dirk Niebel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Bundesarbeitsminister hat eben eine interes-sante Rede gehalten,

(Zuruf von der SPD: Eine gute!)

die über weite Strecken sogar als launige Rede bezeich-net werden kann.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat auch allen Grund dazu!)

Er hat Dinge gesagt, denen ich nicht zustimme. Er hatDinge gesagt, denen ich zustimme. Er hat völlig zuRecht das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger indiesem Land gelobt. Er hat völlig zu Recht die Leis-tungsfähigkeit vieler Menschen in diesem Land gelobt.Ich glaube, bei diesem Lob hat er einzig die Damen-Fuß-ballnationalmannschaft vergessen, die ich jetzt aus-drücklich beglückwünschen möchte.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – KlausBrandner [SPD]: Das haben die Grünen schongetan! Da kommen Sie zu spät!)

Besonders interessant an der Rede des Vizekanzlers undArbeitsministers war aber, dass er offenkundig wederKraft noch Mut hat, das arbeitsmarktpolitisch inte-ressanteste Thema in der öffentlichen Diskussion hierkonkret anzusprechen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands hat einen Stein ins Wasser geworfen. Stattder geneigten Öffentlichkeit vom Platz des Ministerprä-sidenten von Rheinland-Pfalz auf der Bundesratsbankaus zu erklären, was er für die Zukunft Deutschlands undden Arbeitsmarkt möchte, sieht er vom spanischen Ba-destrand zu, wie sich die Wellen auf den Arbeitsministerzu bewegen und sie ihn auf lange Frist wahrscheinlichwegspülen werden.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das, was Sie machen,ist nur primitiv! Jeder hat Anspruch auf Ur-laub, Herr Niebel!)

Die Agenda 2010 wurde von den Sozialdemokratennoch bis vor kurzem als Auslöser für den Schröder-Auf-schwung gelobt. Mittlerweile schämen Sie sich um dieWette. Es stellt sich die Frage, ob sich diese Krise derSPD – ich sage den Sozialdemokraten in Union undSPD: den Linksaußen werdet ihr nicht nachlaufen kön-nen; sie sind schon so lange unterwegs, dass ihr sie nieüberholen könnt –

(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

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Dirk Niebel

zu einer Krise der Bundesregierung entwickelt. Das stehtzu befürchten und wäre schlecht für die Menschen inDeutschland.

(Beifall bei der FDP)

Um das beurteilen zu können, müssen wir einmal inRuhe betrachten, was die Führungsreserve der SPD imKabinett von Frau Merkel tut. Sigmar Gabriel taucht inseiner uns bekannten Bescheidenheit ab und sagt garnichts. Er versteckt sich quasi unter dem Stein. Da wirschon bei den Steinen sind: Wir stellen fest, dass auf-grund der unklaren Aussagen in dieser innerparteilichenDiskussion, durch die eine Regierungskrise ausgelöstwerden kann, der Wunsch, ein Parteiamt zu bekommen,sehr ausgeprägt sein muss. Herr Steinbrück gibt den Mo-derator. Herr Steinmeier ist genauso klar wie eineSphinx.

Der Arbeitsminister wird alleine gelassen, obwohl erinhaltlich ausnahmsweise einmal recht hat; denn die Ar-beitslosigkeit ist gerade bei den älteren Menschen über-proportional zurückgegangen. Alle Forschungsinstitutesagen, dies habe einen ursächlichen Zusammenhang mitder Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I.

(Beifall bei der FDP)

Am 11. November 2006 hat Kurt Beck in der Süd-deutschen Zeitung gesagt – ich zitiere –:

Unser Anspruch muss sein, alles zu tun, damitMenschen schnell wieder Arbeit bekommen, undnicht, dass sie etwas länger und etwas besser in derArbeitslosigkeit leben können. Wir wissen: Je län-ger jemand draußen ist, desto schwerer hat er es,wieder reinzukommen.

Diesen Teufelskreis mussten wir durchbrechen.Wer das jetzt wieder rückgängig macht, begeht ei-nen schweren Fehler.

Damals, am 11. November, hatte er noch recht.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ja, am 11. 11.!)

Jetzt macht er eine Rolle rückwärts und lässt den Ar-beitsminister im Regen stehen, obwohl der Rückgangbei den älteren Arbeitslosen mit 4,7 Prozent überpro-portional war und obwohl – dies hat der Minister selbstgesagt – die Beschäftigungsquote der über 50-Jährigendeutlich auf 52 Prozent gestiegen ist, was zwar immernoch viel zu wenig ist, aber immerhin. Die Höhe des An-spruchs aus der Arbeitslosenversicherung bemisst sichnach dem Nettolohn. Je länger man arbeitslos ist, destogeringer ist die Chance, dieses Nettolohnniveau wiederzu erreichen. Also ist es folgerichtig, die Leistungsdauermöglichst weitgehend auszuschöpfen.

Das ist wirtschaftlich völlig nachvollziehbar; poli-tisch muss es aber verhindert werden. Das hat die vorhe-rige Regierung getan. Dies geschah völlig zu Recht auchmit den Stimmen dieses Hauses. Wir dringen darauf,dass nicht der Fehler begangen wird, in die alte Politikzurückzufallen. Nach nur einem Jahr des wirtschaftli-chen Aufschwungs werden die gleichen Fehler der letz-ten Jahrzehnte begangen, mit dem Ergebnis, dass Men-

schen ausgegrenzt und ihnen die Teilhabechancen indiesem Land genommen werden. Das ist falsch.

(Beifall bei der FDP)

Sie, geehrte Frau Bundeskanzlerin – wir sehen, dassSie vorübergehend im Land sind –, finden im Auslandvöllig zu Recht viele gute und sehr deutliche Worte. ImInland glänzen Sie durch Schweigen. Frau Bundeskanz-lerin, bei den wichtigsten Themen, die die Menschen indiesem Land bewegen, führen Sie nicht. Es geht um dieChance, einen Arbeitsplatz zu haben. Nicht die Höheoder Dauer irgendeiner Transferleistung, sondern dieMöglichkeit, sich als mündiger Bürger seinen Lebensun-terhalt selbst zu erwirtschaften, ist sozial gerecht. IhreAufgabe ist es, deutlich zu machen, was diese Regierunghierzu erreichen will.

(Beifall bei der FDP)

Die Frage, was gerecht ist oder nicht, beantwortetman nicht mit der Feststellung, dass man 12, 18 oder24 Monate lang eine Versicherungsleistung erhält. DieFrage, was gerecht ist, kann man bei dem Systemwech-sel vom Versicherungssystem in das Fürsorgesystemstellen. Man darf und muss vielleicht sogar darüber strei-ten, ob es gerecht ist, dass derjenige, der sein Geld ver-lebt hat, sofort Arbeitslosengeld II, also die Unterstüt-zung der Allgemeinheit, erhält, während derjenige, derVorsorge betrieben hat, erst einmal einen Großteil seinerLebensleistung einbringen muss. Darüber kann man un-ter der Überschrift „Gerechtigkeit“ diskutieren.

(Beifall bei der FDP)

Was Sie, meine Damen und Herren Genossen von derSPD, machen, ist purer Populismus. Sie können sichauch nicht hinter Umfragen verstecken, wonach80 Prozent der Bevölkerung Ihr Vorhaben toll finden.Bieten Sie Freibier an, und Sie werden die gleichen Er-gebnisse bekommen, weil alle, die kostenfrei trinkenkönnen, das gut finden.

Sie müssen sich darüber klar werden, ob Sie regierenoder opponieren wollen. Ich verstehe, dass Kurt Beck,wenn er Kanzler werden möchte, Optionen eröffnenmuss. Seit Juni dieses Jahres sieht kein Umfrageinstitutin Deutschland eine auch nur rechnerische Mehrheit füreine sogenannte Ampel, abgesehen davon, dass wir beieiner solchen nicht mitmachen würden. Deswegen musssich Kurt Beck, wenn er einmal Kanzler werden will,Optionen eröffnen. Aber damit stärkt er diejenigen amlinken Rand, die ohnehin nicht mehr links überholt wer-den können; dort werden sich nämlich diejenigen sam-meln, die von Kurt Beck in die Arme der Kommunistengetrieben werden.

(Zurufe von der LINKEN: Oh!)

Das ist Ihr strategischer Fehler. Das sollten Sie wissen– das sollte auch die Union wissen – und bei den politi-schen Schritten, die Sie jetzt einleiten, bedenken.

(Beifall bei der FDP)

Richtig wäre es, dafür zu sorgen, dass die Menschenin der Mitte der Gesellschaft am Aufschwung beteiligtwerden. Die Bürger fragen völlig zu Recht: Wo ist mein

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Dirk Niebel

Aufschwung? Herr Steinbrück freut sich wie ein Schnee-könig über Steuermehreinnahmen, vergisst dabei aberregelmäßig, dass es die Bürgerinnen und Bürger sind,die diese Steuern gezahlt haben. Die Entlastung derMenschen ist das Entscheidende. Die Bundesagentur fürArbeit sammelt Geld ein. Geben Sie es denen zurück, diees bezahlt haben, also den Arbeitnehmern und Arbeitge-bern! Der Anstaltsleiter in Nürnberg sagt, er habe Über-schüsse in Höhe von 6,5 Milliarden Euro.

(Zuruf von der LINKEN: Warum denn?)

Geben Sie diese im Wege von Beitragssenkungen zu-rück, damit die Menschen in der Mitte der GesellschaftGeld für Konsum haben,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen wir doch!)

die Betriebe Geld für Investitionen haben, Arbeit billigerwird und damit die Chance auf einen Arbeitsplatz erhöhtwird und im Endeffekt die Arbeitslosigkeit sinkt. Daswäre der richtige Weg!

Über die Arbeitslosenversicherung hinaus sagen Siekein einziges Wort zu notwendigen Reformen, was dasArbeitsrecht, betriebliche Bündnisse für Arbeit, ein mo-dernes Steuerrecht und ein modernes Transfersystem be-trifft. Diese Regierungserklärung hat eines gezeigt: Siehaben nichts außer den alten Konzepten, die schon inden vergangenen Jahrzehnten nicht funktioniert haben.Diese versuchen Sie bis zum nächsten Wahltermindurchzusetzen. Das ist ein großer Fehler und ein Verlustfür die Menschen in Deutschland.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Falk für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ilse Falk (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

sei mir erlaubt, mit einem Zitat von Abtprimas NotkerWolf zu beginnen, dessen Buch mit dem Titel „Woraufwarten wir noch?“ ganz oben auf den Bestsellerlistensteht und offenbar den Nerv vieler Menschen trifft. Je-denfalls gehe ich davon aus, dass die meisten es auch le-sen und nicht nur verschenken. Ich zitiere den Anfangdes Kapitels mit der Überschrift „Gleichheit – eine deut-sche Obsession?“:

Kann es sein, dass der Kommunismus gar nicht un-tergegangen ist? Dass er sich in Wirklichkeit … nurunsichtbar gemacht hat, um unangefochten zu herr-schen? Dass er diesmal durch die Hintertür gekom-men ist und sich unter dem Pseudonym „sozialeGerechtigkeit“ bei uns eingeschmeichelt hat? Odergibt es eine andere Erklärung dafür, dass wir Ge-rechtigkeit und Gleichheit nicht mehr auseinander-halten?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte derletzten Zeit ist wesentlich von den Themen soziale Ge-rechtigkeit, gleichberechtigte Teilhabe, Bekämpfung vonArmut und Anerkennung von Lebensleistung geprägt,um nur die am häufigsten genannten zu nennen. Positivbesetzt sind eigentlich alle. Dennoch sind sie inzwischenzu wahren Kampfbegriffen in der politischen Auseinan-dersetzung geworden. Was den Bürgern und Bürgerin-nen unter diesen Begriffen manchmal zu ihrem angeb-lich Besten verkauft wird, entpuppt sich häufig alsBevormundung und Gängelung – damit als Eingriff indie Freiheitsrechte des Einzelnen –, bedeutet aber häufignicht mehr Gerechtigkeit und Teilhabe.

Einzelne oder organisierte Interessenvertreter sind alsRattenfänger unterwegs, und wir Politiker starren wiedas Kaninchen auf die Schlange und trauen uns nichtmehr, Zusammenhänge zu erklären und dem gesundenMenschenverstand eine Chance zu geben, von großarti-gen Ausnahmen, wie wir eben gehört haben, abgesehen.Wir trauen uns auch nicht mehr, schlicht und ergreifendNein zu sagen, wenn es um die Befriedigung von immerneuen Wünschen geht, statt Hilfe zur Selbsthilfe zu för-dern und die Eigenkräfte zu stärken.

Kann unser Ziel wirklich eine Gleichmacherei allerund die weitgehende Umverteilung des Erwirtschaftetensein? Kann das ohne massives Eingreifen des Staates aufKosten der Freiheit seiner Bürger funktionieren? Habenwir nicht schon viel zu lange die Bürger entmündigt undihnen vorgegaukelt, alles für sie regeln zu können? Wirddurch Gleichmacherei nicht die Vielfalt der Leistungs-träger und damit das Herzstück unserer Gesellschaft be-schnitten?

Entscheidend und ein Gebot sozialer Gerechtigkeit istes, gleiche Chancen für alle Menschen zu schaffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jeder Mensch hat Begabungen und Fähigkeiten, die ereinbringen kann, soll und in aller Regel auch möchte.Diese zur Entfaltung zu bringen, ist die eigentliche He-rausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft.

Natürlich hat auch der Staat die Verpflichtung, sozialeVerantwortung zu übernehmen und denen Sicherheit zugeben, die sich selbst nicht helfen können, sei es, weilsie vorübergehend oder dauerhaft in ihrer Leistungsfä-higkeit eingeschränkt sind. Sie bedürfen der Solidaritätder Gemeinschaft, aber auch der des Staates. Dabei gehtes um materielle und praktische Unterstützung im tägli-chen Leben, gute gesundheitliche Vorsorge und Versor-gung, gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichenLeben und Unterstützung bei der Eingliederung in denArbeitsmarkt.

Gesellschaftliche Teilhabe bedarf des Zusammen-spiels vieler Kräfte. In diesem Zusammenhang sind diestarke Familie zu nennen, die funktionierende Nachbar-schaft, die schon erwähnten Ehrenamtlichen, aber auchArbeitgeber und Institutionen wie die Kirchen, Gewerk-schaften, Wohlfahrtsverbände und freien Träger. Sie alle– oder besser: wir alle – stehen an erster Stelle in derVerantwortung füreinander, und erst dann kommt derStaat,

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Ilse Falk

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

jedenfalls dann, wenn sich alle Genannten nicht nur derVerantwortung bewusst sind, sondern sie auch tatsäch-lich wahrnehmen. An dieser Stelle wird es manchmalganz schön brüchig. Wir alle kennen versagende Fami-lien und Unternehmer, die Ausgrenzung von Unbeque-men und die Verweigerung von selbstverständlichenPflichten. Glücklicherweise gibt es aber auch großartigeBeispiele für Aktivität, Kreativität, Fürsorge im bestenmenschlichen Sinn wahrgenommener Unternehmensver-antwortung und gelebter Nächstenliebe. Dadurch fällt esleicht, auf den allumsorgenden Staat zu verzichten undihn auf seine originären Aufgaben zu verweisen. Dasheißt, runter mit den Sozialausgaben und rauf mit Quali-fizierung und Investitionen. Das schafft Arbeitsplätzeund Wohlstand und bringt Menschen aus staatlicher Ab-hängigkeit. Das ist sozial.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir können gerade jetzt an den Zahlen ablesen, wiedas Konzept „Investieren, sanieren, reformieren“ ver-bunden mit der Idee des Förderns und Forderns Früchteträgt und wir einen Aufschwung erleben, den noch voreinem Jahr kaum einer für möglich gehalten hätte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Ich will die Zahlen nicht wiederholen. Der Minister hatsie in aller Ausführlichkeit genannt. Sie sprechen fürsich und sind eindrucksvoll: Hunderttausenden vonMenschen werden neue Chancen geboten.

Die Große Koalition hat mit ihrer Politik die Weichenrichtig gestellt. Aber – das will ich nicht unerwähnt las-sen – der wirtschaftliche Aufschwung ist neben einergünstigen weltwirtschaftlichen Lage in erster Linie denvielen leistungsbereiten Menschen in unserem Land zuverdanken. Wir freuen uns über diesen Aufschwung;denn er ist die zwingende Voraussetzung für eine Teil-habe auch der Schwächeren. Wir wollen, dass der Auf-schwung bei allen ankommt. Es geht nicht um neue Ku-schelecken, sondern um Teilhabe am Arbeitsmarkt unddie Chance, sein Einkommen selber zu erwirtschaften.Das muss das Ziel sein. Das gilt auch für diejenigen, diees besonders schwer haben. Das haben wir gestern ineindrucksvoller Weise auf unserem Kongress erlebenkönnen, bei dem es um die Teilhabe der Menschen mitBehinderungen auf dem Arbeitsmarkt ging. Dabeiwurde deutlich, wie viele gerne einen Arbeitsplatz aufdem ersten Arbeitsmarkt hätten und sich anstrengen, umdieses Ziel zu erreichen. So gut Werkstätten für Behin-derte auch sind, so wichtig ist es, dass wir den Menschenmit Behinderungen auch eine Chance auf dem ersten Ar-beitsmarkt bieten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Höhere Steuereinnahmen und die verbesserte Situa-tion der Sozialkassen dürfen uns nicht verführen, denPfad der Tugend zu verlassen. Die Devise muss weiter-hin lauten: Arbeitskosten senken und die Wettbewerbs-fähigkeit der Wirtschaft stärken, damit Arbeitsplätze ent-

stehen. Weil das so ist, hat für die Union die Senkung derBeitragslast in der Arbeitslosenversicherung oberste Pri-orität.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversiche-rung auf 3,9 Prozent ist bereits vorgeschlagen. Wir sinduns sicher, dass es bei der Verabschiedung des entspre-chenden Gesetzentwurfs 3,5 Prozent sein werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das bedeutet bei einem Einkommen von 2 000 Euro einemonatliche Ersparnis für Arbeitnehmer und Arbeitgebervon jeweils 30 Euro, also von jeweils 360 Euro im Jahr.Das ist doch schon was.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Richtig ist es ebenso, weitere Anreize zur Schaffungvon Arbeitsplätzen zu geben. Dafür Geld einzusetzen, istklug. Deshalb hat sich die Koalition vorgenommen, ineinem Bereich, der bisher eher stiefmütterlich behandeltwurde, etwas zu tun, Stichwort „Haushalt als Arbeitge-ber und Auftraggeber“. Hierzu hat meine Fraktion ersteÜberlegungen angestellt, die dazu geeignet sind, einer-seits die Schaffung von sozialversicherungspflichtigenArbeitsplätzen zu fördern und andererseits vorhandeneArbeitsplätze aus der Schwarzarbeit herauszuführen.Wir lichten zugleich den Förderdschungel und erhöhendie Abzugsmöglichkeiten teilweise deutlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will meine Rede nicht beenden, ohne einen drin-genden Appell nach innen, das heißt an unsere eigeneVerantwortung als Regierungskoalition, zu richten. Ver-lässliche Rahmenbedingungen sind das A und O fürWirtschaft und Gesellschaft und sind unabdingbar, wennwir das Vertrauen der Bürger in unsere Politik gewinnenwollen. Da darf es nicht passieren, dass verabschiedeteGesetze bereits nach sechs Monaten infrage gestellt wer-den – ich denke hier an Begehrlichkeiten bei der Rentemit 67 – oder in Grundsatzfragen alle elf Monate einRichtungswechsel stattfindet.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Ilse Falk (CDU/CSU): Ich bin gleich fertig.

Markenzeichen einer erfolgreichen Politik insgesamtmüssen Verlässlichkeit und Umsicht sein. Ziel einer er-folgreichen Sozialpolitik muss es sein, Chancen undLeistungsgerechtigkeit weiter auszubauen, um so die Vo-raussetzungen für nachhaltiges Wachstum und Auf-schwung zu schaffen und damit die Chance für Teilhabeund Wohlstand zu eröffnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Gregor Gysi,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Müntefering, ich habe Ihnen gern zugehört. Ich könntegenauso wie Herr Niebel sagen: Zum Teil konnte ich zu-stimmen, zum Teil nicht. Es werden sicherlich andereTeile als bei Herrn Niebel sein. Ich finde es auch okay,dass Sie versuchen, im Bundestag Ihren Parteitag vorzu-bereiten; das kann man hinnehmen. Aber ich habe einProblem mit Ihnen selbst. Ich glaube, dass Sie einmalsozialdemokratisches Urgestein waren. Dann bekamenSie die Chance auf den SPD-Vorsitz unter HerrnSchröder, und zwar unter der Bedingung, dass Sie dieAgenda 2010 akzeptieren. Ich vermute, dass Sie am An-fang so dachten wie ich heute, nämlich dass die Agenda2010 unsozialdemokratisch ist.

(Klaus Brandner [SPD]: Wer macht denn aus dem Bundestag einen Parteitag?)

Dann haben Sie sich schrittweise durchgerungen, dasGanze zu vertreten und zu verteidigen. Nun sind Sienoch nicht einmal bereit, sich an einer Stelle ein Stückzurückrudern zu lassen, weil es ein so schwieriger psy-chologischer Vorgang war. Aber wir können die Bevöl-kerung nicht mit den Problemen von zwei Herren beläs-tigen. Sie haben das zu lösen, und zwar im Interesse derArbeitslosen.

(Beifall bei der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: Wen meinen Sie jetzt: Lafontaine und Gysi?)

Ihre These, dass der Abbau der Arbeitslosigkeit Er-gebnis von Agenda 2010, Hartz IV und der Arbeits-marktreform ist, ist falsch. Schon ein Ökonomiestudentweiß nach dem ersten Semester, dass die Konjunkturentscheidend ist, nicht die Agenda 2010 oder Hartz IV.Zum Abbau der Arbeitslosigkeit haben Sie umfassendStellung genommen. Sie haben Zahlen genannt; dazuwerde ich noch etwas sagen. Aber Sie müssten noch einpaar andere Tatsachen erwähnen, zum Beispiel dass dieHälfte der neuen Jobs Teilzeitjobs sind, dass mehr als dieHälfte der neuen Jobs Mini- und Midi-Jobs mit kargenLöhnen sind und dass viele in Leiharbeit mit abenteuerli-chen Löhnen sind. Sie müssten erwähnen, dass der An-teil der Frauen unter den Arbeitslosen zunimmt. Siemüssten sagen, dass die Arbeitslosigkeit im Westenschneller abgebaut wird als im Osten, was die Scherewieder stärker auseinandergehen lässt. Sie müssten er-wähnen, dass Langzeitarbeitslose besonders schwer zuvermitteln sind und dass das noch heute gilt. Ich sage Ih-nen: Über 1,2 Millionen Menschen in Deutschland wa-ren im September 2007 länger als ein Jahr arbeitslos.Diese lassen sich besonders schwer vermitteln.

Nun kommen wir zu anderen Zahlen: 26 Prozent derALG-I-Bezieher haben einen neuen Job gefunden, abernur 11 Prozent der ALG-II-Bezieher. Das ist ein drama-tischer Unterschied. Nun kommen wir zu einer Statistikder Bundesagentur für Arbeit. Mich hätte es gefreut,

wenn Sie, Herr Bundesminister, auch diese vorgetragenhätten. Nehmen wir einen ganz konkreten Monat, denSeptember 2007. Von den 55- bis 64-jährigen Arbeitslo-sen sind 40 000 Menschen im September aus dem Bezugvon Arbeitslosengeld I herausgefallen, 6 000 davon des-halb, weil sie einen neuen Job hatten, 34 000 aber des-halb, weil sie ALG II beziehen, weil sie einen 1-Euro-Job haben oder weil sie Rente beziehen. Das heißt, einSiebtel hat einen neuen Job. Das ist keine signifikanteGröße. Sie hätten hier erwähnen müssen, dass die meis-ten, die aus dem Bezug des Arbeitslosengeldes I fallen,keinesfalls eine Erwerbsarbeit aufnehmen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Wenn man mehr Arbeit schaffen will, dann muss manüber andere Dinge diskutieren. Dann müssen wir da-rüber diskutieren, dass wir Arbeitszeit zu verkürzen ha-ben, um Arbeit gerechter zu verteilen. Aber Sie verlän-gern die Lebensarbeitszeit um zwei Jahre.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Ich wusste, dass Sie jetzt aufschreien. – Wir müssendarüber diskutieren, dass wir einen öffentlich geförder-ten Beschäftigungssektor brauchen, und zwar dort, wodie Privatwirtschaft nicht investiert, wo aber wichtigeArbeit zu leisten ist. Ein Beispiel dafür ist der Förderun-terricht für Schülerinnen und Schüler, denen das Lernenschwerer fällt,

(Beifall bei der LINKEN)

für Migrantenkinder – ein schönes Beispiel, das Sie hiergenannt haben – oder auch Unterricht für Kinder mit be-sonderer Begabung. Wir müssten darüber reden, dasswir eine Investitionspauschale für Kommunen brauchen.Selbstverständlich brauchen wir – das haben Sie gesagt –eine bessere Bildung und Ausbildung.

Im Juni 2005 haben Sie, Herr Müntefering, gesagt,dass Sie die alte Regelung, nach der Arbeitslosengeld biszu 32 Monate gezahlt wird, verteidigen wollen, dassman sie also belassen muss, und zwar wegen der schwie-rigen Arbeitsmarktlage für Ältere und damit die SPD einZeichen setzen kann, dass sie die Sorgen der älteren Ge-neration ernst nimmt. Das ist ein Zitat von Ihnen vomJuni 2005. Da Sie damals gesagt haben, nur mit einerBezugsdauer des Arbeitslosengeldes I von bis zu32 Monaten nimmt man die Sorgen der älteren Genera-tion ernst, muss ich Sie fragen, ob Sie die Sorgen jetztnicht mehr ernst nehmen; denn es hat sich doch für dieÄlteren nichts geändert.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Weil sich die Union und die FDP immer besondersdarüber aufregen – Herr Niebel, für Sie ist eine Bezugs-dauer von 32 Monaten ja völlig indiskutabel –, muss ichSie an Folgendes erinnern: Als Sie noch zusammen mitHerrn Kohl regierten, gab es Arbeitslosengeld I bis zu32 Monaten. Damals war selbst die FDP noch einen Ticksozialdemokratischer als die SPD heute.

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Dr. Gregor Gysi

(Beifall bei der LINKEN)

Der SPD-Vorsitzende Beck beginnt jetzt, sich selbstzu widerlegen. Er hat gewisse Thesen aufgestellt, als Mi-nisterpräsident Rüttgers vorgeschlagen hat, dasArbeitslosengeld I länger zu zahlen. Herr Rüttgers hatdas vorgeschlagen, und die CDU hat das auf eine Artund Weise beschlossen, die nicht akzeptabel ist, undzwar deshalb, weil Sie von der Union Generationenun-gerechtigkeit einplanen. Sie sagen im Ernst, die jungenArbeitslosen sollten dafür bezahlen, dass Ältere längerGeld bekommen. Das ist wirklich indiskutabel. Sie wen-den sich an die schwächste Gruppe in der Gesellschaftund wollen diese bezahlen lassen, nicht aber eine Ver-mögensteuer oder die Überschüsse, die die Bundesagen-tur für Arbeit jetzt hat, verwenden. Das ist nicht hin-nehmbar. Aber immerhin hat Rüttgers vorgeschlagen,die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zu verlängern.Damals hat Herr Beck gesagt, das sei indiskutabel undein Generalangriff auf die Agenda 2010, der für ihnnicht infrage komme. Nach einem Jahr sieht er das an-ders. Das finde ich in Ordnung. Schrittweise versucht er,die SPD für uns koalitionsfähig zu machen. Das mussman akzeptieren,

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

wobei ich sage, dass noch weitere Schritte erforderlichsind, auch in der Außen- und Friedenspolitik, in derSteuer- und Sozialpolitik und vor allen Dingen bei derAngleichung der Verhältnisse in Ost und West. Abererste Schritte sind zu erkennen.

Nun stellt sich die Regierung dagegen, was nichtnachvollziehbar ist. Sie, Herr Müntefering, nennenGründe, wenn auch nicht heute. Heute haben Sie sie ver-schwiegen, was die FDP wiederum zu Recht hervorge-hoben hat. Aber Sie haben sie außerhalb des Bundesta-ges benannt. Sie sagen, wie alle anderen Neoliberalenauch, eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslo-sengeldes I wäre kontraproduktiv. Der Druck auf die Ar-beitslosen nähme ab, irgendeine, und sei es die amschlechtesten bezahlte Tätigkeit anzunehmen, die Ar-beitslosen würden sich in der sozialen Hängematte aus-ruhen etc. Ich sage zu all diesen Argumenten eines: Ichfinde sie wirklich unverfroren und böswillig.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Weit über 90 Prozent aller Arbeitslosen wünschen eineneue Erwerbsarbeit in Würde. Das ist auch ihr gutesRecht.

Dann nehmen Sie eine kleine Minderheit, die es im-mer und in jeder gesellschaftlichen Gruppe gibt, und ma-chen daraus eine Theorie für die Mehrheit der Arbeitslo-sen. Im Übrigen sind gerade die älteren Arbeitslosenbesonders erpicht darauf, eine Erwerbsarbeit zu bekom-men. Ich kenne Leute, die einmal Ingenieure waren undheute beispielsweise als Pförtner arbeiten, bloß um ir-gendeine Erwerbsarbeit zu haben. Ein solches Urteilsteht uns nicht zu; das will ich ganz klar sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt ein zweites, schon gewichtigeres Argument:das Argument der Frühverrentung. Man sagt, die Un-ternehmen und die Betroffenen würden eine längere Be-zugsdauer von Arbeitslosengeld I nutzen, um die Früh-verrentung anzustreben. Zunächst einmal ermöglichenwir als Gesetzgeber die Frühverrentung. Das ist dieselbeTheorie wie bei den Steuerschlupflöchern. Alle regensich darüber auf, dass sie genutzt werden, nachdem manso ein Gesetz beschlossen hat. Wir regeln das doch undnicht die andern.

Aber zum Zweiten verstehe ich dann bei der Frühver-rentung eines nicht. Ich muss etwas genauer werden.Zum 31. Dezember 2007 laufen § 65 Abs. 4 SGB II und§ 428 SGB III aus. Damit entfällt die sogenannte 58er-Regelung, also die Wahlmöglichkeit für 58-jährige undältere Arbeitslose, sich als Arbeitslose und Arbeitsu-chende registrieren zu lassen oder eine Frührente zu be-antragen. Dabei ist die Frührente um bis zu 18 Prozentgekürzt. Heute haben sie eine Wahlmöglichkeit. Nunlaufen beide Bestimmungen aus. Das begründen Sieauch noch damit, keine Frühverrentung zu wollen. Sievergessen aber, dass § 5 Abs. 1 SGB II klar regelt, dassman jede andere Transferleistung nehmen muss, bevorman ALG II beziehen kann.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zu Recht!)

Damit ist dort geregelt, dass diejenigen, wenn die beidenBestimmungen auslaufen, gezwungen sind, eine Früh-rente zu beantragen. Wenn sie aber dazu gezwungensind, sagen Sie jemandem mit 58 oder 59: Du musst jetzteine Rente beantragen – minus 18 Prozent –, und nochmit 88 Jahren ist sie um 18 Prozent geringer.

Das halte ich schon grundgesetzlich für sehr bedenk-lich. Ich bitte Sie aber, geben Sie wenigstens unseremAntrag statt, die verkürzte Verrentung aus § 5 Abs. 1SGB II herauszunehmen und die §§ 65 Abs. 4 und 428fortzusetzen, damit es für ältere Arbeitslose die Wahl-möglichkeit gibt!

(Beifall bei der LINKEN)

Nun sagen Sie, man soll nicht immer pessimistischsein; man muss auch mal die Leistung sehen. All daswill ich akzeptieren. Ich weiß auch, je nach Situationsieht man all das etwas unterschiedlich; das ist mir nichtneu. Aber wir haben ja das ZDF-Politbarometer. Wassagt es denn? Es sagt, 78 Prozent der Bevölkerung mer-ken nichts vom Aufschwung, nichts von mehr Wohl-stand, nichts von höheren Chancen. Woran liegt das?Liegt das daran, dass sie es nicht begreifen, oder liegtdas an deren Situation? Was machen Sie denn seit Jah-ren, seit der Regierung von SPD und Grünen und nunfortgesetzt von der Union und der SPD? Sie haben dieKörperschaftsteuer für die Deutsche Bank und andereAktiengesellschaften von 45 auf jetzt 15 Prozent ge-senkt. So ein Geschenk bekäme kein sozial Bedürftigerin dieser Gesellschaft je von Ihnen wie die DeutscheBank und andere Aktiengesellschaften.

(Beifall bei der LINKEN)

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Dr. Gregor Gysi

Sie erwähnen dabei nie, dass die Körperschaftsteuerin den USA, in Frankreich und in Großbritannien über30 Prozent beträgt, bei uns nur noch 15 Prozent.

(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: SagenSie mal, tut Ihnen das eigentlich wirklich nichtweh, so etwas vorzutragen?)

Sie haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuervon 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Sie haben für Ak-tiengesellschaften die Verkaufserlössteuer gestrichen.Sie erheben keine Vermögensteuer. All das machen Sieund reduzieren damit die Einnahmen des Staates. An-schließend erhöhen Sie die Mehrwertsteuer um 3 Pro-zentpunkte, um die Normalverdienenden und sozialSchwachen zur Kasse zu bitten.

(Beifall bei der LINKEN)

Außerdem senken Sie den Sparerfreibetrag, damit dieNormalverdienenden mehr Steuern bezahlen müssen.Auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kürzenSie von bis zu 32 Monaten auf 18 bzw. 12 Monate. Dannführen Sie das unwürdige ALG II ein, bitten Kranke zurKasse und stellen Krankenkassen schlechter. Sie machenMinusrunde für Minusrunde bei den Rentnerinnen undRentnern und sagen: Künftig gibt es die Rente zweiJahre später, nämlich erst ab 67 Jahre. Sie gehen keineSchritte zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostund West. Die Pendlerpauschale streichen Sie für dieHälfte der Bezieher, und die andere Hälfte bekommtdeutlich weniger.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Gysi, denken Sie bitte auch an die Rede-

zeit.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ja.

Lassen Sie mich nur noch darauf hinweisen, dass1,2 Millionen Menschen geringfügige, lächerliche Löhneerhalten. Inzwischen befinden sich 800 000 Beschäftigtein einem Leiharbeitsverhältnis – das hat zumindest dasDeutsche Institut für Wirtschaftsforschung festgestellt –und arbeiten für unerträglich niedrige Löhne. Hinzukommt, dass die Reallöhne in Deutschland um 6 Prozentgesunken sind. Das alles erklärt, warum sich viele zuRecht nicht wohlfühlen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Zum Schluss möchte ich noch auf etwas eingehen,was mich sehr geärgert hat. Man muss endlich den Min-destlohn für die Postbeschäftigten durchsetzen, wie Siees angekündigt haben. Dies richtet sich aber gar nicht andie Adresse des Bundestages, sondern an die Tarifpar-teien. Ich muss wirklich sagen: Es ist ein starkes Stück,dass man Ende des Jahres 2007 für unterschiedlicheMindestlöhne der Beschäftigten der Post im Osten undim Westen sorgen möchte.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Kostenstruktur ist in ganz Deutschland gleich. Ichsage das auch in Richtung Verdi. Mich hat auch geärgert,

dass der Marburger Bund akzeptiert hat, dass ein Arzt aneiner Universitätsklinik im Osten 400 Euro weniger be-kommt. Auch damit muss endlich Schluss sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Ludwig Stiegler für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ludwig Stiegler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der

Kollege Gysi gerade so agitiert hat, habe ich mir über-legt, wie er wohl geredet hätte, wenn er in Berlin nichtaus der Verantwortung geflüchtet wäre

(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)

und in der Lage gewesen wäre, eine Bilanz vorzustellen,wie sie Franz Müntefering vorgestellt hat.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dann hätte er ein rhetorisches Feuerwerk entfacht. Er hatja SED-Erfahrung. Man hat damals gelernt, dass maneine Regierung mit viel weniger Erfolgen loben muss.Herr Gysi ist anders als die frustrierten PDSler aus demWesten, die zum Lachen in den Keller gehen. Herr Gysihätte hier eine wahre Prachtrede gehalten. Deshalb sageich: Geschenkt wegen Kümmerlichkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zur geschätzten Kollegin Falk, die uns philosophi-sche Betrachtungen nahegebracht hat; sie hat sich hiermit Äbten beschäftigt. Als Klosterschüler habe ich dafürvolles Verständnis. Ich muss Ihnen sagen: Dieser Abtscheint den Aristoteles, den er in seinem Studium ken-nengelernt hat, vergessen zu haben. Aristoteles sagtnämlich in der Nikomachischen Ethik: Gerechtigkeit istGleichheit. Dem Genus proximum der Gleichheit fügt erdie Differentia specifica nach Verdienst, Bedarf undLeistung hinzu. Wir gehen davon aus: Gerechtigkeit istmehr Gleichheit; aber im Detail gibt es feine Differen-zen.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist abernicht Aristoteles! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Stiegler, aber nicht Aristoteles! –Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist nichtAristoteles, das ist Stiegler! – Beifall bei Ab-geordneten der SPD)

So ist es eben auch in einer Großen Koalition. Wir alsGroße Koalition sind das Genus proximum; aber ich bindie sozialdemokratische Differentia specifica. Darumbetone ich manche Dinge anders als Frau Falk.

(Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe[CDU/CSU]: Reden Sie in Ihrem Ortsvereineigentlich auch so, Herr Stiegler?)

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Ludwig Stiegler

– Ja, selbstverständlich. Aristoteles ist mein ständigerBegleiter.

(Heiterkeit bei der SPD)

Er ist nach wie vor ein guter Ratgeber, übrigens auch,was seine rhetorischen Übungen angeht. Da betont erdas Peithomenon, das Überzeugende.

Franz Müntefering hat die beste Bilanz vorgelegt, dieein Bundesarbeitsminister seit 20 Jahren – ich erinnerean Norbert Blüm – präsentiert hat, und dazu kann manihm gratulieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Er hat hier die Zusammenhänge umfassend dargestellt.Er hat unsere Unterstützung. Wir alle haben unsere Er-fahrungen mit dem Arbeitsmarkt. Wir haben fürHartz IV gesorgt. 2005 dachten wir: In zwei Jahren istdie Arbeitslosigkeit halbiert. Wir haben zusehen müssen,wie uns die Realökonomie und die Dotcom-Blase einenStrich durch die Rechnung gemacht haben. Am Ende hatsich gezeigt: Nicht die Arbeitsmarktbedingungen sinddas Entscheidende, sondern die Nachfrage nach Arbeitund die wirtschaftliche Aktivität. Der Aufschwung hatdurch die veränderten Arbeitsmarktbedingungen einenzusätzlichen Anstoß bekommen, weil zur Nachfragenach Arbeit die richtigen Instrumente vorhanden waren.Das ist die richtige Reihenfolge.

Zurzeit lese ich wegen der Finanzmarktkrise häufigerdie Webseiten der Zentralbanken. Ich habe auf derWebseite der englischen Zentralbank eine Rede vonDavid Blanchflower gefunden – die Leute dort würdenWesterwelle für einen Sozialisten und Brüderle für einenKommunisten halten –;

(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])

dieses Mitglied des Monetary Policy Committee sagt, erhabe die europäischen Arbeitsmarktbedingungen unter-sucht. Unglücklicherweise, schreibt er, habe sich heraus-gestellt, dass es keine oder nur eine ganz kleineVerknüpfung zwischen den sogenannten diversen Markt-rigiditäten und den Änderungen in der Arbeitslosigkeitgibt. Er hat Europa betrachtet und festgestellt: Wedergibt es eine Korrelation zwischen der Arbeitslosigkeitund der Bezugsdauer, noch gibt es eine Korrelation zwi-schen der Arbeitslosigkeit und dem Kündigungsschutz.Es gibt nicht einmal einen Unterschied hinsichtlich derStärke der Gewerkschaften. Er sagt: Entscheidend sinddie Produktmärkte, die Kapitalmärkte und die Bau-märkte. Als Einziges stellt er eine Korrelation zwischenArbeitslosigkeit und Wohnungseigentum fest, was näm-lich zu einer mangelnden Mobilität führt. – So ein engli-scher Zentralbanker.

Er sagt am Ende: The labour market follows. – DerArbeitsmarkt folgt, nämlich den Arbeitsbedingungenund der Nachfrage nach Arbeit. Wenn schon die Englän-der so weit sind, das zu erkennen, dann müssen unsereLiberalen irgendwann nachziehen.

(Beifall bei der SPD)

Darum haben wir in der Koalition folgende Themenbearbeitet: Arbeit schaffen, Forschung und Entwicklung

fördern, Bildung fördern, neue Erkenntnisse in Produkteund Dienstleistungen umsetzen, also Unternehmensneu-gründungen fördern – eine Aufgabe, die wir in diesemJahr haben – und die erneuerbaren Energien fördern.Dazu sage ich Ihnen: Allein im letzten Jahr hat die KfWfür das energetische Programm Kredite in Höhe von17 Milliarden Euro ausgereicht, Investitionen in Höhevon 29 Milliarden Euro angestoßen und damit 500 000Arbeitsplätze im Handwerk und im Mittelstand gesi-chert. Das und nicht der Sozialabbau ist aktive Arbeits-marktpolitik.

(Beifall bei der SPD)

In diesem Jahr ist es genauso: 12,2 Milliarden Eurobis zum September, 370 000 Arbeitsplätze. Ich erinnerean die Handwerksförderung. Ich erinnere an die Förde-rung der kommunalen Investitionen.

Dank der Gewerbesteuerreform treten die Kommunenendlich wieder als Nachfrager auf dem Baumarkt auf.Wir werden mit ihnen zusammen, Frau Falk, das Themaals Auftraggeber angehen. Das hatte ich schon währendder Koalitionsverhandlungen versucht. Franz Münteferingkennt meine Rechungen. Damals waren die Großen desReiches in diesem Bereich noch etwas zurückhaltend.Ich denke, wir werden das hinbekommen. Aber dannmüssen auch die Arbeitsbedingungen stimmen. Es mussklar sein: Nur dann, wenn die Arbeitsbedingungen stim-men – nicht bei Niedriglöhnen oder ausbeuterischenLöhnen –, wird das über den Haushalt als Arbeitgeberfunktionieren.

(Beifall bei der SPD)

Wir unterstützen alle Bemühungen für die lebens-lange Weiterbildung. Wir haben heute den Instrumenten-kasten, mit dem wir die Nachfrage nach Arbeit finanzie-ren oder unterstützen können. Wenn es denn stimmt,dass es jetzt 1 Million registrierte offene Stellen gibt– die Bundesagentur sagt: das ist nur die Hälfte der wirk-lich vorhandenen –, dann erwarte ich, dass die Arbeits-agenturen und die Optionsgemeinden Tag und Nacht ar-beiten, um mit dem Instrumentenkasten, den ihnen FranzMüntefering und die Große Koalition hingestellt haben,die Menschen in Arbeit bringen. Das ist jetzt die Haupt-aufgabe, und das ist unser gemeinsames Ziel.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Dazu gehört natürlich auch gute Arbeit. Dazu gehörenauch tarifliche Mindestlöhne, so zum Beispiel die imGebäudereinigerhandwerk seit 1. Juli. Die Welt ist nichtzusammengebrochen, weil die Gebäudereiniger Min-destlöhne bekommen. Sie wird auch nicht zusammen-brechen, wenn die Postler anständig bezahlt werden. Ichwarne Herrn Gerster und andere davor, gelbe Schmutz-gewerkschaften zu gründen, um eine anständige Bezah-lung der Postler zu hintertreiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Hier hätte ich mir auch Beifall von meinem Koalitions-partner gewünscht, aber der kann ja innerlich stattgefun-den haben und ist noch nicht nach außen getragen wor-den. Ich entnehme jetzt manchem Anlächeln, dass

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Ludwig Stiegler

zwischen der inneren Einstellung und dem äußeren Aus-druck noch ein kleiner Hiatus besteht. Das wird sich aberschon noch finden. Wie heißt es doch so schön:

Blamier mich nicht, mein schönes Kind,und grüß mich nicht unter den Linden;wenn wir nachher zu Hause sind,wird sich schon alles finden.

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)

Gerade die Einführung von Mindestlöhnen führt also zumehr Kaufkraft und mehr wirtschaftlichen Erfolgen.

Ich denke an einen weiteren Punkt: Dabei handelt essich um die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur“. Vor uns liegen dieHaushaltsberatungen. Wir haben Anträge zur Investi-tionsförderung in Höhe von 1 Milliarde Euro. Wir müs-sen dafür sorgen, dass diese Investitionen in Ost wie inWest getätigt werden. Wenn wir das jetzt versäumen,könnte es passieren, dass wir erst im nächsten Investi-tionszyklus hier wieder zum Zuge kommen. Deshalbmein Appell an die Haushälter: Denkt daran, dass diesteuerliche Investitionsförderung ausläuft. Lasst uns we-nigstens diese Gemeinschaftsaufgabe miteinander vo-ranbringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Franz Müntefering hat aufdem Arbeitsmarkt wirklich unglaublich viel bewegt. Erhat auch recht, wenn er sagt: Vorrangig ist es, dass wirdie Menschen in Arbeit bringen. – Wir übersehen abernicht, dass es auch Menschen gibt, die Sorgen haben. Sotreibt viele Ältere die Sorge um, wie es mit ihnen weiter-geht. Darum wird in der SPD intensiv darüber diskutiert,wie man es schaffen kann, dass das, was wir eigentlichwollten, dass es geltendes Recht wird, umgesetzt wird.Das ist in diesem Fall ein interner Streit. Das freut dieOpposition. Ich gönne ihr, dass sie sich darüber freut.Das Leben ist ja sonst so karg. Das können Sie also ha-ben. Geschenkt.

Ich halte aber fest: Wir nehmen die Sorgen der Men-schen ernst. Ich habe gestern gesagt: Wir tragen die Re-gierung auf Händen, aber gelegentlich machen wir einePause, und dann reden wir mit dem Volk. Das sagt unsdann gelegentlich etwas anderes, als uns die Regierungsagt. Dann gibt es eben eine kleine Verwirrung und einenkleinen Disput, aber am Ende ist es in 99 Prozent derFälle so: Wir sind stolz darauf, was wir gemeinsam mitder Regierung in der Großen Koalition erreicht haben.Wir werden alles dafür tun, dass wir wie bei dem be-rühmten Märchen von der Prinzessin auf der Erbse dieErbse auch noch beseitigen und dann ganz ruhig schla-fen. Dafür werden wir miteinander in anständiger Weisesorgen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Wer ist die Prinzessin? – Zuruf von derCDU/CSU: Wer ist die Erbse?)

Meine Damen und Herren, es war immer auch dieBotschaft von Franz Müntefering: Den Menschen muss

Sicherheit im Wandel gegeben werden. Daran lasst unsarbeiten. Der Wandel bleibt. Dass die Menschen aberdiesem Wandel in Sicherheit mit Zuversicht begegnenkönnen, dafür werden wir gemeinsam sorgen.

Glück auf!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Fritz Kuhn ist der nächste Redner für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Franz Müntefering hat für seine Rede viel Beifall be-kommen. Ich finde, dass man aus dem Beifall heraushö-ren konnte, dass es sich um drei verschiedene Arten vonBeifall handelte. Zum einen mag es anerkennender Bei-fall für die Leistungen von Franz Müntefering gewesensein. Zum anderen – das war bei der CDU/CSU deutlichherauszuhören – handelte es sich um eine Art Antibeifallfür Herrn Beck und seinen Vorschlag zum Arbeitslosen-geld I. Zum Dritten hörte man bei beiden großen Volks-parteien eine Art Pfeifen im Walde angesichts der Dis-kussion, die sie noch vor sich haben.

(Dirk Niebel [FDP]: Das Dritte habe ich auch gehört!)

Interessant finden wir, dass Sie in den letzten Tagenständig darüber diskutieren, wie die Agenda 2010 beider Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I revidiert wer-den soll, dass aber bis auf ein paar süffisante Nebenbe-merkungen weder der Arbeits- und Sozialminister nochdie Redner von CDU/CSU und SPD in der Lage sind, indiesem Hohen Hause auf die Debatte einzugehen. An Ih-rem Verhalten ist wirklich einiges komisch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Wir wollen und müssen differenziert über die Agenda2010 reden. Aber ich will einmal eines deutlich machen.Die Agenda hatte – zu diesem Strang der Agenda stehenwir nach wie vor – einen Hauptsinn, nämlich Schluss zumachen mit all den diffusen Vorruhestandsmodellen,die zu nichts anderem führen als zu dem stillen Dealzwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, dass ältereBelegschaften leichter entlassen werden können, weilentweder die Versichertengemeinschaft oder der Staatdafür aufkommen, sodass die Kultur der Altersarbeit imLaufe der Jahre und Jahrzehnte richtig ruiniert wurde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Deswegen haben wir gemeinsam, die allermeisten jeden-falls, die Agenda 2010 so gestaltet, dass die Bezugsdauerdes Arbeitslosengeldes I – wenn auch mit Übergangslö-sungen – reduziert wurde.

Der Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Beck heißtnichts anderes, als mit dieser zentralen Logik derAgenda, die alle begrüßt haben, zu brechen. Beck setztan der völlig falschen Stelle an. Ich glaube nicht, dass

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Fritz Kuhn

das die Beschäftigungskultur für ältere Arbeitnehmer inunserem Lande wieder verbessern kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ausgerechnet, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, in einem Moment, wo es gelungen ist, die Be-schäftigungsquote älterer Arbeitnehmer zu steigern – dieErwerbsquote bei den über 55-Jährigen lag im Jahr 2001bei 37,9 Prozent und liegt jetzt bei 48,4 Prozent –, gehenSie in die Gegenrichtung und machen den Vorschlag, siewieder zu reduzieren.

Gott sei Dank haben Sie, wenn ich dem Handelsblattvon heute folgen darf, die Ansätze zur Erweiterung derErwerbsminderungsrente auf Eis gelegt.

(Jörg Tauss [SPD]: Was wollen die Grünen?)

Ich hoffe, dass das so stimmt. Denn dieser Vorschlagwürde nichts anderes bedeuten, als die Chancen ältererArbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Arbeit zu finden,weiter zu reduzieren.

Kommen Sie mir an dieser Stelle nicht mit den Um-fragen. Wenn man die Leute fragt, ob sie eine längereBezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere wollen,dann sagt die große Mehrheit natürlich Ja. Aber wennSie die Leute fragen würden, ob sie eine längere Bezugs-dauer oder mehr Chancen für arbeitslose über 55-Jäh-rige, wieder in Arbeit zu kommen, wollen, was meinenSie, wie die Ergebnisse der Umfrage dann aussähen? Esist doch völlig logisch, dass das Ergebnis von der Frageabhängt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Ich fordere die SPD auf, sich noch einmal wirklich zufragen, an welchen Stellen die Agenda 2010 zu verän-dern ist, und den falschen Vorschlag, der jetzt bei Ihnenin der Umlaufbahn ist, nicht umzusetzen.

(Jörg Tauss [SPD]: Was wollen die Grünen?)

Übrigens ist die CDU/CSU in dieser Debatte keinenDeut besser. Willkommen im Rüttgers-Klub, kann ich danur sagen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe viel Erstaunliches gelesen. Ich weiß ja nicht sogenau, Frau Merkel, wie es bei der CDU im Innern zu-geht. Aber der stärkste Spruch, den ich seit langem ge-hört habe, kam von Ihrem mittelstandspolitischen Spre-cher, Herrn Michael Fuchs, der in der LeipzigerVolkszeitung zur Verlängerung des Arbeitslosengeldessagte:

Das haben wir doch damals nur angenommen, weiljeder wusste, das kommt nicht.

Ich danke für die Lesehilfe von CDU-Programmen undCDU-Parteitagsbeschlüssen. Wir müssen in der Zu-kunft also davon ausgehen: Was Sie beschließen, habenSie nur angenommen, weil Sie hoffen, dass es nichtkommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die CDU hat ja eine Tradition auf dem Gebiet. Von1927 bis 1984 lag die Bezugsdauer des Arbeitslosengel-des in Deutschland bei 12 Monaten. Ab 1984 hat HelmutKohl zusammen mit der FDP die Dauer systematisch auf32 Monate angehoben. Das hatte einen einfachen Grund,Frau Merkel: Er wollte den Haushalt sanieren. Denn Ar-beitslosenhilfe wird vom Bundeshaushalt gezahlt undArbeitslosengeld von der Versichertengemeinschaft. Sokonnte man die Verhältnisse sehr schön zulasten der Ver-sichertengemeinschaft verschieben, übrigens auch zulas-ten aller Arbeitslosen, weil die hohen Lohnnebenkosten,die das bewirkt hat, natürlich die Neuinvestitionen in Ar-beit reduziert haben. Da sollten Sie jetzt klare Kante zei-gen und sagen, was Sie eigentlich wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, ich fordere Sie als CDU-Vorsitzendeauf,

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie können sie höchstens bitten!)

sich nicht hinter der SPD zu verstecken und HerrnRöttgen und all diejenigen zu stoppen, die davon reden,dass man dann die Koalition aufkündigen müsse – oderwie auch immer sie sich geäußert haben. Sie müssen ein-mal klar sagen, was Sie selber machen wollen. Sie wol-len doch eigentlich das Gleiche, nur modifiziert um eineGenerationenungerechtigkeit, weil bei Ihnen die Jungenfür die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosen-geldes I zahlen sollen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Ich stelle die Frage, was hier eigentlich die Prioritätist. Ich finde, die Große Koalition beschreibt die Prioritätnicht.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Arbeits-plätze schaffen!)

Ist es wichtiger, die Transferleistungen um einige Mo-nate zu verlängern, oder wäre es nicht besser, alle Mitteldarauf zu konzentrieren, dass wieder mehr Menschenschneller in Arbeit kommen, wenn sie arbeitslos gewor-den sind?

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Da haben Sie völlig Recht!)

Dies tun Sie aber nicht, weil Sie beides gleichzeitig wol-len und keine Prioritäten setzen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Herr Müntefering, ich komme zu einigen Punkten, beidenen Sie in Ihrem Debattenbeitrag ausgewichen sind.Es geht um die Bilanz der Arbeitsmarktpolitik der Gro-ßen Koalition.

Erstens. Ihr großes Versprechen, Frau Merkel, dieLohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken, kön-nen Sie nicht einhalten. Wenn Sie den Anstieg des Pfle-

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geversicherungsbeitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte zumSommer 2008 dazunehmen, dann liegen Sie über 40 Pro-zent und nicht unter 40 Prozent. Sie haben also Ihr ersteszentrales Ziel Ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik – bis-lang jedenfalls – nicht erreicht.

Zweitens. Sie, Herr Müntefering, haben immer voneiner Neuausrichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitikgesprochen. Sie wollten die Instrumente prüfen und de-ren Anzahl reduzieren. Bislang ist dies nicht geschehen.Sie prüfen seit über zwei Jahren und machen nichts an-deres, als immer neue Programme aufzulegen, anstatt diedezentrale Kompetenz der Fallmanager in den Arbeits-agenturen zu stärken.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])

Es kommt ein Programm nach dem anderen. Heutehaben Sie wieder zwei neue angekündigt. Ich nenne Ih-nen einmal den Grund, warum Sie diese Programme auf-legen. Wer keinen Mut zu weiteren Strukturreformenhat, der flüchtet systematisch in Programme: hier einKombilohn, dort eine Kleinigkeit zum Mindestlohn, aberkein ausreichender Mindestlohn; hier ein Programm fürLehrlinge, dort ein kommunales Ergänzungsprogramm.Es gibt aber keine Stringenz, woran man erkennen kann,in welcher Art und Weise Sie weiter reformieren wollen.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt Ihr Vorschlag!)

Das Gleiche gilt für die Arbeit der ArbeitsgruppeNiedriglohn. Seit langem brüten Sie über dem Erwerbs-tätigenzuschuss. Eigentlich sollte ein entsprechenderVorschlag den Menschen im unteren Lohnbereich nettomehr bringen. Jetzt geht es aber nur noch um einenLohnkostenzuschuss. Ich sage klar: Eine Koalition, diesich zwischen Mindestlohn und flächendeckendemKombilohn nicht entscheiden kann, wird keine klareRichtung in die Arbeitsmarktpolitik der BundesrepublikDeutschland bringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, an Ihre Adresse sage ich: Wenn der Satz„Wer voll arbeitet, der muss damit ein existenzsichern-des Einkommen für sich und seine Familie erzielen kön-nen“ richtig sein soll, dann müssen Sie einmal sagen,wie Sie das – Sie lehnen ja den Mindestlohn ab – errei-chen wollen. Sie tun es aber nicht, weil der flächende-ckende Kombilohn keine Antwort auf die vor uns liegen-den Probleme ist.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will unsere Reformrichtung im strukturellen Be-reich verdeutlichen. Wir sagen zunächst einmal, dass dieAgenda 2010 an verschiedenen Stellen richtig war. Bei-spielsweise hat die Zusammenlegung von Arbeitslosen-hilfe und Sozialhilfe 500 000 Menschen die Möglichkeiteröffnet, Anschluss am Arbeitsmarkt zu finden und wie-der in die Erwerbsarbeit zu kommen. Wenn Sie sich inder Bevölkerung umhören, dann werden Sie aber erfah-ren, dass das Arbeitslosengeld II, was die Ermittlung desBedarfs und die Auszahlung betrifft, von den Bürgernnoch nicht als Existenzsicherung und als Chance ver-

standen wird, wieder schnell in die Erwerbsarbeit zukommen. Hier hat die Agenda 2010 Defizite, und wirmeinen, dass man an dieser Stelle ansetzen muss.

Ich nenne in diesem Zusammenhang erstens den Re-gelsatz. Ich erwarte, dass Sie entsprechende Zahlen lie-fern, Herr Müntefering. Zweitens stellt sich die Fragenach einem Mindestlohn, für den wir nach dem von unsvorgeschlagenen Verfahren sind. Dazu gehört auch dasThema Kinderarmut, Frau Merkel, die sich weiter aus-breitet. Die Zahl der Bezugsberechtigten von Arbeitslo-sengeld II sinkt ja nicht. Es muss mehr getan werden alsdie Erhöhung des Regelsatzes aufgrund der Preissteige-rungen und die Zahlung des Kinderzuschlages, um dieKinderarmut in diesem Land zu bekämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Den Bereich des Altersvermögens müssen wir refor-mieren. Alle, die mit den Leuten reden, wissen doch,dass die Art, wie das Altersvermögen abgeschmolzenwird, eines der Hauptärgernisse der Bevölkerung im Zu-sammenhang mit der Agenda 2010 ist. Deswegen sageich: Schauen Sie sich doch noch einmal unseren Vor-schlag eines Altersvorsorgekontos an. So können wirgroßzügiger und breiter aufgestellt Altersvermögenschützen, und das ist auch eine unbürokratische Lösung.

Herr Müntefering, ich komme zum wichtigsten Argu-ment: Die Arbeit im Niedriglohnbereich ist in Deutsch-land zu teuer, weil wir zu hohe Lohnnebenkosten erhe-ben. Deswegen gibt es so viel Schwarzarbeit. Deswegenhaben so viele Menschen, die in diesem Bereich Vollzeitarbeiten, zu wenig Geld zum Leben, sodass sie ergän-zende Arbeitslosengeld-II-Leistungen in Anspruch neh-men müssen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Kuhn.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sagen dazu: Lasst uns in diesem Bereich die

Lohnnebenkosten in der Breite im Rahmen eines Pro-gressivmodells senken! Lasst uns den Schwerpunkt derReformarbeit darauf legen! Es muss doch möglich sein,eine falsche Struktur, die zur Verteuerung einfacher Ar-beit in Deutschland führt, zu ändern. Frau Merkel, jetztsollen alle im Hightechbereich einen Arbeitsplatz su-chen; dort wird investiert. Was haben wir denn davon,wenn wir keine Arbeitsplätze für die einfachen Leute ha-ben, für diejenigen, die die erforderliche Qualifikationnicht haben, aber in unserem Land arbeiten wollen undarbeiten müssen? In diesem Bereich gibt es strukturelleHindernisse. Herr Müntefering, ich fordere Sie auf, andieser Stelle etwas zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Kuhn, schauen Sie zwischendurch ein-

mal auf die Redezeit.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte?

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Präsident Dr. Norbert Lammert: Können Sie zwischendurch einmal auf die Anzeige

Ihrer Redezeit schauen?

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist schlecht, wenn man sich auf die Redezeit kon-

zentriert. Man sollte sich auf den Inhalt konzentrieren,Herr Präsident.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das ist wohl wahr. Das ist eine spezifische Herausfor-

derung, die alle Mitglieder des Hauses immer wiedertrifft.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme Ihnen zuliebe zum Schluss.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

Die Große Koalition hat in dieser Debatte bislangnicht gesagt, wohin sie dieses Land eigentlich reformie-ren will. Sie verteilen Geld, das wahrscheinlich nichtmehr lange da ist. Sie legen nichts zurück, und anstellevon Strukturreformen zur Verbesserung der Lage derDauerarbeitslosen finden Programme statt, aber ohneSystem und ohne klare Richtung.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Kuhn, ich bedanke mich für die aus-

drückliche Sympathieerklärung, weise aber darauf hin,dass sie von meiner Großzügigkeit bei der BemessungIhrer Redezeit noch deutlich überboten wird.

(Heiterkeit)

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe fürdie CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

kann direkt an die Rede des Kollegen Stiegler anknüp-fen: Es ist wirklich schön und macht Spaß, als Mitgliedder Regierungskoalition eine so erfolgreiche Politik indiesem Hause vertreten zu können, wie sie diese GroßeKoalition und diese Bundesregierung machen. Das istwirklich eine schöne Sache.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das schlägt sich in überzeugenden Zahlen zum wirt-schaftlichen Wachstum nieder. Wir haben das schon imletzten Jahr erlebt. Das Institut der deutschen Wirtschaftkündigt in diesen Tagen ein wirtschaftliches Wachstumvon 2,5 Prozent in diesem Jahr an. Die Zahlen sind be-eindruckend. Davon beißt keine Maus einen Faden ab.

Das ist nicht schlechtzureden. Die Bilanz der wirtschaft-lichen Entwicklung dieses Landes ist beeindruckend,und das schlägt sich in sehr guten Arbeitsmarktzahlennieder. Darauf sind wir stolz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Arbeitslosigkeit ist immer noch zu hoch, aberimmerhin ist die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionenzurückgegangen. Im Vergleich zum September letztenJahres haben wir 694 000 Arbeitslose weniger; derMinister hat zu Recht darauf hingewiesen. Im Vergleichzum September 2005 sind es sogar 1,1 Millionen Ar-beitslose weniger. Das ist eine gute Entwicklung. Werehrlich ist, muss gerade aufseiten der Opposition zuge-ben: Das hätten Sie so nicht erwartet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Zahl der Erwerbstätigen ist auf fast 40 Millionen ge-stiegen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten ist auf fast 27 Millionen gestiegen.

Damit das, was der Kollege Gysi dazu gesagt hat,nicht unwidersprochen stehen bleibt, will ich betonen:Innerhalb eines Jahres haben wir bei der sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung einen Zuwachs von555 000 Stellen zu verzeichnen. Es ist wahr, Herr Gysi:Davon sind rund die Hälfte Vollzeitstellen und rund dieHälfte Teilzeitstellen. Das ist doch völlig in Ordnung.Wir haben knapp 300 000 Vollzeitstellen und knapp300 000 Teilzeitstellen mehr als vor einem Jahr. Was ha-ben Sie denn in Ihrer Zeit als Senator für Wirtschaft undArbeit geschaffen? Welche Zahlen können Sie dagegen-stellen? Wir sind stolz auf die Zahlen, die wir vorzuwei-sen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Nur zur Erklärung, weil Sie vom ersten SemesterÖkonomiestudium gesprochen haben: Es mag an IhrerUni ja vielleicht so erzählt worden sein, wie Sie es dar-gestellt haben, aber ich will Ihnen sagen, dass Mini- undMidijobs nicht zur sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigung gehören. Wenn Sie heute ein Ökonomiestu-dium aufnehmen würden, würde Ihnen das im ersten Se-mester erläutert. Der Zuwachs an Mini- und Midijobskommt zu diesem Aufwuchs an sozialversicherungs-pflichtiger Beschäftigung hinzu. Reden Sie es also nichtklein; bleiben Sie mindestens bei der Wahrheit!

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])

– Herr Tauss, wir regieren doch noch zusammen. Ichhabe jetzt zwei Jahre lang nicht Ihre Zwischenrufe ge-hört. Die habe ich vermisst.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Zur Frage, wo der Aufschwung ankommt und wer da-von etwas merkt. Es mag ja sein, dass von den rund25 oder 26 Millionen Menschen, die in Arbeit waren, alswir die Regierung übernommen haben, nicht jeder sagt,dass es ihm besser geht. Denn sie hatten ja schon vorher

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Arbeit. Aber die Millionen Menschen, die in der Amts-zeit der Großen Koalition Arbeit bekommen haben – essind keine 26 Millionen, aber es sind Millionen – wis-sen, dass es ihnen heute besser geht. Ihre Situation unddie ihrer Familien haben sich erheblich verbessert. Da-rauf sind wir stolz. Sie bemerken den Aufschwung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Man kann also feststellen: Wir sind uns in der GroßenKoalition nicht in allem einig, aber wir haben gemein-sam eine Menge erreicht. Wir sind gemeinsam erfolg-reich und konzentrieren uns in der Zukunft gemeinsamauf die Lösung der Probleme, die jetzt auf dem Arbeits-markt noch besonders drängen. Es gibt Problemregio-nen. Dafür gibt es unter anderem den Kommunalkombi.Es ist richtig, dass man regional Schwerpunkte setzt, wosie notwendig sind.

Wir konzentrieren uns auf die Gruppen, zum Beispieldie Langzeitarbeitslosen und die Menschen mit Behin-derungen, die bisher vom Aufschwung weniger profi-tieren als andere. Die Arbeitslosigkeit bei Menschen mitBehinderungen ist in einem Jahr um 10 Prozent gesun-ken. Das ist für sich genommen eine große Zahl. Bei ei-nem Rückgang von insgesamt 15 Prozent zeigt das aberauch, dass Handlungsbedarf besteht. Deswegen gehenwir besonders an diese Problemgruppen auf dem Ar-beitsmarkt heran.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Gleichzeitig haben wir in dieser Zeit Diskussionen,die sich Rot-Grün in ihrer Regierungszeit gewünschthätte. Herr Kuhn, Sie mussten nie darüber diskutieren,wohin man mit Milliardenüberschüssen will. So eineDebatte kennen Sie aus Ihrer eigenen Regierungsverant-wortung gar nicht. Wir sind froh, dass wir in einer Situa-tion sind, in der es um die Frage geht, was wir mit denÜberschüssen machen. Unsere Position als Union istklar: Wir wollen die vorhandenen Überschüsse an dieBeitragszahler zurückgeben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sind zuversichtlich, dass wir uns mit unserem Koali-tionspartner darüber verständigen können.

Ich will, weil es immer wieder um das geht, was beiden Menschen ankommt, einmal auf Folgendes hinwei-sen: Wenn wir eine Senkung des Arbeitslosenversiche-rungsbeitrages auf 3,5 Prozent schaffen, dann habenwir die Beitragszahler in der Zeit der Großen Koalitionum 20 Milliarden Euro entlastet, indem wir den Bei-tragssatz von 6,5 Prozent auf 3,5 Prozent gesenkt haben.Das sind eine stolze Bilanz und eine gute Leistung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist die Politik, die wir gemeinsam erarbeitet habenund die wir gemeinsam zu vertreten haben.

Ich will an das anknüpfen, was der Arbeitsministergesagt hat. In der Diskussion bezüglich des Regelsatzesim SGB II muss für uns die Priorität darin liegen, dassalle Kinder in diesem Land eine echte Chance haben und

dass das Geld, das für die Kinder gedacht ist, in der Tatbei den Kindern ankommt. Das ist unsere gemeinsameVerantwortung, der wir gerecht werden.

Wir stehen als Große Koalition gemeinsam, denkeich, für das, was in Meseberg verabredet worden ist. Wirsind vertragstreu. Das sage ich ganz deutlich. Das giltauch für alle Verabredungen, die wir zum Mindestlohngetroffen haben. Aber klar ist natürlich auch: Es gibt einpaar ungewöhnliche Entwicklungen, über die man redenmuss. Sie haben es angesprochen. Es geht zum Beispielum den ehemaligen Arbeitsminister von Herrn Beck. Ichhabe den Bundesarbeitsminister danach gefragt. Es istwirklich so: Herr Gerster ist nicht wegen neoliberalerUmtriebe von Herrn Beck entlassen worden, sondern da-mals aus anderen Gründen ausgeschieden.

Herr Gerster kündigte gestern die Gründung einerneuen Gewerkschaft an. Er sagte: Es gibt Leute, die sichvon Verdi nicht vertreten fühlen. Es könne dieser Tageeine Gewerkschaftsgründung geben, und vielleicht gebees dieses Jahr noch miteinander konkurrierende Tarifver-träge.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Ex-Arbeits-minister der SPD sucht sich eine Gewerkschaft, die tap-fer für niedrige Löhne kämpft. Das ist politisch ein Stückaus dem Tollhaus.

(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIELINKE] – Ludwig Stiegler [SPD]: Wir müssenfest zusammenstehen, damit das nicht passiert!Fest zu Meseberg stehen! Mit Meseberg gegenGerster!)

Wir werden sehen müssen, wie wir rechtlich damit um-zugehen haben; aber es ist ein Stück aus dem Tollhaus.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Deswegen werden wir sorgfältig das zu prüfen haben,was auch angesichts angekündigter Klagen einer rechtli-chen Analyse bedarf. Wir stehen zu den Verabredungen,die wir getroffen haben.

Lassen Sie mich noch etwas zum Arbeitslosengeld Isagen, weil es sich in der Debatte immer um Jüngere undÄltere dreht. Als CDU haben wir auf unserem Bundes-parteitag einen Beschluss gefasst, Herr Kuhn, aus demich nur einen Punkt zitieren will, über den häufig nichtgesprochen wird. Wir haben festgelegt, dass wir längereZahlungen nicht ans Lebensalter, sondern an die Bei-trags- und Lebensleistung knüpfen wollen. Wer 15 Jahrelang eingezahlt hat, soll 15 statt 12 Monate lang Arbeits-losengeld beanspruchen können. Was hat das denn mitÄlteren zu tun? Bei uns gibt es Leute – ich denke hier anmeinen Stellvertreter Stefan Müller –, die mit 16 Jahrenangefangen haben, Beitrag zu zahlen. Wenn jemand mit16 anfängt, Beiträge zu zahlen, dann hat er nach unseremKonzept mit 31 Jahren Anspruch auf eine um drei Mo-nate längere Arbeitslosengeldzahlung. Wird da ein Älte-rer begünstigt? Er kann noch in der Jungen Union sein,sogar bei den Jusos könnte er sein; er darf noch nicht beiden alten Herren Fußball spielen. Ein Anfang-30-Jähri-ger ist doch kein Alter, der da begünstigt wird. Es gibt si-

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Dr. Ralf Brauksiepe

cherlich auch andere, die 30 Semester Politologie studie-ren. So etwas steht Ihnen in Ihrer Fraktion, Herr Kuhn,vielleicht näher als die Werdegänge, die wir bei uns ha-ben.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es geht nicht um Jüngereoder Ältere, sondern es geht darum, Beitrags- und Le-bensleistung zu honorieren. Das ist unser Vorschlag, mitdem wir in die weiteren Gesprächen gehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält der Kollege Jörg Rohde für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Jörg Rohde (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren der Koalition! Vor allem aber: Sehr geehrteehemalige Beteiligte an der rot-grünen Regierungskoali-tion von 2002 bis 2005! Ich gehe zunächst auf die heu-tige Debatte ein. Herr Müntefering, Sie haben die Zeitar-beit erwähnt und gesagt, es solle sich nicht umDauerarbeitsplätze handeln. Aber es gibt beispielsweisein der IT-Branche Arbeitnehmer, die es ablehnen, einenArbeitsplatz in dem Unternehmen anzunehmen, in demsie eingesetzt sind. Denken Sie bitte auch an diese Ar-beitnehmer, Herr Minister, die in einer sicheren Zeitar-beitsfirma bleiben möchten.

Leider haben Sie heute kein Wort zu den immer nochhohen Arbeitslosenzahlen bei den Schwerbehindertengesagt. Hier bin ich Herrn Brauksiepe für seine Bemer-kung sehr dankbar.

Herr Gysi, Arbeitszeitverkürzung ist der falsche Weg.Die 35-Stunden-Woche, die übrigens von der IG-Metalldurchgesetzt wurde, hat sehr viele Arbeitsplätze ge-schaffen – aber im Ausland und nicht hier in Deutsch-land, Herr Gysi.

(Beifall bei der FDP – Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: So ein Quatsch!)

Herr Stiegler, eine Antwort sind Sie schuldig geblie-ben. Es wäre natürlich interessant gewesen, zu erfahren,wie sich die SPD-Bundestagsfraktion beim ThemaALG I positioniert. Ich dachte, dies sei gerade für IhrePartei eine zentrale Frage.

(Beifall bei der FDP)

Mit unserem heutigen Entschließungsantrag eröffnenwir von der FDP allen Kolleginnen und Kollegen, be-sonders aber den Abgeordneten der SPD, die Möglich-keit,

(Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD])

sich zu Ihren Überzeugungen von 2003 zu bekennen.Bleiben Sie heute standhaft und stimmen Sie Ihrer eige-

nen wortwörtlichen Begründung zur damaligen Verkür-zung der Bezugsdauer des ALG I noch einmal zu!

(Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe[CDU/CSU]: Über Begründungen wird abernormalerweise nicht abgestimmt!)

Diese Argumente waren damals richtig und sind es heutenoch. Sie sollten zu Ihrer Meinung stehen.

Andernfalls erklärten Sie heute, dass Sie damals Fal-sches beschlossen hätten. Oder hängen Sie heute IhreMeinung wie eine Fahne in einen populistischen linkenWind? Wir Liberale freuen uns schon auf den Abgleichder Namen nach Auszählung der heutigen namentlichenAbstimmung. Damals haben schließlich 592 Abgeord-nete diesem Gesetz zugestimmt.

(Dirk Niebel [FDP]: Ziemlich große Mehr-heit!)

Anstatt aber den älteren Arbeitssuchenden Steine inForm von vermeintlichen Wohltaten durch einen verlän-gerten ALG-I-Bezug in den Weg zu legen, sollten Sieden Jobsuchenden über 50 Jahre lieber die Türen des Ar-beitsmarktes weiter öffnen. Über die Jahrzehnte habensich etliche Beschäftigungs- und Wiedereinstellungs-hemmnisse für Ältere in die Arbeitsmarktgesetzgebungeingeschlichen. Einige wenige davon sind durch die Ar-beitsmarktreformen von Rot-Grün beseitigt worden.Aber anstatt nun auch die restlichen Beschäftigungs-hemmnisse für Ältere auszuräumen, diskutieren Sie da-rüber, wie man das Rad wieder zurückdrehen kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, lassen Siesich bei dieser Diskussion nicht von der SPD einwi-ckeln; drängen Sie lieber auf eine Entrümpelung der Ar-beitsmarktgesetze!

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, lassen Sie sich von der FDPeinmal kurz sagen, wodurch ältere Beschäftigte und Ar-beitslose bedroht bzw. am Wiedereintritt in den Arbeits-markt behindert werden. Die Regelung zur Altersteilzeitstellt einen Fehlanreiz zum vorzeitigen Arbeitsende dar.Miserable Hinzuverdienstmöglichkeiten machen die Er-werbstätigkeit parallel zum Altersrentenbezug völlig un-attraktiv. Die 58er-Regelung lässt die Potenziale der über58-Jährigen ungenutzt verkümmern.

(Beifall bei der FDP)

Diese Missstände gilt es anzugehen.

(Dirk Niebel [FDP]: Sehr richtig!)

Wir dürfen nicht das vorzeitige Arbeitsende subven-tionieren, sondern wir müssen alle Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer durch kontinuierliche Weiterqualifi-zierung länger am Arbeitsmarkt halten. Wir müssen die58er-Regelung, mit der ältere Arbeitslose nur noch ge-fördert, aber nicht mehr gefordert werden, wie geplantauslaufen lassen. Da ich gestern im Ausschuss sehr ge-nau zugehört und den Vorstoß der SPD bemerkt habe,sage ich Ihnen: Hände weg von diesem Gesetz!

(Beifall bei der FDP)

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Jörg Rohde

Auch für diejenigen, die schon eine Altersrente bezie-hen, müssen wir es durch eine Erhöhung der Hinzuver-dienstgrenzen attraktiv machen, einem Nebenerwerbnachzugehen.

Allerdings nahen Weihnachten und Parteitage, undschon wollen linke Sozialromantiker und Märchenerzäh-ler in der SPD und vielleicht auch in der Union auf Kos-ten der Beitragszahler ein Wahlgeschenk kaufen, dessenUmfang die Haushaltspolitiker auf mindestens 2 Milliar-den Euro taxieren. Lassen Sie diesen Unsinn, meine Da-men und Herren! Folgen Sie den Vorschlägen der FDPund nutzen Sie die Überschüsse der Bundesagentur fürArbeit für eine größtmögliche Senkung des Beitrags zurArbeitslosenversicherung. Denn davon profitieren alleArbeitnehmer.

(Beifall bei der FDP)

Dadurch würde die Arbeit in Deutschland günstiger undwettbewerbsfähiger, und es würden mehr Arbeitsplätzeentstehen. So bringen wir Deutschland voran.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,kehren Sie zur Vernunft zurück! Beenden Sie jetzt IhrenWettstreit mit der Fraktion Die Linke um die schlech-teste und teuerste Arbeitsmarktpolitik! Bleiben Sie in derArbeitsmarktpolitik dem Grundsatz des Förderns undForderns treu! Bekräftigen Sie die Gesetzesbegründungaus dem Jahre 2003 und folgen Sie heute dem Antragder FDP!

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält der Kollege Klaus Brandner für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Klaus Brandner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Die heutige Regierungserklärung,die mit den Stichworten Aufschwung, Teilhabe, Wohl-stand und Chancen für den Arbeitsmarkt überschriebenist, weist darauf hin, dass die gute wirtschaftliche Ent-wicklung für die Menschen gestiegene Chancen am Ar-beitsmarkt mit sich gebracht hat.

Das Handelsblatt hat gestern gemeldet, dass sich diedeutsche Wirtschaft im Hinblick auf die Auftragsein-gänge in einem Investitionsrausch befindet. Auch bei derIndustrieproduktion sind positive Zahlen zu verzeich-nen. Die wirtschaftliche Entwicklung ist robust, unddas in einem schwierigen Umfeld, in dem die Rohöl-preise und der Eurokurs auf Rekordniveau sind und indem die Immobilienkrise in den USA auf die deutschenBanken ausstrahlt und auch auf die Situation andererUnternehmen Auswirkungen hat.

Trotz dieses schwierigen internationalen Umfeldes istes uns erstens gelungen, die Zahl der Arbeitslosen vongut 5 Millionen auf 3,5 Millionen Menschen zu reduzie-ren. Zweitens ist es uns gelungen, dafür zu sorgen, dass

der Finanzminister voraussichtlich in diesem Jahr erst-mals einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen kann.Wann konnte zuletzt ein Rückgang der Arbeitslosigkeitin Millionenhöhe verkündet werden? Das ist ein ent-scheidender Erfolg unseres Arbeits- und SozialministersFranz Müntefering. Ich finde, das sollte heute herausge-stellt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wann konnte ein Finanzminister so positive Zahlen vor-legen, wie dies Peer Steinbrück tun konnte?

(Beifall bei der SPD)

Das ist ein hervorragender Erfolg unseres Finanzminis-ters, der seinesgleichen sucht.

Die Fakten können sich im internationalen Vergleichsehen lassen, vor allem dann, wenn man berücksichtigt,dass kein anderes westeuropäisches Land die Kosten derdeutschen Vereinigung zu schultern hatte; diese Kostenwaren übrigens nicht aus der Portokasse zu zahlen, wieuns manche glauben machen wollten.

Die Profiteure dieser guten Entwicklung sind die1,5 Millionen Menschen, die wieder Arbeit gefunden ha-ben. Wir sind dem Ziel, mehr Beschäftigung zu schaffen,schon ein großes Stück näher gekommen. Damit gebenwir uns aber nicht zufrieden. Wir wollen noch mehrMenschen Teilhabe und Arbeit ermöglichen, und wirwollen gute Arbeitsbedingungen schaffen, damit dieMenschen in Würde arbeiten können. Deshalb folgenwir unserer Leitlinie, die deutlich zum Ausdruck bringt:Wir wollen die Reformen am Arbeitsmarkt menschen-würdig und mit Augenmaß umsetzen; bei manchen Re-formen ist das in der Vergangenheit leider aus dem Blickgeraten. Das hat für uns Sozialdemokratinnen und So-zialdemokraten das Prä, und dafür stehen wir ein.

(Frank Schäffler [FDP]: Was heißt das konkret?)

Wir wollen, dass die wirtschaftliche Dynamik nicht nurwenigen, sondern möglichst vielen Menschen nutzt. Wirwollen – das haben wir mit dem Agendaprozess gezeigt –,dass von diesem erfolgreichen Prozess am Ende alle et-was haben.

Wir Sozialdemokraten haben für die Agenda einigesan gesellschaftlichem Gegenwind in Kauf genommen.Heute ist noch einmal deutlich geworden, dass unser jet-ziger Koalitionspartner dabei nicht immer mit hilfrei-chen Äußerungen aufgetreten ist.

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr! Aber da sind wir nachsichtig!)

Es gibt viele Ministerpräsidenten, es gibt selbst Regie-rungsmitglieder, die sich oft einen schlanken Fuß ge-macht haben. Rüttgers ist sicherlich nur ein Name. Er hatüber die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslo-sengeld I schwadroniert, tatsächlich will er eine massiveKürzung der Leistungen. Das muss an dieser Stelle auchganz offen angesprochen werden.

(Beifall bei der SPD)

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Klaus Brandner

Insofern wäre zumindest aus meiner Sicht – die Bundes-kanzlerin ist nicht mehr da – ein deutlicheres Wort inmancher Situation erwünscht und hilfreich gewesen,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dürfen wir Sie zitieren?)

um diesen sozial gesteuerten Reformprozess systema-tisch fortsetzen zu können.

Denn die Erfolge sind da. Die Erfolge der GroßenKoalition – auf sie ist heute mehrfach hingewiesen wor-den –, aber auch die Erfolge, für die wir zusammen miteinem anderen Koalitionspartner den Grund bereitet ha-ben, für die Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder denGrund bereitet hat, haben uns neue Spielräume und neuefinanzielle Möglichkeiten gegeben, die wir nutzen

(Beifall bei der SPD)

für Investitionen in die Zukunft, die wir nutzen für einebessere Bildung für unsere Kinder, die wir nutzen fürmehr Innovationen, für gute Arbeit und die wir nutzenfür eine bessere Infrastruktur und nicht zuletzt für eineKlimapolitik, die uns ein Leben auf diesem Planeten erstermöglicht. Das sind die Zukunftsaufgaben, denen wiruns stellen.

Konjunktur und Arbeitnehmerrechte, das ist immereine große Herausforderung, der wir uns stellen müssen.Dabei ist es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass manklarstellt, dass Wachstum auch ohne den Abbau von Ar-beitnehmerrechten geschieht.

(Beifall bei der SPD)

Ich kann mich sehr gut an die heftigen und ideologischenDiskussionen über Mitbestimmungsrechte, über Tarif-autonomie, über Kündigungsschutz erinnern. Sie allesollten geschliffen werden, Teile sollten geopfert wer-den, damit wir wieder mehr Arbeit in diesem Land ha-ben. Ich sage ganz deutlich: Die Sicherung der Arbeit-nehmerrechte, die mir ein Herzensanliegen ist, stehtwirtschaftlichem Wachstum nicht entgegen.

(Beifall bei der SPD)

Die Menschen brauchen Sicherheit, sie brauchen Bodenunter den Füßen, damit sie innovativ und kreativ zumWohle unseres Landes wirken können. Deshalb gibt esmit uns keinen Abbau des Kündigungsschutzes, um esklar und deutlich zu sagen.

(Beifall bei der SPD)

In den letzten Tagen ist über die Beschäftigung Älte-rer und über die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld Idiskutiert worden. Wir machen uns diese Diskussionnicht leicht, wie Sie alle wissen und erleben. Da hat esHerr Rüttgers schon leichter. Diese Diskussion – lassenSie mich das sagen – hat allerdings neben dem Inhaltli-chen eine positive Begleiterscheinung: Wir können beidieser Diskussion auf die grandiosen Erfolge der Ar-beitsmarktpolitik dieser Regierung und der Vorgänger-regierung hinweisen. Sie wäre sonst niemals so zurKenntnis genommen worden. Rechte und Linke im Haushätten niemals so gelobt, was sich am Arbeitsmarkt allesbewegt hat. Das ist auch ein Punkt, der manchmal erst

auf Umwegen zutage tritt. – Ich sehe freundliches Ni-cken bei unserem Koalitionspartner, in den Reihen derCDU/CSU. – Das wäre ansonsten kleingeredet worden.Dieser Erfolg kann sich sehen lassen. Er gibt MenschenHoffnung und Halt. Darauf können wir stolz sein.

(Beifall bei der SPD)

Die Erfolge am Arbeitsmarkt, gerade für Ältere,sind angesprochen worden – ich will sie nicht alle wie-derholen –: Über 200 000 Menschen über 50 haben imletzten Jahr Arbeit gefunden. Die Erwerbsbeteiligungder Älteren ist deutlich gestiegen von 38 Prozent in den90er-Jahren auf über 52 Prozent jetzt. Das sind gute Zah-len. Aber damit dürfen wir uns insgesamt gesehen nichtzufriedengeben. Wir brauchen eine noch viel höhere Er-werbsbeteiligung Älterer. Wenn unsere Bevölkerungschrumpft, wenn immer weniger Jüngere nachwachsen,muss unser Wohlstand mehr und mehr von den Älterenmit geschaffen werden. Deshalb brauchen wir eine hö-here Erwerbsbeteiligung aller Bevölkerungsgruppen,insbesondere der Älteren. Das setzt ein Umdenken inden Betrieben voraus. Der Prozess des altersgerechtenArbeitens beginnt erst. Er wird noch dauern, wie wirwissen. Deshalb wollen wir die Bezugsdauer vonArbeitslosengeld I für Ältere unter diesem Risikoge-sichtspunkt verlängern. Wir wollen diesem UmstandRechnung tragen.

Deshalb sage ich aber auch ganz deutlich: Die Aufre-gung in der Diskussion darüber, dass damit eine Abkehrvon der Agendapolitik verbunden sei, ist völlig überzo-gen. Ich sehe dafür überhaupt keinen Zusammenhang.

(Beifall bei der SPD)

Die eigentliche Herausforderung liegt ganz woanders.Die Zukunftsfragen heißen: Wie können wir die Bun-desagentur für Arbeit zu einer Beschäftigungsversiche-rung weiterentwickeln? Wie muss eine präventive Ar-beitsmarktpolitik aussehen, damit Arbeitslosigkeit erstgar nicht entsteht? Wie sieht eine Arbeitsmarktpolitik füreine Welt mit völlig veränderten Erwerbsbiografien aus?

Die Anforderungen an ein Erwerbsleben haben sichdeutlich verändert. Elternzeiten für beide Ehepartner,Pflegezeiten für Eltern, Sabbaticals zur Weiterbildung,eine völlig neue berufliche Ausrichtung, all das ist nebenneuen Berufsbildern gefragt. Hierzu werden von uns,verbunden mit dem Stichwort gleitende Übergänge inden Ruhestand zum Beispiel auch aus gesundheitlichenGründen, Antworten erwartet. Wir müssen Antwortendarauf finden, wie wir die höheren Flexibilitätsanforde-rungen mit Sicherheit verbinden können.

Die Bundesagentur der Zukunft muss sich deshalbmehr in Richtung einer präventiven Politik orientieren:Beratung in der Schule, in der Ausbildung, bei den Über-gängen aus der Schule in das Arbeitsleben und aus Fami-lienzeiten, bei der Weiterbildung, bei der Qualifizierungund bei der zweiten Chance. Die Aufgabe, für eine quali-tativ hochwertige Arbeitsmarktpolitik zu sorgen, bleibtbestehen. Deshalb besteht aus unserer Sicht die Aufgabe,dafür zu sorgen, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst ent-steht. Mit dieser Zukunftsorientierung gehen wir an dieArbeitsmarktpolitik heran.

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Klaus Brandner

Deshalb sage ich ganz deutlich: Es geht nicht vorran-gig um die Frage, ob der Beitrag zur Arbeitslosenversi-cherung angesichts der guten Finanzsituation um weitere0,3 Prozentpunkte gesenkt werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Im Vordergrund steht, dass wir neben der Beitragssatz-senkung von 6,5 Prozent auf 4,2 Prozent – eine weitereSenkung auf 3,9 Prozent ist jetzt schon beschlossen – dieFrage beantworten müssen, welche Aufgaben zukünftigwahrgenommen werden sollen, damit die Menschenmöglichst schnell wieder in Arbeit kommen, um nichtaus dem Arbeitsprozess herauszufallen

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und um dafür zu sorgen, dass die Arbeitslosenversiche-rung zu einer Beschäftigungsversicherung weiterentwi-ckelt wird.

Uns geht es um gute Arbeit. Ich habe gesagt, die Ar-beitswelt hat sich verändert – nicht nur als Folge vonveränderten Wünschen Einzelner, sondern auch wegenanderer Lebensentwürfe und des globalen Wettbewerbs.Wir wissen, dass Teile der Wirtschaft mit einfachen Re-zepten darauf reagieren: Lohnsenkungswettbewerb,Leiharbeit, Rückkehr zu kürzeren Taktzeiten, Umgehungvon Tarifverträgen, verstärkte Schichtarbeit an Wochen-enden und Ähnliches. Der Druck wird einfach an die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergereicht. Daswollen wir nicht. Ich kann nur davor warnen. Das ist zukurz gesprungen. Der richtige Weg für uns ist: nicht län-ger, schneller und härter, sondern besser, intelligenterund qualifizierter. Das sind die Losungen, für die unsereArbeitsmarktpolitik steht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Gerade fürdas Thema Zeitarbeit sind uns gute Beispiele bekannt– zum Beispiel bei Audi –, mit denen deutlich gemachtwird, dass wir den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleicheArbeit“ früher verwirklichen müssen und dass Mindest-löhne notwendig sind, damit es nicht dazu kommt, dassman bei vollschichtiger Arbeit nicht von seinem Arbeits-einkommen leben kann.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Müller für

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als

die Große Koalition vor zwei Jahren ihre Arbeit aufge-nommen hat, haben die Menschen in diesem Land dieHoffnung damit verbunden, dass die drängenden Pro-bleme in diesem Land endlich gelöst werden.

(Jörg Tauss [SPD]: Wie bisher!)

Ich kann heute feststellen: Wir haben die Hoffnungender Menschen nicht enttäuscht.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!)

Wir haben uns der Lösung der drängenden Probleme inunserem Land zugewandt. Wir haben uns den Herausfor-derungen, die Globalisierung und demografischer Wan-del mit sich bringen, gestellt und versuchen, sie einerLösung zuzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das gilt ausdrücklich nicht nur für die Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik, sondern das gilt auch für viele andereBereiche, in denen es heute nachweisbare Erfolge unse-rer Politik gibt: im Bereich der Finanz- und Haushalts-politik, im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik undim Bereich der Familienpolitik, um nur ein paar Bei-spiele zu nennen. Aber wir haben von vornherein gesagt:Das zentrale Handlungsfeld dieser Regierung und der sietragenden Fraktionen ist die Arbeitsmarktpolitik, weilsich politische Erfolge dort unmittelbar messen lassenund bei den Menschen unmittelbar ankommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Diese Erfolge unserer Arbeit lassen sich heute an denZahlen ablesen. Ich glaube, die Zahlen sind so gut, dassman sie immer wieder vortragen sollte: Die Arbeitslosig-keit betrug im September 2005 4,6 Millionen, im Sep-tember 2007 3,5 Millionen. Sozialversicherungspflichtigbeschäftigt waren im September 2005 26,5 MillionenMenschen, im September 2007 26,9 Millionen. Wir ha-ben weniger Jugendliche, die arbeitslos sind, und mehrÄltere, die wieder eine Beschäftigung gefunden haben.Diese Zahlen zeigen, dass die Große Koalition erfolg-reich arbeitet. Wir leisten unseren Beitrag dazu, dass im-mer weniger Menschen auf Fürsorge angewiesen sindund immer mehr Menschen von ihrer eigenen Arbeit le-ben können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das, was wir in zwei Jahren gemeinsam mit der SPDerreicht haben, kann sich sehen lassen und lässt sich inverschiedenen Bereichen der Arbeitsmarktpolitik able-sen, zum Beispiel bei der Senkung des Beitrags zurArbeitslosenversicherung um 2,3 Prozentpunkte. Wirhaben damit nicht nur die Lohnzusatzkosten gesenkt,Arbeit und Arbeitsplätze in Deutschland wieder wettbe-werbsfähig gemacht, sondern gleichzeitig auch dafür ge-sorgt, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernin unserem Land von ihrem Bruttolohn netto mehr übrigbleibt. Das ist ein Erfolg, auf den wir stolz sein können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nun gibt es ja einen Antrag der FDP.

(Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Vielleicht möchte Herr Dr. Kolb dazu eine Zwischen-frage stellen.

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Kolb?

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Kollege Müller, nachdem heute immer wieder

die angeblichen Entlastungen der Arbeitnehmer von denVertretern der Koalition beschworen werden, möchte ichSie fragen: Wären Sie denn bereit, uns zu sagen, wiehoch die Mehrbelastungen der Arbeitnehmer auf-grund der Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge,der Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge, der ab-sehbaren Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitragesund der Erhöhung der Mehrwertsteuer sind? Ich glaube,dass sich insgesamt ein negativer Saldo ergibt. StimmenSie dem zu?

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Ich stimme dem ausdrücklich nicht zu, Herr Kollege

Dr. Kolb. Wir führen diese Debatte ja heute nicht zumersten Mal. Ich gebe Ihnen gern noch einmal die Unter-lagen des Instituts der deutschen Wirtschaft, aus denenich im Ausschuss schon einmal zitiert habe. Dieses Insti-tut kommt im Endergebnis dazu, dass es eine Entlastungder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegeben hat.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allein die Zu-satzbelastung durch die Mehrwertsteuererhö-hung!)

Ich stelle Ihnen diese Unterlagen sehr gerne zur Verfü-gung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Herr Kollege Dr. Kolb, uns liegt heute ein Antrag derFDP mit dem Titel „Überschüsse der Bundesagentur fürArbeit an Beitragszahler zurückgeben – Beitragssen-kungspotenziale nutzen“ vor. Sie sprechen sich darin füreine weitere Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenver-sicherung mindestens auf 3,5 Prozent aus. Dieser Antragträgt das Datum 19. September 2007. Dazu fällt mir nurein: Guten Morgen! Auch schon ausgeschlafen? – Alldas, was Sie in diesem Antrag fordern, haben Vertreterder Großen Koalition schon seit Wochen und Monaten indiesem Hause immer wieder besprochen und beschlos-sen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir diesen Wegweitergehen werden. Ihre Nachhilfe haben wir in diesemZusammenhang jedenfalls nicht nötig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir haben Fehlentwicklungen im SGB II abgebaut.Da ging es nicht allein darum, Missbrauch zu bekämp-fen, sondern auch darum, ungerechtfertigte Inanspruch-nahme einzudämmen und vor allem die knapper werden-den Mittel auf diejenigen zu konzentrieren, die wirklichHilfe brauchen. Wir haben mit der Initiative „50 plus“die Beschäftigungschancen und -perspektiven für ältereArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Landverbessert, gleichzeitig aber ein Signal gegeben, dass die

Wirtschaft jetzt nicht länger nur von Beschäfti-gungschancen Älterer sprechen darf, sondern in derPflicht ist, dafür zu sorgen, dass Menschen über50 wirklich wieder eingestellt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir werden diesen Kurs fortsetzen, insbesondere imHinblick auf diejenigen, bei denen dieser Aufschwungam Arbeitsmarkt so noch nicht angekommen ist. DieZahlen werden immer wieder deutlich gemacht; sie wer-den auch gar nicht bestritten. Nicht wahr ist, dass derAufschwung an den Langzeitarbeitslosen und den Men-schen mit geringeren Qualifikationen bislang komplettvorbeigegangen ist. In der Tat können wir uns da abernoch sehr viel mehr wünschen. Gerade für diese Gruppeder Langzeitarbeitslosen und Geringqualifiziertensind wir in der Verantwortung, mehr zu tun.

Eine zweite Gruppe, um die wir uns intensiv küm-mern müssen, sind die Jugendlichen. Der KollegeBrandner hat sie bereits angesprochen. Auch hier gilt es,noch mehr Anstrengungen zu unternehmen, um die Ju-gendlichen in eine Beschäftigung zu bringen. Es bleibtdabei: 400 000 jugendliche Arbeitslose unter 25 sind im-mer noch 400 000 zu viel. Es bleibt dabei, dass auch die-jenigen eine Chance bekommen müssen, die heute dieHauptschule verlassen, ohne anschließend unterzukom-men. Auch für sie werden wir noch einiges machen.

Unser Ziel ist, dass kein junger Mann und keine jungeFrau die Schule verlässt und dann in die Arbeitslosigkeitfällt. Unser Ziel ist – das haben wir schon mehrfach for-muliert –, dass jedem, der die Schule verlässt, ein Aus-bildungsplatz, ein Arbeitsplatz, eine Qualifizierungs-maßnahme oder eine gemeinnützige Beschäftigungangeboten wird. All das ist besser, als zu Hause herum-zusitzen, weil man keine Arbeit hat.

Wir haben in den letzten zwei Jahren dafür gesorgt,dass diejenigen, die Hilfe brauchen, diese auch bekom-men. Wir haben Instrumente geschaffen, um Menschenmit besonderen Vermittlungshemmnissen bessere Chan-cen am Arbeitsmarkt zu bieten, und wir haben dafür ge-sorgt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlandshinsichtlich der Arbeitsplätze verbessert wurde.

Insofern rufe ich Ihnen zu: Die Zeiten der ruhigenHand in Deutschland sind vorbei. Deutschland bewegtsich nach vorn. Das ist auch das Verdienst dieser Bun-desregierung und der sie tragenden Fraktionen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Undvon Franz Müntefering!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Rolf Stöckel für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Rolf Stöckel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundes-

minister Müntefering hat heute Morgen eine eindrucks-

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Rolf Stöckel

volle Zwischenbilanz und einen ausführlichen Ausblickauf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dieser Bundesre-gierung gegeben. Ich glaube, wir können ein bisschenstolz darauf sein, dass wir hinsichtlich der Ziele, mit de-nen wir angetreten sind, in der Tat inzwischen erste Er-folge auf dem Arbeitsmarkt verzeichnen, die auch nach-haltig sind. Es bleibt richtig und prioritär, dass verstärktin Qualifizierung und Beschäftigung investiert wird, undes zeigt sich, dass diese Anstrengungen vor allen Dingendie älteren Arbeitnehmer erkennbar erreicht haben.

Das heißt aber auch – Minister Müntefering hat dieBeschlüsse der Bundesregierung, die wir noch umzuset-zen haben, angesprochen –, dass diese Politik ständigverbessert und weiterentwickelt werden muss. Es istkeine Schande – das hat diese Debatte ausdrücklich do-kumentiert –, dass gerade eine Partei wie die SPD da-rüber diskutiert, wie man einerseits eine richtige Antwortauf die besondere Situation von älteren Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern und Arbeitslosen findetund auf der anderen Seite für neue Arbeitsbiografien undneue Herausforderungen gerade für junge Familien mitKindern, die auch vom Risiko der Arbeitslosigkeit be-droht sind, neue Lösungen findet, die dazu beitragen,dass die Armutsrisiken von Familien und besondersvon Kindern nachhaltig abgebaut werden.

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])

Im Streit in der SPD geht es auch darum, dass dieArbeitslosenversicherung, die wir zu einer Beschäfti-gungs- und Arbeitsversicherung weiterentwickeln wol-len, eine solidarische Risikoversicherung ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Äquivalenz von Lebensleistung und gezahlten Bei-trägen spielt eine große Rolle. Ich glaube, darauf müssenwir auch eine Antwort geben. Sie drückt sich in demprozentualen Anteil des Arbeitslosengeldes I am bisheri-gen Verdienst aus; sie muss sich aber auch in einer zeitli-chen Differenzierung ausdrücken. Diese besteht zwarschon, aber sie kann womöglich verbessert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eines wird die SPD nicht mitmachen – das muss ichals Nordrhein-Westfale auch dem dortigen Ministerprä-sidenten Rüttgers klar sagen –: durch das alleinige Beto-nen der Leistungsgerechtigkeit einen schleichenden Wegin eine private Ansparversicherung anzubahnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Situation junger Familien und das Armutsrisikovon Kindern war in den letzten Wochen vor allem durchKirchen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften einöffentliches Thema, das zunehmend an Bedeutung ge-winnt. Deswegen begrüße ich die Zusage des Bundesar-beitsministers, gerade in diesem Bereich nicht nur dieModi der Transferleistungen zu überprüfen, sondern mit-zuhelfen, zu einem koordinierten Vorgehen und einemBündnis gegen Kinderarmut und für Bildungs- undLebenschancen von Kindern zu kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial-hilfe hat viele Menschen aus der verdeckten und ver-schämten Armut in die soziale Grundsicherung nachdem SGB II geholt. Sie hat die Statistik ehrlicher ge-macht und die staatlichen Instrumente zur Bekämpfungder Langzeitarbeitslosigkeit und der Armut verbessert.Arbeitsplätze und existenzsichernde Familieneinkom-men sind prioritär und stellen die materielle Basis zurVermeidung von Kinderarmut dar. Der Erfolg unsererPolitik ist sichtbar. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Hartz IVist deshalb auch zweieinhalb Jahre nach Inkraftteten desGesetzes – sicherlich ist noch vieles zu verbessern – we-der der Grund für zunehmende Armut noch ein geeigne-ter Gradmesser.

Entscheidend ist die Weiterentwicklung der von unseingeleiteten Maßnahmen der Familien-, der Gesund-heits-, der Bildungs-, der Arbeitsmarkt-, der Sozial- undder Integrationspolitik. Ich rufe dem neuen Ministerprä-sidenten Bayerns zu, der heute in einem Interview sagt,er habe Verständnis dafür, wenn ältere Arbeitslose mehrund länger Arbeitslosengeld I bekommen wollten alsMenschen aus der Türkei oder Bosnien: Ich finde, dieseForm der Spaltung von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern gehört in das 20. Jahrhundert, aber nicht in einemoderne Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

(Beifall bei der SPD)

Unser Ziel bleibt, dass möglichst viele Menschen un-abhängig von einer staatlichen Grundsicherung lebenkönnen – Hilfe zur Selbsthilfe –, dass sie sich aber imBedarfsfall auch darauf verlassen können. Ausmaß undGründe für Armutsrisiken bei Kindern sind viel weitge-hender, als diejenigen meinen, die öffentlich immer wie-der auf Armut durch Hartz IV verweisen. Zu keiner Zeithat es mehr Maßnahmen sowie Struktur- und Leistungs-verbesserungen zur Bekämpfung der Armutsrisiken beiKindern gegeben als heute. Wir haben seit 1998 – zuerstunter Rot-Grün, dann in der Großen Koalition – die Fa-miliensozialleistungen wesentlich verbessert: dreimaligeErhöhung des Kindergeldes und des steuerfreien Exis-tenzminimums, Senkung der Eingangssteuersätze, För-derprogramme für soziale Städte, erweiterte Rechts-ansprüche, Leistungen nach dem SGB II sowieKinderzuschlag für Familien. Die Bundesländer haben4 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztags-grundschulen bekommen. Wir haben mit dem größtenInvestitionsprogramm in der Geschichte, dem Tagesbe-treuungsausbaugesetz, eine enorme Kraftanstrengungunternommen, um die Strukturen insbesondere bei derBetreuung der unter Dreijährigen zu verbessern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Frau Merkel hat vor einigen Monaten die Initiative er-griffen und gefordert, die Kinderrechte sowie das Rechtauf Förderung und Entwicklung in das Grundgesetz auf-zunehmen. Die Debatte darüber muss dazu führen, dieseInitiative zu unterstützen und zu einem gemeinsamenVorgehen der föderalen Ebenen zu kommen. Nur so wer-den wir Strukturverbesserungen erreichen, die notwen-dig sind, um Kinderarmut auf allen Ebenen zu bekämp-fen.

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Rolf Stöckel

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die meisten Kinder und Jugendlichen in Deutschland le-ben in Wohlstand. Aber das heißt nicht automatisch, dasssie gegen Misshandlungen oder Verwahrlosung, insbe-sondere emotionaler Art, in einer Gesellschaft gefeitsind, in der zunehmend weniger Kinder leben. Es kommtdarauf an, dass wir gemeinsam, Bund, Länder und Kom-munen, Verbände und alle anderen, die gesellschaftlicheVerantwortung tragen, die Kinderrechte stärken und dieBedingungen, unter denen Kinder in Deutschland auf-wachsen, verbessern. Frau Merkel, wir unterstützen Sieauf diesem Weg.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Jetzt mal gradlinig bleiben!)

Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,dass alle, die Bedenken hatten, wie sich diese Debattevor dem aktuellen Hintergrund entwickeln wird, einesBesseren belehrt worden sind. Ich finde, das ist eine sehrwichtige Debatte. Wir müssen sie unbedingt fortsetzen.Denn eines ist ganz klar: Wenn es uns nicht gelingt, denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschlandklarzumachen, dass die durchgeführten Reformen unddie geplanten Veränderungen ihnen zum Vorteil gerei-chen, und wenn der Aufschwung nicht bei den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern ankommt, dann wirddie Glaubwürdigkeit der sozialen Marktwirtschaft insge-samt nicht gestärkt, sondern geschwächt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir uns jetzt über-legen, wie wir es wirklich schaffen können, dass bei de-nen, die jetzt in den Arbeitsprozess gekommen sind – diemeine ich in erster Linie –, von dem, was sie sich erar-beiten, auch möglichst viel ankommt. Dazu dient bei-spielsweise die Senkung des Arbeitslosenversiche-rungsbeitrags. Wenn wir das schaffen, dann kommt beiden Betroffenen direkt mehr Geld an, und wir leisten zu-sätzlich einen Beitrag zur Schaffung von mehr Arbeits-plätzen in Deutschland.

Wir müssen aufpassen, dass wir an der Stelle, an derwir jetzt sind – das ist wirklich ein Scheideweg –, nichtden Fehler machen, Programme mit zusätzlichen Ausga-ben zu beschließen; wir müssen vielmehr alle Maßnah-men daraufhin abklopfen, ob sie einen zusätzlichen Bei-trag zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen leisten, jaoder nein,

(Beifall bei der CDU/CSU)

ob sie einen Beitrag dazu leisten, dass mehr Geld beimArbeitnehmer ankommt, ja oder nein, und ob sie einen

Beitrag dazu leisten, dass es in der Wirtschaft inDeutschland mehr Wettbewerb unter den Unternehmengibt, ja oder nein.

Schauen wir uns an, was sich zurzeit – der KollegeBrauksiepe hat einen Teilaspekt angesprochen – zumBeispiel im Bereich der Post tut. Herr Müntefering, ichsage in vollem Ernst: Macht Ihnen nicht Sorge, was dazurzeit beispielhaft abläuft? Ich sehe, dass ein Unterneh-men einen Arbeitgeberverband gründet, damit anschlie-ßend der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärtwerden kann; daraufhin wollen andere Unternehmeneine Gewerkschaft gründen, um dagegenzuhalten. Dasist doch eine Fehlentwicklung, die wir nicht mitmachendürfen. Wir müssen alle auffordern, sich endlich an ei-nen Tisch zu setzen und vernünftige Arbeitsbedingungenfür die Arbeitnehmer in diesem Bereich zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Gelbe Marktwirtschaft!)

Wir werden den Weg der Zersplitterung von Arbeitneh-mervertretungen und Arbeitgebervertretungen nicht mit-gehen; denn wir sehen diesen Prozess mit großer Sorge.Unternehmen und Arbeitgeber versuchen in allen mögli-chen Branchen – einige waren bei Ihnen, HerrMüntefering –, den Mindestlohn und die Möglichkeit,Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, dazuzu benutzen, weniger Wettbewerb in ihren Branchen zuerreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Das betrifft die Zeitarbeitsbranche, Entsorgungsfirmenund viele andere mehr. Die großen Unternehmen in denverschiedenen Branchen wollen den Wettbewerb mit denkleinen und mittleren Unternehmen minimieren. Sie be-dienen sich dazu ausgerechnet des Instruments der Er-klärung von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich unddes Entsendegesetzes. Herr Müntefering, wenn Sie oderwir auf diese Praktiken hereinfallen würden – ich bin si-cher, dass Sie es nicht tun –, dann würden wir der sozia-len Marktwirtschaft in Deutschland einen Bärendiensterweisen. Die CDU/CSU und ich sind jedenfalls nichtbereit, diesen Weg mitzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wettbewerb ist für mich das Schlüsselwort der sozialenMarktwirtschaft, wenn es um die Wirtschaft geht. Wennweniger Wettbewerb herrscht, werden wir alle teuer da-für bezahlen. Letztendlich werden die Arbeitnehmer miteiner Maßnahme, die gut gemeint ist, bestraft.

Wir haben in einem weiteren Bereich etwas gemacht,was gut gemeint war, aber leider zu einer Fehlentwick-lung geführt hat. Das betrifft die Hinzuverdienstmög-lichkeiten beim ALG II. Wir müssen darangehen, die-sen Bereich neu zu organisieren. Ich habe meineZweifel, ob die von Ihnen bisher vorgeschlagene Lösungdie richtige ist. Unabhängig davon haben Sie in einemTeilaspekt recht. Wir müssen bis zu einem Betrag von1 200 Euro einen gleitenden Übergang erreichen undBrüche vermeiden. Wenn bei einem Betrag von800 Euro ein neuer Bruch erfolgen würde, wäre das für

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Laurenz Meyer (Hamm)

das System genauso schlecht wie der Bruch bei jetzt400 Euro. Wir müssen den unteren Teilbereich der gerin-gen Einkommen neu organisieren – das betrifft auch dieAnrechnung von Kindern –, damit sich eine Kombina-tion von ALG II, einem Miniminijob und Schwarzarbeitnicht lohnt. Unternehmen und Arbeitnehmer arbeiten dazurzeit Hand in Hand. Wir dürfen diese Fehlentwicklungnicht hinnehmen.

Das Gleiche gilt für den Kinderzuschlag. Die derzei-tige Situation ist skandalös. Wir müssen verfassungsge-mäße Wege finden, damit nicht ein Geringverdiener,etwa einer in der Gruppe der Bezieher von Einkommenbis 1 200 Euro, für sein Kind nur ungefähr die Hälfte derTransferleistungen dessen bekommt, der keine Arbeithat. Wir müssen das Problem intelligent mit Anreizen lö-sen, damit Kinder in diesem Einkommensbereich gleich-gestellt werden und sich Arbeit für diejenigen lohnt, dieArbeit aufnehmen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt sind dieprivaten Haushalte. Ich bin froh, dass wir in diesemBereich endlich aktiv werden wollen, um die Ziele unddie Anreize richtig zu setzen. Zurzeit hat keiner auf bei-den Seiten – weder der Haushalt als Arbeitgeber nochder Arbeitnehmer – ein Interesse daran, die Schwarz-arbeit zu minimieren, damit die Leute in sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse kommen. Wirhaben ungefähr 200 000 gemeldete Stellen – Minijobsplus andere Beschäftigungsverhältnisse –, aber 4 Millio-nen Beschäftigte in den Privathaushalten. Es muss unsdoch gelingen, wenigstens einige Hunderttausend dieserBeschäftigten in sozialversicherungspflichtige Beschäf-tigungsverhältnisse zu bringen, indem wir die richtigenAnreize setzen.

Das ist für mich soziale Marktwirtschaft. An diesenKriterien – Wettbewerb, und was dient den Arbeitgebernund den Arbeitnehmern in Deutschland, damit mehr Ar-beitsplätze entstehen? – sollten wir die Maßnahmen unddas Riesenpaket an Reformen, das wir jetzt vor uns ha-ben, messen. Dann sind wir auf einem guten Weg, unddann werden wir diesen positiven Weg, hier vielfach be-schrieben, zum Nutzen der Menschen in Deutschlandweitergehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache.

Im Rahmen des Tagesordnungspunkts 3 kommen wirzur Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion der FDP auf Drucksache 16/6624 zur Abgabeeiner Erklärung durch die Bundesregierung. Die Frak-tion der FDP hat namentliche Abstimmung verlangt. Ichbitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-sehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Ur-nen besetzt? – Jetzt sind alle Urnen besetzt. Ich eröffnedie Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der

Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wirdIhnen später bekannt gegeben.1)

Wir kommen zum Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wirddie Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6434 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich bitte diejenigen, die der weiteren Beratung folgenwollen, Platz zu nehmen, und diejenigen, die Gesprächeführen wollen, dies nach Möglichkeit außerhalb des Saa-les zu tun. Ich möchte gerne in der Debatte fortfahren.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d so-wie Zusatzpunkt 5 auf:

4 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Errichtung eines Sondervermö-gens „Kinderbetreuungsausbau“

– Drucksache 16/6596 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten DianaGolze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Kinderbetreuungsausbau mit mehr Mitteln,Fachkräften und Qualität ausstatten – Rechts-anspruch auf Ganztagsbetreuung 2010 einfüh-ren

– Drucksache 16/6601 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten EkinDeligöz, Grietje Bettin, Kai Gehring, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Angebot und Qualität der Kindertagesbetreu-ung schneller und verlässlicher ausbauen –Realisierung nicht erst 2013

– Drucksache 16/6607 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

1) Ergebnis Seite 12167 C

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Bericht der Bundesregierung über den Standdes Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebotan Kindertagesbetreuung für Kinder unterdrei Jahren 2007

– Drucksache 16/6100 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten InaLenke, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Chancengerechtigkeit von Beginn an

– Drucksache 16/6597 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Carsten Schneider für dieSPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses

Thema ist eine gesellschaftspolitische Revolution. Wirreden heute über den Ausbau der Kinderbetreuung inDeutschland. Die politische Debatte darüber ist seit vie-len Jahren im Gange. Die Saat ist mit dem Tagesbetreu-ungsausbaugesetz, kurz: TAG, gesät worden. DiesesGesetz ist unter Federführung von Renate Schmidt ent-standen und am 1. Januar 2005 in Kraft getreten. Esstellt einen ersten richtigen Schritt zur Ausweitung derKinderbetreuung in Deutschland dar. Wir setzen die-sen Weg fort mit der heute stattfindenden Beratung desEntwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sonderver-mögens „Kinderbetreuungsausbau“. Das Ganze hat zumeinen finanzielle Aspekte und zum anderen vor allenDingen gesellschaftspolitische. Ich halte die gesell-schaftspolitischen Aspekte und die damit verbundenenWeichenstellungen für viel wichtiger.

Zunächst einmal geht es um die Eltern, vor allen Din-gen um die Mütter mit kleinen Kindern im Alter zwi-schen einem und drei Jahren. Was wir mit dem verstärk-ten Ausbau von Krippen- und Kindergartenplätzenin den Kommunen erreichen wollen, ist eine Verände-rung der derzeitigen Situation. Die derzeitige Situationist gekennzeichnet von einer Spaltung in Ost und West.Entgegen dem sonstigen Standard ist das Angebot an

Kleinkinderbetreuungsmöglichkeiten wie Krippenplät-zen im Osten viel besser als in Westdeutschland. Ichsage ganz persönlich: Ich hätte mir gewünscht, dass diebesonderen Erfahrungen, die man in Ostdeutschland mitdieser Betreuung gemacht hat – als Kind bin ich selbst indieser Form betreut worden –, viel früher Einfluss aufdie Politik dieses Landes gehabt hätten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, dass es Deutschland gutgetan hätte, wir hät-ten früher damit angefangen und hätten diese Erfahrungmit eingebracht.

Ich erinnere mich an jemanden, der die These vertre-ten hat – er ist dann niedersächsischer Justizminister ge-worden –, die überproportional starke rechtsextremeEinstellung in Ostdeutschland, die es durchaus gibt,rühre daher – so weit ging das! –, dass die Kleinkinderzusammen aufs Töpfchen gehen.

(Ina Lenke [FDP]: Ja, genau! Das kennen wir auch!)

Da habe ich mich gefragt: In welcher Welt lebt dieserKollege?

(Zurufe von der SPD: Genau!)

Ich halte es daher für richtig, dass wir in der GroßenKoalition übereingekommen sind, den Ländern und denKommunen finanziell deutlich unter die Arme zu grei-fen, auch wenn es nicht unsere originäre Aufgabe ist– eigentlich ist es gar nicht unsere Aufgabe –, uns alsBund um dieses Thema zu kümmern.

(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])

Eigentlich haben wir gar keine Veranlassung, dafür Geldbereitzustellen. Aber das ist ein Thema, bei dem mannicht nur zuschauen kann, bei dem es um das langfristigesoziale Zusammenleben in diesem Land geht. Das hatauch eine ökonomische Komponente, die für den Bundnatürlich mit entscheidend ist, nämlich dass möglichstviele Frauen, wenn sie gut ausgebildet sind

(Renate Gradistanac [SPD]: Und Männer!)

– natürlich sollten auch die Männer ihre Kinder betreuen –,die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich le-ben können.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Ina Lenke?

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Ja, bitte sehr.

(Christel Humme [SPD]: Nicht schon wiederdie gleiche Frage! Die kennen wir schon! –Weitere Zurufe)

Ina Lenke (FDP): Von der Regierungsbank will ich überhaupt nichts hö-

ren. Sie haben hier gar nichts zu sagen, wenn wir als Par-lamentarier diskutieren.

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12166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

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Ina Lenke

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe eine Frage an den Kollegen. Herr Schneider,Sie haben gesagt, dass das Parlament in Berlin mit derKinderbetreuung eigentlich nichts zu tun hat. Da habeich genau hingehört. Ich würde Ihnen gern Art. 3 desGrundgesetzes entgegenhalten, nach dem der Staat dietatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung vonFrauen und Männern fördert und auf die Beseitigung be-stehender Nachteile hinwirkt. Deshalb fühle ich mich alsParlamentarierin im Bundestag dazu aufgerufen, vonhier aus zu helfen. Sie sind sicherlich meiner Meinung,oder?

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Frau Lenke, ein Blick ins Gesetzbuch und gerade ins

Grundgesetz ist meistens gut; vielen Dank. Ich wolltedamit sagen, dass wir von der Ausgabeseite her zwar ei-gentlich nicht dafür zuständig sind, dass wir als Bundaber natürlich ein Gesamtinteresse haben. Wir wollenden Ländern und Kommunen einen Schub geben, dasssie die von uns als richtig erkannte Weichenstellung mit-tragen, die Benachteiligung, die es in diesem Bereichbisher gibt, weil zu wenig Betreuungsplätze vorhandensind, abzubauen. Dafür stellen wir Mittel bereit.

Andersherum habe ich es noch nie erlebt, dass einBundesland oder eine Kommune sich an friedenserhal-tenden Maßnahmen finanziell beteiligt hat. Wir beteili-gen uns in diesem Fall trotzdem, weil uns dieses Projektviel zu wichtig ist, als dass es scheitern dürfte. Es hat inden vergangenen Jahrzehnten nicht die Priorität in die-sem Land gehabt.

Ich bin froh, dass sich das jetzt ändert; denn es gehtgerade für Frauen und Männer um einen entscheidendenPunkt: um die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Fami-lie. Ich bin selbst junger Familienvater; ich habe eine an-derthalbjährige Tochter. Meine Frau ist seit einem hal-ben Jahr wieder im Beruf, und ich weiß, wie schwieriges ist, die Familie und eine Vollzeitstelle zu verknüpfen.Ich weiß aber auch, wie wichtig es für sie war – bei unsin Erfurt ist es so, dass jeder, der möchte, einen Kinder-betreuungsplatz bekommt –, wieder arbeiten gehen zukönnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowieder Abg. Ina Lenke [FDP])

Dies hat auch viel mit Selbstachtung und Selbstverwirk-lichung zu tun.

Wenn die Gesellschaft das, was sie braucht – nämlichmehr Kinder –, tatsächlich haben will, dann müssen wirin diesen Bereich investieren. Deswegen bin ich sehrfroh, dass wir – das möchte ich klar sagen – an dieserStelle Schwerpunkte setzen.

Mit diesem Sondervermögen investieren wir in denersten Jahren 2,15 Milliarden Euro, damit die Betreu-ungsplätze nicht nur personell ausgestattet sind, sondernüberhaupt erst geschaffen werden; das ist entscheidend.2,15 Milliarden Euro ist ein sehr hoher Betrag. Das zeigt

unsere Schwerpunktsetzung. Das verbessert sozusagendie Qualität unserer Staatsausgaben, weil das zukunfts-gewandt ist. Das führt die Finanzpolitik des Finanz-ministers der vergangenen Jahre fort. Ich bin froh, dasser – wie auch wir Haushalts- und Finanzpolitiker – ge-sagt hat: Wir sind dabei. Das ist sehr wichtig. Ich bingern bereit, dafür Geld zur Verfügung zu stellen.

(Ina Lenke [FDP]: Das stimmt auch nicht! Er hat sich gewehrt!)

Dafür stellen letztendlich ja die Bürgerinnen und Bürgerdiesem Staat ihr Geld in Form von Steuern zur Verfü-gung.

Ich möchte aber gerne noch ein paar andere Punkteansprechen. Eine Frage ist, ob mit dieser Schwerpunkt-setzung Ungerechtigkeit einhergeht. Hier gibt es ja zwi-schen uns und der Union – das wird von Unionsseitesicherlich auch noch vorgetragen – einen Dissens. Ge-rade vonseiten der CSU wird gefordert, dass wir zusätz-lich zum Ausbau der Plätze in Kindertagesstätten einBetreuungsgeld einführen. In diesem Zusammenhangmöchte ich fragen: Gibt es denn bisher Gerechtigkeitzwischen denen, die Kinder haben und arbeiten möch-ten, und denen, die Kinder haben und zu Hause bleibenwollen? Ich sage, die gibt es nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es gibt nämlich derzeit nicht überall ein passendes An-gebot. In Ostdeutschland gibt es dies. Nicht umsonst istPotsdam als familienfreundlichste Stadt ausgezeichnetworden. Dagegen zahlen Freunde von mir, die in Baden-Württemberg leben und in Stuttgart arbeiten, für die Be-treuung ihres kleinen Sohnes, den sie vor kurzem be-kommen haben, 800 Euro an eine Tagesmutter. Bei ei-nem Halbtagsjob wird es schon schwierig, so viel Geldnetto, also aus versteuertem Einkommen, zu verdienen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deshalb die steuerliche Absetzbarkeit, Herr Kollege!)

Es ist dann nicht mehr attraktiv, arbeiten zu gehen. Ichhalte es für eine Benachteiligung, wenn denen, die arbei-ten gehen wollen und zum Sozialprodukt dieses Landesbeitragen wollen, im Endeffekt nichts übrigbleibt.

Diejenigen, die in dieser Frage Wahlfreiheit haben– ich will, dass es Wahlfreiheit gibt; jeder soll das fürsich selbst entscheiden können; ich will niemandem vor-schreiben, was er zu tun hat –, werden bereits gefördert,wenn sie sich für die Betreuung zu Hause entscheiden.Ich nenne beispielsweise das Ehegattensplitting. Hier-durch werden Alleinverdiener bevorteilt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es handelt sich um Steuerbeträge von mehreren Milliar-den Euro, auf die wir durch Einräumung dieser Möglich-keit verzichten. Ein weiterer zusätzlicher Vorteil, der zu-sammen mit dem genannten berücksichtigt werdenmuss, besteht in der Möglichkeit zur kostenlosen Mit-versicherung des Ehepartners – es kann sich ja auch umden Ehemann handeln – in der Krankenversicherung.

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Carsten Schneider (Erfurt)

Wenn wir nun ein Betreuungsgeld einführen würden– darüber wird es ja eine politische Diskussion geben –,kostete das mindestens 2 bis 2,7 Milliarden Euro.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Kein Rechtsan-spruch ohne Betreuungsgeld, Herr Kollege!)

Ich frage Sie: Sind 2,7 Milliarden Euro nicht besser an-gelegt in der Ermöglichung wirklicher Wahlfreiheit, inder Schaffung eines qualitativ viel besseren Angebots,zum Beispiel in Form kleinerer Gruppen, und vielleichtdarüber hinaus in der Senkung der Gebührensätze sowieam Ende sogar in einer kompletten Kostenbefreiung?Warum muss für einen Kindergartenplatz gezahlt wer-den, aber nicht für die Schule? Ich bin nicht für die Ein-führung eines Schulgeldes – auf keinen Fall! Ich denkeaber, dass es sehr wichtig ist, gerade Kindern aus bil-dungsfernen Schichten im Kindergarten bzw. in der Kin-derkrippe möglichst frühzeitig – die Wissenschaftler sa-gen ja, dass man hier ganz frühzeitig ansetzen muss – dieMöglichkeit zu geben, das Beste aus sich zu machen.Denn dank der PISA-Studie wissen wir, wie sehr Bil-dungsarmut aufgrund sozialer Selektion vererbt wird.Wäre es angesichts dessen nicht am besten, wenn Kin-dergarten- bzw. Kinderkrippenplätze kostenfrei angebo-ten würden? Ich denke, wir sollten diesen Weg beschrei-ten und hier unsere Prioritäten setzen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass diesesGesetz unser Land verändern wird. Wir beschließen jahier sehr oft und sehr viel. Ich glaube aber, dass diesesGesetz entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres

Landes ist und maßgeblich zur Herstellung sozialerGerechtigkeit beiträgt; denn – ich habe das vorhin ange-sprochen – gerade für Kinder aus bildungsfernen Schich-ten und Kinder mit Migrationshintergrund ist esentscheidend, dass sie im Kindergarten bzw. in der Kin-derkrippe schon als Kleinkinder Deutsch lernen, mit an-deren Kindern zusammen sind und ihnen insgesamt dieMöglichkeit gegeben wird, ihre Fähigkeiten am bestenzu entfalten. Von daher handelt es sich bei diesem Ge-setz nicht nur um eine finanzielle Angelegenheit; es gehtnicht nur um ökonomische Fragen und darum, dassFrauen und Männer arbeiten können und damit die Er-werbstätigenzahlen gesteigert werden, sondern es gehtauch um die Frage von sozialer Gerechtigkeit. Von daherbin ich froh, dass wir dieses Gesetz, das ursprünglich be-reits von Renate Schmidt angestoßen wurde, heute aufden Weg bringen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich komme nun zurück zum Tagesordnungspunkt 3

und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab-stimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/6624 zur Abgabe einer Er-klärung durch die Bundesregierung bekannt: Abgege-bene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 98, mit Neinhaben gestimmt 466, enthalten haben sich 6 Kollegen.Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 569;davon

ja: 98nein: 465enthalten: 6

Ja

CDU/CSU

Peter Rauen

FDP

Dr. Karl AddicksChristian AhrendtDaniel Bahr (Münster)Uwe BarthRainer BrüderleAngelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke

Paul K. Friedhoff Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel

Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg Rohde Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Marina Schuster Dr. Hermann Otto Solms Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Christoph Waitz Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Martin Zeil

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Grietje Bettin Alexander Bonde Dr. Thea Dückert

Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja HajdukBritta Haßelmann Bettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn) Ulrike Höfken Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Fritz Kuhn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Anna Lührmann Nicole MaischJerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Winfried Nachtwei Omid NouripourBrigitte Pothmer Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Christine ScheelIrmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Margareta Wolf (Frankfurt)

Nein

CDU/CSU

Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dorothee BärThomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck

(Reutlingen) Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen

(Bönstrup) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Cajus CaesarGitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander DobrindtThomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan EiselAnke Eymer (Lübeck) Georg Fahrenschon Ilse Falk Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe-

Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich

(Hof) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme

Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Ralf Göbel Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen) Volker Kauder Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler (Wiesbaden) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich

Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers

(Heidelberg) Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf

Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer (Altötting) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer (Hamm) Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Hildegard Müller Carsten Müller

(Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Bernward Müller (Gera) Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht (Weiden) Peter Rzepka Anita Schäfer (Saalstadt) Hermann-Josef ScharfDr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt (Fürth) Andreas Schmidt (Mülheim)Ingo Schmitt (Berlin) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer

Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes SinghammerJens Spahn Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Thomas Strobl (Heilbronn) Hans Peter ThulAntje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold VaatzVolkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Kai WegnerMarcus Weinberg Peter Weiß (Emmendingen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer (Neuss) Elisabeth Winkelmeier-

Becker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew

SPD

Gregor Amann Gerd Andres Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr (Neuruppin) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding (Heidelberg) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens BollenGerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann

(Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Renate Gradistanac Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann

(Wackernheim) Nina Hauer Reinhold HemkerRolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Petra Hinz (Essen) Gerd Höfer Iris Hoffmann (Wismar) Frank Hofmann (Volkach) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung (Karlsruhe) Josip Juratovic Johannes Kahrs

Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Christian Kleiminger Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Markus Meckel Petra Merkel (Berlin) Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller (Chemnitz) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Christoph PriesDr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Steffen Reiche (Cottbus) Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel Riemann-

Hanewinckel Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Ortwin Runde Anton Schaaf

Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder Dr. Frank Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Renate Schmidt (Nürnberg) Heinz Schmitt (Landau) Carsten Schneider (Erfurt) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Reinhard Schultz

(Everswinkel) Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Dieter SteineckeAndreas Steppuhn Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. h. c. Wolfgang Thierse Jörn Thießen Franz Thönnes Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen

(Wiesloch) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit WetzelAndrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff

(Wolmirstedt) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries

DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin Karin BinderDr. Lothar Bisky Heidrun BluhmDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmWerner DreibusKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillCornelia HirschDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenDr. Hakki KeskinKatja KippingMonika KnocheJan KorteKatrin KunertMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothée MenznerKornelia MöllerKersten NaumannWolfgang NeškovićPetra PauBodo RamelowElke ReinkePaul Schäfer (Köln)Volker Schneider

(Saarbrücken)Dr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertDr. Petra SitteFrank SpiethDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostJörn Wunderlich

Fraktionsloser Abgeordneter

Gert Winkelmeier

Enthalten

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Winfried Hermann Peter Hettlich Dr. Anton Hofreiter Monika Lazar Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist das Ende der Reform-agenda 2010! – Gegenruf der Abg. Ute Kumpf[SPD]: Herr Kollege Beck!)

Nun fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile dasWort dem Kollegen Otto Fricke für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Otto Fricke (FDP): Geschätzte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Ich glaube, eines muss man bei dieserDebatte als Opposition ganz klar festhalten: Wir streitenuns nicht mehr über die Frage des Ob der Betreuung derunter Dreijährigen, sondern um die Frage des Wie.

(Beifall bei der FDP)

Wir sind da in unserem Lande, auch wenn immer nochversucht wird, Streitigkeiten zu erzeugen, viel weiter ge-kommen. Ich glaube auch nicht, dass es uns bei derFrage des Wie und der Frage, was für die Kinder und dieFamilien am besten ist, wirklich weiterbringt, noch überdas Ob zu diskutieren.

Bei der Frage des Wie kommen wir an einen ganz ent-scheidenden Punkt: Was ist bei der Frage, wie das Geldbei denen ankommt, die es brauchen, zu beachten? Zubeachten ist, dass der Bürger erkennen können muss:Wer ist verantwortlich, wer gibt das Geld aus, wie vielkostet es – das sollte man gerade mit Blick auf die Kin-der sehen, denen man die Schulden auferlegt –, und wenkann ich ansprechen, wenn es nicht funktioniert? An die-ser Stelle hat die Koalition nach unserer Meinungschlicht versagt.

Die Gründe dafür sind einfach. Wir machen eineMischfinanzierung und werden jetzt ein Sondervermö-gen anlegen. Die Länder werden dann Berichte erstellen,wie das Geld grob zu verteilen ist, und in den Kommu-nen wird geschaut, wie das umgesetzt wird. Die einzelneKinderkrippe und die einzelne Kinderbetreuungseinrich-tung werden das Geld erst verspätet bekommen. Wennsie es nicht bekommen und fragen, wer dafür zuständigist, wird wieder – das erleben wir doch – von der Kom-mune aufs Land verwiesen und vom Land – die Ländermüssten eigentlich heute hier vertreten sein – auf denBund. Das wird geschehen, wenn angeblich irgendetwasnicht funktioniert und irgendeine Verordnung nichtstimmt. Dieses Risiko, liebe Große Koalition, tragen Sie;Sie haben die Verantwortung, wenn im Wirrwarr unsererVerwaltung wieder einmal manches untergeht.

(Beifall bei der FDP)

Der zweite Punkt. Warum schaffen Sie eigentlich die-ses Sondervermögen? Sie könnten doch jedes Jahr imHaushalt etwas dafür einstellen. Der Grund liegt darin,dass der Finanzminister das eigentlich ganz anders ha-ben wollte als die Familienministerin, die ihm das einge-brockt hat. Die Familienministerin hat gesagt: Ich binzwar gesetzgebungsmäßig nicht zuständig;

(Christel Humme [SPD]: Doch!)

aber gefühlt bin ich doch zuständig – das Gefühlte ist inder Politik ja im Moment wichtiger als der Verstand –,also mache ich das. – Darauf hat der Finanzminister fest-gestellt, dass das aber eine zu hohe Belastung bedeutet;denn er will – das ist der eigentliche Grund für diesesSondervermögen – zeigen, wie die Neuverschuldung je-des Jahr weiter abgebaut wird. Also wird in diesem Jahrein Sondervermögen angelegt – wir haben ja Steuer-mehreinnahmen, was gut ist –, damit die Neuverschul-dung nicht im nächsten Jahr wieder steigt.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)

Der nächste Punkt ist: Man war nicht bereit, dasGanze auf die Kommunen zu übertragen.

(Ina Lenke [FDP]: Genau! Das wäre das Beste gewesen!)

Übrigens glaube ich, dass der Bund dazu anders als dieLänder bereit gewesen wäre. Diese Große Koalitionwäre mit ihrer Zweidrittelmehrheit in der Lage gewesen,das zu tun.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie hätte den Kommunen Umsatzsteuerpunkte gebenkönnen. Aber sie hat es nicht getan, besonders deswegennicht, weil die Länder das nicht wollten. Die Länder ha-ben hier die klebrigen Finger. Das ist der eigentlicheGrund, warum das Ganze nicht an die Kommunen über-tragen wird. Für meine Fraktion steht klar und deutlichfest: Das Geld muss den Kommunen gegeben werden.Sie sind in der Verantwortung und werden vom Bürgerangesprochen, wenn etwas nicht richtig funktioniert.

Mein letzter Punkt. In Bezug auf die weitere Belas-tung weise ich darauf hin, dass es auch in späteren Jah-ren – das sage ich ganz bewusst; das wird nämlich 2013sein, wenn es diese Große Koalition gar nicht mehr gibt;davon gehen wohl auch die einzelnen Parteien der Gro-ßen Koalition aus – die Verpflichtung gibt, 770 Millio-nen Euro pro Jahr für die Betreuung auszugeben. HerrMinister, das werden sich die Haushälter ganz genau an-schauen. Im Moment können Sie das noch verdecken,weil es nicht in der Finanzplanung ist. Aber faktisch be-lasten wir heute, auch wenn das keine gesetzliche Ver-pflichtung ist, den Bund weiter mit zusätzlichen Ausga-ben für etwas in der Sache Gutes; aber wir sorgen nichtdafür – das sollte eigentlich die Hauptverpflichtung ge-genüber den Kindern sein –, dass die Verschuldung ab-gebaut wird und wir unseren Kindern nicht nur eine guteKinderbetreuung hinterlassen, sondern auch möglichstwenig Schulden. Daran müssen wir noch arbeiten.

(Beifall bei der FDP)

Als Schlusswort, liebe Große Koalition: Kommen Siebitte nicht am Ende des Jahres oder im nächsten Jahr da-mit, dass das alles nicht so gut läuft, weil Sie nicht er-wartet haben, was es an verwaltungsmäßigen Kompli-ziertheiten gibt.

(Heiterkeit der Abg. Ina Lenke [FDP])

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Otto Fricke

Die Bürger, die Kinder, die Familien werden Sie daranmessen, welches Geld bei ihnen ankommt, und wir wer-den Sie erst recht daran messen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist nun der Kollege Steffen

Kampeter für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Für diejenigen, die schon etwas länger im Parla-ment sind, ist es eine eher merkwürdige Debatte: Es sollüber Familienpolitik debattiert werden, und die Haus-haltspolitiker eröffnen die Debatte. Es wird nicht nur dieFamilienministerin, sondern auch der Finanzminister re-den. Die Verbindung dieser wichtigen Politikbereichemacht deutlich, dass es einen erheblichen Bedeutungs-und Wahrnehmungswandel hinsichtlich der Familien inunserer Gesellschaft und in der Großen Koalition gibt

(Ina Lenke [FDP]: In der CDU!)

und dass die Familienpolitik vom Rand ins Zentrum desRegierungshandelns und des parlamentarischen Han-delns rückt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Der Kollege Schneider hat deutlich gemacht, dassHaushaltspolitik eben nicht nur Erbsenzählerei ist undsich nicht nur mit Plus, Minus und Schulden beschäftigt,sondern als zentralen Kern auch Gesellschaftspolitik ent-hält. Es ist auch eine gesellschaftspolitische Entschei-dung, wofür der Staat Geld ausgibt und wofür nicht. DieEntscheidung, die heute ansteht, zeigt die steigendeWertschätzung für die Menschen in unserem Land, diesich für Familie und Kinder entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Dabei geht es uns aus Haushältersicht nicht nur da-rum, immer mehr Titel für die Familien im Haushalt zuschaffen, sondern es geht natürlich auch darum, die Qua-lität der familienpolitischen Instrumente zu verbessernund die Zielsetzung der Bundesregierung darauf auszu-richten. Ein zielgenauerer Einsatz der Gelder, die wir fürdie Familie investieren, bedeutet im Ergebnis mehrMöglichkeiten und mehr Entscheidungsfreiheit für dieFamilien. Das ist das eigentliche Signal, das von dieserFinanzdebatte an die Bevölkerung gehen soll.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Worum geht es im Detail? Der heutige Vorschlag, dieFörderung für die unter Dreijährigen zu verbessern,muss in die Gesamtstrategie eingebettet werden, die wirim Bundeshaushalt und in der Familienpolitik in denvergangenen zwei Jahren entwickelt haben. Der erste

Schritt ist bereits erfolgt. Bei diesem Schritt geht es umdie materielle Wahlfreiheit. Ich nenne das StichwortElterngeld. Das Elterngeld ist neben dem Ehegattensplit-ting ein zentrales Instrument der materiellen Wahlfrei-heit, das insbesondere in der Mitte dieser Gesellschaftwirkt, also da, wo sich immer weniger Menschen, wiewir festgestellt haben, für die Familie entscheiden. Dortbedarf es der Sicherstellung einer materiellen Organisa-tionsfreiheit; dort müssen wir investieren. Deswegenwar das Signal, das von der Einführung des Elterngeldesausging, für die Mitte unserer Gesellschaft so wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]:Herr Kampeter, 40 Prozent kriegen nur dieHälfte!)

Der zweite Schritt wird heute eingeleitet. Dabei ist esmir wichtig, Folgendes festzuhalten: Aus Sicht derUnionsfraktion ist trotz der Ausweitung der Kinderbe-treuungsmöglichkeiten klar, dass der große Teil der unterDreijährigen auch zukünftig in den Familien, also vonden Eltern, erzogen wird. Auch das ist ein wichtiges Si-gnal, das von dieser Debatte ausgeht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen bis zum Jahre 2013 schrittweise für etwaein Drittel der Menschen auch die organisatorischeWahlfreiheit ausbauen. Für diejenigen Menschen, dieihre unter dreijährigen Kinder nicht in der Familie erzie-hen wollen – über die Gründe sollte die Politik nur zu-rückhaltend urteilen –, brauchen wir Betreuungsange-bote. Diese Menschen verdienen unseren Respekt undkeine Anklage. Der Staat ist hier in der Pflicht, diese Le-bensentscheidung zu respektieren. Im Übrigen soll denje-nigen, die sich aufgrund organisatorischer Mängel bisherschwertun, sich für Kinder und Familie zu entscheiden,diese Entscheidung erleichtert werden. Es handelt sichalso um eine wichtige gesellschaftspolitische Debatteüber eine an sich haushaltspolitische Entscheidung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit diesem Gesetz werden wir noch in diesem Jahrein Sondervermögen errichten. Den Familien ist es re-lativ egal, woher das Geld kommt. Hauptsache ist,

(Ina Lenke [FDP]: Hauptsache, es kommt an!)

dass wir denjenigen, die für die Kinderbetreuung und fürdie dort notwendigen Investitionen zuständig sind, dasGeld kurzfristig und bedarfsgerecht zur Verfügung stel-len. Mit unserer verfassungskonformen Lösung gehenwir diesen Weg. Wir sollten nicht in eine Finanzverfas-sungsdebatte – wie vorhin die Kollegin von der FDP –eintreten und uns streiten,

(Ina Lenke [FDP]: Das haben wir gar nicht nötig!)

sondern einen vernünftigen Weg finden, damit die Inves-titionen dort ankommen, wo sie tatsächlich benötigt wer-den.

Es können damit Betreuungsplätze eingerichtet, aus-gebaut und saniert werden. Es können Ausstattungsmaß-nahmen durchgeführt werden. Es kann in den Ausbau derKindertagesbetreuung investiert werden. Dieses unbüro-

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kratische Vorgehen ist ein wichtiges Signal an diejenigen,die Verantwortung für die entsprechenden Investitionenin den Kommunen tragen. Wir wollen die Familien nichtaus finanzverfassungsrechtlichen Gründen im Regen ste-hen lassen. Wir haben eine Aufgabe, und diese Aufgabewollen wir mit diesem Gesetz erfüllen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich habe vorhin ausgeführt, dass ich der Auffassungbin, dass ein Beitrag der Haushaltspolitik darin besteht,dass wir die Gelder dorthin transportieren, wo sie tat-sächlich hingehören. Wir sind gebrannte Kinder. ImRahmen verschiedener Gesetzgebungsmaßnahmen hatder Bund Geld zur Verfügung gestellt; die Gemeindenhaben aber gesagt: Es kommt nicht bei uns an. Deswe-gen ist ein wichtiger Baustein dieses Gesetzes die Ver-waltungsvereinbarung, die vom entsprechenden Hausefeder-Leyen beschlossen worden ist.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

– Was habe ich gesagt?

(Ina Lenke [FDP]: Feder-Leyen!)

– Ich wollte „federführend“ sagen.

Zwei Dinge sind mir besonders wichtig: Erstens. Wirkontrollieren, dass das Geld auch tatsächlich für denAusbau der Kinderbetreuungsplätze ausgegeben wird.Wenn es nicht für entsprechende Investitionen verwen-det wird – Herr Kollege Steinbrück, ein Versprecher fälltmir auch noch zu Ihnen ein; keine Sorge –, dann gibt esÄrger. Wir wollen, dass das Geld dort ausgegeben wird,wo Betreuungsplätze benötigt werden, wo die Familienes tatsächlich brauchen. Einige schreien, das sei Büro-kratie. Meines Erachtens ist in diesem Fall Bürokratienotwendig, damit wir diese Mittel nicht mit der Gieß-kanne verteilen, sie letztendlich in den Länderhaushaltenversickern und die Kommunen sich auf die Suche bege-ben und fragen, wo die Gelder geblieben sind. Dann kla-gen die Familien nämlich uns an, weil wir nicht dafürgesorgt haben, dass das Geld dort angekommen ist, woes hingehört, nämlich in der Betreuungsinfrastruktur derunter Dreijährigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fricke?

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Der Kollege Fricke ist sehr bekannt für gute Zwi-

schenfragen; deswegen sehr gerne, Frau Präsidentin.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte.

Otto Fricke (FDP): Herr Kollege Kampeter, dem, was Sie gerade in Be-

zug auf die richtige Verwendung der Gelder gesagt ha-ben, stimme ich im Grundsatz zu.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

– Sogar vollständig, weil wir alle im Haushaltsausschussdiese Erfahrung gemacht haben.

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Darüber sollten Sie vielleicht einmal mit der Kollegin

Lenke diskutieren.

(Ina Lenke (FDP): Wir sind uns da einig!)

Otto Fricke (FDP): Darüber brauche ich mit der Kollegin Lenke gar nicht

zu diskutieren. Sie weiß das meistens besser als mancherHaushälter.

Herr Kollege Kampeter, Sie haben gerade gesagt,dass es, wenn die Länder das Geld nicht dafür verwen-den, wofür es vorgesehen ist, Ärger gibt. Das hört sichstark an; Sie wirken ja auch am Rednerpult stark. Fürmich stellt sich aber die Frage: Wie machen Sie das?Was machen Sie denn dann? Sagen Sie mehr als: „Dasist böse, was ihr da gemacht habt!“? Oder enthält dasGesetz wirklich eine Regelung, damit Sie sagen können:„Das ist eine Fehlverwendung. Wir streichen euch dieGelder, bzw. ihr müsst sie zurückgeben“?

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Kollege Fricke, als Jurist sollten Sie wissen: Ein

Blick ins Gesetz und in die Verwaltungsvereinbarungenhilft immer weiter. Wir haben das Verfahren klar gere-gelt – Kollege Steinbrück nickt –: Die Gelder werdennur auf Antrag für bestimmte Maßnahmen, die ich hieraufgezählt habe, bewilligt. Zweitens machen wir einMonitoring, um sicherzustellen, dass der Ausbau der Be-treuung der unter Dreijährigen vorangeht. Das ist imVergleich mit allen vorherigen Gesetzen, bei denen wirbehauptet haben, Geld für die Familien auszugeben, einGesetz, das den zielgenauesten und im Übrigen auch un-bürokratischsten Einsatz garantiert.

(Ina Lenke [FDP]: Das wollen wir doch erst einmal sehen!)

Damit sorgen wir dafür, dass das Geld da ankommt, woes erforderlich ist, nämlich in den Gemeinden, die dieAufgaben zu lösen haben, die sich im Zusammenhangmit der Betreuung von unter Dreijährigen stellen. Damitsetzen wir Maßstäbe. Das ist vorbildlich und familien-freundlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ein weiterer Punkt ist der Zuschuss für den Betrieb.Die Begeisterung der Finanzpolitiker darüber ist einge-schränkt;

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr einge-schränkt!)

der Kollege Fricke hat darauf hingewiesen. Wir sind derAuffassung, dass das eigentlich Ländersache ist. Aberauch hier gilt: Wenn sich die Länder nicht ihrer Verant-wortung für die Familien stellen, sollten wir die Fami-lien nicht darunter leiden lassen. Das muss jedoch lang-

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sam wirklich der letzte Vorgang sein, bei dem die Ländererst Kompetenzen übernehmen wollen, aber im nächstenSchritt eine Finanzierung durch den Bund fordern. UnterKaufleuten gilt das als unanständiges Verhalten. Dassollte kein Regelfall sein. Das bedeutet einen Abzug inder B-Note. Das ist ein Mangel dieses Gesetzes; das willich nicht verschweigen.

(Beifall bei der FDP)

Unser Verhalten nützt aber unter dem Strich den Fami-lien; auch das muss man klar sagen.

Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte,ist die Verbindung zwischen dem Rechtsanspruch aufKinderbetreuung für unter Dreijährige und dem Betreu-ungsgeld. Für die Unionsfraktion ist klar, dass das einenur kommt, wenn das andere vereinbart wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen wird im anstehenden Gesetzgebungsverfah-ren deutlich zu machen sein – das bezieht sich nicht aufdieses Gesetz, sondern auf das Folgegesetz hinsichtlichdes Sozialgesetzbuches –, in welcher Art und Weise dasumgesetzt werden soll. In der Koalition sind wir diesbe-züglich, so glaube ich, auf einem guten Weg. Der Kol-lege Singhammer wird alles, was in diesem Zusammen-hang zum Sozialgesetzbuch VIII gesagt werden muss,vortragen.

Insgesamt finde ich: Dies ist ein guter Tag für die Fa-milien, weil wir eine Aufgabe lösen, die die Familien anuns herangetragen haben. Es ist ein guter Tag für dieHaushalts- und Finanzpolitik, weil wir den nahezu schonzu frechen Forderungen in Höhe von 7 oder 8 MilliardenEuro, die wir hier investieren sollten, nicht nachgekom-men sind, sondern gemeinsam mit dem Bundesfinanzmi-nister und der Bundesfamilienministerin eine Ober-grenze festgelegt haben und dafür Sorge getragen haben,dass das Geld tatsächlich bei den Familien ankommt undnicht in den Länderhaushalten versickert.

Dies ist insgesamt ein guter Tag für die Große Koali-tion, weil wir Handlungsfähigkeit bewiesen haben unddeutlich gemacht haben, dass wir zur Lösung der Pro-bleme, die die Menschen in diesem Land haben, einenvernünftigen Beitrag leisten können. Wir wissen, dassbei der Erziehung die Hauptaufgabe bei den Familienselbst liegt. Aber wir als Staat, wir als Große Koalitionwollen in dem Maße, in dem wir es können, helfen. Des-wegen ist dies ein guter Vorschlag.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Diana Golze

für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich gebe jeder Politikerin und jedemPolitiker recht, wenn sie oder er sagt, dass mit dem heute

vorliegenden Gesetzesvorhaben zur Errichtung einesSondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ ein wich-tiger Schritt gemacht wird. Es ist gut, dass in den letztenMonaten Dynamik in diese Debatte gekommen ist. Es istauch gut, dass es hier zu einem Prozess des Umdenkensder politisch Handelnden gekommen ist: weg von derStigmatisierung der Kindertagesbetreuung und hin zu ei-ner gesellschaftlichen Akzeptanz von Kindertagesstät-ten. Diese Leistung muss man Ihnen, Frau von derLeyen, unumwunden zugestehen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Bei den Sozialdemokra-ten war da keine Kehrtwende notwendig!)

Ja, es ist gut, dass es intensive Gespräche mit den Län-dern gegeben hat. Es ist natürlich auch gut, dass es zu ei-ner grundsätzlichen Einigung zwischen Bund, Ländernund Kommunen über die Wichtigkeit dieses Themas undletztlich über die Umsetzung des Ausbaus gekommen ist.Ja, es ist gut, dass Herr Steinbrück schlussendlich das nö-tige Signal der Mitfinanzierung dieses Vorhabens durchden Bund in Form dieses Sondervermögen gegeben hat.

Doch vor allem angesichts der Höhe des Sonderver-mögens stellt sich die Frage, wie ein Kinderbetreuungs-angebot aussehen wird, das mit einer solchen Summeausgebaut wird. Damit bin ich bei dem, was die Linkezum einen an diesem Sondervermögen und dessen ge-setzlicher Ausgestaltung und zum anderen an den vorge-sehenen Änderungen im Kinder- und Jugendhilfegesetzkritisch betrachtet.

Bei einem Blick in die Historie der Kindertagesbe-treuung wird schnell offensichtlich, dass das, was heuteals großer Durchbruch gefeiert wird, letztlich ein Ablen-kungsmanöver kurz vor Fristablauf ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Tagesbetreuungsausbaugesetz ist mit dem Datum27. Dezember 2004 versehen. Heute, am Tag der De-batte über die nötige Finanzierung, schreiben wir den11. Oktober 2007. Angesichts der zeitlichen Abläufeund der Fristen von der Verabschiedung des Gesetzes2004 bis zur Schaffung des Sondervermögens 2007 binich gespannt, wann die Bundesrepublik endlich dasgroße Ziel erreicht, auf einen vergleichbaren Stand wieSchweden, Dänemark oder Frankreich zu kommen.

Eine solche Politik geht zulasten der Kinder, dieschon jetzt von einer guten Tagesbetreuung profitierensollten. Es ist schon beachtlich, Frau von der Leyen, wieSie es geschafft haben, der Öffentlichkeit den ausgehan-delten Kompromiss zum ab 2013 bestehenden Rechts-anspruch als Erfolg zu verkaufen,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt aber!)

obwohl dieser laut Tagesbetreuungsausbaugesetz bereits2010 gelten sollte.

(Nicolette Kressl [SPD]: Ist doch nicht wahr!)

Es ist vielleicht eines der Glanzstücke des Politikmarke-tings, ein großes Versagen als immensen Schritt nachvorn zu verkaufen.

(Beifall bei der LINKEN)

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Denn das neue Vorhaben, nicht 2010, sondern erst 2013einen solchen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung zugarantieren, sehe ich nicht als Erfolg, sondern als weite-ren traurigen Beweis verfehlter Kinder- und Familienpo-litik.

(Beifall bei der LINKEN)

Nennen Sie die Dinge beim Namen, Frau Ministerin!Die Bundesrepublik Deutschland erreicht das durch dierot-grüne Bundesregierung gesetzlich verbriefte Ziel, bis2010 ein bedarfsgerechtes Kinderbetreuungsnetz auszu-bauen, nicht einmal ansatzweise. Im Bericht des Fami-lienministeriums zum Stand des Ausbaus der Kinderta-gesbetreuung vom 12. Juli 2007 war man ehrlicher. Daheißt es, dass der Ausbau von einer geringen Dynamikgekennzeichnet ist. Man schlussfolgert auf Seite 4 – ichzitiere –:

Die bisherige Entwicklung reicht damit nicht aus,um das Ausbauziel des TAG zu erreichen.

Das war im Juli dieses Jahres.

Die Bundesrepublik wird im Jahre 2013 auf einemStand sein, der schon jetzt, im Jahre 2007, nicht ausrei-chend ist. In § 24 a Abs. 4 des TAG steht – ich zitierewieder –:

Solange das erforderliche Angebot noch nicht zurVerfügung steht, sind bei der Vergabe der neuge-schaffenen Plätze1. Kinder, deren Wohl nicht gesichert ist, und 2. Kinder, deren Eltern oder alleinerziehende El-ternteile eine Ausbildung oder Erwerbstätigkeitaufnehmen …,besonders zu berücksichtigen.

Sie wollen mit diesem Sondervermögen ein Kinderbe-treuungsnetz aufbauen, das 35 Prozent der in der Bun-desrepublik lebenden Kinder einen Kita-Platz liefert.Dieses Angebot wird nicht für alle Kinder ausreichen,die dies in Anspruch nehmen wollen. Ich befürchte,dass, wie schon jetzt, leider auch in meinem BundeslandBrandenburg die Kinder von erwerbslosen Eltern vomBesuch einer Kita ausgeschlossen bleiben. Das hättedann nichts, aber auch gar nichts mit einem Rechts-anspruch für jedes Kind zu tun; denn dieser muss un-abhängig vom Erwerbsstatus der Eltern gelten.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Kressl?

Diana Golze (DIE LINKE): Da sie wahrscheinlich wieder keine Frage stellt,

werde ich das heute nicht zulassen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Weil Sie wieder nichtantworten können! – Gegenruf von derLINKEN: Das entscheidet wohl die Präsiden-tin, ob das eine Frage ist oder nicht!)

Gleichzeitig frage ich mich, warum Sie Ihren eigenenAnreizgesetzen so wenig Vertrauen schenken. Sollte Ihre

Elterngeldlogik aufgehen, würde es 2013 mit den ge-schaffenen Plätzen recht eng in den Kitas und Tagespfle-gestuben. Gut wäre es gewesen, wenn Sie sich nicht nurdarauf festgelegt hätten, wann dieser Rechtsanspruch fürunter Dreijährige kommt, sondern was der Rechts-anspruch umfasst: ob er für alle Kinder gilt und wielange Kinder mit diesem Rechtsanspruch in der Kita be-treut werden können. Dazu schweigt sich die Bundes-regierung einmal mehr aus.

Nun werden Sie mir vielleicht sagen, dass dies nichtin das Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens ge-höre. Aber ich sage Ihnen: Ein Rechtsanspruch machtaus unserer Sicht nur dann einen Sinn, wenn er auf dasKind bezogen festgeschrieben ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Nur dann entspricht er dem, was Sie, Frau von derLeyen, mit Ihren eindrucksvollen Rechenbeispielen voneinem Podium zum nächsten tragen, nämlich einem An-gebot, das kein Kind vor der Kita-Tür stehen lässt, daskein Kind von der Betreuung halb- oder ganztags aus-schließt, weil seine Eltern nicht in der glücklichen Situa-tion sind, einen Nachweis über die wirtschaftliche Not-wendigkeit der Betreuung vorzulegen. Das sollten Siedann auch klar und deutlich sagen, Frau Ministerin.

Wenn Erwerbstätigkeit der Eltern weiterhin der Maß-stab ist, dann wird das Gesetz in der Tat zu dem, wie Siees verfassungsmäßig begründen. Hier muss auch ichleider auf die Verfassungsmäßigkeit eingehen. DenAusbau der Kinderbetreuung und die dazu nötige An-schubfinanzierung mit Art. 104 b des Grundgesetzes zubegründen, ist mehr als fragwürdig. In Art. 104 b heißtes – ich zitiere erneut –:

Der Bund kann … den Ländern Finanzhilfen für be-sonders bedeutsame Investitionen der Länder undder Gemeinden … gewähren, die1. zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaft-lichen Gleichgewichts oder2. zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschafts-kraft im Bundesgebiet oder3. zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstumserforderlich sind.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir als Frak-tion Die Linke verwahren uns dagegen, dass Kinder aufein Instrument zur Förderung der Wirtschaftskraft redu-ziert werden.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir wollen nicht, dass der Ausbau der Kinderbetreuungzur Abwehr einer Störung des gesamtwirtlichen Gleich-gewichts herangezogen wird. Wir wollen nicht, dass erals ausgleichendes Moment für die unterschiedlichenwirtschaftlichen Entwicklungen dienen soll. Und all diesnur wegen Ihrer verkorksten Föderalismusreform!

(Beifall bei der LINKEN – Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch Blödsinn!)

Wir wollen, dass eine Kindertagesbetreuung entsteht, dievorrangig ein Ziel hat: qualitativ hochwertige früh-kindliche Förderung und Bildung für jedes Kind unab-

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hängig vom Erwerbsstatus oder der Herkunft seiner El-tern.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, hochwertigeBetreuung setzt auch einen Betreuungsschlüssel voraus,der Erzieherinnen und Erzieher in die Lage versetzt, demBildungs-, Betreuungs- und Erziehungsanspruch, der anKindertagesbetreuung heute gestellt wird, gerecht zuwerden. Auch setzt sie voraus, dass genügend Erziehe-rinnen und Erzieher da sind. Kein Wort dazu in den ver-gangenen Wochen von der Bundesregierung. Ich frageSie: Wer soll die Kinder in den vielen neuen Kitas be-treuen?

Hochwertige Betreuung setzt eine gute Ausbildungund übrigens auch eine gute Bezahlung für Erzieherin-nen und Erzieher sowie für Tagesmütter und Tagesvätervoraus.

(Beifall bei der LINKEN)

Kein Wort dazu in den vergangenen Wochen von derBundesregierung.

Wie soll die Kinderbetreuung in den kommenden Jah-ren aussehen? Welche Mindestanforderungen stellenwir? Was sind die Qualitätsstandards? Kein Wort dazu inden letzten Wochen von der Bundesregierung.

Die Länder und Kommunen werden diese Fragensicherlich stellen, spätestens dann, wenn die Kitas fertig-gestellt sind und man nach qualifiziertem Personal sucht.Denn alle politischen Kräfte fordern qualifiziertes Perso-nal. Niemand will irgendeine beliebige Betreuung. Allewollen eine qualitativ hochwertige.

Schließlich und endlich komme ich auf das politischeHintertürchen zu sprechen, das Sie der CSU gelassen ha-ben, Frau von der Leyen. Ich spreche von der Einfüh-rung des sogenannten Betreuungsgeldes. Dadurch rü-cken Sie Ihre eigene Debatte in ein fragwürdiges Licht.Durch diesen Passus der Begründung, auch wenn er mitder Formulierung „soll eingeführt werden“ versehen ist,wird die Diskussion über die Rolle der öffentlichen Kin-dertagesbetreuung weit zurückgeworfen. Mit dieser Ab-sichtserklärung werden wieder die alten Diskussionenüber Bildung und Betreuung einerseits und Förderung,Erziehung und Elternsorge andererseits eröffnet.

Ich kenne diese Diskussionen, Frau Ministerin. Sieendeten bisher nie dort, wo Sie mit Ihrem Vorstoß ei-gentlich hin wollten. Diese Debatten führen immer wie-der in die Rabenmüttersackgasse, die Sie eigentlichüberwinden wollten. Dass sich elterliche Sorge und öf-fentliche Kindertagesbetreuung ergänzen, wobei die öf-fentliche Kindertagesbetreuung die Erziehung der Kin-der fördern, sie den Eltern aber nicht abnehmen soll,davon lenkt die Debatte über das Betreuungsgeld ab. Da-durch werden diese zwei Aspekte in unzulässiger Weisegegenübergestellt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr großzügiges Zugeständnis wird sich nicht positivauf das ursprüngliche Ziel auswirken. Dadurch werdendie Unterschiede noch größer gemacht: Die einen be-kommen einen Kitaplatz, die anderen das Betreuungs-

geld. Ich hoffe immer noch auf den bereits mehrmalsdeutlich artikulierten Widerstand der SPD-Familienpoli-tikerinnen und der SPD-Familienpolitiker. Außerdemhoffe ich, dass Frau Fischbach recht hat. Sie hat im Rah-men einer Diskussionsrunde beim Deutschen Jugend-institut gesagt – da diese Veranstaltung öffentlich war,darf ich das hier wiederholen; außerdem war auch dieAusschussvorsitzende dort –: Das Betreuungsgeld wirdnicht kommen; darauf gebe ich Ihnen mein Wort. – Ichhoffe darauf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun

der Kollegin Nicolette Kressl.

Nicolette Kressl (SPD): Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie haben in Ihrer Rede

wieder eine Reihe von unzulässigen Vermischungen vor-genommen und unzulässige Behauptungen aufgestellt.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl! Richtig! Das war alles Schrott!)

Ich will nicht auf alle eingehen; aber eines muss klarge-stellt werden. Ich bitte ausdrücklich darum, dass Sienicht mehr behaupten, dass es in irgendeiner Form eineneingeschränkten Rechtsanspruch geben wird.

Wir haben klar festgelegt, dass bis zum Jahr 2013eine Aufbauphase stattfinden wird. Wir wollen, dass bisdahin für 35 Prozent der unter Dreijährigen Betreuungs-plätze zur Verfügung stehen; das haben Sie unzulässiger-weise mit dem Hinweis auf einen Rechtsanspruch ver-mischt. Danach werden alle Eltern, die das wollen bzw.darauf angewiesen sind, eine Garantie auf einen Betreu-ungsplatz für ihre unter dreijährigen Kinder bekommen;das haben wir mehrmals betont. Im Interesse der Sachebitte ich Sie, in diesem Fall den Ansatz, den heute Mor-gen auch Herr Müntefering angesprochen hat, zu verfol-gen; denn wir machen hier einen riesigen gesellschaftli-chen Schritt. Manchmal ist es sinnvoll, dass auch dieOpposition sagt: Da kann man wirklich nicht meckern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es gibt noch einen zweiten Wunsch nach einer Kurz-

intervention. Darf ich diese Kurzintervention aufrufen,bevor Sie antworten, Frau Golze? – Frau KolleginFischbach.

Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Kollegin Golze, wenn man zitiert

bzw. davon berichtet, was gesagt wurde, macht es sichimmer gut, den gesamten Zusammenhang darzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Nicolette Kressl [SPD])

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Ingrid Fischbach

Es macht sich aber nicht gut, nur eine einzige Zeile he-rauszunehmen und nicht zu erklären, worüber vorher ge-sprochen wurde.

Die Damen, die an der von Ihnen erwähntenPodiumsdiskussion teilgenommen haben, wussten schonganz genau, wie das Betreuungsgeld ausgestaltet seinwird, wie hoch es sein wird, wer es bekommen und weres nicht bekommen wird. Ich habe darauf hingewiesen,dass wir in dieser Diskussion überhaupt noch nicht soweit sind. Daher habe ich an diesem Abend gesagt: Siekönnen sicher sein, dass das so nicht kommen wird; da-rauf gebe ich Ihnen mein Wort. – Ich bitte Sie, dass Siediesen Zusammenhang darstellen.

Eine Kollegin – ich schaue jetzt zur FDP – wussteschon ganz genau, wahrscheinlich aus anderen Zusam-menhängen, wie diese Regelung ausgestaltet sein wird.Vielleicht haben einige Kolleginnen Visionen. Ich weißnicht, ob das auch für Sie gilt. Ich zumindest hatte keineVisionen. Deshalb war das, was ich in diesem Zusam-menhang gesagt habe, richtig. Ich bitte Sie, diesen Ge-samtzusammenhang zu berücksichtigen und ihn auchdarzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-ten der SPD und der Abg. Ina Lenke [FDP])

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin Golze, bitte.

Diana Golze (DIE LINKE): Zur ersten Kurzintervention. Ich habe nicht davon ge-

sprochen, dass es einen eingeschränkten Rechtsanspruchgeben wird, sondern ich habe meine Befürchtung zumAusdruck gebracht.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Wissen Sie, ich habe lange Politik im Land Brandenburggemacht. Da ist genau dasselbe passiert: Man hat sichhehre Ziele gesteckt und dann, als man festgestellt hat,dass das Geld nicht reicht, bei denen gespart, die sich amwenigsten dagegen wehren können, nämlich bei denKindern erwerbsloser Eltern. Man hat den Rechts-anspruch wieder eingeschränkt.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Befürchtung ist, dass hier genau dasselbe pas-siert: dass man sich ein hehres Ziel vornimmt – wir un-terstützen dieses Ziel ja –, aber nicht nachkommt mitdem Ausbau. Dass man nicht weit genug geht, sehen wirleider schon jetzt an der Frage, inwieweit auch wir alsBund finanzielle Verantwortung tragen. Ich befürchte,dass der Rechtsanspruch so, wie Sie ihn sich vorgenom-men haben, nicht wird kommen können. Bis 2013 wol-len Sie für 35 Prozent der Kinder Plätze schaffen. Waspassiert, wenn am 1. Januar 2014 mehr Kinder vor derTür stehen und Kinder abgewiesen werden müssen, weilnicht genügend Plätze vorhanden sind?

(Nicolette Kressl [SPD]: Es gibt einen Anspruch!)

Wie wollen Sie das dann rechtfertigen? Wie wollen Siediesen Rechtsanspruch, wie Sie es nennen, dann umset-zen? Das ist meine Befürchtung. Sie können mir dieseBefürchtung ganz einfach nehmen, indem Sie in das Ge-setz schreiben: Der Rechtsanspruch gilt für alle Kinderunabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Fischbach, dass Sie versuchen, sich zu rechtfer-tigen, kann ich verstehen. Es waren noch weitere Kolle-ginnen des Hauses anwesend. Es wäre interessant, zuerfahren, wie diese Ihren Satz aufgenommen haben, denSie – ich habe ihn mir aufgeschrieben – gegenüber demDiskussionsleiter dieser Runde, einem Journalisten derSüddeutschen Zeitung, genau so gesagt haben. Wir wa-ren alle erfreut, das zu hören, da auch die Kolleginnender SPD hoffen, dass dieses Betreuungsgeld nichtkommt. Insofern haben wir diesen Satz wohlwollend zurKenntnis genommen. Dass Sie ihn jetzt wieder etwasentschärfen, finde ich schade; es hätte Ihnen gut zu Ge-sicht gestanden, dabei zu bleiben.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort die Kollegin Krista Sager für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrte Frau von der Leyen, es ist zweifellos Ihr Verdienst,dass Sie die Modernisierungsblockaden von CDU undCSU in der Familien- und Kinderpolitik aufgebrochenhaben.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welche Blockaden, Frau Kollegin?)

Sie haben das in einem Bereich getan, in dem der ideolo-gische Drahtverhau im konservativen Lager traditionellbesonders dicht ist, nämlich bei der Betreuung der unterDreijährigen.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was ha-ben Sie während Ihrer sieben Jahre Regie-rungszeit gemacht?)

Aber wenn ich mir anschaue, wie der CSU-Vorsit-zende, Herr Huber, und der neue Ministerpräsident vonBayern, Herr Beckstein,

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Guter Mann!)

Sie beim Betreuungsgeld schon wieder traktieren, be-komme ich das Gefühl, dass Sie auf Ihren innerparteili-chen Baustellen in den nächsten Jahren noch gut zu tunhaben werden.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Machen Sie sich da mal keine Sorgen!)

Nach der Rede von Herrn Kampeter zum Betreuungs-geld muss ich sagen: Ich beneide Sie nicht um die Auf-gabe, moderne Familienpolitik mit Ihren Freunden hierdurchdeklinieren zu müssen.

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Krista Sager

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Ina Lenke [FDP]: Sie haben gar nichts ge-macht! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]:Sieben Jahre lang!)

– Stellen Sie mir eine Frage; dann antworte ich darauf.

Wer bildungsfernen Familien mit einem geringen Fa-milieneinkommen Geld dafür anbietet, dass sie ihr Kindnicht in die frühe Förderung bringen, wer ihnen diesesGeld, wenn sie sich entscheiden, ihr zweijähriges Kinddoch zur Sprachförderung in die Kita zu bringen, wiederabnimmt, der handelt verantwortungslos gegenüber denschwächsten Kindern in dieser Gesellschaft, HerrKampeter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derSPD)

Das ist verantwortungslos gegenüber den Kindern, diedie schlechtesten Startchancen haben. Da muss ich einessagen: Der Wunsch einer Partei, Eltern für einen be-stimmten Lebensentwurf eine Art Anerkennungsbonuszu zahlen, muss zurücktreten hinter der Ausrichtung vonFamilienpolitik auf die Kinder, die frühe Förderung amdringendsten nötig haben. Das haben Sie bisher offen-sichtlich nicht verstanden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP und derLINKEN)

Ich appelliere an die Frauen in der Großen Koalition:Lassen Sie sich auf diesen Kuhhandel nicht ein! Es istein Kuhhandel zulasten der Schwächsten in dieser Ge-sellschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kommen wir jetzt einmal weg vom pädagogischenAnsporn und reden wir über die Wirklichkeit. In derWirklichkeit, meine Damen und Herren, ist auch heutebei weitem nicht alles gut. Wenn das, was Sie heute be-schließen, umgesetzt wird, dann brauchen Sie sich nichtselbstzufrieden zurückzulehnen; denn es wird denRechtsanspruch erst dann geben, wenn die Kinder derEltern, die heute Elterngeld erhalten, schon längst in dieSchule gehen. Das ist die Wirklichkeit. Deshalb mussman doch sagen: Ein großer Schritt für die CDU/CSU isteben noch kein großer Schritt für die Menschheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben Ihnen einen Vorschlag dafür gemacht, wieman auf der Basis der von Rot-Grün beschlossenen Ge-setze den Ausbau jetzt so forcieren kann, dass es diesenRechtsanspruch tatsächlich schon im Jahre 2010 undnicht erst im Jahre 2013 gibt. Diese Chance sollten Siewirklich ergreifen.

Sie haben sich bisher auch ziemlich um die klare Aus-sage herumgemogelt, ob es um einen Rechtsanspruch füreinen Ganztagesplatz geht. Dass nicht alle Eltern einenGanztagesplatz nachfragen werden, ist eine Binsenwahr-heit. Haben sie aber einen Rechtsanspruch auf einenGanztagesplatz? Das ist doch die entscheidende Frage;

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Siedoch einmal zu dem Gesetzentwurf, der heuteauf der Tageordnung steht! Frau Präsidentin,sie redet nicht zur Tagesordnung! – JohannesSinghammer [CDU/CSU]: Zur Tagesord-nung!)

denn nur so kann die Mangelverwaltung in der Bundes-republik Deutschland beseitigt werden, was wir – auchbeim Zeitbudget – wirklich erreichen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die nächste Frage, die sich stellt, lautet: Was wird nuneigentlich mit den Kindern über drei Jahre? Wir wissendoch längst, dass der garantierte Halbtagesplatz vielenEltern von Kindern über drei Jahre nicht ausreicht.

(Ina Lenke [FDP]: Ja!)

Wir wissen auch, dass der tatsächliche Förderbedarffür viele Kinder bei über vier Stunden liegt. Das heißt,wir brauchen einen Rechtsanspruch auf einen Ganzta-gesplatz vom ersten Lebensjahr bis zum Eintritt in dieSchule. Davon sind wir noch weit entfernt. Frau Ministe-rin, das heißt, die Verhandlungen mit den Ländern müs-sen an diesem Punkt jetzt weitergehen. Es darf hier keineBesinnungspause aufgrund von Selbstzufriedenheit ge-ben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen jetzt, was der Bund leisten will. Wir wis-sen aber nicht, was die Länder leisten werden, und wirwissen erst recht nicht, was die Kommunen leisten kön-nen. Ohne den garantierten eigenen Finanzierungsbei-trag von Ländern und Kommunen wird es den Rechtsan-spruch noch nicht einmal im Jahre 2013 geben.

Wir haben Ihnen den Vorschlag gemacht, die5 Milliarden Euro, die durch eine Begrenzung der Höhedes Ehegattensplittings freigesetzt würden, dafür zu ver-wenden.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, jetztkommt heraus, was Sie wollen! – SteffenKampeter [CDU/CSU]: Den Familien weg-nehmen! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]:Kahlschlag bei den Familien!)

Das würde bedeuten, dass die Länder und Kommunenmehr Geld erhalten. Dann würde der Finanzierungsan-teil der Kommunen und Länder nicht so in der Lufthängen, wie dies bei Ihnen jetzt der Fall ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Kür-zungsorgie!)

Dass der Finanzierungsanteil in der Luft hängt, ist des-wegen dramatisch, weil wir hier nicht nur über einenquantitativen Ausbau reden, sondern wir reden auchüber eine viel höhere Qualität der frühen Förderung.Darauf muss sich der Blick jetzt konzentrieren.

Wir brauchen pädagogische Konzepte und umfas-sende Förderstrategien: Aufwertung der Erzieherinnen-und Erzieherausbildung, ausreichend gutes Personal,kleinere Gruppen, Stärkung der Elternkompetenz, Ver-

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Krista Sager

zahnung von Elementarbereich und Grundschule. Wirbrauchen daneben eine Senkung der Schwelle für Kinderaus armen Familien – sie müssen ein kostenloses Mittag-essen und eine kostenlose Betreuung erhalten –, damitsie tatsächlich früh gefördert werden können.

(Otto Fricke [FDP]: Dafür reichen 5 Milliar-den Euro aber nicht aus!)

Diese gewaltige qualitative Aufgabe steht vor uns.Deswegen wäre es besser gewesen, wenn der Bund beiden Betriebskosten einen höheren Anteil geleistet hätte,damit die Gegenfinanzierung auch für diese qualitativeHerausforderung gewährleistet wäre. Die Flucht vor derGegenfinanzierung und Ihre Absicht, nicht zeitgemäßeTransferleistungen nicht abzubauen und sich in das Son-dervermögen Investition hineinzuflüchten, weil man dieentsprechenden Aufgaben dann mit Schulden finanzie-ren kann, bedeutet die Kapitulation vor der riesigen qua-litativen Aufgabe, die frühe Förderung ernst zu nehmenund dieses Vorhaben wirklich in Gang zu bringen.

Frau von der Leyen, heute ist vielleicht ein Tag, andem Sie sagen: Ich lehne mich zurück; ich bin zufrieden.Ich kann Ihnen aber ganz klar sagen: Immer dann, wennman in der Politik glaubt, dass man etwas im Kasten hat,muss man einsehen, dass in Wirklichkeit noch großeAufgaben vor einem stehen.

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Machen Sie sich keine Sorgen!)

Wir werden Sie jeden Tag an diese großen Aufgaben er-innern. Darauf können Sie sich verlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir sindviel besser als sieben Jahre Rot-Grün!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Bundes-

finanzminister Peer Steinbrück das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Es ist manchmal atemberaubend, was der Öf-fentlichkeit in solchen Reden – in diesem Falle in Ihrer,Frau Sager – alles versprochen wird, ohne die Frage zubeantworten, ob sich dies einigermaßen in den Propor-tionen des finanziell Darstellbaren bewegt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben einen Finanzie-rungsvorschlag gemacht!)

– Wenn Sie einen solchen Finanzierungsvorschlag ma-chen – ich bin bei der Bewertung des Ehegattensplit-tings wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt von Ih-nen –,

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so!)

dann müssen Sie der Öffentlichkeit natürlich auch deut-lich machen, welche Grenzen dem durch die Verfas-sungsgerichtsspruchpraxis gesetzt sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das müssen Sie den Menschen schon erklären. Sie dür-fen nicht den Eindruck vermitteln, dass Sie, wenn Sie indiesem Haus nur könnten, wie Sie wollten, dies landes-und bundesweit völlig losgelöst von dem, was das Bun-desverfassungsgericht als Rahmen vorgibt, veranlassenwürden.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: 5 Milliarden Euro sind doch verfas-sungskonform!)

Ich möchte auch die Oppositionsparteien in diesem Zu-sammenhang gern zu einer gewissen Mäßigung aufru-fen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Sager?

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Bitte sehr.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, ist Ihnen bekannt, dass es Modelle von

durchaus seriösen Wissenschaftlern gibt, wonach man ausden 20 Milliarden Euro für das Ehegattensplitting durch-aus 5 Milliarden herausnehmen kann, ohne dass das diekleinen und mittleren Einkommen belastet, und dass diese5 Milliarden Euro dann nicht nur dem Bund, sondern auchden Ländern und Kommunen zufallen würden? Ist Ihnenferner bekannt, dass 5 Milliarden Euro 50 Prozent dessensind, was heute für die Krippenbetreuung in Deutschlandeingesetzt wird, und die Krippenbetreuung damit nichtnur im Hinblick auf die Quantität, sondern auch die Quali-tät vorangebracht werden könnte?

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Haben Sie etwas gegen Ehe?)

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Diese Stellungnahmen mag es geben. Unabhängig da-

von ist der Zwischenruf berechtigt, weil das Bundesver-fassungsgericht dabei auf die Institution Ehe abstellt.Aus den Recherchen und Nachfragen, die ich veranlassthabe, kann ich Ihnen berichten, dass über die Einführungeines verfassungskonformen Realsplittings allenfalls1 bis 2 Milliarden Euro zu heben sind und nicht die vonIhnen apostrophierten 5 Milliarden Euro.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nur vom Bund! – Gegenruf des Abg.Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unseriös!)

Noch einmal: Ich bitte darum, nicht völlig von be-stimmten Rahmenbedingungen abzuheben, wenn solcheZahlen und Ankündigungen hier in den Raum geworfenwerden. Damit folge ich dem heutigen Hinweis vonHerrn Müntefering, dass eine selektive Information der

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Bundesminister Peer Steinbrück

Öffentlichkeit auch eine falsche Information der Öffent-lichkeit sein kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine Damen und Herren, ich würde gerne zwei bisdrei grundsätzliche Bemerkungen machen. Ich habe beider ersten Lesung des Bundeshaushalts 2008 darauf hin-gewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland alle An-strengungen unternehmen muss, um ihren zukünftigenWohlstand zu sichern. Ich glaube, dass es drei Schlüssel-begriffe gibt, die auch in der heutigen Debatte zur Förde-rung der Kinderbetreuung eine erhebliche Rolle spielenmüssen, um dieses Wohlstandsniveau zu erhalten undauszubauen: Das ist eine bessere Bildung in Deutsch-land; dazu zähle ich insbesondere auch die frühkindlicheBetreuung. Das ist eine höhere Erwerbstätigkeit vonFrauen – insbesondere der sehr gut qualifizierten jünge-ren Generation von Frauen – vor dem Hintergrund derAlterung unserer Gesellschaft. Und es sind mehr Kinder.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Von diesen drei wichtigen Stellschrauben reden wirim Zusammenhang mit der Förderung von Betreuungs-plätzen. Noch einmal zur Verbesserung der Erwerbstä-tigkeit von Frauen: Diese ist in Deutschland im Ver-gleich zu der Entwicklung in anderen europäischenLändern unterdurchschnittlich. Das können wir uns defi-nitiv nicht leisten. Die älter werdende Gesellschaft tutsich einen Tort an, wenn sie diese Frauen, die – dieserSatz fällt mir als Mann sehr schwer – zunehmend bes-sere schulische, berufliche und akademische Abschlüssemachen als Männer, nicht in den Stand versetzt, eine ei-gene Berufsbiografie zu schreiben und gleichzeitig Kin-der in die Welt zu setzen. Dies bedeutet Wohlstandsver-luste für die Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich will da keine Missverständnisse haben. Ich meinedas als Finanzminister nicht nur im Sinne einer plattenökonomischen Sichtweise, wie mir das unterstellt wurde.Ich meine das in einem sehr weiten Sinne – auch mitBlick auf die Gleichverteilung der Entwicklungsmög-lichkeiten von Männern und Frauen, aber auch mit Blickdarauf, wie es mit dem Wohlstand und der Wohlfahrt inder Bundesrepublik Deutschland weitergeht.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben diesbezüglich gegenüber anderen europäi-schen Ländern einen Nachteil. Erkennbar bieten wir un-seren Kindern nicht annähernd gleiche Bildungschan-cen, wie sie in anderen europäischen Ländern gebotenwerden. Das zeigen – nicht zu unserem Stolz; im Gegen-teil: Da wird eine große Portion Selbstkritik fällig – lei-der alle Studien auf. Auch mit Blick auf die von mirmehrfach erwähnte Erwerbstätigkeit von Frauen hinkenwir deutlich hinterher. Es ist Zeit, dass wir an die Ver-hältnisse anknüpfen, die es in Schweden, in Finnland, inGroßbritannien, in Frankreich und in den Niederlandenlängst gibt.

Das, was wir auf den Weg bringen, ist übrigens nichtneu erfunden worden. Ich darf mit einem gewissen Stolzhinzufügen, dass die Vorgängerregierung – eine rot-grüne Bundesregierung – diesen Weg bereits eröffnethat, was bei einer solchen Gelegenheit nicht verschwie-gen werden sollte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dies gilt gerade auch aus der Sicht des Bundes, obwohl– an der Bemerkung ist mir gelegen mit Blick auf dieewigen Forderungen, die Sie immer an die Adresse desBundes stellen – diese Förderung der Betreuungsinfra-struktur zunächst jedenfalls laut Grundgesetz nicht ge-rade eine prädestinierte bzw. vorgeprägte Aufgabe desBundes ist.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch nicht gesagt!)

Deshalb finde ich auch, dass Sie die Länder und Kom-munen etwas stärker in die Pflicht nehmen dürfen, zumalderzeit die Finanzausstattung und Finanzentwicklungder Länder und Kommunen deutlich besser ist als diedes Bundes.

(Ina Lenke [FDP]: Na ja!)

– Aber selbstredend. Beide Gruppen von Gebietskörper-schaften werden in diesem Jahr einen positiven Finan-zierungssaldo aufweisen. Der einzige Depp, der dasnicht macht, bin ich für den Bund.

(Ina Lenke [FDP]: Sie müssen Ihre Schulden abbezahlen!)

Die Länder werden in diesem Jahr einen positivenFinanzierungssaldo von 5 Milliarden bis 6 MilliardenEuro erzielen. Sicherlich ist der Hinweis erlaubt, dasssie – jedenfalls in diesem Zusammenhang – erkennbargrößere Spielräume haben als der Bund.

Wenn der Bund bzw. ein sonst garstiger Finanzminis-ter – Ärmelschoner, Ratzefummel und Bleistift in derHand, nur um zu streichen –

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir sind Schlimmeres gewohnt!)

trotzdem entscheidet, dafür Geld auszugeben, dann ge-schieht das aus den übergeordneten wichtigen Gründen,die ich zu Anfang meiner Ausführungen erwähnt habe.Dazu habe ich von Anfang an gestanden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen zu den familienpolitischen Erfolgen unse-rer europäischen Nachbarländer aufschließen. Wir bietenmit dem, was wir jetzt in Gang setzen, eine zielgenauereUnterstützung und verschaffen einer längst überfälligenWahlfreiheit der Eltern endlich Spielraum. Dies sageich gerade mit Blick auf Kinder von Eltern oder aus Fami-lien – wenn es überhaupt Familienstrukturen gibt –, diegarantiert nicht zu den Privilegierten unserer Republik ge-hören.

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Bundesminister Peer Steinbrück

Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich auf meinenEhrenamtstouren in meiner damaligen Funktion in Nord-rhein-Westfalen zu häufig die Erfahrung gemacht habe,dass wir es zunehmend mit Kindern zu tun haben, dieaus völlig zerrütteten, kaum noch vorhandenen Fami-lienverhältnissen kommen, keine Regelmäßigkeit ken-nen, nicht mit Messer und Gabel essen können, keineBücher kennen, denen nicht vorgelesen wird, denenkeine Regelmäßigkeit vermittelt wird und die in diesemZustand die vorprogrammierten Verlierer unserer Gesell-schaft und damit auch die prädestinierten Transferemp-fänger in einigen Jahrzehnten – das heißt zulasten derSteuer- und Abgabenzahler – sind. Deshalb ist die Schaf-fung einer Betreuungsinfrastruktur gerade für diese Kin-der von entscheidender Bedeutung.

Ich habe zu häufig die Erfahrung gemacht, was es fürdiese Kinder und übrigens auch für ihr Sozialverhaltenpositiv bewirkt, endlich einmal in Gruppen integriert zuwerden und dadurch möglichst auch Zugang zu Bildungbis hin zu Deutschkenntnissen zu erhalten und über diegleichen Möglichkeiten wie andere Kinder zu verfügen,wenn sie eingeschult werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei dieser Gelegenheit kann man zwar die Einfüh-rung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung bishin zum ersten Schuljahr fordern, Frau Sager – ich willdas gar nicht kritikasterhaft bewerten; das ist als Opposi-tionspolitikerin leicht gesagt –, aber erklären Sie mirauch, wie wir das machen sollen, wenn man an andererStelle verzichten muss, um so ein Vorhaben zu finanzie-ren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Darüber müssen wir reden, aber nicht über dasArbeitslosengeld I!)

Wir führen einen Rechtsanspruch für das Jahr 2013ein. Dies hat eine völlig neue Qualität. Nicht zuletzt überdie Verankerung dieses Rechtsanspruchs, der dann abdem Kindergarten- bzw. Betreuungsjahr August 2013folgende gilt, ist auch eine wichtige Korsettstange einge-zogen worden, damit das Geld an der richtigen Stelle an-kommt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das antworte ich auch den Vertretern der FDP. Denn dieLänder und die Kommunen werden eines Tages nach-weisen müssen, dass sie diesen Rechtsanspruch erfüllthaben. Für den Fall, dass sie vielleicht Geld zweckent-fremdet ausgegeben haben – im Übrigen sind die Aus-führungen von Herrn Kampeter völlig zutreffend –, istmit der Verwaltungsvereinbarung, die wir mit den Län-dern abgeschlossen haben – übrigens mit einer sehr de-taillierten Erfolgskontrolle –, eine weitere Korsettstangeals Garant eingezogen worden.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Anders als in den Fällen, die wir gemeinsam bekle-ben.

(Heiterkeit)

– Ich meine: beklagen. Auf das Kleben komme ich nochzu sprechen. Ich denke an das Bild von den klebrigenHänden; wir stehen gemeinsam unter dem Eindruck,dass zum Beispiel die Regionalisierungsmittel bei derFörderung der Schienenpersonennahverkehre nicht im-mer wie vorgesehen angekommen sind oder zu kompen-satorischen Ausweichmanövern der Länder geführt ha-ben.

(Ina Lenke [FDP]: Deshalb wollten wir das auch anders! Sie haben es so gemacht!)

Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass es bei denKosten der Unterkunft auch so ähnlich laufen könnte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke[FDP])

Ich möchte auch noch einen dritten Bereich erwäh-nen, der dieses Thema unmittelbar betrifft. Dabei geht esum die 1,5 Milliarden Euro, die der Bund in der Folgeeines Ergebnisses des Vermittlungsausschusses vor eini-gen Jahren im Zusammenhang mit Hartz IV eigentlichden Kommunen zum Einstieg in die Betreuung der unter3-Jährigen zugewiesen hat und von denen wir bis zumheutigen Tag nicht so genau wissen, was die Kommunendamit gemacht haben.

(Beifall bei der SPD)Um auf die Praxis zu sprechen zu kommen – darf ich

Ihre Fragestellung, bezogen auf das Sondervermögen,schon vorwegnehmen, Herr Fricke? –: Sie sagen, das seiein bisschen „Tricky Dicky“ oder „fickelinsch“. Ichlasse mich nicht lange bitten und gebe zu: Wir gründendieses Sondervermögen, weil wir in diesem Jahr Liqui-ditätsgewinne haben. Ich sage der Öffentlichkeit ganzklar: Mit den Mehreinnahmen, die wir haben, gründenwir dieses Sondervermögen. Das ist übrigens kein No-vum; denn schon in der Vergangenheit haben wir gele-gentlich Sondervermögen eingerichtet. Es gibt auch einaktuelles Sondervermögen zur Tilgung der Schulden zurIntegration der neuen Bundesländer. Vor diesem Hinter-grund halte ich den ewigen, inflationär geworfenenBannstrahl der Verfassungswidrigkeit für ermüdend.Warum soll dies verfassungswidrig sein?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fricke?

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Bitte sehr.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Fricke, bitte.

Otto Fricke (FDP): Sehr geehrter Herr Minister, nachdem Sie die wahren

Gründe genannt haben, warum Sie finanziell so vorge-hen – ich habe eigentlich nichts zur Verfassungsmäßig-keit gesagt –,

(Nicolette Kressl [SPD]: Das hat er schon immer gesagt!)

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Otto Fricke

möchte ich versuchen, dort anzusetzen, wo der KollegeKampeter mir deutlich ausgewichen ist. Sie haben er-klärt: Wir wollen nicht, dass das kommt, und deswegenprüfen wir das genau. Die Länder müssen alles vorlegenund zeigen, wofür sie die Gelder verwendet haben. – Ichversuche, es präzise auf den Punkt zu bringen, HerrMinister: Wenn Länder und Kommunen es ausweislicheiner Nachprüfung nicht richtig gemacht haben, habenSie dann ein Druckmittel? Bisher haben die Länder Gel-der wiederholt falsch verwendet; das haben wir festge-stellt. Aber können Sie Länder und Kommunen zwingen,das Geld zurückzuzahlen, wenn sie das Geld falsch ver-wenden, wenn das Geld also nicht bei den Kindern undFamilien ankommt, die es brauchen, oder bleibt das Geldletztlich nicht doch dort? Ist das nicht weiterhin dieFolge? Ich sehe jedenfalls keine Rückzahlungsverpflich-tung.

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Um so offen und wahrhaftig zu antworten, wie Sie

mich kennen, Herr Fricke: Das einmal den Bundeslän-dern gegebene Geld wird man nicht wiederbekommen.Aber da wir auf dem Geldsack sitzen, wenn es um dieeinschlägige Förderung von Investitionsmaßnahmen,auch beim Umsatzsteuerpauschalbetrag für die Be-triebsausgaben, geht, werden wir pro futuro diesen Geld-strom kontrollieren und feststellen, welche Bundeslän-der sich vorbildlich verhalten.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Zum erstenMal! – Nicolette Kressl [SPD]: Rechtsan-spruch!)

Derjenige, der auf diesem Geldsack sitzt, bin bekannt-lich ich.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Bei der Einrichtung des infrage stehenden Sonderver-mögens sehe ich keine Schwierigkeiten. Bislang ging inIhren Ausführungen unter, meine Damen und Herrenvon der Opposition, dass es für den Bund sehr schwierigist, das zu tun – Sie haben das sogar noch als mehr not-wendig angemahnt, Frau Sager –, nämlich Betriebsaus-gaben auf der Ebene der Kommunen zu finanzieren.Wie Sie wissen, sind die Kommunen verfassungsrecht-lich gesehen nicht Bestandteil des Bundes, sondern derBundesländer. Daher gibt es keine direkten Finanzbezie-hungen zwischen Bund und Kommunen. Wir haben abereinen Weg gefunden. Wir ermöglichen über die Bundes-länder eine Förderung der Betriebsausgaben, die bei denKommunen ankommt. Der einzig verfassungskonformeWeg ist hierbei die Lösung, die die Koalitionsfraktionengefunden haben, nämlich einen Pauschalbetrag bei derUmsatzsteuer.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)

Kein Umsatzsteuerpunkt! Ich wäre ja mit dem Klammer-beutel gepudert, wenn ich das täte; denn hier wäre einedynamische Entwicklung absehbar. Ich bin gerne hilf-reich, aber nicht blöd.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gerne hilfreich!)

Wir sehen daher einen Pauschalbetrag vor, der allerdingseinem entsprechenden Erfolgskontrollprozess ausgesetztsein muss, damit die Betriebsausgabenförderung bei denBundesländern so ankommt, wie wir es uns vorstellen.

Dies ist ein weiterer sehr wichtiger Schritt zur Ver-wirklichung einer modernen Familienpolitik. Mein Bei-trag im Rahmen einer gestaltenden Finanzpolitik bestandimmer darin, dafür Sorge zu tragen, dass wir in der Fa-milienpolitik etwas im Bereich der frühkindlichen Be-treuung in Gang setzen, was in der mittleren Sicht richtigist, um vorprogrammierte Transferzahlungen zu mini-mieren. Wenn wir am Anfang dieses Prozesses in derLage sind, Menschen einen gerechten Zugang zu Bil-dungseinrichtungen zu ermöglichen, Kinder mit ausrei-chenden Deutschkenntnissen in die Schulen zu schicken,die Zahl der Schulabbrecher zu verringern, den Jugendli-chen Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl zur Verfü-gung zu stellen und sie weiterzuqualifizieren, dann ent-spricht das meinem Verständnis einer vorsorgendenSozialpolitik, damit man hinterher nicht sehr viel teureretwas reparieren muss, was sich durch Investitionen amAnfang dieses Entwicklungsprozesses sehr viel günsti-ger und für die Menschen in ihrer eigenverantwortlichenLebensgestaltung sehr viel besser machen lässt. Ichfreue mich, dass wir auf dieser Wegstrecke so gut voran-gekommen sind.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Ina Lenke für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Ina Lenke (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

von der Leyen, Sie haben es gegen den Widerstand vonParteifreunden in der CDU und CSU geschafft, dass derBund Geld für die Kinderbetreuung bereitstellt. HerrSteinbrück, ich kann mich noch sehr genau an den An-fang dieser Diskussion erinnern. Sie waren es, der Wi-derstand gegen diese Bundesfinanzierung geleistet hat.

Nun zum Finanzierungsvorschlag im Antrag derFDP-Bundestagsfraktion. Sie wissen, dass wir den Fi-nanzierungsbedarf durch die Erhöhung des Anteils derGemeinden an der Umsatzsteuer nach Vorwegabzug desBundesanteils decken wollten. Das war verfassungskon-form, was bei Ihrem Konzept zumindest nicht so klar ist.

(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Keinerlei Erfolgskontrolle!)

Sicher ist, dass der Staat allein mit staatlicher Kinder-betreuung die Nachfrage nach mehr Plätzen für unterDreijährige nicht zügig decken kann. Bisher haben Ver-käuferinnen, Kellnerinnen und Krankenschwestern, alsoFrauen mit unregelmäßigen Arbeitszeiten, zum Beispielauch an Wochenenden, keine Chance, ihre Erwerbstätig-

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Ina Lenke

keit und die Kinderbetreuung in staatlichen Einrichtun-gen zu organisieren.

(Caren Marks [SPD]: Das stimmt nicht!)

Dieses Defizit gleichen jetzt schon private Anbieteraus. Viele haben lange Wartelisten. Die FDP will durchdie Einbeziehung privater Anbieter ein breiteres Ange-bot schaffen. Nur privat-gewerbliche Anbieter werdenbisher vom Konzept der Bundesregierung ausgenom-men. Zum Beispiel gibt die Familienministerin Betrie-ben über EU-Mittel 10 000 Euro pro neu geschaffenenKrippenplatz. Warum nicht auch für Existenzgründerin-nen?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die FDP fordert die Gleichbehandlung aller Anbieterund ein Ende der Ausgrenzung der von Eltern starknachgefragten privat-gewerblichen Anbieterinnen bzw.Anbieter. Wir sind uns doch einig – besonders wirFrauen- und Familienpolitikerinnen –, dass wir geradeFrauen den Weg in die Selbstständigkeit ebnen wollen.Dann bitte aber auch mit diesem Ausbildungsprofil. Ichhabe manchmal den Eindruck, auch in den Sitzungen desFamilienausschusses, dass Sie den Privaten in dieserHinsicht misstrauen und nur dem Staat vertrauen, unddas ist falsch.

(Beifall bei der FDP)

Der Bericht der Bundesregierung über die Betreuungs-angebote für unter Dreijährige in Deutschland beweist,dass das bisher keine Erfolgsstory ist. Deutschland, bes-ser: Westdeutschland – Frau Golze, da gebe ich Ihnenrecht –, hinkt hinterher. Die Zeit drängt, die Gemeindenstehen in den Startlöchern. Die FDP fordert die Bundes-regierung und die Bundesländer auf, die Finanzströmevon Bund und Ländern so zu bündeln, dass die Gemein-den passgenaue Angebote für Familien machen können.Aufgrund der Alterung unserer Gesellschaft stehenStädte und Gemeinden schon heute im Wettbewerb umjunge Familien. Eine Gemeinde ist nur attraktiv, wennauch das Angebot an Kinderbetreuung stimmt. Familien-freundlichkeit ist kein Almosen, sondern ein wichtigerStandortvorteil. Der Mangel an Betreuungsmöglichkei-ten ist ein Problem des Westens, und deshalb werden dieAngebote auch angenommen. Ich hoffe, dass wir unsereKinderbetreuung so verbessern, dass sie das Niveau derBetreuung in den neuen Bundesländern erreicht.

Ich komme zum Schluss. Die FDP fordert die Bun-desregierung auf, erstens mit den Ländern zu vereinba-ren, dass auch privat-gewerbliche Anbieter bei denFinanzhilfen einbezogen werden,

(Caren Marks [SPD]: Warum das?)

zweitens mit der Einführung von Bildungs- und Betreu-ungsgutscheinen jedem Kind die staatliche Subventionals Budget in die jeweilige Einrichtung, die die Elternwollen, mitzugeben und drittens eine Offensive für einenoch bessere Ausbildung und für mehr Fachkräfte, Er-zieherinnen und Tageseltern zu starten. Bis 2013 werdenzusätzlich 46 000 Tagesmütter und 66 000 Personen inKitas für die Betreuung der unter Dreijährigen benötigt.

Die Bundesagentur für Arbeit ist in diese Kampagne ein-zubeziehen.

Alles, was wir hier machen – darin sind wir uns sichereinig –, dient dem Ziel, allen Kindern Bildung und Be-treuung zukommen zu lassen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministe-

rin Frau Dr. Ursula von der Leyen das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-handeln heute im Parlament ein Thema mit einem sehrtrockenen Titel: Sondervermögen „Kinderbetreuungs-ausbau“. Ich finde, es ist ganz spannend, welch ein le-bendiger Vorgang sich dahinter verbirgt. Ein Vorgang– das zeigt die Diskussion hier in diesem Parlament –,der beweist, dass die Große Koalition tatsächlich zu gro-ßen Schritten in der Lage ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wer hätte im Januar dieses Jahres gedacht, dass wirneun Monate später fraktionsübergreifend und über alledrei Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – nichtmehr diskutieren, ob wir all das brauchen, sondern heftigdarüber debattieren, wie wir es gut machen, wie wir Kin-derbetreuung qualitativ hochwertig gestalten? Das ist einrichtig großer Erfolg für diese Große Koalition in der ge-sellschaftspolitischen Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Neun Monate sind ein klugerZeitraum!)

Ich glaube, das ist auch für die Menschen etwas, woPolitik plötzlich ganz pragmatisch und spürbar gestal-tend wird, und gerade das wird eigentlich von der Politikgewünscht und gefordert. Wir schaffen gemeinsame An-gebote.

Frau Golze, wenn Sie bemängeln, dass der Bericht,der heute zur Diskussion steht, mit den Zahlen vom15. März 2006 besagt, der Kinderbetreuungsausbau fürunter Dreijährige komme zu langsam voran, kann ichnur sagen: Ja! Deshalb tun wir jetzt diese großen Schritte– mehr und schneller –, damit die jungen Menschen spü-ren: Es ist uns nicht gleichgültig, wenn sie sich für Kin-der entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich möchte noch mal deutlich sagen: Hier zeigt sicheine Politik, die nicht nur wohlwollend nickt oder Sonn-tagsreden schwingt, sondern die handelt, die dort unter-stützt, wo der Staat gezielt helfen kann, wo er seine Auf-gabe und seine Verantwortung wahrnimmt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen

Meine Damen und Herren, die jungen Familien wer-den durch eine gute und flexible Kinderbetreuung mehrMöglichkeiten haben. Sicherlich macht der Ausbau derKinderbetreuung vieles leichter, aber mit Sicherheitnicht alles. Er kann manche Hürde bei dem schwierigenSpagat zwischen Kindererziehung und Arbeitswelt ab-bauen. Aber die Hauptlast bleibt bei den Eltern – und na-türlich auch die meiste Freude und die große Verantwor-tung für den Alltag mit Kindern. Ich nehme nur einigeBeispiele: fiebernde Kinder, durchwachte Nächte, Trotz-phasen, Platzwunden, Eifersucht zwischen Geschwis-tern. Das ist der Alltag von Menschen, die sich für Kin-der entscheiden, von allen Eltern, weit über das dritteLebensjahr hinaus.

All das bewältigen sie einmal besser und einmalschwächer, aber völlig unabhängig davon – das ist mirwichtig –, welches Etikett eines Familienmodells wir ih-nen in der öffentlichen Diskussion aufkleben. Ich seheunsere Aufgabe in der Politik nicht darin, Familien inModelle einzuteilen. Ich sehe die erste und vornehmsteAufgabe von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft darin, zufragen, in welchen Lebenssituationen Familien es beson-ders schwer haben, nur weil sie Kinder erziehen. In sol-chen Situationen muss der Staat ihnen gezielt helfen,darf sich nicht vor der Verantwortung drücken und mussals Staat konsequent handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])

Aus den Diskussionen der vergangenen Wochen undMonate, als es darum ging, die Strukturen der Kinderbe-treuung – das möchte ich noch einmal betonen – auf eineuropäisches Durchschnittsniveau anzuheben, machtmich doch zunehmend der Aspekt nachdenklich, warumsich parallel dazu bei einigen Menschen das Gefühl ent-wickeln konnte, sie würden benachteiligt. Das ist mit Si-cherheit nicht so. Ich habe bewusst und beharrlich dafürgekämpft, dass der Ausbau der Kinderbetreuung ebennicht zulasten des Ehegattensplittings, nicht durch eineKürzung des Kindergelds, aber auch nicht durch Ver-schuldung finanziert wird.

(Nicolette Kressl [SPD]: Eine Kürzung war nie im Gespräch!)

Denn das wäre eine Finanzierung für Familien zulastenanderer Familien gewesen und nicht etwa eine Leistungder gesamten Gesellschaft. Das konnte ich nicht akzep-tieren.

Es ist uns nun gelungen, eine echte politische Prioritätfür Familien insgesamt zu setzen, weil in Familien neuund mehr investiert wird. Dafür geht vor allem mein ho-her Dank an Sie, Herr Bundesfinanzminister, und an dieFamilienpolitikerinnen und -politiker sowie die Haus-haltspolitikerinnen und -politiker. Das war wirklich eineheroische gemeinsame Aufgabe, die wir zusammen ge-stemmt haben. Keine Familie verliert dadurch. Sehrviele Familien gewinnen dadurch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Ich frage noch einmal: Woher kommt das Gefühl,dass durch den Ausbau der Kinderbetreuung die Erzie-hung von Kindern zu Hause nicht genügend gewürdigtwird? Ich denke, dass sich hier inzwischen ein schonlange bestehendes Gefühl offenbart, dass Erziehung inden vergangenen Jahren von dieser Gesellschaft insge-samt zu wenig gewürdigt wurde,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

dass Erziehung dieser Gesellschaft kein wirklich vorran-giges und gemeinsam getragenes Anliegen ist.

Ich will es noch einmal unmissverständlich sagen:Das Elternhaus ist unersetzlich. Die Erziehung von Kin-dern vom ersten Tag an und weit über das dritte Lebens-jahr hinaus durch Mutter und Vater

(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])

ist einzigartig, kostbar, und sie ist das Wichtigste, waseine Gesellschaft schützen muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Denn primär daraus erwächst in einer Gesellschaft dieBereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmenund sich für sie einzusetzen – sei es durch die Erfahrung,die Eltern machen, indem sie Kinder erziehen, sei esaber auch durch die kindliche Erfahrung, geliebt zu wer-den und geborgen zu sein.

Warum also hat Erziehung keinen höheren Stellen-wert in unserer Gesellschaft? Warum haben wir Kinder-erziehung so lange allein den Frauen zur Aufgabe ge-macht? Wo ist das lebendige, aktive, begeisterndeVaterbild? Wo sind die männlichen Erzieher in Kinder-gärten und die männlichen Grundschullehrer?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derFDP – Nicolette Kressl [SPD], zur CDU/CSUgewandt: Ihr müsst klatschen! – Ute Kumpf[SPD]: Das war die CDU! 16 Jahren lang! –Caren Marks [SPD], zur CDU/CSU gewandt:Da sitzen sie!)

Erziehung zu Hause geht Mutter und Vater gleicherma-ßen an.

Aber auch Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssenihre Verantwortung wahrnehmen; denn nur dann habenEltern auch eine Chance auf gelingende Erziehungs-arbeit. Sie wissen, dass wir dafür gezielte finanzielle Hil-fen, eine kinderbewusste Arbeitswelt und eine hochwer-tige Infrastruktur brauchen.

Nachdem ich eingangs all diese Fragen gestellt habe,möchte ich sagen: Ich habe mich darüber gefreut, dasswir diese Debatte in den letzten Monaten gemeinsam sokonstruktiv geführt haben. Es ist zum Schluss etwas Gu-tes herausgekommen.

Aber jetzt stehen wir am Anfang der nächsten De-batte. Jetzt haben wir, Bund, Länder und Kommunen,gemeinsam die Chance, nicht nur die Kinderbetreuungauszubauen, sondern auch auf gute Qualität zu achten,über die besten Konzepte zu debattieren:

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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP sowie der Abg. Krista Sager[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wie gestaltet man eine enge Zusammenarbeit zwischenden Tagesmüttern, den Krippen, den Kitas und den El-ternhäusern? Wie schaffen wir nachhaltige Bildungskon-zepte für die ersten zehn Lebensjahre eines Kindes? Jejünger ein Kind ist, desto besser muss die Qualität derErziehung sein. Wir müssen für die Erzieherinnen undErzieher, für die Tagesmütter Chancen auf mehr Fort-und Weiterbildung schaffen.

In den ersten Lebensjahren eines kleinen Kindes be-ginnt auch der Kampf gegen Armut; denn Armut gründetzuallererst auf Bildungsarmut. Der Kampf gegen Bil-dungsarmut beginnt aber damit, dass Kinder spielendmiteinander lernen können. Wir alle wissen: Bildung istder Schlüssel zur Welt.

Lassen Sie uns den heutigen Tag feiern. Wir habenGrund, zu feiern, weil das, was geschaffen worden ist,gut ist. Ich danke noch einmal allen Beteiligten. Es wärenicht gegangen, wenn nicht alle Beteiligten so eng zu-sammengestanden und auch wirklich große neue Schrittegewagt hätten.

Wir sind jetzt am Anfang der Bewältigung der nächs-ten großen Aufgabe; ich meine das große Thema „Quali-tätsoffensive beim Ausbau der Kinderbetreuung“.

(Ute Kumpf [SPD]: Reden Sie mal mit Ihren CDU-Länderchefs!)

Wir, der Bund, möchten die Länder und die Kommunenbei dieser Diskussion gern begleiten. Wir möchten dieQualität in der Kindertagesbetreuung verbessern. Wirwollen die frühkindliche Bildung und Förderung in denKindertageseinrichtungen mit einer Qualitätsoffensivevoranbringen. Wir alle wissen, dass viele Erzieherinnenund Erzieher gute Arbeit leisten, aber keine oder kaumErfahrungen mit der Betreuung von Kindern unter dreiJahren und mit der engen Zusammenarbeit mit den El-tern dieser Kinder haben. Das ist Neuland.

(Ute Kumpf [SPD]: Dafür gibt es schon viele Beispiele!)

Wir können da viel von unseren Nachbarn, den Franzo-sen, den Schweden, den Dänen, den Engländern oderden Holländern, lernen.

Hierbei werden wir seitens des Bundes unterstützen,gute Praxis auswerten und gemeinsam mit Trägern,Kommunen und Ländern Umsetzungswege erproben.Ich möchte alle, die mitgeholfen haben, diesen erstenSchritt möglich zu machen, einladen, gemeinsam zu dis-kutieren, und zwar so konstruktiv, wie wir das in denletzten Monaten gemacht haben. Wenn die Qualität derKinderbetreuung stimmt, dann werden wir mit dem Aus-bau wirklich Erfolg haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Anna

Lührmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Als Mitglied des Haushaltsausschusses willich mich jetzt auf die Finanzierung Ihres Konzeptes zurKinderbetreuung, die etwas unsolide ist, konzentrieren.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hat Herr Fricke schon versucht!)

Sie wollen dieses Jahr 2,15 Milliarden Euro in einemSondervermögen parken und dieses Geld dann in dennächsten fünf Jahren schrittweise für Kinderbetreuungausgeben. Um diesen optischen Haushaltstrick für Sie,liebe Bürgerinnen und Bürger, verständlich zu machen,will ich das noch einmal in Ruhe erklären.

(Christel Humme [SPD]: Nachhilfeunterricht!)

– Vielleicht brauchen Sie ja die Nachhilfe auch noch,Frau Kollegin.

(Caren Marks [SPD]: Ein bisschen frech!)

Normalerweise gibt eine Regierung – so steht es imGesetz – erst in dem Jahr Geld aus, in dem es benötigtwird. Sie soll keine Schattenhaushalte bilden, indem siein einem Jahr etwas zur Seite legt und dann schrittweise,Jahr für Jahr, wieder ausgibt. Das dient der Transparenz,damit Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, jedes Jahr er-kennen können, wie viele Schulden eine Regierung auf-nimmt und wie es um die Staatsfinanzen bestellt ist.

Die Koalition legt dieses Sondervermögen an, umsich dieses Jahr künstlich arm zu rechnen. Wenn Sie dennormalen, vom Gesetz vorgegebenen Weg gehen wür-den, wäre es möglich, schon in diesem Jahr deutlich we-niger Schulden zu machen. Dann hätte die Koalitionaber ein Problem.

Nach Ihrem Plan sollen im nächsten Jahr immer noch11,9 Milliarden Euro Schulden gemacht werden. OhneSondervermögen würden Sie im nächsten Jahr die Ver-schuldung erhöhen. Das sähe ganz schlecht aus und gäbeganz schlechte Schlagzeilen. Nur weil Sie eine gutePresse haben wollen, Herr Steinbrück, verpassen Sie dieChance, schon dieses Jahr ganz konkret 2,15 MilliardenEuro weniger Schulden zu machen. Auch wenn diesesJahr die Steuereinnahmen sprudeln, werden Sie über12 Milliarden Euro Schulden aufnehmen. Sie selbst sa-gen immer wieder, der Bund habe eine strukturelle De-ckungslücke im Haushalt. Jetzt wollen Sie die Ländermit einer Pauschale am Umsatzsteueraufkommen betei-ligen – das mag noch ganz intelligent sein –, erhöhen da-durch aber diese strukturelle Lücke im Bundeshaushalt.

(Nicolette Kressl [SPD]: Und was hat die Frau Sager vorhin gesagt?)

Das heißt, der Trick, den Sie hier machen, dient viel-leicht den Umfragewerten der Koalition und der OptikIhres Haushalts, geht aber zulasten der Kinder, die dieseSchulden irgendwann einmal wieder zurückzahlen müs-sen. Sie geben den Kindern zwar einen Betreuungsplatz,

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Anna Lührmann

aber Sie geben ihnen auch die Schulden gleich mit insGepäck.

(Caren Marks [SPD]: Ich glaube, das sehen die Kinder von morgen anders!)

Das hat mit solider Haushaltspolitik wirklich nichts zutun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir Grüne haben hingegen ein Konzept vorgelegt,mit dem der notwendige Ausbau der Kinderbetreuungwirklich nachhaltig finanziert werden könnte. Darüberhaben Sie sich gerade schon mit Frau Sager unterhalten.Wir wollen in einem ersten Schritt das Ehegattensplit-ting in eine Individualbesteuerung mit übertragbaremHöchstbetrag umwandeln. Das wäre auch verfassungs-fest. Sie, Herr Steinbrück, haben eben gesagt, dass selbstbei einem Realsplitting 1 bis 2 Milliarden Euro mehr he-reinkommen würden, und haben im gleichen Atemzugeine selektive Informationsweitergabe durch Frau Sagergerügt. Sie selbst haben aber verschwiegen, dass sichIhre Zahl „bis zu 2 Milliarden Euro“ nur auf den Bundbezieht.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! Das ist falsch!)

Die Mehreinnahmen durch eine Umstellung auf dasRealsplitting würden auch bei den Ländern und bei denKommunen anfallen. Das heißt, wir hätten selbst nachdem von Ihnen als verfassungsfest bezeichneten Modellgesamtstaatlich – darauf kommt es an – Mehreinnahmenvon mindestens 4 Milliarden Euro. Das gehört dazu,wenn man hier alle Informationen weitergeben will.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In einem zweiten Schritt sieht unser Konzept vor,dass der Bund eine Kinderbetreuungskarte schafft, diedafür sorgt, dass die Leistungen direkt an die Eltern ge-hen und nicht den Umweg über die klebrigen Hände derLänder nehmen. Das funktioniert auch, und zwar mit ei-nem Geldleistungsgesetz; diese Frage haben wir prüfenlassen. Sie stellen sich hier immer hin und tun so, als seidie Weitergabe von Geld über Umsatzsteueranteile dereinzig gangbare Weg. Das stimmt aber nicht. Man kanndas auch über ein Geldleistungsgesetz machen. Dasfunktioniert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Nach unserem Konzept würde wirklich jedes Kindunter drei Jahren einen Betreuungsplatz bekommen,wenn die Eltern es wollen – ohne zusätzliche Schulden-aufnahme. Das ist nachhaltige Haushaltspolitik. Das istder richtige Weg für den Ausbau der Kinderbetreuung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP – Ute Kumpf[SPD]: Bei den Bildungsgutscheinen hat esauch nicht funktioniert! Ohne Angebot funk-tioniert es nicht!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort die Kollegin Caren Marks für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Caren Marks (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! ErlaubenSie mir, Herr Kampeter – er ist, wie ich glaube, geradenicht da –, vorab einen kleinen Hinweis.

(Zurufe von der CDU/CSU: Doch! Bei der Re-gierungsbank! – Christel Humme [SPD]: Aufder Regierungsbank! Das ist ja erstaunlich!)

– Dahinten ist er.

(Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU] begibt sich zurück zu seinem Platz)

– Sie können ja auch im Laufen zuhören.

(Nicolette Kressl [SPD]: Da bin ich mir nicht so sicher!)

Herr Kampeter, Kinder, die eine Kita besuchen, werdenebenfalls von ihren Eltern erzogen, nicht selten verant-wortungsvoller als andere.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So habe ichdas auch nicht gemeint!)

– Aber gesagt.

(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, moderne Fa-milienpolitik ist ein komplexes Gebäude. An diesem Ge-bäude muss kontinuierlich weitergearbeitet werden. Dietragenden Pfeiler dieses Gebäudes sind Infrastruktur,Zeit und Geld für Familien. Mit dem Gesetz zur Errich-tung eines Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“setzen wir in der Großen Koalition neue Bausteine, umdas Gebäude nach den heutigen Bedürfnissen von Fami-lien weiter zu modernisieren: ein konsequenter Schrittnach dem TAG und dem Elterngeldgesetz. Als Bauleiterlässt der Bund die Bauherren – das sind in diesem Falledie Länder und Kommunen – nicht im Regen stehen.

Als Familienpolitikerin möchte ich mich an dieserStelle ausdrücklich bei unserem Finanzminister PeerSteinbrück bedanken. Dank seines sehr guten Vorschla-ges ist die Finanzierung der Modernisierungskosten so-lide gewährleistet. Erst durch diesen Finanzierungsvor-schlag haben sich Bund und Länder nach monatelangemHin und Her auf einen deutlichen Ausbau der Betreu-ungsplätze für unter Dreijährige geeinigt.

Mit der Bereitstellung des Sondervermögens ermög-licht der Bund die Finanzierung der notwendigen Inves-titionen im gesamten Bundesgebiet. Wir schaffen mitdieser Unterstützung Vertrauen und Planungssicherheitfür Länder und Kommunen, aber vor allem – ich glaube,das ist das Wichtigste – für die Familien in diesem Land.

(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Frau von der Leyen war im

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Caren Marks

Übrigen auch beteiligt! Wenn Sie das auch er-wähnen würden!)

– Das haben Sie ja erwähnt.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe auch den Kollegen Steinbrück erwähnt!)

Mit diesen Mitteln können die Kommunen neue Krip-penplätze schaffen, bestehende Kitas renovieren bzw.diese für die Benutzung durch jüngere Kinder umrüsten.

Das Gesetz ist eingebettet in ein Gesamtkonzept.Finanziell wird sich der Bund außer an den Investitions-kosten – so sieht es das Konzept vor – dauerhaft auch anden laufenden Betriebskosten beteiligen. Damit inves-tieren wir in Qualität, das heißt auch in Personal. DieSPD hat sich von Anfang an vehement für eine Beteili-gung des Bundes auch an den Betriebskosten eingesetzt.Als verlässlicher Partner der Kommunen haben wir ver-hindert, dass diese finanziell überfordert werden. Nurmit den Kommunen an unserer Seite wird nämlich derBetreuungsplatzausbau schnellstmöglich umgesetzt wer-den. Darauf haben die Familien schon lange gewartet.

(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Das war nur nicht die SPD-Ver-handlungsposition in der Kommission!)

Der ebenfalls im Gesamtkonzept verankerte Rechts-anspruch auf ein Betreuungs- und Bildungsangebot abdem vollendeten ersten Lebensjahr wird ab 2013 gelten.Ich freue mich, dass es uns, der SPD, gelungen ist, dieEinführung eines Rechtsanspruchs trotz anfänglicherWiderstände seitens der Union in der Großen Koalitionumzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider-spruch des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unver-schämte Rede!)

Hiermit stellen wir sicher, dass die vom Bund zur Verfü-gung gestellten Mittel bei den Kommunen ankommenund tatsächlich in den Ausbau der Betreuungsplätze flie-ßen. Außerdem wertet der Rechtsanspruch die frühkind-liche Bildung auf. Er ermöglicht mehr Chancengleich-heit, für die schon bei den Kleinsten gesorgt werdenmuss. Für eine gute Entwicklung brauchen Kinder näm-lich nicht nur liebevolle Eltern, Herr Kampeter, sondernauch eine optimale Förderung in einer Gruppe; dennKinder brauchen auch Kinder.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein garantierter Be-treuungsplatz gibt Eltern die Verlässlichkeit, die sie be-nötigen, um Familie und Beruf zu vereinbaren. Nach derPhase des Elterngeldbezuges erwarten Mütter und Väterzu Recht einen guten Betreuungsplatz für ihre Kinder.Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ermög-licht echte Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Le-bensmodellen von Familien. Er trägt dem Wunsch dermeisten jungen Frauen und Männer Rechnung, die so-wohl Anerkennung und Erfolg im Beruf als auch ein Fa-milienleben mit Kindern wollen und wünschen. Ofthatten insbesondere Mütter aufgrund fehlender Betreu-ungsangebote keine Chance, einer Erwerbstätigkeitnachzugehen. Die Erwerbstätigkeitsquote von Müttern

ist in Deutschland im internationalen Vergleich nach wievor niedrig. Auf das Lebensmodell „Kind oder Karriere“hatten Männer noch nie Lust, die meisten Frauen vonheute aber auch nicht mehr. Im Übrigen ist Erwerbstätig-keit von Eltern – das gilt insbesondere für Alleinerzie-hende – die beste Armutsprävention.

Eingangs habe ich moderne Familienpolitik mit ei-nem komplexen Gebäude verglichen. Die Modernisie-rung des Gebäudes wird mit der finanziellen Beteiligungdes Bundes und der Verankerung des Rechtsanspruchsentscheidend vorangetrieben. Um das Haus mit Lebenzu füllen, müssen zahlreiche Akteure mitwirken. Nebender Politik bedarf es der Unterstützung von Wirtschaft,Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen und Kirchen. Nurin einem breiten Bündnis wird es gelingen, unsere Ge-sellschaft familien- und kinderfreundlicher zu gestalten.

Mit der Sicherstellung der Finanzierung machen wirbeim Ausbau der Kinderbetreuung einen Quanten-sprung. Die von Rot-Grün eingeleitete moderne Famili-enpolitik ist nicht mehr aufzuhalten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDP-

Fraktion.

Miriam Gruß (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wenn man zum Schluss einer so lan-gen und heftigen Debatte redet, tut man das immer unterdem Motto „Es ist schon viel gesagt worden, aber nochnicht von jedem“. Ich hoffe, dass ich Ihnen trotzdemnoch ein paar Aspekte bieten kann, die für die Debatteerhellend und interessant sind.

Natürlich beurteilen wir von der Opposition den Aus-bau der Kinderbetreuung grundsätzlich als positiv. Aberauch mir ist es wichtig, an dieser Stelle noch einmal da-rauf einzugehen, dass wir nicht nur mehr Quantität, son-dern auch mehr Qualität brauchen. Ich freue mich dies-bezüglich über die Worte insbesondere der Ministerinhier.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In dieser Woche hat – das wussten Sie vielleicht nochnicht – ein großer Tester Tintentankstellen, den schon oftzitierten Flachbildfernseher sowie einen Backtoaster undeine Margarine mit dem Namen „Idee“ getestet, die da-für sorgen soll, dass die Kinder besser Ideen entwickelnkönnen. Das ist alles gut und schön und sicherlich auchwichtig in unserer Welt. Aber nicht getestet werden dieEinrichtungen, denen wir als Eltern unsere Kinder anver-trauen. Die Kinder verbringen dort im Schnitt 4 000 Stun-den ihres Lebens. Hier fehlen einheitliche Standards, diebundesweit gelten und die uns Eltern das Gefühl geben,dass wir unsere Kinder guten Gewissens außer Haus be-treuen lassen können.

Das ist eine wichtige Erkenntnis, die allerdings, soglaube ich, in diesem Haus unstreitig ist: Die Betreuung

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Miriam Gruß

außer Haus ist die erste neue, aber auch sehr wichtigeLebens- und Lernumgebung von Kindern neben derFamilie, und um die Kinder muss es uns letzten Endesgehen. Ich spreche an dieser Stelle zwar als kinder- undjugendpolitische Sprecherin der Fraktion, aber auch alsVorsitzende der Kinderkommission, die die Qualitätsof-fensive, die Sie angesprochen haben, sehr begrüßt. Wirbrauchen diese Qualitätsoffensive.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Was brauchen Kinder noch? Kinder benötigen füreine gesunde Entwicklung Bindungspersonen, die fürihre emotionalen Bedürfnisse verfügbar sind. Kinderbrauchen stabile Bindungen; sie sind notwendig für diegesunde motorische, kognitive und emotionale Entwick-lung. Stabile Bindungen können allerdings nicht nur zuMüttern oder Vätern aufgebaut werden, sondern auch zuweiteren Bezugspersonen. Das kann neben der Tante ausder Familie auch die Tagesmutter oder der Tagesvatersein, ebenso die Erzieherin oder der Erzieher.

(Ina Lenke [FDP]: Genau!)

Es ist evident, welche Vorteile stabile Bindungen ha-ben: Die Kinder sind kreativer, aufmerksamer und fle-xibler. Sie haben eine höhere Ausdauer, eine bessere Ge-dächtnisleistung und Sprachentwicklung. Sie verfügenin der Regel über höhere Bildungsabschlüsse und weisenaufgrund guter Ernährung auch eine bessere Gesundheitauf. Auch dies muss ein wichtiger Aspekt in dieser De-batte sein. Ziel muss es sein, den Kindern von Anfang anbessere Chancen zu bieten, wie es die FDP in ihrem An-trag „Chancengerechtigkeit von Beginn an“ deutlich ge-macht hat.

(Beifall bei der FDP)

Bei der Bildungsoffensive muss es also um Zweierlei ge-hen: zum einen um die Inhalte und zum anderen um dasPersonal.

Noch einmal zu den Bildungsinhalten. Ja, auch dasfreie Spiel und das Erlernen sozialer Kompetenz sindwichtig. Wir hatten gestern ein aufschlussreiches Exper-tengespräch in der Kinderkommission, in dem deutlichwurde, dass auch Themen wie kulturelle Bildung in die-sen Bildungseinrichtungen Eingang finden müssen.Auch der frühe Zugang zu den Naturwissenschaften unddas frühe Erlernen von Medienkompetenz sind wichtig.Dazu braucht man eben motivierte und kompetenteFachleute, die sich für diese Aufgaben zur Verfügungstellen. Ich betone, was ich an dieser Stelle schon oft ge-sagt habe: Wir brauchen mehr männliche Erzieher.

Was ich hier anspreche, ist natürlich in hohem MaßeLändersache. Aber ich denke, dass sich der Bund danicht aus der Verantwortung stehlen darf. Wir müssen andieser Stelle klarmachen – wir werden heute von vielengehört –, dass hier weitergearbeitet werden muss unddass man es nicht bei dem Anschub, den der Bund leis-tet, bewenden lassen darf. Wir müssen über den Perso-nalschlüssel für die Einrichtungen gemeinsam weiterde-battieren.

Sie merken, ich habe hier nicht gemeckert, sondernhabe konstruktive Vorschläge gemacht und auch gelobt.

(Ina Lenke [FDP]: Genau! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)

Die Opposition verhält sich an dieser Stelle im Interesseder Kinder konstruktiv.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christel Humme [SPD])

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Es freut mich, dass auch die Opposition uns zubil-ligt, dass kaum ein vergleichbares politisches Großvor-haben in den letzten Jahren so dynamisch angepackt undso erfolgreich und rasch umgesetzt worden ist wie dieKinderbetreuung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden die Zahl der Kinderbetreuungsplätze ver-dreifachen. Wir haben mit einem neuen Anschub dieLeistungskraft enorm gesteigert. Das führt bei dem Mo-dell der Kinderbetreuung nicht zu klimaschädlichenAuswirkungen, sondern es begünstigt ein Klima derKinder- und Familienfreundlichkeit in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Menschen in unserem Land, die Millionen vonMüttern und Vätern sowie viele junge Paare, die über ih-ren Kinderwunsch momentan noch nachdenken, erfah-ren nun Planungssicherheit für die Betreuung ihrerKleinsten. Taten statt Worte, Gesetzesbeschlüsse stattAnkündigungen, Chefsache statt Gedöns: Das ist unsereLeitlinie.

(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt garkeine Kindergartenplätze!)

Der Ausbau der Kinderbetreuung ist aber nur ein Teileines Gesamtkonzepts des von Bund und Ländern verab-redeten Ausbaus der Betreuung für Kinder unter dreiJahren. Im Begründungsteil des vorliegenden Gesetzent-wurfs über das Sondervermögen wird ausdrücklich da-rauf hingewiesen, dass im nächsten Schritt weitere Re-gelungen folgen. Dort heißt es beispielsweise:

Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kindervon 1 bis 3 Jahren nicht in Einrichtungen betreuenlassen wollen oder können, eine monatliche Zah-lung (z. B. Betreuungsgeld) eingeführt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit wird der Grundsatz der Wahlfreiheit darge-stellt. Keiner Familie, keinem Elternpaar, weder Müttern

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Johannes Singhammer

noch Vätern sollen Vorschriften gemacht werden, wiesie ihre Familie zu organisieren haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

Wir wollen Familien unterstützen, gleich welches Le-bensmodell sie gewählt haben. Wir wollen ihnen nichtweniger, sondern mehr Wahlfreiheit geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Den richtigen Platz für die gesetzliche Festlegung derWahlfreiheit zu finden, wird das nächste große Vorhabensein, das zur Änderung des Sozialgesetzbuches VIII füh-ren wird. Darin wird zum einen die gesetzliche Ver-pflichtung zum Ausbau der Kinderbetreuung und dieEinführung eines Rechtsanspruchs auf eine Betreuungfür alle Kinder vom vollendeten ersten bis zum drittenLebensjahr ab dem Kindergartenjahr 2013/14 geregeltsowie zum anderen ab 2013 die Einführung eines Be-treuungsgeldes. Wir werden zunächst sorgfältig überdie Ausgestaltung des Betreuungsgeldes beraten und siedann festlegen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir abernicht den Haushalt des Jahres 2013 beschließen; auchdas ist richtig.

Warum sind synchron der Ausbau von Kinderbetreu-ungsplätzen und die Einführung eines Betreuungsgeldesnotwendig? Ein großer Fortschritt, den diese Koalitionnicht nur zu verantworten hat, sondern auf den sie auchstolz ist, war die Einführung des Elterngeldes. Rot-Grünist es in sieben Jahren nicht gelungen, das Elterngeld aufden Weg zu bringen. Wir haben es innerhalb von siebenMonaten geschafft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)

Freuen Sie sich darüber. Wir haben es gemeinsam ge-schafft. Für die ersten Eltern, die Elterngeld beziehen,läuft der Anspruch 2008 aus. Es stellt sich die Frage,was danach kommt. Dann stellt sich die Frage der Be-treuung. Deshalb brauchen wir den Ausbau der Kinder-betreuung. Zunehmend wird sich aber auch die Fragenach einem Betreuungsgeld stellen; denn Wahlfreiheitbedeutet nicht Schulterklopfen, sondern auch finanzielleWahlfreiheit.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Stehen Sie eigentlich auf einem Kartonroher Eier?)

Beim beschleunigten Ausbau der Betreuung der unterDreijährigen wird von einer Versorgungsquote von35 Prozent in diesem Zeitraum ausgegangen. NachAdam Riese bleiben 65 Prozent der Kinder übrig, für diekeine derartige Betreuung in Anspruch genommen wird.Auch an diese Familien müssen wir denken. Wir müssendaran denken, dass Schulterklopfen einen finanziellenAusgleich nicht ersetzen kann.

Mit dem Betreuungsgeld entsprechen wir dem Her-zenswunsch vieler Eltern, möglichst viel Zeit mit ihrenKindern zu verbringen. Ich bin mir ganz sicher, dass,wenn wir eine Umfrage unter den Kindern machen wür-den, herauskommen würde, dass sehr viele Kinder ihrer-

seits den Wunsch haben, möglichst viel Zeit mit ihrenEltern zu verbringen.

(Ina Lenke [FDP]: Haben Sie Enkelkinder? Dann fragen Sie die doch einmal!)

Die Forderung nach einem Betreuungsgeld ist dahernicht mit dem Füllhorn der Sozialleistungen zu verglei-chen, nach dem Motto: Freibier für alle. Da gibt es im-mer Beifall. Diese Forderung entspricht vielmehr demWunsch der Familien, viel Zeit miteinander zu verbrin-gen.

(Daniela Raab [CDU/CSU]: So ist es! Soll vorkommen!)

Viele Eltern empfinden es als Bevormundung – auchdas darf ich an dieser Stelle sagen –, wenn sie feststellen,dass die Lebensentscheidungen, egal wie sie ausfallen,in eine gewisse Rangfolge gestellt werden,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

wenn sie feststellen, dass nur das eine Lebensmodellpolitisch korrekt und zulässig ist, ein anderes, nämlichdie Entscheidung, für eine gewisse Zeit oder dauerhaftfür Kinder zu Hause zu bleiben, als „verzopft“, lächer-lich oder altmodisch dargestellt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Diese Differenzierung wollen wir nicht. Wir überlassenes den Familien, zu entscheiden und zu wählen, wie sieihr Leben gestalten wollen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Wir auch!)

An dieser Stelle möchte ich noch etwas sagen: Hütenwir uns davor, den Eindruck zu erwecken, die Familiesei eine bildungsfreie Zone. Ich bin froh, dass das heutenicht geschehen ist. Bildung wird zuallererst – darin sindwir uns einig – in der Familie vermittelt.

(Caren Marks [SPD]: In manchen Familien!)

Ich würde mich freuen, wenn der Betreuungsschlüssel– es ist schon angesprochen worden, dass wir ihn verbes-sern wollen, was Aufgabe der Länder ist –, der in einerKleinkita wie einer Familie gegeben ist, auch in einerKita im üblichen Sinn erreicht würde. Dieses Verhältniswird wohl nur sehr selten erreicht. Wir wollen die Wahl-freiheit nicht für 35, nicht für 50, sondern für100 Prozent der Väter und Mütter. Dazu werden wir dieentsprechenden Vorlagen erarbeiten.

Es ist gut und notwendig, dass wir das Tempo in derFamilienpolitik erhöht haben. Vor wenigen Wochen hatdas Statistische Bundesamt die Geburtenzahlen für daszurückliegende Jahr 2006 veröffentlicht. Wenn die Zahlder geborenen Babys in Deutschland ein Indikator – ne-ben vielen anderen – für den Handlungsbedarf in der Fa-milienpolitik ist, dann dürfen wir im Tempo für mehr Fa-milien- und Kinderfreundlichkeit in Deutschland nichtnachlassen. 1964 erblickten in den damaligen beidendeutschen Staaten 1,4 Millionen Babys das Licht derWelt. Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamteswaren es im Jahr 2006 nicht 1,4 Millionen, auch nicht

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Johannes Singhammer

1 Million, nicht 900 000, nicht 800 000, nicht 700 000,sondern 672 000.

Ein familienfreundliches Deutschland, eine kinder-freundliche Grundstimmung in unserem Land entstehtnicht über Nacht, sondern bedarf der Nachhaltigkeit mitdem großen Projekt „mehr Kinderbetreuungsmöglich-keiten“, mit dem Rechtsanspruch, aber eben auch mitdem Betreuungsgeld. Kardinal Josef Frings sagte ein-mal:

Die Zukunft des Volkes hängt nicht von der Zahlder Kraftwagen ab, sondern von der Zahl der Kin-derwagen.

Der Kardinal hat recht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

das Wort der Kollege Dieter Steinecke von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dieter Steinecke (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist mir eine Freude, gleich in meiner erstenRede von dieser Stelle über einen großen sozialdemokra-tischen Erfolg sprechen zu dürfen. Mit der Errichtung ei-nes Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ setzenwir unsere langjährige Politik für Kinder, für Familienfort. Es ist sicherlich nicht falsch, an dieser Stelle aus-drücklich unserem Finanzminister Peer Steinbrück zudanken; denn schließlich nehmen wir, wie man so schönsagt, richtig Geld in die Hand.

(Beifall bei der SPD)

Natürlich gebührt auch allen anderen Dank, die am Ge-lingen des Projekts beteiligt waren.

Wofür wird das Geld verwendet? Diese Frage ist aufden ersten Blick nicht besonders originell. Ab 2013 wirdein Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung für alle Kinderunter drei Jahren bestehen. Kapazitäten müssen gezieltausgebaut werden. Wir wollen jedoch nicht nur in Betoninvestieren; auch Quantität allein ist nicht entscheidend.Die Qualität der Betreuungsangebote muss stimmen.Dafür stehen wir im Interesse der Kinder in unseremLand und für die Zukunft unseres Landes.

Als Bundes- wie auch Kommunalpolitiker möchte ichan dieser Stelle hervorheben, dass es ausgesprochenwichtig ist, nicht nur die Errichtung von Kindertagesstät-ten und -krippen zu fördern, sondern auch deren laufen-den Betrieb.

Im Zentrum sozialdemokratischer Politik stehen dieMenschen. Im Zentrum unserer Familienpolitik stehenneben Müttern und Vätern, wenn nicht sogar an ersterStelle, die Kinder. Bildung und Erziehung beginnennicht erst mit dem dritten Lebensjahr oder gar erst mitder Einschulung. Schon früher werden wichtige Weichengestellt. Für viele, zu viele Kinder aus bildungsfernen

Schichten und Kinder, deren Muttersprache nichtDeutsch ist, ist am Tag der Einschulung der Zug zwarnoch nicht endgültig abgefahren, aber deutlich verspätet.Diese Verspätung aufzuholen, kostet viel Kraft, viel Zeitund vor allen Dingen sehr viel Geld.

(Beifall bei der SPD)

Ein umfassendes Angebot an Tagesbetreuung für Kinderunter drei Jahren ist eine unabdingbare Voraussetzungfür Chancengerechtigkeit, für einen fairen Zugang zurRessource Bildung für alle Kinder.

Um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, be-darf es einer hohen Qualität der Betreuung. Nun bin ichkeineswegs der Auffassung, dass der Weg zum Erzieher-beruf oder zur Tagespflegeperson ein Fachhochschulstu-dium erfordern sollte, jedenfalls nicht für alle. Doch fürTagesmütter und hoffentlich auch bald für Tagesvätersollte es durchaus etwas mehr sein als ein 20-stündigerCrashkurs.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Singhammer [CDU/CSU])

Wenn ich von Qualität in der frühkindlichen Betreu-ung und Erziehung spreche, dann meine ich vor allemjene in Krippen und anderen geeigneten und für dieAltersgruppe unter drei Jahren angemessenen Tagesein-richtungen. Das Ausbildungsniveau der Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter garantiert hohe Standards, die Insti-tutionalisierung Verlässlichkeit.

(Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])

Der Mensch ist, wie schon Aristoteles wusste, vondem wir heute bereits häufiger gehört haben, ein Gesell-schaftswesen. Als Pädagoge sage ich Ihnen: Kinder ge-hören unter Kinder.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN –Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es gibtaber auch Familien mit mehreren Kindern!)

Vor allem in der Gruppe kann Integration geleistet wer-den. Gerade in einer Gesellschaft wie der unseren, in derviele Kinder keine Geschwister haben, können sie hierbereits von sehr klein auf soziale Kompetenz erlernenund leben.

(Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])

Die Qualität der Einrichtungen zu sichern und auszu-bauen, bleibt eine Daueraufgabe. Daran braucht uns nie-mand zu erinnern.

Sie sehen, wir lehnen uns nicht selbstzufrieden zu-rück, sondern wir blicken voraus. Wir werden den Wegzu einer bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigenKinderbetreuung in unserem Land weiter beschreiten.Der Grundstein für ausreichende Kapazitäten ist gelegt.In den weiteren Beratungen zum SGB VIII werden wiruns gründlich mit dem Qualitätsaspekt beschäftigen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Steinecke, ich gratuliere Ihnen im Na-

men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-schen Bundestag.

(Beifall)

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/6596, 16/6601, 16/6607, 16/6100und 16/6597 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 n sowiedie Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:

34 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desWohngeldgesetzes und des Zwölften BuchesSozialgesetzbuch

– Drucksache 16/4019 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Jugendgerichtsgesetzes undanderer Gesetze

– Drucksachen 16/6293, 16/6568 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Regionalisierungsgesetzes

– Drucksache 16/6310 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

d) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurFinanzierung der Beendigung des subventionier-ten Steinkohlenbergbaus zum Jahr 2018 (Stein-kohlefinanzierungsgesetz)

– Drucksache 16/6566 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-lung der Weiterverwendung nach Einsatzun-fällen (Einsatz-Weiterverwendungsgesetz –EinsatzWVG)– Drucksache 16/6564 – Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss (f)Innenausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2008 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2008)

– Drucksache 16/6565 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Bundesversorgungsgesetzes undanderer Vorschriften des Sozialen Entschädi-gungsrechts

– Drucksache 16/6541 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Zwölften Buches Sozialgesetz-buch und anderer Gesetze

– Drucksache 16/6542 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 9. Februar 2007 zwischen derBundesrepublik Deutschland und Australienüber die Soziale Sicherheit von vorübergehendim Hoheitsgebiet des anderen Staates beschäf-tigten Personen („Ergänzungsabkommen“)

– Drucksache 16/6567 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales

j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Finanzverwaltungsgesetzes undanderer Gesetze

– Drucksache 16/6560 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Innenausschuss Haushaltsausschuss

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Legehennenbetriebsregister-gesetzes

– Drucksache 16/6559 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaPieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Deutsche Forschungsflotte leistungsfähig erhal-ten – mittel- und langfristige Programmeerarbeiten

– Drucksache 16/4064 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

m) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-nung

Technikfolgenabschätzung (TA)

TA-Projekt: Biobanken für die humanmedizi-nische Forschung und Anwendung

– Drucksache 16/5374 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit

n) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Nationales Reformprogramm Deutschland2005 bis 2008Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2007

– Drucksache 16/4560 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

ZP 6 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz,Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP

Notwendige Verbesserungen am Telemedien-gesetz jetzt angehen

– Drucksache 16/5613 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstMeierhofer, Michael Kauch, AngelikaBrunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Verpackungsverordnung sachgerecht novellie-ren – Weichen stellen für eine moderne Abfall-und Verpackungswirtschaft in Deutschland

– Drucksache 16/6598 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Rege-lung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen, Ta-gesordnungspunkt 34 e, liegt inzwischen auf Druck-sache 16/6650 die Gegenäußerung der Bundesregierungzu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie derGesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 m auf.Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 35 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes über die Bereinigung von Bundes-recht im Zuständigkeitsbereich des Bundes-ministeriums der Justiz

– Drucksache 16/5051 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/6626 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Joachim Stünker Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/6626, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5051 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derFDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenom-men.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenom-men.

Tagesordnungspunkt 35 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Pflichtversiche-rungsgesetzes und anderer versicherungs-rechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/5551 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/6627 –

Berichterstattung:Abgeordnete Daniela Raab Marianne Schieder Mechthild Dyckmans Wolfgang NeškovićJerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/6627, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5551 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 35 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Protokoll vom 28. Oktober 1993 zurÄnderung des Europäischen Übereinkommensvom 30. September 1957 über die internatio-nale Beförderung gefährlicher Güter auf derStraße (ADR)

– Drucksache 16/6121 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)

– Drucksache 16/6610 –

Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/6610, den Gesetzentwurf der Bundes-

regierung auf Drucksache 16/6121 anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 35 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-schuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Harald Terpe, Birgitt Bender, ElisabethScharfenberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bioethische Grundsätze auch bei Arzneimit-teln für neuartige Therapien sicherstellen

– Drucksachen 16/4853, 16/5582 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/5582, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4853 abzu-lehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der FraktionenDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 8

über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht

– Drucksache 16/6452 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist einstimmig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.

Tagesordnungspunkte 35 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 269 zu Petitionen

– Drucksache 16/6443 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 269 ist einstimmig angenom-men.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12193

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Tagesordnungspunkt 35 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 270 zu Petitionen

– Drucksache 16/6444 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 270 ist ebenfalls einstimmigangenommen.

Tagesordnungspunkt 35 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 271 zu Petitionen

– Drucksache 16/6445 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 271 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen-stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung desBündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 272 zu Petitionen

– Drucksache 16/6446 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 272 ist einstimmig angenom-men.

Tagesordnungspunkt 35 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 273 zu Petitionen

– Drucksache 16/6447 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 273 ist bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-tionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 274 zu Petitionen

– Drucksache 16/6448 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 274 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktionbei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen.

Tagesordnungspunkt 35 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 275 zu Petitionen

– Drucksache 16/6449 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 275 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmender FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.

Tagesordnungspunkt 35 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 276 zu Petitionen

– Drucksache 16/6450 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 276 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu demAntrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell,Cornelia Behm, Winfried Hermann, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Einführung eines Erneuerbare Energien Wär-megesetzes – EEW

– Drucksachen 16/3826, 16/5361 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Dirk Becker Michael Kauch Hans-Kurt Hill Hans-Josef Fell

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Dirk Becker von der SPD-Fraktion.

Dirk Becker (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir heute über ein Erneuerbare-Energien-Wärme-gesetz reden, dann tun wir das aus gutem Grund. Ichmöchte eingangs fünf Feststellungen zum Wärmemarktinsgesamt treffen:

Erstens. Der Wärme- und Kältemarkt – man sollteden Kälteanteil nicht vergessen, wenn man über den

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(A) (C)

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Dirk Becker

Wärmemarkt spricht – stellt den größten Anteil am deut-schen Endenergieverbrauch.

Zweitens. Er ist gekennzeichnet durch einen hohenAnteil fossiler Energieträger mit der Folge klimaschädli-cher Abgase.

Drittens. Er ist gekennzeichnet durch eine große Im-portabhängigkeit in erster Linie bei Gas und Öl.

Viertens. Gerade diese hohe Importabhängigkeit istim Hinblick auf die Versorgungssicherheit problema-tisch. Es muss daher darum gehen, diese Importabhän-gigkeit in der Zukunft zurückzuführen.

Fünftens. Preissteigerungen – in erster Linie bei Ölund Gas – führen zu Problemen, gerade in sozial schwa-chen Haushalten. Das heißt, wir werden auch auf demWärmesektor zunehmend mit der sozialen Frage kon-frontiert. Auch hier muss es Antworten geben, wie mandiesen brennstoffgebundenen Preissteigerungen entge-genwirken kann.

Es stellt sich also die Frage: Was können wir tun? Ichwill zwei Dinge kurz skizzieren: Wir müssen Maßnah-men ergreifen, um den Energieverbrauch zu reduzieren.Die Bundesregierung hat hierzu Programme aufgelegt.Eines ist das Gebäudesanierungsprogramm, mit dem wirdas Ziel verfolgen, Energieeinsparmaßnahmen umzuset-zen. Ein anderes ist die Förderung des Einsatzes effi-zienterer Anlagentechnik und effizienterer Heizungssys-teme.

Ferner kommt dem Einsatz erneuerbarer Energien be-sonderes Augenmerk zu. Warum ist das so? Der Einsatzerneuerbarer Energien senkt die eben angesprochene Im-portabhängigkeit. Dies erhöht die Versorgungssicherheitund dämpft brennstoffbezogene Heizkosten. Darüber hi-naus sind die erneuerbaren Energien unverzichtbar,wenn die Klimaschutzziele, die die Bundesregierung be-schlossen hat, erreicht werden sollen. Ich möchte auf dasEEG, auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz, für denStrombereich verweisen. Hieran kann man erkennen,was ein rechtlicher Ansatz zu leisten imstande ist. Nichtnur, dass Klimaschutzziele erreicht werden, nicht nur,dass die Importabhängigkeit reduziert wird – es hat aucheinen Effekt auf die heimische Wirtschaft: 200 000 Jobsund weltweit erfolgreich operierende Unternehmen sinddie Folge dieses Konstruktes Erneuerbare-Energien-Ge-setz. Nun gilt es, Vergleichbares auch im Wärmebereichsicherzustellen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen,lautet: Wie kann dies im Wärmemarkt gelingen? Wir ha-ben das Ziel, dass der Anteil der erneuerbaren Energienim Wärmebereich bis 2020 bei 14 Prozent liegt; so ist esvon den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierungbeschlossen.

Im Koalitionsvertrag steht, dass wir ein „regenerati-ves Wärmenutzungsgesetz“ wollen und das Marktan-reizprogramm fortführen. Mehr ist dort zu diesem Punkt

nicht ausgeführt. In den letzten Monaten gab es in denKoalitionsfraktionen unterschiedliche Überlegungen.

Ich möchte kurz auf die Position der SPD-Fraktioneingehen. Bereits Ende letzten Jahres haben wir uns fürein Fondsmodell ausgesprochen. Was wollen wir mitdiesem Fondsmodell verfolgen? Dieses Modell soll derVerrechtlichung und Verstetigung des Marktanreizpro-gramms dienen. Eine große Schwachstelle des bisheri-gen Marktanreizprogramms war es, dass die Haushalts-mittel schon Mitte des Jahres verausgabt waren, sodassAntragsteller nicht mehr zum Zuge kamen. Wir wollteneine rechtlich verbindliche Fortentwicklung diesesMarktanreizprogramms mit einer entsprechenden Auf-stockung. Die Einführung des Ordnungsrechts haben wirauch im Bereich der Wärmenutzung für möglich gehal-ten. Dies haben wir allerdings nicht favorisiert.

(Michael Kauch [FDP]: Hört! Hört!)

– Ich komme gleich dazu.

Es gab eine Reihe von Gesprächen – auch mit derUnion, die sich etwas schwer getan hat, eine einheitlichePosition zu finden; das muss man auch einmal sagen.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Na, na,na! – Ulrich Kelber [SPD]: Bis heute nochnicht!)

– Zumindest gibt es bis heute Irritationen, auch in derÖffentlichkeit. – Entscheidend ist aber das, was die Bun-desregierung beschlossen hat – darauf sollten wir unsjetzt konzentrieren –, nämlich ein ambitioniertes Pro-gramm vorzulegen, das IKEP, das Integrierte Klima- undEnergieprogramm.

Gerade zum Bereich Wärme haben wir Vorschlägegemacht, die – ich denke, das darf man sagen – vielenicht für möglich gehalten hätten.

Erstens. Unser gemeinsames Anliegen, nämlich dieVerrechtlichung, Verstetigung und Aufstockung desMarktanreizprogramms auf 350 Millionen Euro, ist Ge-genstand dieses Beschlusses. Das ist ein großer Erfolgfür den Wärmemarkt,

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

insbesondere auch deshalb, weil von diesem ProgrammImpulse für die Entwicklung neuer Technologien in dieIndustrie und die Unternehmerschaft ausgehen. Überdieses Programm betreiben wir Technologieförderunghinsichtlich des Einsatzes erneuerbarer Heizungstechni-ken.

Zweitens: das Ordnungsrecht. Es wurde vereinbart,eine Pflicht zum Einsatz sowohl von solarer Strahlungs-wärme als auch von sonstigen erneuerbaren Energieneinzuführen, damit in Zukunft bei Neubauten und grund-legenden Sanierungen eine Verpflichtung zum Einsatzerneuerbarer Energien besteht.

Ich sage: Das sind gute Ansätze. Ich sage aber auch:Das ist nur ein Einstieg. Es müssen weitere Schritte fol-gen; wir befinden uns noch am Anfang dieser Debatteinnerhalb der Koalition.

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Dirk Becker

Ich will kurz auch auf einige Risiken hinweisen.Wenn man das Ordnungsrecht hier einführen will, mussman ehrlicherweise auch auf die Vollzugsproblematikhinweisen. Wir haben Probleme der Kontrolle, nachzu-vollziehen, ob der ordnungsrechtliche Ansatz tatsächlicheingehalten wird. Das muss man im Hinterkopf haben.Gerade vor dem Hintergrund der doch sehr geringenNeubau- und Modernisierungstätigkeit muss manschauen, wie groß der Anteil sein kann, den diesesInstrument zur Erreichung des 14-Prozent-Ziels beiträgt.Ich denke aber, dass wir hier insgesamt einen richtigenEinstieg gefunden haben.

Ich habe eine Bitte an das Ministerium. Wir haben er-lebt, dass durch die recht starken Veränderungen bei denFördervoraussetzungen im bisherigen Marktanreizpro-gramm eine gewisse Verunsicherung ausgelöst wurde.Die Fördersätze wurden innerhalb eines Jahres verän-dert. Das ist nicht unbedingt dazu geeignet, auf DauerVertrauen im Markt zu wecken. Es ist wichtig, jetzt aufBasis dieser Regelung verlässliche und über mehrereJahre geltende Fördervoraussetzungen festzulegen sowiedieses Programm über die Öffentlichkeitsarbeit und dieentsprechende Fachschulung der Handwerker und derje-nigen, die vor Ort Kontakt zum Bürger haben, anzuprei-sen, zu bewerben und offensiv damit umzugehen.

Ich denke, wenn wir in dieser Form mit dem Pro-gramm umgehen, dann können wir die gesteckten Zieleerreichen. 14 Prozent bis 2020 ist ein hohes Ziel, aber esist erreichbar. Über das IKEP werden wir unseren Bei-trag hierzu leisten.

Danke.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von

der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Michael Kauch (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP

hält eine bessere Förderung erneuerbarer Energien beider Wärmegewinnung für überfällig. Wir haben unserInteresse in den vergangenen Jahren vielleicht zu starkauf den Strombereich fokussiert. Das Ergebnis ist eineweiterhin bestehende sehr starke Abhängigkeit von Gas-importen aus Russland; zudem gibt es hohe CO2-Emis-sionen im Gebäudesektor. Neben der Energieeinsparungmüssen wir dem Einsatz erneuerbarer Energien im Ge-bäudebereich endlich zum Durchbruch verhelfen – ichdenke, da sind wir uns einig –, sei es durch Biogas,durch Erdwärme, durch Holzpelletheizungen oder durchSolarthermie.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein zentraler Baustein sowohl für den Klima-schutz als auch für die Versorgungssicherheit. Aber manmuss es auch richtig machen. Die Große Koalitionmacht mit ihren Beschlüssen von Meseberg vor, wie es

nicht sein sollte. Ich fand es sehr schön, dass HerrBecker in sehr großer Offenheit gesagt hat, dass keineder Koalitionsfraktionen das Fördermodell, das der Um-weltminister vorgelegt hat, eigentlich wollte.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Wir sind begeistert!)

Die Regierung setzt ganz klar auf Zwang, Bürokratieund Subventionen, nicht aber auf Marktanreize. Das istein staatsorientiertes Programm par excellence. Von ei-nem sozialdemokratischen Umweltminister hätten wirwahrscheinlich auch nicht viel anderes erwarten können.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:Das ist die Funktionstaste F3: Textbausteinefür Ihre Rede!)

Dass die Union das mit ihrer Kanzlerin und vor allemmit ihrem Wirtschaftsminister mitmacht, finde ich aller-dings sehr traurig. Aber was soll man auch von einemWirtschaftsminister erwarten, dem jede ordnungspoliti-sche Vorstellung darüber fehlt, wie man Klimaschutzwirtschaftspolitisch vernünftig gestaltet, und der nichtsanderes tut, als zu bremsen und zu reparieren?

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte noch einmal klarmachen, was die GroßeKoalition künftig von den Hausbesitzern verlangt: Siesollen im Rahmen von Modernisierungen zur Nutzungerneuerbarer Wärme verpflichtet werden, und zwar ein-heitlich nach dem gleichen System, unabhängig davon,wie hoch die Kosten für das jeweilige Gebäude sind.Wenn es nach dem Umweltminister geht, kommen dra-konische Strafen bei Nichterfüllung hinzu. Das ist nichteffizient, das ist kein Markt, sondern Staatszwang mit ei-ner massiven Kontrollbürokratie, und zwar in jedem ein-zelnen Haus.

(Beifall bei der FDP)

Herr Glos hat dafür gesorgt, dass das System bei denVerhandlungen in der Koalition noch einmal richtigdurchlöchert wird. Es sind Härtefall- und Ausnahmere-gelungen dazugekommen, die die ohnehin schon nötigeBürokratie noch einmal vervielfacht haben. Das ist derErfolg, den das Wirtschaftsministerium erreicht hat. Ichfrage mich, ob Sie mit all diesen Härtefall- und Ausnah-meregelungen letztendlich den Beamten den Ermessens-spielraum übertragen wollen. Das ist kein Weg für mehrRechtssicherheit, das wird zu sehr unterschiedlicher Ver-waltungspraxis in den einzelnen Bundesländern führen.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:Wo ist denn der Unterschied zur FDP-Lösungin Baden-Württemberg?)

Es ist völlig unklar, ob die gesamte Zwangsbürokratiedazu führt, dass die notwendigen Umweltziele erreichtwerden. Deshalb traut die Große Koalition diesem Wär-megesetz ja auch nicht wirklich. Denn zusätzlich zurZwangsbürokratie gibt es noch einen kräftigen Schluckaus der „Subventionspulle“. Diese Koalition ist in dieserDiskussion einmal angetreten, den Einsatz erneuerbarerWärme haushaltsneutral zu fördern. Davon ist jetzt über-haupt nicht mehr die Rede. Stattdessen will man die Ver-

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Michael Kauch

steigerungserlöse aus dem Emissionshandel nutzen, umdie Mittel der Förderprogramme massiv zu erhöhen.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: HerrKauch, wollen Sie jetzt gerade den Emissions-handel streichen?)

Fazit: Schwarz und Rot setzen mit den Meseberg-Be-schlüssen auf Dirigismus, Bürokratie und Staatsknete.

(Beifall bei der FDP)

Langsam dämmert manchem in der Union, was manda beschlossen hat. Heute hat der stellvertretende Frak-tionsvorsitzende Friedrich in den Ruhr Nachrichten er-klärt, man wolle die Gängelung von Hausbesitzern unddie Eingriffe ins Eigentum verhindern und ihnen ent-schieden entgegentreten. Meine Damen und Herren vonder CDU/CSU, dann machen Sie das auch! Tun Sie nichtnur in der Presse so, als würden Sie sich für wenigerBürokratie für die Hauseigentümer einsetzen, sondernstoppen Sie die Regierungspläne. Nicht die Details vonMinister Gabriels Entwurf, sondern das ganze Förder-modell ist verfehlt.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Eigene Vorschläge!)

– Das ist eine sehr schöne Überleitung. Die FDP hat eineAlternative für ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzvorgelegt.

(Ulrich Kelber [SPD]: Wie ist das in Baden-Württemberg?)

Dabei legt der Staat nicht für jeden Hausbesitzer fest,wie groß der Anteil an erneuerbarer Wärme sein soll,sondern nur für die gesamte Volkswirtschaft. WelcherHausbesitzer welchen Anteil mit welcher Technologieerreicht, wollen wir dem Markt überlassen.

Um ein solches Gesetz möglichst unbürokratisch zugestalten, wollen wir es auf der obersten Handelsebeneansetzen. Wer Heizöl und Erdgas in Verkehr bringt, sollerneuerbare Wärme nachweisen müssen. Diese Nach-weise können die Brennstoffhändler dann bei Biogasein-speisern oder Hausbesitzern erwerben, die erneuerbareEnergien nutzen.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Und das ist dann völlig unbürokratisch?)

Das wäre für die Hausbesitzer ein echter Investitionsan-reiz, und zwar ohne Zwang und Bürokratie in jedem ein-zelnen Haus.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben vor der Sommerpause ein solches Modellin den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich ermunteredie Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dieseVorlage zu nutzen.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Davon wird es auch nicht besser!)

Wir werden kein Modell zur Förderung erneuerbarerWärme hinbekommen, das nichts kostet. Aber wir kön-nen zumindest zu einem Modell kommen, das mit mög-lichst wenig Bürokratie und mit hoher Effizienz arbeitet.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist doch völlig bürokratisch!)

Sorgen Sie, meine Damen und Herren in der CDU/CSU, endlich für ein Umsteuern in der Union und erin-nern Sie sich, womit Sie nach der Bundestagswahl 2005im Deutschen Bundestag angetreten sind!

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimaschutz ist indiesen Tagen eines der zentralen Themen der nationalenund internationalen Politik. Die Häufigkeit der Debattenzu diesem Thema in diesem Hause ist dafür ein beredtesZeichen.

Die Große Koalition hat sich von Anfang an den He-rausforderungen des Klimawandels gestellt und schonim Koalitionsvertrag vereinbart, „bis zum Jahr 2020 dieEnergieproduktivität gegenüber 1990 zu verdoppeln“und

die Marktpotenziale erneuerbarer Energien im Wär-mebereich durch die Fortführung des Marktanreiz-programms im bisherigen Umfang

– da sind wir Gott sei Dank schon ein ganzes Stück wei-ter –

sowie durch weitere Instrumente, wie zum Beispielein regeneratives Wärmenutzungsgesetz, besser zuerschließen.

Unter dem Eindruck unter anderem der Studien desIPCC haben der Europäische Rat im März und der G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni – beide unter dem Vor-sitz der Bundeskanzlerin – sehr ehrgeizige Ziele für dieKlimaschutzpolitik beschlossen. Unsere Aufgabe auf na-tionaler Ebene ist es nun, weit über die Koalitionsverein-barung hinaus diese Ziele in nationale Politik umzuset-zen.

Das Bundeskabinett hat deshalb bei seiner Klausurta-gung in Meseberg am 23. und 24. August Eckpunkte fürein Energie- und Klimapaket beschlossen. Insgesamtsollen damit Deutschlands CO2-Emissionen bis zumJahr 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduziert wer-den.

Ein besonders hohes Klimaschutzpotenzial birgt derWärmesektor. Gerade dem Gebäudebereich, der zu zweiDritteln als wärmetechnisch sanierungsbedürftig gilt,kommt dabei mit rund 35 Prozent des Energieverbrauchsund fast 20 Prozent aller Kohlendioxidemissionen einezentrale Rolle zu.

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Aufgrund der in den letzten Jahren stetig steigendenKosten für fossile Energieträger amortisieren sich Inves-titionen in bessere Dämmung, modernere Heizungstech-nik und Umstellung auf erneuerbare Energien rechtschnell. Denn Wohnungseigentümer und Mieter sparenlaut Bundesbauministerium durch Gebäudesanierungdurchschnittlich etwa 86 Cent pro Quadratmeter proMonat. Das sind bei einer 80 Quadratmeter großen Woh-nung etwa 60 Euro pro Monat, also über 700 Euro proJahr.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wirhaben das bereits mehrfach diskutiert. Ich sage das, denneigentlich steht heute Ihr Antrag auf der Tagesordnung.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht „eigentlich“!)

Sie rennen mit Ihrem Antrag bei uns tatsächlich offeneTüren ein. Die Bundesregierung hat in Meseberg in Be-zug auf Wärme beschlossen, den Anteil erneuerbarerEnergien auf 14 Prozent im Jahr 2020 zu erhöhen, dieEnergieeinsparordnung in zwei Schritten um jeweils30 Prozent in den Jahren 2008 und 2012 zu verschärfen,den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromer-zeugung bis zum Jahr 2020 auf 25 Prozent zu verdop-peln und die Nah- und Fernwärmenetze auszubauen. DieEckpunkte, die dort beschlossen wurden, werden bis An-fang April – also in einem sehr überschaubaren Zeitraum –in Gesetze gegossen.

Wir haben als CDU/CSU-Fraktion ein integriertesWärmekonzept erarbeitet, das in das in dieser Wochevon unserer Fraktion verabschiedete Positionspapier „Si-cher – sauber – sozial: Drei Dimensionen der Energiepo-litik“ Eingang gefunden hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

– Das haben wir gut gemacht; das finde ich auch.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber diedrei „S“ sind von der Deutschen Bahn ge-klaut!)

Auch in Bezug auf den Wärmebereich legen wir da-bei besonderen Wert auf Sozialverträglichkeit und habendas Ziel, Mietern, Eigentümern und den betroffenenBranchen Planungs- und Investitionssicherheit zu geben.

Unser integriertes Wärmekonzept beinhaltet insbe-sondere folgende Punkte:

Erstens wollen wir die Wärmeerzeugung aus erneuer-baren Energien ausbauen. Wir schlagen dazu bei großenGebäuden, bei Neubauten und grundsätzlicher Sanie-rung eine Pflicht zur anteiligen Nutzung vor, um eine hö-here Marktdurchdringung als bisher zu erreichen. Zu denerneuerbaren Energien zählen wir in diesem Zusammen-hang insbesondere Solarthermie, oberflächliche undtiefe Geothermie, feste Biomasse und Biogas. Die Mittelfür das Marktanreizprogramm – es ist tatsächlich eingroßer Erfolg, Herr Kauch – wollen wir verstetigen undverrechtlichen. 1 Euro Förderung löst bis zu 10 Euro pri-vate Investitionen aus. Von einem Förderungsdschungelkann also keine Rede sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Deshalb begrüßen wir besonders, dass die Mittel für dasMAP im Haushaltsentwurf 2008 unter Hinzuziehungvon Erlösen aus dem Verkauf von Zertifikaten im Emis-sionshandel auf 350 Millionen Euro aufgestockt werden.Herr Kauch, wenn Sie meinen, dass das MAP überflüs-sig ist, dann müssen Sie das hier auch sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Als zweiten Punkt wollen wir die Effizienz der fossi-len Wärmeerzeugung und Wärmeverteilung verbessern;denn trotz der Verdoppelung des Einsatzes erneuerbarerEnergien auf dem Wärmesektor bis 2020 werden auchdann mehr als 85 Prozent der Wärme aus fossilen Pri-märenergieträgern gewonnen werden müssen. Natürlichmüssen wir auch hier technologische Weiterentwicklun-gen und höhere Effizienzen erreichen.

Drittens wollen wir die Wärme in Häusern und Woh-nungen besser halten. Deshalb begrüßen wir die erhebli-che Aufstockung der Mittel für das CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm auf insgesamt 5,6 Milliarden Euro imZeitraum von 2006 bis 2009.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Viertens. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammen-hang ist und bleibt das Investor-Nutzer-Dilemma inMietverhältnissen. Aufgrund der Vorgaben im Mietrechtkönnen Vermieter die notwendigen Investitionen einerSanierungsmaßnahme nur sehr begrenzt auf die Mieterumlegen. Den Profit einer Sanierungsmaßnahme habenaber die Mieter durch die sinkenden Nebenkosten. Hiermuss eine bessere Regelung her, weil es einen Sanie-rungsstau gibt. Ohne Zweifel ist es für den Mieter güns-tiger, die Investitionen in eine Wärmesanierung mitzufi-nanzieren, um danach davon zu profitieren, als aufgrundständig steigender Kosten jedes Jahr höhere Heizungs-rechnungen bezahlen zu müssen. Einen Sanierungs-zwang, über den in letzter Zeit diskutiert wurde, lehnenwir allerdings strikt ab.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Fünftens. Da, wo die Nachfrage nach Wärme und dieNachfrage nach Strom räumlich zusammenfallen, ist undbleibt die Kraft-Wärme-Kopplung die effizientesteTechnologie zur Umwandlung von Primärenergie. Des-halb unterstützen wir das Meseberg-Ziel, den KWK-Stromanteil bis 2020 zu verdoppeln. Bei einer Decke-lung der Umlage auf 750 Millionen Euro pro Jahr sollenausschließlich der Neubau und die Modernisierung vonAnlagen, die bei Inbetriebnahme das Hocheffizienzkrite-rium der KWK-Richtlinie erfüllen, gefördert werden. Esist unserer Meinung nach zu prüfen, ob es sinnvoll ist,den Betreibern großer Anlagen anstelle einer KWK-För-derung eine CO2-Gutschrift für vermiedenen Heizener-gieeinsatz zuzuweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir streben zudem höhere Anschlussquoten bei Fern-und Nahwärmenetzen an und wollen prüfen, wie bessere

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Dr. Maria Flachsbarth

Anreize für Bau bzw. Ausbau von Wärmeversorgungs-netzen gesetzt werden können. Ohne das sind die KWK-Ziele nicht zu erreichen. Dabei muss allerdings die na-türliche Konkurrenz zwischen Gas- und Wärmenetzin-frastruktur entsprechend den individuellen örtlichen Ge-gebenheiten entschieden werden.

Sechstens. Klimaschutz wollen wir mit verbessertenRahmenbedingungen für Energie-Contracting erreichen.Es bietet eine Win-win-Situation, wenn klimaschädlicheEmissionen, der Energieverbrauch sowie die Energie-kosten von Bestandsgebäuden mit marktwirtschaftlichenInstrumenten kurzfristig deutlich gesenkt werden kön-nen. Wir wollen dieses Potenzial durch ein Energie-Con-tracting-Beschleunigungsgesetz schnellstmöglich erschlie-ßen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Siesehen, dass die Koalitionsfraktionen und die Bundesre-gierung im Wärmebereich längst das umsetzen, was Siein Ihrem Antrag zu Recht fordern. Die Bundesregierungwird die Eckpunkte von Meseberg bis Anfang Dezember2007 in Gesetze gegossen haben. Dazu wird unter ande-rem ein Wärmegesetz gehören. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden es an den Eckpunkten messen, die ichIhnen vorgestellt habe, und dabei Wert darauf legen,dass es möglichst technikoffene Vorgaben gibt. Wir wol-len Ziele festsetzen, aber keine Wege vorschreiben.Wichtig für uns ist eine möglichst kosten- und energieef-fiziente CO2-Ersparnis.

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

Ihr Antrag hat sich damit erledigt. Ich lade Sie ein, mitauf unseren Weg zu kommen. Wir antworten pragma-tisch mit einem integrierten Wärmekonzept auf den Kli-mawandel und setzen einen umfassenden Instrumenten-mix ein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir Klimaschutz sozial gerecht gestalten wollen,brauchen wir insbesondere im Wärmesektor das Ord-nungsrecht. Herr Kollege Kauch, ich glaube, nachdemich Ihren Beitrag dazu gehört habe, dass das bei der FDPnoch nicht angekommen ist.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es ist die Frage, wie man das definiert!)

Außerdem gilt: Bester Garant für bezahlbare Energie istder konsequente Ausbau der erneuerbaren Energien.Wirksamer Klimaschutz ist nur mit klaren Vorgaben zuerreichen; denn bei Selbstverpflichtungen – das kennenwir insbesondere aus der Industrie – passiert erst einmal

gar nichts. Förderprogramme erreichen die Bürgerinnenund Bürger mit geringem Einkommen erst gar nicht. DerWärmebereich ist dafür ein gutes Beispiel: Bei rasantsteigenden Heizkosten machen sich Sonnenkollektorenschnell bezahlt. Das Marktanreizprogramm für Solar-wärme fördert aber bisher zu fast 100 Prozent nur Häus-lebauer, was natürlich auch gut ist. Mieter profitierenkaum; denn die Wohnungswirtschaft sieht keinen An-lass, die Heizkosten der Mieter zu senken. Daran ändertübrigens auch der weichgespülte Energiepass nichts, densich die Bundesregierung abgerungen hat. Der Punkt ist:Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger sind in derRegel Mieter in schlecht sanierten Wohnungen.

Umso mehr begrüßen wir, dass die Grünen mit ihremAntrag und nun auch die Bundesregierung der Links-fraktion folgen und konsequent auf einen ordnungsrecht-lichen Rahmen setzen. Der mittlerweile vorliegende Re-ferentenentwurf der Bundesregierung zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz ist also ein Schritt in die richtigeRichtung. Allerdings zeigt uns die Erfahrung, dass es beidieser Großen Koalition noch ein weiter Weg bis zu ei-nem Gesetz ist. Ich habe mit Aufmerksamkeit vernom-men, dass wir damit noch bis zum Dezember wartenmüssen. Ich hoffe, wir müssen nicht noch länger warten.

Deshalb an dieser Stelle einige Eckpfeiler, an denenein glaubwürdiges Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzfestzumachen ist: Erstens. Es müssen alle Gebäude indie Pflicht genommen werden, und zwar ohne Aus-nahme. Das gilt vor allem für die Wohnungswirtschaft.Zweitens. Der Mindestanteil erneuerbarer Energienmuss einen deutlichen Klimaschutzbeitrag leisten. Drit-tens. Erneuerbare Wärmeenergien haben Vorrang vorWärmedämmung.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warum?)

Wenn sie den nicht haben, dann müssen die Ersatzmaßnah-men hohe Anforderungen wie den Passivhausstandard er-füllen. Viertens. Bei erneuerbaren Energien eingesetzteTechniken müssen ein echtes CO2-Minderungspotenzialhaben und auch dementsprechend angerechnet werden.Fünftens. Auch Nah- und Fernwärmenetze sollen nachdem Anteil eingespeister erneuerbarer Energien bewertetwerden.

Auch wenn wir nicht mit allen Inhalten des Grünen-Antrags übereinstimmen, so ist er doch ein Faustpfand;denn beim EEG-Entwurf der Bundesregierung kommt,wie wir das in der Vergangenheit schon oft erlebt haben,jetzt erst einmal der Weichspülgang. Mal sehen, was da-von übrig bleibt. Deswegen werden wir Linke dem An-trag der Grünen in diesem Fall zustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.

(Beifall bei der SPD)

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Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desrepublik Deutschland hat sich im Rahmen der euro-päischen Beschlüsse zur Klima- und Energiepolitik ver-pflichtet, bis zum Jahr 2020 einen Anteil von 20 Prozenterneuerbarer Energien in Europa durchzusetzen. Um die-ses europäische Ziel zu erreichen, hat die Bundesregie-rung in Meseberg beschlossen, erstens den Anteil dererneuerbaren Energien am Strommarkt auf 25 bis 30 Pro-zent zu erhöhen – bislang war das Ziel lediglich20 Prozent –, zweitens den Anteil der Biokraftstoffe bis2020 auf 20 Volumenprozent anzuheben – das bedeutet17 Prozent am Energiegehalt; bisher gab es nur eineZielsetzung von 5,75 Prozent bis 2010 – und drittens –darum geht es heute – den Anteil erneuerbarer Energienam Wärmemarkt auf 14 Prozent bis 2020 zu steigern;bislang liegt dieser Anteil bei 6 Prozent.

Das Erreichen dieser nationalen Ziele ist die Voraus-setzung, um die internationalen Ziele der EuropäischenUnion erreichen zu können. Für den Strommarkt berei-ten wir die Novelle des EEG vor, die das Bundeskabinettnoch in diesem Jahr verabschieden wird, für die Zieleder Biokraftstoffe haben wir das Biokraftstoffquotenge-setz, und um die Ziele am Wärmemarkt zu erreichen,will das Bundeskabinett am 5. Dezember den Entwurfeines Wärmegesetzes für erneuerbare Energien verab-schieden und dem Parlament zuleiten. Derzeit befindenwir uns in der Ressortabstimmung.

Kernpunkte des Gesetzes sind erstens das Regelwerkdes Ordnungsrechts und zweitens die Förderung. HerrKauch, eine andere Möglichkeit, Politik zu machen, alsdurch eine Mischung aus Ordnungsrecht und Förderungkenne ich nicht. Ihr Vorschlag ist auch Ordnungsrecht.Sie regen an, den Mineralölkonzernen vorzuschreiben,einen Anteil von Bioöl oder Bioenergie einzusetzen. Dasist auch Ordnungsrecht; das ist auch Bürokratie; das istauch Gesetzgebung.

(Michael Kauch [FDP]: Ja, aber nicht für die ganze Bevölkerung!)

– Das Problem ist nur: Der Vorschlag ist nicht durch-dacht. Wenn Sie ihn umsetzen, müssen Sie entweder zu-lassen, dass massiv Biomasse aus anderen Ländern hier-herkommt – im Zweifel aus Palmöl oder Sojaöl, für diedie Regenwälder abgeholzt wurden –, oder Sie müssenzulassen, dass es in Deutschland zu einer weiteren Ver-schärfung der Nutzungskonkurrenzen kommt. Denn wirhaben nicht genug Anbaufläche für Biomasse zur Strom-erzeugung, zur Kraftstofferzeugung und zur reinen Ver-brennung zur Wärmeerzeugung. Sie werden also einemassive Nutzungskonkurrenz herbeiführen, und Siemüssen irgendwann entscheiden, was die effizientesteForm der Biomassenutzung ist, wenn Sie nur eine be-grenzte Anbaufläche zur Verfügung haben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Minister Gabriel, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kauch?

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Wenn ich den Satz zu Ende gesprochen habe, gerne,Herr Präsident. – Die effizienteste Form der Biomasse-nutzung ist eben nicht, Biomasse einfach zu verbrennen– das schlagen Sie vor –, sondern Kraft-Wärme-Kopp-lung damit zu betreiben oder Kraftstoffe daraus zu ma-chen, insbesondere Biogas zu nutzen, und bei der Strom-erzeugung die Grundlastfähigkeit der regenerativenEnergien zu erreichen. Sie wollen, dass ein Riesenanteilschlicht und ergreifend verbrannt wird. Das ist ineffizi-ent; das führt zu Konkurrenzen mit Nahrungsmitteln; soviele Flächen haben Sie nicht. Deshalb ist der Vorschlagundurchdacht, Herr Kauch. Das ist alles, was man dazusagen kann.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derLINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Der ist ideo-logisch pur, der Vorschlag! Das ist wichtiger!)

Michael Kauch (FDP): Herr Minister, erlauben Sie mir den Hinweis, dass Ih-

nen Ihre Referenten unseren Antrag möglicherweisefalsch zusammengefasst haben. Vielleicht habe ich ihnauch nicht richtig vorgetragen. Ich möchte Sie daraufhinweisen – gerade habe ich versucht, das deutlich zumachen –, es geht uns nicht darum, dass die Brennstoff-händler beispielsweise eine Quote Biogas oder Bioheiz-stoffe aus Biomasse dort einspeisen müssen. Vielmehrwollen wir Nachweise handeln. Das heißt, wenn jemandetwa eine Solarthermieanlage auf einem Haus betreibt,kann er sich das zertifizieren lassen und mit diesenNachweis handeln, Stichwort: Zertifikatehandel, wie Siedas von der FDP kennen.

(Ulrich Kelber [SPD]: Ganz unbürokratisch!)

Es geht uns darum, dass es Biomasse sein kann, aberauch Erdwärme oder Solarthermie. Deshalb wäre esschlimm, wenn wir das, was Sie beschreiben, vorschla-gen würden. Das tun wir aber nicht.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Herr Kollege Kauch, es mag sein, dass Sie Ihren An-trag in Ihrer Rede verkürzt vorgestellt haben. Sie habenaber gesagt, dass Sie auf einen bestimmten Anteil vonBiomasse setzen wollen. Ich habe gerade bei Ihrem Vor-trag im Rahmen Ihrer Zwischenfrage überlegt, welcheBürokratie Ihr Vorschlag auslösen würde.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ja unglaublich. Ich bin doch dafür, es so zumachen, wie wir es derzeit diskutieren, nämlich erstenseine Nutzungspflicht für erneuerbare Energien bei derWärmeerzeugung in Neubauten und bei grundlegendenSanierungen in Altbauten – nur dann, wenn es wirt-schaftlich zumutbar ist; anders wäre es rechtlich nichtdarstellbar – und zweitens eine Wahlfreiheit zwischenden unterschiedlichen Formen der Nutzung erneuerbarerEnergien, ausgenommen das schlichte Verbrennen. Da-für habe ich eben die Gründe genannt.

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Bundesminister Sigmar Gabriel

Wahlfreiheit gibt es auch bei Erfüllung der Vorschriftenzur Energieeinsparung in der Energieeinsparverordnungdurch Wärmedämmung oder der Nutzung erneuerbarerEnergien. Dazu ist es allerdings notwendig, eine enge Ver-zahnung des Wärmegesetzes für erneuerbare Energien mitder Energieeinsparverordnung herzustellen.

Die Energieeffizienz bei Neubauten und bei der grund-legenden Sanierung in Altbauten soll nach Willen derBundesregierung in dieser Verordnung um 30 Prozent an-gehoben werden. Wer erneuerbare Energien nutzt, mussseine Energieeffizienz dann nur um 15 Prozent steigern.Wer allerdings keine erneuerbaren Energien nutzt, dermuss die Energieeffizienz gegenüber dem heutigen Ni-veau um 45 Prozent steigern.

Wenn öffentlich gesagt wird, es gebe keine Wahlfrei-heit, dann ist das schlicht falsch. Wenn wir allerdings dievöllige Freiheit der Wahl zwischen Energieeffizienzstei-gerung durch Wärmedämmung und erneuerbaren Ener-gien schaffen und somit keine Verzahnung herstellenwürden, dann würden wir die europäischen und auch dienationalen Ziele beim Ausbau der erneuerbaren Ener-gien im Wärmebereich nicht erreichen.

Viel wichtiger ist: Würden wir darauf verzichten, dasvorzuschreiben, würden wir dazu beitragen, dass wir denErfolgskurs der Schaffung neuer Arbeitsplätze auf demStrommarkt im Bereich des Wärmemarktes nicht fortset-zen können. Herr Kauch, das ist übrigens mein größterVorwurf gegenüber Ihrem Programm. Schon heute gibtes auf diesem Gebiet 235 000 neue Arbeitsplätze – profi-tiert hat davon insbesondere der Strommarkt – dank ge-sicherter Rahmenbedingungen für Industrie und Hand-werk. Durch die Umsetzung Ihrer Vorschläge würdenkeine gesicherten Rahmenbedingungen für Industrie undHandwerk geschaffen. Würden wir Ihren Vorschlägenfolgen, Herr Kauch, würde das dazu führen, dass wir aufdie Chance, auf dem Wärmemarkt zusätzlich 200 000neue Jobs zu schaffen, verzichten.

(Beifall bei der SPD)

Das ist es, was uns dazu bewegt, nicht mitzumachen.

Wir sehen darüber hinaus eine verlässliche Förderungder Investitionen zur Umsetzung der Gesamtmaßnahmennach dem Wärmegesetz vor, wenn der Eigentümer seineNutzungspflicht freiwillig übererfüllt. Dies wird in derRegel natürlich schon dann der Fall sein, wenn er bei-spielsweise eine Wärmepumpe nutzt; schließlich wird ernicht 15 Prozent seiner Heizungsanlage austauschen,sondern 100 Prozent. Dafür müssen die entsprechendenMittel zur Verfügung stehen.

Herr Kauch, Ihre Argumentation ist problematisch:Hier fordern Sie öffentlich, erneuerbare Energien stärkerzu fördern. Im Haushaltsausschuss treten Sie allerdingsdafür ein, die Mittel der Auktionierung zur Senkung derStromsteuer zur Verfügung zu stellen. Das heißt, Sie se-hen gar keine Möglichkeit vor, Markteinführung zu be-treiben. Die Finanzierung des Markteinführungsinstru-ments, dessen Richtigkeit Sie gelegentlich öffentlichfeststellen, soll durch die Mittelkürzungen, die IhreFraktionskollegen im Haushaltsausschuss vorschlagen,

zusammengestrichen werden. Das eigentlich Problema-tische an Ihren Vorschlägen ist, dass Sie sich als Um-weltpolitiker gegen die Finanz- und OrdnungspolitikerIhrer Fraktion in der Regel nicht durchsetzen können.

(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay-reuth] [FDP]: Das soll bei der Großen Koali-tion gelegentlich auch vorkommen!)

Übrigens sind die 350 Millionen Euro aus der Auktio-nierung eine Erhöhung um fast 200 Prozent gegenüberder 2005 im Marktanreizprogramm bewilligten Größen-ordnung der Mittel. Das ist eine deutliche Aufstockung.

Entscheidend wird allerdings nicht sein, was wir insGesetz schreiben, sondern das, was am Ende umgesetztwird. Da haben wir erhebliche Probleme – das solltenwir zugeben –, weil wir in den Ländern und in den Kom-munen ein Vollzugsdefizit haben. Übrigens liefert auchder Bund Beispiele dafür, dass er bei grundlegenden Sa-nierungen nicht einmal die geltende Energieeinsparver-ordnung beachtet, weil niemand mehr ihre Einhaltungkontrolliert.

Wir werden deshalb überlegen müssen, wie wir dieEinhaltung der wichtigen gesetzgeberischen Vorgabenfür den Klimaschutz und eine größere Versorgungsunab-hängigkeit gewährleisten können. Manche unserer aufEntbürokratisierung ausgerichteten Maßnahmen der Ver-gangenheit haben im Ergebnis dazu geführt, dass keinermehr kontrolliert, ob die gesetzgeberischen Vorgabeneingehalten werden. Das ist eines der Probleme, vor de-nen wir stehen.

Wir werden wahrscheinlich auch darüber nachdenkenmüssen, wie wir beispielsweise durch eine stärkere Ein-beziehung des Schornsteinfegerhandwerks Beratung undDurchsetzung der entsprechenden gesetzgeberischenVerordnungen in der Praxis umsetzen können. Hier seheich das größte Defizit. Gespräche mit Handwerksmeis-tern zeigen: Wenn das, was wir ins Gesetz schreiben – eskann alles Mögliche sein –, nicht durchgeführt wird,dann haben wir mit Zitronen gehandelt. Deswegen soll-ten wir in den Beratungen viel Augenmerk darauf legen,wie wir etwas zustande bringen wollen.

Was die grundlegenden Sanierungen angeht: Wennwir den „Kesselaustausch“ nicht allein betrachten könn-ten, wenn vielmehr immer erst umfangreiche weitereBaumaßnahmen hinzukommen müssen, dann würdenwir unsere Vorgaben nicht einhalten. Der Teufel stecktalso auch bei diesem Thema im Detail. Wir verfolgenmit der Verabschiedung des Wärmegesetzes drei Zielset-zungen: Klimaschutz, mehr Unabhängigkeit von Ener-gieimporten, insbesondere hinsichtlich Gas, und dieSchaffung von bis zu 200 000 neuen Arbeitsplätzendurch die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte im Bereichder erneuerbaren Energien. Ich hoffe, dass wir in denBeratungen dieses Gesetzentwurfs vor allen Dingen diepraktischen Probleme werden lösen können.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Göppel von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Josef Göppel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

wollen bei diesem Thema, dem Wärmegesetz, jetztTempo machen. Ich höre nun vom Minister Gabriel, dassder Entwurf noch in der Ressortabstimmung ist. Wennman da genauer hinschaut, merkt man: Da gibt es einenKonflikt zwischen den Wohnungspolitikern und denBauleuten, vor allem denen im Verkehrsministerium.

(Ulrich Kelber [SPD]: Das Wirtschaftsministe-rium ist auch dabei! – Renate Künast [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Seien Sie mal ganzehrlich! Sie sind doch sonst so ehrlich! DasProblem heißt Glos!)

– Das ist auch dabei, Kollege Kelber. Es gibt sogarLeute, die heute in der Presse sagen, dass sie den Ent-wurf ablehnen, obwohl er noch gar nicht da ist. Wenn je-mand Presseerklärungen abgibt, ohne mit den Leuten derzuständigen Arbeitsgruppe zu reden, nehmen wir dasnicht besonders ernst.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen bei diesem Gesetz Tempo machen, weil esfür das Handwerk und für den Klimaschutz viel bringt.Der Entwurf, so wie er jetzt vorgesehen ist, nimmt auchRücksicht auf die sozialen Belange. Uns als Unionsfrak-tion ist wichtig, Akzeptanz für den Klimaschutz dadurchzu erreichen, dass wir die soziale Situation der Men-schen, zum Beispiel älterer Hauseigentümer, berücksich-tigen.

Deswegen ist der Punkt „Abstimmung des Verhältnis-ses zwischen Mietern und Vermietern“, den meine Kol-legin Flachsbarth angesprochen hat, so wichtig. Dafürgibt es in der Praxis Lösungen. Wir als Bundestag kom-men nicht darum herum, die rechtlichen Voraussetzun-gen dafür zu schaffen, dass die Investitionskosten derHauseigentümer sich auf die Miete umlegen lassen. Ichdenke, das Gerechteste wäre, den Umlegungszeitrauman den Zeitraum zu binden, in dem sich die Investitions-kosten amortisieren. Das ist ein Prinzip, das klar unddurchsichtig ist und das für Vermieter und Mieter Ge-rechtigkeit schafft.

Die Punkte, die uns als Unionsfraktion wichtig sind– ich nenne sie noch einmal –, sind bestimmte Pflichtenfür Neubauten und die verstetigte Förderung. Ich möchtemich an dieser Stelle bei unserem Koalitionspartner be-danken, dass er vom Umlageverfahren abgegangen ist,weil es auf diese Weise möglich war, die Zustimmungder gesamten Unionsfraktion zu erreichen.

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

Das ist jetzt, denke ich, eine ausgewogene Lösung.

Die Vorschläge, die Sie, Kollege Kauch, gemacht ha-ben, sind generell mehrfach auch für den Emissionshan-del unterbreitet worden. Ich will nicht in Abrede stellen,

dass man sich vorstellen kann, den gesamten Emissions-handel am Import fossiler Stoffe sozusagen aufzuhän-gen. Nur, da gibt es die Unwucht – wir beide haben esschon mehrfach diskutiert – zwischen Heizungsenergieund Mobilitätsenergie. An diesem Problem scheitert dieUmstellung in der konkreten politischen Praxis.

Ich denke, die Argumente für unseren Weg beimWärmegesetz, die Minister Gabriel hier vorgetragen hat,sind zugkräftig, wenn wir es schaffen, die verstetigteFörderung ins Gesetz zu bringen.

So wie wir im KWK-Gesetz eine Summe von750 Millionen Euro pro Jahr festgelegt haben, so müssenin diesem Gesetz 350 Millionen Euro stehen, damit derMarkt sich darauf einstellen kann und wir von dem Raufund Runter wegkommen; Kollege Becker, das haben Sierichtig gesagt. Es braucht Stetigkeit in der Förderung desMarktanreizprogramms, damit die zusätzlichen 200 000Arbeitsplätze wirklich kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wenn ich in meinem Wahlkreis herumfrage, sagenalle Handwerker: Das ist Auftragsvolumen für das örtli-che Handwerk. Das können nicht internationale Baulö-wen erledigen. Das ist Auftragssumme und Wertschöp-fung für das örtliche Handwerk. Deswegen liegen wirmit diesem Konzept richtig: eine ordnungspolitischeVorgabe für die Neubauten und eine verstetigte Förde-rung.

Ich möchte allerdings einen Punkt aus Ihrer Rede,Herr Kollege Gabriel, noch aufgreifen, nämlich dieFrage des Einsatzes von Biogasen und Pflanzenöl beiKraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Ich bin sehr dafür,dass wir deutliche finanzielle Anreize zum Einsatz klei-ner Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen in diesem Gesetzverankern, aber ich würde es im Hinblick auf ländlicheRäume nicht völlig ausschließen wollen, dass auch ein-mal unmittelbar Gas aus der Biogasanlage oder örtlicherzeugtes Pflanzenöl zum Heizen verwendet wird. Ichwürde mir da eine kleine Öffnungsklausel wünschen.Wir müssen das Gesetz so anlegen, dass die Akzeptanztatsächlich in allen Regionen und unter allen Lebensum-ständen gegeben ist. Wir werden mit diesem Gesetz Er-folg haben, damit den Klimaschutz in Deutschland vo-ranbringen und neue Arbeitsplätze schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Hans-Josef Fell von Bündnis 90/Die Grünendas Wort.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Seit fast zwei Jahren wartet Deutschland aufein Wärmegesetz für erneuerbare Energien. Trotz groß-spuriger Ankündigungen im Koalitionsvertrag hat dieGroße Koalition bis heute kein Wärmegesetz zuwege ge-bracht. Das ist typisch für den Regierungsstil von Frau

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Merkel und Umweltminister Gabriel im Klimaschutzbe-reich: viel Rhetorik, aber Versagen beim Handeln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi-derspruch bei der CDU/CSU und der SPD)

Auch die heutigen Ankündigungen von Frau Flachsbarthund Herrn Becker, zum Frühjahr 2008 endlich ein Wär-megesetz aufzulegen, sind nicht glaubhaft; denn imHandelsblatt von heute sind Ausführungen von FrauReiche zu lesen, in denen sie all das wieder infrage stellt,was Sie beschlossen haben.

Dabei geben die Branchenzahlen eine eindeutige Ant-wort auf Ihr Nichtstun. Der Binnenmarkt für Sonnenkol-lektoren ist in Deutschland im ersten Halbjahr 2007 um35 Prozent eingebrochen, der für Biogas- und Holzpel-letsanlagen sogar um 50 Prozent. Die Nutzung der Tie-fenerdwärme kommt weiterhin nur schleppend in Gang.Angesichts dieser Probleme können wir nicht bis zumnächsten Frühjahr warten; denn die Wärmeerzeugungverursacht etwa 25 Prozent aller CO2-Emissionen inDeutschland. Gleichzeitig wissen viele Bürgerinnen undviele Bürger nicht mehr, wie sie die steigenden Preise fürkonventionelle Energie bezahlen sollen. Der Weltölpreisbewegt sich seit kurzem auf Rekordniveau; er schwanktum 80 Dollar pro Barrel. Die abzusehende Verknappungbei Erdöl und Erdgas wird die Preise weiter nach obentreiben.

Erneuerbare Energien und Energieeinsparmaßnahmensind die Antwort auf steigende Energiepreise, auf Kli-mazerstörung und Verknappung sowie auf die zuneh-menden politischen Risiken bei der Versorgung mitErdöl und Erdgas. Doch die Große Koalition tut, abgese-hen von Ankündigungen, nichts, um den Einbruch imMarkt für erneuerbare Wärmeenergien zu verhindern.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie nimmt offensichtlich sogar billigend Konkurse vonProduzenten in Kauf. Gleichzeitig rühmen Sie sich,mehr Haushaltsmittel im Bereich der Energieeinsparungfür das von Rot-Grün initiierte Gebäudesanierungspro-gramm bereitgestellt zu haben. Doch Sie haben gleich-zeitig die Förderbedingungen so verschlechtert, dass esauch hier einen unglaublichen Markteinbruch gegebenhat: Die Nachfrage nach Altbausanierungsmitteln istnämlich um 65 Prozent im ersten Halbjahr 2007 zurück-gegangen.

Nein, meine Damen und Herren, aktive und verant-wortungsvolle Klimaschutzpolitik sieht anders aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt bei Ihnen eine himmelschreiende Diskrepanzzwischen Worten und Taten. Ich frage mich, warum er-höht die Öffentlichkeit nicht den Druck, damit den Kli-maschutzworten der Bundesregierung endlich auch Kli-maschutztaten folgen.

(Dirk Becker [SPD]: Weil sie es anders sieht als Sie!)

In Meseberg hat die Große Koalition erneut beschlos-sen, ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz einzubrin-

gen. Da müssen Sie sich doch fragen lassen, warum Siedort Beschlüsse über Sachverhalte fassen, die Sie bereitsvor zwei Jahren im Koalitionsvertrag festgeschriebenhaben, aber noch nicht umgesetzt haben.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Weil man nicht alles in zwei Jahren abarbeiten kann!)

Es ist allerdings interessant, dass Sie mit dem ordnungs-rechtlichen Ansatz wichtige Grundsätze für ein Erneuer-bare-Energien-Wärmegesetz im Meseberger Beschlussgenauso gefasst haben, wie wir Grünen in dem Antrag,der der heutigen Debatte zugrunde liegt.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Sage ich doch: Wir sind viel weiter, als Sie glauben!)

Sie wollen Bauherren verpflichten, bei allen Neubau-ten und Altbausanierungen einen festgelegten Anteil fürerneuerbare Energien zu verwenden. Richtig so! Wir ha-ben das längst vorgeschlagen. Aber warum lehnen Siedann unseren Antrag ab? Im Umweltausschuss konntenSie keinen einzigen stichhaltigen Grund für Ihre Ableh-nung nennen.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das hat noch nie gestört!)

Aber bei genauerem Hinsehen wird mir das klar: Sie ha-ben eine so große Menge von Ausnahmetatbeständenformuliert, dass Ihr Vorschlag für ein Erneuerbare-Ener-gien-Wärmegesetz nach Ihren Vorstellungen ohne nen-nenswerte Wirkung bleiben würde.

(Dirk Becker [SPD]: Das steht in Ihrem An-trag auch drin!)

Die heutigen Einwände von Frau Reiche sollen offenbaralle wirksamen Maßnahmen für erneuerbare Energienendgültig verhindern.

Der Vorschlag des Ministers strotzt doch nur so vonAusnahmen von der Baupflicht, sodass die Umsetzungvon vornherein ausgehöhlt wird. So werden Sie ein Er-neuerbare-Energien-Wärmegesetz gestalten, wie Sieauch das Marktanreizprogramm bisher gestaltet haben,nämlich fast wirkungslos mit Produktionsrückgängenund ohne verlässliche Rahmenbedingungen für eineBranche, die eigentlich wachsen will und wachsen muss.Mit häufigen Haushaltsstopps, laufend veränderten För-derbedingungen und zu geringen Haushaltsmitteln imMarktanreizprogramm haben Sie den Ausbau der Bran-che richtiggehend verhindert. So werden Sie Ihre Klima-schutzziele nicht erreichen. Mit einem Ziel von14 Prozent Anteil erneuerbarer Energien an der Wärme-versorgung bis 2020, Herr Gabriel, liegen Sie weit unterden Möglichkeiten. Wir Grünen haben in unseremEnergiekonzept 2.0 nachgewiesen, dass das Doppeltemöglich ist.

Herr Bundesminister Gabriel, wir haben die Nase vollvon Ihren schönen Worten und vollmundigen Reden fürerneuerbare Energien.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Statt für die Kohle zu kämpfen, ist es Zeit, zu erneuerba-ren Taten zu schreiten. Bevor Sie als Verantwortlicher

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für viele Konkurse in der Branche der erneuerbarenEnergien in die Geschichte eingehen werden,

(Dirk Becker [SPD]: Meine Güte!)

rate ich Ihnen, endlich Hand anzulegen. Die Einbrüchein der Branche der erneuerbaren Energien im Jahre 2007sprechen doch für sich. Nehmen Sie sie ernst; ansonstensetzen Sie Hunderttausende Arbeitsplätze aufs Spiel,statt 200 000 neue zu schaffen, wie wir das eigentlichgemeinsam wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitzu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitdem Titel „Einführung eines Erneuerbare Energien Wär-megesetzes – EEW“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/5361, den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/3826 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union (21. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund SPD

Regierungskonferenz zur Änderung der ver-traglichen Grundlagen der EuropäischenUnion und Unterrichtung der Bundesregie-rung entsprechend Ziffer VI der Vereinba-rung zwischen Deutschem Bundestag undder Bundesregierung über die Zusammenar-beit in Angelegenheiten der EuropäischenUnion

– zu dem Antrag der Abgeordneten MarkusLöning, Dr. Werner Hoyer, Michael Link (Heil-bronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

EU-Regierungskonferenz schnell zum Erfolgführen

– zu dem Antrag der Abgeordneten RainderSteenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

EU-Regierungskonferenz – Für eine hand-lungsfähige und demokratische EU

– Drucksachen 16/6399, 16/5882, 16/5888,16/6632 –

Berichterstattung:Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth (Heringen)Markus Löning Alexander Ulrich Rainder Steenblock

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibtes Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dannist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeierdas Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Im vergangenen Jahr hatte ich für die Botschaf-terkonferenz Jean-Claude Juncker zum Thema „Europäi-sche Verfassung“ eingeladen. Ich erinnere mich nochsehr genau, was er gesagt hat, nämlich dass das Problemmit der europäischen Verfassung sei, dass sie für 50 Pro-zent der Europäer zu viel Europa enthält und für dieanderen 50 Prozent zu wenig Europa. Ich glaube, tref-fender konnte man das Dilemma, in dem wir im vergan-genen Jahr waren, nicht beschreiben.

Noch besser erinnere ich mich an das Jahr 2005, alsnach den zwei verlorengegangenen Referenden inFrankreich und den Niederlanden Europa sozusagen flä-chendeckend von Katerstimmung erfasst war.

Warum sage ich das? Um endlich einmal den Blickdafür freizumachen, wo wir heute stehen.

Vor einem Jahr sagten viele noch: Die Reform ist tot. –Heute stehen wir kurz vor dem Abschluss einer Regie-rungskonferenz, auf der dann über den Reformvertragder Europäischen Union entschieden werden soll, einenVertrag, der endlich den Weg frei macht für die notwen-dige Runderneuerung unserer Arbeitsgrundlagen inEuropa.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dass wir das geschafft haben, darauf können wir inder Tat miteinander stolz sein. Das ist unser gemeinsa-mes Verdienst. Als Präsidentschaft ist es der Bundesre-gierung gelungen, dem Prozess der Vertragsreformneuen Atem einzuhauchen. Mit dem Einigungswillen al-ler Mitgliedstaaten gelang es, beim Europäischen Rat imJuni in Brüssel ein umfassendes politisches Mandat zuverabschieden.

Ich will an dieser Stelle im Hohen Hause nicht ver-gessen, eines zu erwähnen: Wir konnten auch nur des-halb so offensiv und auch so entschlossen auf der euro-päischen Ebene verhandeln, weil wir uns jederzeit derUnterstützung des Deutschen Bundestages und auch des

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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier

Bundesrates sicher sein konnten. Deshalb gilt: Wenn diepolitische Einigung beim informellen Treffen der Staats-und Regierungschefs in Lissabon gelingt, dann ist dasunser gemeinsamer Erfolg. Dafür mein aufrichtiger undherzlicher Dank Ihnen allen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich habe nicht vergessen, dass wir bei alldem in derTat Abstriche machen mussten. Wir mussten auf dasKonzept einer Verfassung und den entsprechenden Titelverzichten. Wir haben es entgegen unserer Vorstellungnicht hinbekommen, die Grundrechtecharta in den Ver-trag aufzunehmen. Immerhin ist es uns gelungen, ihreRechtsverbindlichkeit festzuschreiben. Wir haben auchhinnehmen müssen, dass die Einführung der doppeltenMehrheit erst verzögert stattfindet. Dies waren schmerz-liche Kompromisse, die aber notwendig waren – ich binmir sicher, die meisten von Ihnen sehen das genauso –,um die Gesamteinigung, um die es ging, zu erreichen.

Schwerer wiegt in meinen Augen, dass es uns mit die-sen schmerzlichen Kompromissen gelungen ist, die we-sentliche Substanz der Verfassung zu erhalten und dieVoraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Handlungs-fähigkeit der Europäischen Union gestärkt wird.

(Beifall des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])

Nicht nur ich, sondern auch viele andere, die für unserLand auf Brüsseler Ebene verhandelt haben, haben gera-dezu penetrant den Satz wiederholt: „Die Welt wartetnicht auf Europa.“ Dieser Satz hat seine Richtigkeit mitBlick auf die aufstrebenden Mächte in Ostasien, Chinaund Indien, behalten. Die wirtschaftlichen und politi-schen Gewichte in der Welt verschieben sich durchaus.Das macht deutlich, wie wichtig es war, dieses Eini-gungswerk in Europa durchzusetzen. Rückblickendmuss man sagen, dass diese Einigung ohne Alternativewar.

Diese europäische Reform macht uns handlungsfähi-ger beim Klimaschutz, bei der Energieversorgung undbeim Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Alldas erfordert ein Europa, das einig und geschlossen ist.Dazu brauchen wir erneuerte Arbeitsgrundlagen, zumalwir jetzt ein Europa der 27 haben.

Lassen Sie mich noch ein paar Punkte aufzählen, dieich zu den Fortschritten zähle: der – wenn ich so sagendarf – hauptamtliche Präsident des Europäischen Rates,wodurch mehr Kontinuität in der Zukunft gesichert wird;die Aufwertung des Hohen Repräsentanten für Außen-und Sicherheitspolitik, was aus meiner Perspektive be-sonders wichtig ist; mehr und dadurch erleichterte Ab-stimmungen in den europäischen Gremien mit qualifi-zierter Mehrheit; die Einführung der doppelten Mehrheitund schließlich die Verkleinerung der Kommission. Dassind fünf Punkte, über die Einigung erzielt wurde unddie aus meiner Sicht deutlich machen, wie wertvoll dieseEinigung tatsächlich war.

Ich will nicht vergessen, dass auch die Rechte des Eu-ropäischen Parlaments und die der nationalen Parla-

mente deutlich gestärkt worden sind. Ich komme zu demErgebnis, dass trotz aller Schwierigkeiten und trotz allenRingens, das wir hinter uns haben, die demokratischeLegitimation Europas am Ende dieses Prozesses gestärktwird.

Ich weiß, dass wir gemeinsam mit Ihnen – sozusagenim Vorgriff auf die Vertragsreform – eine Vereinbarungzwischen Bundesregierung und Bundestag geschlossenhaben. Ich erinnere mich – Herr Löning, Sie werdengleich darauf zurückkommen –,

(Markus Löning [FDP]: Davon können Sie ausgehen!)

dass es am Anfang etwas geruckelt hat. Ich bin mir abersicher, dass sich das im Vorgriff Vereinbarte etablierenwird. Bevor Sie das gleich monieren, sage ich Ihnen vonhier aus: Das, was ich tun kann, um diese Vereinbarungmit Leben zu erfüllen, will ich gerne tun.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind noch nicht ganz am Ende. Sie alle kennenden Gang der Verhandlungen bei der Regierungskonfe-renz, die nun unter portugiesischer Ratspräsidentschaftstattfindet. Sie wissen, dass die entscheidenden Voraus-setzungen für den Erfolg dieser Regierungskonferenzsind, dass wir im Juni ein klares, sehr detailreiches poli-tisches Mandat beschlossen haben und die portugiesi-sche Ratspräsidentschaft danach einen sehr ehrgeizigen– um nicht zu sagen: straffen – Zeitplan gesetzt hat. Dashatte immerhin zur Folge, dass jetzt ein erster vollständi-ger Vertragsentwurf vorliegt, der auf der Rechtsexper-tenebene gebilligt wurde. Ich denke, die Ergebnisse wur-den Ihnen in den letzten Tagen zugestellt. DieserEntwurf ist alles in allem kein Werk geworden – ich wargestern auf der Buchmesse –, das für den Literaturnobel-preis infrage kommt; aber das ist ein sorgfältig ausbalan-cierter Text, mit dem das politische Mandat vom Junisehr korrekt umgesetzt wurde. Deshalb bin ich fürs Erstesehr zufrieden damit.

Sie wissen, dass einige über das Mandat hinausge-hende Wünsche haben. Wir werden diese Wünsche aufdem nächsten Allgemeinen Rat der europäischen Außen-minister in der kommenden Woche zu beraten haben. Ichkann nicht ausschließen, dass einiges davon das Treffender Staats- und Regierungschefs erreichen wird. Deshalbsage ich: Wir sind zwar noch nicht am Ziel, aber so nahedran wie jetzt waren wir im gesamten Prozess noch nie.Deshalb bin ich optimistisch, dass die Einigung gelingenwird.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so-wie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn sie gelingt – damit komme ich zum Schluss –,sollten wir zusehen, dass die Verträge noch in diesemJahr, und zwar vor Weihnachten unter portugiesischerRatspräsidentschaft unterzeichnet werden, damit genü-gend Zeit bleibt, um das Ratifizierungsverfahren vor denEuropawahlen 2009 durchzuführen. Ich würde mich sehrfreuen, wenn Deutschland mit einer raschen Ratifizie-

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rung modellhaft voranginge. Ich hoffe, das gelingt unsgemeinsam.

Weniger an dieses Hohe Haus gerichtet als an mancheeuropäische Nachbarn, die hinsichtlich Veränderungenam Text noch Erwartungen haben, sage ich: Wenn wirdiese Chance in Europa verpassen, dann werden wir soschnell keine neue bekommen. Aber eben weil das allewissen, bin ich zuversichtlich, dass die Einigung gelingt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Markus Löning von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Markus Löning (FDP): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Kolle-

ginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Lobbeginnen: Herr Steinmeier, der Bundesregierung ist es inder Tat gelungen, einen europäischen Sack Flöhe zusam-menzubinden und zum Abschluss eines schwierigen Pro-zesses entscheidend beizutragen. Dafür gebührt Ihnenunser aller Lob. Das ist ganz ohne Zweifel so.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, der Umstand, dass sich diese Bundesregie-rung an einer wesentlichen Stelle von ihrer Vorgänger-regierung unterscheidet, nämlich darin, dass Kanzlerinund Außenminister mit einer positiven Grundeinstellunggegenüber Europa aufgetreten sind, hat entscheidenddazu beigetragen, dass Ihnen das gelungen ist. Das istein deutlicher Unterschied zur Vorgängerregierung. Ichglaube, dass das die Einigung deutlich befördert und er-leichtert hat. Insofern loben wir Sie an dieser Stelle undfreuen uns, dass sich die Politik der Bundesregierungvon der der Vorgängerregierung unterscheidet.

Wir werden uns nach Abschluss des EuropäischenRates übernächste Woche anschauen, wie die Texte amEnde des Tages tatsächlich aussehen. Wir werden es be-werten und auch an der Erklärung von Laeken messen.Wurden die gesteckten Ziele erreicht? Bekommen wirmehr Demokratie in Europa? Bekommen wir mehrTransparenz in Europa? Es wird, so wie ich das aus jetzi-ger Perspektive beurteilen kann, sicher ein eher ge-mischtes Bild geben.

Es gibt – zumindest laut der bisher vorliegenden Eini-gungen – ohne Zweifel eine Reihe von Themen, bei de-nen die Europäische Union mit diesem Vertrag vorwärts-kommen würde. Es gibt aber durchaus auch eine Reihevon Themen, bei denen wir nicht vorwärtskommen. Esgibt auch eine Reihe von Themen, bei denen es gut ist,dass das Geplänkel darüber endlich einmal abgeschlos-sen wird. Auch dazu haben Sie ein wahres Wort gesagt:Die Welt wartet nicht auf Europa. Es wird Zeit, dass wirunsere internen Organisationsdebatten endlich abschlie-

ßen und dazu kommen, dass wir in Europa wieder Poli-tik in der Substanz machen können

(Beifall bei der FDP)

und dass wir beim Binnenmarkt vorwärtskommen.

Kollege Martin Zeil wird nachher noch einige Wortezum Binnenmarkt sagen. Ich sehe da ein großes Problemauf Europa zukommen; hier wird auf ein Kern-Asset derEuropäischen Union verzichtet. Ich hoffe, dass wir inden Substanzen vorwärtskommen, zum Beispiel auchbei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Herr Außenminister, ich hatte eben ein Gespräch miteinem Kollegen aus Holland.

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist im-mer gut!)

Er sagte: Dass ihr Deutsche das Konzept der doppeltenMehrheit akzeptiert – ich glaube, es ist wichtig, dass dashier im Deutschen Bundestag einmal gesagt wird –, istein außerordentlich großes Zugeständnis an eure polni-schen Nachbarn; es ist eine Großherzigkeit, die wir inHolland nur mit großen Problemen gegenüber unserereigenen Bevölkerung vertreten könnten. Ich glaube, dasses richtig und wichtig ist, dies gegenüber unseren polni-schen Freunden zu betonen und zu sagen, dass die Bun-desrepublik den Polen an vielen Stellen in den letztenJahren mit großen Schritten entgegengekommen ist

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

und dass wir von daher auch von unseren polnischenFreunden erwarten, dass sie jetzt dabei helfen, dassEuropa vorwärtskommt, und dass sie keine weiterenSteine in den Weg legen.

Europa sollte ohne Schwierigkeiten aus Polen vor-wärtskommen können. Diesen Wunsch gebe ich Ihnenzum Gipfel mit. Ich hoffe, dass diese Botschaft auch inWarschau ankommt. Wir sind unter Schmerzen damiteinverstanden, dass Zugeständnisse gemacht werden.Aber wir erwarten dann auch Zugeständnisse von der an-deren Seite und den Willen, an einem gemeinsamenEuropa zu arbeiten. Wir haben gar keine Alternativedazu, mit Polen unter dem europäischen Dach in Zu-kunft ernsthaft zusammenzuarbeiten. Wir profitieren da-von, die Polen profitieren auch davon. Das muss endlichin vernünftige Bahnen gelenkt werden, damit wir in derSubstanz nach vorne kommen.

Es gibt eine ganze Reihe von anderen Punkten, diewir unterstützen und über die wir uns freuen. Das heißt,wenn das nächste Europäische Parlament den Kommis-sionspräsidenten wählen wird, dann stellt sich auch anuns als Parteien und als europäische Parteifamilien dieFrage: Wie wollen wir den Europawahlkampf 2009 füh-ren? Werden wir die Parteien weiter nach vorne stellen?Werden wir in den europäischen Parteifamilien enger zu-sammenrücken und auch im Europawahlkampf klarerpolitische Wahlkämpfe führen, oder werden wir es wiebisher handhaben, dass sehr viel nationale Politik und

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sehr wenig gemeinsame europäische Politik gemachtwird?

Lassen Sie mich, Herr Steinmeier, zum Schluss aucheinmal Herrn Juncker zum Thema Grundrechtecharta zi-tieren. Herr Juncker ist jemand, den man in europapoliti-schen Debatten in Deutschland immer gut zitieren kann.Mir hat er etwas über den Verfassungsvertrag und überdie Debatte über die Grundrechtecharta erzählt. Er sagtemir: Wir Europäer missionieren in der Welt für Grund-rechte und für Menschenrechte, und dann sind wir nichtin der Lage, uns selbst auf eine rechtsverbindlicheGrundrechtecharta zu einigen; das ist doch lächerlich.Wo der Mann recht hat, hat er recht. Es ist eine Schande,dass wir bei der Rechtsverbindlichkeit nicht weiterge-kommen sind.

(Beifall bei der FDP)

Ganz zum Schluss: Herr Steinmeier, Sie haben demParlament nichts im Vorgriff zugestanden. Das Parla-ment hat über seine beiden Mehrheitsfraktionen seineRechte bei der Erteilung des Mandates nicht wahrge-nommen. So herum wird ein Schuh daraus.

(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Parlament hat seit der ersten Hälfte der 90er-Jahrenach Art. 23 Grundgesetz das Recht, bei der europäischenGesetzgebung und der Erneuerung von Verträgen mitzu-wirken. Es hat seitdem diese Rechte niemals umgesetzt.Seit einem Jahr gibt es eine Vereinbarung, und diese Ver-einbarung muss endlich mit Leben erfüllt werden. Ichweiß, dass es nicht an Ihnen liegt. Wir sind sogar von Ih-rem Kollegen aus dem Wirtschaftsressort aufgefordertworden, endlich unsere Rechte wahrzunehmen. Ich weiß,dass es bei den Damen und Herren der Mehrheitsfraktio-nen liegt.

(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist die Un-wahrheit, Herr Löning! Das wissen Sie!)

Ich wünsche mir, dass Sie mit Ihrer Fraktion reden undsie auffordern, die Rechte endlich wahrzunehmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP – Axel Schäfer [Bochum][SPD]: Wer die Wahrheit kennt und die Un-wahrheit sagt, der ist ein …!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei

allem, was wir heute kritisieren, sollten wir auch einmalden Blick zurück richten. Es ist etwas mehr als zweiJahre her, dass in europäischen Nachbarländern – inFrankreich und in den Niederlanden – die europäischeVerfassung in zwei Referenden abgelehnt worden ist.Danach verordnete sich Europa eine Denkpause, die inWahrheit aber eine Phase der Ratlosigkeit war. Niemand

wusste, wie es mit diesem Europa weitergehen sollte.Hier war es tatsächlich der Erfolg der Bundesregierungunter Angela Merkel und unter Ihnen, Herr Außenminis-ter Steinmeier, die den gordischen Knoten mit der „Ber-liner Erklärung“ und einem vertrauensbildenden Prozessdurchschlug, an dessen Ende ein sehr ausgeformtesMandat stand, das es umzusetzen galt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Trotz allem anderen, was wir in diesen Vertrag auf-nehmen wollten, ist doch die Substanz dieses Vertrages– dieser Verfassung, die wir ursprünglich wollten – ge-wahrt worden. Sicherlich ist nicht zu unterschätzen, dasshier Symbole wie eine Fahne, eine Hymne und eine Prä-ambel fehlen – Letztere ist gewissermaßen ein Werteka-non innerhalb der Europäischen Union –; denn genaudiese identitätsstiftenden Merkmale hätten dazu geführt,dass sich die Bürger in dieser Verfassung stärker hättenwiederfinden können. Dazu ist es nun leider nicht ge-kommen. Aber wir dürfen den Erfolg jetzt nicht kleinre-den; denn Europa hat seine Handlungsfähigkeit zurück-gewonnen.

Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrund, dasswir bislang auf der Grundlage des Vertrages von Nizzastanden, eigentlich auf einem institutionellen Europa derZwölf, obwohl wir doch mittlerweile 27 geworden sindund in absehbarer Zeit mit Kroatien 28 Mitgliedstaatensein werden. Die Kinderschuhe konnten jetzt also in derEcke stehen gelassen werden. Wir haben jetzt einen in-stitutionellen Rahmen, mit dem wir auf das Europa vonheute und insbesondere auf die Herausforderungen desEuropas von morgen reagieren können.

Nur schlagwortartig möchte ich dies belichten: Wirhaben die Einführung eines Mehrheitsprinzips auf brei-ter Front und eben nicht mehr die Blockademöglichkei-ten mit einem Einstimmigkeitsprinzip. In diesen Kontextpasst die Forderung Polens mit ihrer Ioannina-Klauselüberhaupt nicht hinein, weil man damit gerade jene Blo-ckaden aufrechterhalten will, die dieser Vertrag überwin-den soll.

Kollege Löning, wir brauchen gar nicht mehr bis zumGipfel zu warten. Morgen wird Herr Kaczynski nachBerlin kommen. Dies ist eine gute Gelegenheit für dieBundesregierung, bereits in diesem Gespräch, das FrauMerkel führen wird, wenn ich richtig informiert bin, da-rauf hinzuweisen und für eine Bewegung in dieser FrageWerbung zu betreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass die Grundrechtecharta verbindlich ist, ist einweiterer Vorteil für die Bürger. Denn Grundrechte sindzunächst einmal Abwehrrechte des Bürgers gegenüberdem Staat. Ich hätte mir gewünscht, dass die Diskussionin Großbritannien vor diesem Hintergrund geführt wor-den wäre. Denn ich weiß nicht, ob eine Regierung, diedem Bürger plötzlich seine Abwehrrechte vorenthaltenmöchte, gut dasteht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber das müssen die Menschen in Großbritannien ent-scheiden. Ich denke, hier sind wir entscheidend vorange-

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Gunther Krichbaum

kommen. Außerdem hat der Deutsche Bundestag nunmehr Rechte. Allerdings müssen wir unseren neuenMöglichkeiten auch gerecht werden.

Herr Kollege Löning hat richtigerweise die Zusam-menarbeitsvereinbarung zwischen dem Bundestag undder Bundesregierung angesprochen. Aber wir müssenden Kontrollmöglichkeiten und -pflichten, die unser na-tionales Parlament in der Europapolitik jetzt hat, nach-kommen können. Wir fordern die Bundesregierung auf,sich dafür einzusetzen, dass die Texte auf europäischerEbene auch in deutscher Sprache vorgelegt werden.Deutsch, Französisch und Englisch sind gleichberech-tigte Sprachen. Wir möchten an dieser Stelle keine Bes-serbehandlung, sondern eine Gleichbehandlung. HerrAußenminister, wir fordern Sie auf, alles Erdenkliche zutun, damit die Fortschrittsberichte am 7. November die-ses Jahres auch in deutscher Sprache vorgelegt werden,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

wonach es im Augenblick aber leider nicht aussieht.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass daskeine Sonderposition Deutschlands ist. Deutsch ist dieMuttersprache von über 90 Millionen Menschen und hatinsbesondere in Osteuropa und in den neuen EU-Bei-trittsstaaten als erste Fremdsprache eine große Bedeu-tung.

Wir können festhalten: Mit diesem Reformvertrag ha-ben wir eine Gebrauchsanweisung für Europa bekom-men. Europa ist demokratischer und transparenter ge-worden. Ich glaube, wir sollten genau das festhalten, undzwar ungeachtet aller Steine, die auf diesem Weg nochvor uns liegen. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieseSteine mit viel gutem Willen aus dem Weg räumen kön-nen.

Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Aspekt zusprechen kommen: auf die Akzeptanz Europas. Europaist immer nur so gut, wie es in der Lage ist, auf die Kern-fragen seiner Bürger Antworten zu geben. Europa mussauf die veränderten Herausforderungen in der Welt, diesich angesichts der Globalisierung stellen, reagieren.Jüngst hat Bundespräsident Köhler in seiner BerlinerRede auf die Chancen der Globalisierung hingewiesen,zu Recht aber auch unterstrichen, dass viele Menschender Globalisierung mit großer Sorge und mit Ängstenbegegnen. Europa muss seine Wettbewerbskraft stärken;denn wir konkurrieren mit den USA und mit den Län-dern in Fernost. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsereRessourcen und Möglichkeiten bündeln.

Beispiel Forschungspolitik. Wir werden in Europaimmer nur so erfolgreich sein, wie wir innovativer alsandere Regionen in der Welt sind; denn Arbeitsplätzewerden durch Innovationen geschaffen. In der For-schungspolitik ist es mit Sicherheit sinnvoller, dass wirunsere Anstrengungen im Rahmen von Großforschungs-vorhaben viel stärker als in der Vergangenheit koordinie-ren, als dass 27 Länder jeweils ihr eigenes Süppchen ko-chen. Erst heute Morgen hat Herr Minister Münteferingzu Recht darauf hingewiesen, dass der Schlüssel in derBildung liegt. In Europa tun wir im Bildungsbereich

nach wie vor insgesamt zu wenig. Wenn wir die Zieleder Lissabon-Strategie weiterhin ernst nehmen wollen,dann müssen wir uns hier viel mehr engagieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das gilt auch für andere Themengebiete, zum Bei-spiel für den Klimawandel. Der Klimawandel verunsi-chert die Bürger. Insbesondere in Afrika führt er dazu,dass Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, weilihr Land keine Früchte mehr liefert. Durch den Klima-wandel werden sie in die Flucht getrieben. Der dadurchentstehende Migrationsdruck, der auch in Europa spür-bar wird, stellt uns dann vor Fragen der inneren und äu-ßeren Sicherheit. Diese Zusammenhänge sind nicht vomTisch zu wischen. Auf diese Fragen kann Europa insge-samt eine bessere und glaubwürdigere Antwort liefern,als wenn das jeder einzelne Mitgliedstaat für sich ge-nommen tut. Ich denke, hier besteht noch sehr viel Po-tenzial. An dieser Stelle müssen wir deutlich mehr tunals in der Vergangenheit.

Da ich gerade über die identitätsstiftenden Politikbe-reiche spreche, die uns zusammenführen können, möchteich auf die auswärtige Kulturpolitik zu sprechen kom-men; hier schaue ich insbesondere den Kollegen SteffenReiche an. Wir können in Europa in diesem Bereich nochdeutlich mehr tun. Denn Europa ist immer nur so gut, wiees von den Menschen gelebt wird, wie es die Menschenzusammenführt.

Allen Unkenrufen, was das deutsch-polnische Ver-hältnis angeht, zum Trotz muss man sagen: In den Zivil-gesellschaften funktioniert es doch prima. Wir haben600 Städtepartnerschaften. Wir haben ein Deutsch-Pol-nisches Jugendwerk, von dem ich mir persönlich wün-sche, dass es von beiden Staaten wirksamer unterstütztwird als gerade in den letzten Monaten. Hier tut sich sehrviel. Deswegen müssen wir immer fein differenzierenzwischen der polnischen Regierung und der polnischenBevölkerung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Wie gesagt, alles, was die Menschen zusammenführt,wird gut sein für Europa. Letztlich ist das Europa, daswir heute gestalten, das Europa für unsere Kinder, mitviel mehr Chancen, als wir sie in der Vergangenheit jehatten, mit allen Möglichkeiten für einen großen Wohl-stand, mit einer Friedenssicherung, mit der Sicherungvon Demokratie und Freiheit – Werten, die bei unsmanchmal leider allzu selbstverständlich geworden sind,um die wir aber weltweit beneidet werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Diether Dehm von

der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

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Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Seit dem vorigen Freitag liegt uns der Entwurf einesEU-Reformvertrages vor. Auf dem informellen Gipfel-treffen der Staats- und Regierungschefs am 18./19. Okto-ber, also in einer Woche, soll über ihn eine politischeEinigung erzielt werden. Da ist es müßig, heute über dasVerhandlungsmandat vom 23. Juni zu diskutieren; dashat sich erledigt.

Die Bundesregierung hat seit Juni grob gegen die mitdem Bundestag geschlossene Unterrichtungsvereinba-rung verstoßen und führt auch die Bürger hinters Licht.Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen – Herr Löning,so wird ein Schuh daraus – lassen das mit sich machen.

Allein die Form der Vertragsentwurfs ist eine Zumu-tung. Es ist ein reiner Änderungsvertrag, der ohne dieanderen Verträge gar nicht zu verstehen ist. Selbst inte-ressierteste Bürger können sich da nicht hindurchfinden,solange sie nicht links den Vertrag von Nizza und rechtsdavon den gescheiterten Verfassungstext legen. Das istkeine Aufklärung, das ist ein Puzzle. Wer das so eingefä-delt hat, scheut das eigene Volk und die Volksabstim-mung wie der Teufel das Weihwasser; er scheut jeglichelebendige Bürgerbeteiligung.

Hier verstehe ich besonders die FDP und die Grünennicht. Sie versuchen, sich als Bürgerrechtsparteien dar-zustellen, vorzugsweise wenn es um ferne Länder geht.

(Markus Löning [FDP]: Sie sind immer nur Bür-gerrechtspartei, wenn es um Kuba geht!)

Aber wenn wir das Grundgesetz ergänzen wollen, damitwir über den wichtigsten EU-Vertrag eine Volksabstim-mung durchführen können, wie es einer Verfassung undeiner lebendigen Bürgerbeteiligung zukommt, schlagenSie die Hände über dem Kopf zusammen.

Was mir aber die Schuhe ausgezogen hat – vielleichtging es Ihnen auch so, Herr Löning –, war, als gestern imEU-Ausschuss Elmar Brok auf meine Frage nach derVerwirrtechnik mit dem Reformvertrag sinngemäß ge-antwortet hat: Da müsse man halt sarkastisch werdenund nach den gescheiterten Volksabstimmungen inFrankreich und in den Niederlanden „Transparenz he-rausnehmen“. Wer es nicht glaubt, möge das im Wort-protokoll nachlesen, Herr Bodewig.

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Es gibt keinWortprotokoll! – Kurt Bodewig [SPD]: Das isteine Verdrehung! – Gegenruf des Abg. MarkusLöning [FDP]: Deswegen verweist er ja da-rauf!)

– Ich habe es aber mitgeschrieben. Das ist mit das Zy-nischste, was ich in diesem Haus seit zwei Jahren gehörthabe: „Transparenz herausnehmen“ – lesen Sie dasnach! –, weil die Volksabstimmungen in Frankreich undin den Niederlanden gescheitert sind.

Ich denke, Herr Brok hat guten Grund, „Transparenzherauszunehmen“. Der Vertragsentwurf enthält inArt. 27 des geänderten EU-Vertrages wieder das Aufrüs-tungsgebot des gescheiterten Verfassungsvertrages.Wörtlich heißt es:

Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militäri-schen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.

Die militärischen Fähigkeiten, die verbessert werdensollen, dienen der Durchführung von Missionen, auchaußerhalb der Union. Mitgliedstaaten, die – so heißt es –„anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militäri-schen Fähigkeiten erfüllen“, können „eine StändigeStukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union“bilden.

Im Protokoll Nr. 4 zum Vertrag wird das weiter kon-kretisiert: Bis 2010 sind

bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die inAussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind,taktisch als Gefechtsverband konzipiert … und fä-hig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen… aufzunehmen.

Um die bewaffneten Einheiten zu ermöglichen, soll nachdem genannten Art. 27 die in Verteidigungsagentur um-getaufte Rüstungsagentur „Maßnahmen zur Stärkung derindustriellen und technologischen Basis des Verteidi-gungssektors“ unterstützen bzw. selbst durchführen. Dasalles bedeutet weltweite Militärinterventionen nach au-ßen und Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaftnach innen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wenn hier eingewendet wird, das sei nicht neu, dashabe schon im gescheiterten Verfassungsvertrag gestan-den, dann antworte ich: Das ist nicht neu. Deswegen ha-ben wir den Verfassungsvertrag auch abgelehnt, und des-wegen lehnen wir den jetzigen Vertragsentwurf ebenfallsab.

(Beifall bei der LINKEN – Kurt Bodewig[SPD]: Sie werden auch den nächsten ableh-nen!)

– Gestalten Sie ihn nach dem Sozialstaatsprinzip undentsprechend dem Angriffskriegsverbot des Grundgeset-zes. Sie werden sehen, dass wir ihn dann nicht ablehnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Militarisierung ist ein wesentlicher Grund für dieAblehnung des Vertragsentwurfs, die Ausrichtung aufeinen marktradikalen Neoliberalismus ein anderer.

Auch bei Verfassungsfragen zählt das Kleingedrucktebesonders viel. Gegenüber unserer Kritik wird ange-führt, in Art. 3 des geänderten EU-Vertrages solle dochein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft stehen. Ichweise darauf hin, dass hier von einer „wettbewerbsfähi-gen sozialen Marktwirtschaft“ die Rede ist, der Wettbe-werb dem Sozialen also vorangestellt wurde.

Im Übrigen ist im Vertrag über die Arbeitsweise derEU – dort, wo es praktisch wird – immer nur von einer„offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ dieRede. Dieser Wettbewerb ist ein race to the bottom, zuden niedrigsten zivilisatorischen Standards, ein Wettlaufhin zum Billiglohn und in das Steuerdumping. Es ist einWeglauf der Konzerne vor der grundgesetzlichen Sozial-bindung des Eigentums.

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Dr. Diether Dehm

(Markus Löning [FDP]: Das haben Sie30 Jahre erlebt! Das ist doch billigste Demago-gie!)

Wenn die Deutsche Bank, die Stromkonzerne, Heu-schrecken oder die Rüstungsimporteure von Wettbewerbreden, wer denkt dabei an einen sportlich fairen Wettbe-werb? Was denken dabei die Arbeiter bei VW, denen dieEU ihr Werk noch DAX-förmiger zurechthauen will?Was denken die vielen Hundert in Salzgitter, die bei un-verfälschtem Wettbewerb wegrationalisiert werden sol-len? Was denken die Menschen in Osnabrück, wo dasLandeskrankenhaus durch Privatisierung wettbewerbsfä-higer gemacht, aber alles teurer, schlechter und unwirt-schaftlicher wurde? Was denken die Studierenden inHamburg, Hannover, Frankfurt und Göttingen, die beidiesem Wettbewerb der Hochschulen mittlerweile einenFulltimejob brauchen, um ihren Studienplatz zu finan-zieren?

(Martin Zeil [FDP]: Was hat das mit Europa zu tun?)

Was denkt der Landwirt im Zusammenhang mit demAtomlager Gorleben in Lüchow-Dannenberg, wenn dieEU den Wettbewerb hier plötzlich verfälscht und einsei-tig weiterhin und stärker in die Atomforschung inves-tiert?

(Martin Zeil [FDP]: In der Schule hätte man früher „Thema verfehlt“ gesagt!)

Was fällt zum Wettbewerb ein, wenn in Oldenburg Mit-arbeitern in den Großfleischereien mithilfe des EU-For-mulars E 101 der Sozialversicherungsschutz weggenom-men wird? Was empfindet schließlich der Besitzer einerDönerbude in Braunschweig, die Neonazis abgefackelthaben, wenn Staat und Gesellschaft sagen, wir könnendir nicht helfen, wir wollen den Wettbewerb doch nichtverfälschen?

(Kurt Bodewig [SPD]: Bei allem Respekt: Das ist der größte Unsinn!)

Der Begriff „unverfälschter Wettbewerb“ ist zwarnicht mehr im unmittelbaren Vertragstext des geändertenEU-Vertrages enthalten, versteckt, aber nicht wenigerverbindlich, findet er sich jetzt im Protokoll Nr. 4: Zudem Binnenmarkt, wie er in Art. 3 des Vertrages be-schrieben werde, gehöre ein „System, das den Wettbe-werb vor Verfälschungen schützt“.

Ach ja: Wo bleibt übrigens das von Frau Merkel ver-sprochene Protokoll zur sozialen Dimension der EU?Durch das Grundgesetz werden wir alle an drei elemen-tare Grundwerte gebunden: Demokratie, Sozialstaatlich-keit und Rechtsstaatlichkeit. Keine Mehrheit, nicht ein-mal eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag darf daranrütteln. Die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 desGrundgesetzes ist davor. Das gilt für staatliche Maßnah-men hier in Deutschland, aber auch für die Abtretungvon entsprechenden Befugnissen an die EU.

Als Werte, auf denen sich die EU gründen soll, stehenin Art. 2 des Vertrages aber plötzlich nur Demokratieund Rechtsstaatlichkeit. Ein cleverer Kopf aus der Bun-

desregierung hat mir gestern im EU-Ausschuss entgeg-net, es würde keine Sozialstaatlichkeit im Reformvertragstehen, weil die EU kein Staat sei. Warum steht denndann die Rechtsstaatlichkeit, aber nicht die Sozialstaat-lichkeit darin?

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Befugnisse, hoheitlich tätig zu werden, auf die EUübertragen werden, dann kann damit keine Freistellungvon der Bindung an den Grundsatz der Sozialstaatlich-keit verbunden sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer das zulässt, verhält sich verfassungsfeindlich. Hin-ter dem Rücken der Menschen, gegen ihre sozialenÄngste und gegen demokratische Mehrheiten gibt eskeine lebendige und keine vertiefte EU. Was Sie mitdem Reformvertrag betreiben, ist keine Integration, son-dern bürokratisches Aneinanderhauen und Zusammen-tricksen bei gleichzeitiger Vertiefung der sozialen Grä-ben. Damit fahren Sie die EU gegen die Wand.

Darum können wir allen Ihren Anträgen nicht zustim-men. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Vertrags-entwurf nicht zu unterschreiben und stattdessen einetransparente Verfassung anzustreben, deren Ausrichtungdemokratisch, freiheitlich, sozial und friedenssicherndist, damit das Volk nicht mehr Angst haben muss vor derEU und Sie nicht mehr vor dem eigenen Volk.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock,

Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man ist wieder einmal geneigt, hier eine Lehrstunde inpolitischer Strategie folgen zu lassen. Aber ich will nureinen Satz dazu sagen: Wir sind uns, glaube ich, alle ei-nig, dass der jetzt vorliegende Reformvertragsentwurfschlechter ist als das, was alle in diesem Haus gemein-sam wollten. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehenwollten alle in diesem Haus einen transparenten, ge-schlossenen Verfassungsvertragsentwurf. Wir haben dasalle unterstützt.

Lieber Kollege Dehm, es stellt sich doch die Frage,ob man nicht mit der Zustimmung zu einem Kompro-miss, bei dem einem nicht alles passt, letztendlich mehrerreichen kann, als wenn man durch Fundamentaloppo-sition einen politischen Prozess kippt und am Ende – sowie jetzt – einen intransparenten Vertrag hat, der nochunbefriedigender ist. Deshalb glaube ich, dass Die Linkeschlecht beraten ist und beraten war, mit anderen inEuropa den Verfassungsvertrag zu bekämpfen und damitzu dem beizutragen, was wir jetzt haben. Das war nichtunser Wunsch und es war nicht unsere Intention. Wirwollten einen transparenten Verfassungsvertrag haben,und dazu stehen wir.

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Rainder Steenblock

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –Zuruf von der LINKEN)

Aber, lieber Kollege Diether Dehm, ich stimme IhrerKritik am Verfahren und am vorliegenden Antrag derKoalition völlig zu. Ich finde diesen Antrag in der Sache– gemessen an dem Anlass, dass wir dieses Vertragswerkhier würdigen sollen – ausgesprochen peinlich. Das, wasdarin steht, ist in der Sache peinlich. Mit diesem Antragwill man – das kritisieren wir massiv – zu einem extremspäten Zeitpunkt, zu dem – Herr Kollege Dehm und HerrKollege Löning haben das auch gesagt – die Verhandlun-gen praktisch abgeschlossen sind, ein Mandat erteilen.Das ist absurd.

Zudem ist dieses Mandat nicht mit politischen Vorga-ben ausgestattet. Die einzige politische Vorgabe ist, dassdie Regierung ein Mandat bekommt und uns am Ende ei-nes Verhandlungsprozesses immer berichten soll, wassie tut. Es wird nicht gesagt, wofür man eigentlich stehtund was die Regierung verhandeln soll. Damit ist dieparlamentarische Vertretung in diesem Lande in einer Si-tuation, in der man sich überlegen muss, ob die Regie-rung dieses Parlament eigentlich nur braucht, um Be-richte zu erstatten. Das Parlament muss die Ziele und dieInhalte der Politik vorgeben. Das gilt auch für Europa.Deshalb finde ich diesen Antrag schlecht, und wir wer-den ihm auch nicht zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Wir haben die Verhandlungsposition der Bundesre-gierung in allen Verhandlungsphasen immer unterstütztund glauben, dass die Bundesregierung viel dazu beige-tragen hat, dass jetzt etwas dabei herauskommt, was un-ter den gegebenen Bedingungen in der Sache positiv ist.Was mir allerdings Sorgen macht, ist die Frage, wo dieBundesregierung zurzeit im europäischen Konzert spielt.Man muss sich zum Beispiel nur anschauen, wie der bri-tische Untersuchungsausschuss massive Kritik an derVerhandlungsführung der Bundesregierung übt. Wir ha-ben das auch immer getan. Der Europaausschuss sagtsehr deutlich, dass diese Form von Geheimdiplomatie,die wir an vielen Stellen kritisiert haben, dazu führt, dassdie Debatte über diesen Vertragsentwurf nicht mehr ver-nünftig zu führen ist.

Dann ist die Frage nicht mehr, ob der Entwurf richtigoder falsch ist; diese Form von Geheimdiplomatie führtvielmehr dazu, dass das Thema populistisch ausgenutztwerden kann und eine vernünftige Debatte über den Ver-trag und die Politik nicht mehr möglich ist. Deswegenverlangen wir eine transparente Debatte von Anfang an.Das sollte die Lehre daraus sein. Auch wenn wir in derSache nicht auseinander sind: Das Verfahren warschlecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir haben von Herrn Krichbaum und anderen gehört,wie wichtig Zielsetzungen in der Energiepolitik oder inBezug auf Europa als Handlungspartner im globalen

Wettbewerb sind, in denen wir übereinstimmen. Aberdie Art und Weise – Barroso hat das, wie ich finde, zuRecht kritisiert –, wie von Deutschland bzw. von Frank-reich aus in der Energiepolitik statt einer Öffnung dieAbschottung der Energiemärkte betrieben wird, ist kon-traproduktiv für die wettbewerbsorientierte Energiepoli-tik, die wir brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Es ist kontraproduktiv, dass wir nicht in der Lage sind,zumindest im Bereich der Versorgungspipelines einegemeinsame Energieaußenpolitik zu betreiben. DassRussland bilateral die einzelnen europäischen Länderabgreift, kann nicht im Interesse der EuropäischenUnion sein. Deutschland spielt in dieser Debatte keineproduktive Rolle. Wir haben viel Engagement aufge-bracht. Aber derzeit habe ich das Gefühl, dass uns alleanderen – die Briten, Barroso oder Sarkozy – in der eu-ropapolitischen Debatte davonlaufen, und wir bildengegenwärtig das Schlusslicht.

Ich würde mich freuen, wenn Herr Steinmeier undFrau Merkel gemeinsam das Engagement aus der Zeitder Ratspräsidentschaft –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege!

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – mein letzter Satz – wiederbeleben und in diesem

Hause wieder verstärkt europäische Themen ansprechen– das gilt besonders für die Ostpolitik, einen Schwer-punkt ihrer Präsidentschaft, der ein bisschen ins Leeregelaufen ist –, Ziele vorgeben und diese auf der europäi-schen Bühne verwirklichen würden. Das ist ein Wunsch,der über die Verfassung hinausgeht, und es ist auch et-was, was im deutschen Interesse liegt.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

Michael Roth (Heringen) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bundesaußenminister, Sie haben völlig recht: Inden vergangenen Jahren haben sich trotz erheblicherSchwierigkeiten auf der europäischen Ebene die Pessi-misten, Blockierer und Verweigerer nicht durchgesetzt.Das ist sicherlich auch ein Verdienst der Europapoliti-kerinnen und Europapolitiker der hier vertretenen Frak-tionen. Denn wir haben immer wieder deutlich gemacht:Europa ist nicht allein die Angelegenheit von Diploma-ten, Beamten und Exekutivvertretern; europapolitischeDebatten gehören in die Mitte des Bundestages. Deswe-gen ist es gut, dass wir heute diese Diskussion führen.

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Michael Roth (Heringen)

Dennoch bleibt bei all dem Positiven, über das wiruns heute schon verständigt haben, ein bitterer Beige-schmack; denn es ist immer noch zu konstatieren, dassdas gemeinsame Fundament an politischen Überzeugun-gen in der Europäischen Union brüchiger geworden ist.

Das sollte uns aber nicht veranlassen, den Kopf in denSand zu stecken. Ich rate vielmehr dazu, einmal denBlick von außen auf die Europäische Union zu richten.Das ist auch mein Appell an den Kollegen Dehm. Viel-leicht sollten Sie, statt nur nach Kuba zu fahren und dortdie Unfreiheit zu loben,

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

auch die Länder besuchen, die voller Bewunderung deneuropäischen Integrationsprozess verfolgen. Die habeneine ganz andere Vorstellung von Europa als die, die Sieuns eben einzureden versucht haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so-wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Europa wird doch nicht als großer Aufrüster wahrge-nommen, der unilateral seine Interessen durchzusetzenversucht. Wir werden doch nicht als großer Umweltzer-störer und diejenigen wahrgenommen, die Unfreiheitund Ungerechtigkeit zementieren. Ganz im Gegenteil:Das Modell Europa steht doch gerade dafür, dass wirwirtschaftliches Wachstum mit sozialer Stabilität undökologischer Nachhaltigkeit verknüpfen. Wir habenzwar auch Lernbedarf und müssen noch besser werden,es kann aber nicht angehen, dass sich hier Links- undRechtspopulisten treffen, einseitig auf Europa eindre-schen und gar nicht merken, welchen Schaden sie uns al-len damit zufügen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Martin Zeil [FDP])

Wir brauchen nicht ein schwächeres, sondern ein stärke-res Europa.

Selbstverständlich ist es legitim, europäische Ent-scheidungen gegebenenfalls zu kritisieren, wie wir esimmer wieder getan haben. Uns haben manche Geset-zesinitiativen, die die Europäische Kommission in denvergangenen Jahren auf den Weg gebracht hat, nicht ge-schmeckt. Aber wir haben Einfluss zu nehmen versucht.Wir haben uns an dem Gesetzgebungsprozess aktiv be-teiligt. Davon lebt die europäische Demokratie. Bei allerKritik an dem Verfassungsvertrag bzw. dem jetzigen Re-formvertrag sind wir in vielen Bereichen ein gutes Stückvorangekommen.

Offensichtlich muss ich noch ein paar Fakten nennen;denn ich kann es nicht hinnehmen, dass im Hinblick aufdas Verfahren alles in einen Topf geworfen wird. Wir,die Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion, hal-ten das eingeschlagene Verfahren für verbesserungswür-dig; das ist klar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es hat eine längere Diskussion darüber gegeben, wie wirdie Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregie-

rung konkret zu interpretieren haben. Es war doch eingutes Zeichen, dass zumindest die Europapolitiker in al-len Fraktionen der einhelligen Meinung waren, dass dieBundesregierung vor einem Beschluss über die Auf-nahme der Arbeit einer Regierungskonferenz den Bun-destag um das Einvernehmen ersuchen muss. Es ist nichtso gelaufen, wie wir uns das vorgestellt haben. MeinKollege Schäfer hat sehr frühzeitig auch öffentlich da-rauf hingewiesen, dass es nicht an uns gescheitert ist,sondern dass es offensichtlich in der Fraktionsspitze un-seres Koalitionspartners noch Diskussionsbedarf gab;das ist nun einmal so. Wir lernen daraus und machen inunserem fraktionsübergreifenden Antrag noch einmaldeutlich, dass der Bundestag am gesamten Verfahren an-gemessen beteiligt wird.

Wir müssen in den nächsten Jahren darauf achten,dass wir die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bun-desregierung parlamentsfreundlich interpretieren; daranbesteht gar kein Zweifel. Die Signale, die bisher von derBundesregierung ausgegangen sind, stimmen mich au-ßerordentlich optimistisch, dass uns das auch gelingenwird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn die Bundesregierung hat in den Verhandlungendie Position des Deutschen Bundestages Wort für Wortumzusetzen versucht. Dass das natürlich in einer EUder 27 nicht so einfach ist, dürfte zumindest den Prag-matikern und denjenigen, die einmal Koalitionsver-handlungen – sei es im AStA, sei es woanders – geführthaben, klar sein.

Ich will noch einige wenige inhaltliche Bemerkungenzu dem vorliegenden Entwurf des Reformvertrages ma-chen und dabei zunächst den Rechtsexperten danken. Wirmussten diesen Weg beschreiten, um das Mandat, auf dassich der Junigipfel glücklicherweise verständigt hat, weit-gehend zu retten. Es strotzt sicherlich nicht gerade vorparlamentarischer Beteiligung. Aber wir alle wussten,dass vor dem Hintergrund der erheblichen Auseinander-setzungen zwischen den Staats- und Regierungschefsnicht mehr drin war und dass es ein großer Erfolg derdeutschen Ratspräsidentschaft war, zumindest ein engumfasstes Mandat erreicht zu haben, das nun von Rechts-experten weitgehend umgesetzt wurde.

Es gibt noch einige wenige offene Fragen. Diese soll-ten im Sinne des Reformvertrages geklärt werden. Des-halb ein klares Nein an die Forderungen vor allem derpolnischen Seite! Die Ioannina-Regelung sollte – sie istin der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt – das blei-ben, was sie ist: ein Gentlemen’s Agreement. Es bedeu-tet, dass man sich im Rat auch bei den Entscheidungen,die mit Mehrheit getroffen werden, um eine möglichstbreite Zustimmung bemüht. Das ist der Versuch, euro-päische Entscheidungen auf ein breites Legitimations-fundament zu stellen. Aber es sollte nicht auch noch inden Reformvertrag aufgenommen werden. Dort stehtschon – das gebe ich zu – die eine oder andere Abstrusi-tät drin. Selbstverständlich ist der Reformvertrag in denvergangenen Monaten nicht transparenter geworden.Wenn wir aber Bilanz ziehen, stellen wir fest – das willich unterstreichen –, dass das Ergebnis auch für die

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Michael Roth (Heringen)

Freundinnen und Freunde eines vereinten sowie demo-kratisch und sozial verfassten Europas akzeptabel ist.Deswegen können wir zustimmen.

Natürlich sehe ich mit Sorge, dass die Opt-outs undOpt-ins, die auf Druck der Briten hineingekommen sind,nicht gerade zur Klarheit beitragen. Wir müssen unsauch fragen, wo eigentlich die parlamentarische Kon-trolle gerade in dem sensiblen Bereich der Innen- undJustizpolitik bleibt. Auch ich bin nicht mit allem einver-standen. Aber wir alle wissen: Wir sind nicht alleine indiesem Team. Umso wichtiger ist es, dass die Staats- undRegierungschefs nicht noch einmal Zugeständnisse ma-chen, dass die Zahl der Opt-outs nicht ausgeweitet wird,dass die Ioannina-Regel nicht in den Vertrag aufgenom-men wird und dass wir uns bei den notwendigen Über-gangsregelungen auf eine möglichst parlamentsfreundli-che Vereinbarung verständigen.

(Beifall bei der SPD – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist der Maßstab!)

Wir wissen, es dürfte einige Schwierigkeiten geben,wenn der Reformvertrag wirklich Anfang 2009 in Krafttritt. Das wird vor den Wahlen zum Europäischen Parla-ment sein. Wir haben die Neubenennung des Ratsvorsit-zenden und des Hohen Repräsentanten, des ehemals so-genannten europäischen Außenministers, und bestimmteRegelungen eingeführt, die wir in dem Sinne interpretie-ren sollten, –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Roth!

Michael Roth (Heringen) (SPD): – dass die Rechte des Europäischen Parlaments nicht

eingeschränkt werden und auch der Kommissionspräsi-dent im Lichte der Ergebnisse der Wahl des Europäi-schen Parlaments bestallt wird. Auch das ist ein StückDemokratie.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.

Michael Roth (Heringen) (SPD): Ich wünsche der Bundesregierung alles Gute für die

nächste Woche, und ich hoffe auf ein gutes Ergebnis.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Martin Zeil, FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Martin Zeil (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ja, wir wollten die EU-Verfassung, weil wirwollen, dass Europa endlich effizienter und handlungsfä-higer wird. Gemessen daran weist dieser Vertrag, wie er

jetzt vorliegt, Defizite auf, die wir in unserem Antrag be-nannt haben. Wir wissen auch, dass er noch längst nichtin trockenen Tüchern ist. Deswegen möchte ich die Bun-desregierung von uns aus eindringlich bitten, in dernächsten Woche, wenn der informelle Rat zusammen-tritt, auf jeden Fall standhaft zu bleiben, keine weiterenAbweichungen zuzulassen und keinen Versuchungen an-gesichts gewisser Wahltermine in anderen Ländernnachzugeben.

(Beifall bei der FDP)

So erfreulich es ist, dass jetzt überhaupt ein Vertrags-werk vorliegt, so unerfreulich sind aus unserer Sicht ei-nige wirtschaftspolitische Weichenstellungen. Es gehtum das Bekenntnis zu einem Kernstück der marktwirt-schaftlichen Ordnung in Europa, und das ist der freieund unverfälschte Wettbewerb. In dem Entwurf für dieVerfassung war dieser noch eines der Hauptziele der EU.Jetzt taucht er nur noch in einer Protokollnotiz auf.

(Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

– Herr Kollege Dehm, ich weiß, dass Sie das nicht beun-ruhigt, weil Sie in einem System des realen Sozialismusvon Marktwirtschaft und Wettbewerb nicht viel halten.

(Lachen bei der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Genau!)

Aber jeden Anhänger der sozialen Marktwirtschaft mussdies beunruhigen.

(Beifall bei der FDP)

Der Vorstoß war nicht überraschend; denn er kommtaus der Tradition eines Ludwig XIV. Genau dies ist aberbesorgniserregend – Herr Kollege Krichbaum hat vorhinvon der Wettbewerbskraft Europas gesprochen, das istgenau der Punkt – dieser Angriff auf marktwirtschaftli-che Prinzipien stößt in der Europäischen Union kaumauf Widerstand. Es geht ja immerhin um einen Grund-pfeiler, es geht um die Wettbewerbsphilosophie, die Sie,Herr Kollege Dehm, nicht teilen, die aber 50 Jahre langeine strukturbestimmende

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Soziale Markt-wirtschaft! Das ist ein Unterschied!)

und sehr freiheitliche Funktion in der Europäischen Ge-meinschaft hatte.

(Beifall bei der FDP)

Frau Merkel wurde noch im Februar 2007 mit dem schö-nen Satz zitiert: „Ich vertrete das Prinzip Wettbewerbmit großer Leidenschaft.“ Von dieser Leidenschaft warbei diesen Verhandlungen nichts zu spüren; denn dieBundesregierung ist dieser doch sehr fundamentalen Än-derung überhaupt nicht entschieden entgegengetreten.Im Antrag der Koalitionsfraktionen – auch dies sprichtBände – wird das Thema überhaupt nicht erwähnt.

Wir müssen grundsätzlich mit großer Sorge sehen,dass das Pendel ohne klare Position der Bundesregierungvon Marktwirtschaft in Richtung zu mehr Protektionis-mus und Staatswirtschaft ausschlägt. Diese Tendenz ha-ben wir ebenfalls bei den Verhandlungen über die EU-

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Martin Zeil

Dienstleistungsrichtlinie gesehen. Diese Bestrebungensind auch von der französischen Seite industriepolitischmotiviert: Die Kommission soll auch bei der Genehmi-gung von Fusionen Wettbewerbsaspekte zurückstellen.Aber – das muss uns einen – wenn sich Europa einmalauf den Pfad des Protektionismus begibt, ist die Erosionder marktwirtschaftlichen Ordnung nicht mehr aufzuhal-ten.

Es ist auch ein großes Problem, Herr Kollege, dasswir uns offensichtlich innerhalb der Europäischen Unionüber ein einheitliches europäisches Wirtschafts- und So-zialmodell nicht verständigen können. Die Debatte wirdnicht offen geführt. Die Regierungen sind in dieserFrage sehr stark zerstritten und schwanken zwischen derBefürwortung freier Märkte und einem starken Interven-tionismus hin und her. Von dort ist es dann nicht mehrweit zu den Schutz- und Abschottungsmaßnahmen zurGestaltung der Globalisierung: gegen ausländische In-vestoren, zur Beschränkung des Kapitalverkehrs.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege!

Martin Zeil (FDP): Ich komme zum Schluss. – Das hätte in der Tat fatale

Folgen. Europa muss sich entscheiden. Es ist dringendgeboten, die marktwirtschaftlichen Prinzipien von Wett-bewerb, Transparenz und Gegenseitigkeit weltweit zuexportieren, anstatt das Heil in immer mehr Protektionis-mus zu suchen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist Kollege Thomas Silberhorn von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich das Klein-Klein im Verlauf dieser europapoli-tischen Debatte betrachte, meine ich schon, wir laufenGefahr, in Themen abzugleiten, die eher das europapoli-tische Alltagsgeschäft betreffen, und verkennen dabei,vor welcher Herausforderung wir jetzt stehen. Wer hätteAnfang des Jahres gedacht, dass wir heute in der Lagesein werden, über einen Reformvertrag zu diskutieren,der bereits am 18./19. Oktober von allen Mitgliedstaatenunterzeichnet werden soll?

Wir sollten unsere Kraft darauf richten, das, was diedeutsche Ratspräsidentschaft vorbereitet hat, jetzt tat-sächlich zum Erfolg zu führen. Wir haben nach demScheitern des Europäischen Verfassungsvertrags diegroße Chance, nun die Reform der Europäischen Uniondurchzusetzen. Das muss unser Hauptanliegen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will gerne die Kritik aufgreifen, die im Hinblickauf unsere Zusammenarbeitsvereinbarung mit der Bun-desregierung verschiedentlich formuliert worden ist. Ich

will dabei den Blick nicht zurück richten, jedoch die Ge-legenheit nutzen, deutlich zu machen, wie meine Frak-tion diese Vereinbarung interpretiert: Dabei müssenbeide, Bundesregierung und Bundestag, zusammenwir-ken. Aufgabe der Bundesregierung ist es nicht, den Bun-destag bloß zu unterrichten, sondern wir erwarten einförmliches Ersuchen um Einvernehmen mit dem Mandateiner Regierungskonferenz. Es ist auch wichtig festzu-stellen, dass die Bundesregierung nicht erst auf Wider-spruch seitens des Bundestags reagieren darf, sondernvon sich aus um dieses Einvernehmen ersuchen muss.

Dabei genügt es schließlich nicht, uns eine allgemeineBeschreibung des Mandats zu übermitteln, sondern unsmuss das vorliegende Mandat zur Verfügung gestelltwerden, auf dessen Grundlage wir überhaupt erst beur-teilen können, ob wir das Einvernehmen zu der Einberu-fung einer Regierungskonferenz erteilen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Den zweiten Part hat aber dieses Haus zu spielen. DerDeutsche Bundestag muss sich darauf verständigen– alle Fraktionen dieses Hauses –, dieses Einvernehmenvor Einsetzen einer Regierungskonferenz zu erteilen,und zwar in Form einer Entschließung, die wir hier ge-meinsam diskutieren. Wir sollten uns auch die Möglich-keit offen halten, während der laufenden Regierungskon-ferenz weiterhin Stellungnahmen zu beschließen, sodassdie Bundesregierung im schlimmsten Fall sogar einenParlamentsvorbehalt in die Regierungskonferenz ein-bringen und damit ihre eigene Verhandlungspositionstärken kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das wäre der richtige Weg, mit der Zusammenarbeits-vereinbarung umzugehen.

Wir bringen mit unserem Antrag unser Einvernehmenmit dem Standpunkt der Bundesregierung zum Aus-druck. Es ist gelungen, die Substanz des Verfassungsver-trages zu erhalten. Hin und wieder wird kritisiert, dassAbstriche vorgenommen worden sind, zum Beispiel beiÜbergangsregelungen hinsichtlich der Stimmengewich-tung im Rat oder hinsichtlich der Grundrechte-Charta.Ich glaube, es ist wichtig, zu sehen, dass diese Sonderre-gelungen dazu beitragen sollen, dass das Vertragswerkam Ende auch wirklich die Zustimmung in allen Mit-gliedstaaten findet. Deswegen muss man mit der Hin-nahme dieser Abstriche schon die klare Erwartung ver-binden, dass alle Regierungen, die diesen Kompromisseingehen wollen, in ihren Ländern konstruktiv daranmitwirken, dass die Ratifikation zustande kommt. Dasgilt für alle Mitgliedstaaten, namentlich für Großbritan-nien und Polen. Diese Erwartung muss man jetzt deut-lich formulieren, bevor man am 18./19. Oktober einenKompromiss schließen kann.

Die Wünsche nach Sonderregelungen gehen aller-dings so weit, dass man versucht, das Mehrheitsverfah-ren im Rat – es wurde im Verlauf der Geschichte deut-lich ausgeweitet – zu konterkarieren, indem man durcheinen besonderen Mechanismus faktisch ein Minderhei-tenvotum einführt. Das würde dem Ziel des Reformver-

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Thomas Silberhorn

trags und auch den Reformen der letzten Jahre natürlichvöllig widersprechen. Wir können keine Sonderregelun-gen hinnehmen, die unserer grundlegenden Ausrichtungvöllig zuwiderlaufen. Wir treten deshalb dafür ein – dasist wichtig –, dass es im Zusammenhang mit den Bera-tungen über den Ioannina-Mechanismus dabei bleibt,dass Polen dem Vertrag eine Erklärung anhängen kann;wir können uns aber nicht damit einverstanden erklären,dass diese Erklärung in den Vertragstext aufgenommenwird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich noch ein Thema ansprechen, das ausdeutscher Sicht meines Erachtens in den nächsten zweiWochen noch einmal diskutiert werden muss. DieserVertrag sieht vor, dass die Anzahl der Sitze im Europäi-schen Parlament auf insgesamt 750 und auf 96 pro Mit-gliedstaat begrenzt wird. Es soll ausdrücklich festge-schrieben werden, dass die Sitze im EuropäischenParlament degressiv proportional verteilt werden. Dasheißt – das ist neu –, je größer ein Mitgliedstaat ist, destoweniger repräsentativ wird seine Bevölkerung im Euro-päischen Parlament vertreten sein. Mit jeder neuen Er-weiterung wird diese Repräsentativität weiter abnehmen,und das geht natürlich zulasten der großen Mitgliedstaa-ten, namentlich zulasten Deutschlands.

Diese Regelung steht in einem ganz klaren innerenZusammenhang mit der Errichtung der doppelten Mehr-heit im Rat. Doppelte Mehrheit bedeutet, dass für Ent-scheidungen des Rats nicht nur die Mehrheit der Mit-gliedstaaten, sondern auch eine Bevölkerungsmehrheitvorhanden sein muss. Auf diese Weise kommt das Ge-wicht der Bevölkerungen im Rat zum Tragen. Wenn dieEinführung des Mechanismus der doppelten Mehrheitim Rat bis 2014 verschoben werden soll, dann sehe ichkeinen Grund, weshalb wir einer Verschlechterung derRepräsentativität im Europäischen Parlament schon ab2009 einseitig zustimmen sollten. Deswegen plädiere ichdafür, dass wir die neue Sitzverteilung im EuropäischenParlament, der wir im Grundsatz zustimmen, erst danneinführen, wenn das Gewicht der Bevölkerungen auchim Rat tatsächlich stärker zum Tragen kommt, indem2014 das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführtwird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube, dass wir das in den Verhandlungen nochmalsauf den Tisch legen müssen.

Ich will gern das Verfahren der genauen Verteilungder Sitze – es wird zurzeit im Europäischen Parlamentberaten – ansprechen. Der Vorschlag, der morgen wahr-scheinlich eine Mehrheit finden wird, läuft darauf hi-naus, dass viele kleine und mittelgroße Staaten ganz gutbedacht werden. Er hat aber den großen Makel, dass dieSitzverteilung im Europäischen Parlament bei jeder Er-weiterung komplett neu verhandelt werden müsste. Ichmeine, auch das müsste in unserem Interesse nochmalsdiskutiert werden. Ich würde ein im Deutschen Bundes-tag entsprechend angewandtes Verfahren bevorzugen– die Abgeordneten der Union im Europäischen Parla-ment haben einen entsprechenden Vorschlag gemacht –,

nach dem die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Mit-gliedstaaten im Vorhinein festgelegt wird, sodass nichtmit jedem Erweiterungsschritt komplett neu darüber ver-handelt werden muss, welcher Mitgliedstaat wie vieleSitze bekommt. Ich meine, dass wir auch dieses Themain unserem Interesse nochmals aufgreifen müssen.

Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. DieKompetenzneuordnung in diesem Vertrag ist aus meinerSicht ein wesentlicher Fortschritt. Es gibt eine Reihe vonKlarstellungen, dass die Europäische Union ausschließ-lich Kompetenzen wahrnehmen darf, die ihr übertragenworden sind, und dass Kompetenzerweiterungen nichtim Wege faktischer Vertragsänderungen, sondern nurdurch förmliche Vertragsänderungen stattfinden dürfen.Es ist auch ein Fortschritt, dass das Subsidiaritätsprinzipgenauer gefasst wird und dass die Europäische Unionnicht einfach dann tätig werden darf, wenn die europäi-sche Ebene selbst der Auffassung ist, dass sie es besserkann, sondern nur dann, wenn die Mitgliedstaaten eineAufgabe nicht ausreichend bewältigen können. Und da-her – so die Klarstellung im Vertrag – besser die EU tätigwird. Nur dann ist eine europäische Kompentenz be-gründet.

Vor diesem Hintergrund überrascht mich schon, wasKommissionspräsident Barroso zum Subsidiaritätsprin-zip gesagt hat. Natürlich ist es eine Schranke für dieKompetenzausübung der Europäischen Union, aber esist nicht gegen die europäischen Einrichtungen gerichtet.Es soll dazu beitragen, dass das, was auf europäischerEbene beraten und beschlossen wird, tatsächlich auf Ak-zeptanz bei den Mitgliedstaaten trifft. Nur bei diesemVerständnis macht es Sinn, dass die nationalen Parla-mente stärker beteiligt werden und eine explizite Auf-gabe in der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritäts-prinzips wahrnehmen sollen.

Ich denke, dass wir diese Vorstellung vom Subsidiari-tätsprinzip in der laufenden Debatte noch einmal sehrklar formulieren sollten und bei einem Erfolg des Ver-handlungsprozesses in der Umsetzung der europäischenRechtsetzung vertreten und einbringen müssen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin,

Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Silberhorn, ich kann fast alles unterschreiben,was Ihre Interpretation dessen betrifft, was notwendigist, bevor diese Regierung bzw. Herr Steinmeier Ver-handlungen beginnt. Er müsste nämlich um das Einver-nehmen des Hauses bitten.

(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Die Regie-rung insgesamt!)

Das ist eine richtige Position.

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Jürgen Trittin

(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Nur, was Sie hier nicht erwähnt haben, Herr Silberhorn– das macht Ihren Antrag so peinlich –, ist, dass es IhrFraktionsvorsitzender gewesen ist, der diese richtige An-forderung des Parlamentes abgeblockt hat,

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig! –Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es! – RainderSteenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das ist die Wahrheit!)

weswegen wir uns heute mit der absurden Situation he-rumschlagen müssen, zu Verhandlungen über einen Ver-trag, der inzwischen sogar schon von den Sprachjuristenausgearbeitet wird, nachträglich das Einvernehmen zuerteilen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie des Abg. Dr. DietherDehm [DIE LINKE])

Das ist nicht mein Verständnis von parlamentarischemSelbstbewusstsein. Ich würde mir wünschen, lieber HerrSilberhorn, dass Sie es bewerkstelligen, dass die Lern-prozesse bei Herrn Kauder, was die Rechte des Parla-ments angeht, künftig schneller vonstatten gehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP] unddes Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

Zweite Bemerkung. Man soll in einer solchen Debattekeine Pappkameraden aufbauen. Es ist tatsächlich so,dass die Frage des Wettbewerbs in Europa eine ganzzentrale Rolle spielt. Die Sicherstellung des Wettbe-werbs ist eine Schlüsselfrage für das Funktionieren derEuropäischen Gemeinschaft. Das ist auch ein Stück weitein Friedensansatz. Trotzdem bleibt der Satz richtig,dass die Sicherstellung des unverfälschten Wettbewerbseine dauerhafte Aufgabe der Kommission, aber kein Zielder Europäischen Gemeinschaft ist. Es ist ein Mittel zumZweck. Deswegen ist die jetzige Positionierung, diesaufzunehmen und klarzustellen, dass die Kommissiondas Recht hat, auf einen unverfälschten Wettbewerb zudringen, richtig. Das ist – an dieser Stelle muss ich HerrnBarroso recht geben – schon eine Mahnung an die Bun-desregierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihre Position ist, in der Energiepolitik beispielsweisedas Unbundling von Betrieb, Netzen und Produktionnicht umzusetzen. Das behindert den Wettbewerb inner-halb Europas. Hier kommt die Kommission, gestütztauch auf die Bestimmungen des neuen Reformvertrages,zu Recht ihrer Aufgabe nach. An dieser Stelle verhältsich die sonst hochgelobte Bundesregierung, wasEuropafragen angeht, nicht im Geist des Vertrages, denwir heute hier in der Substanz begrüßen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])

Letzte Bemerkung. Wenn man so etwas wie einen sol-chen Vertrag beurteilt, muss man immer schauen, wasdie Alternative ist. Das ist meines Erachtens in Ihrer

Rede zu kurz gekommen, lieber Diether Dehm. Wennich mich mit diesem Vertragsentwurf zu beschäftigenhabe, ist die Messlatte doch der jetzige Rechtszustand,die jetzige Verfasstheit der Europäischen Union. Ich bindamit unzufrieden, dass wir nicht die Kraft hatten, das,wofür wir in Europa stehen, nämlich für einen ambitio-nierten Grundrechtekatalog – übrigens ausgestattet mitviel besseren sozialen Rechten, als sie im Grundgesetzstehen –, explizit in den Vertrag hineinzuschreiben.

Wenn ich aber einen Strich darunter ziehe und michfrage, wer durch diesen Vertrag gestärkt worden ist,stelle ich doch fest: Gestärkt worden ist das EuropäischeParlament. Der gesamte Bereich der Justiz- und Innen-politik wird künftig in den Bereich der Mitentscheidungfallen. Da gibt es mehr Demokratie und nicht wenigerDemokratie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Gestärkt worden sind die nationalen Parlamente, diekünftig früher, wenn sie denn das Selbstbewusstsein vonHerrn Silberhorn und nicht das von Herrn Kauder haben,bei solchen Fragestellungen entsprechend eingreifenkönnen. Gestärkt werden schließlich die Rechte der Bür-gerinnen und Bürger in Europa. Wenn 1 Million Men-schen in Europa eine Initiative ergreifen, wird die Kom-mission darauf reagieren müssen. Das heißt, es gibt zumersten Mal in der Geschichte der EU eine Art Volksbe-gehren.

Ich finde, für dieses Mehr an Demokratie lohnt essich, sich auf die schwierige Suche nach Kompromissenzu machen, die Ihnen, Herr Außenminister, ja noch be-vorsteht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Kurt Bodewig (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Den Schlussausführungen des Kollegen Trittin kann ichmich nur anschließen.

Ich glaube, wir sollten einmal kurz zurückblicken.Was war denn vor einem Dreivierteljahr? Da gab es eineReflexionsphase, in der nicht reflektiert wurde, sondernin der das Verfassungsprojekt einfach zur Seite gelegtwurde. Das war vor einem Dreivierteljahr. Es ist eine un-geheure Leistung der deutschen Ratspräsidentschaft undder Bundeskanzlerin, aber auch des jetzt hier anwesen-den Bundesaußenministers – er hat in vielen, zum Teilnächtelangen Gesprächen über Wochen hinweg eben-falls dafür gesorgt –, dass Kompromisse gefunden wur-den.

Es ist so, dass wir jetzt keinen Verfassungsvertrag,sondern einen Reformvertrag haben. Aber die Substanz

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Kurt Bodewig

ist erhalten geblieben. Das ist eigentlich der entschei-dende Punkt. Deswegen tut sich ja heute die Oppositionetwas schwer; sie spricht dann über Verfahren. Ichglaube allerdings, dass wir mit der Entschließung vom14. Juni der Regierung ein deutliches Mandat erteilt ha-ben. Wenn ich diese Entschließung mit dem abgleiche,was nun herausgekommen ist, dann stelle ich fest, dass90 Prozent erhalten geblieben sind. Das war ja die Auf-gabe. Wenn wir mal ganz ehrlich sind, müssen wir unsdoch eingestehen, dass viele im Juni anderer Meinunggewesen wären, wenn sie damals die berechtigte Erwar-tung gehabt hätten, dass dieses Ergebnis erreichbar ge-wesen wäre. Wir sollten so ehrlich sein, uns einzugeste-hen, dass wir mit diesem Erfolg nicht gerechnet haben.Auch das sollte man einmal unterstreichen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Jetzt will ich einmal auf die sehr krude Konstruktiondes Kollegen Dehm und seinen Popanz um den Milita-rismus eingehen.

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nein! Lohnt doch nicht!)

Ich habe noch nie von dem Konstrukt gehört, dass es ei-nen Kriegsauftrag darstelle, wenn man Normierungenvornehme. Es gilt vielmehr das Gegenteil: Dank derGründung der Europäischen Union ist diesem Teil Euro-pas die längste Phase der Abwesenheit von Krieg, diewir je hatten, zuteilgeworden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Dieser Frieden ist wirklich ein Resultat der Europäi-schen Union.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist im Kosovo?)

Wenn man das nicht begreifen will, dann sollte man we-nigstens nicht populistisch denen in die Hände arbeiten,die die demokratischen Grundsätze dieser Gesellschaftinfrage stellen. Genau das geschieht aber.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dann komme ich zu der Ungeheuerlichkeit der Um-deutung der Aussagen von Elmar Brok, der ja nicht ein-mal meiner Partei angehört, die hier vorgenommen wor-den ist. Ich halte das für eine Unverschämtheit;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:Nein, das hat er so gesagt! Das habe ich somitgeschrieben!)

denn Elmar Brok hat im Ausschuss sinngemäß Folgen-des – und das zu Recht – gesagt: Teile der französischenLinken, unterstützt von der extremen Rechten Frank-reichs, haben das Referendum dazu benutzt, einen Ver-fassungsvertrag, der in sich schlüssig und kompakt war,infrage zu stellen. Das Ergebnis ist jetzt, dass Trans-parenz verloren gegangen ist. Statt 500 Seiten sind es3 000 mit einer Vielzahl von Verweisen und einzelnenAbschnitten.

Das ist dabei herausgekommen. Ich glaube der PDSbzw. der Linken nicht, wenn sie sagt, dass es ihr um diegenannten beiden Kernfragen geht. Es geht ihr vielmehrdarum, hier etwas abzulehnen und populistischMeinungsmache gegen Europa zu betreiben. Ich habegenerell etwas gegen Populisten, weil sie keine Verant-wortung zeigen und ihre politische Aufgabe nicht wahr-nehmen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich will nur daran erinnern, dass wir über den jetzteingeschlagenen Umweg die Arbeitsweise der Europäi-schen Union vertraglich festgeschrieben haben. So ist inArt. 136 der Sozialdialog enthalten. Es gibt ein eigenesKapitel zur Sozialpolitik. Ich glaube, damit können wirargumentieren.

Zur Grundrechtecharta möchte ich sagen: Es handeltsich dabei um ein britisches Problem. Wenn eine Regie-rung ihren Bürgern Grundrechte verwehrt, muss sie die-sen Konflikt im eigenen Land austragen. Ich sage aberauch, dass wir es über diesen Umweg sehr reell geschaffthaben, die Grundrechtecharta in Europa verbindlich zumachen. Das ist das, was wir wollen. Das ist eine sehrstarke soziale Komponente. Man sollte das eine oder an-dere Vorurteil wirklich aus der Diskussion herausneh-men.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Ichglaube, dass die polnische Regierung die Illusion hatte,Größe mit Sitzen zu verbinden. Wir haben uns mit derQuadratwurzel beschäftigen müssen. Ich war ja ganzfroh, dass sie nicht noch einen Zwillingsbonus geforderthat.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und jetzt kommt der Ioannina-Kompromiss. Das ist einGentleman’s Agreement. Ich kann dazu nur sagen: Ichglaube, dass die polnische Regierung mit dem Renom-mee ihres Landes spielt. Ich bin mir sicher, dass dieseRegierung nicht für ihre Bevölkerung spricht. Denn alleUmfragen zeigen: Die polnische Bevölkerung ist pro-europäisch und will ein starkes Europa und nicht eines,das zerfasert.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich kann gut damit leben, dass wir darüber nachdenken,ob eine Erweiterung nicht mehr Generalanwälte beimEuGH erforderlich macht; denn das ist ein allgemeinerGrundsatz. Aber Spezialforderungen, etwa Vetorechte anjeder Stelle zu implementieren, um die Handlungsfähig-keit Europas einzuschränken, lassen bei dieser Regie-rung eine mangelnde Integrationsfähigkeit erkennen.

Wir haben ein anderes Problem, nämlich dass mancheMitgliedstaaten – dabei schaue ich einmal über den Ka-nal – Europa nicht als Integrationsprojekt sehen, sondernals eine große Freihandelszone. Ich glaube aber, Europaist stark und kann seine Funktion wahrnehmen, weil es

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Kurt Bodewig

ein Integrationsprojekt ist. Deswegen hat Juncker etwasunrecht, wenn er sagt, für 50 Prozent der Europäer sei inder Verfassung zu viel Europa gewesen und für50 Prozent zu wenig. Ich würde sagen, es ist für mindes-tens 70 Prozent zu wenig und für 30 Prozent zu viel ge-wesen. Denn zwei Drittel der Mitgliedstaaten hatten rati-fiziert, und wir alle müssen diesen Prozess jetztwiederholen.

Deshalb fände ich es ganz gut, wenn wir im Sinne derIdentifikation mit Europa, die sich in vielen Symbolenwiderspiegelt – in der Flagge, der Hymne, dem Euro, derübrigens von den 300 Millionen betroffenen Menschenin Europa sehr wohl angenommen wird; darüber hinaushaben wir das Problem, dass er auch anderswo äußerstattraktiv ist; im Europatag, in einem Leitspruch –, dieje-nigen, die nicht Euroskeptiker, sondern Integrationsbe-fürworter sind, vielleicht motivieren können, dieseSymbole in jeweiligen nationalen Begleitgesetzen fest-zusetzen. Wir sollten im Deutschen Bundestag beschlie-ßen, das in die nationale Gesetzgebung einfließen zu las-sen, um deutlich zu machen, dass neben der deutschenFahne zu Recht die europäische Fahne steht. Ich glaube,damit würde man ein bisschen Spreu vom Weizen tren-nen; dann ist man auch fairer in der europäischen Dis-kussion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Bodewig, der Herr Kollege Dehm

würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Kurt Bodewig (SPD): Ja, eine nehmen wir.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sonst leidet das Niveau wieder!)

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Es sind trotzdem zwei, wenn Sie gestatten; aber ich

mache es ganz kurz.

Kurt Bodewig (SPD): Ich hatte es schon vermutet.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Sie haben die Formulierung von Elmar Brok so ähn-

lich wiedergegeben, wie auch ich sie im Ohr habe. AlsErgebnis der gescheiterten Referenden in den Niederlan-den und Frankreich ist Transparenz aus der Verfassungherausgenommen worden. Wäre nicht mehr Transparenzdie richtige Antwort gewesen, und war das nicht auchdie Vorgabe durch die drei Ds, die in das Kommunika-tionsverfahren aufgenommen werden sollten?

Zweitens. Weil ich nicht der Meinung bin, dass zumBeispiel das Deutsche Reich allein deswegen ein Kon-strukt des Friedens war – das war es ja nicht –, weil beiseiner Gründung die Kriege zwischen einzelnen Ländernaufhörten, habe ich die Frage, ob Sie, wenn Sie von derAbwesenheit von Krieg in Europa sprechen, den Koso-vokrieg ausblenden und ob Sie sich zum anderen vorstel-

len könnten, dass die Formulierung, militärische Fähig-keiten schrittweise zu verbessern, auch in RichtungAbrüstung und nicht in Richtung Aufrüstung gedeutetwerden könnte. Wenn ja, warum schreibt man es dannnicht in den Vertrag hinein?

Kurt Bodewig (SPD): Ich habe nichts gegen Abrüstung; das wissen alle. Ich

glaube, dass Rüstung nicht unbedingt der produktivsteWert einer Gesellschaft ist. Gegen Abrüstung hat in die-sem Hause wohl kein einziger Abgeordneter etwas ein-zuwenden.

Zweitens. Ich habe davon gesprochen, dass in diesemRaum Europas die längste Phase der Abwesenheit vonKrieg herrscht. Deswegen – genau das zeigt das BeispielKosovo – sind die Länder im Westbalkan so daran inte-ressiert, Teil des europäischen Integrationsprojektes zuwerden. Allein eine weite Perspektive führt dazu, dassKampfhandlungen dort minimiert worden sind und dassZivilgesellschaften sich wieder neu errichten. Das ist diebeste Argumentation dafür, dass das Konstrukt Europäi-sche Union genau der Friedensgarant ist, den wir habenwollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Drittens. Ich möchte noch etwas zu den Ausführun-gen von Elmar Brok sagen. Er hat sehr deutlich gemacht,dass es in Frankreich gar nicht um die europäische Frageging. Einzelne haben dieses Thema aus innenpolitischenGründen instrumentalisiert. Ich selber habe an Podiums-diskussionen in Frankreich teilgenommen und weiß da-her, dass es da nicht um Europa, sondern um Chirac undandere Personen ging. Manche, die vorher in der Regie-rungsverantwortung waren, haben sich eines Populismusbefleißigt, den ich für nicht verantwortlich halte. Daswar die Situation in Frankreich. Es hätte eine Phase derReflexion geben sollen. Wir haben festgestellt, dass alleauf Deutschland geschaut haben, weil eine starke Präsi-dentschaft die letzte Chance war, den Verfassungspro-zess wieder in Gang zu bringen. Genau das ist gelungen.Darauf können wir stolz sein.

Diese drei Punkte, die sich auf Ihre Fragen beziehen,weisen darauf hin, dass die EU für die Gesellschaften inEuropa und für die globale Friedensentwicklung absolutnotwendig ist. – Vielen Dank, für Ihre Fragen. Sie dürfensich jetzt gerne wieder setzen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

In den letzten anderthalb Minuten meiner Redemöchte ich noch einige kritische Punkte ansprechen. Beiallem Dank an die Rechtsexperten gibt es noch einigeProbleme, die nicht nur technischer Natur sind. Ichnenne nur ein einziges Beispiel. In der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik geht es unter anderem umFluggastdaten im Rahmen eines Abkommens zwischenEuropa und den USA. Die Situation ist so, dass es eineparlamentarische Kontrolle nicht geben wird. Das EPund auch der EuGH können sich damit nicht befassen,weil es eine rein intergouvernementale Angelegenheit

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Kurt Bodewig

ist. Das halte ich für falsch. Ich möchte Sie daher bitten,darauf ein besonderes Augenmerk zu legen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Ich weiß, es wird in der Schlussphase noch schwie-rige Verhandlungen geben. Aber ich denke, dassDeutschland aufgrund der während der Präsidentschaftgewonnenen Erfahrungen die Portugiesen darin unter-stützen kann, dass das, was in Berlin erarbeitet wordenist, in Lissabon in einen anspruchsvollen Vertrag mün-det. Wir wünschen uns das. Ihnen, Herr Außenminister,wünschen wir allen Erfolg.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Stephan Eisel, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir die Bürger für die europäische Idee weiter be-geistern wollen, dann müssen wir uns immer wieder derFrage zuwenden, warum die europäische Einigung not-wendig bleibt. Denn wir haben es mit dem merkwürdi-gen Phänomen zu tun, dass der Erfolg der europäischenEinigung teilweise die Motivation der Bürger erschwert,weil dieser Erfolg als selbstverständlich erachtet wird.

Die Motivation der Gründergeneration „Nie wiederKrieg! Nie wieder Diktatur!“ hat zum Erfolg der Euro-päischen Union geführt. In diesen Wochen feiern die ers-ten Städtepartnerschaften ihr 60-jähriges Jubiläum. Ichnenne nur die erste deutsch-englische Städtepartner-schaft zwischen Oxford und Bonn. Ich glaube, wir kön-nen heute gar nicht mehr ermessen, was es bedeutet hat,dass wenige Monate nach dem Zweiten Weltkrieg dieKriegsgegner aufeinander zugegangen sind und sich dieHand gereicht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das zweite große Ziel, nämlich Freiheit für ganzEuropa, ist ebenfalls erreicht worden. Es gilt vielenheute als selbstverständlich. Es ist der jungen Generationnur schwer zu vermitteln, was der Eiserne Vorhang warund was Mauer und Stacheldraht bedeuteten. Es wird dieFrage gestellt, warum es mit der Europäischen Unionund mit der europäischen Integration weitergehen muss,da doch diese Ziele erreicht sind.

Uns Europäern wird in der Zeit der Globalisierungimmer klarer, dass wir nur ein kleiner Teil dieser Weltsind. Der Außenminister hat gesagt, dass die Welt nichtauf Europa wartet. Heute leben nur 7,5 Prozent der Welt-bevölkerung in den Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion. 2050 werden es nach Angaben der UNO auf-grund des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums

nur 4 Prozent sein. Wir haben nur dann eine Chance, un-sere Werte, unsere politische Kultur und unsere Lebens-weise zu bewahren, wenn wir zusammenrücken. Wirwerden dies aber nicht schaffen, wenn wir uns innerhalbder Europäischen Union, die zukünftig nur 4 Prozent derWeltbevölkerung ausmacht, das Leben schwer machen.Das ist die Legitimation, die für die europäische Eini-gungsbewegung notwendig ist.

Deswegen war es wichtig, nach der Schaffung desBinnenmarktes, der Formulierung des Ziels einer Politi-schen Union und der Einführung des Euro das Verfas-sungsprojekt anzupacken. Mit dem Reformvertrag in derjetzigen Form haben wir natürlich weniger erreicht, alswir erreichen wollten. Das wird deutlich, wenn man dieursprüngliche Idee von einer Verfassung, die von einemVerfassungskonvent gestaltet wurde, zum Vergleich he-ranzieht. Aber trotzdem ist dieser Reformvertrag vielmehr als die jetzige Grundlage der Europäischen Union,der Vertrag von Nizza. Deshalb ist dieser Reformvertragein Erfolg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ein ganz wesentlicher Punkt in diesem Reformvertragist das Subsidiaritätsprinzip, das zwei Seiten hat: Dieeine Seite ist Dezentralisierung; nicht alles muss auf eu-ropäischer Ebene gemacht werden. Die zweite Seite desSubsidiaritätsprinzips ist aber, dass die Ebene, der eineAufgabe zugewiesen wird, für die Erledigung dieserAufgabe gestärkt werden muss. Es gibt auf europäischerEbene Aufgaben, für die sie noch nicht stark genug ist.Als Stichworte nenne ich nur die europäische Außenpo-litik und die europäische Sicherheits- und Verteidigungs-politik.

Lieber Herr Kollege Dehm von der zur Linksparteiumgetauften PDS, die früher einmal SED hieß.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt Linke!)

– Das hat Ihnen anscheinend gut gefallen. – Dass Siehier Europa und die Europäische Union als Hort des Mi-litarismus bezeichnen,

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt!)

hat in etwa die dialektische Qualität, die dazu geführthat, die Mauer zum antifaschistischen Schutzwall umzu-interpretieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-derspruch des Abg. Dr. Diether Dehm [DIELINKE])

Da Sie das immer noch machen, kann ich Ihnen nur sa-gen: Bei Ihnen gilt hinsichtlich der politischen Erkennt-nis offensichtlich der im Musikgeschäft verbreitete Satz:„Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert“. Siesollten endlich einen Schritt weitergehen.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sehr ko-misch! Jetzt erbitte ich Gelächter!)

Für mich ist der Reformvertrag eine Etappe – aller-dings eine wichtige – und nicht das Ziel der europäi-

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Dr. Stephan Eisel

schen Integration. Es muss weitergehen, und zwar nichtnur, weil es, wie ich vorhin gesagt habe, in unserem Inte-resse liegt, dass wir Europäer uns enger zusammen-schließen müssen, sondern auch, weil wir ein Vorbild fürdie Welt sind. Wir und die Generationen vor uns inEuropa haben gezeigt, dass es möglich ist, in Vielfalt zu-sammenzuleben und Konflikte ohne Gewalt und Kriegzu lösen.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Afghanistan und Kosovo!)

Wie sähe die Welt aus, wenn dieses Beispiel Schule ma-chen würde?

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Eisel, Sie sind für den Kollegen

Paziorek in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Siehaben heute zum ersten Mal in diesem Hohen Hause ge-sprochen. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute fürIhre politische und persönliche Zukunft.

(Beifall)

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion auf Drucksache 16/6632. Der Ausschuss emp-fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/6632 die Annahme des Antrags der Fraktionender CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6399 mitdem Titel „Regierungskonferenz zur Änderung der ver-traglichen Grundlagen der Europäischen Union und Un-terrichtung der Bundesregierung entsprechend Ziffer VIder Vereinbarung zwischen Deutschem Bundestag undder Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Ange-legenheiten der Europäischen Union“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU beiGegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünenund Die Linke und Enthaltung der Fraktion der FDP an-genommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/5882 mit dem Titel „EU-Re-gierungskonferenz schnell zum Erfolg führen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPDund der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion derFDP angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache16/5888 mit dem Titel „EU-Regierungskonferenz – Füreine handlungsfähige und demokratische EU“. Wer

stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD,der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reformdes Verfahrens in Familiensachen und in denAngelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbar-keit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG)

– Drucksache 16/6308 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Klä-rung der Vaterschaft unabhängig vom Anfech-tungsverfahren

– Drucksache 16/6561 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit

c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes über genetische Unter-suchungen zur Klärung der Abstammung inder Familie

– Drucksache 16/5370 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin der Justiz, Brigitte Zypries.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Ich denke, wir sind uns alle einig: Wenn man dasFamilienrecht ändert, gestaltet man die Gesellschaft. Dashat nicht zuletzt die große Scheidungsreform gezeigt.Wenn man das Verfahrensrecht ändert, gestaltet man – sokann man meinen – nicht so recht. Aber man darf,glaube ich, die Augen nicht davor verschließen, dass dasVerfahrensrecht in vielen Fällen nicht nur dienendeFunktion hat, sondern – das gilt gerade für das Familien-recht – dazu angetan ist, dafür zu sorgen, dass die Rechteder Beteiligten tatsächlich durchgesetzt werden können.Denn wenn ein Vater erst einmal ein halbes Jahr keinenUmgang mit seinem zweijährigen Kind hat, dann wirddiese Beziehung in solch einer Weise gestört, dass dieskaum wieder aufgearbeitet werden kann. Deshalb ist esso wichtig, dass gerade im Familienrecht besonders

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Bundesministerin Brigitte Zypries

schnell entschieden wird, insbesondere wenn es um dasSorgerecht bzw. um das Umgangsrecht geht.

Wir haben heute zwei Gesetzentwürfe der Bundesre-gierung zu beraten, die beide mit dem familienrechtli-chen Verfahren zu tun haben, zumindest im weitestenSinne. Der eine betrifft eine Neufassung des FGG; dasist ein richtig dickes Gesetzeswerk. Wir haben dabei ei-nen einheitlichen allgemeinen Teil neu geregelt. Wir ha-ben die Verfahrensrechte und die Mitwirkungsrechte derBeteiligten erstmals umfassend geklärt. Das gilt nichtnur für familiengerichtliche Verfahren, sondern auch fürBetreuungssachen, Unterbringungssachen, Nachlass-sachen, Registerfragen oder die Freiheitsentziehung.Diesen ganzen Bereich regeln wir neu. Wir strukturierendas bis heute zersplitterte Rechtssystem neu und gestal-ten es effizienter.

Der größte Teil der sogenannten FGG-Reform, derReform des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit,beschäftigt sich mit Familiensachen. Ich würde gern alsErstes die Schaffung des Großen Familiengerichts nen-nen. Endlich wird es möglich, über alle Familiensachenbei einem Gericht zu entscheiden. Die heute oft beklagteZersplitterung zwischen Familiengericht einerseits undAmtsgericht andererseits tritt nicht mehr ein.

Wir wollen mit diesem Gesetz regeln, dass Kind-schaftssachen künftig vorrangig und beschleunigt zu be-arbeiten sind. Ich habe eben gesagt, warum das erforder-lich ist. Dies betrifft vor allem Kleinkinder. Wenn hiererst einmal lange Zeit kein Umgangsrecht besteht, dannwird etwas unwiederbringlich geschädigt, und es bedarfvieler Verfahren oder Hilfen, um das zu bereinigen.

Wir wollen deshalb die einvernehmliche Lösung vonVerfahren in Kindschaftssachen stärken. Das heißt, wirwollen in gewissen Fällen quasi vorschreiben, dass eseine Art Mediation geben muss, eine Verständigung da-rüber, ob man sich nicht doch noch einvernehmlich eini-gen kann. Wir wollen den Kindern für die Zukunft dasRecht eines eigenen Verfahrensbeistandes geben. Siesind diejenigen, die in diesen Verfahren am meisten be-troffen sind und deshalb gegebenenfalls objektive Hilfebrauchen.

Die Entscheidung ist das eine. Die Frage, wie man einesolche Entscheidungen vollstreckt, ist das andere. Des-halb schlagen wir bei der Vollstreckung von Sorge- undUmgangsentscheidungen Verfahren vor, die das Ganzeschneller und effektiver gestalten und mehr Druck aus-üben können.

Insgesamt ist es eine gute Reform. Die Tatsache, dasssie so lange gedauert hat, jetzt aber mit ihren über800 Seiten allenthalben große Zustimmung erfährt, zu-mindest im Großen und Ganzen – natürlich gibt es Kritikim Einzelnen; das versteht sich von selbst –, zeigt mir,dass wir hier auf dem richtigen Wege sind. Ich bin si-cher, dass der Deutsche Bundestag die teilweise vorhan-denen Monita der Verbände im Rahmen von Sachver-ständigenanhörungen noch diskutieren und dann imZweifel zu einem vernünftigen Ergebnis kommen wird.

Der zweite Gesetzentwurf betrifft das Klärungsver-fahren hinsichtlich der Vaterschaft. Dieses Thema be-schäftigt uns schon lange. Bereits vor knapp zwei Jahrenhabe ich mich für ein Verbot heimlicher Vaterschaftstestsausgesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat diesjetzt bestätigt und festgestellt, diese Tests stellten einentiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffe-nen dar und seien daher nicht erlaubt. Auf der anderenSeite gibt es natürlich ein legitimes Interesse des Vatersbzw. des vermeintlichen Vaters, zu wissen, ob er wirk-lich der Vater ist, und auch ein Recht des Kindes aufKenntnis der Abstammung.

Deshalb haben wir mit diesem Gesetzentwurf ver-sucht, einen neuen Weg zu gehen. Während das Rechtheute nur das Anfechtungsverfahren kennt, stellen wirmit dem neuen Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt zur Bera-tung vorliegt, ein Verfahren vor, das nur die Feststellungder Abstammung regelt und nicht gleich mit einer Los-sagung verknüpft ist. Es wird also die Möglichkeit geben,festzustellen, ob jemand der Vater ist oder nicht; dieserwird auch dann, wenn er nicht der Vater ist, erklären kön-nen, er wolle trotzdem die soziale Familie aufrechterhal-ten: Ich will mich nicht von meiner Familie lossagen, inder wir zehn Jahre lang gut zusammengelebt haben; daswill ich jetzt nicht zerstören, nur weil ich zwar der soziale,aber eben nicht der biologische Vater bin.

Wir zeigen hier einen Weg auf, der den Interessen derVäter und der Kinder Rechnung trägt, auch wenn ichweiß, dass es Bedenken gibt, ob den Kindern nicht zuviele Rechte gegeben werden. Wir geben den Kinderndas Recht, dann, wenn es ihnen psychisch schlecht geht– wenn sie beispielsweise in der Pubertät erhebliche Pro-bleme haben –, zu verlangen, dass der Vater oder dervermeintliche Vater – also derjenige, der die Feststel-lungsklage erheben will – die Vaterschaftsfeststellungs-klage um ein Jahr verschiebt. Damit wollen wir dieRechte von Kindern schützen, zumal die Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts eine solche Regelungnahelegt.

Ich weiß, dass der Kollege Gehb diese doppelte Mög-lichkeit, die wir vorne und hinten eingezogen haben, alszu weit gehend ansieht. Das werden wir noch zu disku-tieren haben. Hinsichtlich der Frage, ob dies nach derRechtsprechung aus Karlsruhe aus Verfassungsgründenerforderlich ist, werden wir weiteren verfassungsjuristi-schen Sachverstand im Rahmen von Anhörungen hinzu-ziehen können. Ich freue mich auf die Beratungen.

In einem bin ich mir ganz sicher: Wir haben mit bei-den Gesetzentwürfen einen richtigen Weg beschritten,der dem Wohle von Kindern und der möglichst schnellenBeilegung von familiären Streitigkeiten dient. Dass esim Einzelnen noch Korrekturen geben kann, das gehörtzum Struck’schen Gesetz.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger, FDP-Fraktion.

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wir begrüßen es, dass wir heute eineDebatte zum Familienrecht führen; denn es gibt Hand-lungsbedarf. Auf der Tagesordnung stehen nun im Rah-men der verbundenen Debatte mit der großen Reformder Freiwilligen Gerichtsbarkeit und dem Verfahren zurFeststellung der Vaterschaft zwei wichtige Themen. Unsfehlt aber ein ganz wichtiges Thema, nämlich die über-fällige abschließende Beratung des Unterhaltsrechts.

(Beifall bei der FDP)

Sie gehört hierher. Zeitungsberichten konnten wir vorkurzem entnehmen, dass es wieder einmal eine Einigunggegeben habe. Vor der Sommerpause hatten wir es auchmit dem Versuch einer Einigung zu tun. Leider liegtheute kein Ergebnis vor. Natürlich tragen Familienrechtund Unterhaltsrecht zur Gestaltung unserer Gesellschaftbei. Dass die Unterhaltsberechtigten hier Klarheit brau-chen und man das nicht weiter auf die lange Bank schie-ben sollte, auch das gehört, wie ich finde, in die heutigeDebatte zum Familienrecht.

Frau Ministerin, wir begrüßen sehr, dass jetzt zweiGesetzentwürfe zu zwei Themen vorliegen; ich habe be-reits gesagt, dass wir sie für sehr wichtig halten. Es gehtum die Feststellung der Vaterschaft, und zwar vor demganz konkreten Hintergrund der Entscheidung des Bun-desgerichtshofs aus dem Jahre 2005 und vor dem Hinter-grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsvom Februar dieses Jahres.

Dass heimliche Vaterschaftstests vorgenommen wer-den, bewegt nicht nur sehr viele Menschen, sonderndiese Tests haben auch ziemlich große Dimensionen an-genommen. Im Jahre 2005 belief sich ihre Zahl auf50 000. Damit wurde ein Umsatz von 40 Millionen Eurogemacht. In 80 Prozent der Fälle wurde die biologischeVaterschaft des rechtlichen Vaters bestätigt, in immerhin20 Prozent der Fälle aber nicht. Es ist doch klar, dass dieNotwendigkeit besteht, etwas zu unternehmen, damitdiese Heimlichkeit aufhört. Wodurch die Väter veran-lasst werden, an ihrer biologischen Vaterschaft zu zwei-feln, das muss uns hier im Bundestag nicht interessieren;das hat höchst persönliche Gründe, die im familiären Be-reich liegen. Klar ist allerdings, dass diese Entwicklungnicht weitergehen sollte. In rechtlicher Hinsicht darf sieauch nicht weitergehen, weil die Verwertbarkeit der Er-gebnisse heimlicher Vaterschaftstests durch höchstrich-terliche Rechtsprechung untersagt worden ist. Daher be-grüßen wir, dass zwei Gesetzentwürfe vorliegen.

An dieser Stelle erlaube ich mir, darauf hinzuweisen,dass die FDP-Bundestagsfraktion im Januar 2005 einenAntrag mit dem einfachen Titel „Verfahren der Vater-schaftstests vereinfachen und Grundrechte wahren“ inden Bundestag eingebracht hat, in dem wir genau denWeg, den Sie jetzt gehen wollen, die Trennung der Ab-stammung von der möglicherweise folgenden Anfech-tung, vorgeschlagen haben. Insofern hat die Bundesre-gierung die Gedanken, die wir schon damals in unseremAntrag niedergelegt haben, nun in ihren Gesetzentwurfaufgenommen.

Uns liegt auch ein Vorschlag des Bundesrates vor. Wirsind der Meinung, dass er von der Zielrichtung her in ei-nem Punkt eher nicht zu unterstützen ist. Dieser Aspekthat mit der besonderen Lebens- und Entwicklungssitua-tion, in der sich die Kinder befinden, zu tun. Es geht umzweierlei: zum einen um das Grundrecht des Vaters, zuwissen, ob er wirklich der biologische Vater ist, und zumanderen um die Grundrechte des Kindes. Das kann in-nerhalb einer Familie zu sehr schwierigen Situationenführen. Ich sage ganz offen, dass wir vom Grundsatzbzw. vom Ansatz her eher die Richtung befürworten, dieim Gesetzentwurf der Bundesregierung eingeschlagenwurde.

Dazu möchte ich noch eine ergänzende Bemerkungmachen. Frau Ministerin, vielleicht sollten wir im Rah-men dieses Gesetzgebungsverfahrens, möglicherweisein einer Anhörung im Rechtsausschuss zu den verschie-denen familienrechtlichen Gesetzentwürfen, noch über-prüfen: Was ist mit dem mutmaßlichen biologischen Va-ter, der nicht der rechtliche Vater ist? Schließlich gibt esauch den Fall, dass der rechtliche Vater seine Vaterschaftgar nicht anfechten möchte, dass aber jemand anders, dersich nicht in einem rechtlichen Verhältnis zum Kind be-findet, meint, er sei der eigentliche biologische Erzeugerund Vater. Dieser Punkt ist in keinen der Gesetzentwürfeaufgenommen worden. Ich denke, diese Frage könnenwir im Laufe der Beratungen im Rechtsausschuss erör-tern.

Ein wichtiger Bestandteil eines Familienrechts im21. Jahrhundert ist ein angepasstes Verfahrensrecht.Deshalb ist die vorgelegte Reform, die sehr umfangreichist, für unsere Beratungen eine gute Grundlage. Frau Mi-nisterin, es fällt mir besonders leicht, das zu sagen. Dennein strittiger Punkt, der immer unter dem Schlagwort„Scheidung light“ bzw. „Notarielle Scheidung“ behan-delt wurde, ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten.An dieser Regelung wurde auch aus dem Kreis der Ko-alitionsfraktionen schon im Vorfeld Kritik geäußert.Umso leichter und vielleicht auch umso vorurteilsfreierkönnen wir jetzt in die Einzelberatungen zu diesem um-fangreichen Gesetzespaket gehen.

Viele der vorgelegten Regelungen unterstützen wir:die Einführung des Großen Familiengerichts, die Bestel-lung eines Verfahrensbeistands und all die Maßnahmen,durch die versucht wird, die Verfahren zu verbessern undKindschaftssachen Vorrang einzuräumen.

Aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion sehe ichBeratungsbedarf, wenn es um die Verhängung von Ord-nungsmitteln geht, um umgangsrechtliche Entscheidun-gen durchzusetzen. Das ist ein hochsensibler Bereich.Bisher gab es Zwangsmittel. Jetzt sollen es Ordnungs-mittel werden. Ob das für das Kindeswohl das Richtigeist, wagen wir infrage zu stellen. Ich glaube, es wird gutsein, sich auch über diese Punkte intensiv mit Expertenzu unterhalten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Ute Granold, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ute Granold (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe. Ich beschränkemich auf die Reform des Verfahrens in Familiensachenund in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts-barkeit und überlasse die Klärung der Vaterschaft unab-hängig vom Anfechtungsverfahren sehr gerne meinemKollegen Dr. Gehb, der zu diesem Verfahren nicht nureine sehr gefestigte Meinung hat, sondern geradezu prä-destiniert ist, dazu zu sprechen – wobei wir in der Unionseine Meinung voll und ganz teilen.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zu betonen war notwendig!)

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, was dieUnterhaltsreform angeht, kann ich Sie beruhigen. Ichdenke, wir sind da auf einem guten Weg und können dieArbeit an dem Gesetzentwurf sicherlich noch in diesemJahr abschließen und das dann im nächsten Jahr auf denWeg bringen, sodass das Gesetz für die Bürgerinnen undBürger zur Anwendung kommt.

Was die heutige Reform angeht, so muss ich sagen:Wir sind sehr stolz, dass wir ein so großes Gesetzeswerk– 800 Seiten, Sie haben es ja gehört – auf den Weg brin-gen können. Es ist eine gute Grundlage für die weiterenBeratungen. Was das Familienverfahrensrecht angeht,haben wir derzeit ein Sammelsurium von Rechtsvor-schriften: die ZPO, das FGG-Verfahren, die Hausratsver-ordnung, also eine Vielzahl von Gesetzen mit verschiede-nen Verhandlungsmaximen wie Beibringungsgrundsatzund Amtsermittlungsgrundsatz. Selbst für die Praktikerist das Hin- und Herverweisen mühsam. Aber insbeson-dere für die Menschen ist es sehr schwierig, da durchzu-blicken und Akzeptanz zu finden, gerade weil es den pri-vaten Bereich des Lebens betrifft, sollte alles für dieBürger praxisnah geregelt sein.

Reformbestrebungen gibt es schon lange Zeit. SchonMitte der 50er-Jahre gab es eine Kommission zur Re-form des FGG; aber sie hat die Vorschläge nie so weitgebracht, dass sie ins parlamentarische Verfahren einge-mündet sind. Jetzt ist ein Gesetzeswerk auf den Weg ge-bracht worden, das, denke ich, modern ist, das allgemeinverständlich ist und mit dem wir insbesondere dafür sor-gen, dass das materielle Recht schnell und effektivdurchgesetzt werden kann.

Wir haben eine klare Gliederung in diesem Gesetzent-wurf. Im Allgemeinen Teil gibt es erstmals eine klareDefinition des Beteiligtenbegriffes. Aufgrund der Viel-zahl der Beteiligten ist es ganz wichtig, dass dieser Be-griff normiert ist. Wir haben das Verfahren der einstwei-ligen Anordnung einheitlich geregelt. Auch dieRechtsmittel und die Fristen, die bislang sehr unter-schiedlich waren, sind vereinheitlicht. Wir haben erst-mals – das finde ich besonders gut, weil wir in Deutsch-land sehr viele binationale Ehen haben – die Verfahren

mit Auslandsberührung gebündelt in diesem Allgemei-nen Teil zusammengefasst. Das ist für die Praxis wirk-lich hervorragend.

Dann folgt das Herzstück, die Regelung der Familien-sachen, also Scheidung und alles, was daran hängt: Un-terhalt, Kindschaftssachen, Güterrecht, Hausratsverord-nung, Versorgungsausgleich – auch da kommt ja nocheine materielle Neuregelung –, Wohnungszuweisungund auch Gewaltschutzsachen. Im Rahmen der heutigenersten Lesung möchte ich nur einige wenige Punkte an-sprechen. Das vereinfachte Scheidungsverfahren, die so-genannte Scheidung light, ist ja nun Gott sei Dank vomTisch. Sie hat nicht nur in der Rechtspraxis, sondernauch unter den Menschen für viel Verwirrung gesorgt,weil man dachte, man geht zum Notar und wird geschie-den, alles geht ganz schnell und einfach. So ist es nicht.Wir haben für Scheidungen schon derzeit ein sehr einfa-ches und zügiges Verfahren. Das genügt vollkommen.Wir möchten aus dem Schutzgedanken der Ehe herausdoch dafür sorgen, dass man sich das Ganze genau über-legt, dass man gut beraten ist, weil eine Scheidung dochweitreichende Folgen für die Betroffenen hat. Aus die-sem Schutzgedanken der Ehe heraus sagen wir, es sollbei dem Verfahren bleiben, das bislang galt. Das GroßeFamiliengericht – es wurde bereits mehrfach angespro-chen –, das die Trennungs- und Scheidungsangelegen-heiten regelt, wird kommen. Neu ist, dass das Vormund-schaftsgericht aufgelöst wird. Vormundschaftssachen,Pflegschafts- und Betreuungssachen, Adoptionen, Le-benspartnerschaften und auch die Gewaltschutzsachensind mit geregelt, wobei wir bei der Beratung noch ein-mal über die Gewaltschutzsachen nachdenken sollten.Es gibt ja auch Gewaltschutzverfahren und Verfahren zuStalking, die nicht im familiären Bereich liegen. Wirsollten noch einmal darüber reden, warum zum Beispielder Fall eines Filmstars, der bestalkt wird und ein Ge-waltschutzverfahren anstrengt und der Stalker mit ihmgar nichts zu tun hat, es keine familiäre Bindung gibt,am Familiengericht verhandelt werden soll. Das wurdein der Praxis auch schon reklamiert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot wurde ange-sprochen. Ein ganz wichtiger Punkt in dieser Reform ist,dass die Kindschaftssachen vorrangig zu behandeln sind,weil die Kinder am ärgsten von einer solchen Tren-nungs- und Scheidungssituation betroffen sind. Dasheißt also, innerhalb von vier Wochen ab Antragstellungbei Gericht soll ein erster Termin anberaumt werden.Das Jugendamt soll dabei sein, das Kind soll angehörtwerden. In streitigen Fällen soll auch ein sogenannterVerfahrensbeistand installiert werden, der ein eigenesAntrags- und Beschwerderecht hat. Das ist eine gute Sa-che. Dabei muss vielleicht auch einmal hingenommenwerden, dass ein anderes Verfahren, eine Unterhalts-sache oder ein Wohnungszuweisungsverfahren, hintenansteht, weil das Kindeswohl für uns alle hier – ichdenke, das ist unbestritten – sehr im Vordergrund steht.

Der Einsatz des Umgangspflegers, der in der Praxisderzeit schon sehr wichtig ist, soll in streitigen Um-gangsverfahren jetzt gesetzlich geregelt werden. Er ver-

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Ute Granold

sucht, zu koordinieren, weil der Kontakt des Vaters oderder Mutter zum Kind sehr wichtig ist – unabhängig da-von, dass die Eltern auf einer ganz anderen Ebene viel-leicht erheblich streiten. Wenn die Kinder lange Zeit kei-nen Kontakt zu einem Elternteil haben, dann ist daseindeutig schädlich für sie.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Der Gesetzentwurf enthält auch einen Part zur Kon-fliktlösung. Die Mediation, die außergerichtliche Streit-schlichtung, wurde angesprochen. Das ist eine gute Sa-che für die Scheidungsverfahren, aber noch besser fürdie Kindschaftssachen. Man muss darauf hinwirken,Einvernehmen herzustellen, wenn es darum geht, dasSorgerecht, das Umgangsrecht und die Herausgabe vonKindern zu regeln.

Weil es im Vorfeld bei den Verbänden ziemlich vielIrritation gegeben hat, ist es ganz wichtig, dass dieseStreitschlichtung, diese Mediation lediglich an Elementedes sogenannten Cochemer Modells angelehnt wird. Dassoll auch nur in den Fällen geschehen, die dafür geeignetsind, dass man eine solche Streitschlichtung durchführt.Es kann kein Zwang sein, weil man nicht immer mit-einander reden kann. Dies gilt gerade dann, wenn Ge-walt im Spiel ist. Innerhalb eines Scheidungsverfahrenshat man es oftmals auch mit Gewaltdelikten zu tun. Eskann dann nicht sein, dass man gezwungen wird, sich aneinen Tisch zu setzen. Man muss eine andere Regelungfinden, notfalls auch eine gerichtliche Entscheidung her-beiführen. Auf freiwilliger Basis und in geeigneten Fäl-len also Ja, ansonsten sollte man damit etwas zurückhal-tender sein.

Wir wissen sehr wohl – die Länder haben das im Vor-feld kritisiert –, dass das Gesetz natürlich zu einem per-sonellen Mehrbedarf führen wird. Gerade die Jugend-ämter werden dann mehr gefordert. Wir brauchen einebessere Sachausstattung dieser sogenannten Großen Fa-miliengerichte. Das soll es uns aber wert sein, weil dasein ganz wichtiges Verfahren ist. Ich füge hinzu: DieRichter, Anwälte und alle anderen Betroffenen, also dieProfessionen in diesem Verfahren, müssen immer gutgeschult und weitergebildet sein, damit das, was wir aufden Weg bringen wollen, auch gut angewendet wird.

Ganz am Schluss noch einige Sätze zum einstweili-gen Rechtsschutz. Es soll möglich sein, im summari-schen Verfahren ohne Hauptsacheverfahren schnelleEntscheidungen zu treffen. Weil es aber eben ein sum-marisches Verfahren ist, muss die Möglichkeit bestehen,dass das Hauptsacheverfahren durchgeführt wird. Dasgeht nach dem Gesetzentwurf auf Antrag. Auf demDeutschen Familiengerichtstag wurde gesagt, es solleobligatorisch sein, wenn es um Kindschaftssachen geht.

Darüber und auch über die Frage, inwieweit Konsensmit den Ländern hergestellt werden kann, die hinsicht-lich der Kosten das eine oder andere noch einmal geklärthaben wollen, sollten wir in der weiteren Beratung imEinzelnen noch einmal sprechen.

Dabei möchte ich es belassen. Ich hoffe auf gute Be-ratungen im Ausschuss. Das spannende Thema der Va-terschaftsanfechtung überlasse ich dem Kollegen Gehb.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nach acht Jahren steht nun erneut eine Re-form des FGG an. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe,die wir uns vorgenommen haben. Das wird deutlich,wenn man sich die Zielstellung, die mit dem Reformvor-haben verbunden ist, anschaut: Ausbau des lückenhaftenFGG zu einer zusammenhängenden Verfahrensordnung,rechtsstaatliche Ausgestaltung des Verfahrens, Koordi-nierung mit anderen Verfahrensordnungen, anwender-freundlicher Gesetzesaufbau und anwenderfreundlicheGesetzessprache, Stärkung der konfliktvermeidendenund konfliktlösenden Elemente im familiengerichtlichenVerfahren.

Grundsätzlich stimmt die Linksfraktion diesem An-sinnen zu, weil wir der Meinung sind, dass das Gesetzdamit transparenter und bürgernäher wird.

Wenn man sich diesen Gesetzentwurf jedoch einmalvornimmt und sich durch die Vorschriften und Angele-genheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit quält, dannmacht man eigentlich eine gegenteilige Erfahrung. Denersten Entwurf habe ich damals noch als Familienrichterauf den Tisch bekommen. Ein bisschen hat sich geän-dert. Beim Lesen der einschlägigen Vorschriften wirdman aber doch arg gequält.

Der grundsätzliche Ansatz, die entsprechenden Vor-schriften der ZPO für Familiensachen in ein einheitli-ches Familienverfahrensgesetz zu überführen und nurdie Besonderheiten in die jeweiligen Regelungsbereicheaußerhalb der vor die Klammer gezogenen allgemeinenRegelung zu stellen, ist jedoch zu begrüßen.

Ebenso begrüßt meine Fraktion die vorgesehene Auf-lösung des Vormundschaftsgerichts und die Förderungder gerichtlichen und außergerichtlichen Streitbeilegung.Großes Lob – ich glaube, das sehen wir fraktionsüber-greifend so – verdient die Entscheidung zur Streichungder vereinfachten Scheidung, die im ersten Referenten-entwurf noch enthalten war; ich meine das sogenannteScheidung-light-Verfahren. Wenigstens in diesem Punkthat die Regierung eingesehen, dass der Schutz von Jus-tizressourcen nicht zulasten der Rechtsuchenden gehendarf.

Der Gesetzentwurf scheint aber in mancher Hinsichtdie Philosophie des in der Praxis doch umstrittenen undwissenschaftlich nicht unabhängig evaluierten Coche-mer Modells verwirklichen zu wollen; das ist geradeschon angesprochen worden. Die Frage ist, wie viel

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Cochemer Modell im Sinne der Sorge- und Umgangsbe-rechtigten verträglich ist. Das wird von meiner Fraktioneben anders als vom Gesetzentwurf beantwortet. Eskann nicht unter allen Umständen erzwungen werden,dass Eltern sich einigen. Insbesondere die Fälle derhäuslichen Gewalt sind bei den Umgangsregelungen,wie sie jetzt vorliegen, nicht ausreichend berücksichtigt.

Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in § 155 istebenso wie das Hinwirken auf Einvernehmen nichtgrundsätzlich zu kritisieren. Aber die besondere Situa-tion in den Fällen häuslicher Gewalt muss einen stärke-ren Niederschlag finden. Es fällt auf, dass der Gesetzent-wurf ausdrücklich die Zusammenführung zerstrittenerEltern und deren Versöhnung herbeizuführen versucht.Situationen, in denen vorangegangene und angedrohteGewalthandlungen jede Zusammenführung zum Risikowerden lassen und eine Versöhnung weder möglich nochanzuraten ist, wird an keiner Stelle explizit Rechnunggetragen.

Rechts- und vor allem familienpolitisch für verfehlthalte ich, dass anstelle freiwilliger Angebote immer wie-der unter Berufung auf das vorgebliche KindeswohlZwangsmaßnahmen ergriffen werden sollen. Dazumöchte ich ganz konkret einen besonders wichtigenPunkt nennen. Ein Ordnungsmittel zur Vollstreckung – dieFrau Ministerin hat es angesprochen – der Herausgabevon Personen und zur Regelung des Umgangs ist in mei-nen Augen untragbar: nämlich die Ordnungshaft. Esgeht nicht um einfache Verfahren, in denen ein normalerTitel vollstreckt werden soll. Es geht um Menschen undum das Kindeswohl. Das Kindeswohl wird hier ja immeran erster Stelle genannt. Frau Ministerin, Sie wollen mirdoch nicht allen Ernstes sagen, dass es für das Kindes-wohl förderlich ist, wenn ein Elternteil in Ordnungshaftgeht?

(Zuruf von der SPD: Wieso denn nicht?)

Es wird sehr schwer werden – das ist mir und meinerFraktion auch klar –, in diesem verfassungsrechtlich ge-schützten und sehr sensiblen Bereich für alle Beteiligtenangemessene Lösungen zu finden. Daher schlage ichvor, das neue familiengerichtliche Verfahren mit wenigZwang und möglichst viel außergerichtlicher Schlich-tung und Beratung auszustatten.

Wir wollen, dass der Gesetzentwurf klare und eindeu-tige Regelungen formuliert, die den Kindern und ihremWohl in auffallend schwierigen Situationen und proble-matischen Familienphasen Chancen für eine gute Ent-wicklung und Erziehung eröffnen. Zu den weiterenEntwürfen gibt es, denke ich, aufgrund der unterschiedli-chen Interessenlagen – das ist hier schon angesprochenworden – noch diversen Diskussionsbedarf in den Aus-schüssen. Es handelt sich um die Umsetzung der verfas-sungsgerichtlichen Vorgaben. Aber auch diesbezüglichist es dem Gesetzgeber – mithin uns – in seinem Gestal-tungsraum unbenommen, die Rechte von Frauen undKindern entsprechend hoch anzusiedeln und zu schüt-zen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In einem Punkt war das Gesetz über die freiwillige Ge-richtsbarkeit schon immer eine Mogelpackung: In wei-ten Teilen der Regelungen hatte es mit Freiwilligkeitnichts zu tun. Ich denke nur an das gesamte Freiheitsent-ziehungsverfahren, an die Betreuungs- und Unterbrin-gungssachen und vieles andere, was mit Freiwilligkeitbeileibe nichts zu tun hat.

Ganz im Gegenteil: Das Gesetz zur Regelung der An-gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit war voneinem obrigkeitsstaatlichen Denken geprägt. Dasschreibt selbst die Bundesregierung in den einleitendenFormulierungen zu diesem Gesetz. Es war voller Lü-cken. Die Rechtssprechung hat nach dem Zweiten Welt-krieg jahrzehntelang versucht, grundrechtliche Überle-gungen durch Ausgestaltungen im Richterrecht zurGeltung zu bringen und die Lücken im Gesetz zu schlie-ßen.

Die Debatte über eine Reform des FGG – das istschon angesprochen worden – gibt es seit 50 Jahren. Seitmindestens 25 Jahren gibt es zudem eine Debatte überein einheitliches Familienverfahrensrecht. Deshalb be-grüßen die Grünen es ganz ausdrücklich, dass nun end-lich ein umfassender Gesetzentwurf zur Regelung alldieser Angelegenheiten auf den Tisch gelegt wird. DerGesetzentwurf richtet sich im Grundsatz an den Grund-rechten der Bürgerinnen und Bürger und damit der Be-teiligten aus und regelt in einem eigenen einheitlichenFamilienverfahrensgesetz all das einheitlich, was bisherin der ZPO, im FGG, im BGB, in der Hausratsverord-nung und in vielen anderen Regelungen so lückenhaft,widersprüchlich und schwerverständlich gefasst war,dass es für die Bürgerinnen und Bürger schier nicht zuverstehen war.

Die Erreichung der selbst gesetzten Ziele des Gesetz-entwurfs – nämlich eine zusammenhängende Verfah-rensordnung zu entwickeln, eine vernünftige Koordinie-rung mit den anderen Verfahrensordnungen zu erreichenund einen anwenderfreundlichen Gesetzesaufbau darzu-stellen – scheint uns in diesem Entwurf sehr wohl gelun-gen. Insbesondere weise ich wie meine Vorrednerinnenund Vorredner auf die Einrichtung des Großen Familien-gerichts hin. Diese Forderung wird seit vielen Jahren er-hoben und ist sicherlich auch berechtigt.

Ich will aber wie meine Vorrednerinnen und Vorred-ner auch auf folgenden Punkt hinweisen: In der Begrün-dung der Vorlage heißt es auf Seite 352 unter anderem:

Der Schwerpunkt des familiengerichtlichen Verfah-rens liegt im Aspekt der Fürsorge des Gerichts fürdie Beteiligten und in der erhöhten staatlichen Ver-

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Jerzy Montag

antwortung für die materielle Richtigkeit der ge-richtlichen Entscheidung …

Nach meiner Überzeugung verträgt sich eine solche rich-tige Zielrichtung nicht mit der Idee einer Scheidunglight. Deswegen finden auch wir es richtig, dass diesesVerfahren in dem Gesetzentwurf nicht weiterverfolgtwird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Raab [CDU/CSU])

Zwei Punkte der Kritik will ich schon an dieser Stelleanbringen. Die Auseinandersetzung im Einzelnen wer-den wir im Rechtsausschuss zu leisten haben.

Die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Verfahrens isteine Kernaussage über die Zielrichtung des Gesetzent-wurfs. Zu einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Ver-fahrens gehört auch ein ausreichender und dem Systemund dem einzelnen Bürger und der einzelnen Bürgerinangemessener Rechtsschutz. Deswegen kritisieren wirausdrücklich, dass die bisher vorhandene Nichtzulas-sungsbeschwerde in diesem Verfahren ersatzlos gestri-chen wird. Das wird dazu führen, dass es insbesondere inden Verfahren, in denen es um Freiheitsentziehungengeht – Abschiebeverfahren, Unterbringungs- und Be-treuungssachen, aber auch Freiheitsentziehungen in an-deren zivilrechtlichen Bereichen –, zu einer Uneinheit-lichkeit der Rechtssprechung kommen kann und derRechtszug der Bürgerinnen und Bürger, der bisher mitder Nichtzulassungsbeschwerde bis zum BGH eröffnetwar, verkürzt wird.

Der zweite Kritikpunkt ist schon angesprochen wor-den. Ich will es kurz machen. Die Grundzüge des soge-nannten Cochemer Modells werden von uns begrüßt.Aber sie sind nicht für alle Familiensituationen ange-messen.

(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])

Auch in diesem Zusammenhang darf ich aus dem Ge-setzentwurf zitieren. Auf Seite 356 steht:

Das familiengerichtliche Verfahren ist wie keineandere gerichtliche Auseinandersetzung von emo-tionalen Konflikten geprägt, die letztlich nicht justi-ziabel sind, aber einen maßgeblichen Einfluss aufdas Streitpotenzial und die Möglichkeiten zur gütli-chen Beilegung einer Auseinandersetzung haben …Der Verfahrensgesetzgeber muss ein geeignetesInstrumentarium zum Umgang mit diesen Konflik-ten bereitstellen.

Das ist bisher nicht ausreichend geschehen. Denn in Fäl-len häuslicher Gewalt gilt es, Opfer und Täter nicht zu-sammenzubringen, sondern voneinander zu trennen. Dasmuss noch im parlamentarischen Verfahren in die ent-sprechenden Verfahrensbestimmungen des Familienver-fahrensgesetzes eingearbeitet werden.

(Beifall des Abg. Martin Zeil [FDP])

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Montag.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dies ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIELINKE])

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Lambrecht,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Christine Lambrecht (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich,dass weitgehende Einigkeit zum einen bei der Bewer-tung der Scheidung light – dieser Begriff hat sich einge-bürgert – und zum anderen darüber besteht, dass die Re-form des FGG-Verfahrens in die richtige Richtung geht.Sicherlich sind noch nicht alle dieser Meinung. Aber wirwerden bei den anstehenden Beratungen viel erreichen,und zwar im Hinblick auf die Transparenz für Bürgerin-nen und Bürger, zügigere Entscheidungen in Familiensa-chen und die Stärkung der Rechte der Kinder. Wenn mansich heutzutage scheiden lassen will und es sind das Um-gangsrecht und unterhaltsrechtliche Sachen zu klären,dann ist es für den Bürger bzw. die Bürgerin ein sehrschweres Unterfangen, herauszufinden, welches Gerichtzuständig ist und welche Verfahrensgrundsätze gelten.Das eine wird beim Familiengericht verhandelt und ent-schieden. Manch andere Dinge, die mit einer Scheidungzusammenhängen, werden wiederum beim Amtsgerichtentschieden. Es werden unterschiedliche Akten geführt.All das ist sehr schwer zu verstehen, und zwar nicht nurfür die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für Juris-ten, die nicht selbst mit Familiensachen betraut sind.Deswegen begrüße ich die Einrichtung eines Großen Fa-miliengerichts sehr. Man weiß in Zukunft, dass dort allesanhängig ist und dass man sich dorthin zu wenden hat.So wird das Verfahren für die Betroffenen transparenter.Das wird auch dazu führen, dass die Gerichte wenigerbelastet werden; denn alles ist in einer Hand.

Das wird hoffentlich auch die Dauer der Familienver-fahren verkürzen. Im Jahr 2005 zum Beispiel betrug dieVerfahrensdauer bei Streitigkeiten über das Umgangs-recht genau 6,8 Monate. Das ist zu lange. Zu diesemSchluss kommt man, wenn man sich die Situation in ei-ner Familie anschaut, die in Scheidung lebt. In der Zeit,in der über das Umgangsrecht gestritten wird, habenKinder keinen Kontakt zum anderen Elternteil. Dadurchkann die Beziehung gefährdet werden. Deswegen freutes mich, dass der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht,dass über das Umgangsrecht schnell und vorrangig zuentscheiden ist, das heißt, dass innerhalb eines Monatsnach Antragseingang darüber zu beraten ist. Ich glaube,das ist ein wichtiger Schritt, um die Beziehung des Kin-des zu dem Elternteil, mit dem es nicht mehr zusammen-lebt, zu stärken, zu festigen oder gegebenenfalls über-haupt aufrechtzuerhalten.

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Christine Lambrecht

(Beifall bei der SPD)

Die Rechte der Kinder werden meines Erachtens wei-ter gestärkt, beispielsweise durch die Einführung einesVerfahrensbeistandes, der im Gegensatz zum Verfah-renspfleger auf das Verfahren aktiv Einfluss nehmenkann. Herr Wunderlich, ich kann in vielen Fällen keineBevormundung darin sehen, dass ein Verfahrensbeistandbeispielsweise die Möglichkeit hat, die Elternteile an ei-nen Tisch zu bringen und zusammen mit ihnen zu versu-chen, eine Umgangsrechtregelung zu vereinbaren. Selbstwenn die Parteien aufgrund der Scheidungssituation zer-stritten sind: Warum soll man sich nicht wenigstens inBezug auf das Kind einigen können? Den Zwang, denSie beschrieben haben, sehe ich aufgrund meiner Erfah-rung als Scheidungsanwältin überhaupt nicht gegeben.

(Beifall bei der SPD – Jörn Wunderlich [DIELINKE]: Aus der Erfahrung des Gerichtskenne ich das aber auch anders!)

– Das mag sein. Vielleicht tauschen wir uns über unsereunterschiedlichen Erfahrungen einmal aus. Aber Ihrestrikte Unterstellung, dadurch würden Zwang und Be-vormundung ausgeübt, lehne ich ab; denn oft sind dieParteien in einer solchen Situation hilflos. Da sie damitnicht zurechtkommen, sind sie für einen Vorschlag vonaußen sehr dankbar, mit dem ihnen eine Brücke gebautwird, die sie selbst gar nicht bauen könnten. Vielleichtsollten wir diesen Aspekt in den anstehenden Beratun-gen berücksichtigen.

Ich möchte noch etwas zur Kritik am Ordnungsgeldsagen. Wenn gegen Umgangsrechtsvereinbarungen ver-stoßen wird, kann das bislang mit Zwangsmitteln belegtwerden. Das erweist sich aber in vielen Fällen als stump-fes Schwert, weil die Frist abgelaufen ist, innerhalb derersolche Mittel verhängt werden können. Ein Beispiel: Esist festgelegt, dass das Kind über Weihnachten zum Va-ter soll. Die Mutter lässt es aber nicht zum Vater. Es wirddann versucht, die Vereinbarung per Zwangsmitteldurchzusetzen. Wenn aber Weihnachten bereits vorbeiist, ist das nicht mehr möglich. Dann ist das Zwangsmit-tel ein stumpfes Schwert. Ein Ordnungsgeld könnte auchim Nachhinein verhängt werden – in diesem Fall nachWeihnachten –, um der Mutter oder dem Vater aufzuzei-gen, dass man in Zukunft so nicht mehr verfahren darfund in erster Linie die Interessen des Kindes zu berück-sichtigen hat. Vielleicht ist ein Ordnungsgeld nicht aus-reichend. Aber ich glaube, dass ein vom Gericht ver-hängtes Ordnungsgeld für viele ein Appell ist, mehrVernunft walten zu lassen. Deswegen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, lassen Sie uns noch einmal darüber re-den! Ich glaube, dass es im Hinblick auf den Umgangdes Kindes mit dem betroffenen Elternteil durchaus vonInteresse ist, dafür zu sorgen, dass das Umgangsrechtdurchgesetzt wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich zum Schluss – ich kann gar nicht aufdie ambitionierte Rede des Kollegen Gehb, die wirgleich zu hören bekommen, reagieren –

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann rufen wir dazwischen!)

noch etwas zur Anfechtung der Vaterschaft sagen. Mo-mentan sind die Väter in einer schwierigen Situation,wenn sie die biologische Vaterschaft feststellen lassenwollen, weil Zweifel aufgekommen sind; denn sie sindzu einem Verfahren gezwungen, in dem nicht nur die Va-terschaft festgestellt wird, sondern in dem sie diese auchausdrücklich anfechten müssen. Sie haben keine Mög-lichkeit, sich für einen Mittelweg zu entscheiden. DieseSituation werden wir jetzt durch ein zweigliedriges Ver-fahren entschärfen. Wenn der Vater Zweifel hat, hat erdie Möglichkeit, nur die Vaterschaft feststellen zu lassen.Was er mit dieser Erkenntnis macht, also wenn er zu den20 Prozent gehört, die nicht die biologischen Väter ihrerKinder sind, ist ihm überlassen. Er kann auch sagen,dass die Bindung zu dem Kind mittlerweile so groß ist,dass er es weiterhin als sein Kind ansieht, auch wenn diebiologische Vaterschaft geklärt und er nicht der Vater ist.Das war bisher nicht der Fall. Deswegen freut es mich,dass es zu dieser Zweiteilung kommt.

Ich habe allerdings bei einem Punkt noch Bauch-schmerzen. Ich bitte, dass wir uns alle darüber Gedankenmachen. Ich habe den Eindruck, dass die Hürde sehrniedrig bzw. überhaupt nicht vorhanden ist, die der Vaterzu überschreiten hat, wenn er ein solches Verfahren an-strengen möchte. Er muss lediglich erklären, dass erZweifel hegt.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Eigentlich nicht einmal das!)

Viel mehr muss er nicht machen. Dann kommt es au-tomatisch zu diesem Verfahren. Man muss bedenken,dass damit Rechte Dritter betroffen sind, nämlich dasRecht des Kindes und das der Mutter. Wir müssen unsauch überlegen, ob wir es schaffen – ohne wieder Hür-den aufzubauen, also ohne sagen zu müssen: „Beim Fa-schingsfest 19sowieso mit dem und dem“; so ist das jamomentan –, einen Mittelweg zu finden, um die Interes-sen und Belange des Kindes und der Mutter zu gewähr-leisten. Vielleicht gelingt uns das in gemeinsamer An-strengung. In diesem Sinne freue ich mich auf dieZusammenarbeit und auf die Beratungen im Ausschuss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mutter

eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat –§ 1591 BGB. Sie schauen ganz erstaunt, Herr Strässer.Das hört sich trivial an. Ich werde Ihnen gleich sagen,dass das gar nicht so trivial ist. „Mater semper certa est“,haben schon die Römer gesagt. Ein Auseinanderfallenzwischen biologischer Abstammung und rechtlicher

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Dr. Jürgen Gehb

Mutterschaft kennt unser Recht nicht. Ich will im Mo-ment die in Deutschland verbotene Leihmutterschaft unddas damit zusammenhängende Problem ausblenden,dass durch In-vitro-Fertilisation extrakorporal in der Pe-trischale eine Eizelle befruchtet und dann einer anderenFrau implantiert wird. Gängigerweise kennen wir dasProblem nicht.

Ganz anders beim Vater. Da finden wir nicht etwa dieRegelung: Vater ist der Mann, der das Kind gezeugthat. – Schön wär’s.

(Heiterkeit)

Vater kann nämlich erstens der Mann sein, der zum Zeit-punkt der Geburt des Kindes mit der Mutter verheiratetist – § 1592 Nr. 1 BGB –, oder der Mann, der die Vater-schaft anerkannt hat – § 1592 Nr. 2 BGB –, oder derje-nige, dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt wordenist. Nun gibt es aufgrund des wissenschaftlichen Fort-schritts treffsicherere Methoden zur Vaterschaftsfeststel-lung als diejenige, die der als Literat auftretende Land-gerichtsrat a. D. aus Freiburg Ingo Iltis in seinemlegendären Werk Die Dritte Grazie. Ungraziöse Verse zuLasten der Justiz wie folgt in einem Schüttelreim formu-liert hat. Ich rezitiere die Ballade vom Schwängerer derFrau L.:

Ein Dreierteam Frau Langer schwenkte,bis sie die Schritte schwanger lenkte.Der Richter erst des längern schwankte,wem es denn wohl zum Schwängern langte.Er fand das Schwängeren gelungendem, der den Längeren geschwungen.Der eben diesen Längern schwang,bereute dann das Schwängern lang.

(Heiterkeit und Beifall)

Warum trage ich diese Ballade vor?

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weil es sonst keiner kann! – ChristineLambrecht [SPD]: Zugabe!)

Sie dient nicht nur dem Amüsement des Auditoriumsund zugegebenermaßen auch meinem eigenen – ich hättemich nur schwer beherrschen können, Ihnen diese vor-zuenthalten –, nein.

(Heiterkeit)

Mit der Schaffung etwa molekularbiologischer Untersu-chungen von Haaren, Speichel oder Blut – die klassischeDNA-Analyse – ist zwar eine Methode gewonnen. Aberwas nützt es denn dem rechtlichen Vater, dem Zahlvater– manche würden auch sagen: dem Dukatenesel –, wenner das nicht geltend machen kann?

So ist es nach geltendem Recht. Versuchen Sie ein-mal, diese gesetzliche Vermutung – praesumptio iuris –zu erschüttern! Ich habe das schon mehrmals gesagt; daskann man gar nicht oft genug sagen:

(Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es schon öftersversucht!)

Ein Ehemann kann im Grunde genommen seine Vater-schaft nur anfechten, wenn er nach zwölf Monaten Ab-wesenheit auf einer Bohrinsel in Alaska zurückkommtund seine Frau ihn mit einem dunkel pigmentiertenSäugling auf dem Arm empfängt. Alle anderen Hürdensind viel zu hoch. Frau Lambrecht, Sie haben vorhin ge-sagt, die Hürden sind viel zu niederschwellig. Jetzt sindsie viel zu hochschwellig.

(Heiterkeit)

Ich will Ihnen den Fall nennen, mit dem sich das Bun-desverfassungsgericht befasst hat und der dazu geführthat, dass wir aufgerufen sind, bis zum 31. März nächstenJahres eine neue Verfahrensart zu finden. Im Jahr 1994hat der Beschwerdeführer die Vaterschaft für ein Kindseiner Lebenspartnerin, mit der er zusammengelebt hat,anerkannt. 1997 kamen die ersten Zweifel. Ein Urologehat ihm bescheinigt, dass seine Zeugungsfähigkeit auf10 Prozent reduziert ist. Der Bundesgerichtshof hat ihmerklärt: Eine 10-prozentige Zeugungsfähigkeit begründetkeinen durchgreifenden Zweifel gegen die Vaterschaft.

Derselbe Mann geht anschließend mit dem Kau-gummi des Kindes zu einem privaten Genlabor undmacht den Test. Der Arzt sagt ihm: Ein jeder ist der Va-ter, du nicht. – Der Mann sagt sich: „Jetzt hab ich’s!“und geht wieder zum Familiengericht. Diesmal sagt derBundesgerichtshof: Das mag ja alles sein. Nur, das Er-gebnis dieses Gutachtens können wir nicht zu Beweis-zwecken verwerten. – Dafür hätte ich noch Verständnis.Aber es hat auch nicht gereicht, um die Plausibilität sei-ner Darlegung, nicht der Vater zu sein, zu begründen.Die Figur des informationellen Selbstbestimmungs-rechts, die vom Bundesverfassungsgericht im Volkszäh-lungsurteil in den 80er-Jahren erfunden worden ist unduns allenthalben begegnet, führt wieder einmal dazu,dass verhindert wird, dass dem materiellen Recht zumDurchbruch verholfen wird.

Deswegen haben nicht nur Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, im Januar 2005, sondern auch ich am11. März 2005 von dieser Stelle hier in der mir eigenenBescheidenheit schon einmal gefordert: Wir brauchenneben dem Anfechtungsverfahren mit seinen formellund prozedural hohen Anforderungen ein Verfahren, umeinfach festzustellen, ob man der Vater ist.

Der Grund ist doppelt sinnvoll: Wenn nämlich die Va-terschaft feststeht, ist Ende, und er sagt: Ich war malwieder ein bisschen eifersüchtig. Gott sei Dank, alles inOrdnung. – Wenn er erfährt, er ist nicht der Vater, kanner sagen: Der Junge sieht zwar aus wie der Briefträger,aber er ist ein netter Kerl.

(Heiterkeit)

Er ist mir irgendwie ans Herz gewachsen. Ich will unseresoziale Bindung nicht kappen und verzichte auf ein An-fechtungsverfahren. – Dazu muss er aber die Möglich-keit haben.

(Heiterkeit)

Zum Abschluss komme ich zu der nachdenklichenFrage, ob mit der Schaffung dieses dualen Verfahrens-wegs – einmal lediglich Feststellung der Vaterschaft und

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Dr. Jürgen Gehb

zum anderen das sich eventuell anschließende Anfech-tungsverfahren – der sogenannte heimliche Vaterschafts-test, der besser diskreter Vaterschaftstest heißen sollte,obsolet wird. Das wage ich zu bezweifeln. Wie soll sichder Vater, der sich mit Zweifeln über seine Vaterschaftquält, einen sichereren Eindruck vermitteln, ohne es andie gerichtliche Glocke zu hängen? Er kann erst einmalzu einem privaten Labor gehen und fragen: Bin ich’soder bin ich’s nicht? – Wenn er nicht der Vater ist, ist au-ßer Spesen nichts gewesen. Aber wenn man erst in derFamilie den Zweifel anmeldet oder gar zum Familienge-richt wieselt – da bin ich mir ziemlich sicher –, ist derFamilienfrieden ruiniert. Um das zu verhindern, mussman, glaube ich, mit diesem diskreten Vaterschaftstestnoch rechnen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/6308, 16/6561 und 16/5370 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Klärungder Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren,Tagesordnungspunkt 7 b, liegt inzwischen auf Druck-sache 16/6649 die Gegenäußerung der Bundesregierungzu der Stellungnahme des Bundesrats vor, die wie derGesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenKoppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Missbilligung der Äußerungen des Bundesmi-nisters der Verteidigung Dr. Franz Josef Jungzum Abschuss von in Terrorabsicht entführtenFlugzeugen

– Drucksache 16/6490 –

Über den Antrag werden wir später namentlich ab-stimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen!

... ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GGschlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage ei-

ner gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Men-schen, die sich wie die Besatzung und die Passa-giere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für siehoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls so-gar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeitenvorsätzlich zu töten.

Dies ist eine – ich habe sie zitiert – der zentralen Aussa-gen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts vom 15. Februar 2006 zu § 14 Abs. 3 des damali-gen Luftsicherheitsgesetzes.

Der Bundesverteidigungsminister hat in einem Inter-view am 17. September 2007 zum Abschuss von Flug-zeugen mit unbeteiligten Passagieren gesagt – ich zitiereaus dem Interview –:

Wenn es kein anderes Mittel gibt, würde ich denAbschussbefehl geben, um unsere Bürger zu schüt-zen.

Mit dieser Aussage hat sich der Minister über die Ent-scheidung und die Ausführungen des Bundesverfas-sungsgerichts hinweggesetzt.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. GertWinkelmeier [fraktionslos] – Dr. Jürgen Gehb[CDU/CSU]: Nein!)

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteilferner ausgeführt, dass im Rahmen der Gestaltungsmög-lichkeiten des Staates die Wahl immer nur auf solcheMittel fallen kann, deren Einsatz mit der Verfassung inEinklang steht. Für die FDP-Bundestagsfraktion stelleich fest: Der Abschuss entführter Passagierflugzeuge ge-hört nicht dazu.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Diese Auffassung vertritt auch die für das Verfassungs-recht mit zuständige Bundesjustizministerin. Sie hat er-klärt:

Wir haben eine Verfassungsgerichtsentscheidung,die uns solcher Diskussionen völlig enthebt.

Über diesen Komplex haben wir, meine Kolleginnenund Kollegen, am 19. September in einer AktuellenStunde diskutiert. Nach Auffassung der FDP-Bundes-tagsfraktion erlaubt es dieser Vorgang aber nicht, einfachzur Tagesordnung überzugehen; denn es geht um dieEinhaltung des wichtigsten Grundsatzes unserer Verfas-sung, um die Einhaltung des Kerngrundsatzes der Unan-tastbarkeit der Menschenwürde. An diesen Grundsatzsind – wir sind alle froh darüber – alle staatlichen Or-gane gebunden. Der Bundesverteidigungsminister istnach Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes an Recht und Ge-setz gebunden. Der Deutsche Bundestag ist als Gesetz-gebungsorgan an die verfassungsmäßige Ordnung ge-bunden. Deshalb ist es ein wichtiger und notwendigerparlamentarischer Vorgang, Äußerungen, die damit nichtin Einklang zu bringen sind, hier in dieser Form anzu-sprechen und sie zu missbilligen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Das gehört zur Kontrollaufgabe des Parlaments.

Das Grundgesetz und die Autorität des Bundesverfas-sungsgerichts stehen ebenso wenig zur Disposition wiedas Leben der Bürgerinnen und Bürger. Herr Bundesver-teidigungsminister, leider mussten wir erst vor kurzem,am Wochenende, in einem Interview lesen, dass Sie ander Position, die Sie im Interview mit dem Focus imSeptember formuliert haben, eindeutig festhalten. Siehaben auf eine Frage geantwortet, es gelte alles das, wasSie dazu gesagt haben. Herr Minister Jung, Sie habenhier im Bundestag bisher nicht die Gelegenheit genutzt,klarzustellen, dass Sie nicht beabsichtigen, einen rechts-widrigen Befehl zu erteilen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Gehb?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Bitte.

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie ha-

ben in Ihrer Rede wiederholt gesagt, das Bundesverfas-sungsgericht habe entschieden, dass der Abschuss vonZivilmaschinen verboten sei. Kennen Sie die Tenorie-rungsformel des Bundesverfassungsgerichts, und kennenSie vor allen Dingen das obiter dictum – das ist eine Ent-scheidung, die man so nebenbei trifft – in derRandziffer 130?

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Erwachsene Juristen!)

Sie lautet:

Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleich-wohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihnbezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilenwären …

In Klammern folgt ein Rattenschwanz von Fundstel-len aus Rechtsprechung und Literatur, die durchaus dasPhänomen betreffen, dass jemand in einer solchen Tri-age-Situation, in einer unausweichlichen Situation, stehtund, wenn er handelt, dabei die Wahl zwischen Scyllaund Charybdis hat.

Ist Ihnen diese Randziffer bekannt, und würden Sievor dem Hintergrund dieses obiter dictums weiterhinIhre Behauptung aufrechterhalten, dass das Bundesver-fassungsgericht verboten habe, Zivilflugzeuge dieserartabzuschießen?

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist auch einfach verboten!)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Herr Gehb, genau diese Ausführungen haben Sie in

der Aktuellen Stunde hier im Deutschen Bundestag ge-macht. Ich kenne natürlich nicht nur diese Randziffer,

sondern auch viele folgende Randziffern dieser Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es ist eineganz große Selbstverständlichkeit, dass über die straf-rechtliche Verantwortung eines Ministers, der einen sol-chen Befehl gibt, und eines Piloten, der in der Situationist, ihn ausführen zu sollen, aber nach dem Soldatenge-setz nicht ausführen zu dürfen, das Bundesverfassungs-gericht an dieser Stelle nichts sagen konnte.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. RenateKünast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aha! – RenateKünast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unddas ohne Randziffer! – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Es ist so! Den Unterschied sollte manals Jurist kennen! Viertes Semester, Herr Kol-lege!)

Aber das Bundesverfassungsgericht musste natürlichklar sagen, dass es eben nicht mit dem Grundgesetz inEinklang zu bringen ist, wenn für den Abschuss entführ-ter Passagierflugzeuge eine gesetzliche Grundlage – da-mals in § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ge-schaffen werden soll.

Dass es eine schwierige Situation ist, hat uns der Alt-bundeskanzler Helmut Schmidt in vielen Ausführungendeutlich gemacht.

Aber hier geht es darum, Herr Gehb, dass es keineGrundlage gibt und auch keine gesetzliche Grundlagedafür geschaffen werden kann, dass entführte Flugzeuge,die mit Passagieren oder mit Besatzungsangehörigen be-setzt sind, abgeschossen werden dürfen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowieder Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN] und des Abg. Gert Winkelmeier[fraktionslos] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]:Das ist der Trugschluss!)

Ich mache allgemein weiter, Herr Gehb; vielen Dank.

Es ist so, dass nach dem Soldatengesetz ein rechts-widriger Befehl mit einer Aufforderung zu einer Straftatnicht befolgt werden darf, dass auch der übergesetzlicheNotstand ein solches Verhalten rechtswidrig bleiben lässtund dass nur in dieser persönlich ganz schwierigenSituation, wenn ein solcher Fall tatsächlich eintretensollte, eine Abwägung vorgenommen wird, wie weiteine persönliche Verantwortung vorliegt und welcheKonsequenzen ein Strafgericht daraus zu ziehen hat.

Es kann nicht im Raum stehen bleiben, dass ein Bun-desverteidigungsminister nicht nur bereit gewesen wäre,einen rechtswidrigen Befehl zu erteilen, sondern dass erdamit große Verunsicherung in die Kreise der Bundes-wehr und ihrer Soldatinnen und Soldaten getragen hat.Es ist es die oberste Verantwortung und Pflicht einesBundesverteidigungsministers, der ja der höchste Vorge-setzte aller Soldatinnen und Soldaten ist, sich nur imRahmen dessen zu bewegen, was nach unserer Verfas-sung geboten und möglich ist.

(Beifall bei der FDP)

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Deshalb ist es auch ein einmaliger Vorgang, dass derBundeswehr-Verband die Kampfjetpiloten im Rahmendieser Diskussion zur Befehlsverweigerung aufgefordertund aufgerufen hat. Es ist bis heute im Bundestag nochkeine Klarstellung hinsichtlich der Pressemitteilungenerfolgt, die besagen, dass es schon eine Aufforderunggeben solle – ich formuliere im Konjunktiv: geben solle –,dass Kampfpiloten ausgesucht würden, die im Zweifel ineiner solchen Situation, die wir heute nicht antizipierenkönnen, bereit wären, einen Befehl auszuführen. Hier imBundestag muss klargestellt werden, dass das gar nichterst versucht wird, es eine solche Anweisung nicht gibt,sodass insofern wieder Beruhigung bei den Soldatinnenund Soldaten einkehren kann.

Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, halten dies alles füreinen sehr gravierenden Vorgang. Das darf so nicht imRaum stehen bleiben. Wir dürfen nur über das reden,was verfassungsrechtlich im Rahmen dessen, was dasBundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nie-dergelegt hat und unser Grundgesetz vorsieht, möglichist. Deshalb bitten wir, unserem Missbilligungsantragzuzustimmen.

An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen vonder SPD-Bundestagsfraktion möchte ich sagen: Sie wer-den frei entscheiden. Herr Kauder hat damals bei derRede Ihres Fraktionsvorsitzenden den Plenarsaal verlas-sen. Jetzt hat er Sie quasi über die Presse angewiesen,unseren Antrag abzulehnen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Sie werden bestimmt in Abwägung aller Argumente

entscheiden.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bernd Siebert (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, in der Tathatten wir nach der Aktuellen Stunde am 19. Septembererwartet, dass Sie hier einen Missbilligungsantrag ge-genüber unserem Verteidigungsminister einbringen. Dashaben Sie dann ja auch getan und eben noch einmal be-gründet. Ich will nicht verhehlen, dass ich während derDiskussion der letzten Tage durchaus die Vermutunghatte – diese haben Sie am Schluss Ihrer Rede auch be-stätigt –, dass es Ihnen gar nicht um eine sachliche De-batte geht, sondern um politischen Klamauk. Das habenja insbesondere Ihre letzten Bemerkungen deutlich ge-macht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte versuchen, mich sachlich mit dem Themaauseinanderzusetzen.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die Verfas-sung ist kein Klamauk!)

– Aber die Schlussbemerkungen von Frau Leutheusser-Schnarrenberger waren das sehr wohl, Herr Vorsitzenderder FDP und Herr Fraktionsvorsitzender.

Die Debatte über den möglichen Abschuss eines vonTerroristen entführten Flugzeugs wurde in den vergange-nen Wochen heftig und überaus emotional geführt, so-wohl hier als auch außerhalb dieses Parlaments. Dasüberrascht nicht, handelt es sich doch um ein Thema, dasman gerne verdrängen möchte. Gerade wir als Politikerdürfen diesen Fragen aber nicht ausweichen, auch wennes vielleicht bequemer wäre. Wir sind nämlich in diesesParlament gewählt worden, um auch auf solche unbe-quemen Fragen eine Antwort zu geben.

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung hat dazu Stel-lung bezogen. Als Minister ist es sein Auftrag, Sicher-heitsvorsorge zu betreiben. Sicherheitsvorsorge bedeu-tet, dass man im Voraus und nicht etwa im NachhineinSzenarien durchdenkt, die durchaus realistisch sind, wieseit dem 11. September 2001 sicherlich allen zur Kennt-nis gebracht wurde, sehr, sehr schmerzlich übrigens.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber diese Szenarien sind ja nicht mehrrealistisch!)

Selbstverständlich bildet die Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts vom Februar 2006 die Grundlagealler weiteren Überlegungen. Daran hat Franz Josef Jungauch nie einen Zweifel aufkommen lassen. Es war alsoin der Tat grotesk und vermessen, einem Bundesministerzu unterstellen, wie Sie es leider eben wiederholt getanhaben, er wolle bewusst gegen die Verfassung verstoßen.

Die rot-grüne Bundesregierung hatte ein Gesetz ver-abschiedet, weil es offensichtlich Regelungsbedarf gab.Dieser Regelungsbedarf besteht auch nach der Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts fort. Verantwor-tung in der Politik, so wie ich sie verstehe, bedeutetnicht, nun achselzuckend zur Tagesordnung überzuge-hen. Vielmehr geht es darum, innerhalb der von den Ver-fassungsrichtern gesetzten Grenzen nach den möglichen,angemessenen und verhältnismäßigen Maßnahmen unddem politisch Machbaren zu suchen. Nichts anderesmacht Franz Josef Jung.

Immerhin geht es um die zentrale Frage, welcheHandlungsoptionen unser Land in einer existenziellenBedrohungslage besitzt. Die Aussage, ein entführtesFlugzeug unter Umständen abzuschießen, stellt dochkeinen Automatismus dar. Daher gehen die gegenüberMinister Jung erhobenen Vorwürfe am Kern seiner Ab-sicht vorbei. Ihm geht es doch vielmehr darum, Men-schenleben zu retten und die Bevölkerung zu schützen.

Das Luftsicherheitsgesetz – so wurde in der damali-gen Debatte im Jahre 2004 hier vorgetragen –

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Bernd Siebert

regelt in sehr engen Grenzen auch die Zulässigkeiteines Flugzeugabschusses. … In unserer Demokra-tie kann nur die Politik eine derart schwere Verant-wortung übernehmen. Wir dürfen diese Last nichtden Soldatinnen und Soldaten aufbürden.

Dieses Zitat stammt aus der Rede des damaligen Innen-ministers Schily, gehalten am 30. Januar 2004 hier indiesem Hause. Auch um diese Frage geht es.

Der Notstand, auf den Minister Jung hinweist, ist imStrafgesetzbuch normiert. Das Bundesverfassungs-gericht hat in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetzgerade im Hinblick auf diese Bestimmungen die straf-rechtliche Seite des Abschusses eines Flugzeuges aus-drücklich offengelassen. Wer sich im Falle des Miss-brauchs eines entführten Flugzeuges als Terrorwaffe aufden Notstand beruft, muss auf dieser Grundlage eigen-verantwortlich entscheiden und handeln.

Kein politisch Verantwortlicher wünscht sich, in einesolche Situation gestellt zu werden. Der damalige Minis-ter Dr. Peter Struck hat einmal gesagt, es bliebe ihm da-nach nur die Entscheidung zum Rücktritt. Diese Aussageverdeutlicht aber gerade, dass der Inhaber der Befehls-und Kommandogewalt allen Anlass hat, im Voraus einerechtliche und politische Klarstellung zu fordern. Insbe-sondere in einer Verfassungsordnung, in der staatlicheSicherheitsorgane nur aufgrund klarer, vorhersehbarerund rechtlich einwandfreier Vorgaben eingesetzt werdenkönnen, müssen grundlegende Weichenstellungen recht-zeitig im Vorfeld erfolgen.

Die Akzeptanz eines generellen Abschussverboteswürde die Entscheidungshoheit über die Frage, wannund wo Menschen zu Tode kommen, allein den Terroris-ten zubilligen. Der Staat muss jedoch die Initiative be-halten. Die Antwort auf die Frage, wem das Gesetz desHandelns zuzubilligen ist – Terroristen oder der demo-kratisch legitimierten Staatsgewalt, die sich für ihr Vor-gehen jederzeit politisch und rechtlich verantwortenmuss –, dürfte eigentlich in diesem Hause einhellig aus-fallen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vomFebruar 2006 ist in jeder Hinsicht zu respektieren. Diesgebietet unsere Achtung vor dem höchsten Gericht, demdie verbindliche Interpretation des Grundgesetzes zu-kommt. Ein sorgfältiges Studium des Urteils zeigt je-doch, dass das Bundesverfassungsgericht Spielräumeaufzeigt

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nein!)

– aber selbstverständlich! –, die wir politisch ausfüllenkönnen und müssen. Das Urteil stellt insofern keine ab-schließende Vorgabe für staatliches Handeln in extremenBedrohungslagen dar.

So hat das Gericht die juristische Behandlung be-stimmter Konstellationen offengelassen. Wie sich dieRechtslage bei kriegerischen Maßnahmen oder bei derAbwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Ge-meinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts-ordnung gerichtet sind, darstellt, war zum Beispiel nicht

Gegenstand des Urteils. Hier hat das Bundesverfas-sungsgericht jedenfalls auch eine solidarische Einstands-pflicht des Einzelnen bis hin zur Aufopferung des eige-nen Lebens nicht ausgeschlossen.

Dass heute Terroranschläge vorstellbar sind, die sichmit kriegerischen Angriffen gleichsetzen lassen, hat dieBundesregierung einvernehmlich im Weißbuch festge-stellt. Die Schwierigkeit der Beurteilung, ab welchemAusmaß eines Terroranschlages diese Voraussetzungenerfüllt werden, ist offenkundig. Allein deshalb jedochvor Extremsituationen die Augen zu verschließen, würdeweder der Schutzpflicht gegenüber den Bürgerinnen undBürgern gerecht, noch entspräche es der Fürsorgever-pflichtung gegenüber den Angehörigen der Bundeswehrund der Sicherheitskräfte, die dringend klare Vorgabenund Rechtssicherheit benötigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wehrhafte Demokratie und Rechtsstaat bedeuten,dass menschenverachtende Angriffe auf unser Gemein-wesen nicht außerhalb unserer Rechtsordnung, sonderngerade mit den Mitteln der Rechtsordnung bekämpftwerden müssen. Das mag eine Weiterentwicklung unse-rer Verfassung und unseres Verfassungsverständnisseserfordern, ist aber besser, als sich zur Handlungsunfähig-keit zu verurteilen. Nichts stellt meiner Auffassung nachunseren Rechtsstaat mehr infrage, als die Behauptung,man sei extremsten Formen terroristischer Angriffewehrlos ausgeliefert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hierzu auf der Basis des Urteils des Bundesverfas-sungsgerichts nach politischen Lösungen zu suchen,sollte Konsens in diesem Hohen Hause sein. Um nichtsanderes hat Bundesminister Jung bei seinem Vorstoß ge-worben. Ich appelliere deshalb an die Fraktionen und anuns alle in diesem Hause, gemeinsam daran zu arbeiten,die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger im Rah-men des Machbaren zu erhöhen.

Der Antrag der FDP wird uns dabei nicht helfen. Des-wegen weisen wir ihn mit aller Entschiedenheit zurück.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Jan Korte hat jetzt das Wort für die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist die Tragik solch unvorstellbarer Terrorangriffe,dass sie letztendlich juristisch nicht hinlänglich zu be-handeln sind. Vielleicht wäre dieser Gesichtspunkt derrichtige Ansatz für die Debatte gewesen. Es ist aber ge-nau andersherum gelaufen; denn Sie, Herr MinisterJung, haben in einer Art Harter-Mann-Manier – offen-sichtlich frei von Zweifeln und ohne, dass Sie einmal in

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Jan Korte

sich gegangen sind – genau gewusst, was in einem be-stimmten Fall, den man sich eigentlich gar nicht näherausmalen kann, zu tun ist. Ein Minister, der einen Abwä-gungsprozess bereits abgeschlossen hat, bevor überhauptetwas passiert ist, kann nicht seriös über eine Frage dis-kutieren, die nicht endgültig zu beantworten ist.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ein Minister, der sich über die Rechtsprechung deshöchsten Gerichtes einfach hinwegsetzt – die KolleginLeutheusser-Schnarrenberger hat das schon dargelegt –,ist nicht tragbar. Man stelle sich einmal vor, was hier losgewesen wäre, wenn ein Minister der Linkspartei so ge-redet hätte. Das muss man einmal klar sagen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Man muss politisch bewerten, in welchem Zusam-menhang Sie Ihre Aussage über abzuschießende Flug-zeuge getroffen haben. Parallel dazu hat ein andererMinister, nämlich Bundesinnenminister Schäuble, voneventuellen nuklearen Anschlägen gesprochen. DieFrage ist, welchen Einfluss diese Äußerungen auf dasgesellschaftliche Klima haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Sie erzeugen mit solchen Horror- und Angstszenarieneine Stimmung in der Bevölkerung, wie sie bei einemallgemeinen Ausnahmezustand herrscht. Die Menschenwerden dadurch empfänglich für autoritäre Politik-ansätze, die wir grundsätzlich ablehnen. Das ist der Kernder politischen Auseinandersetzung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Die entscheidende Frage in den Debatten ist, ob ange-sichts der inneren Militarisierung, die mit der von derGroßen Koalition verursachten äußeren Militarisierungzusammenhängt, die Verhältnismäßigkeit noch gewahrtist und welche Ängste in der Bevölkerung dadurch aus-gelöst werden. Wenn eine Bevölkerung Angst hat, dannist sie in der Folge nicht mehr mündig, dann lebt sienicht mehr frei und artikuliert sich entsprechend.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Die FDP hat heute einen Missbilligungsantrag einge-bracht. Dies ist auch deswegen richtig, weil die Bundes-kanzlerin, die eigentlich die Richtlinienkompetenz hat,offensichtlich nicht in der Lage ist, dazu ein klares Wortzu sprechen. Es gibt heute in diesem Haus eine Mehrheitfür diesen Antrag. Ich würde mir wünschen – das ist un-sere Aufforderung an die SPD –, dass die SPD zu ihrenWorten steht und nun Taten folgen lässt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der FDP und des Abg. Gert Winkelmeier[fraktionslos])

Ich glaube, dass wir in diesen Debatten mit Hysterieund einer Haudrauf-Stimmung nicht weiterkommen.

Solche Zustände sind im Kern immer antidemokratisch.Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass all die de-mokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften, über diewir in den letzten Monaten gesprochen haben, in denletzten Jahrzehnten und Jahrhunderten unter großen Op-fern erkämpft worden sind. Wir sollten daher etwas vor-sichtiger und sorgfältiger mit solchen Fragen umgehen.Darum stimmen wir diesem Antrag selbstverständlichaus vollem Herzen zu.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Olaf Scholz hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Olaf Scholz (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Debatte, die wir hier führen, ist eine sehr ernsthafte,und sie sollte mit dem nötigen Ernst geführt werden. Ge-statten Sie mir deshalb ein paar ernste Bemerkungen.

Dass der Deutsche Bundestag im Januar 2005 ein Ge-setz beschlossen hat, das sich mit der Frage eines mögli-chen Abschusses von Flugzeugen beschäftigt, das Luft-sicherheitsgesetz, hat eine Ursache. Diese Ursache warder 11. September 2001, waren die Terroranschläge aufNew York und andere Ziele in den Vereinigten Staaten.Wir alle erinnern uns sehr genau an diese Ereignisse. Ichglaube, in diesem Parlament oder anderswo sitzt nie-mand, der sich nicht präzise daran erinnern kann, was ermachte, als ihn diese Nachricht erreichte, der dieschrecklichen Bilder von den Menschen, die aufgrunddes Anschlages dem Tode geweiht waren, nicht immerwieder vor Augen hat.

Ich selbst verbinde damit noch sehr präzise andere Er-innerungen. Ich war zu dieser Zeit Innensenator in Ham-burg und trug damit Verantwortung. Wir unternahmendamals den Versuch, herauszufinden, ob sich in der Stadtoder anderswo in Deutschland weitere Terroristen befin-den; denn wir mussten damals lernen, dass sich drei derAttentäter ganz legal in Deutschland, in Hamburg auf-hielten. Eine ganze Nacht lang versuchte ich mit derHamburger Polizei und allen anderen Sicherheitsbehör-den, mögliche Komplizen und andere Täter zu finden. Inder Polizeizentrale waren immer wieder die Bilder derAnschläge zu sehen. Deshalb finde ich es nur richtig,dass sich der Deutsche Bundestag sehr sorgfältig mit derFrage beschäftigt, was man tun kann. Deshalb fand undfinde ich es richtig, dass sich die letzte Bundesregierungdarüber Gedanken gemacht hat und einen entsprechen-den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht hat.

Debatten wie die, die wir heute führen, sind aber im-mer wieder auch Anlass, sich sorgfältig mit der Frage zubeschäftigen, was richtig ist. Im Nachhinein, nachdemich damals und jetzt und auch im Zusammenhang mitder Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gele-genheit hatte, mich mit dem Thema auseinanderzuset-zen, muss ich sagen: Ich bin froh darüber, dass es Kläger

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Olaf Scholz

gegen das Gesetz gegeben hat, das ich als Abgeordnetermit beschlossen habe, und ich bin nach langer, sehr sorg-fältiger Überlegung sehr wohl der Überzeugung, dassdie Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts richtigist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Wir sollten diese Debatte nutzen, um uns mit den Er-wägungen des Gerichts auseinanderzusetzen. Das Ge-richt hat uns gesagt: Ihr dürft kein Gesetz machen, dasden Abschuss eines Zivilflugzeuges mit unschuldigenMenschen, die dem Tod geweiht sind, regelt. – Wir dür-fen das nicht legalisieren, das ist im Kern die Aussagedes Bundesverfassungsgerichts.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Keine Carte blanche!)

Man kann verstehen, warum wir uns im Januar 2005 soentschieden haben. Es ist aber richtig, dass uns das Bun-desverfassungsgericht zurückgerufen und gesagt hat: Sokönnt ihr das nicht machen; ihr könnt das nicht durch einGesetz regeln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derFDP sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,dass die Situation, die entstehen kann, eine ganz außer-ordentliche ist und es keine generellen Regelungen ge-ben kann, nach denen man sich auf diese Situation vor-bereitet. Es hat nicht gesagt: Wenn man sich entscheidet,die Verantwortung zu tragen und die Möglichkeiten derBundeswehr einzusetzen, bleibt man straffrei. Es hat nurgesagt: Es kann sein, dass es so ist. Das ist eine Frage,die das Gericht nicht zu klären hatte. Das Gericht hatniemandem, weder den Soldaten der Bundeswehr nochdem Bundesverteidigungsminister, die Sicherheit gege-ben, dass sie sich darauf verlassen können, dass das zwarillegal ist, aber straffrei bleibt.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist der Punkt!)

Das ist nicht das Ergebnis der Verfassungsrechtspre-chung. Dieser Spielraum ist durch das Urteil des Bun-desverfassungsgerichts nicht entstanden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Insofern hat uns das Bundesverfassungsgericht damit al-leingelassen. Es hat richtigerweise darauf hingewiesen,dass wir uns in einer ganz besonderen und außerordentli-chen Situation unserer Verantwortung zu stellen haben.

Es gibt nicht den Ausweg einer vorweggenommenenAbwägung. Da sind wir mit dem Bundesverteidigungs-minister nicht einer Meinung; denn es ist gewissermaßenwie ein Gesetz, wenn ich mir jetzt überlege, was ich ineiner solchen Situation tun werde. Das Bundesverfas-sungsgericht hat uns gebeten, genau das zu unterlassen.Es hat gesagt: Wir können das nicht wie ein Gesetz re-geln. Wir können keine abstrakte Regelung für die Zu-

kunft treffen. Es muss der schicksalhafte Einzelfall blei-ben, in dem die Menschen, die die Verantwortungtragen, entscheiden. Darum distanzieren wir uns von denAbwägungen, die der Bundesverteidigungsminister indieser Frage getroffen hat.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich bitte darum, diese Debatte zu nutzen, um wiederauf den Einzelfall zurückzukommen. Ich habe denWunsch, dass der Minister, dessen Arbeit ich unterstütze– darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen –,die Gelegenheit nutzt, dies zu tun. Das ist für ihn undseine Arbeit genauso wichtig wie für die Bundeswehrund die Soldaten, die dort tätig sind. Wir müssen uns andie Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und,wie ich finde, aus Überzeugung an die Erwägungen desGerichts halten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen zu Anträgen, die in diesem Parlament ge-stellt werden, Stellung beziehen. Deshalb will ich Ihnenan dieser Stelle ausdrücklich sagen: Die SPD-Bundes-tagsfraktion hat sich entschieden, den Missbilligungsan-trag abzulehnen;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

denn wir wollen, dass Herr Jung Verteidigungsministerbleibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Niemand könnte verantworten, dass jemand Verteidi-gungsminister ist, dem vom Bundestag eine solche Miss-billigung ausgesprochen wurde. Das ist für uns derGrund, so zu entscheiden. Er soll weiter im Amt bleiben.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie schreiben gerade Bundestagsge-schichte mit dieser Argumentation!)

Er soll in dieser Regierung die Verantwortung für dieSoldaten dieser Republik tragen, und er soll es gut ma-chen. Deshalb gibt es von uns keine Zustimmung zu die-sem Antrag.

Ich will ein weiteres Thema ansprechen, das in die-sem Zusammenhang eine Rolle spielt. Wir haben mitdem damaligen Gesetz den Versuch unternommen, eineRegelung zu treffen, die so nicht zu treffen war. Aber dasBundesverfassungsgericht hat uns gesagt, dass wirselbstverständlich eine Regelung treffen können für denFall, dass es sich um unbemannte Flugzeuge oderSchiffe handelt, oder um Flugzeuge und Schiffe, in bzw.auf denen sich nur Terroristen und Attentäter befinden.Ich glaube, es ist richtig, wenn wir sehr bald eine solcheRegelung, die das Gericht ermöglicht hat, treffen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Übrigens ist das der wahrscheinlichere Fall. Aufgrundall der Erkenntnisse, die wir aus der damaligen Katastro-phe gezogen haben, und all den zusätzlichen Sicherheits-maßnahmen ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass unseine genaue Kopie der damaligen Anschläge droht; es

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werden andere Situationen sein. Da wäre es hilfreich,wenn uns in dem zulässigen Rahmen eine gesetzlicheHilfe zur Verfügung stünde.

Was brauchen wir jetzt? Wir brauchen Maßnahmender Gefahrenabwehr, mit denen wir die Polizei der Län-der bei den Aufgaben, die sie in diesem Zusammenhanghaben, unterstützen können. Weil wir nicht wollen, dasssich unsere Polizei mit Kampfflugzeugen und U-Bootenausrüstet, müssen wir gesetzlich ermöglichen, dass ihnenin diesen Fällen die Bundeswehr hilft, aber eben nur inden Fällen, in denen das Gericht das für zulässig gehal-ten hat, und nur auf diesen Bereich bezogen. Unser Vor-schlag ist, dies im Rahmen von Art. 35 des Grundgeset-zes zu regeln. Wir planen aber in keiner Weise denEinsatz der Bundeswehr im Innern. Das brauchen wirnicht, und das ist auch nicht notwendig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDPund der LINKEN sowie der Abg. RenateKünast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Damit es keine Missverständnisse gibt: Wir habengute Gründe, den Einsatz der Bundeswehr zu beschrän-ken. Ihre Instrumente sollen den Innen- und Sicherheits-behörden zur Verfügung stehen; die Bundeswehr ist insolchen Fällen nur als Hilfe gedacht. Wir wollen ebennicht, dass über eine ausgeweitete Definition des Vertei-digungsfalles eine Situation entsteht, in der die Bundes-wehr in immer mehr Fällen eingesetzt wird. Ich bittealle, die diesen Gedanken verfolgen, ihn schnell wiederfallen zu lassen und die Kurve zu kriegen; denn das kannnicht gutgehen.

Soziologisch und bei Betrachtung der internationalenPolitik kommen wir mit diesem Begriff sehr weit; manwundert sich, was alles Verteidigung sein kann. Leichtkönnten Fälle auftreten, die wir alle gemeinsam nichtmeinen. Deshalb sollte es bei der scharfen Trennungbleiben, die unser Grundgesetz vorgibt. In diesem Sinnesollten wir etwas Sinnvolles zustande bringen. Ich for-dere daher alle auf, unseren Vorschlägen zu folgen, wasdie Grundgesetzergänzung anbetrifft, und ansonstenbitte ich nochmals, den Antrag abzulehnen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Ihr seid mir Helden! SelbstbewussteParlamentarier! Das macht Parlamentsge-schichte, Herr Scholz! Sie missbilligen, undwir dürfen nicht missbilligen!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege

Wolfgang Wieland.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

nehme den Zwischenruf des Kollegen Westerwelle auf:Herr Kollege Scholz, Sie haben hier zwar erklärt, Siewürden die Hand für die Missbilligung nicht heben; aberIhr Beitrag war in der Sache nichts anderes als die Miss-billigung des Verteidigungsministers

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg.Gert Winkelmeier [fraktionslos])

und insbesondere der Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion und dessen, was Herr Siebert gesagt hat.

Niemand aus der Opposition verkennt die Zwangs-lage, in der sich der Verteidigungsminister befindet, undspricht ihm ab, dass das Horrorszenario an die Nervengehe, dass sich ein Flugzeug einem Fußballstadion odereinem Atomkraftwerk nähert. Darüber hat er ja in derHessenschau geredet. Allerdings gibt es ein großesAber: Auch diese Zwangslage kann nicht entschuldigen,dass der auf die Verfassung vereidigte Minister so tut, alshabe es die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts nicht gegeben. Dies ist auf das Schärfste zu miss-billigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg.Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Wir mussten als Grüne dieses Urteil auch zur Kennt-nis nehmen; es wurde schließlich gegen uns erlassen.Wir waren der Ansicht, dass die Verfassung den Ab-schuss eines besetzten Passagierflugzeuges verbiete undes deswegen nicht nötig sei, dies ausdrücklich noch ein-mal ins Gesetz zu schreiben. Das Bundesverfassungsge-richt hat den Kollegen Schily in der mündlichen Ver-handlung gefragt: Wenn Sie gar keine Maschineabschießen wollen, weshalb schreiben Sie dann eine Be-fugnis ins Gesetz? Das war eine nur zu berechtigteFrage. Wir als Grüne haben verstanden; dies gilt auch fürdie SPD. Meine Damen und Herren von der Union, Siesollten endlich verstehen. Darauf warten wir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Kollege Siebert, da Sie ständig nach Wegen undAuswegen suchen und denken, es müsse irgendwie dochnoch gehen, zitiere ich aus der Entscheidung:

Eine solche Behandlung

– der Abschuss –

missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würdeund unveräußerlichen Rechten. Sie werden da-durch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung an-derer benutzt wird, verdinglicht und zugleichentrechtlicht; …

Eine schlimmere und zugleich eindeutigere Aussage istkaum möglich. Kein Minister darf entrechtlichen oderverdinglichen. Weiter heißt es in diesem Satz, es werdeden „Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der demMenschen um seiner selbst willen zukommt“. Hier istSchluss mit allen anderen Überlegungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Was Ihren wiederholten Hinweis auf eine Passage an-geht, in der von einem Angriff auf die Grundlagen desRechtsstaates die Rede ist, fordere ich Sie auf, zweiSätze weiter zu lesen. Da heißt es, dass die Szenarien ei-

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nes Flugzeugangriffes gerade nicht diese Kriterien erfül-len. Deswegen gibt es auch keinen Quasi-Verteidigungs-fall, von dem Herr Schäuble immer redet. Er kann seinenganzen Otto Depenheuer und was er sonst immer holt,um einen Ausnahmezustand herbeizureden, vergessen;es käme hier zu keinem anderen Ergebnis. Die Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts war eindeutig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Ein letzter Satz zum außergesetzlichen oder überge-setzlichen Notstand. Wie der Begriff schon sagt, ist esder Zustand außerhalb des Gesetzes. Aber ein Ministersteht doch nicht außerhalb des Gesetzes; er hat sich striktinnergesetzlich zu bewegen. Der Bürger Jung mag dasvorbringen, wenn er denn – behüte, dass es geschieht –einmal angeklagt wäre. Dann könnte er sich Schuld aus-schließend oder entschuldigend darauf berufen. Aber erkann doch als Minister keine staatsrechtliche Konstruk-tion schaffen, nach der dies ein möglicher Weg wäre.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-KEN)

Ich komme zum Schluss. Der eine Teil des Kabinettserklärt frank und frei, er wolle Passagiermaschinen ab-schießen lassen, selbst wenn es keine gesetzliche Rege-lung dafür gibt, und zwar so lange, bis es sie gibt. Derandere Teil des Kabinetts ist darüber entsetzt. Es istkeine Daffke der Opposition, wenn sie fragt: Wie stehtdazu eigentlich die Person, die die Richtlinienkompetenzhat? Warum schweigt sie an dieser Stelle? Wie so oft istsie nicht festgelegt. Ich denke, das Parlament sollte ihreine Entscheidungshilfe geben, indem es diese Äuße-rung und dieses Verhalten von Minister Jung eindeutigmissbilligt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zum Abschluss dieser Debatte spricht der Kollege

Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (fraktionslos): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Entweder haben Sie, Herr Minister Jung, in Ihrem Hausgrottenschlechte Juristen, oder Sie haben während IhresStudiums ab und zu einmal geschlafen. Wie sonst ist eszu erklären, dass Sie bis heute darauf bestehen, Men-schenleben gegen Menschenleben abzuwägen, und da-mit gegen Art. 1 des Grundgesetzes verstoßen? Dafürwollen Sie sogar noch im Vorhinein Straffreiheit zugesi-chert bekommen. Sie stehen einfach mit dem Grundge-setz auf Kriegsfuß.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteilzum Luftsicherheitsgesetz festgestellt, dass dies „schlech-terdings unvorstellbar“ ist; der Ausdruck „schlechter-

dings“ ist an dieser Stelle ein Synonym für das Wort„völlig“. Aus dieser Situation kommen Sie nicht heraus,auch wenn Sie den kriminellen Akt, dass ein entführtesFlugzeug als Terrormittel benutzt wird, zur militärischenAngriffshandlung umdefinieren und versuchen, darauseinen Verteidigungsfall zu konstruieren. Sie können sichso viel drehen und winden, wie Sie wollen: Sie sind lei-der Ihrem Kollegen Schäuble auf den Leim gegangen,der sich schon als Student mit einem Grundsatzurteil desBundesgerichtshofes hätte auseinandersetzen müssen.Vor 55 Jahren hat der BGH zwei Euthanasieärzte wegenBeihilfe zum Mord verurteilt. Als Rechtfertigung sagtensie, sie hätten mitgemacht, um zumindest einen Teil derKranken zu retten. Diese Argumentation hat der BGHverworfen, weil der Grundsatz des kleineren Übels nichtgilt, wenn es um Menschenleben geht.

Herr Minister, das Fatale an Ihrer Haltung ist nicht inerster Linie Ihr Starrsinn. Sie sind der Inhaber der Be-fehls- und Kommandogewalt. Damit ist Verantwortungverbunden. Sie haben Verantwortung für Ihre Untergebe-nen, in diesem Fall für die Piloten der Jagdgeschwa-der 71 und 74. Dieser Verantwortung werden Sie jedochnicht gerecht; denn einen Teil dieser Piloten haben Sienach Ihren eigenen Aussagen bereits vor Jahresfrist,während der Fußballweltmeisterschaft, auf eine Straftatverpflichtet, nämlich auf einen glatten Verstoß gegen§ 11 des Soldatengesetzes. Sie wollen aus dieser Angele-genheit straffrei herauskommen? Das ist ungeheuerlichund in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

In einer Demokratie muss der Bürger im Prinzip da-rauf vertrauen können, dass sich seine Politiker Rechtund Verfassung nicht nach eigenem Gutdünken zurecht-biegen. Wie können Sie erwarten, dass Ihre Soldaten,zum Beispiel die in Afghanistan, bei einem solchen Vor-bild nach wie vor rechtstreu handeln? Ganz nebenbei: Inder Praxis würden Sie niemals die erforderliche Zahl vonPiloten zusammenbekommen, die an 365 Tagen im Jahrin zwei Geschwadern bereit wären, Ihre Abschussbe-fehle auszuführen.

Sie haben sich völlig verrannt, Herr Minister. Weil Sieda offensichtlich nicht mehr alleine herauskommen,muss sich die Bundeskanzlerin endlich öffentlich von Ih-nen distanzieren und Ihnen eine Rüge aussprechen,

(Beifall bei der LINKEN)

auch wenn sie damit ihren Parteifreund Herrn Koch ver-grätzen sollte.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion der FDP auf Drucksache 16/6490 mit dem Titel„Missbilligung der Äußerungen des Bundesministers derVerteidigung, Dr. Franz Josef Jung, zum Abschuss vonin Terrorabsicht entführten Flugzeugen“. Die Fraktion

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12236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

der FDP verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das istder Fall. Dann eröffne ich jetzt die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Dann schließe ich hiermit die Abstimmung. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab-stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Wir setzen unsere Beratungen fort. Ich rufe Tagesord-nungspunkt 9 a und 9 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten JensAckermann, Kerstin Andreae, Ingrid Arndt-Brauer und weiteren Abgeordneten eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desGrundgesetzes zur Verankerung der Genera-tionengerechtigkeit(Generationengerechtigkeitsgesetz)

– Drucksache 16/3399 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten DianaGolze, Katja Kipping, Jan Korte, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Soziale Gerechtigkeit statt Generationen-kampf – Für eine nachhaltige Politik desSozialstaates im Interesse von Jung und Alt

– Drucksache 16/6599 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)InnenausschussFinanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Es ist verabredet, hierüber eine Dreiviertelstunde zudebattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dannist es so beschlossen.

Ich gebe zu, dass ich die Aussprache gerne eröffnenwürde, wenn die meisten, die dieser Debatte nicht folgenwollen, den Saal verlassen und sich die übrigen auf ihrePlätze begeben haben.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zuerst dem Kol-legen Peter Friedrich für die SPD-Fraktion das Wort.

1) Ergebnis Seite 12238 C

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP])

Peter Friedrich (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Alle, die noch hiergeblieben sind, um einwenig zuzuhören, lade ich sehr herzlich ein, dieser De-batte zu folgen, weil wir in der Tat über ein Thema spre-chen, das eigentlich – dies erkennt man, wenn man dieDebatten des heutigen Tages verfolgt hat – alles durch-zieht, was wir hier tun.

Wir haben heute über die Zukunft des Arbeitsmarktesund über die Kinderbetreuung debattiert. Auch, wenn esum die äußere Sicherheit geht, kommt eigentlich keinRedner darum herum, darüber zu reden, dass es um einenachhaltige Sicherung unseres Wohlstandes, unsererFreiheit und der Solidarität geht. Insofern durchzieht dasThema Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeitsämtliche Debatten des Deutschen Bundestages immerwieder. Deswegen war es das Anliegen von über100 Abgeordneten, das, was die Politik permanent be-schäftigt, auch ins Grundgesetz aufzunehmen.

Der Gesetzentwurf liegt Ihnen vor. Der Kernsatz lau-tet:

Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip derNachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künf-tiger Generationen zu schützen.

Die Initiatorinnen und Initiatoren begehren, das insGrundgesetz aufzunehmen.

Der Gedanke der Nachhaltigkeit ist bereits heute inArt. 20 a des Grundgesetzes angelegt. Dort ist er aberauf den Bereich der Umwelt, der Ökologie, einge-schränkt. Wir wollen, dass dieser Gedanke darüber hi-naus gilt. Ich werde einige Beispiele dafür nennen, inwelchen Lebensbereichen der Gedanke der Nachhaltig-keit verankert werden müsste und worüber Politik disku-tieren sollte.

Wir haben uns der Frage zu stellen, ob die Formulie-rung eines solchen Staatszieles geeignet ist, der Politikdie Selbstverpflichtung aufzulegen, dass sie die Interes-sen künftiger Generationen und den Grundsatz derNachhaltigkeit tatsächlich in allen Politikbereichen be-herzigt. Dazu wird mein Kollege Carl-Christian Dresselinsbesondere die juristische Seite abdecken.

Ich möchte einiges zu den verschiedenen Themenfel-dern sagen, um die es geht. Wir Initiatorinnen und Initia-toren aus vier Fraktionen dieses Hauses sind uns in demZiel einig, die Selbstverpflichtung der Politik zu errei-chen, bei allen Entscheidungen auch die Generationen-gerechtigkeit ins Auge zu fassen. Wir sind uns aber kei-neswegs einig, wenn es um die Instrumente geht, die zubenennen sind. Deswegen sind wir wahrscheinlich auchin unterschiedlichen Parteien.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!)Nachdem es uns gelungen ist, über alle Generationen

von Abgeordneten hinweg Initiatoren zu finden, findeich es sehr bedauerlich, dass es uns nicht gelungen ist,dies auch über alle Parteien hinweg zu erreichen. Ich

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12237

(A) (C)

(B) (D)

Peter Friedrich

danke der Fraktion, die sich Die Linke nennt, dafür, dasssie einen Antrag eingebracht hat, in dem sie auf der ers-ten Seite begründet, warum es des Teufels ist, überNachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit zu reden,während sie auf der zweiten Seite acht Forderungen auf-stellt, was jetzt dringend zu tun ist, um Generationenge-rechtigkeit und Nachhaltigkeit herbeizuführen. DiesesVerhalten ist äußerst schizophren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi-derspruch bei der LINKEN)

Ich teile nicht alle Ziele, die dort genannt werden, abererst zu sagen, das Ganze sei nicht nötig und es sei falsch,darüber zu reden, um dann zu sagen, dass man das allesbitte schön ändern muss, um die Ziele zu erreichen, istnicht gerade eine konsequente Politik.

Ich möchte etwas zu einem der Hauptfelder sagen, aufdem die Nachhaltigkeit, so glaube ich, eine stärkereRolle spielen sollte, nämlich zur sozialen Sicherung. Dieletzte Bundesregierung, die letzte Koalition, hat es ge-schafft, bei der Rente die Kapitaldeckung als eine wei-tere Säule einzuführen. Ich glaube, dass das ein großerFortschritt gewesen ist. Ich denke, wenn man sich an-schaut, wie die Menschen in diesem Land dieses Ange-bot aufnehmen, dann merkt man, dass es inzwischen aufAkzeptanz stößt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich glaube aber nicht – um das auch auszuführen undUnterschiede zu benennen –, dass es sinnvoll ist, dasElement der Kapitaldeckung allen Formen sozialer Si-cherung überzustülpen, insbesondere dort, wo es sich umRisikoversicherungen handelt. Das Motto „Spare in derZeit, dann hast du in der Not!“ taugt aus meiner Sichtnicht für Risiken des Lebens, die immer in Solidaritätabgesichert werden müssen. Es geht vielmehr darum:Handele beizeiten, damit du nicht in Not gerätst! Das istdie Aufgabe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen ist es richtig, einen Grundsatz in die Verfas-sung aufzunehmen, der die Politik darauf verpflichtet,genau dies an die erste Stelle der Überlegungen zu set-zen.

Viele, die den Gesetzentwurf mit unterschrieben ha-ben, sind im Gesundheitsausschuss, und wir wissen umdie demografischen Probleme, die auf uns zukommen.Wenn wir darüber reden, wie wir im Hinblick auf dieGesundheit Nachhaltigkeit erreichen können, ist dieerste Antwort „Prävention“. Zuerst geht es darum, wiewir zukünftige Risiken vermeiden und es den Menschenersparen können, in eine Notsituation zu geraten, krankzu werden.

(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])Das zeigt, dass Generationengerechtigkeit und Nach-

haltigkeit nicht bedeuten, dass wir jetzt alle den Gürtelenger schnallen und auf etwas verzichten müssen. Wirkönnen schon heute die Lebensqualität verbessern, umin Zukunft zu mehr Nachhaltigkeit im Gesundheitswe-

sen zu gelangen. Ich glaube, da sollte es keinen Dissensgeben, auch wenn einige Zwischenrufer sich darum be-mühen.

Des Weiteren möchte ich ein Thema ansprechen, das,denke ich, alle umtreibt und auf das auch der zweite Teildes Antrags abhebt: Steuern und Staatsverschuldung.Für mich sind Vermögen- und Erbschaftsteuer ein origi-näres Thema auch der Generationengerechtigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In einer Situation, in der eine Gesellschaft demografi-schen Wandel bewältigen muss, muss sie auch von de-nen Steuern verlangen können, die von diesem demogra-fischen Wandel in besonderer Weise profitieren. Dassind unter anderem Erbinnen und Erben; das sind dieVermögenden.

Wir wollen, dass diejenigen, die ihren Unterhalt da-durch bestreiten, dass ihr Geld für sie arbeitet, einen hö-heren Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtaufgabe leis-ten als diejenigen, die mit ihrer eigenen Hände oderKöpfe Arbeit ihr Auskommen bestreiten müssen. Des-wegen gehört das für mich dazu. Ich verstehe aber nicht,dass die Staatsverschuldung im Antrag der Linken ne-giert wird. Die Bundesregierung dazu aufzufordern,nichts vorzulegen, was eine Verschuldungsbremse be-deuten würde, hat, mit Verlaub, mit linker Politik über-haupt nichts zu tun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIELINKE])

Die größte Umverteilung in diesem Land findet dadurchstatt, dass der Bund über Steuern insbesondere von den-jenigen, die arbeiten, Geld einnehmen muss und es den-jenigen in Form von Zinsen gibt, die von ihrem Vermö-gen leben.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie beiAbgeordneten der CDU/CSU und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Staatsverschuldung bewirkt eine Umverteilung von un-ten nach oben. Deswegen ist es keine linke Politik, zusagen: Egal wie hoch die Schulden sind, irgendjemandwird sie schon irgendwann bezahlen.

Es geht darum, vernünftige Instrumente zu benennen.Ich unterstütze ausdrücklich den Ansatz, der in IhremAntrag enthalten ist, dass zur Frage der Verschuldungauch immer die Frage der öffentlichen Daseinsfürsorgeund -vorsorge gehört. Ich glaube, dass wir auch betonenmüssen, dass der Zustand der öffentlichen Infrastrukturund das, was wir in sie investieren, ein Beitrag zur Nach-haltigkeit und Generationengerechtigkeit sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen glaube ich, dass wir die Investitionen in die-sem Bereich zu Recht erhöhen müssen, auch wenn derheutige Investitionsbegriff vielleicht nicht geeignet ist,dies ordentlich abzubilden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

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(A) (C)

(B)

Peter Friedrich

Darüber, ob das vorgeschlagene Instrument das rich-tige ist, werden wir trefflich streiten können und streitenmüssen. Aber der Ansatz, dass Generationengerechtig-keit und Nachhaltigkeit zu einem Grundsatz des Han-delns in allen Politikbereichen werden müssen, ist not-wendig. In diesem Sinne hoffe ich auf eine intensiveDebatte im weiteren Fortgang der Beratungen zu diesemAntrag.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich komme zurück zum vorherigen Tagesordnungs-

punkt, der Abstimmung über den Antrag der FDP-Frak-tion mit dem Titel „Missbilligung der Äußerungen desBundesministers der Verteidigung Dr. Franz Josef Jungzum Abschuss von in Terrorabsicht entführten Flugzeu-gen“. Ich gebe das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab-stimmung bekannt: Es wurden 560 Stimmen abgegeben.Mit Ja haben gestimmt 149, mit Nein haben gestimmt405. Es gab 6 Enthaltungen. Der Antrag ist damit abge-lehnt.

(D)

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 559;davon

ja: 149nein: 404enthalten: 6

Ja

FDP

Jens AckermannChristian AhrendtDaniel Bahr (Münster)Uwe BarthRainer BrüderleAngelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger Michael Link (Heilbronn)Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel

Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg Rohde Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Marina Schuster Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Christoph Waitz Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Martin Zeil

DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin Karin BinderDr. Lothar Bisky Heidrun BluhmDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmWerner DreibusKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillCornelia HirschInge HögerDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenDr. Hakki KeskinKatja KippingMonika KnocheJan KorteKatrin KunertMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothée MenznerKornelia MöllerKersten Naumann

Wolfgang NeškovićPetra PauBodo RamelowElke ReinkePaul Schäfer (Köln)Volker Schneider

(Saarbrücken)Dr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertDr. Petra SitteFrank SpiethDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostAlexander UlrichJörn WunderlichSabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Grietje Bettin Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja HajdukBritta Haßelmann Bettina HerlitziusWinfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz (Herborn) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Fritz Kuhn Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Anna Lührmann Nicole MaischJerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Winfried Nachtwei Omid Nouripour

Brigitte Pothmer Claudia Roth (Augsburg) Elisabeth Scharfenberg Christine ScheelIrmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Margareta Wolf (Frankfurt)

Fraktionsloser Abgeordneter

Gert Winkelmeier

Nein

CDU/CSU

Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dorothee BärThomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck

(Reutlingen) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen

(Bönstrup) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12239

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Georg Brunnhuber Cajus CaesarGitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan EiselAnke Eymer (Lübeck) Georg Fahrenschon Ilse Falk Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe-

Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich

(Hof) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Michael Glos Ralf Göbel Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl

Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen) Volker Kauder Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler (Wiesbaden) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich

Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers

(Heidelberg) Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer (Altötting) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Laurenz Meyer (Hamm) Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Hildegard Müller Carsten Müller

(Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer

Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht (Weiden) Peter Rzepka Anita Schäfer (Saalstadt) Hermann-Josef ScharfDr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt (Fürth) Andreas Schmidt (Mülheim)Ingo Schmitt (Berlin) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes SinghammerJens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Thomas Strobl (Heilbronn) Hans Peter ThulAntje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold VaatzVolkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Kai WegnerPeter Weiß (Emmendingen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer (Neuss) Elisabeth Winkelmeier-

Becker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew

SPD

Dr. Lale Akgün Gregor Amann Gerd Andres Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr (Neuruppin) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel

Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding (Heidelberg) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens BollenGerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann

(Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Karl Diller Martin Dörmann Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Detlef Dzembritzki Siegmund Ehrmann Hans Eichel Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Renate Gradistanac Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann

(Wackernheim) Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold HemkerRolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Petra Hinz (Essen)

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12240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) (C)

(B)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Gerd Höfer Iris Hoffmann (Wismar) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Brunhilde Irber Johannes Jung (Karlsruhe) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kelber Christian Kleiminger Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks

Katja Mast Hilde Mattheis Markus Meckel Petra Merkel (Berlin) Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller (Chemnitz) Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Christoph PriesDr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Steffen Reiche (Cottbus) Maik Reichel Dr. Carola Reimann Christel Riemann-

Hanewinckel Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Ortwin Runde Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer

Dr. Frank Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Renate Schmidt (Nürnberg) Heinz Schmitt (Landau) Carsten Schneider (Erfurt) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Reinhard Schultz

(Everswinkel) Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Dieter SteineckeLudwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. h. c. Wolfgang Thierse Jörn Thießen Franz Thönnes Rüdiger Veit

Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen

(Wiesloch) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit WetzelAndrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Waltraud Wolff

(Wolmirstedt) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries

Enthalten

SPD

Sebastian Edathy Angelika Graf (Rosenheim) Dr. h. c. Susanne Kastner Christine Lambrecht Gerold Reichenbach Dr. Wolfgang Wodarg

(D)

Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Das Wort hatjetzt der Kollege Daniel Bahr für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Daniel Bahr (Münster) (FDP): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Es war im Jahr 2003, als jüngere Abgeordnete ausallen Fraktionen bei einer Veranstaltung über richtigeKonzepte in der Rentenpolitik, Umweltpolitik und Fi-nanzpolitik gestritten haben. Aber obwohl wir unter-schiedlichen Parteien angehören, haben wir beschlossen,dass wir eine gemeinsame Initiative starten, und festge-stellt, dass wir gemeinsam dafür sind, eine Politik zu be-enden, die allzu häufig die Lasten auf kommende Gene-rationen geschoben hat. Wir müssen selbstkritischfeststellen, dass wir alle – das gilt genauso für Sie von derPDS, die Sie auch in Ländern Verantwortung haben –allzu häufig in unseren Parteien dafür Mitverantwortunggetragen haben.

Deswegen wollen wir mit dieser Initiative, die vonJüngeren ausgegangen ist, aber von allen Altersgruppenaus den Fraktionen im Deutschen Bundestag getragenwird, der Politik Verpflichtungen auferlegen, nicht im-mer nur an den nächsten Tag oder den nächsten Wahlter-min zu denken. Wir wollen vielmehr, dass sich die Poli-tik selbstverpflichtet, die Lasten, die immer weiter aufdie nachfolgenden Generationen geschoben werden, zu

begrenzen und in ihren Entscheidungen auf Generatio-nengerechtigkeit zu achten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Generationengerechtigkeit heißt, dass eine Genera-tion nur so viel verbrauchen darf, dass auch nachfol-gende Generationen noch genügend Freiheitschancenhaben. Das gilt für die natürlichen Ressourcen genausowie für die finanziellen Ressourcen, die unseren Hand-lungsspielraum angesichts der Verschuldungssituationimmer mehr einengen. Wir können zwar darüber streiten– was wir immer wieder gerne tun –, wofür wir Geldausgeben wollen – ob im sozialen Bereich, für Bildungoder Infrastruktur –, aber eines müssen wir als Faktumhinnehmen: Mittlerweile hat die Verschuldung ein sogroßes Ausmaß angenommen, dass die Zinsen für dieschon vorhandenen Schulden den zweithöchsten Postenim Bundeshaushalt ausmachen. Das nimmt uns denSpielraum, diese Gelder für andere Bereiche auszuge-ben.

Allein in den 45 Minuten, die diese Debatte dauert,wird sich der Schuldenberg um 1 455 300 Euro erhöhen.Dieses Geld steht uns nicht mehr für andere Ausgabenzu Verfügung. Wir müssen ein gemeinsames Interessedaran haben, Wege zu finden, um das einzuschränken.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12241

(A) (C)

(B) (D)

Daniel Bahr (Münster)

Heute wurden viel zu häufig Wahlversprechen ge-macht, und zwar von allen Parteien im Deutschen Bun-destag. Die Vorhaben würden über Schulden finanziert,die wieder von den nachfolgenden Generationen getra-gen werden müssten.

Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir unter ande-rem erreichen, dass wir verstärkt schon jetzt die Verant-wortung für Entscheidungen tragen, die wir heute tref-fen.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen ist es mir sehr wichtig, dass eine breite De-batte über den Gesetzentwurf stattfindet. Mir ist völligklar, dass jeder aus den Fraktionen seine eigenen Vor-stellungen hat, wie unsere Ziele besser umgesetzt wer-den könnten. Wir werden es nie leisten, dass alle Gene-rationen aus den verschiedensten Fraktionen in einemGesetzentwurf zur Renten- und Umweltpolitik völligübereinstimmen. In diesen Bereichen haben wir unter-schiedliche Ansätze. Mit dem Gesetzentwurf haben wiraber eine Verpflichtung der Politik erreicht, sich in ihremHandeln generationengerechter zu verhalten. Das istschon eine große Leistung.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jens Spahn spricht jetzt für CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jens Spahn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist gut, dass diese Debatte heute auch den DeutschenBundestag erreicht und unser Gesetzentwurf es nach et-was längerer Zeit tatsächlich auf die Tagesordnung ge-schafft hat. Worum geht es bei dem Gesetzentwurf?105 Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus vierFraktionen und im Übrigen aus allen Altersklassen – voneiner Seite des Hauses wird immer wieder auf den Ge-gensatz Alt gegen Jung abgestellt; dabei wurde der Ge-setzentwurf von Abgeordneten im Alter von 24 bis64 Jahren eingebracht – verfolgen mit dem Gesetzent-wurf ein gemeinsames Ziel, das sich in zwei Bereicheaufteilt.

Zum einen geht es um die Frage des Staatsziels Gene-rationengerechtigkeit, also die Verpflichtung aller Staats-organe – des Bundestages, des Bundesrates, aber auchdes Bundespräsidenten und des Bundesverfassungsge-richts –, die Ressourcen und Spielräume nachfolgenderGenerationen auch mit Blick auf das Handeln aktuellerGenerationen mit zu berücksichtigen. Ich habe nochkeine Debatte erlebt, in der jemand etwa das Sozial-staatsprinzip als Staatsziel infrage gestellt hat,

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Doch! Das ist kein Staatsziel!)

weil in der Verfassung nicht bis ins kleinste Detail in-haltlich geregelt ist, wie dieses Prinzip auszufüllen ist.

Es bestehen zwar in der Tat unterschiedliche Auffas-sungen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden soll,aber mit dem Gesetzentwurf wird erreicht – das soll auchmit der Staatszielbestimmung erreicht werden –, dasswir uns alle gemeinsam dem Ziel verpflichten, einen ge-rechten Ausgleich zwischen den Generationen zu schaf-fen. Das gilt im Übrigen auch für uns. Ich werde 205070 Jahre alt sein. Dann gehöre ich zu den Alten, die sichmit Rücksicht auf Jüngere zu verhalten haben. Ein sol-ches Staatsziel ist nicht nur in der Gegenwart, sondernauch in Zukunft bindend.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Neben dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtwollen wir zum anderen die Interessen der nachfolgen-den Generationen in der Finanzverfassung berücksich-tigt wissen.

Ich gebe zu, dass uns die Föderalismuskommission IImit der Diskussion über eine Schuldenbremse ein Stückweit eingeholt hat. Wenn die Ergebnisse vorliegen undsogar über das hinausgehen, was wir vorschlagen, wer-den wir gerne bereit sein, dem zu folgen. Im Kern gehtes darum, dass die bisherigen Instrumente und Regelun-gen in der Finanzverfassung nicht verhindert haben, dasswir insgesamt 1,5 Billionen Euro explizite und implizite,also nicht ausgewiesene, Schulden – das gilt insbeson-dere für die sozialen Sicherungssysteme – haben. Es istbezeichnend, dass wir es wahrscheinlich zum nächstenDekadenwechsel zum ersten Mal seit fast 40 Jahrenschaffen werden – so lange gibt der Bund mehr aus, alser einnimmt –, einen ausgeglichenen Haushalt vorzule-gen. Offensichtlich sind zusätzliche Mechanismen not-wendig.

Denjenigen, die verfassungsrechtliche Bedenken ha-ben und mahnen, wir sollten bei der Staatszielbestim-mung sehr zurückhaltend sein und die Verfassung nichtunnötig aufblähen, stimme ich im Grundsatz zu. Wennman aber erkennt, dass die geltenden verfassungsrechtli-chen Mechanismen und Regelungen nicht geeignet sind,das angestrebte Ziel – etwa in der Finanzverfassung – zuerreichen, muss man über eine Verfassungsänderungnachdenken. Auch die Interessen derjenigen, die sichheute nicht artikulieren können und die in 20, 30, 40oder 50 Jahren Schulden und Zinsen zu zahlen und danneventuell unter eingeschränkten Gestaltungsspielräu-men zu leiden hätten, müssen in der aktuellen Politikund in der Verfassung Berücksichtigung finden. Ich bindaher auf die Anhörung, die unter Beteiligung von Ver-fassungsrechtlern stattfinden wird, sehr gespannt. Dabeiwird es um die Gestaltungsspielräume und die Berück-sichtigung der Interessen zukünftiger Generationen ge-hen.

Ich möchte noch etwas zu dem Antrag der Linken sa-gen. Dieser Antrag wurde in den letzten Tagen vorge-legt, während unser Gesetzentwurf seit vielen Monatenvorliegt. Wahrscheinlich ist er aus der Not geboren. Sie

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Jens Spahn

hätten besser einfach Nein gesagt. Sie setzen in IhremAntrag die stärkste Waffe der Linken, den sozialistischenSchachtelsatz, ein.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das kommt bei euren Anträgen nie vor!)

Er ist wirklich schwer zu verstehen. Das wäre noch zuakzeptieren, wenn er inhaltlich gut wäre. Aber so ist ereinmal mehr ein Beleg für Ihre populistische Argumen-tation, ein typisches Phänomen der Linkspartei.

(Widerspruch bei der LINKEN)

– Lesen Sie doch einmal Ihre Forderungen! Sie wollenmehr BAföG, höhere Renten, ein höheres Arbeitslosen-geld sowie mehr für das Gesundheitswesen und die Pfle-geversicherung.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie erwähnen aber mit keinem einzigen Wort, wie dasGanze bezahlt werden soll. Das ist das Populistische anIhrem Antrag. Das ist zu verurteilen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da Sie offenlassen, wie das Ganze bezahlt werdensoll, und im Zweifelsfall alles über Schulden finanzierenwollen, tun Sie nicht nur nichts im Interesse zukünftigerGenerationen. Sie gehen vielmehr noch einen Schrittweiter und machen bewusst Vorschläge, die ganz klar imGegensatz zu den Interessen künftiger Generationen ste-hen. Dass Sie die Verteilungswirkung neuer Schuldennicht verstehen, dass Sie nicht verstehen, dass geradeSchulden für eine Umverteilung von unten nach obensorgen, weil durch Zinszahlungen, die über Steuern ge-leistet werden müssen, letztlich diejenigen, die Schuld-verschreibungen kaufen – das sind meistens Menschenmit höherem Einkommen –, mehr Geld bekommen, ver-wundert mich jedes Mal aufs Neue.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann mir nur wünschen, dass wir hier im Deut-schen Bundestag im Rahmen dieses parlamentarischenVerfahrens eine hoffentlich spannende und aufschluss-reiche Anhörung erleben werden, in der es auch um dieFrage geht, was man wie am besten im Sinne unseresZiels in der Verfassung regeln kann. Am Ende solltenwir gemeinsam, hoffentlich fraktionsübergreifend, unab-hängig davon, dass wir Generationengerechtigkeit fastalle seit vielen Jahren in unseren Reden erwähnen, ver-suchen, das, was wir uns vorgenommen haben, was aberin einer Demokratie nicht immer einfach umzusetzen ist,bindend in die Verfassung hineinzuschreiben. Ich jeden-falls freue mich auf die Debatte und gegebenenfalls aufeine sehr strittige Auseinandersetzung.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es spricht für die Linke die Kollegin Sevim

Dağdelen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Rückbau und der Abbau von sozialen Errungenschaftentarnen sich gern mit den schönsten Titeln. Der Genera-tionenvertrag zwischen Jung und Alt in unserem Land isteine soziale Errungenschaft, und der Gesetzentwurf derjungen Parlamentariergruppe hat einen schönen Titel:Generationengerechtigkeitsgesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nur täuscht ein schöner Titel nicht darüber hinweg – klat-schen Sie nicht zu früh! –, dass es in diesem Gesetzent-wurf durchaus nicht um Gerechtigkeit, sondern umplumpen Egoismus geht.

(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo? Eine Zeile!)

Es ist gewiss nicht leicht, zu ermitteln, was gerecht undwas ungerecht ist. Im Zweifel erkennt man aber die Ge-rechten daran, dass sie nicht zuerst an sich denken, son-dern an die anderen.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Linke möchte ich an eine Tatsache erinnern,die so offensichtlich ist, dass man dazu neigt, sie manch-mal zu vergessen. Alles, was uns heute zur Verfügungsteht, ist das Werk älterer Generationen. Alles, worüberwir heute verfügen, unsere Technik, unsere Kultur, un-sere sozialen und politischen Erfolge, sogar alles, wasuns heute hier in diesem Saal an Einrichtung und Aus-stattung umgibt, fußt auf dem Lebenswerk derer, dieheute alt sind. Diese Generation hat in den Erfolg einerZukunft nachhaltig investiert, die wir heute unsere Ge-genwart nennen. Es ist also völlig gerecht, dass diese äl-tere Generation am materiellen Wohlstand der gegen-wärtigen Gesellschaft teilhaben darf, für die sieschließlich die Grundlagen geliefert hat.

(Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr[Münster] [FDP]: Da widerspricht doch kei-ner!)

Der vorliegende Gesetzentwurf ist dagegen nicht nurungerecht, sondern auch noch schlicht beschämend.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD –Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Thema verfehlt!Setzen, sechs!)

Darin ist viel von Zukunft und Nachhaltigkeit die Rede.Der Begriff der Nachhaltigkeit war ursprünglich einmalpositiv besetzt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Spahn zulassen?

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Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Nein, im Moment nicht, vielleicht am Ende der Rede. –

Wie nun im Gesetzentwurf der jungen Parlamentarier zuerkennen ist, machen sich diesen Begriff vermehrt dieje-nigen zu eigen, denen es um die Nachhaltigkeit sozialerMissstände geht. Es sind aber nicht die Alten, die derBewahrung der Lebensgrundlagen im Wege stehen, son-dern es ist die Logik einer Wirtschaft, deren höchstesZiel der Profit ist, die den sozialen Frieden ebenso be-droht wie die Lebensgrundlagen der zukünftigen Gene-rationen.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Gesetzentwurf liest sich so, als gäbe es eine wunder-bare Welt von morgen, die den Jüngeren gehört, und eineWelt von gestern, die von den Alten beherrscht wird undden Weg in die Welt von morgen versperrt.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann müssenSie einen anderen Gesetzentwurf gelesen ha-ben!)

Dies ist ein infantiles Weltbild.

(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo steht das im Gesetzentwurf? HabenSie ihn überhaupt gelesen?)

Steht denn nicht jede Generation auf den Schultern deralten, um dort zu wachsen, bis sie neue Generationen zuschultern imstande ist?

Allem voran ist das Weltbild der jungen Parlamen-tariergruppe aber unvollständig. Es bleiben darin diewirklichen Konflikte unbeachtet, die uns den Weg ineine gerechte Gesellschaft tatsächlich versperren.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ins Paradies!)

Die wahre Konfliktlinie in unserer Gesellschaft verläuftnicht zwischen Jung und Alt. Sie verläuft auch nichtzwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keineArbeit haben. Sie verläuft nicht zwischen den Kulturen,und sie hat auch nichts mit der staatsrechtlichen Her-kunft der Menschen zu tun. Nein, die echten Konfliktli-nien verlaufen zwischen denen, die für ihre Arbeitsleis-tung gerade einmal einen mäßigen Lohn bekommen, unddenen, die sich an der Arbeit ihrer Mitmenschen hem-mungslos bereichern.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Linie verläuft zwischen – es ist bemerkenswert, dassdas gerade die FDP moniert – denen, die nur ihre Ar-beitskraft am Markt anbieten können,

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Schwarz-weiß ist die Welt!)

und jenen, die diesen Markt mit reichlich Kapital steu-ern. Die echte Konfliktlinie verläuft zwischen solchenjungen Menschen von heute, die schon ab der Wiegeausgesorgt haben, und jenen, die sich ein ganzes Lebenlang ohne wirkliche Chancen plagen werden.

Die Konfliktlinie verläuft zwischen denen, die ohneArbeit leben und bleiben, und jenen, die ihren Beschäf-tigten Überstunden und Mehrarbeit abverlangen. In der

Vermittlung dieser Konflikte liegt aller Anfang für einewirklich gerechte Gesellschaft für alle Generationen.Schaut man sich dagegen den Gesetzentwurf dieser jun-gen Parlamentariergruppe an, möchte man sagen: AllerAnfang ist schwer.

Um den Startschwierigkeiten auf dem Weg in eine ge-rechte Zukunft etwas abzuhelfen, hat Ihnen die Linkeheute einen Antrag vorgelegt. Mit der Verfassung gehtdie Linke davon aus, dass das Sozialstaatsprinzip desArt. 20 Abs. 1 Grundgesetz den Staat verpflichtet, dafürSorge zu tragen, dass jeder Mensch in die Lage versetztwird, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sichselbst verwirklichen zu können.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Auch die, die noch nicht geboren sind!)

Wenn wir dieses Verfassungsprinzip endlich in die Tatumsetzen würden – so ist es nämlich nicht –, brauchtenwir heute keine Debatte zu einem Unthema namens Ge-nerationengerechtigkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Verfassung zeichnet uns das unverwirklichte Bildeiner Gesellschaft, in der der Mensch Maß aller Dingeist und nicht die Verwertungslogik des Kapitals. In die-ser Gesellschaft wird es dann auch eine Gerechtigkeit fürjunge und alte Menschen geben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für Bündnis 90/Die Grünen spricht Anna Lührmann.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Frau Dağdelen, wenn Sie den Antraggelesen hätten, wäre Ihnen aufgefallen, dass darin diejunge Generation mit keinem Wort vorkommt, sondernvon der künftigen Generation die Rede ist.

Es geht uns mit diesem Antrag darum, die Interessenkünftiger Generationen, also derjenigen, die noch nichtgeboren sind, in den Fokus der Politik zu stellen. DieserAntrag enthält also keine Spur von Egoismus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Unser Ziel ist, dass die künftig lebenden Generatio-nen mindestens die gleichen Lebenschancen haben wiewir, die heute leben. Das heißt, es geht uns darum, dasswir alle, Jung und Alt, daran arbeiten, unseren Nach-kommen eine intakte Umwelt und niedrigere Schulden-berge zu hinterlassen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Katja Kipping zulassen?

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja.

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(Zuruf von der CDU/CSU: Es sind nicht alleso intolerant! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt Kompetenz!)

Katja Kipping (DIE LINKE): Liebe Kollegin, wir haben nicht nur Ihre parlamenta-

rische Initiative gelesen, sondern auch die Papiere zurGenerationengerechtigkeit, die Sie bereits in der vergan-genen Legislatur mit unterzeichnet haben. Da gab eseine sehr interessante Fußnote, nämlich den Vermerk,dass dieses Papier, das von jungen Abgeordneten in dieÖffentlichkeit getragen wurde, im Wesentlichen von derInitiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit erarbeitetwurde.

(Zuruf von der FDP: Das stimmt doch über-haupt nicht!)

Das ist eine Initiative – Sie haben gerade gesagt: vonEgoismus keine Spur –, die sehr wohl für Interessen undEgoismus steht, weil sie von den sogenannten Arbeitge-bern finanziert wird. Deswegen möchte ich Sie fragen:Wie verträgt sich dieses Aufgreifen von ganz klarenWirtschaftslobbygruppen mit dem Anspruch eines freienAbgeordneten und vor allen Dingen eines selbstbewuss-ten demokratischen Diskurses?

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kipping, ich weiß, auf welches Papier Sie an-

spielen. Das wurde übrigens nicht von der Initiative„Neue Soziale Marktwirtschaft“

(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])

– ich darf jetzt antworten –, sondern von einem Thinktank namens „Berlin Police“ erarbeitet. Ich habe daranmitgewirkt, bevor ich wusste, woher sie finanzielle Un-terstützung bekommen. Ich habe das hinterher selber – –

(Lachen bei der LINKEN – Zurufe von der LINKEN)

– Man darf doch Fehler auch einmal zugeben.

(Erneute Zurufe von der LINKEN)

Das sollte in einer Demokratie auch einmal möglichsein. Das scheint einigen Ihrer Parteikollegen eindeutigschwerzufallen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wir können dasauch allein! Wir haben das auch allein ge-schafft! Keine Sorge, wir kriegen das hin!)

Wir reden hier aber über etwas ganz anderes: Wir re-den hier über einen interfraktionellen Gesetzentwurf, derdarauf abzielt, das Grundgesetz im Interesse künftigerGenerationen zu ergänzen. An diesem Punkt kann ichnun wirklich keinen Egoismus entdecken.

Sie fragen, wie das mit dem Selbstverständnis vonParlamentariern in Einklang zu bringen ist. Ich kann Ih-nen zusichern: Viele Kolleginnen und Kollegen – auchsolche, die hier heute anwesend sind – haben viele Stun-den damit zugebracht, sich – unabhängig von irgendei-

ner finanziellen oder anderen Unterstützung – über jedesWort und jedes Komma dieses Gesetzentwurfs Gedan-ken zu machen und darüber zu reden.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig! Wir können das nämlich auch allein!)

Es geht uns mit diesem Gesetzentwurf eindeutig darum,die Interessen künftiger Generationen, die bisher zu we-nig geschützt werden, in den Mittelpunkt der Politik zurücken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der SPD)

Ich will hier noch einmal erwähnen, dass sich unserGesetzentwurf von der Stoßrichtung anderer Vorlagen,die auf die Ergänzung von Staatszielen ausgerichtet sind,grundsätzlich unterscheidet. Uns geht es eben nicht umeinen Politikbereich wie Sport oder Kultur, sondern da-rum, dass Menschen, die noch nicht geboren sind, zuRechtssubjekten gemacht werden. Wir wollen uns auchum die Interessen dieser Menschen kümmern.

Wir wollen die Spielregeln unserer Demokratie dahingehend ändern, dass der politische Wettbewerb nichtmehr zulasten derjenigen ausgetragen wird, die nochnicht wählen gehen dürfen. Wir wollen also mehr Fair-ness in der politischen Auseinandersetzung. Es soll inDeutschland künftig unanständig sein, in Wahlkämpfenetwas zu versprechen, was für künftige Generationeneine Last sein wird. Wir wollen, dass stattdessen immerwieder kritisch hinterfragt wird, welche Auswirkungenpolitische Konzepte auch nach dem Ablauf einer Wahl-periode haben.

Dass diese Fairness gegenüber künftigen Generatio-nen fehlt, wird besonders beim Thema „Umweltschutz“deutlich: Schmelzende Eisberge, strahlender Atommüllund aussterbende Arten sind die Konsequenz nicht korri-gierbarer Fehler, mit der wir unsere Kinder belasten.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Was hat das mit Haushaltspolitik zu tun?)

– Um genau dieses Thema geht es bei unserem Gesetz-entwurf. Ihre intellektuellen Fähigkeiten überfordert dasanscheinend.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich möchte auf das Thema „Klimawandel“ zurück-kommen. Die Ergebnisse der ranghöchsten Klimafor-scher der UN sprechen eine klare Sprache: In den nächs-ten hundert Jahren wird sich die Erde wahrscheinlichzwischen 1,8 und 4 Grad Celsius erwärmen; der Meeres-spiegel wird ansteigen; Wetterextreme wie Dürren undUnwetter werden krass zunehmen. Liebe Kolleginnenund Kollegen, wir haben längst den Zug verpasst, denKlimawandel aufzuhalten. Die heutige Politik kann denKlimawandel nur noch abbremsen und dafür sorgen,dass es nicht noch schlimmer kommt. Diesen Fehlersollten wir nicht wiederholen. Stattdessen sollte in Zu-kunft folgendes Motto den Staat in seinem Handeln lei-

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Anna Lührmann

ten: Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ge-borgt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Anhand dieses Beispiels sollte selbst den Kolleginnenund Kollegen von der Linkspartei klar geworden sein,dass Generationengerechtigkeit soziale Gerechtigkeit inder Zukunft ist. Denn wer wird denn am schlimmstenunter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben?Das werden nicht die Reichen sein, die sich von vielenProblemen freikaufen können. Die ärmeren Bevölke-rungsschichten in Europa, vor allem aber in Afrika undin Asien werden unter den krassen Unwettern, unter demMangel an Trinkwasser und Lebensmitteln zu leiden ha-ben.

Was für die Umweltpolitik gilt, gilt auch für dieStaatsverschuldung und für die sozialen Sicherungssys-teme. Politikerinnen und Politiker können heuteschmerzhafte Verteilungskonflikte mittels implizierterund explizierter Verschuldung bequem auf die Zukunftabschieben. Es ist aber ungerecht, wenn wir uns sozialeGerechtigkeit heute auf Kosten von sozialer Ungerech-tigkeit in der Zukunft erkaufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn wir immer mehr Geld für Schuldendienst undfür andere Verpflichtungen aus der Vergangenheit ausge-ben, dann hat der Staat immer weniger Mittel etwa fürBildung und für soziale Sicherung zur Verfügung, unddas trifft vor allem die, die den Staat brauchen, nämlichdie sozial Schwachen. Diese absehbare Ungerechtigkeitmuss verhindert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Ich würde mich sehr freuen, liebe Kolleginnen undKollegen, wenn Sie unseren Gesetzentwurf in den fol-genden Beratungen wohlwollend prüfen und wir amEnde eine Zweidrittelmehrheit für mehr Generationen-gerechtigkeit, für mehr Nachhaltigkeit hier im Plenumzustande bringen würden. Ihre Enkelkinder, deren Kin-der und Kindeskinder werden es Ihnen sicherlich dan-ken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel hat jetzt das

Wort für die SPD-Fraktion.

Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der

heutigen Debatte geht es um einen Gesetzentwurf, derdie generationenübergreifende Gerechtigkeit zum Zielhat. Meines Erachtens ist das ein ehrenwertes Ziel, undich denke, dass jeder von uns es für erstrebenswert hält.

(Zuruf von der LINKEN: Nie! Darunter ver-steht jeder etwas anderes!)

Bei dem uns vorliegenden Gesetzentwurf handelt essich zweifelsohne um den Versuch, grundlegenden ge-sellschaftlichen Veränderungsprozessen Rechnung zutragen, die bestimmte Fragen aufwerfen. Die Frage istnatürlich: Ist eine Änderung des Grundgesetzes die rich-tige Antwort hierauf? Diesen Diskurs müssen wir mei-nes Erachtens mit dem größten Respekt und auch mit al-ler Sensibilität für die Generationen führen, die diesesLand mit aufgebaut haben.

Ich unterstelle niemandem, die Solidarität zwischenden Generationen infrage zu stellen. Für uns alle mussklar sein: An der Solidarität zwischen den Generationendarf kein Weg vorbeiführen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Es darf nicht darum gehen, Verteilungsgerechtigkeit ge-gen Generationengerechtigkeit auszuspielen. Beide be-dingen einander. Wir haben in der Diskussion, auch inder Öffentlichkeit, leider teilweise einen unsensiblen unddespektierlichen Umgang mit dem Thema erlebt. Bereitsin den Sprüchen Salomos steht geschrieben – ich weiß,dass Sie bei der PDS das Buch nicht kennen –:

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde istder Leute Verderben.

(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])

– Sünde ist Ihr Stichwort; da haben Sie recht.

Wir hätten über das Thema Generationengerechtig-keit und über zukünftige Generationen weniger zu disku-tieren, hätten wir nicht in der Gegenwart die Probleme,die uns vergangenes Regierungshandeln Ihrer Partei ein-gebrockt hat.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ilja Seifert[DIE LINKE]: Euer Regierungshandeln, meinLieber!)

Sie möchten das Thema Generationengerechtigkeit im-mer wieder für Ihre eigene Profilierung instrumentalisie-ren. Ich sage Ihnen einmal: Ihr Handeln ist genauso sün-dig wie das derjenigen aus der Generation von Ichlingen,die ein asymmetrisches Verständnis von Solidarität ha-ben und die den Generationenvertrag aufkündigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – FrankSpieth [DIE LINKE]: So altklug, wie Sie da-herreden, kann ich mit 80 nicht sein!)

– Das alles ist eine Frage des gefühlten Alters, Herr Kol-lege. Ich fühle mich noch jung genug, um Ihnen Kontrazu geben.

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Dr. Carl-Christian Dressel

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da wir schon zum Thema Alter sprechen: Die Älterenvertrauen darauf, Solidarität von denjenigen erfahren zukönnen, die sie selbst in die Welt gesetzt haben und de-nen sie durch ihre Beiträge zum Aufbau dieses Landesund unserer Gesellschaft ein vernünftiges Leben ermög-licht haben.

Wir haben jetzt das gesellschaftliche Problem: DerGenerationenvertrag beginnt zu bröckeln; zu wenig Kin-der werden geboren. Wir müssen darauf reagieren. Isteine Antwort darauf, das Grundgesetz zu ändern? Ausverfassungsrechtlicher Sicht habe ich damit Probleme.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge-nau!)

Diese verfassungsrechtliche Sicht teilen auch viele juris-tische Kollegen. Das Problem der Gerechtigkeit,

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Sozialstaatsge-bot!)

zu dem es nicht nur das Buch Eine Theorie der Gerech-tigkeit von John Rawls gibt, ist ein sehr abstraktes. DerBegriff der Gerechtigkeit lässt sich nur schwer definie-ren. Wer artikuliert die Bedürfnisse einer noch nichtexistierenden Generation? Ich sehe das Problem, dassdie Verfassung durch die Aufnahme dieses Problemsweiter ausfranst und dass die Werteordnung des Grund-gesetzes verwässert wird.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann hätten Sie auch gegen den Tierschutz sein müssen!)

Wie ist eine faire Lastenverteilung zu definieren? Istes gerecht, Herr Kollege Bahr, dass der durchschnittlicheDeutsche im Jahr 2004 nominal doppelt so viel verdienthat wie der durchschnittliche Deutsche im Jahr 1960?Müssen demzufolge die heute Jungen einen Sondergene-rationenausgleich an die Älteren überweisen? Der Ge-rechtigkeitsbegriff lässt sich schwer bestimmen ebensowie der aus der Forstwirtschaft stammende Begriff derNachhaltigkeit.

Wir brauchen in der Verfassung keine Erklärungen zurSelbstverpflichtung, wie Sie, Herr Bahr, es vorhin ausge-führt haben. Wir brauchen in der Verfassung Normen, diedem Bundesverfassungsgericht als Grundlage für Ent-scheidungen dienen können. Das gilt zum Beispiel auchfür den hier häufig missbräuchlich angeführten Begriffdes Sozialstaates. Die politischen Entscheidungen, diewir treffen, müssen das Thema Generationengerechtig-keit stets berücksichtigen. Die Entscheidungen überpolitische Maßnahmen, die diesbezüglich zu treffensind, sollten allerdings nicht in Form einer Staatszielde-finition an Karlsruhe delegiert werden, sondern wir soll-ten diese Entscheidungen selbst treffen und selbst be-gründen können.

Ein Bereich, in dem wir das zurzeit tun, ist der Be-reich der Föderalismusreform II. Hier tut sich zurzeitwirklich die Chance auf, bei den öffentlichen Finanzenzu mehr Nachhaltigkeit und Chancengerechtigkeit zukommen. Auf die Frage, ob es gerecht ist, den künftigen

Generationen 2 Billionen Euro oder gar noch mehr,wenn Ihre Vorschläge berücksichtigt würden, an Schul-den zu hinterlassen, würde ich nämlich antworten: Wirsollten über diesen konkreten Punkt diskutieren, stattProgrammsätze ins Grundgesetz zu schreiben.

Wir müssen unsere Diskussion mit Respekt und Sen-sibilität führen. Und um festzustellen, dass Verfassungkein Klamauk ist, brauchen wir weder Zitate aus derBibel noch solche von bedeutenden Rechtsphilosophen.Ganz im Gegenteil: Dazu reicht sogar der entsprechendeZwischenruf des Kollegen Westerwelle beim letzten Ta-gesordnungspunkt aus.

Ich danke Ihnen und freue mich auf eine ausgiebigeDiskussion.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu-ruf von der SPD: Was war das für ein Zwi-schenruf? – Gegenruf des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: „Die Verfassung istkein Klamauk“!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Michael Kauch spricht jetzt für die FDP-Fraktion.

Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der

Tat, die Verfassung ist kein Klamauk. Genau darum gehtes hier aber nicht. Vielmehr geht es darum, hier darüberzu diskutieren, ob die Staatszielbestimmungen desGrundgesetzes, die wir ja schon haben, ausreichend sind,damit die Rechte der Menschen berücksichtigt werden,die heute noch nicht geboren sind. Das ist genau derPunkt, um den es hier geht. Menschen, die heute schongeboren sind, haben Grundrechte. Deshalb besteht zumBeispiel ein Unterschied zwischen dieser Debatte undder über Kinderrechte. Da geht es ja um Kinder, dieheute schon Grundrechtsträger sind.

Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass wir dasGrundgesetz in den 90er-Jahren bereits um weitereStaatszielbestimmungen erweitert haben. Es erschließtsich mir nicht, warum beispielsweise die Staatszielbe-stimmung des Schutzes der Tiere vom Bundestag mitZweidrittelmehrheit beschlossen wurde, aber die künfti-gen Generationen, die, die nach uns kommen, nicht dengleichen Schutz in Form einer Staatszielbestimmung be-kommen sollen.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Ich denke in diesem Zusammenhang, meine Damenund Herren, immer an die Verteidigung der Habilita-tionsschrift eines meiner Professoren zurück, der sichdarüber habilitiert hat, dass das Grundgesetz keineSchranken gegen die dynamische Ausbeutung der jun-gen Generation enthält. Genau darum geht es. Es gehtum die dynamische Ausbeutung, die dadurch entsteht,dass unsere heutigen Politikprozesse so organisiert sind,dass die Lasten auf die Zukunft verschoben werden.

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Michael Kauch

Wenn die Linke mit ihrem von Karl Marx stammen-den Ausbeutungsbegriff nicht im 19. Jahrhundert stehengeblieben wäre, dann würde sie einen solchen Antragwie den heute vorliegenden nicht stellen. Der Altmarxis-mus, den Sie über Ihren Antrag in den Deutschen Bun-destag einzubringen versuchen, ist absolut peinlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie negieren die gesellschaftliche Realität, weil nichtsein kann, was nicht sein darf. Sie stellen Verschwö-rungstheorien bezüglich des Vordringens des Neolibera-lismus in den Deutschen Bundestag auf. Das ist die Fik-tion, von der Sie ausgehen. Damit wollen Sie dieMenschen aufwiegeln. Das hat aber nichts mit den Zu-kunftsproblemen künftiger Generationen in diesem Landzu tun.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dağdelen zulassen?

Michael Kauch (FDP): Die Kollegin hat gerade keine Zwischenfrage zuge-

lassen. Deshalb werden wir, denke ich, keine Zwischen-frage dieser Kollegin zulassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Kipping zulassen?

Michael Kauch (FDP): Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulas-

sen.

(Lachen bei der LINKEN)

Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung, den dieses Parlament nun in der zweiten Wahl-periode eingesetzt hat, beschäftigt sich sehr ausführlichmit den Veränderungen, die sich durch den demografi-schen Wandel ergeben. Dabei geht es zum einen um dieFrage, wie wir unsere Infrastruktur an kommende Ent-wicklungen anpassen müssen. Es geht aber auch um dieFrage, wie wir Transparenz schaffen, welche Leistungendie alte und die junge Generation sowie künftige Gene-rationen erbringen und welche Lasten sie tragen müssen.

Das, was mit dem vorliegenden Antrag verfolgt wird,fügt sich sehr gut in die Nachhaltigkeitspolitik ein, dieansonsten in diesem Parlament betrieben wird. Ich habemich sehr gefreut, dass im Parlamentarischen Beirat au-ßer bei den Linken ein sehr großes Wohlwollen gegen-über einer Grundgesetzänderung erkennbar war. Ichwürde mich freuen, wenn dies auch in der weiteren Be-ratung in den zuständigen Fachausschüssen zum Tragenkäme.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kol-

legin Katja Kipping.

Katja Kipping (DIE LINKE): Uns ist vorgeworfen worden, dass wir bei unserer

Analyse von Ausbeutung im 19. Jahrhundert, bei KarlMarx, stehen geblieben sind. Ich finde, darauf muss manreagieren. Ich persönlich bin der Meinung, dass maneine Analyse mittels Marx um postmarxistische Ansätze– etwa um den Ansatz von Judith Butler oder um radikal-demokratische Ansätze wie den von Chantal Mouffe – er-gänzen sollte.

Ich muss ehrlich sagen: Wenn hier Vertreter von derFDP so knallhart und so trivial nur Wirtschaftsinteressenvertreten, bleibt einem bei der Analyse Ihres Handelnsmanchmal gar nichts anderes übrig,

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Hören Sie über-haupt manchmal zu?)

als zu sagen, dass Karl Marx damals tatsächlich rechthatte.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kauch, bitte schön.

Michael Kauch (FDP): Frau Kipping, während Sie hier auf die marxistische

Theorie und auf postmarxistische Theorien eingehen,möchte ich auf den real existierenden Sozialismus einge-hen, und zwar auf die Frage, was Ihre Vorgängerpartei,die SED, in der DDR an Nachhaltigkeitspolitik geleistethat.

(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das ist die-selbe Partei mit neuem Namen!)

Ich möchte darauf verweisen, was in Ihrem Antrag steht:Es gebe nur die Klassenauseinandersetzung und die Aus-einandersetzung zwischen Arm und Reich. Wenn wireinmal konzedieren, dass es das in der DDR nicht gab,weil Sie ja so eine gute sozialistische Politik gemachthaben,

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie wissen sehrwohl, dass wir uns mit der SED auseinander-setzen!)

so möchte ich doch darauf hinweisen, dass die DDR undihre real existierende Politik dazu geführt haben, dassdie Umwelt in der DDR am Boden lag.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der SPD)

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Michael Kauch

Wir haben dort eine Situation erlebt, in der das, was dieVorsitzende des Parlamentarischen Beirats in der ver-gangenen Wahlperiode gesagt hat – man müsse nichtvom Kapital, sondern von den Zinsen leben –, nir-gendwo so stark missachtet wurde wie in Ihrem sozialis-tischen System. Deshalb sollten Sie aus meiner Sichtganz ruhig sein, wenn es um Nachhaltigkeit geht.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es folgt noch eine Kurzintervention, und zwar des

Kollegen Heilmann, der darauf rekurriert, dass der Parla-mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ange-sprochen worden ist. – Bitte schön.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]:Schweigen Sie nachhaltig! Das wäre für alleBeteiligten das Beste!)

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Ich möchte deutlich machen, dass der angesprochene

Beirat keine Position zum hier vorliegenden Gesetzent-wurf verabschiedet hat.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Hat auch keiner be-hauptet! Hören Sie eigentlich zu?)

Sie, Herr Kauch, haben einen gegenteiligen Eindruck er-weckt; den Eindruck möchte ich als Obmann der Frak-tion Die Linke von mir weisen.

(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Erst könnt ihr nicht hören, jetzt könntihr nicht lesen! Was könnt ihr eigentlich?)

Im Übrigen möchte ich Sie, Herr Kauch, darauf ver-weisen, was nachhaltige Entwicklung bedeutet: der Aus-gleich von Ökologischem, Sozialem und Ökonomi-schem. Gerade Ihre Fraktion hier im DeutschenBundestag macht deutlich, dass sie zumindest zwei we-sentliche Säulen ständig vernachlässigt, nämlich die so-ziale und die ökologische Frage.

Ich danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kauch, möchten Sie nochmals erwidern?

Michael Kauch (FDP): Da ich als einziger Vertreter des Beirats gesprochen

habe und der Vorsitzende hier leider keine Redezeit be-kommen hat, möchte ich mich lediglich darauf beschrän-ken, darauf hinzuweisen, dass wir im ParlamentarischenBeirat für nachhaltige Entwicklung darüber diskutierthaben, dass es diesen Antrag gibt. Es wurde überlegt,wie man ihn befördern kann. Es wurde in der Tat nichtdarüber abgestimmt, und es gibt daher keine formalePosition des Gremiums. Ich habe deswegen auch gesagt,dass es mit Ausnahme Ihrer Fraktion große Sympathienfür die Annahme dieses Antrags gab.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Zuhören!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat das Wort der Kollege Grosse-Brömer für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wie man klassen-kämpferische Töne in die Debatte über Generationenge-rechtigkeit hineinbringen kann.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Es wäre in der Tat besser gewesen, Sie hätten zu diesemThema nachhaltig geschwiegen. Das wäre der richtigeWeg gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir debattieren über die Generationengerechtigkeit.Da stellt sich die Frage, was das ist. Wir haben vorhinsehr unterschiedliche Interpretationen gehört. Aber manmuss feststellen, dass diese Debatte die Diskussion überGenerationengerechtigkeit befördert. Deswegen ist esgut, dass wir diese Debatte führen.

Politik macht – unabhängig davon, welche Partei siegestaltet – sehr häufig das, was kurzfristig populär ist,und nicht das, was langfristig notwendig ist. Das liegtvielleicht ein Stück weit im Wesen der Demokratie. Dasmuss ich aber keinem erzählen; denn alle in diesemHause haben schon mehrere Wahlkämpfe hinter sich.

Richard von Weizsäcker hat aus meiner Sicht das Pro-blem ganz zutreffend beschrieben. Er hat gesagt, dassdas Strukturproblem der Demokratie in der Verherrli-chung der Gegenwart und in der Vernachlässigung derZukunft liegt. Insofern ist es gut, wenn wir darüber nach-denken, was zukünftige Generationen von der aktuellenPolitik zu erwarten haben.

(Michael Kauch [FDP]: Notwendig!)

Auch ich finde diese Diskussion notwendig. Es ist gut,wenn man sich in weiten Teilen fraktionsübergreifendfür dieses Thema einsetzt.

Ich will noch auf einen Punkt hinweisen, den der Kol-lege Dr. Dressel vorhin angesprochen hat. Es stellt sichdie Frage, ob das, was in dem Gesetzentwurf vorgeschla-gen wird, der richtige Weg ist, um zu erreichen, dass zu-künftige Generationen von den aktuell handelnden Poli-tikern gerecht behandelt werden. Wir müssen feststellen:Wenn Generationengerechtigkeit wichtig ist – das ist un-bestritten der Fall; deshalb ist es gut, dass die Debattestattfindet –, dann sind wir gehalten, sie politisch zu ge-stalten.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das findet nicht statt!)

– Natürlich findet das nicht immer statt.

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Michael Grosse-Brömer

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist das Problem!)

Aber wird das Problem dadurch gelöst, dass wir Genera-tionengerechtigkeit als Staatsziel ins Grundgesetz auf-nehmen? Das ist die spannende Frage. Wir müssen poli-tisch gestalten und sollten nicht glauben, dass wir mitder Aufnahme in das Grundgesetz die Probleme gelösthätten.

Wir müssen einmal fragen, worin das Interesse zu-künftiger Generationen besteht. Zu diesem Punkt wird esnach wie vor einen Meinungsstreit geben. Dieser Ge-setzentwurf reiht sich ein in die Flut gutgemeinter Vor-schläge, was denn alles als Staatsziel ins Grundgesetzaufgenommen werden kann. Es ist gut, dass wir trotz un-terschiedlicher Auffassungen fraktionsübergreifend da-rüber diskutieren. Sie werden mir als Rechtspolitikernicht verübeln, wenn ich frage, ob es wirklich sinnvollist, Kultur, Sport, Kinderschutz, Verschuldungsverbotund Generationengerechtigkeit als Staatsziel in dasGrundgesetz aufzunehmen. Ich bitte jede und jeden vonIhnen, durch Handzeichen anzuzeigen, wer gegen denSport ist, wer Kultur für überflüssig hält und wer derMeinung ist, dass Kinderschutz und Generationenge-rechtigkeit in unserer Gesellschaft nicht wichtig sind.

(Michael Kauch [FDP]: Und der Tierschutz?)

– Zu argumentieren, dass wir andere Ziele ins Grundge-setz aufnehmen müssen, weil dies beim Tierschutz schonder Fall ist, ist vergleichbar mit der Aussage: Bei jeman-dem mit einer Grippe kommt es auf einen Herzinfarktauch nicht mehr an.

(Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP])

Ich stimme Ihnen zu, dass es nicht gut ist, dass derTierschutz als Staatsziel in der Verfassung steht. Denndies ergibt keinen Sinn. Kein Tier ist besser geschützt imVergleich zu der Zeit, als der Tierschutz kein Staatszielwar. Vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzigwurde 2006 in einem Urteil entschieden:

Die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel …schließt es nicht aus, einem muslimischen Metzgereine Ausnahmegenehmigung … zum betäubungslo-sen Schlachten (Schächten) von Rindern und Scha-fen zu erteilen …

So viel zur Wirksamkeit von Staatszielbestimmungen imGrundgesetz.

Da sich von Ihnen gerade niemand gemeldet hat, weiler Sport für völlig überflüssig und Kultur weiß Gottnicht für unterstützenswert hält, darf ich feststellen: Wirsind uns alle über die Notwendigkeit dieser wichtigenpolitischen Ziele einig. Es liegt doch an uns, das poli-tisch zu gestalten. Glauben Sie etwa, dass die Politik da-durch, dass wir das ins Grundgesetz schreiben, besserwürde? Wir werden gleichwohl über den besten Weg,diese Ziele in konkrete Politik umzusetzen, nachdenkenund streiten müssen. Ich weiß, das ist nicht populär, aberman muss zwischendurch auch einmal das machen, wo-rauf es ankommt, und nicht immer nur das, was an-kommt. Das ist eine alte Geschichte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich glaube, diese Ziele sind wichtig; aber die prakti-schen Notwendigkeiten sind gefragt. Verfassungsrecht-lich gibt es nun einmal erhebliche Bedenken. Wenn Sieetwas in die Verfassung schreiben, was sich letztlichnicht realisieren lässt, enttäuschen Sie die Leute undschwächen die Verfassung. Das ist doch logisch. DerGlaube, wir könnten mit Gesetzen die Welt verbessern– darüber kann man ja nachdenken; ein Stück weit mussdas vielleicht auch unser Ziel sein –, ist doch ein Grundfür die Politikverdrossenheit in Deutschland. In demMoment, wo wir ein Gesetz erlassen, mit dem das Be-absichtigte nicht erreicht wird, oder wir Generationenge-rechtigkeit in die Verfassung schreiben, das aber nichtdazu führt, dass Generationengerechtigkeit hergestelltwird, enttäuschen wir all diejenigen, die das für einekluge Sache gehalten und unterstützt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Die Verfassungsgeschichte zeigt, dass das ursprüng-lich nicht gewollt war; denn ich glaube nicht, dass Na-turschutz oder Tierschutz damals als völlig unwichtig er-achtet wurden. Die Väter des Grundgesetzes – ichglaube, es hat auch drei Mütter gegeben – haben sich da-mals bewusst gegen Staatsziele entschieden. Sie habengesagt: Das Grundgesetz soll kein Warenhauskatalog,kein Wunschkatalog sein, sondern es sollen nur dieDinge aufgenommen werden, die sich auch tatsächlichumsetzen lassen. Das ist zum Beispiel bei den Grund-rechten der Fall, die ganz konkrete Abwehrrechte deseinzelnen Bürgers gegen den Staat darstellen. Im Gegen-satz dazu sind und bleiben Staatsziele unverbindlicheAbsichtserklärungen und begründen keine einklagbarenRechte.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Dann können wir „Sozialstaat“ ja streichen!)

Deswegen bin ich dafür, dass wir die Verfassung nichtdadurch beeinträchtigen – aus meiner Sicht wäre daseine Beeinträchtigung –, dass das Vertrauen der Men-schen in diese rechtliche Grundlage unserer Gesellschaftdurch Aufnahme von immer mehr Staatszielen belastetwird; denn eines ist ja klar: Sobald wir Staatsziele auf-nehmen – Herr Kauch, das dokumentiert Ihr Einwand –,gebiert dies den Wunsch nach weiteren. Jeder von unshat natürlich noch die eine oder andere hehre Absicht,die ins Grundgesetz aufgenommen werden könnte.

Mein Fazit zum Schluss: Ich glaube, es ist richtig,über Generationengerechtigkeit zu reden. Es ist wichtig,dass wir darüber debattieren. Man sollte aber nicht glau-ben, dass wir das Problem durch die Aufnahme von Ge-nerationengerechtigkeit als Staatsziel ins Grundgesetzlösen könnten. Kinder, Kultur und Sport sind wichtig,der Schutz der Verfassung aber auch.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/3399 und 16/6599 an die Aus-schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-den. Die Vorlage auf Drucksache 16/3399 soll federfüh-rend an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Siesind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten VolkerSchneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE

Zwangsverrentung stoppen – Beschäfti-gungsmöglichkeiten Älterer verbessern

– zu dem Antrag der Abgeordneten IrmingardSchewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosenausschließen

– Drucksachen 16/5902, 16/5429, 16/6625 –

Berichterstattung:Abgeordneter Anton Schaaf

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierüber einehalbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dasWort dem Kollegen Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Anton Schaaf (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wie unterschiedlich, wie seriös und sachlich man sicheinem Thema nähern kann, können wir an diesen beidenunterschiedlichen Anträgen erkennen.

In der Tat ist es so – da gibt es nichts zu diskutieren –,dass sich mit dem Auslaufen der 58er-Regelung unterUmständen eine Lücke auftun wird. Wir müssen darübernachdenken, wie wir sie vor dem Hintergrund des grund-sätzlich richtigen Sozialstaatsprinzips der Nachrangig-keit schließen können. Es geht um die Frage, ob Men-schen, die in erster Linie Arbeitslosengeld II beziehen,nicht vorrangig – vor der sozialstaatlichen Leistung – er-worbene Rentenansprüche in Anspruch nehmen müssen.

Wir reden da über ein sachliches Problem. Die Grü-nen haben es als solches erkannt. Über Ihren Antrag istdurchaus auch so zu diskutieren, wobei, liebe IrmingardSchewe-Gerigk, ich gleich noch darauf zurückkommenwerde, warum man ihn trotzdem ablehnen kann.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verstehe ich nicht!)

Denn diese Regierung und die sie tragende Koalitionhandeln an dieser Stelle. Das werde ich gleich erklären.

Zum anderen Antrag sage ich: Er ist typisch undzeigt, was eine sachliche Diskussion mit der Linkenschwer macht. Ihr Antrag ist überschrieben mit„Zwangsverrentung stoppen …“. Man unterstellt also,dass es Zwangsverrentung gibt, dass Menschen massen-haft aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herausgedrängtwerden und ihre Rente zwangsweise in Anspruch neh-men müssen.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Ja, natürlich ist das so!)

Genau diese Unseriosität passiert der Linken auf solchwichtigen Politikfeldern immer; Sachverhalte werdenimmer wieder falsch dargestellt. Das sind reiner Populis-mus und der Versuch, den Menschen Angst zu machen.Das ist überhaupt keine Frage. Das wird an solchen Un-terschiedlichkeiten sehr deutlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Also: Problem erkannt. Über die Frage, welcher sinn-vollen Lösung man es zuführen kann, wird zurzeit in derKoalition, aber auch im Ministerium nachgedacht. In derTat kann es sein, dass der eine oder andere der Akteurevor Ort das Instrument der Nachrangigkeit tatsächlichnutzt. Das stimmt. Wobei ich sage: Für uns muss Prä-misse sein, dass derjenige, der Arbeit haben will, dersich bereit erklärt, auf Jobsuche zu gehen und sich dabeiunterstützen lässt, nicht zwangsverrentet wird. DieseFrage stellt sich für uns überhaupt nicht. Man muss Me-chanismen einführen, die dies verhindern.

Das Nachrangigkeitsprinzip an der Stelle infrage zustellen, und zwar in Gänze, halten wir für völlig falsch.Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Von daherhalten wir es für falsch, die Nachrangigkeit herauszu-nehmen und schlichtweg Luft zu machen. Vielmehrbrauchen wir klare Mechanismen und Regeln, damitZwangsverrentung verhindert wird bei denen, die bereitsind, zu arbeiten. Das ist für uns der entscheidendePunkt. Wir werden bis zum Ende des Jahres mit Auslau-fen der 58er-Regelung mit Sicherheit vernünftige Lösun-gen gefunden haben und sie hier entsprechend zur Dis-kussion und zur Abstimmung stellen. Dessen können Siealle durchaus versichert sein.

Einen Punkt aus dem Antrag der Linken will ich auf-greifen. Denn ich glaube, man muss mit Missverständ-nissen und Unklarheiten ein Stück weit aufräumen. DieLinken haben gefordert, die gesetzlich geförderte Alters-teilzeit über 2009 hinaus zu verlängern. Man sollte sichdie Altersteilzeit einmal genau anschauen – ich sehe hierim Saal den geschätzten Kollegen Ernst; er ist Gewerk-schafter –: Hierbei geht es um die gesetzlich geförderteAltersteilzeit, in dessen Rahmen Zuschüsse der BA ge-zahlt werden. Die Förderung soll man bitte schön fort-setzen. Jetzt ist es allerdings in der Realität so, HerrErnst, dass es sich da, wo Altersteilzeit in Anspruch ge-

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Anton Schaaf

nommen wird, in drei Viertel aller Fälle nicht um die ge-setzlich geförderte Altersteilzeit handelt.

Das hat einen sachlichen Hintergrund. Denn mit dergesetzlich geförderten Altersteilzeit haben wir eines ver-bunden: Der Arbeitsplatz darf nicht wegfallen. Ein Teilder Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, ein Teilder Gewerkschafter, aber natürlich auch ein Teil der Ar-beitgeber – das muss man an dieser Stelle sagen – nutztdas Instrument der Altersteilzeit nach wie vor, um Ar-beitsplätze zu vernichten, und zwar in drei Viertel allerFälle. Das muss man schlichtweg so sagen.

Von daher halte ich es zumindest vor dem Hinter-grund dieser Praxis für eine ziemlich gewagte Forde-rung, jetzt einfach plakativ zu sagen, dass die Förderungfortgesetzt werden soll. Man sollte sie zumindest aufStichhaltigkeit überprüfen. Ich bin der Meinung, dassman Förderinstrumente beibehalten sollte. Das kannman tun; aber man muss sie auf ihre Wirksamkeit über-prüfen und darauf, ob sie in der Praxis tatsächlich ge-nutzt werden. Bei der Altersteilzeit gibt es, wie ich finde,ein eklatantes Missverhältnis.

Über die Frage der flexiblen Übergänge und der so-zialen Absicherung von Menschen, die vor allen Dingenauch im Alter in Notlagen geraten, ist permanent zu dis-kutieren. Aber wir müssen natürlich auch die Anpas-sungsmechanismen überprüfen. In der Tat ist es so, dassdie Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in den letzten Jahren deutlich gestiegenist. Man kann auch nicht anders darüber diskutieren.Heute Morgen in der Debatte zur Regierungserklärungdes Arbeitsministers sind die Zahlen eindeutig und klarformuliert worden. Ältere haben in unserem Land amArbeitsmarkt deutlich bessere Chancen als noch vor ei-nigen Jahren. Dies betrifft die Vorruhestandspraxis undall das, was Frühverrentung ausmacht. Sie haben jetztdeutlich bessere Chancen am Arbeitsmarkt.

In der Praxis haben wir die gut qualifizierten Älterenaus den Betrieben gedrängt, weil sie teuer waren. Wirhaben immer gehofft, Herr Ernst, dass das über den Vor-ruhestand läuft: Alte raus, Junge rein.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sieben zu eins!)

Wie war die Realität? Da müssen wir uns alle an dieeigene Nase fassen. Die Realität war: zehn Alte raus, einJunger rein. Eine richtige Bewegung auf dem Jugendar-beitsmarkt haben wir damit überhaupt nicht bewirkt;vielmehr haben wir auf Kosten der Steuerzahler und dersozialen Sicherungssysteme den Unternehmen ermög-licht, die teuren älteren Arbeitnehmer aus den Betriebenherauszudrängen. Das war die Praxis, und eine solchePraxis können und wollen wir uns nicht mehr leisten.

(Beifall bei der SPD)

Ältere haben in diesem Land eine Chance; wir solltenihnen die Chance bewahren. Das Problem ist erkannt.Deswegen haben wir auch dem Antrag der Grünen nichtzugestimmt. Im Ministerium und in den Regierungsfrak-tionen wird daran gearbeitet; wir werden dieses Problemeiner sinnvollen Lösung zuführen. Dabei werden wir al-

lerdings auch immer die Nachrangigkeit als einenGrundpfeiler unserer Sozialstaatlichkeit beachten – diessollten wir uns alle auf die Fahnen schreiben –: Werwirklich Hilfe braucht, soll Hilfe von der Allgemeinheit,vom Sozialstaat, von uns allen bekommen. Diejenigen,die sich selber helfen können, sollen es zunächst einmaltun. Dass wir da auch besondere Risiken abdecken oderverringern müssen, ist überhaupt keine Frage. Wie wirdies in Bezug auf die auslaufende 58er-Regelung ma-chen werden, werden wir in den nächsten Wochen nochbeantworten.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb gebe ich jetzt das

Wort für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit Ende dieses Jahres läuft die sogenannte 58er-Rege-lung aus. Mithilfe dieser Regelung konnten bisher für ar-beitslose Versicherte Rentenabschläge vor dem Regel-eintrittsalter regelmäßig vermieden werden. Mit demWegfall der Regelung müssen grundsätzlich ab dem1. Januar 2008 Arbeit suchende Frauen ab dem 60. Le-bensjahr und langjährig Versicherte mit 35 Beitragsjah-ren ab dem 63. Lebensjahr ihre Rentenanwartschaftenunter Hinnahme von Abschlägen einsetzen, bevor sieLeistungen nach Arbeitslosengeld II bekommen können.Es stellt sich die Frage, ob dies sinnvoll ist. Damit habeich durchaus Probleme. Ich werde darauf zurückkom-men, will aber zuvor noch zwei Bemerkungen machen.

Erstens. Das, was hier durch die Antragsteller viel-leicht etwas überzogen als Zwangsverrentung der Versi-cherten bezeichnet wird, ist bei näherem Hinsehen dieBeachtung des Nachrangigkeitsgrundsatzes, also der Re-gel, dass derjenige, der die Leistungen der Gemeinschaftin Anspruch nehmen möchte, jenseits von Schongrenzenvorrangig eigenes Vermögen und eigenes Einkommeneinsetzen muss.

Zweitens. Mit den vorliegenden Anträgen würde dasauftretende Problem in keiner sinnvollen Weise gelöst.Die Linken fordern, die Altersteilzeit über das Jahr 2009hinaus zu verlängern und die 58er-Regelung fortzufüh-ren. Wir lehnen dies ab, weil diese Maßnahmen nach al-len Erkenntnissen der Wissenschaft der Grund dafürsind, dass ältere Menschen aus dem Arbeitsmarkt he-rausgedrängt werden, was einen entsprechenden negati-ven Einfluss auf die Beschäftigungsquote Älterer hat.Diese Maßnahmen dürfen nicht verlängert, sondernmüssen so schnell wie möglich abgeschafft werden.

(Beifall bei der FDP)

Der Antrag der Grünen, Frau Schewe-Gerigk, greiftschlicht und ergreifend zu kurz.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)

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Dr. Heinrich L. Kolb

Die Betroffenen vor Zwangsverrentung – ich bleibe jetzteinmal bei diesem Begriff – zu schützen, genügt alleinnicht. Die Frage ist, wo die echte Perspektive für ältereArbeitslose ist, die eine neue Beschäftigung anstreben.

Ich bringe hier noch einmal in Erinnerung, dass dieFDP-Bundestagsfraktion, um echte Perspektiven zu er-öffnen, schon im Frühjahr dieses Jahres das Modell ei-nes flexiblen Renteneintritts unter Wegfall aller Zuver-dienstgrenzen vorgelegt hat. Nach diesem Konzeptbesteht unter Voraussetzung der Grundsicherungsfreiheitein Wahlrecht zur Rente ab dem 60. Lebensjahr bei Weg-fall aller Zuverdienstgrenzen.

Dieses Konzept ist auch geeignet, für Arbeitsuchendeeinen flexiblen Übergang in die Rente zu schaffen undgleichzeitig Anreize zur Weiterarbeit zu setzen. EinenZwang, in Rente zu gehen, gibt es in unserem Konzeptnicht. Der systematisch richtige Grund dafür ist, dass dieArbeitsmarkt- und Sozialpolitik darauf ausgerichtet seinmuss, Menschen auch im höheren Alter in den Arbeits-markt zu integrieren. Wer sie darauf verweist oder garzwingt, Rente in Anspruch zu nehmen, der reduziert zu-mal bei den derzeit engen Zuverdienstgrenzen den An-reiz zum Arbeiten. Dann gilt: Wer einmal raus ist, istauch auf Dauer raus.

Ich habe, wie gesagt, Bedenken, was die konsequenteAnwendung des Nachrangigkeitsgrundsatzes angeht.Das Recht, früher in Rente zu gehen, darf sich nicht ge-gen die insofern Privilegierten wenden. Besonders be-troffen von einer Zwangsverrentung wären Frauen ab 60,die nicht mehr in Rente gehen könnten, sondern in Rentegehen müssten, sowie langjährig Versicherte mit mehrals 35 Beitragsjahren. Weder das eine, die Diskriminie-rung von Frauen, noch das andere, die Benachteiligungderjenigen, die mehr als andere vorgesorgt haben, istnach meiner Auffassung zu akzeptieren.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Herr Kollege Schaaf, ich will deutlich sagen: Nachmeinen Berechnungen entsteht der Gemeinschaft auchbei einem Verzicht auf die Zwangsverrentung kein wirk-licher Schaden. Zumindest was die Personen betrifft,deren Rentenanspruch unterhalb des Niveaus der Grund-sicherung im Alter liegt, gilt, dass bei einer Verrentungmit 60 Jahren der fünfjährigen Ersparnis in Höhe von82 Prozent der Rentenanwartschaft ein notwendiger zu-sätzlicher Transfer in Höhe von 18 Prozent der Renten-anwartschaft für die gesamte Rentenbezugsdauer nachdem Regelrenteneintrittsalter gegenübersteht. Wenn Siedas durchrechnen, stellen Sie fest, dass sich das in etwaausgleicht. Ein Vorteil für den Staat ergibt sich darausnicht.

Für Personen, deren gesamte Altersvorsorge oberhalbdes Niveaus der Grundsicherung im Alter liegt, dürftesich bei Abwägung aller Umstände, auch des Einsatzeseigenen Vermögens, die vorzeitige Inanspruchnahme derRente ohnehin regelmäßig als günstiger erweisen, jeden-falls dann, wenn die Zuverdienstgrenzen, wie im FDP-Konzept vorgesehen, vollständig abgeschafft würden.

(Beifall des Abg. Jörg Rohde [FDP])

Klar muss sein, dass die Grenzen der Solidargemein-schaft nicht überreizt werden dürfen. Wenn es keinenZwang zur Rente mit Abschlägen geben soll, dann mussderjenige, der seine Rente ohne Abschlag in Anspruchnehmen will, dies auch tun können. Das heißt, nach demheutigen Stand wird die Rente mit spätestens 65 Jahrenvorrangig vor der Transferleistung der Gemeinschaftzum Tragen kommen.

Das ist der Lösungsansatz, den ich für möglich halte,wenn man auf die konsequente Anwendung des Nach-rangigkeitsgrundsatzes verzichten möchte. Das ist einesinnvolle und intelligente Lösung, die den Interessen derBetroffenen gerecht wird und vor allen Dingen dazu bei-trägt, dass ältere Menschen ein nachhaltiges Interessedaran haben, so lange wie möglich am Arbeitsleben teil-zuhaben und integriert zu sein.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Karl Schiewerling hat jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Karl Schiewerling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Sie werden wahrscheinlichnicht gerade überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, dassunsere Fraktion beide Anträge ablehnt. Wir lehnen sieab, weil sie in der Tat dem Grundsatz der Nachrangigkeitwidersprechen – nicht nur dem Grundsatz des Sozialgesetz-buches II, sondern auch dem des Sozialgesetzbuches XII –und weil wir einer Verlängerung der 58er-Regelungnicht zustimmen wollen, da wir dies für ein falschesSignal halten. Würden Ihre Anträge konsequent umge-setzt, wäre letztlich nämlich genau das die Folge.

Lassen Sie mich eine Anmerkung machen: Seit zweiJahren habe ich die Ehre und das Vergnügen, in diesemHaus insbesondere über das SGB II und Hartz IV zu dis-kutieren. Mir ist bis auf eine Ausnahme nicht ein einzi-ger Antrag der Fraktion der Linken bekannt, in demIdeen entwickelt wurden, wie im normalen wirtschaftli-chen Leben Arbeitsplätze geschaffen werden können.Das, was Sie machen, ist Bewirtschaftung von Arbeitslo-sigkeit. Ich sage Ihnen: Wir wollen keine Bewirtschaf-tung von Arbeitslosigkeit, sondern wir wollen Leben inder Wirtschaft, damit die vorhandenen Arbeitsplätze er-halten und neue geschaffen werden können, insbeson-dere für Ältere.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich habe großes Verständnis für die Menschen, die30 Jahre und länger in die Rentenkasse eingezahlt habenund nun aufgrund der wirtschaftlichen Lage erwerbslosgeworden sind. Diese Menschen müssen, wenn sie inkeine andere Stelle vermittelt werden können, mit Ab-schlägen vorzeitig in Rente gehen. Ich gestehe zu: Dasist im Einzelfall problematisch.

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(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das ist generell problematisch!)

Aber ich kenne viele Menschen, die sehr froh sind, wennsie nicht mehr Hartz IV beziehen müssen, sondern inRente gehen bzw. Rente in Anspruch nehmen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auf das Prinzip der Nachrangigkeit hatten sich beider Umsetzung der sogenannten Hartz-Reformen, wieSie betonen, alle verständigt. Unser oberstes Ziel ist undbleibt, Menschen nicht in der Grundsicherung zu belas-sen, sondern sie aus dem Bezug von Leistungen desStaates herauszuholen. Doch was hier gefordert wird, istde facto eine unbefristete Verlängerung der 58er-Rege-lung. Diese Regelung wäre am 31. Dezember 2005 aus-gelaufen. Wir haben sie noch einmal um zwei Jahre ver-längert. Ende dieses Jahres, haben wir verbindlichgeregelt, ist damit Schluss. Denn wir wollen keine An-reize für eine Frühverrentung. Diese Frühverrentung be-lastet die sozialen Sicherungssysteme. Das bezahlen dieBeitragszahler, das bezahlen die kleinen und mittelstän-dischen Betriebe. Vorteile davon haben allein die gro-ßen, kapitalintensiven Konzerne.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr richtig!)

Wir wollen, dass die Menschen möglichst lange inBeschäftigung bleiben. Mit Ihren Anträgen hebeln Siedas Prinzip der Nachrangigkeit aus. Das wundert uns beiden Linken offen gestanden nicht, aber bei den Grünenschon; denn Sie haben dieses richtige Prinzip mit be-schlossen.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hebeln es auch nicht aus!)

Für unsere Fraktion gilt weiterhin der Grundsatz, dassjeder Einzelne seinen Beitrag leisten muss, bevor er ei-nen Anspruch auf Transferleistungen des Staates hat.Schafft er es aus eigener Kraft nicht, hat er ein Recht aufUnterstützung; das nennen wir Subsidiarität. Danach istdie Hilfe des Staates nachrangig. Das bedeutet auch,dass, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, aus demBezug von Hilfe herauszukommen, als Ultima Ratio dieRente mit Abschlägen hingenommen werden muss. Dasmag im Einzelfall hart sein – das ist klar –; aber dieRente mit Abschlag bedeutet ja nicht, dass man insge-samt weniger Rente bekommt. Man bekommt monatlichweniger; aber man hat eine längere Rentenlaufzeit.

(Zurufe von der LINKEN: Oh!)

Das heißt, dass das vom Einzelnen eingezahlte Geldnicht verloren geht. Ich halte das in der Rentensystema-tik für richtig und für zu bedenken.

Ich will auch auf einen anderen Punkt hinweisen: Esgibt nicht wenige, die frühverrentet sind, mit 63 in Rentegegangen sind, die die Möglichkeit, die der Gesetzgeberihnen eingeräumt hat, nämlich Geld hinzuzuverdienen,nutzen, übrigens steuer- und abgabenfrei, und dabeinicht schlechter fahren, als das vorher der Fall war. Ichkenne das aus dem Kreise meiner Bekannten und weiß,dass viele das in Anspruch nehmen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein älterer Arbeit-nehmer freiwillig Arbeitslosengeld II bezieht, wennseine Rente trotz Abschlägen immer noch höher liegt alsdas Arbeitslosengeld II und er die Möglichkeit hat, ei-gene Schritte zu gehen und etwas hinzuzuverdienen.

Entscheidend ist allerdings, dass wir ältere Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst arbeitsloswerden lassen. Unser Ziel muss es sein, Ältere in Arbeitzu bringen. Genau daran arbeitet die Große Koalition.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass das bereits gelingt, belegen die Zahlen: Die Be-schäftigungsquote der über 55-Jährigen lag im zweitenQuartal 2007 bei 52 Prozent. Damit hat sich diese Be-schäftigungsquote seit dem Jahr 2000 um 10 Prozent-punkte erhöht. Ich will daran erinnern: In Lissabon hatsich die Europäische Union zum Ziel gesetzt, bis zumJahre 2010 50 Prozent zu erreichen. Ich freue mich undwir können froh darüber sein, dass wir dieses Ziel nichtnur schon erreicht, sondern sogar schon übertroffen ha-ben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Beschäftigungsquote der über 50-Jährigen lag so-gar bei 61,7 Prozent. Im Vergleich zu anderen europäi-schen Ländern liegen wir damit im oberen Mittelfeld.Das ist ein erster beachtlicher Erfolg. Doch wir wollenmehr: Wir wollen uns an Staaten wie Schweden messen,bei denen die Quote bei etwa 70 Prozent liegt. Das kön-nen wir und das wollen wir auch erreichen.

Die Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt entwi-ckelt sich zunehmend günstiger. Im September 2007 wa-ren 191 000 ältere Menschen weniger als noch vor ei-nem Jahr arbeitslos gemeldet; das entspricht einemRückgang von etwa 17,6 Prozent. Natürlich belasten unsdie insgesamt 908 000 arbeitslos gemeldeten Menschenüber 50 Jahre. Doch wir sind auf einem guten Weg,auch viele von ihnen in Arbeit zu vermitteln. Bei denüber 55-Jährigen konnten 110 000 Menschen vermitteltwerden. Das sind immerhin 20 Prozent Arbeitslose we-niger als im Vorjahr. Vom aktuellen Wirtschaftsauf-schwung profitieren auch die älteren Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer.

Auch die aktuellen Integrationserfolge im Rahmendes Bundesprogramms „Perspektive 50 plus“ zeigen,dass sich die Berufschancen Älterer verbessert haben.Rund 81 Prozent sind in sozialversicherungspflichtigeBeschäftigungsverhältnisse und mehr als 57 Prozentdavon in unbefristete Beschäftigungsverhältnisse über-nommen worden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit der Fortführung des Bundesprogramms sollen dieBeschäftigungschancen der älteren Langzeitarbeitslosenweiter verbessert werden. Es ist zu erwarten, dass mit-hilfe dieses Bundesprogramms in den nächsten Jahren50 000 ältere Langzeitarbeitslose in den allgemeinen Ar-beitsmarkt integriert werden können.

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Daneben haben wir weitere Initiativen ergriffen, näm-lich die Initiative „50 plus“ und seit dem 1. Oktober2007 die Jobperspektive für Menschen über 55 Jahre.Niemand kann sagen, die Bundesregierung und die sietragenden Fraktionen würden nicht alles unternehmen,um ältere Menschen im Arbeitsverhältnis zu halten oderneu in Beschäftigung zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Angesichts des demografischen Wandels und des dro-henden Fachkräftemangels werden die Betriebe dasPotenzial älterer Fachkräfte zunehmend nutzen. Davonbin ich überzeugt. In meinem eigenen Wahlkreis imMünsterland kenne ich Betriebe, die gerade diese Poten-ziale der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerschätzen. Mit Motivation, Erfahrung, Engagement undDisziplin punkten sie bei den Arbeitgebern zunehmend.

(Jörg Tauss [SPD]: Nicht nur dort!)

Voraussetzung ist allerdings – das gilt für alle –, dass dieWirtschaft läuft.

Wir wollen, dass die Fallmanager vor Ort mit den Be-troffenen entscheiden, was das Beste für sie ist. Diesegezielte Einzelfallprüfung ist der Schlüssel zum Erfolg.Dazu brauchen wir verbindliche Kriterien für die Trägerder Grundsicherung. Es geht darum, präzise festzulegen,dass zunächst alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden,um eine Beschäftigung im normalen Arbeitsmarkt zu si-chern oder zu ermöglichen, bevor jemand, der Arbeitslo-sengeld II bezieht, in die Rente geschickt wird. Es gehtnicht darum, jemanden aus der Statistik zu drängen. Esgeht darum, Leute in Beschäftigung zu bringen.

Noch eines, weil das immer wieder diskutiert wird:Der Einstieg in die Rente mit 67 erfolgt erst 2013, undsie wird sich erst 2029 voll entfalten. Bis dahin habenwir alle Chancen, Ältere möglichst lange zu beschäfti-gen und sie durch Prävention, Arbeitsschutz und Ge-sundheitsvorsorge auf diesen Schritt und diese Entwick-lung vorzubereiten. Der Blick auf heute sagt noch nichtsüber die Wirklichkeit von morgen.

Ich sage Ihnen aber auch: Die Grundsicherung ist einlernendes System. Das haben wir in den letzten Jahrenfestgestellt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.

Karl Schiewerling (CDU/CSU): Ich komme jetzt zum Schluss. – Das heißt, dass die

Bereitschaft zu Korrekturen immer gegeben sein mussund auch gegeben ist. Die Grundsätze, durch die diesesSystem getragen wird, müssen aber klar sein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Klaus Ernst hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Herr Schiewerling, eines müssen Sie mir jetzt er-klären, weil ich die Logik einfach nicht verstehe.

(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Sie verstehen keine Logik!)

Sie stellen sich hier hin und sagen, Sie seien gegen dieFrühverrentung von Menschen. Gleichzeitig sind Sieaber dafür, dass man Menschen mit 63 Jahren – Frauengegebenenfalls mit 60 Jahren – in die Rente zwingt. Wasist das anderes als eine Frühverrentung? Es werden dochMenschen in die Rente geschickt, ohne dass sie das wol-len. Das hat keine Logik mehr.

Im Übrigen zu Ihrer Rechnung: Ich weiß nicht, wieSie rechnen, aber ich kann Ihnen sagen, wie wir rechnen,und ich glaube, diese Rechnung ist nicht zu widerlegen.

Schauen Sie sich einmal an, was ein 63-jähriger Emp-fänger von Arbeitslosengeld II erhält. Es sind 670 Euro.Wenn er im Vergleich dazu Rente in Höhe von 1 000 Euroerhält, hat er tatsächlich natürlich mehr. Selbst bei einemAbschlag von 7,2 Prozent hätte er noch 928 Euro. Inso-fern stimmt es natürlich, dass er mehr hätte. Er ist aberlänger Rentner; das hoffen wir zumindest. HerrSchiewerling, wenn er zehn Jahre lang Rentner ist, dannschaut die Rechnung anders aus. Dadurch, dass er Ab-schläge hinnehmen muss, erhält er in zehn Jahren8 640 Euro weniger. Demgegenüber stehen die 6 192 Euro,die er vorher mehr hatte, wenn er früher in Rente geht.Insgesamt hat er also weit über 2 000 Euro weniger.

Ich sage Ihnen: Genau das machen Sie mit den Bezie-hern von Arbeitslosengeld II. Es wundert mich natürlich,dass der vorliegende Gesetzentwurf ausgerechnet vonden Sozialdemokraten mit verursacht wurde.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Dieser Gesetzentwurf führt dazu, dass Empfänger vonArbeitslosengeld II, die schon dadurch benachteiligtsind, dass sie keinen Job haben und dass ihr Vermögenangerechnet wird – Sie kennen das –, insbesondere dann,wenn sie lange versichert waren – 35 Jahre –, in dieRente gezwungen werden, ohne dass sie das wollen.Kollege Schaaf, man kann jetzt natürlich über den Titelstreiten. Aber es ist faktisch Zwangsverrentung, wennLeute, ohne dass sie es wollen, in Rente geschickt wer-den. Was ist das anderes als Zwangsverrentung? Freiwil-lig ist das nicht, Kollege Schaaf.

(Beifall bei der LINKEN)

Eines möchte ich auch noch einmal deutlich machen.Ich freue mich ja, dass die Sozialdemokratie zurzeit da-rüber nachdenkt, was an ihrer Agenda falsch war. Ichfreue mich, dass sie über die Verlängerung der Bezugs-dauer des Arbeitslosengeldes I nachdenkt. Ich freuemich auch, dass sie über die Rente mit 67 nachdenkt. Ichfrage mich nur immer, wozu das Nachdenken bei euchführt. Ihr denkt ja nicht allein nach; auch euer Minister

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Klaus Ernst

denkt nach, und er denkt leider immer in die andereRichtung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wider-spruch bei der SPD)

Ich hoffe, dass ihr diesbezüglich eine Einigung in der so-zialdemokratischen Partei findet –

(Rolf Stöckel [SPD]: Populismus!)

– ja, das, was wir sagen, ist immer Populismus, und ihrseid die blühende Weisheit; das ist ja bekannt – und we-nigstens diesen einen Punkt – da fällt euch ja kein Za-cken aus der Krone – so regelt, dass ihr wieder ein wenigAnsehen bei den Bürgern dieses Landes habt. Wenn ihreuch eure Umfragen anschaut, dann seht ihr, dass sie imKeller sind.

(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Schön, dass ihr euch Sorgen darüber macht!)

Ich habe Verständnis dafür und es ist richtig, dass ihrjetzt darüber nachdenkt, was an der Agenda 2010 falschwar; das ist in Ordnung. Aber dann nehmt doch, bitteschön, die Punkte, die wirklich nicht so besonders teuersind, in Angriff. Weniger als 200 000 Leute zwischen 60und 65 Jahren haben im Sommer 2007 Arbeitslosen-geld II bezogen. Wenn ihr euch jetzt entschließt, diesekleine Gruppe von Menschen, die von dieser Regelungunmittelbar negativ betroffen ist, ohne Abschläge inRente gehen zu lassen, dann habt ihr innerhalb von zweiJahren wenigstens einmal etwas Vernünftiges gemacht.

(Beifall bei der LINKEN – Rolf Stöckel [SPD]: Unsinn!)

Ich gehe aber davon aus, dass dieses Denken nicht au-tomatisch zum richtigen Ergebnis führt. Wir werdeneuch daran messen. Nur wenn es eine starke Linke gibt,wird die Sozialdemokratie wieder ansatzweise sozialde-mokratisch werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-

Gerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mirkam es gerade so vor, als wären wir hier auf einemMarktplatz.

Aber in der Tat war uns damals bei der Debatte überdie Rente mit 67 allen klar, dass die Frühverrentungspra-xis in den Betrieben erheblich zur geringeren Erwerbs-beteiligung von älteren Beschäftigten beigetragen hat.Sie entwertet nicht nur das Erfahrungswissen älterer Be-schäftigter, sondern ist auch volkswirtschaftlich nicht zuvertreten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Wir schienen uns so weit einig zu sein, dass die Beschäf-tigungsquote der Älteren deutlich erhöht werden muss.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es kommt aber immer darauf an, wie man es macht!)

Deshalb finde ich die Signale, die das Bundesministe-rium für Arbeit und Soziales nun auf einmal aussendet,wirklich irritierend. Sie bedeuten: Wer nicht mehr ge-braucht wird, wird ausgesteuert. Dadurch wird die Ar-beitslosenstatistik geschönt; ältere Langzeitarbeitslosewerden aus dem Leistungsbezug entfernt. Dafür verlan-gen Sie von den älteren Langzeitarbeitslosen, dass siezum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Rente beantragen,und zwar auch dann, wenn das mit Abschlägen verbun-den ist. Massive Rentenkürzungen nehmen Sie dabei bil-ligend in Kauf.

Herr Kollege Schaaf, wenn Sie sagen, das Ministe-rium solle einmal überlegen,

(Anton Schaaf [SPD]: Das habe ich nicht ge-sagt!)

dann mache ich Ihnen einen Vorschlag – da brauchen Siedas Ministerium gar nicht zu bemühen –: Sie müsseneinfach nur im SGB II den Satz einfügen, dass der Nach-rangigkeitsgrundsatz dann nicht angewendet werdendarf, wenn Rentenabschläge die Folge sind. In allen an-deren Fällen bleibt es so, wie es ist; nur wenn Abschlägedie Folge sind, ist das nicht der Fall. Das ist eine ganzeinfache Sache. Vielleicht kann das Ministerium das jaauch übernehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Guter Vorschlag!)

Wenn die Bundesregierung es den Argen so einfachmacht, ältere Langzeitarbeitslose zwangsweise in Rentezu schicken, dann ist doch auch nicht zu erwarten, dasssie in Qualifizierung oder bessere Vermittlung investie-ren. Glauben Sie wirklich, Herr Kollege Schaaf, dass dieArgen für einen 63-Jährigen große Anstrengungen unter-nehmen, wenn sie beim Abschieben in die Rente auchnoch viel Geld einsparen können? Das glauben Sie dochnicht wirklich!

Ihre aufgeregten Reaktionen in der gestrigen Aus-schusssitzung haben gezeigt, dass Sie diese Pläne jetztdurchziehen wollen, dabei aber Ihre Schwierigkeiten ha-ben; das akzeptiere ich.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie werden sich bewegen, Frau Schewe-Gerigk!)

– Das glaube ich auch. – Sie wissen genau, dass Sie dieGlaubwürdigkeit der Rente mit 67 dadurch infrage stel-len. Denn Ihr Rezept für die älteren Menschen, die vonLangzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, heißt immernoch: Sie werden gezwungen, mit 63 vorzeitig die Rentezu beantragen, obwohl das Renteneintrittsalter – wennauch abgestuft – gerade auf 67 erhöht wurde.

Die Grünen stehen zu dieser Verantwortung. Dasheißt, Menschen müssen für diese vier Jahre einen Ab-schlag von mehr als 14 Prozent in Kauf nehmen. Je-mand, der bei einem Renteneintritt mit 67 Jahren800 Euro Rente pro Monat bekäme, bekommt dann684 Euro. Wenn man bedenkt, dass dieser Mensch dann

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Irmingard Schewe-Gerigk

vielleicht noch 20 Jahre lebt – was nicht ungewöhnlichist –, dann können Sie das einmal hochrechnen. Das isteine massive Rentenkürzung für eine Gruppe, die größ-tenteils nur kleine Rentenanwartschaften aufbauen kann.Damit spielen Sie im Übrigen denjenigen in die Hände,die die Rente mit 67 immer als massive Kürzung be-zeichnen.

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und derSPD, so diskreditiert man das notwendige Vorhaben„Rente mit 67“. Trotz der positiven Entwicklung für äl-tere Arbeitslose, die Arbeitslosengeld I beziehen, ist dieSituation von älteren Langzeitarbeitslosen nach wie vorprekär und keineswegs geeignet, sich zurückzulehnen.Betroffen sind davon vor allem Geringqualifizierte; dennsie erreichen sehr viel seltener als andere Ältere das Ren-tenalter aus einer Erwerbsarbeit heraus.

Doch Sie setzen auf Aussteuern statt auf Vermittelnund Qualifizieren. Wir brauchen aber deutliche Verbes-serungen bei der Vermittlung und Qualifizierung der äl-teren Beschäftigten. Ihnen fehlen jedoch offensichtlichder Mut und der Ehrgeiz für eine Korrektur der bisheri-gen Politik. Sie gehen stattdessen lieber den einfachenWeg, indem Sie die älteren Langzeitarbeitslosen gegenihren Willen – das ist der entscheidende Punkt; es wäreetwas anderes, wenn man es ihnen freistellen würde –und mit Abschlägen vorzeitig in Rente schicken.

Die Linke wendet sich in ihrem Antrag nicht nur ge-gen die Zwangsverrentung – das unterstützen wir –, son-dern sie möchte auch die Programme zur Altersteilzeitund die 58er-Regelung wieder aufleben lassen. Diesebeiden Forderungen unterstützen wir nicht, weil sie we-sentlich zur Frühverrentung beigetragen haben. Die1,26 Milliarden Euro, die die BA 2006 zur Förderungder Altersteilzeit aufwenden musste, wollen wir für ak-tive Arbeitsmarktpolitik einsetzen. Deshalb können wirdem Antrag der Linken insgesamt nicht zustimmen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Anton Schaaf [SPD]: Der Schluss war gut!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/6625. DerAusschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/6625 die Ablehnung des An-trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5902mit dem Titel „Zwangsverrentung stoppen – Beschäfti-gungsmöglichkeiten Älterer verbessern“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5429 mitdem Titel „Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosenausschließen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die

Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Stimmenthaltung der FraktionDie Linke und gegen die Stimmen der Fraktion Die Grü-nen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts

– Drucksache 16/3655 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/6634 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jürgen GehbChristoph SträsserMechthild DyckmansJörn WunderlichJerzy Montag

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DieLinke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung istfür die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin der Justiz:

Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Präsidium!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Re-form des Rechtsberatungsrechts geht es nicht nur um dieallseits begrüßte Abschaffung des alten, historisch belas-teten Rechtsberatungsgesetzes aus dem Jahre 1935 unddie längst überfällige Freigabe der unentgeltlichen kari-tativen Rechtsberatung. Das ist übrigens ein sehr wichti-ger und von vielen karitativen Einrichtungen lang erwar-teter Teil der Reform. Vielmehr geht es zugleich darum,ob man heutzutage überhaupt noch ein Gesetz zur Regu-lierung außergerichtlicher Rechtsberatung braucht. An-dere Länder in Europa zeigen uns, dass das nicht unbe-dingt notwendig ist. Allerdings haben diese Länder – ichnenne als Beispiel die nordischen Staaten oder die Nie-derlande – eine ganz andere Rechtstradition und eineStruktur des Rechtsberatungsmarktes, die mit der unse-ren nicht vergleichbar ist.

Die Bundesregierung hat sich deshalb schon ganzfrüh gegen eine radikale Liberalisierung des Rechtsbera-tungsmarktes in Deutschland ausgesprochen. Qualifi-zierte Rechtsdienstleistungen sollen und werden auchkünftig unter Geltung des neuen Rechtsdienstleistungs-gesetzes grundsätzlich durch Rechtsanwältinnen undRechtsanwälte erbracht werden. Eine Freigabe oder auchnur die Einführung eines Rechtsdienstleistungsberufesunterhalb der Anwaltschaft ginge letztlich zulasten derrechtsuchenden Bevölkerung, aber auch unseres gesam-ten Rechtssystems, in dem Anwältinnen und Anwälte alsOrgane der Rechtspflege eine besondere Stellung haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

Das bedeutet aber nicht, dass Anwälte in Deutschlandvor jedem Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck – auch indem Grenzbereich zwischen rechtlicher und wirtschaftli-cher Betätigung – geschützt werden müssten oder dürf-ten. Das alte Rechtsberatungsgesetz ist jahrelang benutztworden, um einen solchen Schutzraum rund um die An-waltschaft zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsge-richt hat dies bereits seit einigen Jahren nicht mehr mit-getragen und immer wieder Nichtanwälten die Befugniszugestanden, im Zusammenhang mit ihrer eigentlichenberuflichen Tätigkeit rechtliche Angelegenheiten zu er-ledigen. An diesen verfassungsrechtlichen Vorgabenorientiert sich das neue RDG, ohne allerdings, wie essich viele Nichtanwälte gewünscht haben, darüber hi-nauszugehen. Der zentrale Erlaubnistatbestand des RDG,die Regelung über die als Nebenleistung im Zusammen-hang mit einer anderen Tätigkeit zulässigen Rechts-dienstleistung, erlaubt allerdings die Entwicklung neuerBerufsbilder und ist damit zukunftsfest ausgestaltet.

Zukunftsorientiert war auch der Vorschlag im Regie-rungsentwurf, die Regelungen der Bundesrechtsanwalts-ordnung über die berufliche Zusammenarbeit von An-wältinnen und Anwälten mit Angehörigen andererBerufe zu erweitern und Anwälten die Sozietät etwa mitUnternehmensberatern, Betriebswirten, Wirtschaftsjuris-ten oder nichtanwaltlichen Mediatoren zu gestatten. Einesolche Öffnung beruflicher Zusammenarbeitsformenwäre nicht nur für die Absolventen juristischer Fach-hochschulstudiengänge – ich nenne als Beispiel nur dieDiplomwirtschaftsjuristen – eine Alternative zur abhän-gigen Beschäftigung in Wirtschaftsunternehmen gewe-sen. Sie böte gerade auch jungen Rechtsanwältinnen undRechtsanwälten auf unserem übersättigten Anwalts-markt neue Chancen und Ausrichtungsmöglichkeiten.Aber die Anwaltschaft hat signalisiert, dass sie in diesemPunkt noch Gesprächsbedarf sieht. Ich bin allerdings si-cher, dass wir uns angesichts einer wachsenden anwaltli-chen Zustimmung zu den Vorschlägen im Regierungs-entwurf, die nach einer Studie zuletzt bei mehr als44 Prozent der Anwaltschaft lag, schon sehr bald mitdiesen Vorschlägen befassen werden.

Das gilt erst recht, wenn deutsche Anwälte in Europakonkurrenzfähig sein wollen. In England, also auf demwichtigsten europäischen Rechtsmarkt, steht eine grund-legende Liberalisierung anwaltlicher Geschäftsstruktu-ren unmittelbar bevor. Vor diesem Hintergrund ist dieReform des Rechtsberatungsrechts, über die wir heute zuentscheiden haben, nur ein neues, aber sicher tragfähigesGerüst für weitere Entwicklungen des Rechtsberatungs-marktes, der sich auch in Deutschland rasant weiterent-wickeln wird.

Ich darf mich abschließend bei Ihnen, den Mitglie-dern des Rechtsausschusses, für die sehr guten, sehr in-tensiven und zielführenden Beratungen sowie bei denMitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz, diemanchmal sehr darunter gelitten haben, dass es nicht sogehen konnte, wie sie wollten, für die gute Zusammenar-beit herzlich bedanken. Ich wünsche, dass dieses Gesetzein voller Erfolg wird.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Mechthild Dyckmans,

FDP-Fraktion.

Mechthild Dyckmans (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Rechtsberatung ist heute eine Tätigkeit, die alle ge-sellschaftlichen Gruppen und alle thematischen Bereicheerfasst. Insgesamt ist der Beratungsbedarf in den vergan-genen Jahren immer mehr angestiegen. Ursache dafürist, dass beinahe alle Lebensbereiche und Lebenssach-verhalte rechtlich komplizierter werden und für denLaien oft nur schwer zu durchdringen sind. Die Nach-frage nach fachkundigem Rechtsrat ist daher heute grö-ßer denn je.

Das geltende Rechtsberatungsgesetz bedurfte ausmehrerlei Gründen einer Generalüberholung. HerrStaatssekretär Hartenbach hat es schon angesprochen.Wir haben es daher grundsätzlich begrüßt, dass die Bun-desregierung diese Reform angestoßen hat. Dabeimusste sowohl auf die Rechtsprechung des Bundesver-fassungsgerichts – insbesondere zur unentgeltlichen Be-ratung – als auch auf die Deregulierungsbestrebungender Europäischen Kommission im Bereich des freienDienstleistungsverkehrs reagiert werden.

Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie-rung waren die Begriffe der Rechtsdienstleistung undder Nebenleistung im Zusammenhang mit einer anderenTätigkeit derart schwammig formuliert, dass erheblicheAuslegungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten in derPraxis zu erwarten waren. Der Gesetzentwurf enthieltzudem verschiedene Regelungen über die Zusammen-arbeit mit anderen Personen oder Angehörigen vereinba-rer Berufe. Diese Regelungen ließen mehr Fragen offen,als sie abschließende Lösungswege aufzeigten. Insbe-sondere im Bereich der Verschwiegenheitspflichten vonRechtsanwälten sah der Entwurf erhebliche Regelungs-lücken vor. Unbeantwortet blieb zum Beispiel die Frage,wie zu verfahren ist, wenn Anwälte mit Angehörigenvon Berufsgruppen zusammenarbeiten, die keiner ge-setzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. ZuRecht, wie ich meine, haben wir diese Regelungen ersteinmal aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Sie waren un-ausgereift und undurchdacht. Die Bundesregierung istjetzt aufgefordert, praktikable und sauber ausgearbeiteteVorschläge zu diesem Thema vorzulegen. Ich gehe da-von aus, dass die Anwaltschaft wie bisher auch bei die-ser Aufgabe konstruktiv mitarbeiten wird.

Der Gesetzentwurf, so wie er heute zur Abstimmungvorliegt, enthält an entscheidenden Stellen Änderungenund Verbesserungen gegenüber dem Ursprungsentwurf.Es ist aus Sicht der FDP sehr zu begrüßen, dass der Ent-wurf sicherstellt, dass die qualifizierte und professio-nelle Rechtsberatung erhalten bleibt. Es ist richtig, auchkünftig daran festzuhalten, dass die Vertretung von Man-danten vor Gericht bis auf wenige Ausnahmen nur durchRechtsanwälte erfolgen darf. Der Gesetzentwurf schafftauch Klarheit bei der unentgeltlichen Rechtsberatung. InÜbereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgerichtsoll unentgeltliche Rechtsberatung, die außerhalb des

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Mechthild Dyckmans

Familien- und Bekanntenkreises angeboten wird, nurdurch eine juristisch qualifizierte Person oder jedenfallsunter deren Anleitung erbracht werden können. Es musssich dabei übrigens nicht um einen Rechtsanwalt han-deln. Entscheidend ist, dass die Person die Befähigungzum Richteramt besitzt, das heißt, dass sie Volljurist ist.Im Hinblick auf den großen Bedarf nach sozialer und ka-ritativer Rechtsberatung, die von vielen Vereinen undOrganisationen angeboten wird, halte ich die jetzt gefun-dene Regelung für sachgerecht. Aber auch bei unentgelt-lich erbrachter Beratung muss die Qualität stimmen.Deshalb lehnt meine Fraktion den Antrag der Linken,der sich hauptsächlich mit der unentgeltlichen Rechtsbe-ratung befasst und diese vollständig freigeben will, ab.

Nicht unproblematisch sind aus Sicht der FDP diefortschreitende Abkehr vom Anwaltszwang in der Beru-fungsinstanz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowiedie allgemeine Erweiterung der Vertretungsbefugnis vonBehörden. So sind künftig vor den Oberverwaltungs-gerichten zum Beispiel Vertreter von Gewerkschaften inallen Rechtsfragen und auf allen Rechtsgebieten vertre-tungsbefugt, selbst wenn sie keine Juristen sind.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Abenteuerlich!)

Bisher konnten diese nur in Verfahren tätig werden, dieeinen Bezug zu einem Beschäftigungsverhältnis hatten.Auch der nichtjuristische Vertreter einer berufsständi-schen Vereinigung der Landwirtschaft kann demnächstsein Mitglied zum Beispiel in einem Atomstreitverfah-ren vor dem OVG vertreten. Hier hat man gerade nichtdie bisherigen Regelungen übernommen, sondern dienichtjuristische Vertretung ausgeweitet.

Ich bin skeptisch, ob sich Behörden einen Gefallentun, wenn sie sich nicht anwaltlich vertreten lassen, undich bin noch skeptischer, ob es der Rechtsfindung dient,wenn in Zukunft Nichtjuristen Anträge auf Berufungszu-lassung vor den Oberverwaltungsgerichten stellen. Ichhalte hier eine Evaluierung in spätestens zwei Jahren fürabsolut notwendig. Es sollte geprüft werden, welcheAuswirkungen die vorgeschlagenen Änderungen in denVerfahrensordnungen in der Praxis tatsächlich haben.

Das Rechtsberatungsgesetz hat in der Vergangenheitgute Dienste geleistet. Ich glaube, dass das Rechtsdienst-leistungsgesetz genauso gute Dienste leisten wird. Ichbin zuversichtlich, dass das heute zu verabschiedendeGesetz zu einem nicht unerheblichen Teil zur Funktions-fähigkeit unserer Justiz beitragen wird.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Gehb, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zweimal

am Tag kann man die Ballade vom Schwängerer derFrau L. nicht erzählen, und auch die Rechtsanwälte ha-ben verdient, dass man das Thema mit dem gebotenenErnst angeht. Das habe ich heute Nachmittag gemacht,und das tue ich auch heute Abend.

Wir bringen heute ein rechtspolitisch außergewöhn-lich bedeutsames Gesetzgebungsverfahren zum parla-mentarischen Abschluss. Das Gesetz zur Neuregelungdes Rechtsberatungsrechts ist notwendig geworden, weildie Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht,Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht ver-schiedene Lockerungen des grundsätzlichen Rechtsbera-tungsverbots im Rechtsberatungsgesetz für Personen,die nicht Volljuristen sind, bewirkt hat. Die Gerichte ha-ben dabei das Rechtsberatungsverbot im Lichte derGrundrechte ausgelegt und den Begriff der erlaubnis-pflichtigen Rechtsberatung in diesem Lichte einschrän-kend definiert.

Ich freue mich sehr, dass es im Laufe des Gesetzge-bungsverfahrens gelungen ist, wesentliche rechtspoliti-sche Anliegen der Union zur Geltung zu bringen. Ich be-danke mich ausdrücklich bei unserem Koalitionspartnerund unserer Ministerin – lieber Staatssekretär AlfredHartenbach, ich bitte, den Dank weiterreichen zu wollen –,dass Sie alle bereit waren, die von uns insoweit unter-breiteten und auch von großen Teilen des Koalitionspart-ners originär von Anfang an geteilten Vorschläge im We-sentlichen mitzutragen.

Wir haben von Anfang an betont, dass die obersteMaxime der Neuregelung der Verbraucherschutz seinmuss. Die hohe Qualität der Rechtsberatung in Deutsch-land muss erhalten werden. Umfassende und vollwertigeRechtsberatung soll deshalb auch weiterhin nur vonRechtsanwältinnen und Rechtsanwälten geleistet werdenkönnen. Nur diese Berufsgruppe ist sowohl von ihrerAusbildung als auch von der berufsrechtlichen Anforde-rung her in der Lage, den Belangen der Rechtsuchendenin adäquater Weise gerecht zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nur Anwälte unterliegen einer Schweigepflicht. Siegenießen im Hinblick auf ihre Mandatsverhältnisse zumSchutz ihrer Mandanten umfassende Zeugnisverweige-rungsrechte, sie haften für Fehler, durch die ihren Man-danten ein Schaden entsteht, und sie müssen, um dieseHaftungsverpflichtung auch erfüllen zu können, eineausreichende Haftpflichtversicherung unterhalten.

Wie richtig dieses grundsätzliche Festhalten am an-waltlichen Beratungsmonopol war, haben nicht zuletztdie gestrigen Beratungen im Rechtsausschuss gezeigt.Mein Blick bleibt bei Ihnen, Herr Wunderlich, hängen.Es ist nicht verwunderlich, dass Sie gestern einen Ände-rungsantrag gestellt haben. Da werden wir sicherlichgleich noch einige Argumente von Ihnen hören. Ich willIhnen nur sagen: Die von den Linken geforderte völligeFreigabe der unentgeltlichen Rechtsberatung lehnen wirentschieden ab. Auch in anderen Bereichen sind aus gu-

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Dr. Jürgen Gehb

ten Gründen berufsrechtliche Erfordernisse für die Aus-übung einer Tätigkeit erforderlich.

Es käme doch niemand auf die Idee, eine notwendigeOperation von einem durchaus handwerklich geschick-ten Metzger durchführen zu lassen. Da vertraut manauch lieber auf den Chirurgen. Ebenso käme man nichtauf die Idee, sich von jemandem, der einen Segelfliegergut beherrscht, mit einem Jumbojet in den Urlaub flie-gen zu lassen. Auch Ihr gestriges Beispiel, dass jemand,der einen sozialrechtlichen Rat haben will, vielleicht beieinem Fachanwalt für Strafrecht nicht so gut aufgehobenist wie bei jemand anderem, ist klar. Wenn jemand miteinem Augenleiden zum Ohrenarzt kommt, sagt derauch: Gehen Sie lieber zum Augenarzt! – Ebenso wirdder Strafverteidiger natürlich demjenigen, der ein sozial-rechtliches Anliegen hat, sagen: Gehen Sie zu einemFachanwalt für Sozialrecht! – Das ist doch ganz klar.

Wir fangen hier an, die Scheibe nach dem Schuss zuhängen.

(Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU undder SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]:Gutes Bild!)

Unsere Qualitäten werden immer niedriger. Wir habenschon den Großen Befähigungsnachweis abgegeben. Ir-gendwann kommt es so weit, dass, wie gesagt, der Metz-ger die Operationen durchführt, der Schornsteinfeger dieSchweine schlachtet und die Friseuse anschließend denOpfern Rechtsberatung erteilt. So weit darf und kann esin diesem Land nicht kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb sind der Slogan des Deutschen Anwaltver-eins „Vertrauen ist gut. Anwalt ist besser“ oder die Er-klärung der Bundesrechtsanwaltskammer „Anwälte –mit Recht am Markt“ nicht lediglich Werbung für einenhonorigen Beruf. Die Anwaltschaft sorgt mit einem An-gebot an sachkundiger rechtlicher Beratung und Vertre-tung dafür, dass unser im Grundgesetz postulierterRechtsstaat im alltäglichen Leben für die Bürger aucherlebbar wird.

Kernpunkt des Gesetzentwurfs der Bundesregierungist das neue Rechtsdienstleistungsgesetz, mit dem dasbisherige – mittlerweile in die Jahre gekommene –Rechtsberatungsgesetz abgelöst wird. Das Gesetz behältkonsequenter- und richtigerweise die bisherige Systema-tik eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt bei. Das heißt,Rechtsberatung darf grundsätzlich nur mit einer entspre-chenden Erlaubnis angeboten werden. Die Ausnahmensind eben fast erschöpfend genannt worden: karikativeVereine, Mietervereine oder andere. Mit all dem gehe ichd’accord. Das haben wir schön geregelt; darüber gibt esgar keinen Streit.

Jetzt kommen ein paar Knackpunkte. Die in dem ur-sprünglichen Gesetzentwurf vorgesehenen Öffnungendes Rechtsberatungsrechts für andere Berufsgruppengingen uns ein bisschen zu weit. Im Hinblick auf dieQualitätssicherung der Rechtsberatung waren Verbesse-rungen notwendig, die wir auch erreicht haben. ZumBeispiel ist die Begriffsdefinition der Rechtsdienstleis-

tung entscheidend präzisiert worden. Dadurch haben wirerreicht, dass die relevanten Fälle der Besorgung frem-der Rechtsangelegenheiten hinreichend erfasst werden.

Auch die ursprünglich vorgesehene komplette He-rausnahme der Mediation aus dem Begriff der Rechts-dienstleistung konnte deshalb so nicht stehen bleiben.Hier ist klargestellt worden, dass eine Mediation, diedurch rechtliche Regelungsvorschläge in die Gesprächeder Beteiligten eingreift, durchaus als erlaubnispflichtigeRechtsdienstleistung anzusehen ist.

Ein weiterer wesentlicher Punkt der Beratungen wa-ren die Regelungen der Rechtsdienstleistung im Zusam-menhang mit einer anderen Tätigkeit, die sogenanntenNebenleistungen. Diese Tätigkeiten sollten nach dem ur-sprünglichen Gesetzentwurf erlaubnisfrei sein. Hier istes gelungen, klarzustellen, dass die Nebenleistung imVerhältnis zur nicht rechtsdienstleistenden Hauptleistungimmer nur dienende Funktion haben kann. Ein klassi-sches Beispiel: Der Architekt kann selbstverständlichprüfen, ob das Bauvorhaben im Außenbereich zulässigist. Dagegen soll der Kfz-Mechaniker zwar den Kotflü-gel ausbeulen; er soll aber nicht noch die Schadenersatz-ansprüche, den merkantilen Minderwert oder vielleichtsogar die Schmerzensgeldansprüche geltend machen.Das sollte man den Anwälten überlassen.

Schließlich sind die vorgesehenen Änderungen beiden Regelungen zur Zusammenarbeit von Rechtsanwäl-ten mit Vertretern anderer Berufe entfallen. Nach demGesetzentwurf sollte jedermann die Erbringung vonRechtsdienstleistungen erlaubt sein, wenn er sich hierfürnur eines Anwalts bedient. Die Mandatsbeziehung wärein diesen Fällen lediglich durch die Vermittlung vonDritten zustande gekommen. Diese Konstruktion warschon vom Ansatz her problematisch, weil sich unwei-gerlich der Eindruck aufgedrängt hätte, dass der Anwalthier als Diener zweier Herren auftritt. Also wäre der An-walt im Hinterzimmer von Banken und Versicherungen,der gegenüber dem Mandanten überhaupt nicht persön-lich in Erscheinung tritt, die Folge gewesen. Das wolltenwir nicht.

In diesem Zusammenhang mussten auch die im Ge-setzentwurf vorgesehenen Änderungen in Bezug auf So-zietäten von Rechtsanwälten mit Vertretern anderer Be-rufe entfallen. Lieber Alfred, ich weiß, das ist auch vondir persönlich ein Lieblingskind. Wir haben das hier zu-nächst einmal gestrichen. Wir prüfen, ob man das viel-leicht an anderer gesetzlicher Stelle allozieren kann.

Ich will nur sagen: Schon jetzt ist es Rechtsanwältenerlaubt, sich mit Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten,Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zu einerSozietät zusammenzuschließen. Ob das in Zukunft auchmit Taxifahrern oder sogar Zuhältern möglich sein muss,sollte man wirklich trefflich überlegen, weil eine ge-meinsame Berufsausübung von Rechtsanwälten undVertretern sogenannter vereinbarer Berufe sicherlichnicht präzise genug ist. Sie hätte insbesondere unter demAspekt des anwaltlichen Berufsgeheimnisses demSchutz des rechtsuchenden Bürgers nicht genügt. Außer-dem hätte eine solche Regelung zu einer ufer- undgrundlosen Ausweitung von Zeugnisverweigerungsrech-

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Dr. Jürgen Gehb

ten geführt, die aus gutem Grunde ausschließlich denRechtsanwälten zustehen sollen.

Letztlich ist noch darauf hinzuweisen, dass wir unterdem Aspekt eines wirksamen Verbraucherschutzes imLaufe der Gesetzgebungsberatungen die unerlaubteRechtsberatung wieder als Ordnungswidrigkeitentatbe-stand ausgestaltet haben. Ich glaube, dass wir mit der jet-zigen Fassung des Gesetzes insgesamt ein gelungenes,zeitgemäßes und modernes Rechtsberatungsrecht vorle-gen.

Das zeigt auch der Umstand, dass alle Fraktionen mitAusnahme der Linken dem Gesetzentwurf zustimmenwerden. Diesen Umstand, Herr Wunderlich, verstehe ichallerdings immer noch mehr als Qualitätsmerkmal dennals Makel.

Herzlichen Dank. Einen guten Abend!

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Jetzt wird es wunderlich!)

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Linke begrüßt die Aufhebung des Rechtsberatungsgeset-zes – das vorweggeschickt –, fordert in diesem Kontext– Herr Gehb hat es schon gesagt – aber eine kostenfreieRechtsberatung – kostenfrei! Es geht um die kostenfreiealtruistische Rechtsberatung, welche nicht den Volljuris-ten vorbehalten sein soll.

In der Problemschilderung des Gesetzentwurfs wirdangekündigt, das alte Gesetz durch eine zeitgemäße ge-setzliche Regelung abzulösen, wobei insbesondere– jetzt kommt es – der Verbraucherschutz und die Stär-kung des bürgerschaftlichen Engagements im Vorder-grund stehen sollen. Deregulierung soll auch erfolgen.

Das klingt gut und ist von der Idee her begrüßenswert,wobei insbesondere zu beachten ist, dass – wie erwähnt –im Rahmen der Stärkung des bürgerschaftlichenEngagements – so wird es auch vom Ministerium ver-breitet – der unentgeltliche Rechtsrat grundsätzlich vonjedermann erbracht werden kann. So wird es gesagt:grundsätzlich von jedermann. Jedermann? Natürlich: so-lange dieser Jedermann selbst Richter ist, die Befähi-gung zum Richteramt hat oder eben ein solcher Jeder-mann beteiligt ist. Also doch nicht jedermann, sondernnur ein solcher.

(Joachim Stünker [SPD]: Oje!)

– Ja, das ist so. Da kann man nur stöhnen. – Im Rahmender Familie oder enger Nachbarschaft kann jedermannRechtsrat oder, wie es jetzt heißt, diese Rechtsdienstleis-tung erbringen, aber alles darüber hinaus wird reglemen-tiert, verbürokratisiert, sodass von Aufhebung und Ablö-sung nicht die Rede sein kann.

Man hätte im Gesetz auch anders formulieren können.Es hätte heißen können: Unentgeltliche Rechtsberatungist grundsätzlich verboten. Es gelten folgende Ausnah-men: Die Beratung erfolgt innerhalb familiärer, nachbar-schaftlicher oder ähnlich enger Beziehungen, oder sie er-folgt durch eine Person mit Befähigung zum Richteramtoder unter Anleitung und Aufsicht einer solchen Person.

Das ist natürlich eine Benachteiligung kleiner karita-tiver Vereine und Selbsthilfegruppen, wobei es keinerleiErhebungen gibt, die zeigen, dass dort schlecht beratenwird. Wieso, frage ich mich, soll der Diplomjurist – derwird ausdrücklich ausgenommen –, welcher sich aufAusländer-, Asyl- und Verwaltungsrecht spezialisierthat, schlechter beraten als der Allround-Jurist mit Zwei-tem Staatsexamen – das Thema hatten wir gestern schon –oder die pensionierte Mitarbeiterin aus dem Sozial-rechtsbereich in sozialrechtlichen Fragen?

Ihre Vergleiche, Herr Gehb, hinken. Wenn Sie zumFleischergeschäft gehen, zahlen Sie beim Meister denPreis für die Wurst, und beim Gesellen, der nebenan dieWurst verschenkt, kaufen Sie nicht.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie haben denVergleich nicht verstanden, Herr Wunderlich!Ich habe ihn so leicht gemacht!)

Wenn ein Asylsuchender zur Johanniter-Unfall-Hilfegeht, wird die ihn nicht beraten, sondern ihn zu Pro Asylschicken. Ihre Vergleiche hinken also. Untersagungs-gründe gibt es ebenfalls.

Was soll der Zweck sein? Schutz des Verbrauchers,Schutz des Rechtsanwalts vor Konkurrenz, Sicherungder Reibungslosigkeit der Rechtspflege?

Zum Verbraucherschutz wird in der Begründung desGesetzes ausgeführt – ich zitiere –:

Das im geltenden Recht angelegte Verbot unent-geltlicher Rechtsberatung ist nicht zeitgemäß undsteht mit dem Gedanken von bürgerschaftlichemEngagement nicht mehr im Einklang.

(Beifall bei der LINKEN)

Weiter heißt es:

Verbraucherschutzinteressen haben dieses umfas-sende Verbot unentgeltlicher Rechtsberatung niegerechtfertigt …

(Christoph Strässer [SPD]: Richtig! Lesen Sieeinmal die dazugehörigen Entscheidungen desBundesverfassungsgerichts! – Jerzy Montag[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb wirdes jetzt geöffnet!)

Konkurrenzschutz dürfte wohl nicht mit Art. 12 Grund-gesetz zu vereinbaren sein; das ist so auch nicht gemie-den.

Sicherung der Reibungslosigkeit der Rechtspflege.Das bedeutet – so muss man es leider sagen –: Natur-schutzparkjustiz ohne störende Einwirkung von Nichtju-risten. Anders lässt sich der Ausschluss von Personennicht erklären. Im Gesetzentwurf heißt es:

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Jörn Wunderlich

Das Gericht weist Bevollmächtigte, die nicht nachMaßgabe des Absatzes 2 vertretungsbefugt sind,durch unanfechtbaren Beschluss zurück.

Es gibt noch nicht einmal eine Beschwerdemöglichkeit.Weiter heißt es – jetzt kommt der Knackpunkt –:

Das Recht darf als höchstrangiges Gemeinschafts-gut grundsätzlich nicht in die Hände unqualifizier-ter Personen gelangen,

– Diplom-Juristen sind nicht unbedingt unqualifiziert –

da es als „gelebtes Recht“ maßgeblich durch diePersonen beeinflusst und fortentwickelt wird, dieRecht beruflich anwenden.

(Christoph Strässer [SPD]: Die es beruflich an-wenden!)

Dies ist eine Verhinderung der Kommunikation unddes solidarischen Vorgehens zwischen Bürgern, die sichnicht mit der von Juristen produzierten herrschendenMeinung abfinden wollen, zumal die herrschende Mei-nung in der Regel die Meinung der Herrschenden ist.

(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Nennen Sie mal den Urheber des Zitats!)

Es geht um den Schutz von Herrschaftswissen. Die dieJustiz dominierenden Juristen verzweifeln an ihrer Kom-petenz. All dies soll zeitgemäß, verbraucherfreundlichund das bürgerschaftliche Engagement stärkend sein?

Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu, auchdem Teil zum Ausbau der Rechtsberatung!

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wirklich nicht! – Dr. Jürgen Gehb[CDU/CSU]: Den spaßigen Teil der Debattehatten wir heute Nachmittag schon! – Zurufvon der SPD: Jetzt erleben wir nichts als Kla-mauk!)

Dann bieten Sie auch den sozial Schwachen den ihnenzustehenden Zugang zu Informationen mit Ausweich-möglichkeiten. Halten Sie den Bürgern und Bürgerinnennicht vor, dass deren Recht in den Händen der unentgelt-lichen Rechtsberatung nicht gut aufgehoben sei. So kön-nen wir dem Gesetzentwurf jedenfalls nicht zustimmen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN – Dirk Manzewski [SPD]: Das hätte uns auch gewundert!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Jerzy Montag, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Ju-den in Deutschland, erzählt auch in öffentlichen Veran-staltungen immer wieder, wie sie in der Nacht des9. November 1938 als kleines Mädchen an der Hand ih-res Vaters durch das nächtliche München irrte. Der Vaterwar auf der Flucht und auf der Suche nach irgendeiner

Unterkunft. Er war jüdischer Rechtsanwalt. Er war zudiesem Zeitpunkt entehrt, aller Mandanten beraubt, ausseiner Kanzlei geworfen. All das geschah auf Grundlagedes nationalsozialistischen Rechtsberatungsgesetzes, dasheute zu Grabe getragen wird. Ich bin froh darum, dassdies heute mit der großen Mehrheit dieses Hauses ge-schieht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will an dieser Stelle auch an jemanden erinnern,der mit seinem zivilen Engagement und auch mit seinemzivilen Mut dazu beigetragen hat, dass das alte Rechts-beratungsgesetz durch das neue Rechtsdienstleistungs-gesetz heute ersetzt wird. Es handelt sich um den ehema-ligen Richter am Oberlandesgericht BraunschweigHelmut Kramer, der nach seiner Pensionierung Kriegs-dienstverweigerer beraten hat. Er hat sogar am Amtsge-richt Braunschweig mit Zulassung des AmtsgerichtsBraunschweig als Verteidiger gearbeitet. Das gleicheAmtsgericht Braunschweig hat ihn später trotz dieser zu-gelassenen Verteidigungstätigkeit wegen verbotenerRechtsberatung bestraft, eine Entscheidung, die dasBundesverfassungsgericht später aufhob.

In seiner Aufhebungsentscheidung sagt das Bundes-verfassungsgericht, dass jedes Gesetz einem Alterungs-prozess unterworfen ist. Ich fand diese Formulierungäußerst interessant; wir sollten sie uns auch in anderenZusammenhängen noch einmal vergegenwärtigen. DerAlterungsprozess des Rechtsberatungsgesetzes jeden-falls hat dazu geführt, dass wir heute ein neues, ein fort-schrittliches, ein auch von uns Grünen getragenesRechtsdienstleistungsgesetz beschließen werden. Dashalte ich für eine gute Sache.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich will zum Schluss noch auf die Argumentation derLinken eingehen. Ich meine, dass es ein Zeichen für ei-nen gelebten Rechtsstaat ist, wenn qualifizierter Rechts-rat grundsätzlich aus der Hand von Volljuristen undRechtsanwälten erteilt wird. Die Entscheidung darüber,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ob mandie Erteilung von unentgeltlichem Rechtsrat tatsächlichjedermann erlaubt,

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Niemals!)

stellt den Lackmustest dafür dar, ob man das ganzeRechtsdienstleistungsrecht als eine Pfründe für Anwälteansieht oder dieses mit richtigem, nach vorne gerichte-tem Verbraucherschutz verbinden will.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Wenn Sie die unentgeltliche Rechtsberatung in jeder-manns Hände geben wollen, dann bleiben Sie die Ant-wort schuldig, warum Sie eigentlich die entgeltlicheRechtsberatung nur in die Hände der Rechtsanwälte ge-ben wollen.

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Jerzy Montag

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Dafür gibt es dann nur noch ein Argument: Da, wo esums Geld geht, sollen die Rechtsanwälte verdienen.Nein, wir sagen, es soll genau umgekehrt sein: Auch dieunentgeltliche Rechtsdienstleistung muss ein Mindest-maß an Qualität haben. Dies wird durch das Anleitungs-modell, das wir im Gesetz gewählt haben, erreicht; hierist alles richtig austariert.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Bravo!)

Deswegen finden wir diese Lösung richtig und IhrenAntrag falsch. Wir werden dem Gesetz zustimmen undIhrem Entschließungsantrag nicht.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. JürgenGehb [CDU/CSU]: Herr Montag, Sie bessernsich!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Kollege Christoph Strässer, SPD-Fraktion,

das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Christoph Strässer (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Auch ich glaube, dass amheutigen Tag ein Durchbruch erzielt wird bei der langeJahre andauernden Diskussion über die Frage, in wel-cher Form wir endlich dieses alte Rechtsberatungsgesetzaufheben und welche Instrumente an seine Stelle tretensollen. Viele haben dafür gekämpft, viele haben sich da-mit beschäftigt. Ich bin sehr froh darüber, dass es nacheiner immerhin dreijährigen Diskussion nun gelungenist, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der beiden Interes-sen gerecht wird: den Interessen der Rechtsuchenden,aber auch den Interessen derjenigen, die juristische Be-rufe ergriffen haben und – so sage ich es einmal – vonihrer beruflichen Qualifikation her berufen sind, Rechts-probleme zu lösen, Menschen zu beraten und diesenauch eine gesicherte Stellung vor den Gerichten – wir ha-ben ja auch viele Richterinnen und Richter hier sitzen – zuverschaffen. Das ist eine der Quintessenzen diesesGesetzentwurfs. Der hier gewählte Ansatz ist überwie-gend positiv. Wenn wir das Gesetz mit großer Mehrheitverabschieden, bedeutet das einen wichtigen Schritt fürdie Verbraucherinnen und Verbraucher, die Rechtsschutzsuchen. Deshalb ist dies ein sehr gutes Gesetzesvorha-ben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich teile allerdings die Überzeugung des Parlamenta-rischen Staatssekretärs – ich bitte die Bundesregierung,dies auch zu tun –: Das kann nicht der letzte Schritt sein.Es ist in Ordnung, dass wir § 59 a der Bundesrechtsan-waltsordnung – er betrifft die Bildung von Sozietätenmit Personen, die nicht volljuristisch ausgebildet sind –

zunächst einmal zurückgestellt haben. Ich habe Ver-ständnis dafür, dass man gesagt hat: Man kann das nichtnebenbei regeln; das ist in Ordnung.

Ich wünsche mir aber – und darum bitte ich das BMJ –,dass so schnell wie möglich hierzu Entwürfe vorgelegtwerden; denn das, was uns vorliegt, ist zwar ein Fort-schritt im Hinblick auf die deutsche Rechtslage, abernoch kein Schritt in Richtung Europa und der Konkur-renzsituation, in der sich Juristinnen und Juristen hierbefinden. Wir müssen sehr schnell handeln, damit wirnicht deutlich ins Hintertreffen geraten. Deshalb werdenwir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, dasHaus sehr unterstützen, wenn in absehbarer Zeit ein Ent-wurf auf den Tisch kommt.

Ich möchte Ihnen unsere Auffassung zur karitativenRechtsberatung deutlich machen. Ich möchte nicht sodrastische Beispiele wie der Kollege Gehb nennen. Ichmöchte aber schon – auch im Hinblick auf die Diskus-sion über familienrechtliche Fragen, die wir heute Nach-mittag geführt haben – zum Ausdruck bringen: Es machtkeinen Sinn, im Bereich der karitativen Rechtsberatungso etwas wie eine Rechtsberatung light einzuführen.

An dieser Stelle möchte ich zwei Hinweise geben:

Erstens. Ich darf darauf verweisen, dass das alteRechtsberatungsgesetz ein klares Verbot jeder privatenRechtsberatung jenseits der juristisch ausgebildeten Be-rufe beinhaltete. Dieses Verbot wird mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf hinfällig. § 6 des neuen Gesetzesspricht eine deutliche Sprache. Es ist völlig falsch, so zutun, als sei da gar nichts passiert. Wir müssen zur Kennt-nis nehmen, dass es hier eine Änderung gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Zweitens. § 6 Abs. 1 des neuen Gesetzes beinhaltetdas auch von Ihnen angesprochene Recht der einschrän-kungslosen Beratung in privaten Verhältnissen, in Nach-barschaftsverhältnissen – und das ist auch gut so. Dennjeder Rechtsuchende, der sich einen solchen Rat holt,weiß, welches Risiko er eingeht. Aber gerade Sie müss-ten doch eigentlich akzeptieren, dass die Menschen, diezu Beratungsvereinen, zu Sozialvereinen oder zu Asyl-beratungsstellen gehen, keinen Rechtsschutz zweiterKlasse bekommen sollten. Vielmehr sollten sie dort eineRechtsberatung erhalten, die der Rechtsberatung desje-nigen entspricht, der diese bezahlen kann. Deshalb findeich es richtig, dass wir entsprechende Anforderungen indas Gesetz aufgenommen haben.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])

Das kann und muss so bleiben.

Das, was wir hier beschließen, folgt einer langen Tra-dition – ich bleibe dabei –: Diejenigen, die eine volle ju-ristische Ausbildung haben, sollten weiterhin an ersterStelle Rechtsberatung vornehmen. Als Tribut an die guteZusammenarbeit mit dem Kollegen Gehb nehme ich da-von Abstand, Roy Black, den deutschen Volksphiloso-phen, zu zitieren.

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Christoph Strässer

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich hätte es ge-sungen!)

Ich gehe aber etwas in die Vergangenheit zurück, etwa indas Jahr 370 vor Christus. Da gab es einen leider Gottesnicht mehr sehr bekannten griechischen Maler namensApelles. Er hat ein Bild gemalt und es einem Schuhma-cher gezeigt. Dieser Schuhmacher hat gesagt: Das, wasdu am Fuß gemalt hast, ist kein Schuh. Der Maler hat esdann korrigiert. Dann hat der Schuhmacher aber gesagt:Pass mal auf; der Oberschenkel des Gemalten ist auchnicht in Ordnung. Da sagte Apelles – ich zitiere jetztnach Plinius dem Älteren in der altphilologischen Spra-che des Kollegen Gehb –:

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber Roy Black kenne ich auch!)

Sutor, ne ultra crepidam! – Allen anderen sage ich es aufDeutsch: Schuster, bleib bei deinem Leisten!

(Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wusste ich nicht!)

Ich glaube, das ist ein guter Rat an all diejenigen, dienicht juristisch vorgebildet sind und gute Berufe haben;sie sollten diese weiter ausüben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des Abg. Jerzy Montag[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurNeuregelung des Rechtsberatungsrechts. Der Rechtsaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/6634, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 16/3655 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mitden Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Frak-tion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit gleicher Mehrheit wie zuvor angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6635.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stim-men der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Cornelia

Behm, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechte der Verbraucherinnen und Verbrau-cher beim Verkauf von Immobilienkreditenstärken

– Drucksache 16/5595 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenGerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit demThema, das wir jetzt beraten, haben sich die Fraktionenaufgrund einer Reihe von Anfragen schon im Frühjahrim Ausschuss und im Rahmen einer Anhörung befasst.Die Schlussfolgerung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen ist, dass das Vertragsrecht, wie es sich heute dar-stellt, nicht mehr zu der wirtschaftlichen Realität, diesich deutlich verändert hat, passt. Wir glauben deswe-gen, dass es an der Zeit ist, nach dem Sammeln von In-formationen und entsprechenden Beratungen konkretegesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten. Deswegen le-gen wir einen Antrag dazu vor.

Um was geht es konkret? Die Beziehung zwischendem Kreditgebenden, häufig einer Bank, und dem Kre-ditnehmer, Verbrauchern oder Unternehmern, zeichnetsich dadurch aus, dass der Kredit selber zu einem Han-delsgut geworden ist. Der Kredit kann also weiterver-kauft und verbrieft und somit an den Kapitalmärkten ge-handelt werden.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat aber auch Vorteile!)

– Ich komme gleich noch darauf.

Es ergeben sich drei Probleme, die nach meiner An-sicht in der Anhörung deutlich herausgearbeitet wordensind. Das erste Problem behandelt die Frage, wie mit denDaten umgegangen wird. Denn aufgrund der Beziehungzwischen Kreditgeber und Kreditnehmer werden Datenoffengelegt, die man nicht jedem an die Hand gebenwürde. Wenn der Kredit verkauft wird – es gibt sehr un-terschiedliche Formen, dies zu tun –, dann können dieDaten weitergereicht werden. Das ist eine Sorge, dienicht nur Privatpersonen, sondern auch Unternehmerin-nen und Unternehmer betrifft. Ich denke, in diesem Be-reich muss über das BGH-Urteil hinaus eine Klarstel-lung erfolgen.

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Dr. Gerhard Schick

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das zweite Problem ist, dass es sich bei denjenigen,die diese Kredite kaufen, nicht mehr notwendigerweiseum Banken handelt. Deswegen ist nicht immer die Mög-lichkeit einer Anschlussfinanzierung gegeben. Auf dieseSituation muss sich aber der Kreditnehmer frühzeitigeinstellen können. Außerdem wird der Kredit aus dembeaufsichtigten in den nichtbeaufsichtigten Bereichübertragen. Da es sich hier um Transaktionen in einerMilliardengrößenordnung handelt, ist dies durchaus pro-blematisch.

Das dritte Problem ist – nach dem, was wir in den ge-meinsamen Beratungen inzwischen herausgefunden ha-ben, ist das der schwerwiegendste Punkt –, dass die Inte-ressenlage des Kaufenden eine andere ist als die derBank, die den Kredit ursprünglich vereinbart hat. Insbe-sondere kann es Unterschiede beim Umgang mit der Ab-sicherung des Kredites und in der Behandlung der Fragegeben, wie das Kreditverhältnis weiterläuft. Wir müssendabei beachten, dass Menschen beispielsweise die Un-terwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung ver-einbaren, was sie nicht jedem gegenüber tun würden.Dieses Recht darf also nicht einfach weiterverkauft wer-den.

Wir müssen deswegen Konsequenzen ziehen. Es istwichtig, eine Linie zu finden, die es sowohl ermöglicht,dass Kredite aus der Bilanz verkauft und verbrieft wer-den können, als auch den Schutz der Kreditnehmer si-cherstellt. Wir wollen die Verbriefung nicht unmöglichmachen; denn das würde bedeuten, dass die Kreditver-gabe in Zukunft erschwert oder unmöglich gemachtwird.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das wird auch ein Preisproblem sein!)

Wir müssen deswegen gesetzgeberisch tätig werden. Inunserem Antrag kommt sehr gut die Abschichtung zumAusdruck, was man in jedem Fall machen kann und woman genauer hinschauen muss.

Eine Forderung, die, wie ich glaube, allgemein geteiltwird, ist ganz zentral – man sollte diesbezüglich zügigvorgehen –: die Forderung nach mehr Transparenz. VorVertragsschluss muss Transparenz darüber herrschen, obder Kredit verkauft werden kann oder nicht. Nach Über-gang eines Kreditvertrags muss es mehr Transparenz ge-ben, damit die Kunden wissen, ob der Kredit übergegan-gen ist oder nicht, ob er verkauft worden ist oder nicht.Und es muss eine klare Information darüber gegebenwerden, ob der Käufer zu einem Anschlussangebot be-fugt und bereit ist. Ich glaube, diese drei Punkte solltenunstrittig sein. Darauf sollten wir uns schnell verständi-gen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus geht es um die Frage, ob es nicht eineVerpflichtung für einen Sanierungsversuch gibt. WennMenschen in ihrem eigenen Haus wohnen und die Inte-ressenlage dazu führen kann, dass die Sicherung mögli-cherweise verwertet wird, obwohl der Kredit normalbedient worden ist – in der Anhörung ist deutlich gewor-

den, dass es eben nicht nur um den Verkauf von notlei-denden Krediten geht –, müssen wir die Verbraucherin-nen und Verbraucher schützen.

Ich will an dieser Stelle eines ganz deutlich machen:Wir sprechen in unserem Antrag insbesondere von Ver-braucherinnen und Verbrauchern. Das zeigt, dass wirhier ein besonderes Schutzbedürfnis sehen. Wir wollendie Befassung mit der Materie aber nicht explizit auf die-sen Bereich beschränken, sondern den Unternehmensbe-reich einschließen. In der Anhörung ist sehr deutlich ge-worden, dass auch diesbezüglich Handlungsbedarfbesteht.

Ich denke, es liegt im Interesse aller Beteiligten, dassauf diesem Gebiet schnell Rechtsklarheit geschaffenwird. Ich bitte, dass wir gemeinsam an die Arbeit gehen.Wir fordern die Bundesregierung auf, nach den Anhö-rungen, die stattgefunden haben, einen Entwurf vorzule-gen, damit für diesen Geschäftsbereich wieder Klarheitund Sicherheit geschaffen werden können.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Ludwig Thiele,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag der Grünen,der am 13. Juni 2007 in den Bundestag eingereichtwurde, wird auf umfassende Befragungen der Bundes-regierung Bezug genommen. Diese Befragung der Bun-desregierung wurde in einem Fall von der Fraktion derLinken und in zwei anderen Fällen von der Fraktion derFDP durchgeführt. Sie stammen aus dem Herbst desletzten Jahres. Insofern kann man nur sagen: Hallo, ihrGrünen, seid ihr auch endlich da, seid ihr auch endlichaufgewacht, um euch mit diesem Thema zu beschäfti-gen?

Der Antrag beginnt damit, dass der Bundestag fest-stellen möge:

Seit mehreren Monaten häufen sich die Berichteüber Immobilienbesitzerinnen und -besitzer, dienach dem Verkauf ihrer Kredite von ihrer Bank anFinanzinvestoren in große finanzielle Probleme ge-raten sind.

Es ist festzustellen, dass es diese Berichte nicht erst seiteinigen Monaten, sondern seit mehr als einem Jahr gege-ben hat. Das Problem ist also schon erheblich länger be-kannt.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Zur Sache, Herr Thiele! – Gegen-ruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]:Das muss der Wahrheit wegen gesagt werden!)

Ich freue mich, dass vor allem Vertreter meiner Frak-tion sehr frühzeitig im Interesse vieler Eigenheimbesit-

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Carl-Ludwig Thiele

zer tätig geworden sind – das gilt insbesondere fürMechthild Dyckmans, die das Thema für uns im Rechts-ausschuss bearbeitet –, um diesen Sachverhalt aufzuklä-ren. Die öffentliche Sensibilität für diesen Sachverhaltmuss geschärft werden. Das ist erfolgt. Durch öffentli-chen Druck ist bewirkt worden, dass einzelne Geschäfts-praktiken, von denen sich die überwiegende Zahl derBanken deutlich distanziert, die in sittenwidrigem Ver-halten gipfelten, unterbunden wurden. Insofern habenwir durch die Befassung mit diesem Thema bereits eineMenge erreicht.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Die FDP hat immer darauf hingewiesen, dass zwi-schen den Krediten, die ordnungsgemäß bedient wurden,und den Krediten, die nicht ordnungsgemäß bedientwurden, zu unterscheiden ist. Die Kredite, die ordnungs-gemäß bedient wurden, genießen aus unserer Sicht einendeutlich höheren Schutz als die Kredite, bei denen derSchuldner seinen vertraglichen Verpflichtungen nichtnachgekommen ist.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Die ganze Diskussion führte dazu, dass wir im Fi-nanzausschuss interfraktionell beschlossen haben, einFachgespräch in Form einer nichtöffentlichen Anhörungdurchzuführen. Sie fand am 19. September statt. DasProtokoll liegt leider noch nicht vor. Das ist kein Vor-wurf; das gehört zum Verfahren. Wir werden uns mitdem Protokoll beschäftigen, es auswerten und versu-chen, die notwendigen Schlüsse zu ziehen.

Herr Schick, ich muss Ihnen sagen, dass mich der An-trag der Grünen in einem Punkt überrascht hat, nämlichdass zukünftig vor Einleitung einer Zwangsvollstre-ckung in eine vom Schuldner bewohnte Immobilie einobligatorischer Sanierungsversuch durchzuführen ist.Das würde doch erhebliche Änderungen von Rechtsnor-men bedeuten, die juristisch fragwürdig sind. Aus mei-ner Sicht sind sie allerdings auch wirtschaftlich fragwür-dig, weil gegenüber denjenigen Schuldnern, die ihrenPflichten nicht nachgekommen sind, nicht entsprechendvorgegangen werden kann.

(Beifall bei der FDP)

Insofern ist zu fragen: Wie soll so ein obligatorischer Sa-nierungsversuch aussehen? Er müsste im BGB verankertsein. Dazu kann ich nur sagen: Viel Spaß mit den For-mulierungen an dieser Stelle.

Vor einer abschließenden Bewertung der Anhörungmöchte ich für meine Person einige Punkte aufführen,die ich für wichtig halte und die geändert werden sollten.Darüber konnten wir in der Fraktion noch nicht diskutie-ren. Deshalb trage ich sie hier als persönliche Meinungvor.

Erstens. Wenn eine Forderung abgetreten wird, dannsollte eine Transparenz bezüglich dieser Abtretung beimSchuldner erfolgen.

Zweitens. Bei Auslaufen der Festzinsvereinbarunghalte ich es für nachdenkenswert, dass der Schuldner miteinem gewissen Vorlauf vom Kreditinstitut im Sinne ei-ner Warnfunktion auf das Auslaufen der Festzinsverein-barung hingewiesen wird. Dies dient nicht nur demSchuldner.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Kollege hat unsere Presseerklärung gelesen!)

– Ich habe das schon öffentlich erklärt. Wir sind jetzthier im Bundestag, und das ist noch eine ganz andere Öf-fentlichkeit, Herr Kollege Dautzenberg.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut, Herr Kollege!)

Es ermöglicht aber auch dem Gläubiger, frühzeitig inGespräche und Verhandlungen über neue Kreditkondi-tionen mit dem Schuldner einzutreten.

Drittens. Es ist darüber nachzudenken, ob die Befrei-ung vom Bankgeheimnis durch allgemeine Geschäftsbe-dingungen ausgeschlossen werden kann. Ich könnte mirpersönlich vorstellen, dass dies zukünftig nicht mehrdurch eine Reglung in den allgemeinen Geschäftsbedin-gungen möglich ist, sondern ausdrücklich im Vertragenthalten sein muss.

Viertens. Aus meiner Sicht wäre es zu begrüßen,wenn der Kunde die Möglichkeit bekommt, beim Ab-schluss eines Kreditvertrages eine Abtretung vertraglichauszuschließen. Es wäre sinnvoll, eine entsprechendeFormulierung in den Vertrag aufzunehmen, die eineWarnmöglichkeit gegenüber dem Kunden darstellt. Kre-ditinstitute können dies machen, aber sie müssen esnicht. Ein Kunde kann dann abschließen oder er kann diePassage streichen. Diese Vertragsfreiheit stellen wir unsan dieser Stelle vor.

(Beifall bei der FDP)

Abschließend: Wir dürfen nicht vergessen, dass ins-besondere für viele Eigenheimbesitzer der Kauf und dieFinanzierung einer Immobilie nur einmal im Leben statt-finden. Ein Großteil des Vermögens und auch der Alters-vorsorge steckt in dieser Immobilie. Dies sollte bei ent-sprechenden Überlegungen berücksichtigt werden.

Wir müssen aber auch feststellen, dass die Funktions-fähigkeit des Finanzplatzes sichergestellt sein muss. In-sofern müssen Abtretungen von Forderungen von Kredit-instituten grundsätzlich möglich sein.

So werden wir als FDP die Diskussion weiterführen.Wir warnen an dieser Stelle ausdrücklich vor übereiltenSchnellschüssen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Otto Bernhardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Noch vor wenigen Jahren konnte man sichersein, dass man, wenn man sein Haus bei einer Bankfinanzierte oder wenn eine Firma einen Investitionskre-dit bei einer Bank aufnahm, mit dieser Bank im Geschäftblieb, bis der Kredit zurückgezahlt war. In den letztenJahren hat sich das stillschweigend grundlegend verän-dert.

Wir haben zwar keine exakten Zahlen, aber die Deut-sche Bank hat veröffentlicht, über wie viele Kreditver-käufe man aus den Bilanzen informiert ist. Sie nenntzwei Zahlen. Im Jahre 2003 waren Kreditverkäufe inHöhe von 1,5 Milliarden aus den Bilanzen ersichtlich.Im letzten Jahr waren es mehr als 7,5 Milliarden. Dasheißt, in vier Jahren hat sich dieses Geschäft verfünf-facht.

Es ist nicht richtig, wie viele glauben, dass nur notlei-dende Kredite verkauft werden. Sie sind zwar ein ein-deutiger Schwerpunkt, und vor drei, vier Jahren ging esnur um notleidende Kredite, aber inzwischen werdendurchaus auch voll bediente Kredite veräußert. Es istauch nicht mehr richtig, dass nur Kredite aus Immobi-lienfinanzierungen verkauft werden. Sie spielen zwareine ganz besondere Rolle, aber es werden auch typischemittelständische Kredite verkauft.

Wir müssen jetzt natürlich die Frage stellen: Warumhat dieses Phänomen so an Bedeutung zugenommen?Wir werden zunächst einmal erkennen, dass es für eineReihe von Kreditinstituten betriebswirtschaftlicheGründe gibt, dies zu tun. Sie wissen: Jeder Kredit, denein Institut vergibt, bindet ein Stück Eigenkapital. Wennman Kredite verkauft, bekommt man wieder freiesEigenkapital für neue Kredite.

Aber es gibt auch die Situation, dass einige Kredit-institute Risiken in bestimmten Bereichen konzentrierthaben, etwa, weil sie nur örtlich tätig sind, wie es beiSparkassen und Genossenschaftsbanken in der Regel derFall ist. Sie wollen durch den Verkauf zur Risikostreu-ung kommen. – Dies sind die entscheidenden Motive.

Schließlich gibt es noch ein weiteres Motiv, das sichallerdings nur auf sogenannte notleidende Kredite be-zieht. Es gehört ein ziemlich großes Know-how dazu,diese Kredite einzuziehen und zu bearbeiten. Viele Kre-ditinstitute scheuen diesen Teil und verkaufen deshalbnotleidende Kredite an jemanden, der ein Profi in derBearbeitung solcher Kredite ist.

Ich sage dies, um zunächst einmal darauf hinzuwei-sen, dass es für den Kreditverkauf gute betriebswirt-schaftliche Gründe und auch volkswirtschaftliche Über-legungen im Hinblick auf Risiken gibt.

Meine Damen und Herren, auf der anderen Seite gibtes den Verbraucher. Im Mittelpunkt der Überlegungen,die jetzt von den Grünen und von der FDP vorgestelltwurden und sicherlich auch in den anderen Fraktionenangestellt werden, steht natürlich die Frage, wie hier derVerbraucher zum Zuge kommt. Der Gedanke, sein Hausüber eine örtliche Bank zu finanzieren und den Kreditimmer planmäßig zu bedienen, dann aber plötzlich ein

Schreiben – vielleicht noch in englischer Sprache – zubekommen, dass jemand den Kredit gekauft hat, führtschon zu ziemlich heftigen Verärgerungen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mit Recht, ja!)

Mancher Mittelständler, der plötzlich feststellt, dass seinKredit von einer Bank verwaltet wird, die weit weg ist,sagt natürlich: Meine Güte, mit meiner Bank vor Ortkann ich in kritischen Situationen ins Gespräch kom-men, aber mit einer anderen Bank, die ich gar nichtkenne und die weit weg ist, weniger. Deshalb ist es rich-tig, dass wir jetzt angesichts des Ausmaßes, das dieserHandel angenommen hat, zumindest die Transparenz er-höhen. Es war auch richtig, dass der Finanzausschusseinmal ein Fachgespräch geführt hat. Ich habe inzwi-schen mehrere Gespräche mit Vertretern der Banken undinsbesondere mit Gesellschaften geführt, die solche Kre-dite kaufen. Ich sage ganz offen: Sie stellen sich daraufein, dass sich hier etwas ändert.

Ich bin ziemlich sicher, dass wir zu Veränderungenkommen werden. Bei uns gibt es zwei Überlegungen.Aber unsere Überlegungen sind ähnlich wie die bei derFDP noch nicht abgeschlossen; wir brauchen noch wei-tere Informationen. Die eine Überlegung läuft daraufhinaus, dass man einem Kunden, wenn er einen Kreditaufnimmt, nicht unter Punkt 36 bei den sonstigen Bedin-gungen, sondern sehr deutlich sagen muss, dass dieserKredit verkauft werden kann und die Rechtslage diesbe-züglich klar ist. Die meisten wissen dies nicht; deshalbdie Überraschung.

Ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass die Banken denKunden relativ schnell einen Kredit anbieten werden,den sie verkaufen dürfen, und daneben einen Kredit, densie nicht verkaufen dürfen. Ob wir dafür eine rechtlicheRegelung brauchen oder ob wir das dem Markt überlas-sen können, müssen wir diskutieren. Vieles spricht na-türlich dafür, dass der Kredit, den sie nicht verkaufendürfen, ein bisschen teurer werden dürfte. Aber ich kannmir vorstellen, dass ein Mittelständler angesichts einerDifferenz von 0,2 oder 0,3 Prozent sagt, er nehme liebereinen Kredit, den seine Sparkasse oder Volksbank nichtverkaufen kann. Es ist nämlich ein Irrtum, zu glauben,wie viele es tun, dass nur die Großbanken so etwas ma-chen. Nein, alle drei Säulen haben das gemacht, um dassehr deutlich zu sagen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und machen es noch!)

Sparkassen haben verkauft.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Die Landesbanken!)

– Ja, vor allem über Landesbanken. Auch im genossen-schaftlichen Bereich sind Kredite verkauft worden, undnatürlich auch von den anderen. Man kann also Klarheitschaffen, wenn man gleich bei der Kreditvergabe damitbeginnt, dieses Problem zu lösen.

Einen zweiten Punkt halten wir für sehr wichtig: Wereinen Kredit verkauft, muss den Kreditnehmer rechtzei-tig informieren, damit er versuchen kann, wenn bei-

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Otto Bernhardt

spielsweise die Sparkasse ihn verkauft, bei der Volks-bank eine Anschlussfinanzierung zu finden.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vernünftig!)

Ich sage dies sehr deutlich. Das wird mit Sicherheit dazukommen, und das ist gut so.

Es gibt eine Art des Verkaufs, bei der vielleicht nichtinformiert werden muss: Ich bin im Zuge meiner Be-schäftigung mit diesem Thema darauf gestoßen, dass esKredite gibt, die verkauft werden, bei denen aber dieverkaufende Sparkasse voll in der Bearbeitung bleibt.Dann merkt der Kunde das nicht, und dann ist ein Infor-mationsrecht vielleicht auch nicht zwingend.

Wir müssen uns auch ein bisschen die europäischeEntwicklung angucken; das sage ich hier ebenfalls sehrdeutlich. Nach meinen Informationen ist eine EU-Richt-linie in Vorbereitung, die in etwa in die Richtung der bei-den Überlegungen geht, die ich eben vorgetragen habe.

Es gibt noch eine andere Überlegung, die auch in mei-ner Fraktion einige anstellen. Sie sagen: Bei einem Ver-kauf muss es ein außerordentliches Kündigungsrecht un-ter Verzicht auf die Vorfälligkeitsentschädigung geben.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das geht!)

Das mag populär sein. Aber damit könnte der Markt fürden Verkauf tot sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn eines müssen wir berücksichtigen: Gott sei Dankgibt es in Deutschland die Kultur, Immobilien mit lang-fristiger Zinsbindung zu finanzieren.

(Frank Schäffler [FDP]: Ja! Das gibt es am Markt auch!)

Um es klar zu sagen: Das wird in anderen Ländern nichtgemacht. Einer der Gründe für die Immobilienkrise inden Vereinigten Staaten ist die Tatsache, dass Immobi-lien dort nur mit kurzfristiger Zinsbindung finanziertwerden. Wir wollen bei unserer bewährten Finanzierungbleiben.

Meine Damen und Herren, abschließend sage ich:Hier besteht Handlungsbedarf. Die Frage, ob wir das imGesetz zur Risikobegrenzung regeln, ob wir eine Verän-derung bzw. Ergänzung des Kreditwesengesetzes vorneh-men oder ob wir das vielleicht sogar in das BürgerlicheGesetzbuch aufnehmen, müssen wir noch ausdiskutie-ren.

Ich stimme der FDP zu: Schnellschüsse brauchen wirnicht. Wir brauchen Lösungen, die einen Kompromisszwischen den betriebswirtschaftlichen bzw. volkswirt-schaftlichen Notwendigkeiten und dem Schutz der Ver-braucher darstellen. Ich habe den Eindruck, es gibt guteChancen, in diesem Hause kurzfristig zu einvernehmli-chen Lösungen zu kommen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Hans-Ulrich Krüger, SPD-

Fraktion.

Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Schick, erfreut nehme ichden Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenzur Kenntnis, die sich inzwischen ebenfalls des Themas„Handel mit Kreditforderungen“ angenommen und esauf die Agenda gesetzt hat. Ohne Ironie – ich bitte Sie,mir das abzunehmen – sage ich Ihnen: Willkommen imKlub!

(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Schwarz-Rot beschäftigt sich seit vielen Monatensehr intensiv mit den durch den Kredithandel aufgewor-fenen Problemen. Seien Sie versichert: Dieses Thema istbei uns in den richtigen Händen. Wir sind darauf be-dacht, die unerwünschten Auswirkungen des Kredithan-dels sehr sorgfältig zu analysieren und Lösungen zu erar-beiten, um die betroffenen Kreditnehmer, Verbraucherwie Unternehmer, umfassend zu schützen.

Worum geht es? In den letzten Jahren – KollegeBernhardt hat das schon angeführt –

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut hat er das sogar gemacht!)

ist nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland ein ver-stärkter Handel mit Immobilienkrediten und sonstigenKrediten zu beobachten. Dieser Handel hat fast explo-sionsartig zugenommen. Vor allen Dingen bei sogenann-ten notleidenden Krediten, also dann, wenn der Kredit-nehmer seine Rate nicht oder nur verzögert zahlt,entledigen sich Banken gerne des Risikos und veräußernihre Forderungen, häufig an einen Finanzinvestor oder,ebenso häufig, an eine Investmentbank.

Ein solcher Verkauf ist für die kreditgebende Bankaus ökonomischer Sicht durchaus von Vorteil, da sie da-durch neue finanzielle Mittel für weitere Kreditvergabenerhält. Grundsätzlich ist festzustellen, dass auch zivil-rechtlich nichts gegen den Verkauf von Immobilien-oder Kreditforderungen einzuwenden ist, solange dieRechte der Schuldner angemessen berücksichtigt wer-den.

Das ist leider nicht mehr durchgängig der Fall. Viel-mehr ist zu beobachten, dass in der jüngeren Praxis – icherwähne das erneut, allerdings nur Pars pro Toto – beiImmobilienkrediten Konstellationen aufgetaucht sind,bei denen von einer angemessenen Berücksichtigung derSchuldnerinteressen keine Rede sein kann.

Es wird geschätzt, dass allein die deutschen Bankenund Kreditinstitute notleidende Kredite in einem Volu-men von 10 bis 12 Milliarden Euro pro Jahr veräußern.Es gibt keine fixen Zahlen, sie schwanken zwischen 7,5und 10 bis 12 Milliarden Euro pro Jahr; auf jeden Fallhandelt es sich um eine nennenswerte Größenordnung.

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Dr. Hans-Ulrich Krüger

Dass ein Verkauf notleidender Kredite für den Kredit-nehmer in aller Regel nichts Gutes bedeutet, liegt auf derHand. Die Käufer solcher Forderungen, meistens aufschnelle und größtmögliche Rendite zielende Finanzin-vestoren, haben naturgemäß in erster Linie ein Interessedaran, die Immobilie zu veräußern und unmittelbar dieZwangsvollstreckung zu betreiben. An personalintensi-ver Betreuung, an der Suche nach Wegen aus der Schul-denfalle haben sie hingegen nur geringes Interesse. Fürdie privaten Haus- und Wohnungsbesitzer kann dies denVerlust ihres Eigentums bedeuten, ohne dass sie dieChance haben, über alle vernünftigen und problemorien-tierten Lösungen zu diskutieren.

Dass sich Banken in zunehmendem Maße der Verant-wortung gegenüber ihren Kunden entziehen und an einerLösung mit den in Schwierigkeiten geratenen Kreditneh-mern immer weniger Interesse haben, zeigt die Infobro-schüre einer großen deutschen Bank mit dem Titel

„Notleidende Kredite“ – eine etablierte Assetklasse

vom 5. April dieses Jahres. Dort heißt es auf denSeiten 7 und 8:

Während Banken im Allgemeinen und vorwiegendregional tätige Institute im Besonderen Rücksichtauf ihren Ruf nehmen und deshalb bei der Abwick-lung von Krediten behutsamer vorgehen, könnenAbwicklungsgesellschaften ihre bzw. die Interessenihrer Auftraggeber bei den Verhandlungen und – imFalle des Scheiterns – bei der Zwangsvollstreckungoffener durchzusetzen versuchen.

Entkleidet man diese Sätze der bankenüblichen Vor-nehmheit, weiß man, welches brutale Marktgeschehensich hinter ihnen verbirgt. Eine solche Entwicklung kannvon uns Sozialdemokraten nicht hingenommen werden.

Wird ein Immobilienkredit an einen Dritten verkauft,sieht sich der Kreditnehmer mit einem neuen Gläubigerkonfrontiert, den er bei der Wahl seiner kreditgebendenBank gar nicht wollte. Er hat sich nämlich in der Regelgezielt für ein bestimmtes Kreditinstitut entschieden undvertraut darauf, dass dieses Institut sein Vertragspartnerbleibt. Er war unter Umständen sogar bereit, für eineVor-Ort-Betreuung einen höheren Darlehenszins zu ak-zeptieren, als er bei einer ausschließlich im Internet täti-gen Bank hätte akzeptieren müssen. Die meisten Kredit-nehmer sind sich gar nicht bewusst, dass ihre Kreditevon ihrer Hausbank an Investoren veräußert werden kön-nen. Sie werden von ihrem Kreditinstitut zweckmäßiger-weise darüber gar nicht informiert; ich bitte, dies als Iro-nie zu verstehen.

Ein weiteres Problem aus Verbrauchersicht ist fürmich die Wahrung von Datenschutz und Bankgeheimnis.Es gibt zwar ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom Fe-bruar dieses Jahres, in dem es heißt: Die Zession vonKreditforderungen ist nicht deshalb unwirksam, weil siegegen das Bundesdatenschutzgesetz verstößt und dasBankgeheimnis verletzt. Dies begründet allenfalls einenSchadensersatzanspruch. Nur, das Schwert ist stumpf;denn wo kein Schaden nachgewiesen werden kann, fälltdieser Anspruch ins Bergfreie. Hier besteht meines Er-achtens Regelungsbedarf. Ziel muss es sein, Verbrau-

cherinteressen, Unternehmerinteressen bei Kreditver-käufen zu wahren. Hier ist die Politik gefragt.

Der Strauß der Möglichkeiten ist groß und muss sorg-sam komponiert werden. Zum einen – da habe ich beimeinem Vorredner schon ein großes Maß an Überein-stimmung konstatieren können – sollen die Banken ver-pflichtet werden, den Kreditnehmer vor jedweder Zes-sion zu informieren, das heißt, die stille Zession sollnicht mehr existieren. Ferner kann auch über ein Zes-sionsverbot zu diskutieren sein: dass eine Abtretung zu-mindest von Verbraucherkrediten an Nichtbanken – al-lerdings unter Berücksichtigung der Vorschriften desHandelsgesetzbuches – ausgeschlossen wird. Ich weißnatürlich, dass § 354 a HGB insofern Schranken setzt;das muss berücksichtigt werden.

Last, not least darf ich sagen, dass unsere Fraktionüber ein – möglicherweise befristetes – Sonderkündi-gungsrecht nachdenkt, das, um den Verbraucher, denUnternehmer nicht übermäßig zu belasten, mit Regelun-gen bezüglich Vorfälligkeitsentschädigungen einherge-hen muss bzw. einräumt, dass man bei der Wahl von Dis-agiovarianten eine anteilige Rückzahlung des Disagiosvorziehen kann. Ob nun – um darauf zurückzukommen,Herr Schick – im Bereich der privaten Immobilie Sanie-rungsvorschläge zu machen sind und wie diese auszuse-hen haben und ob man Beispiele aus der Insolvenzord-nung heranzieht, das wird dem Verfahren zu überlassenbleiben. Darüber müssen wir noch nachdenken und unsabstimmen. Aber eines ist klar: Der Traum von den eige-nen vier Wänden darf bei Kreditverkäufen nicht zumAlbtraum werden.

Seien Sie daher versichert: Wir als Koalition befassenuns intensiv mit dem Problem des Kredithandels undwerden Standards setzen, wodurch wir Rechtssicherheitfür die forderungsveräußernden Banken, für die forde-rungskaufenden Investoren und primär – obwohl ich esals Drittes nenne – für die Verbraucherinnen und Ver-braucher sowie mittelständischen Unternehmen schaffenwerden.

Ich freue mich schon auf die Vorschläge aus den be-teiligten Häusern, dem Bundesjustizministerium unddem Bundesministerium der Finanzen. Ich weiß, dassdie Thematik dort angekommen ist. Es wird fleißig undintensiv darüber nachgedacht. Ich denke, aufgrund derentsprechenden Qualität in beiden Häusern werden wirhier zeitnah gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten dis-kutieren. Ich wünsche uns allen eine gute gemeinsameBeratung im Interesse der betroffenen Kreise, sprich, derKreditnehmer und der betroffenen Unternehmer.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Axel Troost, Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

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Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-

reits vor über einem Jahr hieß es im Spiegel: TausendenHausbesitzern droht auch in Deutschland der GAU. Tau-sende Immobilienkredite sind von Banken an Finanz-investoren weiterverkauft worden, und nun drohen beikleinsten Störungen die sofortige Zwangsvollstreckungund horrende Zinssprünge. – Es ist völlig klar: Dasbringt natürlich kurzfristige Renditen für die Finanz-investoren. Kollege Krüger hat darauf ja hingewiesen.

Insofern ist für uns, die Linke, völlig klar: Hier kön-nen wir als Parlament nicht tatenlos zusehen. Wir müs-sen die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber ebenauch die Unternehmerinnen und Unternehmer wirksamschützen. Dabei betone ich „wirksam schützen“. Ichglaube, Bündnis 90/Die Grünen greift mit ihrem Ansatzhier noch zu kurz. Aus meiner Sicht unterschätzen Siedas Problem gleich doppelt.

Erstens unterschätzen Sie das Problem verbraucher-politisch, weil Sie Ihre konkreten Forderungen aus-schließlich auf mehr Transparenz und Information be-schränken.

Nehmen wir Ihre erste Forderung. Sie wollen, dassKreditnehmer künftig vor Vertragsschluss ausdrücklichdarauf hingewiesen werden, dass der Kredit während derLaufzeit verkauft oder nicht verkauft werden kann.Glauben Sie denn im Ernst, dass die Verbraucherinnenund Verbraucher so wirksam vor milliardenschwerenFinanzinvestoren geschützt werden können? Nein, ichglaube, damit fallen wir insgesamt hinter das zurück,was die Verbraucherzentralen und die kritischen Finanz-juristinnen und -juristen in der Anhörung des Finanzaus-schusses kürzlich gefordert haben. Ich glaube, wir fallendamit sogar hinter das zurück, was die Bundesregierunghinsichtlich des Risikobegrenzungsgesetzes insgesamtmöglicherweise prüft. Das ist hier in den Reden – auchvom Kollegen Bernhardt – angedeutet worden.

Sie unterschätzen das Problem in Ihrem Antrag ausunserer Sicht aber nicht nur verbraucherpolitisch, son-dern zweitens auch finanzpolitisch. Sie ignorieren dieBedeutung von Kreditverkäufen für die Finanzmarktsta-bilität vollkommen. Auch das ist hier vom KollegenBernhardt durchaus angesprochen worden.

Natürlich haben Sie den Antrag gestellt, bevor dieUS-Hypothekenkrise nach Europa geschwappt ist. Wirkönnen heute aber nicht mehr so tun, als existierte dieKrise nicht. Heute wissen wir doch: Kreditverkäufe wa-ren ein zentraler Mechanismus, über den sich die Krisenach Europa ausgebreitet hat. Dadurch wurden die Poli-tik und auch wir als Finanzausschuss – ich denke, daskann man so sagen – sowie die Aufseher doch kalt er-wischt. Ich glaube, mit diesen Ausmaßen haben wir allenicht gerechnet.

Allein in den USA beläuft sich der Bestand an ver-brieften Krediten heute auf über 7 Billionen Dollar. DerHandel mit Kreditverbriefungen und Kreditderivaten hatzu einem riesigen, fast unüberschaubaren Spekulations-markt geführt. Hier kann man aus unserer Sicht nichtmehr nur mehr Transparenz fordern. Nein, stattdessen

gehört die Finanzpolitik der letzten Jahre grundlegendauf den Prüfstand.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da müssen Sie die Tobin-Steuer beachten!)

Kein Zweifel: Wir brauchen wirkungsvolle Maß-nahme zum Thema Kreditverkauf. Die Linke wird dazuVorschläge vorlegen, nachdem die Diskussionen mit denVerbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern so-wie den kritischen Finanzjuristinnen und Finanzjuristenausgewertet worden sind. Wir wollen diese Vorschlägeso rechtzeitig einbringen, dass sie in die Diskussionenüber das Risikobegrenzungsgesetz einfließen. Denn dasThema der Kreditverkäufe ist auch aus unserer Sicht sowichtig, dass man in der Tat nicht mit einem parlamenta-rischen Schnellschuss reagieren darf.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/5595 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten MarcusWeinberg, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. ErnstDieter Rossmann, Jörg Tauss, Nicolette Kressl,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD

Bildungsberichterstattung fortführen undweiterentwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaPieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Bildungsberichterstattung in Deutschlandund deren Weiterentwicklung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz(Herborn), Kai Gehring, Krista Sager, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bildungsforschung und Bildungsbericht-erstattung stärken

– Drucksachen 16/5415, 16/5409, 16/5412, 16/6614 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg Dr. Ernst Dieter Rossmann Patrick Meinhardt Cornelia Hirsch Priska Hinz (Herborn)

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Die Reden der Kolleginnen und Kollegen ErnstDieter Rossmann, Cornelia Pieper, Cornelia Hirsch,Priska Hinz und des Parlamentarischen StaatssekretärsAndreas Storm sind zu Protokoll gegeben worden.1)

Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung auf Drucksache 16/6614. Der Ausschuss emp-fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/6614 die Annahme des Antrags der Frak-tion der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5415mit dem Titel „Bildungsberichterstattung fortführen undweiterentwickeln“ Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen! – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Stimmenthaltung der FDP gegen dieStimmen der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/5409 mit dem Titel „Bil-dungsberichterstattung in Deutschland und deren Wei-terentwicklung“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5412mit dem Titel „Bildungsforschung und Bildungsbericht-erstattung stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen beiStimmenthaltung der Linksfraktion angenommen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Abgelehnt! –Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wir haben dage-gen gestimmt!)

– Zuletzt hat die Linksfraktion auch abgelehnt, in Ord-nung. Davor allerdings – da muss ich mich korrigieren –haben Sie auch zugestimmt.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da haben wir zugestimmt!)

– Jawohl.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-ten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), ChristophWaitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP

Klare Konzepte für den Bau des BerlinerSchlosses

– Drucksachen 16/5961, 16/6595 –

1) Anlage 3

Berichterstattung:Abgeordnete Monika Grütters Dr. h. c. Wolfgang Thierse Hans-Joachim Otto (Frankfurt)Dr. Lukrezia Jochimsen Katrin Göring-Eckardt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als einziger Redner, daalle anderen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben,spricht Kollege Otto für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen[Bönstrup] [CDU/CSU]: Zu diesem Zeitpunkteine völlig unnötige Debatte! – ChristianLange [Backnang] [SPD]: Muss das sein?)

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

zentralste Bauplatz dieser Republik sollte uns doch auchum 20 Uhr noch fünf Minuten Plenarzeit wert sein.

(Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen[Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber auf einer ande-ren Grundlage!)

Es ist zwar schon spät am Tage, aber hoffentlich nochnicht zu spät, um den Ausschreibungstext des Architek-tenwettbewerbs für das Berliner Schloss, der in diesenTagen abgeschlossen wird, zu beeinflussen. Wir haltenes für wichtig und notwendig, dass der Deutsche Bun-destag gerade in dieser entscheidenden Phase noch ein-mal öffentlich über den Bau des Berliner Schlosses de-battiert.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Er wird beteiligt über seine Ausschüsse!)

Was wir derzeit über den Entwurf des Ausschreibungs-textes lesen und hören, erfüllt uns mit großer Sorge.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das hat Herr Tiefensee anders gesehen!)

Uns liegt der Ausschreibungstext zwar nicht im Originalvor, aber bereits ein kleiner Auszug, der kürzlich in ei-nem Bericht des Bundesbauministeriums veröffentlichtworden ist, zeigt deutlich, wohin die Reise geht.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Da müssen alle Unterlagen auf den Tisch!Dann lohnt sich die Debatte erst!)

Ich zitiere aus dem Entwurf des Bundesbauministe-riums: Die Einbeziehung eines Raumes in der Größe desVolkskammersaales sowie die Teilrekonstruktion seinerAusstattung ist möglich. – Das ist also möglich. An an-derer Stelle heißt es dagegen: Eine Rekonstruktion vonInnenräumen nach historischem Vorbild, bis auf dieKunstkammern, ist nicht vorgesehen.

Weder das eine noch das andere ist im Beschluss desBundestages enthalten. Es ist eine absolut freie Interpre-tation der Verfasser der Auslobung und vollkommenwillkürlich. Warum steht in dem Auslobungstext nicht

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Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

das Gegenteil? Zum Beispiel: Eine Rekonstruktion vonInnenräumen nach historischem Vorbild ist möglich.Eine Rekonstruktion des Volkskammersaales ist nichtvorgesehen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Alles ungelegte Eier!)

Diese Aussagen werden genauso wenig vom Bundes-tagsbeschluss gedeckt wie die jetzt darin enthaltene For-mulierung. Das macht die Tendenz und den Untertondieser Ausschreibung deutlich. Ich bin sicher, dass dieseTendenz nicht dem Willen der Mehrheit des Bundestagesentspricht. Ich bin der Überzeugung, dass wir Parlamen-tarier aller Fraktionen des Bundestags eine solche Umin-terpretation nicht zulassen dürfen.

Ich sehe an dieser Stelle durchaus eine Verantwortungder Bundeskanzlerin, nachzufragen, mit welcher Ten-denz die Jury zusammengesetzt wird. Wenn sie den Vor-schlägen entsprechend überwiegend mit Personen be-setzt wird, die kaum über internationale Erfahrung undReputation verfügen, dafür aber bekannte Schlossgegnersind, dann braucht man wenig Fantasie, um sich dasWettbewerbsergebnis vorzustellen.

Wer glaubt, mit den Bundestagsbeschlüssen von 2002und 2003 zur Wiedererrichtung der barocken Fassade –

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Die bleibt auch!)

– Wolfgang, bleib doch mal ruhig! Du bist ja heute rich-tig nervös – sei das Bauvorhaben nun in trockenen Tü-chern, der ignoriert, dass der Auslobungstext und die Zu-sammensetzung der Jury von mindestens ebenso großenAuswirkungen auf die spätere Gestalt des Gebäudes istwie der Beschluss selbst.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sicherzustellen,dass ein Beschluss, den der Bundestag nach langer undreiflicher Überlegung wohlbedacht und von einer großenfraktionsübergreifenden Mehrheit getragen gefasst hat,nicht von einzelnen Ministerialbeamten konterkariertwird.

Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zur Finanzie-rung der Schlossfassade. Ich halte es für ein enormesund beachtenswertes Angebot des Fördervereins Berli-ner Schloss, 80 Millionen Euro für die Finanzierung derSchlossfassade zu sammeln. Es steht in der besten Tradi-tion zivilgesellschaftlichen Engagements und hat in derFinanzierung der Dresdner Frauenkirche ein leuchtendesVorbild. Es ist übrigens auch ein Beleg dafür, dass dieVersprechungen des Fördervereins durchaus realisierbarsind.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Ich finde es in diesem Zusammenhang ungeheuerlich,dass sich manche Personen – auch in den Ministerien –die Argumentation der Linkspartei, die bekanntermaßenden Schlossbau torpedieren will, zu eigen macht und dieSeriosität des Fördervereins in Zweifel zieht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das geht nicht!)

Wenn die Bundesregierung die private Initiative tatsäch-lich desavouieren möchte, dann wird ihr das zwar gelin-gen; ich erwarte aber von der Bundesregierung und demDeutschen Bundestag genau das Gegenteil, nämlich dasssie dieses großartige zivilgesellschaftliche Engagementanerkennt und nach Kräften fördert und ermutigt.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist ja geschehen!)

Die Tatsache, dass der Förderverein bisher bereitsknapp 14 Millionen Euro an Spenden bzw. Zusagen ge-sammelt hat, ohne dass bisher das Geld des Bundes be-willigt ist und die konkreten Bauplanungen begonnenhaben, sehe ich als ein durchaus beruhigendes Zeichendafür, dass die 80 Millionen Euro zu erbringen sein wer-den. Schließlich sprudelten auch bei der Frauenkirchedie Spenden erst, als die ersten Steine aufeinandergesetztwurden.

(Beifall bei der FDP – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hat das ZDF erreicht!)

– Das mag sein. Das ZDF macht manchmal auch etwasGutes.

Vor diesem Hintergrund halte ich es für dringend er-forderlich, dass der Förderverein, der ungefähr einSechstel der Bausumme beisteuern wird, endlich in allewichtigen Entscheidungsprozesse einbezogen wird.

Wir, der Deutsche Bundestag, haben noch wenigeTage – vielleicht auch wenige Wochen – Gelegenheit,die Ausschreibung und den Bau des Schlosses so zu be-einflussen, dass er ein großer Erfolg wird. Wir dürfendiese Chance nicht verstreichen lassen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Kollegen Renate Blank, Wolfgang Thierse, Petra

Weis, Gesine Lötzsch und Peter Hettlich haben ihre Re-den zu Protokoll gegeben.1)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung desAusschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag derFDP-Fraktion mit dem Titel „Klare Konzepte für denBau des Berliner Schlosses“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6595,den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5961abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linksfraktion gegen die Stimmen derFDP bei Enthaltung der Grünen angenommen.

1) Anlage 4

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b so-wie Zusatzpunkt 8 auf:

17 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-rung der betrieblichen Altersversorgung

– Drucksache 16/6539 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, DanielBahr (Münster), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Abgabenfreie Entgeltumwandlung über 2008hinaus fortführen und ausbauen

– Drucksache 16/6433 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der AbgeordnetenIrmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, BrittaHaßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prü-fen, dann entscheiden

– Drucksache 16/6606 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-geben: Peter Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Heinrich Kolb,Volker Schneider, Irmingard Schewe-Gerigk und derParlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/6539, 16/6433 und 16/6606 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra

1) Anlage 5

Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE

Bleiberecht als Menschenrecht

– Drucksachen 16/3912, 16/4827 –

Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff (Rems-Murr)Ulla Jelpke Josef Philip Winkler

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-geben: Reinhard Grindel, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff,Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler.2)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag derFraktion Die Linke mit dem Titel „Bleiberecht als Men-schenrecht“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/4827, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3912 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-nisierung des Rechts der landwirtschaftlichenSozialversicherung (LSVMG)

– Drucksache 16/6520 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung der Unterrichtung durch den Präsiden-ten des Bundesrechnungshofes

Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsord-nung über die Umsetzung und Weiterentwick-lung der Organisationsreform in der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung

– Drucksache 16/6147 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzHaushaltsausschuss

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-geben: Marlene Mortler, Waltraud Wolff, Edmund PeterGeisen, Kirsten Tackmann, Cornelia Behm, GittaConnemann und der Parlamentarische StaatssekretärGerd Andres.3)

2) Anlage 63) Anlage 7

(A)

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(A) (C)

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/6520 und 16/6147 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 18:

Beratung des Antrags der Abgeordneten KristaSager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Kooperation und Koordination im Europäi-schen Forschungsraum verbessern

– Drucksache 16/6454 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-geben: Carsten Müller, René Röspel, Cornelia Pieper,Petra Sitte und Krista Sager.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/6454 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sinddamit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.

Tagesordnungspunkt 21:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzeszur Änderung des Versicherungsaufsichts-gesetzes

– Drucksache 16/6518 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Die Kollegen Klaus-Peter Flosbach, Lothar Binding,Frank Schäffler, Barbara Höll und Gerhard Schick habenihre Reden zu Protokoll gegeben.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/6518 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b sowie Zusatz-punkt 9:

20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten ElkeHoff, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Deutschland muss rüstungskontrollpolitischeGlaubwürdigkeit beweisen – Angepassten

1) Anlage 82) Anlage 9

KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zurAbstimmung vorlegen

– Drucksache 16/6431 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedNachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Angepassten Vertrag über KonventionelleStreitkräfte in Europa ratifizieren

– Drucksache 16/6605 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart vonKlaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowieder Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, GertWeisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Krise des KSE-Vertrages durch neueImpulse für konventionelle Abrüstung undRüstungskontrolle in Europa beenden

– Drucksache 16/6603 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschuss

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die KollegenFreiherr zu Guttenberg, Rolf Mützenich, Elke Hoff, PaulSchäfer und Winfried Nachtwei.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/6431, 16/6605 und 16/6603 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 23:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch undanderer Gesetze

– Drucksache 16/6540 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

3) Anlage 10

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Die Kollegen Michael Hennrich, Anton Schaaf,Heinz-Peter Haustein, Katja Kipping, Markus Kurth undder Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres habenihre Reden zu Protokoll gegeben.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/6540 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an denAusschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 22:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken,Bärbel Höhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegen-wirken

– Drucksachen 16/5413, 16/5752 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Max Lehmer Dr. Gerhard Botz Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm Dr. Kirsten Tackmann

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-geben: Johannes Röring, Gerhard Botz, GabrieleGroneberg, Edmund Peter Geisen, Kirsten Tackmannund Cornelia Behm.2)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „Dem Verlust an Agrobiodiversi-tät entgegenwirken“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/5752, den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/5413 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmender Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-PeterFriedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenAnnette Faße, Brunhilde Irber, Renate

1) Anlage 112) Anlage 12

Gradistanac, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Messen und Geschäftsreisen als Chance fürden Tourismusstandort Deutschland

– Drucksache 16/5958 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden KlausBrähmig, Anita Schäfer, Brunhilde Irber, ErnstBurgbacher, Ilja Seifert und Bettina Herlitzius.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/5958 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Tagesordnungspunkt 24:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antragder Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth),Michael Kauch, Jan Mücke, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDP

Oldtimer von Feinstaub-Fahrverboten aus-nehmen

– Drucksachen 16/4060, 16/6327 –

Berichterstattung:Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter

Zu Protokoll gegeben wurden die Reden von den Kol-legen Andreas Scheuer, Rita Schwarzelühr-Sutter,Patrick Döring, Lutz Heilmann und Winfried Hermann.4)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu demFDP-Antrag mit dem Titel „Oldtimer von Feinstaub-Fahrverboten ausnehmen“. Der Ausschuss empfiehlt un-ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/6327, den Antrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 16/4060 abzulehnen.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ungeheuerlich!)

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen derFDP-Fraktion angenommen.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ihrhabt keinen Sinn für Oldtimer! – Gegenruf desAbg. Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Wir kön-nen uns keine leisten!)

3) Anlage 134) Anlage 14

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(A) (C)

(B)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/6327 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wiezuvor angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-gelung des Wohngeldrechts und zur Änderunganderer wohnungsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/6543 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die KollegenGero Storjohann, Sören Bartol, Joachim Günther,

Heidrun Bluhm, Markus Kurth und die ParlamentarischeStaatssekretärin Karin Roth.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/6543 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit amSchluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 12. Oktober 2007,9 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen freundlichen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 20.39 Uhr)

1) Anlage 15

(D)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12277

(A) (C)

(B)

Anlagen zum Stenografischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

(D)

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Beck (Bremen), Marieluise

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

11.10.2007

Bellmann, Veronika CDU/CSU 11.10.2007

von Bismarck, Carl Eduard

CDU/CSU 11.10.2007

Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

11.10.2007

Dr. Faust, Hans Georg CDU/CSU 11.10.2007

Dr. Happach-Kasan, Christel

FDP 11.10.2007

Kasparick, Ulrich SPD 11.10.2007

Kramme, Anette SPD 11.10.2007

Lämmel, Andreas G. CDU/CSU 11.10.2007

Lafontaine, Oskar DIE LINKE 11.10.2007

Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 11.10.2007

Merten, Ulrike SPD 11.10.2007

Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 11.10.2007

Müller (Düsseldorf), Michael

SPD 11.10.2007

Nitzsche, Henry fraktionslos 11.10.2007

Dr. Paech, Norman DIE LINKE 11.10.2007

Pflug, Johannes SPD 11.10.2007*

Riester, Walter SPD 11.10.2007

Roth (Esslingen), Karin SPD 11.10.2007

Rupprecht (Tuchenbach), Marlene

SPD 11.10.2007

Schauerte, Hartmut CDU/CSU 11.10.2007

Schily, Otto SPD 11.10.2007

Dr. Schwall-Düren, Angelica

SPD 11.10.2007

* für die Teilnahme an der 117. Jahreskonferenz der Interparlamenta-rischen Union

Anlage 2

Antwort

des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage desAbgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (117. Sitzung, Drucksache 16/6571,Frage 11):

Welche Bundesministerien nebst nachgeordnetem Bereichspeichern von Besuchern ihrer Internetseiten deren IP-Adres-sen, abgefragte Dateien oder Zugriffszeiten über die Dauerdes jeweiligen Besuchs hinaus, wie etwa das Bundeskriminal-amt es bei 417 Interessenten für die „militante gruppe“ alleinbinnen drei Wochen im März/April 2007 tat, und wird dieBundesregierung derartige Fangschaltungen sowie etwaige si-cherheitsbehördliche Nachermittlungen über die Besucher– wie im genannten Fall des Bundeskriminalamts – nun kurz-fristig und vollständig unterbinden, nachdem das LandgerichtBerlin mit Berufungsurteil vom 6. September 2007 (Az. 23S 3/07) dem Bundesministerium der Justiz derlei rechtskräftigverboten hat?

Die überwiegende Zahl der Ressorts und, soweit diesin der Kürze der Zeit ermittelt werden konnte, derennachgeordnete Behörden speichern die IP-Adressen derBesucher ihrer Internetseiten bzw. lassen diese durch be-auftragte Unternehmen speichern. Dies geschieht grund-sätzlich nur temporär und ausschließlich aus IT-sicher-heitstechnischen und/oder statistischen Gründen. BMBF,BMAS, der Bundesrechnungshof und das BKA nehmenkeine generelle Speicherung der IP-Adressen vor. Beidem Bundesministerium der Justiz werden weder die IP-Adressen noch andere personenbezogene Daten der Per-sonen protokolliert, die die Internetseite des Bundesmi-nisteriums der Justiz aufrufen. Im Geschäftsbereich desBundesministeriums der Justiz werden IP-Adressen beidem Bundesgerichtshof, dem Bundesfinanzhof, demBundesverwaltungsgericht, dem Bundespatentgerichtund dem Deutschen Patent- und Markenamt für Zweckeder Abrechnung kostenpflichtiger Internetangebote und/oder für statistische Zwecke protokolliert. In welcherWeise sich das Urteil des LG Berlin vom6. September 2007 (Az. 23 S 3/07) auf diese Speiche-rungspraxis auswirkt, wird zurzeit geprüft. Die Bundes-regierung nimmt keine Fangschaltungen vor (vergleiche

Strothmann, Lena CDU/CSU 11.10.2007

Toncar, Florian FDP 11.10.2007

Wanderwitz, Marko CDU/CSU 11.10.2007

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

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Antwortteil 1). Eine abschließende Bewertung des Ur-teils und den daraus zu ziehenden Konsequenzen hat inder Mehrzahl der Ressorts noch nicht stattgefunden.BMBF und BMJ haben die Erhebung von IP-Adresseninfolge des Urteils gestoppt.

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts zu den Anträgen:

– Bildungsberichterstattung fortführen undweiterentwickeln

– Bildungsberichterstattung in Deutschlandund deren Weiterentwicklung

– Bildungsforschung und Bildungsbericht-erstattung stärken

(Tagesordnungspunkt 15)

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Der erste natio-nale Bildungsbericht und die Maßstäbe und Erwartungender Fraktionen an die Fortsetzung dieses neuen Instru-ments der Bildungspolitik sind offensichtlich ein Gegen-stand der „indirekten Rede“. So war es bereits bei derersten sogenannten Aussprache hierzu am 24. Mai 2007,übrigens fast ein Jahr nach Vorlage dieses ersten nationa-len Bildungsberichtes im Juni 2006. Das parlamentari-sche Instrument, Reden zu Protokoll geben zu können,sorgt aber immerhin dafür, dass man, bei allen Nuancen,wechselseitig davon lesen konnte, dass diese Initiativeder damaligen SPD-geführten Bundesregierung und ih-rer Bildungsministerin Edelgard Bulmahn in allen Frak-tionen des Parlaments breit akzeptiert ist und für die Zu-kunft weiter fruchtbar gemacht werden soll. Diese„indirekte Rede“ über den ersten nationalen Bildungsbe-richt setzen wir jetzt mit der abschließenden Beratungder vorgelegten Anträge zur Bildungsberichterstattungin der gleichen Weise fort: Wir geben zu Protokoll.

Auf nochmalige Auseinandersetzung mit den vorge-legten Anträgen möchte ich hier deshalb verzichten.Dieses kann nachgelesen werden in der zu Protokoll ge-gebenen Debatte vom 24. Mai 2007. Wir haben unshierzu im Übrigen auch in der Ausschusssitzung ausge-tauscht. Mit ihrem Antrag, „Bildungsberichterstattungfortführen und weiterentwickeln“ legen die Koalitions-fraktionen ein Konzept vor, das die mit dem ersten natio-nalen Bildungsbericht gemachten Erfahrungen positivaufgreift und den Regierungen des Bundes und der Län-der zusätzliche Forderungen mit auf den Weg gibt, die inder Fortführung dieser Arbeit Berücksichtigung findenmüssen.

Zur abschließenden Beratung unserer Anträge überdie Bildungsberichterstattung möchte ich darüber hinausdie folgenden Punkte zu Protokoll geben: Erstens. Eswar schon ein Dilemma, dass der gemeinsam von Bundund Ländern herausgegebene nationale Bildungsberichterst ein Jahr nach seiner öffentlichen Vorstellung Gegen-stand der Parlamentsdebatte im Deutschen Bundestag

gewesen ist und dass es nach meinem Wissen bisher garkeine Debatte in Länderparlamenten gegeben hat. Diesesmuss mit dem 2008 vorzulegenden zweiten Bildungsbe-richt grundlegend verändert werden. Wir erwarten, dasssich die Bundesbildungsministerin mit diesem Berichtder Diskussion im Parlament stellt, dass dieser nationaleBildungsbericht eine seiner Bedeutung entsprechendePosition im Parlamentsbetrieb bekommt und über dieEinbringung und die Debatte in der Sache auf einen indas Land hineinreichenden Impuls für eine kritische undweiterführende Bestandsaufnahme gesetzt wird. Alsdringende Bitte an die Bundesbildungsministerin gilt,ein solches Verfahren bereits mit der Erstellung deszweiten Bildungsberichtes zu vereinbaren und die Bil-dungsminister der Länder wie die Bundesregierung ins-gesamt hierauf einzuschwören. Nationale Bildungsbe-richte, die zu nachtschlafender Zeit im Parlament unter„ferner liefen“ abgehandelt werden, entwerten sichselbst, schädigen den gerade angestrebten notwendigenImpuls und verschenken im Übrigen die große Chance,die von allen eingeforderte nationale Bildungsoffensivetatsächlich voranzubringen. Wo kommen wir eigentlichhin, wenn die Nachricht von einem angestrebten Bil-dungsgipfel mehr Aufmerksamkeit findet als die fun-dierte wissenschaftliche Ausarbeitung und die Empfeh-lungen einer unabhängigen Expertenkommission, diedann noch einmal von den Ländern wie dem Bund aufeinen Konsens in der Sache gebracht worden sind? Unddas erstmals für alle Bereiche des Lernens im Sinne derneuen Philosophie des lebenslangen Lernens!

Zweitens. Bildungsberichterstattung und Bildungsfor-schung gehören in der Sache zusammen. Als Sozialde-mokraten begrüßen wir es, dass die nationale Bildungs-forschung ausgebaut werden soll. Trotz der gestiegenenAnforderungen in der Forschung an Bildungszusammen-hängen bestehen weiterhin deutliche Lücken. Die nachder Föderalismusreform noch bestehenden Möglichkei-ten des Bundes in diesem Bereich sollten dazu genutztwerden, diese Lücken zu schließen. Die wissenschaftli-che Beobachtung im Bereich der frühkindlichen Bildungmuss sich auch im Bildungsforschungsprogramm derBundesregierung niederschlagen. Wir stehen hier voll zuden Vorschlägen, die die Gewerkschaft Erziehung undWissenschaft in Bezug auf ein Gesamtkonzept zur Erfor-schung der frühkindlichen Bildung erst kürzlich gemachthat. Zudem wird sich die SPD-Bundestagsfraktion dafüreinsetzen, die wissenschaftliche Begleitforschung zumGanztagsschulprogramm im Rahmen der Bildungsfor-schung fortzusetzen, über das Ende des Investitionspro-gramms im Jahr 2009 hinaus. Unseres Erachtens hat sichhier eine Form von Handlungsforschung aufgebaut, diewir – im engen Zusammenwirken von wissenschaftli-cher Analyse und handlungsorientierter Beratung – fürdas, was wir auch in anderen Bereichen der Erneuerungunseres Bildungssystems leisten müssen, dringend brau-chen. Einen Beitrag zur Handlungsorientierung verspre-chen wir uns auch von dem Großprojekt des Bildungs-panels. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solcheLangzeitstudie nicht kurzfristig Erkenntnisse bringenkann. Mittelfristig sollte sie dies aber schon; denn geradeVerbesserungen an den Schnittstellen im Prozess des le-benslangen Lernens dulden keinen Aufschub. Unsere

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Bemühungen gehen deshalb dahin, nicht nur ein grund-ständiges Bildungspanel, sondern zum Prozess deslebenslangen Lernens auch Sonderpanels zu den konkre-ten Umbruchphasen respektive Schnittstellen aufzule-gen.

Drittens. Auch wenn wir im Parlament nicht in diesachliche Aussprache zu den Ergebnissen des ersten vor-gelegten Bildungsberichtes eingestiegen sind, sollen hierdennoch ein paar grundsätzliche Erkenntnisse angespro-chen werden. Für uns Sozialdemokraten ist von beson-derem Interesse, dass Grundbildung für alle im Sinnevon Mindestbildung und Chancengleichheit stärker inden Blick genommen wird. Wir haben in Deutschlandnoch einen zu hohen Grad von funktionalem Analphabe-tismus. Ein Anteil von über 10 Prozent der jungen Men-schen ohne Schulabschluss ist für ein hochentwickeltesLand nicht hinnehmbar. Die Zahl der jungen Menschen,die ohne Berufsabschluss bleibt, ist erschreckend hoch.40 Prozent an sogenannten Studienabbrechern werfendie Frage nach der Leistungsfähigkeit unseres Hoch-schulsystems bei der Vermittlung von wissenschaftlicherBerufsqualifikation auf. Eine rückläufige Weiterbil-dungsbeteiligung im Widerspruch zu den Tendenzen inden erfolgreichen Bildungsnationen Europas wird schonmittelfristig massive Auswirkungen auf die Leistungsfä-higkeit der Wirtschaft und die Innovationsfähigkeit un-serer Gesellschaft insgesamt haben. Auf diese Fragenmüssen sich Bildungsforschung, Bildungsberichterstat-tung und vor allem Bildungsreform unseres Erachtenskonzentrieren.

Wir wollen gerne anerkennen, dass es durchaus hoff-nungsvolle Entwicklungen gibt. Die Anerkennung desRechtsanspruchs jedes Kindes auf frühkindliche Bildungist von Renate Schmidt als Bundesfamilienministerin inder rot-grünen Regierungszeit eingeleitet worden. Wirkönnen uns nur darüber freuen, dass die Nachfolge-ministerin aus dem konservativen Bereich diese Ideenaufgenommen hat und wir auch hier einen Konsens ge-funden haben. Was vor einiger Zeit noch unvorstellbarwar, verdichtet sich auch im schulischen Bereich zu ei-ner raumgreifenden Bildungsreform: Nicht mehr diefrühe Trennung in der weltweit fast einmaligen Mehr-gliedrigkeit unseres Schulsystems, sondern das längeregemeinsame Lernen werden zu Bildungsphilosophie undPraxis in Deutschland. Nicht zuletzt das Ganztagsschul-programm des Bundes, das von Gerhard Schröder undEdelgard Bulmahn gegen härteste Widerstände der kon-servativen Seite eingeführt worden ist, ist mittlerweilebreiter Konsens. Wenn selbst Hessens ExtremföderalistKoch sich, wie kürzlich auf dem Ganztagsschulkongressdes Bundes geschehen, zum Fürsprecher des Programmszum Aufbau von Ganztagsschulen macht, ist schon vie-les erreicht. Und mit dem ersten Integrationsgipfel, derein breites Handlungsprogramm speziell zur Förderungvon zugewanderten Kindern und Jugendlichen gebrachthat, haben sich alle politischen und gesellschaftlichenKräfte vieles vorgenommen, was unter der Lebenslüge,Deutschland sei kein Einwanderungsland, von konserva-tiver Seite viel zu lange zugedeckt wurde. Auch hier sindalso offensichtlich Reformen im besten Sinne, nämlichfür mehr Chancengleichheit und Bildung für alle auf

dem Weg. Wir sind zuversichtlich, dass die nächstenAusgaben des nationalen Bildungsberichtes hierzu dieentsprechenden kritischen, aber wegweisenden weiterenZwischenschritte und Perspektiven dokumentieren kön-nen.

Viertens. Als Sozialdemokraten treten wir sehr enga-giert dafür ein, mit Blick auf den nationalen Bildungs-bericht die internationale Perspektive nicht auszublen-den. So wichtig es ist, eine umfassende, breit anerkanntenationale Bestandsaufnahme zu machen, so wenig kön-nen wir darauf verzichten, in den internationalen Ver-gleich in Bezug auf die Leistungsfähigkeit unseresBildungssystems im Sinne des lebenslangen Lernenseinzutreten. Wir müssen nun einmal anerkennen, dassdie entscheidende Bewegung auch in der deutschen Bil-dungsdebatte nicht durch den Vergleich der Bundeslän-der, sondern durch den PISA-Vergleich der Kompe-tenzentwicklung im Rahmen der OECD und speziell imeuropäischen Vergleich entstanden ist. An dieser Stelletreten wir als Sozialdemokraten sehr engagiert dafür ein,nicht vor weiteren Vergleichen mit neuen Aufgabenfel-dern zurückzuschrecken. Das gilt unseres Erachtens fürden Vergleich von Lehrerausbildung wie Lehrerqualifi-kation und es gilt auch für das sogenannte Hochschul-PISA. Der internationale Vergleich heißt gerade nicht,von besonderen nationalen Bedingungen und Kulturenabzusehen, aber sich diesen kritisch zu stellen und imVergleich Ansprüche, Konzepte und Handlungsmöglich-keiten zu überprüfen. Auch deshalb haben wir von derSPD-Seite nicht verstanden, mit welcher Mischung ausBigotterie und Hartnäckigkeit zum Beispiel konservativeKräfte die Hinweise des UN-BildungsberichterstattersMuñoz abgewehrt haben. Es hätte uns doch in der Sacheund vom Prinzip her gut angestanden, sich offen, selbst-kritisch, aber auch selbstbewusst mit einer solchen Sichtvon außen auseinanderzusetzen. Um es noch einmaldeutlich zu sagen: Nationale Bildungsberichterstattungdarf gerade den Blick nicht nur auf sich selbst richten,sondern muss die gesamte Bestandsaufnahme der Ent-wicklung in Deutschland so vornehmen, dass Stärkenund Schwächen im internationalen Vergleich, positiveund negative Entwicklungen, zukünftige Problemlagenund Vorbilder zu deren Bewältigung im nationalen Rah-men aus dem internationalen Kontext heraus besser ver-standen, zielgerechter entwickelt und erfolgreicher um-gesetzt werden können.

Wir sind zuversichtlich, dass die von EdelgardBulmahn und den damaligen Regierungskräften aus SPDund Grünen angestoßene Entwicklung, hierzu auchdurch eine nationale Bildungsberichterstattung beizutra-gen, nicht mehr angehalten werden kann, sondern imKonsens wie im konstruktiven Streit in Deutschland fürdie Zukunft zu fruchtbaren Ergebnissen führen wird.

Cornelia Pieper (FDP): Mit dem nationalen Bil-dungsbericht „Bildung in Deutschland“ erfolgte im Jahr2006 erstmalig eine eingehende Darstellung des Bil-dungssystems Deutschlands. Diesem echten Meilen-stein auf dem Weg zu mehr Transparenz gingen jedochmühsame und langwierige Verhandlungen voraus.

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Mit dem Antrag „Vorlage eines nationalen Bildungs-berichts“ (Drucksache 14/7078) forderte die FDP-Frak-tion schon im Jahr 2001 die damalige rot-grüne Bundes-regierung dazu auf, das deutsche Bildungswesen unterdie Lupe zu nehmen. Dem liberalen Antrag folgten ähn-lich lautende Initiativen der CDU und der Koalition vonSPD und Grünen.

Offensichtlich wurde, nachdem jahrelang die Augenvor der bittereren Realität verschlossen wurden, die drin-gende Notwendigkeit einer umfassenden empirischenBestandsaufnahme von allen Seiten erkannt und diesauch per Antrag dokumentiert.

Tatsächlich ist der Bericht „Bildung in Deutschland“den hohen Erwartungen gerecht geworden. Er informiertüber die Wirklichkeit in deutschen Kindertagesstätten,Klassenzimmern und Hörsälen. Mit dem ihm zugrundeliegenden problemorientierten Ansatz und der Möglich-keit, verlaufsbezogene Fragestellungen zu erörtern, istder Bildungsbericht ein wertvolles Instrument zur Quali-tätsverbesserung von Bildung.

Vor allem in einem föderalen Bildungsraum, wie wirihn in Deutschland haben, bedarf es einer kontinuierli-chen Beleuchtung der Prozesse und Entwicklungen – be-sonders auf Ebene der Länder. Wir können und dürfen esnicht zulassen, dass das Licht, welches seitens der ver-gleichenden Bildungsstudien (hier wäre beispielsweisePISA-E zu nennen) die haarsträubenden Differenzen unddas Bildungsgefälle zwischen Nord und Süd, Ost undWest beleuchtet, einfach wieder ausgeknipst wird. Insbe-sondere der Bildungsföderalismus nötigt uns dazu, Ver-gleiche zur Orientierung und Beförderung des Wettbe-werbs anzustrengen. Ohne die öffentlichkeitswirksameDokumentation der länderspezifischen Leistungsniveauswürde das deutsche Bildungswesen wieder im Dunkelder Vor-PISA-Ära versinken. Wer Wettbewerb zwischenden Bildungseinrichtungen will, muss auch für Transpa-renz der Leistungsergebnisse sorgen. Vor allem sollte dieKMK ihrem neuen Auftrag nach der Föderalismusre-form als gesamtstaatlicher Koordinator von Bildung ge-recht werden und für bundesweit vergleichbare Schulab-schlüsse und eine bundeseinheitliche Lehrerausbildungsorgen. Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR)wird genau das von uns abverlangen.

Betrachtet man die Anträge der Koalition und vonBündnis 90/DIE GRÜNEN, so kommt man zu demSchluss, dass die Bedeutung der Bildungsforschung undBildungsberichterstattung erkannt worden ist.

Dem Antrag der Koalition und den darin enthaltenenAussagen und Forderungen könnte man sich in wesentli-chen Teilen anschließen. Insbesondere die Betonung derNotwendigkeit einer politischen Unabhängigkeit bei derBildungsberichterstattung erscheint mir sehr wichtig.Wenn wir tatsächlich mit dem Bildungsbericht ein In-strument der bildungspolitischen Steuerung, auch alsOrientierungsrahmen für die Länder, entwickeln, danndürfen hier ideologiegestützte und unfundierte Forderun-gen keinen Raum finden. Andernfalls wäre der Berichtnicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist. Leiderthematisiert der Antrag von CDU/CSU und SPD die Er-gebnisse der Anhörung des Ausschusses für Bildung,

Forschung und Technologiefolgenabschätzung nicht.Dadurch wird die Chance vertan, wichtige Hinweise derSachverständigen für die künftige Ausgestaltung des Be-richts aufzunehmen. Das ist unser hauptsächlicher Kri-tikpunkt.

Der Antrag der Grünen geht auf die Auswirkung undBedeutung des Ausbaus der Bildungsforschung und dieUmsetzung der Ergebnisse in bildungspolitischen Ent-scheidungen von Bund und Ländern im Rahmen desArtikels 91 b GG ein. Im Großen und Ganzen teilen wirdie ausführliche Darstellung der veränderten Rahmenbe-dingungen und der sich hieraus ergebenden Notwendig-keiten. Allerdings belassen es die Grünen nicht hierbei,sondern ziehen mit der Forderung, den Autoren des Bil-dungsberichtes Handlungsempfehlungen abzuverlan-gen, die falschen Konsequenzen. Denn die Berichterstat-tung lebt gerade von der politischen Neutralität – sie solldie Bildungsrealität transparent machen. Man kann denverantwortlichen Wissenschaftlern nicht zumuten, diepolitischen Entscheidungen vorwegzunehmen. Die Poli-tik ist gefordert, die richtigen Entscheidungen auf derGrundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu tref-fen.

Im Unterschied zum Antrag der Koalition geht unserAntrag auf die Folgerungen und Empfehlungen der An-hörung im Ausschuss ein. Wir wollen die, insbesonderevon den Sachverständigen, als extrem wichtig erachtetenThemen mit aufnehmen. Dementsprechend hält dieFDP-Fraktion die Erörterung von Fragen der Lehreraus-und Weiterbildung, des Lernumfeldes und Lernverhal-tens, Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung für sehr brisant.Auch die Entwicklung der Angebote im Rahmen des le-benslangen Lernens sollten stärker fokussiert werden, dawir hierbei durch große Defizite im internationalen Be-reich auffällig geworden sind. Nicht vergessen werdensollte die Analyse übergreifender Entwicklungen, wiezum Beispiel die Untersuchung der Bedeutung und Ent-wicklung der Eigenverantwortlichkeit und Autonomieoder die enorme Resonanz von Schulen in freier Träger-schaft im deutschen Bildungsraum.

Gerade in der vor kurzem eingegangenen Antwort derBundesregierung auf die Kleine Anfrage der FraktionFDP über „Entwicklung der Schulen in Freier Träger-schaft in Deutschland“ (Drucksache 16/6480) wurde diemangelhafte Kenntnis der Verantwortlichen über die Si-tuation freier Schulen deutlich. Dementsprechend leitetedie Bundesregierung die erste Frage mit dem Satz ein:„In der deutschen Schulforschung wird den Privatschu-len bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt; insbeson-dere fehlen aussagekräftige Schulleistungsvergleichezwischen staatlichen und privaten Schulen.“ Zu Bezu-schussung, Förderung, Schulgeld, rechtlichen Rahmen-bedingungen konnte die Bundesregierung auch keineAussage treffen. Ein Indiz dafür, wie wichtig es ist, dasswir uns diesem Thema widmen.

Wir begrüßen die Absicht, die Bildungsberichterstat-tung fortzuführen und weiterzuentwickeln. Dabei müs-sen wir jedoch darauf drängen, dass wesentliche Fragenim Rahmen der Erstellung des Berichts mit aufgenom-men werden. Andererseits warnen wir vor einer Politi-

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sierung der Dokumentation. Mit dem FDP-Antrag wer-den die wesentlichen Probleme fokussiert, ohne dabeider Berichterstattung den politischen Stempel aufzudrü-cken. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu unsererInitiative.

Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Vor über einem Jahrwurde die Föderalismusreform verabschiedet. Die dortbeschlossene Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsbericht-erstattung“ steckt aber immer noch in den Kinderschu-hen. Die Veröffentlichung des ersten Bildungsberichteskonnte keine wesentlichen Impulse zur Weiterentwick-lung des Bildungssystems erbringen. Die Vorbereitungdes zweiten Bildungsberichtes wird nicht zu einer öf-fentlichen Debatte über Probleme und Herausforderun-gen des Bildungssystems genutzt. So darf das nicht wei-tergehen. Die Misere unseres Bildungssystems ist viel zugroß. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass – wie es derUN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung,Vernor Muñoz, festgestellt hat – das Recht auf Bildungmissachtet und zum Teil mit den Füßen getreten wird.Wenn die Bildungsberichterstattung dazu beitragen soll,Missstände im deutschen Bildungssystem zu beseitigen,dann muss sie grundlegend anders ausgerichtet werden.

Im Zentrum der Bildungsberichterstattung muss dieöffentliche Debatte stehen. Mit der Erarbeitung und Ver-öffentlichung der Bildungsberichte muss diese befördertwerden. Gemeinsam mit den Betroffenen aus Kitas,Schulen und Hochschulen müssen sich Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler sowie Politikerinnen und Po-litiker darüber verständigen, welche Ziele sie sich imBildungssystem setzen und wie sie die vor ihnen liegen-den Herausforderungen angehen wollen. Dazu ist es un-erlässlich, dass zukünftige Bildungsberichte klare undkonkrete Empfehlungen an die Politik beinhalten.

Der erste Bildungsbericht machte deutlich, dass einereine Darstellung der Fakten zu so gut wie keinen politi-schen Handlungen führt. Damals verweigerte die Bun-desregierung den Autorinnen und Autoren, konkreteHandlungsoptionen aus den Analysen zum Bildungssys-tem abzuleiten.

Daneben muss der zweite Bildungsbericht einige we-sentliche inhaltliche Lücken schließen, die im ersten Be-richt noch zu konstatieren waren. Zum einen fehlt eineDarstellung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Außer-dem muss die Situation chronisch kranker und behinder-ter junger Menschen durchgängig und im Gesamten be-leuchtet werden.

Hinzu kommt das Thema „Privatisierung der Bil-dung“. In den vergangenen Tagen und Wochen wurdenvermehrt Zahlen zu den Entwicklungen an Privatschulenveröffentlicht. Aber nicht nur institutionell ist eine mas-sive Zunahme privatwirtschaftlich organisierter Bildungfestzustellen. Neben verstärkter Werbung an Schulen,dem sogenannten Schulsponsoring, gewinnt auch dieprivate Nachhilfe an Bedeutung. Die Bundesregierungdarf sich dieser Entwicklung nicht versperren und mussdie Gefahr der zunehmenden sozialen Ungleichheit er-forschen lassen.

Doch selbst mit solchen punktuellen Verbesserungenkönnte das Instrument der Bildungsberichterstattungnicht über seine Begrenztheit hinwegtäuschen. DieLinke hält weiterhin daran fest, dass die Föderalismus-reform I insbesondere aus bildungspolitischer Perspek-tive ein fataler Schritt war. Wir begrüßen, dass das mitt-lerweile bis ins Bundesministerium für Bildung und For-schung hinein erkannt wird und auf mehr Einheitlichkeitim Bildungssystem gedrungen wird.

Umso wichtiger ist deshalb, dass die Föderalismus-reform II das Bildungssystem erneut in den Blick nimmt.Grundlegende Fehler müssen hier korrigiert und darüberhinaus müssen auch neue Vorschläge diskutiert werden.Die Linke fordert, dass bei der Föderalismusreform IIzum Ziel gesetzt wird, eine bessere finanzielle Ausstat-tung für alle Bildungsphasen zu erreichen. Notwendighierfür ist, dass eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Bil-dungsfinanzierung“ geschaffen wird. Nur wenn Bundund Länder zukünftig gemeinsam die Möglichkeit ha-ben, bildungspolitische Maßnahmen zu finanzieren, kön-nen durch die Bildungsberichte aufgezeigte Problemeauch gelöst werden. Ansonsten läuft die Bildungsbe-richterstattung ins Leere. Denn nur, wenn sich Vorhabenund Programme auch finanziell untersetzen lassen, wer-den sie mehr als nur unverbindliche Ankündigungen.

Der Antrag der Koalitionsfraktionen greift all dieseFragen und Probleme nicht auf. Er schlägt ein reines„Weiter so!“ vor. Auf diese Weise lässt sich die Miseredes Bildungssystems nicht verbessern. Die Linke lehntden Antrag aus diesem Grund ab.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Meine heutige Rede zur Bildungsberichterstat-tung erscheint mir wie ein Déjà-vu: Alle Kritikpunkte,die ich bei der ersten Lesung äußerte, sind bis jetzt nichtausgeräumt. Der Koalitionsantrag zur Bildungsbericht-erstattung stellt uns nicht zufrieden. Wir freuen unszwar, dass auch die Große Koalition eingesehen hat,dass sie den nationalen Bildungsbericht nicht erst aufAntrag der Opposition behandeln kann, sondern ihn demBundestag vorlegen muss. Bei regelmäßiger Befassungmit diesem Thema würde die Koalition dann ja vielleichtauch erkennen, dass einige ihrer Behauptungen nach denempirischen Ergebnissen nicht haltbar sind. So heißt esim Koalitionsantrag, der Bildungsstand in der Bevölke-rung sei kontinuierlich gestiegen. Leider stimmt dies fürDeutschland nicht mehr, wie die jüngste OECD-Studie„Bildung auf einen Blick“ zeigt: Zum einen stagniert imVergleich mit anderen OECD-Staaten der Anteil derAkademiker insgesamt, so dass wir hier von Rang 10 aufRang 22 zurückgefallen sind. Zum anderen hat in derjüngeren Generation ein kleinerer Anteil der Menscheneinen tertiären Bildungsabschluss als in der älteren Ge-neration.

Geradezu lächerlich ist die Forderung der Koalitions-fraktionen, die neue Gemeinschaftsaufgabe weiterzuent-wickeln. Erst sorgen Sie mit Ihrer völlig verfehlten Fö-deralismusreform dafür, dass dem Bund nahezusämtliche Bildungskompetenzen entzogen wurden, dann

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wollen Sie im Nachhinein wieder mehr Einwirkungs-möglichkeiten. Das ist unglaubwürdig.

Wir Grünen meinen, dass nach wie vor ein Konstruk-tionsfehler des nationalen Bildungsberichts nicht beho-ben ist. Er besteht darin, dass Empfehlungen nicht er-wünscht sind und Ergebnisse des Berichts nichtdebattiert werden. Geht es nach dem Willen der GroßenKoalition ist dies auch in Zukunft nicht vorgesehen.Dem können wir nicht zustimmen. Wer wie die Bil-dungsministerin immer gerne das Wort der wissensba-sierten Steuerung vor sich her trägt, sollte sich anstren-gen, den nationalen Bildungsbericht zu einem echtenInstrument der Steuerung zu machen. Dann darf manaber den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlernnicht den Mund verbieten.

Auch setzen wir uns dafür ein, dass die Schwerpunkt-setzung des jeweiligen Bildungsberichts nicht im stillenKämmerlein festgelegt wird, sondern aus der Debattemit den Akteurinnen und Akteuren im Bildungsbereich– also aus Wissenschaft, Parlamenten, Bildungsverwal-tung und -einrichtungen etc. – entsteht. Der nationaleBildungsbericht muss außerdem dem Deutschen Bun-destag zeitnah zur Auswertung vorgelegt werden. DieLänder sollten dieses Verfahren gegenüber den Landta-gen ebenfalls anwenden; aber das können wir hier nichtbeschließen. Bund und Länder sollten dann gemeinsamUmsetzungsstrategien zu den im Bericht gemachten bil-dungspolitischen Empfehlungen erarbeiten.

Über den Bildungsbericht hinaus ist noch einiges zurBildungsforschung insgesamt zu sagen. Seit der missra-tenen Föderalismusreform lobt die Bundesbildungsmi-nisterin die Bundes(rest)kompetenz der Bildungsfor-schung in den Himmel. Dann erwarten wir aber auch,dass endlich das für den Herbst angekündigte Rahmen-programm zur Bildungsforschung vorgelegt wird. Ichbin gespannt, ob es der Herbst 2007 sein wird.

Wir Grüne wollen die Bildungsforschung stärken undhierbei folgende Schwerpunkte setzen: Unterrichtsquali-tät an Schulen und pädagogische Konzepte bei der Ent-wicklung von Halbtags- zu Ganztagsschulen; Lehreraus-und -fortbildung sowie der Umgang mit heterogenenLerngruppen. Mehr Forschung brauchen wir auch in denBereichen informelles Lernen, Weiterbildung, Umset-zung des Bologna-Prozesses sowie Bildungszugang undBildungserfolg von Menschen mit Migrationshinter-grund und aus sozial benachteiligten Familien. Aus grü-ner Sicht sollte sich Deutschland auch auf jeden Fall amsogenannten Lehrer-PISA der OECD beteiligen. Wirhalten es außerdem für notwendig, zu evaluieren, wie dienoch nicht abgeschlossenen Projekte der Bund-Länder-Kommission, BLK, in den Bundesländern weitergeführtwurden. Auch würden wir gerne wissen, welche neuenModellversuche aus den Kompensationsmitteln für dieGemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung“ auf Länder-ebene finanziert werden.

Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung sindwichtig, sowohl als Grundlage für bildungspolitischeEntscheidungen als auch für die Weiterentwicklung derPraxis in den Bildungseinrichtungen. Bildungsforschungund Bildungsberichterstattung können aber nur im ge-

nannten Sinne wirken, wenn in ihrem Rahmen Hand-lungsoptionen aufgezeigt werden, eine öffentliche De-batte stattfindet und die Aufarbeitung sowie der Transferder Forschungsergebnisse sichergestellt werden. Folg-lich: Wer Bildungsberichterstattung will, darf weder vorHandlungsempfehlungen noch vor Reformen Angst ha-ben.

Dr. Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin für Bildung und Forschung: Die Bun-desregierung setzt auf die Potenziale der Menschen inDeutschland. Kluge Köpfe und hervorragend qualifi-zierte Fachkräfte sind die Grundlage für Wohlstand undwirtschaftliche Stärke. Dynamische Aufholprozesse beider Bildungsbeteiligung etwa in den asiatischen Schwel-lenländern, der demografische Wandel in Deutschlandund ein sich abzeichnender Fachkräftemangel insbeson-dere in den sogenannten MINT-Berufen machen deut-lich: Alle Begabungen und Talente in unserem Landwerden gebraucht. Niemand darf zurückgelassen wer-den, jeder braucht eine Chance auf Einstieg in Bildungund Aufstieg durch Bildung. Dies gilt in besondererWeise für diejenigen, die aus den unterschiedlichstenGründen Schwierigkeiten haben und Defizite abbauenmüssen. Wir können es uns nicht leisten, vorhandene Po-tenziale für Bildung und Qualifizierung nicht zu nutzen.

Deshalb hat die Bundesregierung auf ihrer Klausurta-gung in Meseberg wichtige Impulse für eine bessereAusschöpfung aller Begabungsreserven beschlossen. Siewerden in einer Nationalen Qualifizierungsinitiative ge-bündelt, die das gesamte Spektrum unseres Bildungswe-sens umfasst: angefangen von der frühkindlichen Bil-dung über die Schule, die berufliche Bildung und dasStudium bis hin zur kontinuierlichen Weiterbildungwährend des gesamten Berufslebens.

Alle Beteiligten – Länder, Unternehmen, Sozialpart-ner, Verbände – sind aufgefordert, sich an diesem Pro-zess zu beteiligen. Auf der Grundlage des Kabinettsbe-schlusses zur Nationalen Qualifizierungsinitiativestreben wir eine gemeinsame Strategie von Bund undLändern an, die auf einem Qualifizierungsgipfel der Re-gierungschefs im Herbst 2008 auf den Weg gebrachtwerden soll.

Um gemeinsame Zielsetzungen für die Weiterent-wicklung unseres Bildungswesens zu formulieren, müs-sen wir uns zunächst vergewissern, wo wir stehen. Dererste nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutsch-land“, der im Juni 2006 im Auftrag des Bundesbildungs-ministeriums und der Kultusministerkonferenz durch un-abhängige Experten vorgelegt wurde, liefert hierfür eineunverzichtbare Grundlage. Zwei Merkmale des Berichtssind in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen:

Zum einen erfolgt mit dem nationalen Bildungsbe-richt erstmals ein systematischer indikatorengestützterÜberblick über alle Bereiche des deutschen Bildungswe-sens, von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Weiter-bildung. Diese Betrachtung des Lernens im Lebenslauf,entlang der gesamten Bildungsbiografie, kennzeichnetauch die Nationale Qualifizierungsinitiative.

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Zum anderen ist der nationale Bildungsbericht– ebenso wie internationale Leistungsvergleiche – einzentrales Element der neuen Gemeinschaftsaufgabe vonBund und Ländern. Eine gute Bildungsberichterstattungbietet den Verantwortlichen in Bund und Ländern eineverbesserte Grundlage für bildungspolitische Entschei-dungen und für die Überprüfung ihrer tatsächlichen Aus-wirkungen. Bildungsmonitoring muss letztlich auch inbildungspolitisches Handeln münden.

Genau dies ist nach der Vorlage des nationalen Bil-dungsberichts auch geschehen. Bund und Länder habennoch im Jahr des Erscheinens des ersten nationalen Bil-dungsberichts gemeinsame Schlussfolgerungen aus derAnalyse gezogen, die Maßnahmen in ihren jeweiligenZuständigkeiten umfassten. Die Bundesregierung hat inihrer Stellungnahme zum Bildungsbericht dem Schwer-punktthema „Migration“ besondere Aufmerksamkeit ge-schenkt. Besonders hervorzuheben sind darin Maßnah-men innerhalb des Ausbildungspakts, in Programmender beruflichen Bildung und Nachqualifizierung sowiedie Unterstützung der Länder bei der individuellenSprachförderung durch Bildungsforschung. Darüber hi-naus haben wir konkrete Aktivitäten im Hochschul- undWeiterbildungsbereich in Angriff genommen. Beispieledafür sind der Hochschulpakt zur Sicherung der Ausbil-dungschancen der jungen Generation und die Entwick-lung einer Gesamtstrategie „Lernen im Lebenslauf“ mitUnterstützung des Innovationskreises Weiterbildung, diedurch das neue Finanzierungsinstrument des Weiterbil-dungssparens flankiert wird.

Ein falscher Weg wäre es hingegen, wenn die Verfas-ser des Bildungsberichtes gleichzeitig Handlungsemp-fehlungen aussprechen sollten. Hier bin ich ebenso wiedie Autoren des Berichtes der Auffassung, dass es guterwissenschaftlicher Praxis entspricht, Beobachtung undBerichterstattung von Schlussfolgerungen und Empfeh-lungen zu trennen. Der Sprecher des Konsortiums hat inder öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung nachdrück-lich für eine Unterscheidung beider Aufgaben, also füreine Trennung zwischen Monitoring und Handlungsvor-schlägen, plädiert.

Bei der Erstellung des Berichts wurde in vielerleiHinsicht – etwa bei der disziplinübergreifenden Koope-ration und im methodischen Bereich – Neuland beschrit-ten. Im Schwerpunktkapitel des Berichtes erlaubt dasneue Erfassungskonzept zum Migrationshintergrundeine erheblich aussagekräftigere Darstellung der Situa-tion von Migrantinnen und Migranten. Der Bericht 2006zeigt, dass Bildungsbeteiligung und Bildungsstand derBevölkerung insgesamt zugenommen haben; er belegtaber auch, dass andere Länder bei der Verbesserung ih-res Bildungssystems weiter sind. Ein Hauptproblem inDeutschland ist nach wie vor der enge Zusammenhangzwischen sozialer Herkunft bzw. Migrationshintergrundund Bildungserfolg.

Beim nächsten Bildungsbericht, der 2008 erscheint,können Auftraggeber und Autoren nun schon auf einigenErfahrungen aufbauen. Die Orientierung am Konzeptdes „Lernens im Lebenslauf“ hat sich bewährt und wird

beibehalten. Die umfassende Darstellung des Bildungs-wesens über die jeweiligen Institutionen und Verant-wortlichkeiten hinweg verdeutlicht, dass die Nahtstellenund Übergänge im Bildungssystem besondere Aufmerk-samkeit verdienen. BMBF und KMK haben sich deshalbdarauf verständigt, den Schwerpunkt des nächsten Bil-dungsberichts dem Thema „Übergänge Schule – Berufs-bildung/Hochschulbildung – Arbeitsmarkt“ zu widmen.

In anderen Bereichen wollen wir die Bildungsbericht-erstattung weiterentwickeln: Die Autoren streben für denkommenden Bericht eine stärkere Problemorientierungund die verstärkte Berücksichtigung aktueller Bezügean. Sie greifen damit Ergebnisse der Anhörung des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Anfang dieses Jahres auf. Die Weiterent-wicklung der Indikatoren wird außerdem durch einflankierendes Forschungsprojekt des BMBF gefördert,das insbesondere die Indikatorisierung von Bildungsver-läufen und die Darstellung der Übergänge im Bildungs-wesen verbessern soll.

Die Bildungsberichterstattung markiert als Teil einesumfassenden Monitoringsystems die Hinwendung zu ei-ner neuen bildungspolitischen Steuerungsphilosophie.Über die Kernelemente dieses Paradigmenwechsels be-steht weitgehend Einigkeit: Im Wesentlichen handelt essich um ein sinnvoll aufeinander abgestimmtes Systemvon regelmäßigen Schulevaluationen, von nationalenund internationalen Leistungsuntersuchungen, einer un-abhängigen und wissenschaftlichen Bildungsbericht-erstattung. All dies setzt eine hoch leistungsfähige empi-rische Bildungsforschung voraus. Das BMBF wirddeshalb die empirische Bildungsforschung durch einRahmenprogramm strukturell stärken und die verschie-denen Handlungsoptionen des BMBF im Bereich der in-stitutionellen Förderung, der Ressortforschung, der Pro-jekt- und Programmförderung – auch mit den Ländern –so bündeln, dass ein kontinuierlich wachsendes Potentialentsteht.

Zur strukturellen Stärkung der empirischen Bildungs-forschung werden Schwerpunkte gesetzt bei der Quali-tätsentwicklung und -sicherung der vom BMBF – bzw.gemeinsam vom BMBF und von den Ländern – geför-derten Bildungsforschung. Gezielte Maßnahmen zurNachwuchsförderung sind sowohl im Kontext Bund-Länder-geförderter Projekte als auch – in Abstimmungmit der Deutschen Forschungsgemeinschaft – durch spe-zielle Stipendienprogramme vorgesehen. Ein besonderesAugenmerk werden wir zudem der Förderung des inter-nationalen Austausches sowie der Verbesserung der Da-tengrundlagen und der Datenverfügbarkeit für die For-schung widmen.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschungwird ebenfalls in weiterhin enger Abstimmung mit denLändern und der DFG die Voraussetzungen für die Eta-blierung eines wissenschaftsgetragenen, nationalen Bil-dungspanels schaffen, das uns erlaubt, empirisch tragfä-hige Erkenntnisse über Bildungsverläufe unter jespezifischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungenzu generieren.

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All diese Maßnahmen werden letztlich auch die Da-tenbasis für die Berichterstattung über „Bildung imLebenslauf“ deutlich verbessern. Mit den Kooperations-möglichkeiten im Rahmen der neuen Gemeinschaftsauf-gabe und mit den bereits erreichten Fortschritten beimMonitoring unseres Bildungssystems sind wir auf einemguten Weg, den wir mit der Nationalen Qualifizierungs-initiative konsequent weiter beschreiten werden.

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts zu dem Antrag: Klare Konzepte fürden Bau des Berliner Schlosses (Tagesord-nungspunkt 14)

Renate Blank (CDU/CSU): Als Berichterstatterinmeiner Fraktion zum Thema „Wiederaufbau des Ber-liner Schlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenumsmit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erstdann für sinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung diesen Antrag beraten hat.

Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia-lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an-gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be-schäftigt haben wird.

Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta-ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit undsind Grundlage des weiteren Verfahrens.

Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe-derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo-dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist einevorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge-rechtfertigt.

Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab-gelehnt.

Petra Weis (SPD): Als Berichterstatterin meinerFraktion zum Thema „Wiederaufbau des BerlinerSchlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenums mitdem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erst dann fürsinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung diesen Antrag beraten hat.

Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia-lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an-gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be-schäftigt haben wird.

Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta-ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit undsind Grundlage des weiteren Verfahrens.

Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe-derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo-dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist eine

vorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge-rechtfertigt.

Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab-gelehnt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Worüber redenwir eigentlich? Und ist diese Debatte überhaupt notwen-dig?

Der Bundestag hat 2002 und 2003 zwei Beschlüssegefasst, und zwar mit großer Mehrheit. Diese Beschlüssesind eindeutig und sie bleiben verbindlich für alle Betei-ligten und für den auszuschreibenden Wettbewerb.

Diese Beschlüsse haben zwei wesentliche Inhalte:

Erstens. Das Projekt „Humboldt-Forum“: Es ist einefaszinierende Idee, die außereuropäischen Kulturen indie Mitte der deutschen Hauptstadt zu holen und in eineBeziehung des Dialogs zur europäischen Kultur auf derMuseumsinsel zu bringen. Dieses Projekt ist von exzep-tionellem Rang, es dürfte einzigartig in der Welt werden.Deswegen ist es gut und konsequent, dass MinisterWolfgang Tiefensee einen Realisierungsvorschlag vor-gelegt hat, der die allein öffentliche Finanzierung desProjektes vorsieht. Diese Finanzierung, dieser Vorschlagsind dem außerordentlichen Projekt angemessen, ich be-grüße sie sehr.

Zweitens. Das zu errichtende Gebäude soll Ge-schichte vergegenwärtigen: Der Bundestag hat beschlos-sen, dass die drei Barockfassaden des Schlosses an derNord-, West-, Südseite und ebenso der Schlüterhof wie-dererrichtet werden, das ganze Gebäude soll in der Ku-batur des Schlosses erbaut werden.

Das sind die beiden wesentlichen Punkte unsererBundestagsbeschlüsse.

Und nun zitiere ich aus dem Entwurf des Auslobungs-textes zum Realisierungswettbewerb für das Projekt:

Aufgabe des Wettbewerbs ist es, eine überzeugendestädtebauliche und architektonische Gesamtkonzeptionzur Unterbringung des Nutzungskonzepts Humboldt-Forum in einem Gebäude zu schaffen. Das Humboldt-Forum Berlin/Stadtschloss ist Ort für die Bildung imSinne der Vermittlung und Auseinandersetzung von undmit der außereuropäischen Kunst und Kultur. Der Bauhat sich am Grundriss und den Höhenmaßen des ehema-ligen Berliner Schlosses unmittelbar vor dessen Zerstö-rung, 1950, zu orientieren. Dabei ist die Wiedererrich-tung der barocken Fassaden auf der Nord-, West- undSüdseite sowie innerhalb des Schlüterhofes vorzusehen.Die Stereometrie des ehemaligen Schlosses ist mit Aus-nahme der Ostseite und des ehemaligen Eosanderhofeseinzuhalten. Der Bereich des ehemaligen Apothekerflü-gels ist hiervon ausgenommen und bleibt, wie der nachOsten zur Spree gelegene Bereich, frei gestaltbar. Die ar-chitektonische Gestaltung des auf dem Schlossareal ge-planten Gebäudes, insbesondere das Verhältnis von Nut-zung und Innengestaltung, muss der kulturellen Nutzungdes Humboldt-Forums ebenso wie der historischen Be-deutung des Ortes gerecht werden. Der Entwurf soll die

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geschichtlichen Brüche und Zeitschichten des OrtesSchlossareal erfahrbar machen.

Des Weiteren wird mehrfach betont, dass die Wie-dererrichtung der barocken Fassaden verbindliche Vor-gabe der Auslobung sei, dass es darum gehe, die Rekon-struktion barocker Schlossfassaden mit einem Gebäudekultureller Nutzung zu verbinden, ja, dass auch eineKuppel im Bereich des ehemaligen Hauptportals berück-sichtigt werden solle.

Was ist daran zu kritisieren? Was ist daran unklar?Wozu also die Aufregung, werte Kollegen von der FDP?Sie sehen doch, dass im Auslobungstext der Auftrag un-serer Bundestagsbeschlüsse sich auf eindeutige Weisewiederfindet.

Wir haben ein gemeinsames, jedenfalls mehrheitli-ches Interesse daran, dass dieser eindeutige Auftrag aufarchitektonisch, auf ästhetisch überzeugende Weise re-alisiert wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass der Wett-bewerb baldmöglichst ausgeschrieben werden kann,dass auch manch skeptischer Haushaltspolitiker von derFaszination dieses Projektes ergriffen wird. Bleibt dieFrage nach der Besetzung der Fachjury. Ich höre: Es istnicht ganz leicht, diese Fachjury zu besetzen. Einerseitsgibt es Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Aufgabe,Historisches zu rekonstruieren und mit Modernem zuverbinden. Andererseits gibt es Respekt, ja vielleicht so-gar Angst vor der Größe und Schwierigkeit dieser Auf-gabe. Das ist ja durchaus verständlich. Ich höre aberauch: Manche prominente Architekten wollen nicht indie Jury, weil sie sich am Wettbewerb beteiligen wollen.Das ist doch ein wahrlich erfreulicher Ablehnungsgrund.Trotz dieser Besetzungsschwierigkeiten gilt: Die Jurybe-setzung darf nicht von Schlossgegnern dominiert wer-den. Das halte ich für schlicht selbstverständlich.

Wenn immer wieder Zweifel an der Spendenbereit-schaft für die Schlossfassaden geäußert werden, Zweifeldaran, dass die angekündigten 80 Millionen Euro auchtatsächlich erreicht werden, sage ich: Erst wenn das fas-zinierende Projekt wirklich in Gang gekommen ist, kannund wird seine Faszination auch ansteckende Wirkungentfalten können! Blicken wir nach Dresden: Beim Be-ginn des Wiederaufbaus der Frauenkirche waren längstnicht alle notwendigen Spendengelder gesammelt. ImGegenteil: Erst nach Baubeginn nahm die Spenden-freude zu. Warum sollte das in Berlin ganz anders sein?

Wir haben also keinen Grund zur Miesepetrigkeit, zuübertriebenem Misstrauen, zu hysterischer Aufregung.Deswegen ist der FDP-Antrag überflüssig.

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Als Haushälterinwill ich mich nur auf einen Punkt des Antrages konzen-trieren, um deutlich zu machen, wie die FDP gedenkt,mit Steuergeldern umzugehen. Dieser Punkt ist deshalbso bemerkenswert, weil die FDP in den Haushaltsbera-tungen sonst immer sehr akribisch darauf achtet, dasskein Cent zu viel für soziale Aufgaben des Staates aus-gegeben wird. Jedoch geht die FDP in der Schlossfrageausgesprochen spendabel – besser gesagt: verschwende-risch – mit dem Geld der Steuerzahler um. Für das

Schloss gibt es noch nicht einmal eine seriöse Planung,da explodieren schon die Kosten. Herr Tiefensee willplötzlich 72 Millionen Euro für die Erstausstattung desGebäudes haben. Davon war bisher nie die Rede.

Der Haushaltsausschuss hat die Finanzplanung fürdas Schloss als mangelhaft zurückgewiesen. Das Schlosssoll – nach Aussagen der Bundesregierung –480 Millionen Euro kosten. Das ist eine Luftbuchung fürein Luftschloss. Die Bundesregierung und die FDP ge-hen zum Beispiel davon aus, dass 80 Millionen EuroSpenden gesammelt werden.

Ich zitiere Ihren Antrag:

Diese Summe wird vom Förderverein BerlinerSchloss e.V. erbracht werden, der bereits knapp14 Mio. Euro Spenden bzw. verbindliche Spenden-zusagen gesammelt hat. Die Baukosten derSchlossfassade werden erforderlicherweise vomBund vorfinanziert.

Ich frage, woher wissen Sie, dass der Verein bereits14 Millionen Euro Spenden gesammelt hat? Haben SieEinsicht in die Bücher des Vereins bekommen? Ich habedie Bundesregierung gefragt, ob sie Einsicht in dasSpendenkonto des Fördervereins Berliner Schloss e. V.genommen hat. Die Antwort war: Nein. Ich kenne kei-nen Menschen, der seriöse Belege über die bereits ge-sammelten Spenden des Vereins vorweisen könnte.

Wenn Sie ein Haus bauen wollen und gehen zur Bankund können keinen Nachweis erbringen, dass Sie IhrenEigenanteil erbringen können, dann schickt Sie derBankangestellte wieder nach Hause. So ist das in derfreien Marktwirtschaft. Die Bundesregierung legt demBundestag ein Finanzierungskonzept vor, in dem 80 Mil-lionen Euro Spenden fest eingeplant sind, ohne je Ein-sicht in die Unterlagen des Vereins genommen zu haben,der diese Spenden akquirieren soll. Das ist doch einschöner Fall für den Bund der Steuerzahler. Bemerkens-wert ist auch die Vorstellung der FDP, dass, wenn dieSpendengelder nicht kommen, der Staat einspringen soll.

Die Linke lehnt den FDP-Antrag aus vielen Gründenab, ich lehne ihn ab, weil wir jetzt nicht über die Anbrin-gung von Gardinen im Schlafzimmer des Königs nach-denken müssen, bevor wir nicht ein sauberes Finanzkon-zept haben.

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): AlsBerichterstatter meiner Fraktion zum Thema „Wieder-aufbau des Berliner Schlosses“ erachte ich eine Befas-sung des Plenums mit dem vorliegenden Antrag derFDP-Fraktion vom 4. Juli 2007 ebenfalls erst dann fürsinnvoll, wenn auch der Ausschuss für Verkehr, Bau-und Stadtentwicklung dazu beraten hat.

Zudem liegt ein Antrag der Fraktion Die Linke vom4. Juli 2007 mit dem Titel „Humboldtforum statt Fassa-denschloss – Schlossplatz mit Zukunftsorientierung“vor, der bislang ebenfalls noch nicht im Ausschuss fürVerkehr, Bau- und Stadtentwicklung beraten werdenkonnte.

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Ich halte es für darüber hinaus für angeraten, daraufzu warten, bis die Kolleginnen und Kollegen des Haus-haltsausschusses dieses wichtige Thema Ende Oktoberebenfalls beraten haben.

Auch wenn meine Fraktion die Beschlüsse aus denJahren 2002 und 2003 durchaus kritisch bewertet, soverbietet uns der Respekt vor parlamentarischen Be-schlüssen, diese immer wieder infrage zu stellen.

Inhaltlich gäbe es dagegen viel zu der irritierendenund unvollständigen Informationspolitik des Bundes-ministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung,zu den drohenden Mehrkosten und zu den Anträgen derFDP und der Linken zu sagen. Dazu sollten wir uns je-doch mehr Zeit nehmen und uns diese vorzeitige Debatteersparen.

Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung überden Antrag der FDP-Fraktion der Stimme enthalten.

Anlage 5

Zu Protokoll gegeben Reden

zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Förderung derbetrieblichen Altersversorgung

– Antrag: Abgabenfreie Entgeltumwandlungüber 2008 hinaus fortführen und ausbauen

– Antrag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung –Erst prüfen, dann entscheiden

Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-nungspunk 8)

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Seit 2002haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grund-sätzlich einen Rechtsanspruch darauf, Teile ihres Ge-halts im Zuge der sogenannten Bruttoentgeltumwand-lung in die Altersvorsorge zu investieren. Außer Teilendes laufenden Gehalts können sie dafür auch Sonderzah-lungen wie das Urlaubs- oder Weihnachtsgeld und Ge-haltserhöhungen verwenden, die sie dann in Anwart-schaften auf Betriebsrenten umwandeln. Diese für dieAltersvorsorge umgewandelten Entgelte sind Steuer-und sozialabgabenfrei. In kürzester Zeit hat diese für Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch für die Ar-beitgeber finanziell attraktive Regelung zu einem deutli-chen Anstieg bei der Nutzung der betrieblichenAltersvorsorge geführt.

Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mussdurch ihren Betrieb die Möglichkeit gegeben werden, biszu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge-setzlichen Rentenversicherung umzuwandeln. Dem Ar-beitgeber bleibt überlassen, in welchem Durchführungs-weg die Entgeltumwandlung stattfindet. Möglich ist diesin einer Pensionskasse oder einem Pensionsfonds, wiesie häufig bereits in den Betrieben bestehen. Der Arbeit-geber hat aber auch die Möglichkeit, die Entgeltum-wandlung als Betriebsrente in Form einer Direktversi-

cherung anzubieten, was besonders für kleinereUnternehmen von Interesse ist.

Der Gesetzgeber hat die Sozialabgabenfreiheit derEntgeltumwandlung ursprünglich bis Ende 2008 befris-tet, weil man nur einen Anstoß für den Aufbau betriebli-cher Altersvorsorgesysteme geben wollte. Im Koali-tionsvertrag hatten CDU/CSU und SPD vereinbart: „ImJahr 2007 wird geprüft, welchen Verbreitungsgrad diebetriebliche und private Altersvorsorge erreicht hat undwie die weitere Entwicklung des Ausbaus einzuschätzenist. Wenn sich zeigt, dass durch die Förderung mit denbisherigen Instrumenten eine ausreichende Verbreitungder zusätzlichen Altersvorsorge nicht erreicht werdenkann, ist über geeignete weitere Maßnahmen zu ent-scheiden.“ Grundlegende Zielsetzung der Regierungs-fraktionen ist, die Altersvorsorge der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer auf mehrere Säulen zu stellen und so-mit sicherer zu gestalten. Um die positive Entwicklungbei der betrieblichen Altersvorsorge zu unterstützen, ha-ben sich mittlerweile sowohl der Deutsche Gewerk-schaftsbund als auch die Bundesvereinigung der Deut-schen Arbeitgeberverbände für eine Fortführung derSozialversicherungsfreiheit ausgesprochen. Heute schlägtdie Koalition mit ihrem Gesetzentwurf zur Förderungder betrieblichen Altersversorgung vor, dass die steuer-und beitragsfreie Entgeltumwandlung über das Jahr2008 hinaus unbefristet erhalten bleibt und dass zudemdie Unverfallbarkeit für arbeitgeberfinanzierte Betriebs-rentenanwartschaften von 30 auf ein Alter von 25 Jahrenabgesenkt wird.

Die Ansprüche an die Sicherheit der betrieblichen Al-tersvorsorge im Zuge der Entgeltumwandlung sind zumSchutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer be-wusst hoch angesetzt worden. Eine vom Arbeitnehmerdurch Entgeltumwandlung finanzierte Direktversiche-rung darf nicht durch den Arbeitgeber verpfändet, abge-treten oder beliehen werden. Die Alterssicherung mussdurch den Arbeitnehmer auch dann fortgeführt werdenkönnen, wenn er das Unternehmen verlässt. Die Anwart-schaften können mit direkter Wirkung nach der Einzah-lung nicht verfallen und bleiben auch bei Kündigung er-halten. Damit unterscheidet sich die Entgeltumwandlungdeutlich von Modellen, in denen der Arbeitgeber die Be-triebsrente finanziert (sogenannter interner Durchfüh-rungsweg). Dort erlangt der Arbeitnehmer die Unverfall-barkeit seiner Anwartschaften erst, wenn er mindestensfünf Jahre in dem Unternehmen beschäftigt und mindes-tens 30 Jahre alt ist.

In kurzer Zeit ist die Entgeltumwandlung zu einemRenner bei der betrieblichen Altersvorsorge, der drittenSäule der Rente neben gesetzlicher und privater Renten-versicherung, geworden. 2002 haben nur 38 Prozent derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Privatwirt-schaft in einem System betrieblicher Altersversorgungvorgesorgt, 2004 waren es bereits 46 Prozent, mittler-weile sind es über 50 Prozent. Rechnet man die Zusatz-versorgungssysteme im öffentlichen Dienst hinzu, habenüber 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer eine Betriebsrentenanwartschaft. Dieser Anstieg be-ruht zum Großteil auf der Teilnahme an der Bruttoentgelt-umwandlung. Die Beteiligung an der Entgeltumwandlung

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zeigt zudem, dass Geringverdiener und Frauen hierdurchin hohem Maße angesprochen werden, eine betrieblicheAltersvorsorge aufzubauen.

Würde – gemäß der derzeit noch gültigen Gesetzes-lage – die Sozialabgabenpflicht der Entgeltumwandlungab 2009 wieder eingeführt werden, wäre zu befürchten,dass die positive Entwicklung der betrieblichen Alters-versorgung wieder ins Stocken gerät. Zudem gibt es ersteAnzeichen aus den Betrieben, dass es dann zu einer Stor-nierungswelle von Entgeltumwandlungsverträgen kom-men könnte. Eine solche Entwicklung liefe völlig konträrzu der politischen Zielsetzung, zusätzlich zur gesetzli-chen Rente die zweite und dritte Säule der Alterssiche-rung in Deutschland kontinuierlich aufzubauen. EinRückschritt wäre politisch unverantwortlich.

Der für die Einführung der Sozialabgabenpflicht derEntgeltumwandlung ins Feld geführt Einwand, dass dieSozialversicherungen die Einnahmeausfälle nicht ver-kraften könnten, ist in dieser pauschalen Form nichtstichhaltig: Für die Rentenversicherung gilt, dass denEinnahmeausfällen keine Rentenansprüche gegenüberstehen, das heißt, hier ergeben sich keine zusätzlichen fi-nanziellen Probleme. Allerdings führt die sozialabga-benfreie Entgeltumwandlung dazu, dass aus dem für diezusätzliche Altersvorsorge abgezweigten Einkommenkeine Ansprüche in der gesetzlichen Rente erwachsen.Für die Kranken- und Pflegeversicherung bestehen Bei-tragsausfälle nur für eine Übergangszeit, da die Leistun-gen aus der betrieblichen Altersversorgung dann in vol-lem Umfang beitragspflichtig sein werden. DieEinnahmeausfälle in Kranken- und Pflegeversicherungbetrugen übrigens im Jahr 2005 nur circa 2 Promille derGesamtbeitragseinnahmen. Aktuell würden die Kran-ken- und die Pflegeversicherung etwas geringere Ein-nahmen haben. Die Entgeltumwandlung bietet Potenzialfür den Auf- und Ausbau kapitalgedeckter Altersversor-gung und führt langfristig zu einem höheren Gesamtver-sorgungsniveau, aus welchem dann auch höhere Sozial-versicherungsbeiträge gezahlt werden, sodass Kranken-und Pflegeversicherung mit steigenden Einnahmen ausden Zahlungen der Rentnerinnen und Rentner rechnenkönnen.

Die Abschaffung der Sozialversicherungsfreiheit derEntgeltumwandlung würde nicht nur zu Vertragskündi-gungen seitens der Arbeitnehmer führen, sondern auchzu Ausweichreaktionen der Arbeitgeber. Diese werdenverstärkt von der Entgeltumwandlung auf eine zulastender Lohnentwicklung gehende rein arbeitgeberfinan-zierte Altersversorgung umsteigen, die dann weiterhinsozialversicherungsfrei bleibt. Würde diese Option ver-stärkt genutzt, dürften sich die erwarteten Zusatzeinnah-men für die Sozialversicherungen, die bei der Abschaffungder Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlungerwartet werden, ohnehin nicht einstellen.

Der Einwand, dass sich jeder auf das Auslaufen derSozialversicherungsfreiheit 2008 einstellen konnte,übersieht, was sich in der Gesetzgebung in der Zwi-schenzeit geändert hat. Die Situation ist grundlegend da-durch verändert worden, dass mittlerweile auf eine Be-triebsrente volle Krankenkassen- und Pflegebeiträge

erhoben werden. Würde künftig doppelt verbeitragt wer-den, ist die Entgeltumwandlung für den Aufbau einerAltersvorsorge finanziell völlig uninteressant. Die Perso-nalchefs der Betriebe wären sogar verpflichtet, dann ihreBeschäftigten ausdrücklich auf diesen Umstand hinzu-weisen.

Mein Fazit ist: Die von der Sozialabgabenfreiheit derEntgeltumwandlung ausgehende Dynamik für den not-wendigen weiteren Aufbau einer zusätzlichen Altersver-sorgung ist evident. Die finanziellen Risiken für die So-zialversicherungen sind beherrschbar. Daher handelt dieGroße Koalition konsequent und richtig, indem die Bei-tragsfreiheit über 2008 hinaus verlängert wird.

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): In Deutschland habenzur Zeit über 17 Millionen Beschäftigte Ansprüche aufeine Betriebsrente. Von diesen 17 Millionen sind rund9 Millionen Menschen aktive „Entgeltumwandler“ unddamit direkt von dem vorliegenden Gesetzentwurf be-troffen. Sie können schon bald erleichtert aufatmen;denn mit der unbefristeten Verlängerung der Beitrags-freiheit der Entgeltumwandlung bleibt diese Form derzusätzlichen Altersvorsorge vor allem für Beschäftigtemit kleinen und mittleren Einkommen attraktiv.

Ich bin sicher, dass sich die Gesetzesinitiative auf denVerbreitungsgrad betrieblicher Rentenanwartschaftenunter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten po-sitiv auswirken wird. Er ist unter der rot-grünen Koali-tion von 2001 bis Ende 2006 bereits von 52 auf 65 Pro-zent gestiegen. Der heute in den Bundestag eingebrachteGesetzentwurf stellt sicher, dass die „Erfolgsgeschichtebetriebliche Altersvorsorge“ weitergeht.

Unter Rot-Grün haben wir mit der Stärkung der be-trieblichen Altersvorsorge als zusätzlichem Standbeinneben der gesetzlichen Rente begonnen, in der GroßenKoalition führen wir dies fort. Unter Rot-Grün haben wirein Recht auf Entgeltumwandlung eingeführt und dieMitnahmemöglichkeiten für Betriebsrentenanwartschaf-ten von einem Arbeitgeber zum nächsten deutlich erwei-tert. In der Großen Koalition haben wir den Insolvenz-schutz der Betriebsrentenanwartschaften entscheidendverbessert und wollen mit dem heutigen Gesetzentwurfzwei weitere Pflöcke einschlagen: Wir verlängern ers-tens die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlungin eine betriebliche Kasse und bestimmen zweitens, dasszukünftig schon ab einer Altersgrenze von 25 Jahren Be-triebsrentenansprüche unverfallbar sind, statt bisher erstab 30 Jahren.

Dies ist vor allem für junge Eltern wichtig. Mit demVorziehen der Altersgrenze wird eine Kinderpause inZukunft seltener negative Auswirkungen auf den Erwerbeines Betriebsrentenanspruches haben. Damit setzen wirin Deutschland um, was auf EU-Ebene bisher leidernicht möglich war. Eine entsprechende Richtlinie fandnicht die ausreichende Zustimmung der Mitgliedstaaten.Deutschland kann hier jetzt Vorreiter sein, genau zurrechten Zeit, da seit dieser Woche ein überarbeiteter Vor-schlag der EU-Kommission vorliegt.

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Kommen wir zurück zu Beitragsbefreiung. Wie er-wähnt gibt es in Deutschland nach Schätzungen rund9 Millionen aktive „Entgeltumwandler“. Sie können biszu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge-setzlichen Rentenversicherung, also bis zu 2 520 Euroim Jahr, steuer- und sozialabgabenfrei in eine betriebli-che Rentenkasse einzahlen. Rund ein Drittel von ihnenist seit der Einführung des Rechtes auf Entgeltumwand-lung 2001 neu dazugekommen.

Die aktuelle Studie von TNS-Infratest aus dem Junidieses Jahres spricht eine deutliche Sprache: Die Attrak-tivität der betrieblichen Altersvorsorge und ihr in denletzten Jahren wachsender Verbreitungsgrad lag sehrstark in der Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwand-lung begründet. Der Bericht des Institutes verweist indiesem Zusammenhang darauf, dass diese Dynamik sich2006 – wohl im Hinblick auf das nahende Ende der Bei-tragsfreiheit – stark abgeschwächt habe. So nahm dieZahl der Anwartschaften bei den Pensionskassen von2004 auf 2005 um rund 830 000 zu, von 2005 auf 2006waren es hingegen nur noch rund 170 000.

Um die weitere Ausbreitung der betrieblichen Alters-vorsorge nicht zu gefährden oder gar einen Rückgangeinzuleiten, ist es deshalb richtig, dass wir jetzt die Wei-chen für eine unbefristete Sozialabgabenfreiheit stellen.Und aus eben diesem Grund ist es auch nicht vertretbar,weiter mit der Verlängerung der Sozialabgabenfreiheitzu warten, wie es etwa die Grünen in ihrem Antrag zurheutigen Debatte fordern. Die Beschäftigten brauchenPlanungssicherheit, und zwar so schnell wie möglich.

Neben der Steuer- und Beitragsfreiheit sprechen wei-tere Vorteile für eine starke Förderung der betrieblichenAltersvorsorge: Sie ist eine einfache Form der zusätzli-chen Vorsorge, da die Arbeitgeber alle Formalitäten ab-nehmen. Sie ist finanziell attraktiv, da durch Gruppen-verträge eine Senkung der Verwaltungskosten erreichtwird und sich Arbeitgeber oft mit zusätzlichen Beiträgenbeteiligen.

Es gibt also viele gute Gründe, diese Förderung derbetrieblichen Altersvorsorge über 2008 hinaus aufrecht-zuerhalten. Trotzdem wurde auch Kritik laut. Sie wirdzum Beispiel vom Sozialverband Deutschland daranfestgemacht, dass eine Befreiung von den Sozialabgabendie gesetzlichen Sozialkassen rund 2 Milliarden Europro Jahr kosten würde.

Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Außerdemsind die Vorteile, die aus einer weiteren Förderung derbetrieblichen Altersvorsorge entstehen, größer als dievon den Kritikern aufgeführten Nachteile. Es ist nur diehalbe Wahrheit, weil bereits heute Sozialabgaben gezahltwerden. Nicht in der Einzahlungsphase, aber in dem Au-genblick, in dem die Betriebsrente ausgezahlt wird. Seit2004 bzw. 2005 werden hier die vollen Beitragssätze indie Kranken- und Pflegeversicherung fällig.

Anders sieht es bei den Beiträge in Arbeitslosen- undRentenkasse aus. Hier gibt es tatsächlich Ausfälle. Dabeiist jedoch zu berücksichtigen: Weniger Beiträge ziehenweniger Ansprüche nach sich. In Bezug auf die Renten-versicherung bedeutet dies, dass derjenige, der seine

Beiträge statt in die gesetzliche in eine betriebliche Al-tersvorsorge investiert, natürlich auch entsprechend we-niger Ansprüche an die gesetzliche Rente im Alter er-wirbt. Das bedeutet, dass die gesetzliche Kasse zu einemspäteren Zeitpunkt entlastet wird. Genau genommenmüssten also die heute fehlenden Einnahmen der Ren-tenkasse gegengerechnet werden mit den nicht in An-spruch genommenen Rentenansprüchen in der Auszah-lungsphase.

Abgesehen von diesen Fakten sind die vom Sozial-verband befürchteten Fehlbeträge für die gesetzlichenSozialkassen strittig. Denn niemand weiß, wie sich dieBeschäftigten, die heute Entgeltumwandlung betreiben,bei einem Wegfall der Beitragsfreiheit verhalten würden.

Eines ist sicher: Bei einer Verteuerung dieser Anlage-form um 21 Prozent werden sich sehr viele der Betroffe-nen um Alternativen bemühen. Möglicherweise stellensie ihre Verträge auf rein arbeitgeberfinanzierte Betriebs-renten um, die ja weiterhin abgabenfrei bleiben, oder siewechseln in eine private Altersvorsorge. Schlimmsten-falls verzichten sie ganz und gar auf eine zusätzlicheVorsorge. Die von Kritikern genannten jährlichen 2 Mil-liarden Euro Ausfälle für die Sozialkassen sind also mitgroßer Skepsis zu betrachten.

Problematisch bleibt allerdings, dass das Gesamtrenten-niveau durch die Beitragsausfälle sinkt. Bei denjenigen,die in Form einer betrieblichen Altersvorsorge sparen,wird dieser Verlust allerdings mehr als ausgeglichen. Fürdiejenigen, die keine betriebliche Altersvorsorge anspa-ren können, müssen zum einen andere ergänzende Ange-bote, wie zum Beispiel der „Grund-Riester“, weiter aus-gebaut werden. Dies gilt insbesondere für niedrigverdienende Selbstständige. Auch der Ausbau der Bei-tragsgrundlage der gesetzlichen Rentenkasse ist zu dis-kutieren. Hier – und da gebe ich den Grünen recht –müssen weitere Maßnahmen folgen, die unsere Gesell-schaft nachhaltig vor Altersarmut schützen.

Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenspielt bei der Befürwortung der Beitragsfreiheit ein Fak-tor eine ganz entscheidende Rolle: Von der Sozialabga-benfreiheit profitieren besonders Beschäftigte mit klei-nen und mittleren Einkommen. Ihnen nützt eineBefreiung von der Steuer in der Regel wenig, da sie jakeine oder aber nur sehr geringe Steuern zahlen. Die So-zialabgabenfreiheit bringt ihnen hingegen einen Vorteilvon 21 Prozent.

Auch die Gewerkschaften begrüßen deshalb in selte-ner Einigkeit mit den Arbeitgeberverbänden den vorlie-genden Gesetzentwurf. Der Deutsche Gewerkschafts-bund betont, dass durch das von Rot-Grün eingeführteRecht auf Entgeltumwandlung eine immer stärkere Co-Finanzierung von Betriebsrentenansprüchen durchArbeitgeber stattfindet. In einem Arbeitspapier desDGB-Bundesvorstandes heißt es: „So konnten in Berei-chen wie zum Beispiel dem Einzelhandel, wo bislangbetriebliche Altersversorgung bestenfalls für wenigeFührungskräfte vorgesehen war, inzwischen auch die‚Normalarbeitnehmer‘ Anspruch auf vom Arbeitgebermitfinanzierte betriebliche Altersversorgung haben.“

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In einem gemeinsamen Statement der GewerkschaftNahrung-Genuss-Gaststätten und der Arbeitgeberverei-nigung Nahrung und Genuss e. V. wird die beitragsfreieEntgeltumwandlung als „wesentlicher Bestandteil fürdie Attraktivität der betrieblichen Altersvorsorge vor al-len Dingen für Arbeitnehmer mit kleineren Einkommen“gewürdigt. Rund 60 Prozent der Beschäftigten im Ernäh-rungsgewerbe hätten deshalb heute eine betriebliche Al-tersvorsorge.

Ich fasse zusammen: Mit dem Recht auf Entgeltum-wandlung hat die rot-grüne Bundesregierung die betrieb-liche Altersvorsorge aus der Nische geholt und für diebreite Arbeitnehmerschaft attraktiv gemacht. Heute sindbereits zwei Drittel aller sozialversicherungspflichtigBeschäftigten Anwärter auf eine betriebliche Altersvor-sorge. Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deshalbverlängern wir die Sozialabgabenfreiheit und sorgen da-für, dass die Einzahlung in eine Betriebsrente auch nach2008 attraktiv bleibt.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. „Besser spätals nie!“ Die Fähigkeit, Falsches zu korrigieren, ist derGroßen Koalition anscheinend noch nicht vollkommenabhanden gekommen. Dazu gratuliere ich den Koali-tionsparteien! Noch im Frühjahr beharrte die Regierungdarauf, die Betriebsrentenförderung auslaufen zu lassen.Nun, nach nicht einmal einem halben Jahr, hat sie die180-Grad-Wendung vollzogen.

Weil die Regierung damit auf eine seit langem vonder FDP erhobene Forderung eingegangen ist, freue ichmich, für die FDP-Bundestagsfraktion sagen zu können:Wir unterstützen den hier in erster Lesung vorliegendenGesetzentwurf nachdrücklich.

Die betriebliche Altersvorsorge muss weiter ausge-baut werden, weil sie bei sinkendem Leistungsniveauder gesetzlichen Rente in unserer alternden Gesellschafteine zentrale Rolle für die Lebensstandardsicherung imAlter hat. Die abgabenfreie Entgeltumwandlung ist daserfolgreichste und am besten angenommene Instrumentder betrieblichen Altersvorsorge. Dies wurde seinerzeitauch vom Sozialbeirat so gesehen, der daher in seinemGutachten zu Recht explizit gefordert hatte, dass die ab-gabenfreie Entgeltumwandlung nicht 2008 auslaufendarf.

Auch der zweite Kernpunkt des Gesetzentwurfes, dasUnverfallbarkeitsalter von 30 Jahren auf 25 Jahre abzu-senken, wird von uns unterstützt, weil diese Änderunggerade jungen Frauen und jungen Familien zugute-kommt. Viele arbeitgeberfinanzierte Rentenanwartschaf-ten gehen derzeit noch verloren, weil junge Frauen we-gen der Kindererziehung vor dem 30. Lebensjahr ausdem Unternehmen ausscheiden und damit ihre Anwart-schaften verlieren.

Zweitens. Was muss darüber hinaus geschehen? Wirmüssen den Menschen, insbesondere der doppelt belas-teten Sandwichgeneration, den Spielraum verschaffen,zusätzlich eine private und betriebliche Vorsorge aufzu-bauen. Und die betriebliche Altersvorsorge sollte überdie Opting-out-Klausel zur Regel werden. Wir fordern

darüber hinaus, dass die staatliche Förderung der Alters-vorsorge für alle Bürger – und nicht nur für Beamte undPflichtversicherte – gewährt wird.

Die bisherige Obergrenze der abgabefreien Entgelt-umwandlung in Höhe von 4 Prozent wird von der FDPals grundsätzlich ausreichend erachtet. Wünschenswertwäre darüber hinaus aber eine flexiblere Lösung für dieabgabefreie Umwandlung auch von Gewinnbeteiligun-gen von Arbeitnehmern. Gerade weil Gewinnbeteiligun-gen unregelmäßiges Einkommen sind, sind sie – andersals das laufende Einkommen – nicht für laufende Kostenverplant, sondern bieten echten Spielraum für zusätzli-che Altersvorsorge. Allerdings müsste für diesen Fall diebislang geltende Obergrenze von 4 Prozent des Brutto-lohns aufgehoben werden, da Gewinnbeteiligungen we-gen des unregelmäßigen Anfalls mit einer konstantenObergrenze nur schwer vereinbar sind. Deshalb möchtenwir die Möglichkeit einräumen, in Jahren, in denen Ge-winnbeteiligungen zusätzlich genutzt werden sollen, vonder 4-Prozent-Grenze abzuweichen.

Drittens. Die FDP lehnt den Antrag der Grünen ab,und zwar aus folgenden Gründen:

Erstens. Der Gesetzgeber muss jetzt deutlich machen,dass er die abgabenfreie Entgeltumwandlung auf Dauerfortführen will. Eine erneute zeitliche Begrenzung bringtneue Unsicherheiten mit sich, und diese Unsicherheitenmachen das Instrument der Entgeltumwandlung un-attraktiv und verhindern eine weitere Ausbreitung derbetrieblichen Altersvorsorge. Denn wenn in Zukunft– nach Ablauf einer neuen Befristung – die Beiträge derEntgeltumwandlung doch wieder aus verbeitragtem Ein-kommen gezahlt werden müssten, dann zahlen die Ent-geltumwandler wieder doppelte Krankenversicherungs-beiträge, und zwar zunächst in der Beitragsphase unddanach in der Auszahlungsphase.

Zweitens. Natürlich gibt es keinen vernünftigenGrund, warum nicht die Verbreitung der betrieblichenAltersvorsorge untersucht und auch nach Möglichkeitengesucht werden soll, sie für Geringverdiener attraktiv zugestalten. Aus unserer Sicht ist es besonders wichtig, diegroßen Vorteile, die die betriebliche Vorsorge den Versi-cherten durch die Abgabenfreiheit bietet, noch besser alsbisher deutlich zu machen.

Die FDP-Bundestagfraktion beobachtet im Übrigensehr genau, ob die bestehenden Instrumente zur Förde-rung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge fürGeringverdiener ausreichend attraktiv sind. Wir habendazu gerade erst eine Kleine Anfrage an die Bundesre-gierung gestellt.

Drittens. Was die Wirkungen der Abgabenfreiheit aufdie gesetzliche Rentenversicherung angeht, gilt, dassdurch die Inanspruchnahme der Entgeltumwandlung inden nächsten Jahren weniger gesetzliche Rentenanwart-schaften aufgebaut werden. Wenn die gesetzliche Ren-tenversicherung dann um das Jahr 2030 in der stärkstendemografischen Belastungsphase ist, wirken sich die re-duzierten Anwartschaften der Versicherten, die Entgelt-umwandlung betrieben haben, grundsätzlich entlastendauf die Rentenversicherung aus.

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Umgekehrt gilt: Wer keine abgabenfreie Entgeltum-wandlung betreibt, der baut auch weiterhin seine vollengesetzlichen Anwartschaften auf. Daher stimmt das Ar-gument so pauschal nicht, dass unter der abgabenfreienEntgeltumwandlung sich die Anwartschaften aller Ver-sicherten gleichermaßen reduzieren. Zwar wird die Ent-wicklung des Rentenwerts in bestimmtem Umfang ge-bremst. Dies aber führt zu einer Entlastung derBeitragszahler, die gerade in den Jahren ab 2030 sehrwichtig sein wird, wenn eine Beitragshöhe von 22 Pro-zent Realität werden könnte.

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Indem im März 2006 von der Bundesregierung vorgeleg-ten Alterssicherungsbericht habe ich zur Frage der wei-teren Förderung der Sozialabgabenfreiheit der Entgelt-umwandlung auf Seite 208 eine interessante Passagegefunden. Darin stellt die Bundesregierung zur sozialab-gabenfreien Entgeltumwandlung Folgendes fest:

Bei gleich bleibender Dynamik wie in den letztenJahren dürfte die Zahl der „Entgeltumwandler“ bis2008 noch erheblich anwachsen. Bei einer unbefris-teten Beitragsfreistellung käme es folglich zu einerdeutlichen Erosion auf der Einnahmeseite der So-zialversicherung mit Druck auf die Beitragssätze.Es ist aber ausdrückliches Ziel der Bundesregie-rung, die Lohnnebenkosten möglichst zu senken.Außerdem ist zu bedenken, dass eine dauerhafteFörderung in der Sozialversicherung zu ungerech-ten Verteilungseffekten führt: Die aufgrund der Ent-geltumwandlung in der Rentenversicherung fehlen-den Beiträge führen dazu, dass die Renten auchderjenigen Versicherten niedriger ausfallen, diewährend ihres Erwerbslebens keine Entgeltum-wandlung betrieben haben (z. B. Geringverdiener)bzw. keine Entgeltumwandlung betreiben konnten(Rentner).

Dem wäre fast nichts mehr hinzuzufügen, zumal auchder Bundesarbeitsminister noch am 20. März dieses Jah-res gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitunggroßspurig erklärte:

Wir verhalten uns gesetzestreu, denn wir haben beider Rentenreform 2001 angekündigt, dass im De-zember 2008 die Sozialabgabenfreiheit für die Ein-zahlung per Entgeltumwandlung enden wird.

Und weiter:

Voraussetzung dafür sei, dass die neue Regelungnicht zu Lasten der Sozialkassen gehe.

Nun ist Herr Müntefering für plötzliche Sinneswandelleider nicht gerade unbekannt. Insbesondere an Monta-gen – ich erinnere mich da an die Vorziehung der Rentemit 67 um sechs Jahre – überrascht er auch schon maldie eigenen Fachpolitiker mit neuen und nicht abgespro-chenen Einfällen. Da frage ich mich, ob ihm solcheIdeen bevorzugt sonntags in der Badewanne einfallen.Jedenfalls diktierte er nur drei Monate später, am25. Juni, einem Journalisten des Handelsblatts in denNotizblock:

Ich habe die Bedingungen für die Förderung gründ-lich geprüft. Ich meine, wir sollten uns für sie ent-scheiden.

Gründlich geprüft? Wirklich? Da muss man gar nichtMathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, umzu wissen: Kann nicht hinhauen; um Herrn Münteferingseigene Worte mal aufzugreifen. Die unbefristete Förde-rung der betrieblichen Altersvorsorge kann nun wirklichnicht hinhauen, nicht für die Rentenversicherung, nichtfür die Arbeitslosenversicherung, nicht für die Pflege-versicherung, nicht für die Krankenversicherung undschon gar nicht für die Versicherten und Rentnerinnenund Rentner in unserem Land.

Da wundert es auch nicht, dass im Alterssicherungs-bericht ebenfalls zu lesen ist, dass rund 53 Prozent derBefragten auf die Frage, warum sie noch keine betriebli-che Altersvorsorge abgeschlossen haben, angeben, dasssie dem Staat oder der Regierung nicht trauen, weil sichdie Gesetze so oft ändern. Und ich kann nur sagen: ZuRecht. Zwar wird gerade die Entfristung, also die Ände-rung der Gesetzesgrundlage, gelobt, weil hierdurch nunVerlässlichkeit geschaffen werde, doch in Hinblick aufdie gesetzliche Rentenversicherung sind derartige Forde-rungen nach Verlässlichkeit nicht zu hören. Dort werdentiefgreifende Änderungen beschlossen, die nun das Ar-gument für sogenannte kompensierende Maßnahmen lie-fern.

Aber gerade das Argument der kompensierendenMaßnahmen ist bei der sozialabgabenfreien Entgeltum-wandlung nicht aufrechtzuerhalten; denn die sozialabga-benfreie Entgeltumwandlung führt bei allen Versichertenzu einer zusätzlichen Versorgungslücke im Alter, alsoauch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,die Entgeltumwandlung im Rahmen der betrieblichenAltersvorsorge betreiben. In ihrer Studie zur Ver-teilungswirkung der Entgeltumwandlung stellt die Ren-tenversicherung zu Recht fest, dass gerade bei Frauendie Beitragsfreiheit schon bei Verträgen ab dem 30. Le-bensjahr zu niedrigeren Alterseinkünften führen. Und:Wer älter als 40 Jahre ist, muss sich ebenfalls auf gerin-gere Einkünfte im Alter einstellen. Von einem sogenann-ten Nullsummenspiel, wie von der Bundesregierunggerne behauptet wird, kann also keine Rede sein.

Gleichzeitig schmälert die Entgeltumwandlung nichtnur die ohnehin kläglichen Rentenanpassungen der heu-tigen Rentnerinnen und Rentner, sondern auch die derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich auf denBetriebsrentenkuhhandel einlassen. Niedrigere Ren-tenanpassungen und ein geringeres Rentenenniveau,treffen aber vor allem, Erwerbslose, Selbstständige oderGeringverdiener, die ohnehin rechtlich und faktisch vonder sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung keinen Ge-brauch machen können bzw. dürfen. Damit verschärfensie nicht nur die Einkommensungleichheit im Alter, weilgerade diejenigen mit vergleichsweise hohen Ansprü-chen aus der GVR aufgrund ihres höheren Einkommensauch die Entgeltumwandlung stärker nutzen, sie beför-dern auch noch zugunsten eines kleinen Teils von Privi-legierten bewusst das Risiko steigender Altersarmut vonMillionen von Menschen. Selbst der Kollege Brauksiepe

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von der CDU hat bei der Sozialabgabenfreiheit seine Be-denken angemeldet. So war im Tagesspiegel vom 2. Juli2007 zu lesen:

Die Tatsache, dass eine Förderung zugleich das all-gemeine Rentenniveau der kommenden Jahre senkt,ist ein gewichtiges Gegenargument

Und weiter:

Je stärker wir die betriebliche Vorsorge fördern,desto geringer wird auf der anderen Seite das ge-setzliche Rentenniveau ausfallen, und umgekehrt.

Da liegt der Kollege Brauksiepe ausnahmsweise voll-kommen richtig. Wenn Sie hier also der Attraktivität derbetrieblichen Altersvorsorge das Wort reden, können Sieeigentlich nur die Attraktivität für die Versicherungs-wirtschaft meinen, die mit Vertragsabschlüssen für Be-triebsrenten gutes Geld verdient, oder Sie können für dieArbeitgeber sprechen, denen Sie auf Kosten der Solidar-gemeinschaft den Beitrag zur Rentenversicherung nied-rig halten. Damit aber nicht genug. Viel perfider ist dieeigentliche Strategie, die hinter der Verlängerung der so-zialabgabenfreien Entgeltumwandlung steckt: Die Höheder Beitragsausfälle führt nicht nur in der Rentenversi-cherung zu Beitragsausfällen, sondern auch, wie Sie imAlterssicherungsbericht richtig festgestellt haben, in al-len anderen sozialen Sicherungssystemen zu weiterenBelastungen und somit zu höheren Beitragssätzen.

Die Bundesregierung selbst spricht in ihrem Ge-setzesentwurf von Beitragsausfällen von bisher 2,2 bis2,4 Milliarden Euro für die Sozialkassen. Allein hiervonentfallen 1,2 Milliarden Euro auf die gesetzliche Renten-versicherung, welche die Sozialabgabenfreiheit bei derbetrieblichen Altersvorsorge in den letzten Jahren verur-sacht hat. Zudem gehen Sie, ohne dabei rot zu werden,von einem jährlichen Zuwachs der Beitragsausfälle inHöhe von 200 Millionen Euro aus. Sind Sie nicht mitdem Ziel angetreten, die sogenannten Lohnnebenkostenzu senken? Ein Blick in ihren Koalitionsvertrag sollte dagenügen.

Die für die Kranken- und Pflegeversicherung verant-wortliche Ministerin, Kollegin Ulla Schmidt, hat ja be-reits zusätzliche Steuermittel als Kompensation für dieBeitragsausfälle eingefordert. Die Haushälter der Koali-tion werden es mit Schrecken vernommen haben.

Der Bremer Ökonom und ehemalige Vorsitzende desSozialbeirats der Bundesregierung, Winfried Schmähl,kommt in seiner Studie deshalb zum Ergebnis, dass dieEntgeltumwandlung zu beitragssatzsteigernden Effek-ten von 0,4 bis 0,8 Prozentpunkten führt. Damit verju-beln Sie eben mal so die 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte Ein-sparung, die Ihnen gereicht haben, um gegen alleWiderstände aus der Bevölkerung die Rente mit 67durchzusetzen.

Das Fazit Ihres Gesetzentwurfs ist aus unserer Sicht,dass die Weiterführung der beitragsfreien Entgeltum-wandlung über das Jahr 2008 hinaus aus sozialpoliti-schen und systematischen Gründen falsch und in keinerWeise zu rechtfertigen ist. Die sozialabgabenfreie Ent-geltumwandlung führt zu steigenden Beitragssätzen in

der gesetzlichen Rentenversicherung, zu finanziellenMehrbelastungen in der Arbeitslosen-, Kranken- undPflegeversicherung, zu geringeren Rentenleistungen füralle Versicherten, benachteiligt Geringverdiener – undhier insbesondere Frauen und Erwerbslose. Gerade dieFachpolitiker der Großen Koalition wissen dies natürlichallzu gut. Beweisen Sie deshalb einmal Rückrat und fol-gen Sie Ihrem Fachwissen, statt zähneknirschend vonoben nach unten durchgestellte Konzepte abzusegnen.Die Legislative sitzt in diesem Haus. Nehmen Sie dieGewaltenteilung einmal ernst.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ-NEN): 2002 wurde, zeitlich befristet bis 2008, die Möglich-keit einer sozialabgabenfreien Gehaltsumwandlung einge-führt. Damit sollten vorübergehende Anreize für eineAusweitung der betrieblichen Altersvorsorge geschaffenwerden. Versicherte und Betriebe sollten sich in dieser Zeitdarauf einstellen könnten, dass mehr Eigenverantwortungzur Erreichung eines auskömmlichen Alterseinkommenserforderlich ist. Am 20. März wurde Bundesminister FranzMüntefering im Handelsblatt mit der Bemerkung zitiert:

Um die Entgeltumwandlung zur betrieblichen Al-tersvorsorge auch nach dem Auslaufen der Abga-benfreiheit attraktiv zu halten, könne man über ein„Äquivalent“ reden, das aber nicht zulasten der So-zialversicherungen gehen dürfe.

Weitere Überlegungen, wie bestimmte Versicherten-gruppen wie Familien mit Kindern gezielter gefördertwerden könnten, fanden auch unsere Unterstützung. Nurein Vierteljahr später war das alles Schnee von gestern.Ohne eine wirklich substanzielle Begründung verkün-dete Minister Müntefering, dass die beitragsfreie Ent-geltumwandlung unbefristet fortgesetzt werden soll freinach dem Motto „Was kümmert mich mein dummes Ge-schwätz von gestern.“

Was war geschehen? Einfach ausgedrückt: Die Koali-tion und das Arbeitsministerium sind vor der geballtenMacht der Lobbyisten aus Arbeitgeberverbänden, derMehrheit des DGB und der Versicherungswirtschaft ein-geknickt.

Die Ausweitung der Betriebsrenten wurde öffentlichals Erfolgsmodell verkauft. Tatsächlich sind die Erfolgeder beitragsfreien Gehaltsumwandlung mit zusätzlichrund 2,5 Millionen Verträgen seit Anfang 2002 eher mä-ßig. Denn schließlich haben sowohl Arbeitgeber als auchBeschäftigte Vorteile, wenn sie einen Teil ihres Gehaltessozialabgabenfrei umwandeln und damit eine betriebli-che Altersvorsorge aufbauen können. Die Kehrseite derMedaille sind regelmäßige Einnahmeverluste der Sozial-kassen. 2006 wurden dadurch den SozialversicherungenEinnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro entzogen.Experten gehen von Beitragsausfällen in 2030 von 5 bis20 Milliarden Euro jährlich aus. Die Bundesregierungmacht Geschenke an Kernbelegschaften, die sie abernicht aus ihrer eigenen Tasche bezahlt, sondern zulastender Sozialversicherten.

Die Senkung des Rentenniveaus infolge der unbefris-teten Entgeltumwandlung hat die Bundesregierung ge-

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flissentlich ignoriert. Es wird interessant sein, wie sie diedauerhafte Senkung des gesetzlich vorgeschriebenen Ni-veausicherungsziels im nächsten Rentenversicherungs-bericht mit Maßnahmevorschlägen ausgleichen wird.Bevor Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundes-regierung zustimmen, frage ich die Abgeordneten ausden Koalitionsfraktionen: Mit welchen Maßnahmenwird diese Regierung das sinkende Rentenniveau vonGeringverdienenden und Menschen mit unsteten Er-werbsverläufen ausgleichen? Diese Gruppen sind dieVerlierer Ihrer Geschenke an Kernbelegschaften. Zu denVerliererinnen zählen explizit auch Frauen.

Ich fasse zusammen: Der Sinneswandel der Bundes-regierung ist weder nachvollziehbar noch durch detail-lierte Analyse zur Alterssicherung für die verschiedenenEinkommensgruppen begründet. Sie ignoriert nach wievor die Gefahr von Altersarmut einzelner Bevölkerungs-gruppen. Das steigende Altersarmutsrisiko von Gering-verdienenden und von Menschen mit Lücken in der Er-werbsbiografie wird vernachlässigt, trotz qualifizierterHinweise der OECD und des Instituts für Arbeitsmarktund Beschäftigungspolitik. Die steigenden Steuereinnah-men werden nicht dazu genutzt, um hier gezielt Korrek-turen vorzunehmen.

Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koali-tion, Verbesserungen für die betriebliche Altersvorsorgeerreichen wollen, müssen Sie zuerst die Rahmenbedin-gungen verbessern.

Bündnis 90/Die Grünen wird dieser sozial unausge-wogenen Maßnahme nicht zustimmen, die Frauen,Langzeitarbeitslose und Geringverdienende belastet undGutverdienende, dauerhaft Beschäftigte belohnt.

Gerd Andres (Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Arbeit und Soziales): Mit dem Gesetzentwurfzur Förderung der betrieblichen Altersversorgungschreiben wir die Sozialabgabenfreiheit bei der Entgelt-umwandlung über das Jahr 2008 fort, und zwar unbefris-tet und dauerhaft. Das ist das Ergebnis einer intensivenPrüfung. Dabei hat die Bundesregierung auch die Wech-sel- und Folgewirkungen sorgsam abgewogen.

Neue Untersuchungen zeigen: Ende des vergangenenJahres verfügten 17,3 Millionen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer über eine Betriebsrentenanwartschaft. Dasentspricht einem Verbreitungsgrad von rund 65 Prozentbei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.Dazu kommt: Auch die dritte Säule der Altersvorsorgewird immer stabiler. Es gibt heute schon über neun Mil-lionen private Riester-Verträge. Das ist eine Erfolgsge-schichte, an die vor drei, vier Jahren noch niemand ge-glaubt hätte.

Die von uns angestrebte Flächendeckung der Zusatz-rente ist aber – trotz der sehr positiven Zahlen – nochnicht erreicht. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wirsichere und langfristig geltende Rahmenbedingungen.Diese Planungssicherheit brauchen vor allem auch dieTarifvertragsparteien. Schon in über 400 Tarifverträgenfinden sich Regelungen zur Entgeltumwandlung.

Wir haben die Argumente sorgsam abgewogen. Rich-tig ist, dass die Beitragsfreiheit zu Einnahmeausfällen inder Sozialversicherung führt. Richtig ist aber auch, dassein Ende der Beitragsfreiheit in keinem Fall zu entspre-chenden Mehreinnahmen bei den Sozialversicherungenführen würde. Vielmehr ist es realistisch, dass die Bei-tragsausfälle wegen der bestehenden Ausweichmöglich-keiten dauerhaft bestehen bleiben würden. Und wichtigist: Weder in der gesetzlichen Renten- noch in der Ar-beitslosenversicherung kommt es infolge der Beitrags-ausfälle zu einem Anstieg des Beitragssatzes. Bei der ge-setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung mussberücksichtigt werden, dass die Betriebsrenten bei Aus-zahlung der vollen Beitragspflicht unterliegen und damitdie Systeme langfristig stützen.

Bei der Abwägung haben wir selbstverständlich auchberücksichtigt, dass die Beitragsfreiheit die Rentenan-passung dämpft. Dieser Effekt ist aber vergleichsweisegering. Im Verhältnis zu den mit der Entgeltumwandlungverbundenen Vorteilen kann und muss er in Kauf ge-nommen werden.

Noch ein zweiter Regelungsbereich des Gesetzes istwichtig: Die Absenkung des Unverfallbarkeitsalters beiden Betriebsrenten von 30 auf 25 Jahre. Mit dieser Rege-lung unterstützen wir nicht nur den frühzeitigen Aufbaueiner Zusatzrente, sondern wir geben auch ein gleichstel-lungspolitisches Signal: Denn heute gehen viele arbeit-geberfinanzierte Betriebsrentenanwartschaften verloren,weil junge Frauen wegen der Kindererziehung vor dem30. Lebensjahr aus den Unternehmen ausscheiden. Daswollen wir künftig verhindern.

Die Altersvorsorge in Deutschland ruht auf den stabi-len Säulen – gesetzlich, betrieblich, privat. Zur Stärkungder betrieblichen Altersvorsorge stellt das vorliegendeGesetz die Weichen richtig.

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts: Bleiberecht als Menschenrecht (Ta-gesordnungspunkt 16)

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich habe bei unsererletzten Debatte im Bundestag über das Thema „Bleibe-recht“ betont, dass die Große Koalition eine Regelungfinden wird, die Humanität und Rechtsstaatlichkeit mit-einander verbindet, die eine Zuwanderung in die Sozial-systeme vermeidet und die für mehr und nicht wenigerIntegration sorgt.

Dies alles haben wir erreicht: Mit dem neuen Aufent-haltsgesetz und § 104 a haben wir ein gesetzliches Blei-berecht beschlossen, das vielen Ausländern in unseremLand eine faire Zukunftsperspektive anbietet und dasinsbesondere dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche,für die Deutschland längst Heimat geworden ist, Bil-dungschancen nutzen können.

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Dieses gesetzliche Bleiberecht ist eine richtige Fort-entwicklung der vorläufigen Altfallregelung, die die In-nenministerkonferenz im November 2006 getroffen hat.

Dieses gesetzliche Bleiberecht verlangt Integrations-leistungen von den Ausländern, die sich darauf berufenwollen, und es verlangt Achtung vor geltendem Recht.Kurzum: Unsere Bleiberechtsregelung stellt eine ge-rechte Abwägung zwischen den Interessen unserer aus-ländischen Mitbürger und den Interessen unseres frei-heitlichen Rechtsstaats dar, und wir werden als GroßeKoalition uns diese Bleiberechtsregelung von der Op-position nicht schlechtreden lassen.

Weil Grundlage dieser Debatte ein Antrag der Linkenist, können wir auch einmal schauen, wie das Bleibe-recht in der Praxis angewandt wird.

In Bayern sind zum Stichtag 30. Juni 2007 – wir ha-ben bisher nur Zahlen für den IMK-Bleiberechtsbe-schluss – von 3 000 Anträgen 1 123 positiv beschiedenworden – da gab es gleich eine Aufenthaltserlaubnis –,und in 1 197 Fällen ist die Duldung erstmal verlängertworden. Nur 337 Anträge – 13 Prozent – wurden abge-lehnt. In Baden-Württemberg, in Hessen und Nieder-sachsen ist das Bild ganz ähnlich.

In Berlin, wo die Linkspartei mitregiert, sind auch3 000 Anträge gestellt worden. Nur in 404 Fällen gab eseine Aufenthaltserlaubnis, aber in 420 Fällen – das sindüber 50 Prozent der bisher entschiedenen Anträge – istdas Bleiberecht abgelehnt worden. Die anderen Anträgesind möglicherweise mit Blick auf die gesetzliche Rege-lung noch gar nicht bearbeitet worden.

Insgesamt haben bereits 43 000 Ausländer entwedereine Aufenthaltserlaubnis oder zumindest eine Duldungzur Arbeitsplatzsuche erhalten. Über die Anträge vonweiteren 25 000 Geduldeten ist bisher noch nicht ent-schieden worden.

Die Linkspartei hat keinen Grund, irgendjemandemaußerhalb Berlins Hartherzigkeit vorzuwerfen, übrigensschon gar nicht Bayern.

Wahr ist auch, dass die Überschrift im Antrag derLinksfraktion falsch ist. Das Bleiberecht ist kein Men-schenrecht. Weder in UNO-Konventionen oder der Eu-ropäischen Menschenrechtskonvention werden sie einRecht darauf finden, dass ein Ausländer von sich ausentscheiden dürfte, in welchem Staat er gerade lebenmöchte.

Ein Bleibrecht – so haben wir es geregelt – ist nurdann vertretbar, wenn einem Ausländer und insbeson-dere seinen Kindern aus Gründen, die er selbst nicht zuvertreten hat, eine Rückkehr in sein ursprüngliches Her-kunftsland aus humanitären Gründen nicht zuzumutenist. Das muss der Maßstab für das Bleiberecht sein.

Genau gegen diese Grundsätze verstößt der Antragder Linksfraktion. Sie schreibt sogar ganz offen in ihremAntrag, dass ein Bleiberecht auch bei Täuschungen nichtausgeschlossen sein soll. Da sagen ich: dass ein Auslän-der, der jahrelang getrickst und die Behörden getäuschthat, der gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen und

etwa die Beschaffung von Passersatzpapieren vereitelthat, der dadurch hohe Sozialleistungen kassiert hat, dasssolch ein Ausländer obendrein auch noch mit einemBleiberecht für seine Gesetzesverstöße prämiert werdensoll, das ist mit uns nicht zu machen.

Gerade bei der Bleiberechtsregelung kam es daraufan, dass sie auch auf Akzeptanz in unserer heimischenBevölkerung stößt, dass sie Integrationsbereitschaftnicht gefährdet. Deshalb war es richtig, dass wir in § 104 aAufenthaltsgesetz vorsehen, dass derjenige kein Bleibe-recht erhält, der die Ausländerbehörde vorsätzlich überaufenthaltsrelevante Umstände getäuscht oder die Auf-enthaltsbeendigung vorsätzlich behindert hat.

Ich finde auch, dass wir die Mitarbeiter der Auslän-derbehörden nicht demotivieren dürfen. Sie versuchenunter schwierigen Bedingungen, im Interesse unseresfreiheitlichen Rechtsstaats Abschiebungen durchzuset-zen. Ihnen würden wir als Gesetzgeber in den Rückenfallen, wenn wir denjenigen ein Bleiberecht geben wür-den, die diese Beamten der Ausländerbehörden manch-mal jahrelang zum Narren gehalten haben. Was dieLinksfraktion da will, ist völlig unvertretbar.

Das gilt auch noch für einen anderen Punkt: Sie willdas Bleiberecht, das ihr vorschwebt, auch nicht von Inte-grationsleistungen abhängig machen. Sie verzichtet aufDeutschkenntnisse, sie verzichtet auf den Nachweis ei-nes Arbeitsplatzes und sie verzichtet darauf, dass Aus-länder ihre Kinder auf eine Schule schicken. Damit ze-mentiert sie Parallelgesellschaften. Damit verhindert sieein Miteinander von Deutschen und Ausländern. Damitvereitelt sie Integration. Damit dient sie niemandem: we-der den Deutschen noch den Ausländern.

Aber es geht ihr in Wahrheit auch nicht um Bleibe-recht und Integration. Das zeigt sich daran, dass siekeine Altfallregelung mit einem festen Stichtag will,sondern eine permanente, ungesteuerte Zuwanderungdurch Täuschen und Tricksen. Darauf läuft das hinaus,was sie hier vorschlägt: Sie weiß ganz genau, dassSchlepper und Schleuser darauf sofort reagieren, dassdiese jede gesetzliche Neuregelung ausnutzen, die eineungesteuerte Zuwanderung ermöglicht. Das ist doch dieErfahrung, die in Spanien und Italien nach den Legali-sierungskampagnen gemacht wurde. Ihr Antrag ist eineEinladung, eine Begünstigung für Schlepper und Schleu-ser. Ihr geht es nicht um Bleiberecht, ihr geht es um un-gesteuerte Zuwanderung. Das lehnen wir nicht nur ab,sondern die Intentionen, die hinter ihrem Antrag stehen,verurteilen wir.

Rüdiger Veit (SPD): Der Antrag der Fraktion DieLinke stammt vom 18. Dezember des letzten Jahres unddamit aus einer Zeit, als die Koalitionsfraktionen inten-siv über die Frage einer gesetzlichen Bleiberechtsrege-lung verhandelt haben. Diese haben wir dann in Gestaltder § 104 a und 104 b des Aufenthaltsgesetzes in derBundestagssitzung am 26. April 2007 verabschiedet. Ichkann mich zur Bewertung weitgehend auf meinen dama-ligen Redebeitrag beziehen, den ich wie folgt noch ein-mal zusammenfasse:

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Dass es überhaupt zu einer gesetzlichen Bleiberechts-regelung gekommen ist, ist meines Erachtens schon fürsich betrachtet ein großer Fortschritt. Denn wir sind da-mit nicht mehr allein abhängig vom Einvernehmen sämt-licher Innenminister der Länder, die in der Vergangen-heit mit ihren Konferenzen mehr oder eher wenigerwirksame Bleiberechtsregelungen beschlossen haben –zuletzt in der Sitzung am 17. November 2006, auf die jaauch der Antrag der Fraktion Die Linke Bezug nimmt.

Mit dieser gesetzlichen Regelung haben wir vor allemauch den bisherigen Teufelskreis für Geduldete durch-brochen. Denn früher hieß es: „Hast du keine Arbeit, be-kommst du keine Aufenthaltserlaubnis, hast du keineAufenthaltserlaubnis, darfst du gar nicht erst arbeiten.“Nach diesen Vorschriften kann bisher lediglich gedulde-ten ausländischen Mitbürgern eine Aufenthaltserlaubnisauch dann erteilt werden, wenn sie in der Zeit bis zum31. Dezember des Jahres 2009 ihren Lebensunterhalt– jedenfalls überwiegend – durch eigene Erwerbstätig-keit sicherstellen können. Vor allem in diesem Punktgeht die beschlossene gesetzliche Regelung deutlichweiter als die bisherigen Beschlüsse der Innenminister-konferenzen.

Ich will aber auch bei dieser Gelegenheit nicht ver-hehlen, dass ich mir durchaus eine noch großzügigereBleiberechtsregelung hätte vorstellen können. Dies giltvor allem für die meines Erachtens zu langen Mindest-aufenthaltszeiten von acht für Einzelpersonen bzw. sechsJahren bei Familien, dies gilt für die zu niedrig gewählteGrenze beim Ausschlusskriterium der Strafbarkeit (50bzw. 90 Tagessätze), dies gilt für den Regelausschlussaller Familienmitglieder, wenn nur ein Familienmitgliedsolche Straftaten begangen hat. Dies gilt vor allem auchfür die viel zu lange Mindestaufenthaltsdauer von sechsJahren für Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern min-derjährig nach Deutschland eingereist sind.

Was uns mit diesem Gesetz leider auch nicht gelungenist, ist die generelle Abschaffung der sogenannten Ketten-duldungen beispielsweise durch eine entsprechendeNeufassung des § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG.

Sie sehen also – dies gilt auch und gerade für dieFraktion der Antragsteller –, bei den von Ihnen ange-sprochenen Problemen sind wir als Sozialdemokratendurchaus sensibel und hätten selbst gerne mehr erreicht.

Mehr war nun allerdings mit unserem derzeitigen Ko-alitionspartner – leider – nicht möglich.

Aber ich will selbstkritisch auch einmal daran erin-nern, dass wir das, was uns jetzt mit den Kolleginnenund Kollegen von der CDU/CSU und mit InnenministerSchäuble gelungen ist, in der früheren rot-grünen Koali-tion nicht zustande gebracht haben.

Nunmehr gilt es abzuwarten, wie sich dieses Gesetz,das ja erst seit dem 27. August dieses Jahres in Kraft ist,in der Praxis bewährt. Die dazugehörigen vorläufigenAnwendungshinweise des Bundesministeriums des In-neren liegen gerade erst vor.

Nach den letzten mir zugänglichen Zahlen per30. Juni 2007 haben durch die Bleiberechtsregelung der

Innenministerkonferenz vom 17. November 2006 knapp15 000 Menschen eine Aufenthaltserlaubnis und rund28 000 eine Duldung zum Zwecke der Arbeitsaufnahmeerhalten.

Ich hoffe sehr, dass es gelingt, mit der weitergehendengesetzlichen Regelung noch wesentlich mehr von unse-ren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern – undvor allem den Kindern und Jugendlichen – eine dauer-hafte Perspektive durch einen gesicherten Aufenthalt inDeutschland zu bieten.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Umsetzungaufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäi-schen Union durch die Bundesregierung und der Kom-promiss der Innenministerkonferenz zum Bleiberecht istin vielerlei Hinsicht problematisch. Die Zuwanderunginsgesamt bedarf der Erörterung. Ein umfassendes Kon-zept zur Zuwanderungssteuerung fehlt nach wie vor.

Allerdings hilft es nicht weiter, wenn die Fraktion DieLinke nun fordert, auf jegliche Zuwanderungssteuerungzu verzichten. Die Linke lehnt in ihrem vorliegendenAntrag Sprachkenntnisse als Einreisebedingung ab. Sieverlangt, dass die Täuschung deutscher Behörden überdie persönliche Identität den Betreffenden nicht vorge-worfen werden darf. Die Linke spricht sich dafür aus,dass durch Migration und Integration entstehende Kos-ten für die Gesellschaft nicht mehr thematisiert werdensollen. Ein Arbeitsplatz soll keine Voraussetzung für dieErteilung einer Aufenthaltsgenehmigung sein. Die Linkemöchte, dass über „Zuwanderung in Sozialsysteme“nicht einmal mehr gesprochen werden darf.

Die Linke erweist damit den Bemühungen um Aus-länderintegration einen Bärendienst. Nachdrücklicherals durch diesen Antrag können ausländerfeindliche Vor-urteile kaum bekräftigt werden. Der Antrag würde an je-dem Stammtisch zu der Parole führen: Das haben wir jaschon immer gewusst. Wer im Kontext mit dem deut-schen Ausländerrecht wiederholt von „Entrechtung“spricht, muss sich vorwerfen lassen, die deutscheRechtsordnung systematisch zu diffamieren. Das passtsehr gut zur Alt-Stasi-Partei „Linke“.

Die Linke tut so, als müsse nur der Zugang zu denGeldquellen des deutschen Sozialsystems geöffnet wer-den, dann wären alle Probleme gelöst. Ein solches Men-schenbild ist nicht einmal im 19. Jahrhundert aktuell ge-wesen.

Aus Sicht der FDP ist Arbeit viel mehr als nur dieNotwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdie-nen. Arbeit ist ein entscheidender Integrationsfaktor. Sieermöglicht den Zuwanderern, finanziell auf eigenen Bei-nen zu stehen, fördert so das Selbstwertgefühl nicht nurdes Berufstätigen, sondern auch der Familienangehöri-gen. Sie ermöglicht soziale Kontakte und schafft Akzep-tanz in der Bevölkerung. Dies ist auch im Interesse derGesellschaft als Ganzes. Allerdings muss die Arbeitser-laubnis ohne Restriktion mit dem Bleiberecht gekoppelterteilt werden bzw. müssen im Vorfeld die Hürden fürden Arbeitsmarktzugang beseitigt werden. Ansonsten ist

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das Erfordernis, selbst für den Lebensunterhalt sorgen zukönnen, nicht praktikabel.

Der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt muss ge-währleistet sein und darf nicht durch Überbürokratisie-rung verhindert werden. Hier bleibt die Bundesregierungweit hinter dem Nötigen und Möglichen zurück. DieMöglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständi-gen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist deshalb sehr wohlein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Diesdient der Sicherstellung, dass keine Überinanspruch-nahme der Sozialleistungen oder Missbrauch erfolgt; esdient aber auch der Integration.

Unseres Erachtens ist es zudem sehr wohl relevant,dass geduldete Ausländer die Behörden nicht täuschenoder behindern, was ihren aufenthaltsrechtlichen Statusanbelangt. Rechtstreue und die erfolgreiche Integrationmüssen die entscheidenden Kriterien für die Erteilungeines Bleiberechts sein, nachgewiesen unter anderemdurch eigenständig gesicherten Lebensunterhalt, deut-sche Sprachkompetenz und Akzeptanz im persönlichen,sozialen Umfeld. Ebenso wie für die Frage der Rechts-treue und die der Integration in den Arbeitsmarkt gilt dasMitwirkungserfordernis auch für die deutsche Sprach-kompetenz.

Die Linke tut so, als wäre es für Menschen, die inDeutschland bleiben wollen, eine Zumutung, die deut-sche Sprache zu lernen. Tatsächlich ist es umgekehrt.Wer wirklich hier bleiben will, wird selbstverständlichauch die deutsche Sprache lernen wollen, müssen undkönnen. Dabei ist immer auch darauf hinzuweisen, dassdas auch ohne Betreuung in staatlichen Kursen möglichist – und dafür gibt es viele gute Beispiele.

Generell denke ich, dass wir Integration nicht zu-nächst als eine Bringschuld des Staates ansehen sollten,sondern die aktive Mitwirkung der Zuwanderer einfor-dern. Fördern und Fordern, klare Vorgaben und Perspek-tiven sind wesentlicher Bestandteil einer abgewogenenAusländerpolitik. Die Linken erwecken mit ihrem An-trag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein da-durch, dass sie sich fünf oder gar nur drei Jahre hierzu-lande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihreIntegration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberechterwirken. Das weckt falsche Hoffnungen.

Bundespräsident Köhler hat sich im Sommer aus-drücklich für eine Öffnung des deutschen Ausländer-rechts ausgesprochen – zu Recht. Die FDP teilt die Auf-fassung des Bundespräsidenten, dass unser Land mitWeltoffenheit besser fährt. Deutschland ist darauf ange-wiesen, als Standort für ausländische Mitarbeiter, For-scher und Entwickler sowie Unternehmer attraktiv zubleiben. Die Einstellung von ausländischen Hochqualifi-zierten sorgt für weitere Investitionen in Arbeitsplätzeund ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unterneh-men essentiell. Um die Arbeitsmigration sinnvoll zusteuern, hat die FDP hier konkrete Vorschläge gemacht,die auch von den Gewerkschaften und den Unternehmendringend angemahnt werden. Wir brauchen eine Zuwan-derungssteuerung mit nachvollziehbaren Kriterien.

Integrationspolitik muss werteorientiert sein. Zuwan-derer sind zu fördern, aber selbst auch klar gefordert. Diedeutsche Sprache, Demokratie und Rechtsstaat, dieGrund- und Menschenrechte sind das für alle geltendeFundament unserer Gesellschaft. Sie sind aber auch eineattraktive Zielsetzung für Integration. Hier bedarf es so-wohl deutlich ausgeweiteter Angebote und Anreize sei-tens des Staates als auch verständlicher Richtsätze, umein klares Erwartungsbild an die Migranten aufzuzeigen.

Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanzvon Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial-systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen unddie deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie fal-sche Erwartungen weckt und statt Engagement nur An-spruchsdenken fördert.

Wir Liberalen wollen dagegen Chancen eröffnen: Wirwollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht fal-sche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht,sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen,dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre Zu-kunft selbst erarbeiten können. Wir wollen, dass sie hierwillkommen sind.

Der Antrag der Linken würde genau das Gegenteilbewirken. Wir lehnen ihn klar und nachdrücklich ab.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Den vorliegenden Antraghaben wir im Frühjahr eingebracht, um für eine humaneBleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz zu sorgen.

Die Koalitionsfraktionen haben unterdessen beidesverhindert: Die nun geltende Regelung im § 104 Aufent-haltsgesetz ist nicht human, und sie ist keine Bleibe-rechtsregelung. Sie konnten sich nur zu einer inhumanenAltfallregelung durchringen.

Sie ist inhuman, weil sie nur solchen Geduldeten einAufenthaltsrecht gewähren will, die ökonomisch nütz-lich sind und den repressiven Integrationsvorstellungender Bundesregierung entsprechen. Deshalb wurden Be-dingungen gestellt, ohne die es kein Bleiberecht gibt:Erstens. Der bisher geduldete Aufenthalt muss mindes-tens sechs bzw. acht Jahre lang gewesen sein. Dadurchsind 100 000 Geduldete von vornherein ausgeschlossen.Zweitens. Nach jahrelangem Arbeitsverbot müssen dieBetroffenen auf einmal ein Haushaltseinkommen erzie-len, das über den Sätzen für Hartz IV liegt. Drittens müs-sen die Antragsteller die Mitwirkungspflichten bei Iden-titätsfeststellung und Passbeschaffung erfüllt haben.Damit haben Sie einen Gummiparagrafen geschaffen,denn nirgendwo ist eindeutig definiert, wann Verstößegegen die Mitwirkung nun definitiv ein Ausschlussgrundsind und wann nicht. Viertens haben Sie all jene vomBleiberecht ausgeschlossen, die sich geringfügige Straf-taten haben zuschulden kommen lassen oder unter Gene-ralverdacht stehen, Bezüge zu extremistischen oder ter-roristischen Gruppen zu haben. Per Sippenhaft sind dieFamilien der Betroffenen ebenfalls ausgeschlossen.

Dennoch haben Sie sich in der Öffentlichkeit als Sa-mariter gegeben. Doch um die Geduldeten und ihre Be-dürfnisse und Interessen geht es Ihnen gar nicht. DieUnion hat ohne jeden nachvollziehbaren Sachzusam-

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menhang die Altfallregelung mit Verschärfungen imAsyl- und Aufenthaltsrecht verknüpft. Ein Beispiel: DerBezug um 40 Prozent verminderter Sozialleistungen istvon drei auf vier Jahre verlängert worden. Wie dieseMenschen leben müssen, ist unzumutbar!

Beschämend in diesem Zusammenhang ist aber auchdas Verhalten der SPD-Fraktion und ihres Verhandlungs-führers Rüdiger Veit. Sie haben eine völlig unzurei-chende Altfallregelung mit Zugeständnissen erkauft, diedie Lebenslage vieler Zehntausend Menschen extremverschlechtert. Damit meine ich nicht nur die Änderungam Asylbewerberleistungsgesetz, sondern auch die Neu-regelung des Familiennachzugs. Dem Bundestag lagenqualifizierte Vorschläge für eine wirkliche Bleiberechts-regelung vor, die von Flüchtlingsorganisationen unter-stützt werden und an denen Sie sich hätten orientierenkönnen. Aber stattdessen haben wir nun eine Altfallrege-lung, die wieder nur einem kleinen Teil der langjährigGeduldeten hilft.

Die Skepsis der Linksfraktion ist wohl begründet. Dieletzten Zahlen zur Umsetzung der IMK-Altfallregelungsprechen eine deutliche Sprache. Zum 30. Juni habenüber 71 000 Personen einen Antrag auf Aufenthaltser-laubnis gestellt, von 170 000 Geduldeten insgesamt. We-niger als 15 000 haben eine Aufenthaltserlaubnis erhal-ten. Das freut mich für diese 15 000, aber das ist deutlichzu wenig! Weitere 30 000 haben eine Duldung erhalten,um sich einen Arbeitsplatz suchen zu können.

Sie werden nun eine sogenannte „Aufenthaltserlaub-nis auf Probe“ erhalten. Damit verbessert sich ihr Statusnur unwesentlich. Wohnsitzbeschränkende Auflagengelten weiter, solange sie keinen Arbeitsplatz haben. DerDruck auf die Betroffenen ist also weiter enorm hoch.Gleichzeitig sind die Aussichten auf einen niedrigquali-fizierten Job, mit dem sich eine Familie ohne ergänzendeSozialhilfe ernähren lässt, enorm schlecht. Falls sie einesolche Arbeit bekommen, haben die Arbeitgeber eindauerndes Druckmittel in der Hand – den drohendenVerlust der Aufenthaltserlaubnis bei Kündigung.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Vonden beiden bestehenden Altfallregelungen werden vielzu wenig Betroffene begünstigt. Die Hürden sind zuhoch, für alte und kranke Menschen unerreichbar. Undvor allem: Das Versprechen, das Problem der Kettendul-dungen aus der Welt zu schaffen, haben Sie damit nichteingelöst. Dafür hätte es weitreichender und mutigerSchritte bei der Reform des humanitären Aufenthalts-rechts gebraucht. Zu diesen Schritten waren Sie politischnicht willens. Eine Lösung im Sinne der Betroffenensteht weiterhin aus.

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Auch bei einer erneuten Beratung des Themasbleibe ich dabei: Die von der Koalition im Rahmen desEU-Richtlinienumsetzungsgesetzes beschlossene Alt-fallregelung ist deutlich zu restriktiv. Denn sie hat imWesentlichen die einschränkenden Bedingungen des Be-schlusses der Innenministerkonferenz übernommen. Da-mit wurde das Problem der Kettenduldungen nicht gelöstund Integrationschancen vertan.

Eine Reihe von Voraussetzungen für die Erlangungeines Aufenthaltstitels nach der Altfallregelung sindüberdies so unpräzise – und damit auch rechtsstaatlichbedenklich formuliert – dass kaum prognostiziert wer-den kann, wann es zu positiven Entscheidungen kom-men wird und wann nicht. Überdies wird das Problemdadurch verschärft, dass die vorgeschlagenen Regelun-gen extrem unübersichtlich sind. Schließlich ist es ganzbesonders bedenklich, dass im geänderten Zuwande-rungsgesetz das Bestehen einer nach Art. 6 Grundgesetzschützenswerten Familie nicht primär zum Anlass fürpositive Regelungen genommen wurde, sondern Fami-lienmitglieder in völlig unangemessener Weise in eineForm der Sippenhaft genommen werden. Hier möchteich insbesondere auf die Regelung in § 104 b Aufent-haltsgesetz hinweisen, nach der der Jugendliche bleibenkann, die Eltern aber ausreisen müssen. Eine wirklichhumanitäre Lösung und eine Beendigung des Zustandesder Kettenduldung lassen sich damit mit dem Regie-rungsvorschlag nicht erreichen. Daher lehnen wir ihn ab.

Angesichts der Erfahrungen mit der Anwendung derden Bleiberechtsbeschluss umsetzenden Länderanord-nungen besteht die ernsthafte Gefahr, dass das Ziel desEntwurfs, langjährig im Bundesgebiet geduldeten undintegrierten Ausländern eine dauerhafte Perspektive imBundesgebiet zu eröffnen, durch intensive Anwendungder Ausschlussgründe in sein Gegenteil verkehrt wird.Ein Beleg für diese Befürchtung ist der Bericht des Bun-desinnenministeriums zur Umsetzung des Bleiberechts-beschlusses vom 7. Mai 2007, wonach von den 58 259gestellten Anträgen 5 004 positiv entschieden, jedoch3 402 überwiegend aufgrund von Ausschlussgründenzurückgewiesen wurden. Es sollte der Koalition zu den-ken geben, dass die Zahl der zurückgewiesenen Anträgenicht deutlich unterhalb der der positiven Entscheidun-gen liegt, obwohl es sich in beiden Fällen um faktisch in-tegrierte Personen handelt, deren rechtliche IntegrationZiel des Bleiberechtsbeschlusses ist.

Unsere Kritikpunkte an den Bedingungen der gesetz-lichen Bleiberechtsregelung nochmals zusammenge-fasst:

Die geforderte Mindestaufenthaltszeit – acht Jahrebzw. sechs Jahre bei Familien mit Kindern – ist zu langund wird von fast der Hälfte der Geduldeten nicht erfüllt.

Darüber hinaus gibt es einen langen Katalog von Be-dingungen: von Deutschkenntnissen über den Grundsatzder Erwerbstätigkeit bis zur Straflosigkeit. Beim letztenPunkt sieht die Bundesregierung sogar eine Art Sippen-haft vor: Hat ein Familienmitglied Straftaten begangen,werden auch alle anderen vom Bleiberecht ausgeschlos-sen.

Besonders problematisch: Die Ausländerbehörde darfnicht „getäuscht“ worden sein und Mitwirkungspflichtenbei der eigenen Aufenthaltsbeendigung dürfen nicht ver-letzt worden sein. Beides unterstellen viele Ausländerbe-hörden bei fast allen langjährig Geduldeten und sie ver-stehen unter „vorsätzlicher Verzögerung“ nicht seltenbereits die Beschreitung des Rechtsweges. Ausländerbe-hörden erhalten mit der vorgesehenen Regelung also dieMöglichkeit, nahezu jeden Antrag abzulehnen.

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Erwerbsunfähige – Kranke, Behinderte – und Altewerden faktisch vom Bleiberecht ausgeschlossen, dennfür sie müssen Lebensunterhalt, Betreuung und Pflegeohne staatliche Hilfe sichergestellt sein. Das ist praktischunerfüllbar, weil sich kaum eine Krankenkasse findenwird, die bereit ist, sie aufzunehmen.

Gut integrierten Schülerinnen und Schülern im Altervon 14 bis 18 Jahren bietet die Bundesregierung ein ei-genständiges Aufenthaltsrecht an – unter der Bedingung,dass die Eltern ausreisen. Das ist zynisch, familienfeind-lich und zudem unrealistisch.

Die Länder können entscheiden, dass diejenigen, dieeine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erhalten ha-ben, weiterhin nur Lebensmittelpakete nach dem Asyl-bewerberleistungsgesetz erhalten.

Aus unserer Sicht ist zweierlei erforderlich, um demProblem der Kettenduldung zu begegnen. Zum einenbrauchen wir eine großzügige Altfallregelung mit Bedin-gungen, die der Großteil der Geduldeten tatsächlich er-füllen kann. Zum anderen brauchen wir grundsätzlicheVerbesserungen bei der Ermöglichung des Aufenthaltsaus humanitären Gründen, damit auch in Zukunft – jen-seits von Stichtagen – der Übergang von der Duldungzur Aufenthaltserlaubnis erreicht werden kann. Zu bei-den Ansätzen hat die grüne Bundestagsfraktion frühzei-tig Anträge eingebracht, die aber – entgegen mancherÄußerungen in der Presse – dann bei den entscheidendenAbstimmungen von den Koalitionsabgeordneten abge-lehnt wurden.

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierungdes Rechts der landwirtschaftlichen Sozial-versicherung (LSVMG)

– Unterrichtung: Bericht nach § 99 der Bun-deshaushaltsordnung über die Umsetzungund Weiterentwicklung der Organisations-reform in der landwirtschaftlichen Sozial-versicherung

(Tagesordnungspunkt 19 a und b)

Gitta Connemann (CDU/CSU): Soziale Sicherheitfür die Menschen im ländlichen Raum – dafür steht dielandwirtschaftliche Sozialversicherung, über die wirheute debattieren. Sie ist das berufsständische Siche-rungssystem, das unsere Land- und Forstwirte, unsereGärtner und ihre Familien gegen Unfall, Krankheit, Ge-brechen und Alter absichert. Die landwirtschaftlicheSozialversicherung hat sich in der Vergangenheit hervor-ragend bewährt. Zugleich konnte ein rasanter Struktur-wandel bislang sozial abgefedert werden.

Die Herausforderungen werden aber größer. Mit Aus-nahme des Gartenbaus nimmt die Zahl der landwirt-schaftlichen Betriebe von Jahr zu Jahr ab. Die Zahl derversicherten Beitragszahler wird geringer und die Zahl

der Empfänger steigt überproportional. Damit wächstdie Kostenbelastung der aktiv wirtschaftenden Land-wirte und ihre Sorge. Denn gerade die die Sicherheit derVersorgung im Alter ist für unsere Bäuerinnen und Bau-ern, die Altenteiler, ein hochsensibles Thema, das mitÄngsten verbunden ist.

Es besteht Handlungsbedarf. Für diese Feststellungbrauchte es nicht des aktuellen Berichts des Bundesrech-nungshofes. Ich bin dankbar, dass sich die Bundesregie-rung unter Führung von Herrn Minister Seehofer derAufgabe gestellt hat, die landwirtschaftliche Sozialversi-cherung zukunftsfest zu machen.

Nach vielen Jahren, in denen einerseits die Bundes-mittel, etwa für die landwirtschaftliche Unfallversiche-rung, gekürzt worden sind und andererseits systemsi-chernde Vorschläge des Berufsstandes außer Achtgelassen worden sind, kann dieser Kraftakt nicht hochgenug bewertet werden. Es besteht Einigkeit: Das Ge-setz zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftli-chen Sozialversicherung muss 2008 in Kraft treten.

Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf wollen wirerreichen, dass die agrarsozialen Sicherungssysteme sta-bilisiert und an den nach wie vor anhaltenden Struktur-wandel angepasst werden. Nur so lassen sich stabile Bei-träge erreichen. Der Gesetzentwurf sieht zahlreicheMaßnahmen vor, die organisatorische Änderungen in derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung beinhalten. Auchim Leistungs- und Beitragsbereich der landwirtschaftli-chen Unfallversicherung wird es zu Änderungen kom-men.

Letztere Änderungen werden vom landwirtschaftli-chen Berufsstand mitgetragen, dem ich an dieser Stellehöchstes Lob zollen und Dank sagen möchte. Ich kennekeine andere Branche, die schon so frühzeitig betrieblichdurchaus schmerzhafte Änderungen des Leistungsrechtsangemahnt hat, um mittelfristig spürbare finanzielle Ein-sparungen im Bereich der landwirtschaftlichen Unfall-versicherung zu erreichen. Bereits im Februar 2004 ha-ben Deutscher Bauernverband und Gesamtverband derDeutschen Land- und Forstwirtschaftlichen Arbeitgeber-verbände Maßnahmen gefordert, die jetzt zum überwie-genden Teil in dieses Gesetz mit eingeflossen sind. Überweitere Vorschläge – etwa über den Vorschlag einer ren-tenentschädigungspflichtigen Minderung der Erwerbsfä-higkeit erst ab 30 Prozent anstelle von bisher 20 Prozentund den Wegfall des Rentenbezuges ab Erreichen derRegelaltersrente – wird im Lauf des Gesetzgebungsver-fahrens zu sprechen sein. Der Berufsstand hat damit frü-her als alle anderen seine Hausaufgaben gemacht.

Die Landwirtschaft, die sich so vorbildlich einge-bracht hat, hat verdient, dass sich der Bund seiner Ver-antwortung ihr gegenüber bekennt. Und das hat er mitseinen Haushaltsplanungen für 2008 getan.

Denn im Entwurf für den Haushalt des Bundesminis-teriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz für das Jahr 2008 sind einerseits 100 MillionenEuro als Beitragszuschuss für die landwirtschaftlicheUnfallversicherung vorgesehen. Gleichzeitig sollen ins-gesamt 400 Millionen Euro zusätzlich aus Vermögens-verkäufen zur Verfügung gestellt werden, um die Emp-

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fänger von kleineren Unfallrenten im Rahmen einerzeitlich begrenzten Aktion abzufinden. Weitere 250 Mil-lionen Euro sind von den landwirtschaftlichen Berufsge-nossenschaften aus dem Vermögen aufzubringen. Ziel istes, den Rentenaufwand dauerhaft um 100 Millionen Eurozu senken.

Das Interesse an dieser Abfindung ist zu Recht hoch.Denn bei vielen wird sich, quer durch alle Altersgrup-pen, die Abfindungsregelung rechnen. Allerdings ist dieFeststellung immer für den Einzelfall unter entsprechen-der Flankierung von landwirtschaftlichen Berufsverbän-den und Berufsgenossenschaften zu treffen. Damit esnicht zu Schlechterstellungen kommt, ist im Verlauf desGesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob die paralleleWeitergeltung der Abfindungsregelungen des SGB VIIdazu führen kann, dass die Abfindungssumme insbeson-dere in den ersten 15 Jahren nach dem Unfall nach denRegeln der Sonderaktion niedriger ausfällt als nach Nor-malrecht. Zum anderen beziehen sich die Werte der Ab-findungstabellen auf Sterbetafeln der 60er-Jahre. Für denFall, dass im Rahmen einer Reform des Rechts der ge-setzlichen Unfallversicherung dann aktuelle Sterbetafelnund damit zwangsläufig bessere Kapitalisierungsfakto-ren zur Anwendung kämen, müsste gegebenenfalls auchüber die Aufnahme einer einschlägigen Vorbehaltsklau-sel nachgedacht werden.

Aus meiner Sicht ist es absolut begrüßenswert, dassdie landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften ver-pflichtet werden sollen, ihre Beitragsmaßstäbe, wohlge-merkt bei regionaler Festsetzung, flächendeckend amUnfallrisiko zu orientieren. Die LandwirtschaftlichenBerufsgenossenschaften Niedersachsen-Bremen und Nord-rhein-Westfalen haben diesen Schritt schon vollzogen.Andere, zum Beispiel die Landwirtschaftlichen Berufs-genossenschaften Schleswig/Holstein und Hamburg,Hessen-Rheinland-Pfalz und Saarland, Niederbayern/Oberpfalz und Schwaben sowie Baden-Württembergwerden in absehbarer Zeit folgen.

Diese Anwendung risikoorientierter Beitragsmaß-stäbe in ganz Deutschland ist aus meiner Sicht eine we-sentliche Gerechtigkeitsvoraussetzung für den geplantenpartiellen Lastenausgleich zwischen den landwirtschaft-lichen Berufsgenossenschaften. Strukturell benachtei-ligte landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, diehohe Kosten für Altrenten tragen müssen, sollen entlas-tet werden.

Grundsätzlich ist es richtig, mithilfe einer Lastenver-teilung unter den landwirtschaftlichen Berufsgenossen-schaften bundesweite Solidarität herzustellen. Solidaritätbedeutet aber immer auch, Lastenverschiebungen inner-halb des Systems vorzunehmen. Innerhalb des Systemswürde dies zu Lastenverschiebungen beispielsweise vomNorden und vom Osten in den Süden. Die Selbstverwal-tung hat hier sicherlich einen hohen Grad an solidari-scher Verantwortung. Auch die landwirtschaftlichen Be-rufsgenossenschaften im Norden sind aufgrund derbundespolitischen Forderung nach mehr innerlandwirt-schaftlicher Solidarität nicht grundsätzlich abgeneigt.Über die inhaltliche Ausgestaltung muss jedoch schonallein deswegen noch beraten werden, weil verlässliche

Berechnungen nicht bekannt sind. Modellberechnungendurch das BMELV, aus dem sich die Auswirkungen desmit den derzeitigen Parametern vorgesehenen Aus-gleichsverfahrens ergeben – es geht um die Frage, ob dieZielsetzung des Gesetzgebers damit erreicht wird –,wurden bisher nicht vorgelegt.

Es fehlt die nachvollziehbare Definition des Eigenan-teils einer jeden landwirtschaftlichen Berufsgenossen-schaft sowie auch die Parameter der Altlastverteilung,eines Ausgleichsverfahrens im engeren Sinne. Analogder Bestrebungen im Bereich der gewerblichen Berufs-genossenschaften sollte dies der Selbstverwaltung desLSV-Spitzenverbandes unter Setzung einer angemesse-nen Frist überlassen werden. Das wäre nun wirklich einewichtige und zentrale Aufgabe eines bundesweit zustän-digen Gremiums.

Es darf nicht dabei bleiben, dass die Verteilung derAltlast nach beitragsbelastbaren Flächenwerten erfolgt,die auf die Lage jeder einzelnen Parzelle abstellt. Diesist nämlich mit den derzeit vorhandenen Daten der LSV-Verwaltungsgemeinschaften nicht möglich. Hierzu wäredie aus wirtschaftlichen Gründen bisher stets zurückge-wiesene Einführung eines Flurstückkatasters erforder-lich.

Vor allem scheint mir die Festlegung der von den ein-zelnen LBGen zu tragenden Neulast mit dem zweifachender Jahresrenten der letzten 5 Jahre eher willkürlich zusein; sie überstrapaziert den solidarischen Altlastenaus-gleich.

Ich möchte dies am Beispiel des Gartenbaus beispiel-haft deutlich machen. Die Situation dort unterscheidetsich erheblich von der in der übrigen Land- und Forst-wirtschaft. Dies gilt nicht nur für den Kreis der Versi-cherten, sondern auch für die Zahl der versichertenUnternehmen. So ist die Zahl der versicherten Unterneh-men in den letzten zehn Jahren entgegen der sonstigenEntwicklung erheblich gestiegen. Im Übrigen sind beiden Sozialversicherungsträgern für den Gartenbau er-heblich mehr Arbeitnehmer als Unternehmer versichert.Viele der jetzt debattierten Änderungen sind bereits um-gesetzt. Es gibt einen bundeseinheitlichen Träger sowieeinen bundesweit einheitlichen Beitragsmaßstab. DerGartenbau soll nun nach dem vorliegenden Entwurf wieein regionaler Träger in den innerlandwirtschaftlichenSolidaritätsausgleich einbezogen werden. Angesichtsder zu erwartenden erheblichen finanziellen Zusatzlast,die sich zwingend auf die Beiträge niedergeschlagenmuss, wird diese Einbeziehung abgelehnt. Ich kann diespersönlich nachvollziehen. Denn hier kann der Eindruckentstehen, dass die Gartenbaubetriebe nach Vorleistungerneut zur Kasse gebeten werden sollen.

Es gibt also durchaus noch Klärungs- und Abstim-mungsbedarf. Die Betroffenen müssen die Möglichkeithaben, sich zu äußern. Deshalb ist es auch gut und ver-nünftig, wie geplant eine Anhörung durchzuführen.Denn so können offene Fragen, auch strittige Punkte er-örtert werden. Die Große Koalition zeigt damit mehrWeisheit und auch Demokratieverständnis als die dama-lige Bundesministerin Renate Künast. Unter ihrer Ägidewurde 2001 eine Organisationsreform in der landwirt-

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schaftlichen Sozialversicherung beschlossen – hemdsär-melig, ohne vorherige Anhörung. Das ist nicht unserStil. Wir setzen auf den konstruktiven Dialog mit unse-rem Berufsstand, seinen Verbänden, den Sozialversiche-rungsträgern und ihren Mitarbeitern. Denn wie schonJoseph Joubert wusste: Nicht Sieg sollte der Sinn derDiskussion sein, sondern Gewinn.

Marlene Mortler (CDU/CSU): Die landwirtschaftli-che Unfallversicherung muss dringend reformiert wer-den. Das war unsere langjährige Forderung als Union inder Opposition. Nun ist es soweit. Heute haben wir dieerste Lesung. Aber bis hierhin war es ein langer Weg.Die ersten Eckpunkte wurden in der Koalitionsvereinba-rung von Schwarz-Rot gelegt. Die wichtigsten Ziele sindeine angemessene Beitragsbelastung der landwirtschaft-lichen Betriebe und innerlandwirtschaftliche Solidarität.Uns ist klar, dass diese beiden Punkte am besten durchdie Schaffung eines Bundesträgers erfüllt werden könn-ten. Schon im Koalitionsvertrag haben wir darauf hinge-wiesen: Sollte die Schaffung eines Bundesträgers nichtmöglich sein, ist ein anderer Mechanismus zur Stärkungder innerlandwirtschaftlichen Solidarität erforderlich.

Ich danke an dieser Stelle Horst Seehofer. Er hat mitbeispielhaftem Geschick dieses Gesetz auf den Weg ge-bracht. Und ich sage ausdrücklich: Diese Reform hat ih-ren Namen auch wirklich verdient. Trotzdem wird biszum heutigen Tag über Vorteile, über Nachteile, übermehr Einfluss, über mehr Gerechtigkeit, über mehrGeld, über mehr Kontrollen diskutiert. Wir haben unsnicht beirren lassen und immer wieder das große Ganzeim Blick behalten. Zunächst mussten viele grundsätzli-che Fragen geklärt werden, zum Beispiel: Kann das Sys-tem nicht auf eine private Versicherungsbasis gestelltwerden? Die Antwort der privaten Versicherungswirt-schaft lautet: Mit der alten Last können wir es nicht billi-ger machen und ohne alte Last nicht besser.

Die zweite Frage: Welche finanziellen Auswirkungenhätte die Umstellung des LUV-Systems auf ein kapital-gedecktes Sicherungssystem? Das Ergebnis eines aus-führlichen wissenschaftlichen Gutachtens war: Es wirdfür beide, für den Bund, aber insbesondere auch für dieVersicherten sehr teuer. Ein kostenentlastender Effektstellt sich zudem nur äußerst mittel- bis eher langfristigein. Also schied auch diese Möglichkeit aus.

Dritte Frage – und damit waren wir wieder am Aus-gangspunkt –: Wie können wir unser umlagenfinanzier-tes Versicherungssystem zukunftsfest machen? Wie kön-nen wir es sinnvoll reformieren? Sinnvoll heißt für mich:Wie können die landwirtschaftlichen Betriebe beitrags-mäßig entlastet werden? Denn Jahr für Jahr gibt es im-mer weniger Beitragszahler auf der einen und immermehr Leistungsempfänger auf der anderen Seite.

Der entscheidende Kern unserer Reform ist eine Ab-findungsaktion von Unfallrenten. Das heißt, jeder Bezie-her einer Unfallrente, auch Arbeitnehmer deren MDEunter 50 Prozent liegt, kann einen Antrag auf einmaligeAbfindung stellen. Durch das Herauskaufen der Unfall-renten soll der Rentenbestand – also die sogenannte alte

Last – um 100 Millionen von 400 auf 300 MillionenEuro reduziert werden.

Damit diese Aktion voll und schnell greifen kann, istes wichtig, dass das Gesetz zum 1. Januar 2008 pünkt-lich in Kraft tritt. Denn die Abfindungsaktion ist auf dieJahre 2008 und 2009 begrenzt. Nur für diesen Zeitraumund nur in diesen beiden Jahren gibt es mehr Geld vomBund, in Höhe von jeweils 200 Millionen Euro.

Das ist nicht selbstverständlich. Ich danke an dieserStelle Horst Seehofer ein zweites Mal. Er ist der Bundes-minister, der die Bundesmittel für die landwirtschaftli-che Unfallversicherung in seiner Amtszeit nicht gekürzthat. Im Gegenteil: Er nimmt zusätzliches Geld in dieHand für eine tragfähige Reform. Aber nicht nur derBund nimmt zusätzliches Geld in die Hand, sondernauch die regionalen Berufsgenossenschaften sind gefor-dert.

Wird zum Beispiel eine Unfallrente mit 16 250 Euroabgefunden, dann stammen 10 000 Euro vom Bund und62,5 Prozent – in diesem Fall 6 250 Euro – muss die je-weilige Unfallversicherung drauflegen. Uns ist bewusst,dass es der einen Berufsgenossenschaft sehr leicht fallenwird und der anderen Berufsgenossenschaft sehr, sehrschwer fallen wird weiteres, eigenes „freies“ Geld auf-zubringen.

Deshalb ist die nächste entscheidende Frage: Wasmüssen wir tun, damit die neue alte Last nicht wieder an-wächst und der positive Effekt der Abfindungsaktionschon nach ein paar Jahren verpufft ist? Das heißt, wirbrauchen weitere Stellschrauben, um Einsparungen inder Unfallversicherung zu erzielen. Hier gibt es zweiMöglichkeiten. Zum einen im Leistungsbereich und zumanderen bei den Verwaltungskosten. Aus meiner Sichtreichen die Stellschrauben im Leistungsbereich längstnicht aus. Wir werden zwar die Selbstbeteiligung bei derBetriebs- und Haushaltshilfe einführen. Wir werden au-ßerdem die Wartezeit bei Unfallrenten von derzeit 13 auf26 Wochen erweitern. Aber zu einer ehrlichen Diskus-sion gehört es, aufzuzeigen, dass zum Beispiel über einDrittel des jährlich entstehenden Neurentenvolumens aufAltenteilerrenten entfallen.

Wollen wir also auf Dauer zu einer echten Kostenent-lastung kommen, müssen wir den Vorschlag intensiv aufden Ausgabenblock mit dem größten Einsparpotentialschauen. Was spricht also dagegen, dass man Altentei-lern, die bereits über Altersrenten und Austragsleistun-gen abgesichert sind, bei einem neu eintretenden Berufs-unfall keine Rente mehr gewährt? Ich will aberklarstellen: In bestehende Rentenverhältnisse soll kei-nesfalls eingegriffen werden. Andererseits erhalten Al-tenteiler schon nach geltendem Recht eine deutlich redu-zierte Unfallrente. Damit wird auch nur noch derabstrakte Gesundheitsschaden ausgeglichen.

Zum Lastenausgleich. Bei diesem Punkt gibt es nachmeiner Meinung die größten Missverständnisse. Fakt ist:Seit 1963 erhalten landwirtschaftliche Berufsgenossen-schaften jährlich Bundesmittel zur Beitragssenkung.1980 hat man mit Zustimmung aller Berufsgenossen-schaften den sogenannten 79er-Schlüssel eingeführt. Auf

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Heute übertragen heißt das: Von den zurzeit gewährtenBundesmitteln in Höhe von 200 Millionen Euro werden14 Millionen umverteilt. Sie werden deshalb umverteilt,weil es regional unterschiedliche Strukturen gibt. Obkleinere Betriebe, größere Betriebe, mehr Strukturwan-del, weniger Strukturwandel: Unterbelastete LBGenwerden also belastet und überbelastete LBGen werdenentlastet. Das ist bis heute so gewollt und akzeptiert.

Spätestens ab 2010, wenn es nur noch 100 MillionenBundesmittel gibt, kann dieser Mechanismus nicht mehrvoll greifen. Das heißt, wir brauchen eine Anschlussre-gelung für den sogenannten 79er-Schlüssel. Denn statt14 Millionen hätten wir nur noch 7 Millionen Euro Um-verteilungsmasse. Das LSVMG sieht deshalb rund3,2 Prozent des gesamten Umlagevolumens für die soli-darische Umverteilung vor.

Noch eines muss ich klarstellen: Die Einführung desLastenausgleichs hat mit der Umstellung der Beitrags-maßstäbe überhaupt nichts zu tun. Das ist alleine Sacheder regionalen Träger. Ein Bundesträger hätte viel gra-vierendere Auswirkungen. Allerdings begrüße ich es,dass der Gesetzentwurf vorsieht, dass die einzelnenLBGen ihre Beitragsmaßstäbe verändern. Es soll zwarkein bundeseinheitlicher Beitragsmaßstab geschaffenwerden, aber die Berufsgenossenschaften müssen zwin-gend dafür sorgen, dass sie ihre Maßstäbe wesentlich ri-sikogerechter ausgestalten. Ich fordere alle Berufsgenos-senschaften auf, ihre Hausaufgaben bis spätestens Endedes Jahres 2008 zu machen.

Ein Bundesträger muss nicht automatisch besser undwirtschaftlicher arbeiten. Aber im Bericht des Bundes-rechnungshofs zur Organisationsreform in der LSV vom17. Juli 2001 wird klar: Keiner der verbliebenen Trägerhat seine Aufgaben so gut gemacht, dass wir zufriedensein könnten. Deshalb ist unsere Antwort: Wenn keinBundesträger durchzusetzen ist, brauchen wir einen ge-meinsamen Spitzenverband, auf den weitere Aufgabenkonzentriert werden müssen. Das sind vor allem Zentral-und Querschnittsaufgaben. Und der Nutzen der ange-strebten Synergieeffekte muss am Ende den landwirt-schaftlichen Betrieben zugute kommen.

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Der Bundes-rechnungshofbericht über die Umsetzung der Organisa-tionsreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherungzeigt einen deutlichen Handlungsbedarf auf. Mit demGesetz zur Modernisierung des Rechts der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung ziehen wir die Konse-quenzen daraus, soweit es uns möglich ist. Ich betone:soweit es uns als Bund möglich ist.

Notwendig wäre eine weitreichende Reform. Es ist jakein Geheimnis, dass ich weiterhin einen Bundesträgerals die beste Lösung ansehe. Es gab dazu sowohl vonden Ministerien als auch von uns Abgeordneten etlicheGespräche. So gut es ist, dass wir hier auf Bundesebenealle an einem Strang ziehen, so bedauerlich ist es, dassdie Länder sich einfach querstellen und sogar Vorschlägeim Bundesrat auf den Tisch legten, die hinter die Reformvon 2001 zurückfallen.

Wir wollen die landwirtschaftliche Sozialversiche-rung für die Zukunft erhalten. Das geht aber nur, wennalle ihre Hausaufgaben machen. Der Bund hat seine Ver-antwortung immer wahrgenommen. Sie wissen, dass wirin der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen dazu ge-leistet haben. Ich will nur darauf verweisen, dass wirzweimal Bundesvermögen veräußert haben, um die Bei-träge stabil zu halten. Und wir stehen dazu, dass derBund seine finanzielle Unterstützung fortsetzen wird, al-lerdings nur, wenn diese Mittel sparsam und wirtschaft-lich verwendet werden. Eine Blockade von Trägern odervon den Ländern gefährdet den Bundeszuschuss.

Ich weiß, dass manche Länder die Position vertreten,eigentlich passe ja alles, nur der Bundeszuschuss sei zuniedrig. Es gibt auch immer noch Menschen, die glau-ben, die Welt sei eine Scheibe. Es ist endlich einmal ander Zeit, dass die Länder anerkennen, dass sie in derPflicht sind.

Wir müssen nicht nur unserem Haushaltsausschussbegründen können, warum wir in den nächsten zwei Jah-ren 400 Millionen Euro zusätzlich für die Abfindungsak-tion ausgeben wollen, sondern besonders allen Steuer-zahlern. Schauen Sie in den Bundesrechnungshofbericht,er lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Bundesmittel wirdes in Zukunft nur geben, wenn wir eine effektive Organi-sation hinkriegen.

Wir brauchen einen deutlichen Schritt nach vorne.Das, was dem Bundesrat an Empfehlungen vor seinerSitzung morgen vorliegt, ist ein Schritt zurück. Die Län-der, die eine effektive Organisation verhindern, müssensich über eines klar sein: Sie müssen dann aber auch dieScherben zusammenkehren.

Wir haben mit dem LSV-Modernisierungsgesetz ei-nen Vorschlag auf dem Tisch liegen, der gerade für dieUnfallversicherung eine deutliche Stabilisierung für dieZukunft bringen kann. Die Abfindungsaktion wird dieKosten für die Zukunft nachhaltig reduzieren. Dasselbegilt für die Veränderungen im Leistungsbereich, die ausmeiner Sicht tragbar sind.

Weitere Vorschläge zum Leistungsrecht sind an unsherangetragen worden. Wir werden dies in der Anhörungund in den Ausschussberatungen prüfen. Aber auch hierliegen Vorschläge auf dem Tisch, die eine Kostenverla-gerung auf den Bund bedeuten. Ich bin für vieles offen,aber solchen Vorschlägen werden wir nicht zustimmen.

Handlungsbedarf besteht auch wegen der eklatantenBeitragsunterschiede zwischen den verschiedenen Trä-gern für vergleichbare Betriebe. Auch dazu enthält unserGesetzentwurf Vorschläge, die wir sicher noch ausführ-lich diskutieren werden. Es gibt also die Notwendigkeitund den Spielraum für mehr Solidarität innerhalb derLandwirtschaft – die Notwendigkeit vor allem deshalb,weil erst dann, wenn diese Spielräume genutzt sind, dieSolidarität der Steuerzahler eingefordert werden kann.

Wir werden auch über die Organisation weiter disku-tieren müssen. Wir wollen die Interessen des Bundes,der betroffenen Landwirte und Gärtner sowie des Perso-nals wahren. Dazu sind Änderungen möglich. Aber eineswird sich nicht ändern: Wir haben ein Paket vorliegen,

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das nicht aufgeschnürt wird. Die Abfindungsaktion undden Lastenausgleich gibt es nur mit der Organisationsre-form.

Wir wollten eigentlich eine weitergehende Reformmachen. Das ist leider nicht möglich. Politik ist dieKunst des Möglichen. Das Mögliche machen wir.

Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Gerne hätte ichmit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regie-rungskoalition, heute hier zur normalen Tageszeit überden Gesetzentwurf zur Modernisierung der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung, LSV, diskutiert. Ichnehme an, es war Absicht, die Tagesordnung so zu ge-stalten, dass keine direkte Aussprache stattfindet. Denn:Betrachtet man das Meinungsbild innerhalb der Koali-tionsfraktionen oder zwischen Bund und Ländern zumThema LSV, so könnte es dissonanter nicht sein. Nureins ist allen gemeinsam: die Unzufriedenheit mit demvorliegenden Entwurf.

Die versprochene grundlegende Reform wird zurScheinreform, ausgekungelt und möglichst hinter ver-schlossenen Türen auf den Weg gebracht, damit der Ko-alitionsfrieden nicht leiden möge. Selbst die verfas-sungsrechtliche Frage der „Zustimmungspflichtigkeit“wird zum politischen Spielball. Und am Ende will keinerfür diesen Murks verantwortlich gewesen sein. So siehtschwarz-rote Agrarsozialpolitik unter dem „Obersozial-politiker“, Zitat Bild-Zeitung, Horst Seehofer aus.

Zwei Jahre sind vorbei. Es ist ein Trauerspiel, mit an-sehen zu müssen, wie diese schwarz-rote Koalition mitgroß angekündigten Reformvorhaben umgeht. Verläss-lichkeit und Planungssicherheit sind Fremdworte. Ge-genseitige Blockade und Handlungsunfähigkeit prägendas Bild.

Die FDP-Fraktion plädiert seit Anbeginn der Legisla-turperiode für ein echtes Reformkonzept: die Umstel-lung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung auf einkapitalgedecktes Finanzierungssystem. Sie hat dafürzwar Kritik seitens aller anderen Fraktionen einsteckenmüssen, gleichzeitig aber von den Betroffenen und derenVerbänden viel Unterstützung erfahren.

Man muss sich in dieser Debatte einmal die Fragestellen, um was es eigentlich bei diesem Gesetz geht. Esgeht eben nicht in erster Linie darum, ob der Bund oderdie Länder mehr Einfluss erhalten, ob Bundesträger oderSpitzenkörperschaft, ob Lastenausgleich 2010 oder2011. Das sind doch reine Ablenkungsmanöver einerKoalition, die handlungsunfähig ist.

Es geht ganz einfach darum, die landwirtschaftlicheSozialversicherung zukunftsfest zu machen. Und das er-reichen Sie angesichts des dramatischen Strukturwan-dels in der Landwirtschaft weder mit einer 20-prozenti-gen Reduzierung der Verwaltungsausgaben noch miteiner teuren ineffektiven Abfindungsaktion und schongar nicht mit einer Minireform im Leistungskatalog. Daserreichen Sie nur, wenn Sie wirklich reformieren undkonsequent das gesamte System umstellen.

Selbstverständlich ist die FDP gerne bereit, konstruk-tiv an notwendigen Anpassungen bei der Organisation,der Beitragsbemessung oder dem Leistungskatalog mit-zuarbeiten. Nur, den Landwirten Sand in die Augen zustreuen und dies als Lösung für die strukturbedingtenProbleme zu präsentieren, das geht nicht. Da macht dieFDP nicht mit.

Die Reformschwäche von Minister Seehofer geht so-wohl zulasten der Landwirte als auch zulasten des Haus-halts – und damit aller Steuerzahler. Die Abfindungsak-tion für Kleinstrenten ist aus meiner Sicht reineGeldverschwendung. In den nächsten beiden Jahren sol-len 800 Millionen Euro in ein längst nicht mehr finan-zierbares System gesteckt werden, und danach wundernsich alle, wenn sie 2010 erneut vor leeren Kassen stehen.Selbst der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Ko-alition schließt ein Scheitern nicht mehr aus. Die FDPsetzt sich stattdessen mit ihrem Vorschlag für einennachhaltigen, zukunftsfesten Umgang mit Steuermittelnein.

Wie brisant das Thema inzwischen ist, zeigt nicht zu-letzt der umfangreiche Empfehlungskatalog der Bundes-ratsausschüsse, der 48 Änderungsvorschläge bzw. Emp-fehlungen umfasst. Drei konkrete Punkte möchte ichaufgreifen:

Erstens: fehlende Planungssicherheit. Die Länder for-dern die gesetzliche Verankerung der zugesagten jährli-chen Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallver-sicherung.

Zweitens: fehlender Vertrauensschutz. Die Länder for-dern, die Diskriminierung der landwirtschaftlichen Kran-kenkassen bei der Teilhabe an Bundesmitteln für versiche-rungsfremde Leistungen aufzuheben.

Drittens: fehlende Verfassungsmäßigkeit. Die Länderfordern, ihre Belange und Interessen ausreichend zu be-rücksichtigen und einzuarbeiten. Andernfalls sei die An-rufung des Vermittlungsausschusses unausweichlich.

Auf Anregung der FDP-Fraktion wird eine Anhörungzu diesem Gesetzentwurf stattfinden. Wir sind es leid,dass die Landwirte unter Schwarz-Rot immer wieder mitfaulen Kompromissen leben müssen. An diesem ver-gleichbar kleinen Reformvorhaben zeigt sich die ganzeSchwäche der sogenannten Großen Koalition. Noch istdieses Gesetz nicht verabschiedet. Am besten wäre, esganz einzustampfen.

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Für die Frak-tion Die Linke sind auch im Zusammenhang mit derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung zwei Fragenentscheidend:

Erstens. Leistet sie die Absicherung, die gebrauchtwird? Zweitens. Sind die Beiträge auch für die bezahl-bar, die auf diese Leistung angewiesen sind?

Im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierunggeht es aber zunächst leider eben nicht darum, wie diesewichtigen Fragen geregelt werden, sondern wie so oftwerden zunächst „nur“ Strukturfragen geregelt. Aberüber solche Strukturentscheidungen werden natürlich

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Züge auf die Schiene gestellt. Deshalb lohnt es sichschon zu prüfen, wo die Reise hingehen soll.

Zunächst wird die Errichtung eines gemeinsamenSpitzenverbandes für die gesamte landwirtschaftlicheSozialversicherung als Körperschaft des öffentlichenRechts vorgeschlagen, weil das eigentliche Ziel einesbundeseinheitlichen Trägers nicht erreicht wurde. Da-für gibt es durchaus auch triftige Gründe. Die bisherigeAnzahl der Träger der LSV von neun bleibt erhalten.Die bisherigen Erfahrungen mit der Umorganisationder landwirtschaftlichen Sozialversicherung sind er-nüchternd. Bundesrechnungshof und Bundesregierungstimmen in der Bewertung des ersten Gesetzes zur Or-ganisationsreform in der landwirtschaftlichen Sozial-versicherung vom 17. Juli 2001 überein: Diese Reformist gescheitert. Der Bundesrechnungshof hatte übrigensdaraus schlussfolgernd eine radikale Verminderung derTräger auf nur noch vier bundesweit zentral organi-sierte vorgeschlagen. Die Bundesregierung schafft da-gegen eine zusätzliche Struktur, den Spitzenverband.Wie damit die Wirtschaftlichkeit und Effektivität desSystems verbessert werden kann, muss zumindest hin-terfragt werden! Ich gehe davon aus, dass wir in eini-gen Jahren erneut ein Gesetz zur Organisationsreformdiskutieren, weil dieses Zwischengesetz nicht zum Zielführt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Zentralisie-rungsidee des Bundesrechnungshofes ist nicht wirklichinnovativ und ob sie der Komplexität der Probleme ge-recht wird, darf ebenso bezweifelt werden. Solange wirStrukturfragen als Alibidebatte diskutieren, weil wir andie eigentlichen Probleme wie Beitragsgerechtigkeitnicht konsequent genug herangehen, werden wir keinetragfähige Lösung finden.

Dabei gibt es gute Beispiele dafür, wie es gehenkönnte. Eine bundesweite vergleichsweise effiziente undfunktionierende Unfallversicherung im Agrarsektorexistiert zum Beispiel mit der Gartenbau-Berufsgenos-senschaft. Ihre Bezuschussung durch den Bund ist sogarvergleichsweise gering! Lösungen, die vom Bundesrech-nungshof angemahnt wurden, sind dort schon umgesetzt.Die Gartenbau-Berufsgenossenschaft hat sich in jünge-rer Zeit mit eigenen Vorschlägen in die Debatte um dieReform der Sozialversicherung eingebracht. Sicher hatauch sie nicht den Königsweg zur Reform zu bieten,aber es finden sich einige Aspekte in der Organisationund Arbeit der Gartenbau-BG, die es wert sind, in dieDebatte um die LSV insgesamt Eingang zu finden.Meine Fraktion ist jedenfalls für eine sorgfältige Prüfungdieser Erfahrungen. Vor allem die Fragen zur Zentrali-sierung von Teilaufgaben, zur Beitragsgerechtigkeit fürdie Mitglieder und zur Risikoorientierung sind aus unse-rer Sicht von Bedeutung. In der Unfallprävention sinddabei ebenfalls Fortschritte zu erreichen, die weiter ge-hen als wir sie aus der Landwirtschaft kennen. Und Prä-vention ist meistens allemal billiger als Schadensregula-tion. Eine umfassende Evaluierung der existierendenBerufsgenossenschaften wäre dringend erforderlich,denn der Bundesrechnungshof hat vorwiegend aus be-triebswirtschaftlichem Blickwinkel evaluiert – wir brau-chen aber den volkswirtschaftlichen Blickwinkel.

Das heißt aus meiner Sicht, dass die angepeilte 100-Mil-lionen-Euro-Senkung des Bundeszuschusses eben nichtzum alleinigen politischen Mantra werden darf. DerStrukturwandel, die sehr unterschiedlichen Betriebsfor-men und -größen und die Spezialisierungen der Land-wirtschaftsbetriebe machten es nicht einfacher. Die da-mit verbundenen sehr unterschiedlichen Risiken müssenbesser berücksichtigt werden, ohne die Solidarität mitdenen aufzukündigen, die auf diese soziale Absicherungangewiesen sind. Das ist jedenfalls für Die Linke ein we-sentliches Kriterium in der Debatte.

Das trifft übrigens auch auf die Personalvertretungs-rechte der Beschäftigten der Versicherungsträger zu. Siemüssen in alle ihre Belange betreffenden Entscheidun-gen frühzeitig und selbstverständlich wirkungsvoll ein-bezogen werden. Dazu haben sie Vorschläge gemacht,die ernsthaft diskutiert werden müssen.

Und um es zum Schluss noch einmal klar zu sagen:Eine Strukturreform, die sich am Ende auf ein Arbeits-platzabbauprogramm bei den Trägern reduziert, wie zumBeispiel auch in der Agrarressortforschung, werden wirauf keinen Fall mitmachen. Solche Reformen lösenkeine Probleme, sondern schaffen nur neue, wenn auchvielleicht an anderer Stelle. Der Politik dürfen sie nir-gendwo gleichgültig sein.

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Esist ein richtiges Trauerspiel, dass Minister Seehofer unddie schwarz-rote Koalition entgegen ursprünglichen An-kündigungen auf die Einführung eines Bundesträgers fürdie acht regionalen Träger der drei LSV-Zweige verzich-ten. Denn der Bundesträger ist angesichts des fortgesetz-ten Strukturwandels in der Landwirtschaft und der steti-gen Abnahme an Versicherten unbedingt notwendig, umeine effiziente Sozialversicherung gewährleisten zu kön-nen.

Aus demselben Grund macht die Errichtung des ge-meinsamen Spitzenverbandes sicher Sinn. Aber dieskann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies nur eineMinimallösung ist, die den Bundesträger nicht ersetzenkann! Außerdem kommt bei dieser Lösung der Garten-bau unzumutbar schlecht weg. Denn die in der Garten-bau-BG versicherten Betriebe, die etwa ein Drittel derVersicherten in der LUV stellen, sind in den Gremiendeutlich unterrepräsentiert! Das kann nicht so bleiben.Außerdem muss der Gartenbau zukünftig im Namen desSpitzenverbandes auftauchen, damit wahrgenommenwird, dass auch der Gartenbau Teil der LSV ist. EineMöglichkeit wäre die Bezeichnung „Spitzenverband derSozialversicherung für Landwirtschaft und Gartenbau“.

Das Angebot zur Abfindung von Bestandsrententragen wir im Grundsatz mit. Was in diesem Zusammen-hang aber sehr zu kritisieren ist, ist die Art der Finan-zierung. Es ist eine grobe Missachtung der Haushalt-wahrheit und -klarheit, dass die vorgesehenen Zuschüssevon 400 Millionen Euro im Bundeshaushalt nur als Fuß-note vermerkt werden, aber nicht bei den Ausgaben miteinberechnet werden. Außerdem ist es nicht in Ordnung,dass sich die LUVen zwar mit 250 Millionen Euro an derFinanzierung beteiligen sollen, der Bund die erhofften

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Einsparungen aber ab 2010 komplett selber einstreichenwill. Hier sollten die LUVen entsprechend ihrem Finan-zierungsanteil beteiligt werden!

Was die Weiterentwicklung der Beitragsmaßstäbe be-trifft, so ist es sinnvoll, das Unfallrisiko im Beitragsmaß-stab zu berücksichtigen. Darüber hinaus wäre es aber nö-tig, eine einheitliche Beitragsbemessung auf Grundlagedes kalkulatorischen Arbeitskräftebedarfs einzuführen.Damit würde eine Voraussetzung zur Schaffung einesBundesträgers in der LUV geschaffen!

Auch die Einführung eines Lastenausgleichs zwi-schen den LUVen ab 2010 ist grundsätzlich sinnvoll. Al-lerdings gilt auch hier: Es wäre erheblich wirksamer undeinfacher, die regionalen Träger zu einem Bundesträgerzu fusionieren, um das Ziel des Lastenausgleichs zu er-reichen.

Außerdem ist es nicht in Ordnung, die Gartenbau-BGan diesem Lastenausgleich zu beteiligen, da es sich hiernur zu einem geringen Teil um landwirtschaftliche Be-triebe handelt. In der Gartenbau-BG ist der Lastenaus-gleich bereits hergestellt.

Noch ein paar Worte zur Forderung des DBV nachgesetzlicher Absicherung der Zuschüsse an die LUV:Diese Forderung ist im Grunde berechtigt. Warum sollendie Zuschüsse zur LUV nicht wie die zur LKV und zurAdL auf Basis gesetzlicher Regelungen gezahlt werden?Allerdings müssen wir nüchtern feststellen, dass bisherdie kalkulatorischen Grundlagen fehlen, um beziffern zukönnen, wie hoch dieser Zuschuss zur Finanzierung desüberdurchschnittlichen Rentenbestandes denn seinmüsste. Deswegen ist eine gesetzliche Absicherung bis-her nicht möglich. Es wäre Aufgabe der Bundesregie-rung, diese Grundlagen zu schaffen. Auch das hat Minis-ter Seehofer bisher nicht geleistet! Seine Bilanz inSachen Agrarsozialversicherung ist bisher äußerst be-scheiden!

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Arbeit und Soziales: Die landwirtschaftlicheSozialversicherung ist ein wichtiger Bestandteil der So-zialversicherung in Deutschland und von grundlegenderBedeutung für die betroffenen Versicherten. Wir wollendas eigenständige System erhalten. Darauf haben wiruns im Koalitionsvertrag verständigt.

Klar war aber auch: Aufgrund des Strukturwandels inder Landwirtschaft stehen wir vor der Aufgabe, das Sys-tem zu stabilisieren. Der Bund hat zurzeit auch zu ge-ringe Einwirkungsmöglichkeiten auf die Träger derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung, obwohl er er-hebliche finanzielle Mittel an die landwirtschaftliche So-zialversicherung gibt.

Bereits im Jahr 2001 haben wir die Organisation derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung reformiert. Jetzthat sich gezeigt: Der Lösungsansatz war richtig, abernicht ausreichend. Das hat auch der Bundesrechnungs-hof bestätigt. Dem Vorschlag des Bundesrechnungshofes– Schaffung eines Bundesträgers – wollen wir aber nichtfolgen. Die Ziele können wir weitgehend auch mit derWeiterentwicklung des Instrumentariums aus dem Ge-

setz zur Organisationsreform in der landwirtschaftlichenSozialversicherung aus 2001 erreichen:

Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Rechts derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG)übertragen wir einem neuen gemeinsamen Spitzenver-band die Befugnis, verbindliche Entscheidungen für dieTräger zu treffen. Daneben erledigt der neue Spitzenver-band originäre Verbandsaufgaben. Dadurch können wirdie Wirtschaftlichkeit des Systems deutlich steigern. DasErgebnis soll messbar sein: Die LSV-Träger sollen biszum Jahr 2014 20 Prozent der Verwaltungskosten ein-sparen.

Doch eine Stabilisierung des Systems kann nicht nurdurch effektive und moderne Organisationsstrukturen er-folgen. Deshalb setzen wir auch im Leistungsrecht denHebel an, indem wir die Ausgabenstruktur der landwirt-schaftlichen Berufsgenossenschaften neu ausrichten.Nur so schaffen wir die notwendigen Spielräume auf derEinnahmeseite und vermeiden Beitragserhöhungen fürdie Landwirte.

Den Kernpunkt der Maßnahmen bildet die Abfin-dungsaktion für die Altrenten. Ziel ist die dauerhafte Ab-findung von Kleinrenten. Hierfür sollen zusätzlicheBundesmittel in einem Umfang von 2 mal 200 MillionenEuro – verteilt auf zwei Jahre – zur Verfügung gestelltwerden. Wichtig ist: Wir reden dabei nicht von einerZwangsabfindung, sondern von einem Angebot, das füralle Beteiligten von Vorteil ist. Vorteilhaft für die Versi-cherten: Denn ihnen bietet sich die Möglichkeit, mit demAbfindungsbetrag betriebliche Investitionen zu tätigenoder sonstige Entscheidungen zur Stärkung ihrer wirt-schaftlichen Existenz zu treffen. Vorteilhaft ist es für dieLandwirte als Beitragszahler: Denn über 60 Prozent derAusgaben für Renten entfallen auf Kleinrenten. Mit derAbfindungsaktion können wir die Ausgabenstrukturnachhaltig verändern. Dies wirkt sich günstig auf dieBeitragsbelastung aus. Und vorteilhaft ist es auch für dieVersicherungsträger: Denn sie werden von der jahrzehn-telangen Verwaltung der Renten entlastet.

Zugleich wollen wir mit dem Gesetzentwurf die Soli-darität innerhalb der landwirtschaftlichen Unfallversi-cherungsträger stärken. In der Landwirtschaft bestehenregional unterschiedliche strukturelle Gegebenheiten,und auch der Strukturwandel verläuft nicht einheitlich.Dem wurde bisher bei der Verteilung des Bundeszu-schusses Rechnung getragen. Dies reicht nicht mehr aus.

Wir wollen daher ein partielles Lastenausgleichsver-fahren einführen. Das bedeutet: Wer deutlich stärker alsandere belastet ist, erhält für einen Teil dieser Last dieUnterstützung der Solidargemeinschaft aller landwirt-schaftlichen Träger. Auch damit leisten die Unfallversi-cherungsträger einen eigenen Beitrag zur Stabilisierungder landwirtschaftlichen Unfallversicherung.

Eines will ich noch feststellen: Ein solidarischer Las-tenausgleich innerhalb der landwirtschaftlichen Unfall-versicherungsträger ist für mich das Pendant zur solida-rischen Unterstützung von außen durch Bundeszuschuss.

Das LSVMG steht im Gesamtkontext der Reform dersozialen Sicherungssysteme. Wir machen damit dielandwirtschaftliche Sozialversicherung zuverlässig undzukunftsfest.

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Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Kooperation undKoordination im Europäischen Forschungs-raum verbessern (Tagesordnungspunkt 18)

Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Dasmit der Überschrift des vorliegenden Antrages formu-lierte Ziel begrüße ich ausdrücklich. Die Bereiche Wis-senschaft, Forschung und Innovation bilden das Funda-ment für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit imglobalen Umfeld. Allerdings muss ich den Antragstel-lern mitteilen, dass der Antrag selbst nichts wirklichNeues oder Revolutionäres enthält. Das hatte ich ehrlichgesagt auch nicht erwartet.

Insbesondere bleibt völlig unklar, was Bündnis 90/Die Grünen während ihrer Zeit in der Regierungsverant-wortung gemacht haben. In den Bereichen Wissenschaft,Forschung und Entwicklung, offensichtlich nicht allzuviel. Denn anders ist kaum erklärlich, wie zum Beispielder Abschnitt über das Erreichen der Lissabon-Ziele hin-sichtlich privater Investitionen für Forschung in den An-trag kommt. Es wird dargestellt, dass die privaten Aus-gaben, die immerhin zwei Drittel des 3-Prozent-Zielsausmachen sollen, seit dem Jahr 2000 stagnieren. DieZahlen sprechen für sich und gegen die Leistungen vonRot-Grün.

Zur Frage nach der Verantwortung muss nichts weiterausgeführt werden. Es reicht eben einfach nicht aus,wortreiche Programme und Initiativen zu entwerfen, diefür die Realität jedoch nicht geeignet sind bzw. keinerleiNutzen für private Geldgeber und die Wirtschaft haben.Nur mit dieser realitätsfernen Wahrnehmung lässt sicheine ganz besonders erwähnenswerte Forderung des An-trages erklären. Ich zitiere:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, Strategien zu entwickeln, wie privateFinanzierungsbeteiligungen oder Nutzungsentgeltefür große europäische Forschungsinfrastrukturpro-jekte erschlossen werden können, ohne dass dieUnternehmen wesentlichen Einfluss auf die Aus-richtung der Forschungseinrichtung gewinnen.

Zu dieser Forderung muss eigentlich nichts gesagtwerden, außer dass sie eben nicht umsetzbar und fastschon unanständig ist. Auf diese Art funktioniert einefruchtbare Zusammenarbeit von Wissenschaft und For-schung mit privaten Geldgebern auf jeden Fall nicht. Ichlasse mich aber natürlich vom Gegenteil überzeugen undwürde mir gerne denjenigen zeigen lassen, der großeSummen so selbstlos, ohne Einfluss auf die Verwendungzu haben, zur Verfügung stellt.

Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhangzudem folgende im Antrag getroffene Aussage. Ich zi-tiere:

Besonders bedenklich ist es, dass sich die Industriebisher selbst dann nicht engagiert, wenn die ent-sprechenden Einrichtungen für sie von unmittelba-rem Nutzen sind.

Hierzu würde ich sehr gerne einmal ein entsprechen-des und fundiertes Beispiel kennenlernen. Oder wird dervermeintliche Nutzen für die Industrie direkt von denGrünen mit der ihnen eigenen marktwirtschaftlichen Be-trachtungsweise definiert?

Die Erreichung der Lissabon-Ziele macht, auch wennes noch nicht alle begriffen haben, enorme Anstrengun-gen auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene not-wendig. Besonders wichtig sind hierbei die Stärkung desErkenntnis- und Technologietransfers und der Übergangvon Forschungsergebnissen in die anwendungsorien-tierte Wertschöpfungskette. Unmittelbar nach der Regie-rungsübernahme ist die unionsgeführte Bundesregierungdiese Herausforderung offensiv angegangen. Darüber hi-naus müssen zusätzlich die Versäumnisse der Vorgänger-regierung aufgeholt werden.

Wie im Antrag ausgeführt, hat sich die EU schon imJahr 2000 auf die Schaffung des Europäischen For-schungsraumes zur besseren Kooperation und Koordina-tion der nationalen Forschungspolitiken verständigt. Esgeht hierbei jedoch nicht nur um verbesserte Koopera-tion und Koordination, sondern ebenfalls um die Erhö-hung der finanziellen Aufwendungen für Forschung undEntwicklung in Europa. Diese sollen gemäß der Lissa-bon-Strategie bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent des BIPsteigen.

Zugegebenermaßen ist dies ein sehr ehrgeiziges, aberdurchaus erreichbares Ziel. Insbesondere vor dem Hin-tergrund der Ausgaben anderer großer Wirtschaftsnatio-nen für Forschung und Entwicklung ist es notwendig, inEuropa Schritt zu halten. Die unionsgeführte Bundesre-gierung hat sich diesem Ziel ebenfalls verschrieben.Dies wird auch deutlich, wenn man sich die von derRegierungskoalition auf den Weg gebrachten, finanziellhervorragend ausgestatteten, sinnvoll ausgestalteten undvor allem am Bedarf orientierten nationalen Programmeim Rahmen der Hightechstrategie ansieht. Alles in allemsind dies wichtige Impulse für den StandortDeutschland, aber auch für den Europäischen For-schungsraum.

Zudem hat sich Deutschland während der Ratspräsi-dentschaft als auch davor, im Rahmen des 7. For-schungsrahmenprogramms – 7. FRP –, besonders starkin die Themenbereiche Wissenschaft, Forschung undEntwicklung eingebracht. Dies zeigt sich zum einen ander finanziellen Ausstattung des 7. FRP und an der Aus-wahl der diesbezüglichen Themen. Die Schwerpunkte inden Bereichen Wissenschaft und Forschung stehen alsobereits fest und müssen nicht noch, wie im außerge-wöhnlich ausführlichen Vorspann des Antrages ausge-führt, in ausufernden Diskussionen festgelegt werden.Die erstmalige Etablierung des Europäischen For-schungsrates nimmt hierbei eine besonders herausra-gende Stellung ein. Zum anderen erkennt man das En-gagement der unionsgeführten Bundesregierung an dengroßen Fortschritten, was die Planungen bezüglich derEinrichtung eines Europäischen Technologieinstitutes– ETI – angeht. Gerade in diesem Bereich konnte dieBundesregierung während der deutschen Ratspräsident-

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schaft, unterstützt vom Deutschen Bundestag, wichtigeWeichenstellungen vornehmen.

Entgegen der Annahme in diesem Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen, zielt gerade die von der Bundesregie-rung gewünschte Ausgestaltung des ETI auf eine verbes-serte Kooperation und Koordination im EuropäischenForschungsraum. Das die Innovationsfähigkeit des EFRdurch die vorgesehenen exzellenten Forschungs- und In-novationsnetzwerke verbessert wird, ist zu begrüßen. Esist mir deshalb unverständlich und vor allem ist es wi-dersprüchlich, im Antrag auf der einen Seite verbesserteKooperation und Koordination zur fordern und auf deranderen Seite das ETI, welches genau dies befördernsoll, kategorisch abzulehnen. Eine langfristige und sinn-volle Strategie für den Europäischen Forschungsraumsieht meiner Ansicht nach anders aus.

Ich würde deshalb den Antragstellern empfehlen, sicheinmal das von der Bundesregierung vorgelegte Kom-promisspapier sowie den entsprechenden Antrag vonCDU/CSU und SPD anzusehen. Von einer Parallelstruk-tur kann in diesem Fall keine Rede sein. Vielmehr solldie Einrichtung des ETI gerade die derzeit bestehendenKooperationsstrukturen ergänzen. Damit kommen wirauch dem maßgeblichen Anliegen des EuropäischenForschungsraumes nach, der Schaffung europäischerForschungsinfrastrukturen sowie der Vernetzung beste-hender Einrichtungen. Dadurch werden auch grenzüber-schreitende Netzwerke und Forschungsverbünde ge-stärkt werden.

Wie die Antragsteller in diesem Zusammenhang da-rauf kommen, dass bestehende Initiativen und Pro-gramme geschwächt werden würden, kann ich nichtnachvollziehen. Wie schon erwähnt, das Lesen des Re-gierungsvorschlages sowie ein Studium des Koalitions-antrages könnten hier für die nötige Klarheit sorgen. Zu-mindest wird daraus deutlich, dass die jetzigeBundesregierung, im Vergleich zur Vorgängerregierungbeispielsweise mit der Antidiskriminierungsrichtlinieoder der Feinstaubrichtlinie, eine fachlich durchdachteund praxisnahe Initiative auf europäischer Ebene startet.

Einige Anmerkungen möchte ich noch zu dem eben-falls umschweifend angesprochenen Themenbereich desWissenschaftlernachwuchses machen:

Fakt ist, dass in Europa in den kommenden Jahrenrund 700 000 Forscherinnen und Forscher fehlen wer-den. Um jedoch unseren Forschungsstandort zu sichern,muss dieser dringend notwendige Bedarf an Nachwuchs-kräften, insbesondere in den Technik- und Naturwissen-schaften, offensiv gewonnen werden. Dazu muss bereitsfrühzeitig in der Schule angesetzt werden. Nur dann istdie Begeisterung des Nachwuchses für Technik und dieNaturwissenschaften und somit auch für eine beruflicheKarriere in diesen Bereichen zu wecken. Ein Beginn erstwährend des Studiums, wie von Bündnis 90/Die Grünengefordert, ist bei Weitem zu spät.

Die Maßnahmen der unionsgeführten Bundesregie-rung waren bisher erfolgreich. Bei den naturwissen-schaftlichen Abschlüssen gab es im Jahr 2006 ein Plusvon 9 Prozent, im Bereich Informatik sogar von 13 Pro-

zent und bei den Ingenieurwissenschaften ein Plus von4 Prozent. Mit ihren Initiativen, beispielsweise in derBegabten- und Talentförderung, dem Hochschulpakt, derExzellenzförderung oder auch der bundesweiten Initia-tive „Tectoyou“ hat die Bundesregierung daran großenAnteil.

Hinsichtlich der Anzahl weiblicher Absolventen sindjedoch noch weitere Verbesserungen notwendig, umauch hier, trotz bereits steigender Zahlen, höhere Absol-ventinnenzahlen zu erreichen. Eine richtige, weil bereitsfrüh ansetzende Maßnahme ist der jährlich stattfindende„Girls´ Day“, der speziell Mädchen und junge Frauen fürtechnische und naturwissenschaftliche Berufe motivie-ren soll. Vor allem technische Unternehmen, Betriebemit technischen Abteilungen und Ausbildungen, Hoch-schulen und Forschungszentren öffnen am „Girls´ Day“ihre Türen für Schülerinnen der Klassen 5 bis 10. Diestetig steigenden Veranstaltungs- und Teilnehmerinnen-zahlen machen dessen Erfolg sichtbar. Im Jahr 2007 ha-ben bereits 8 113 Unternehmen und Organisationen und137 489 Teilnehmerinnen daran teilgenommen.

Die Antragsteller fordern ebenfalls eine Öffnung desArbeitsmarktes für Wissenschaftler aus den mittel- undosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, ohne dass es aller-dings zum Ausbluten des dortigen Wissenschaftsberei-ches kommt. Wie das funktionieren soll, erschließt sichnicht ohne Weiteres. Zum einen haben die entsprechen-den Staaten wie auch wir großen Bedarf an Wissen-schaftlern, zum anderen ist der Unterschied der Lebens-verhältnisse in vielen Fällen noch zu groß, sodass esautomatisch zu einer Wanderungsbewegung kommenwürde.

Selbstverständlich müssen wir auch darüber sprechen,wie wir die verhältnismäßig hohen Abbrecherquoten anunseren Universitäten und Fachhochschulen in den Griffbekommen. Allerdings darf dies auf keinen Fall, wie oftaus gewissen Richtungen mehr oder weniger offen ge-fordert, zu Gleichmacherei und zur Vernachlässigungdes Leistungsprinzips führen. Auch während der Quali-fikation existiert bereits das Exzellenzprinzip.

Alles in allem muss ich festhalten, dass sichBündnis 90/Die Grünen diesen ausschweifenden Antragaufgrund der weitgehenden Inhaltsleere durchaus hättesparen können. Zu begrüßen wäre es gewesen, wenn die-ser Antrag zum Beispiel im Jahr 1999 oder 2000 einge-bracht worden wäre. Damals hätte man ihm mit Sicher-heit eine gewisse Innovationsfreudigkeit nichtabsprechen können. Heute jedoch kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesem überholten Antrag nicht zu-stimmen.

René Röspel (SPD): Vor der diesjährigen Sommer-pause haben wir im Ausschuss für Bildung und For-schung das Grünbuch der Europäischen Kommission„Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“diskutiert. Dabei ging es um die Frage, wie man den Eu-ropäischen Forschungsraum, der Teil der Lissabon-Stra-tegie von 2000 ist, vertiefen und erweitern kann. DieHauptaussagen des Grünbuchs werden nicht nur von unsPolitikern, sondern auch in der Wissenschaft debattiert.

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Denn die Anmerkungen sollen später in ein Weißbuchmünden, welches in der ersten Hälfte 2008 in Brüsselverabschiedet werden soll. Das Weißbuch wird dieGrundlage für das 8. Forschungsrahmenprogramm dar-stellen. Im Grünbuch werden die Mitgliedstaaten aufge-fordert „[…] breit angelegte Erörterungen auf nationalerund regionaler Ebene [zur Stärkung des EuropäischenForschungsraumes] einzuleiten“. (Seite 27) Den Antragder Grünen können wir als weitere Gelegenheit wahr-nehmen, dieser Aufforderung nachzukommen.

Die europäische Forschungslandschaft ist komplex.Auf zehn Seiten versucht der Grünen-Antrag alle we-sentlichen Aspekte und Strukturen der EuropäischenForschungslandschaft anzureißen. Viele Punkte des An-trages kann man begrüßen, sind schon Regierungshan-deln oder sicher in diesem Haus unstrittig. AnderePunkte müssten aber noch einmal diskutiert werden. Aufdiese werde ich jetzt kurz eingehen. In dem uns vorlie-genden Antrag wird das Europäische Technologieinstitut(EIT) abgelehnt. Über diese Institution haben wir bereitsöfters im Ausschuss und Plenum gesprochen, zuletzt vorder Sommerpause. Grundsätzlich teile ich viele der Be-denken gegen das EIT. Doch wie ich bereits bei meinerletzten Rede zum EIT am 21. Juni dargelegt habe, wardieses europäische Projekt nicht mehr aufzuhalten. DieBundesregierung hat in der Zeit Ihres EU-Vorsitzes mitihrem damaligen Kompromissvorschlag eine für alleMitgliedstaaten akzeptable Lösung gefunden. Das Euro-päische Parlament hat mittlerweile am 26. Septemberden Kommissionsvorschlag für die Schaffung des EITebenfalls gebilligt. Insofern stimmt Ihre Aussage, dasEuropäische Parlament würde das Projekt ablehnen,nicht. Auch wenn die Finanzierung immer noch auf tö-nernen Füßen steht und die Sinnhaftigkeit der Institutionsich erst noch zeigen muss, so ist die Entscheidung fürein EIT endgültig gefallen. Das entbindet uns nationaleParlamentarier aber nicht von der weiteren kritischenBegleitung. Spätestens die Evaluierung bis 2012 wirdzeigen, ob das EIT die Erwartungen des signifikantenMehrwerts erfüllen kann. Der Forderung der Grünenaber kann die Bundesregierung nicht entsprechen.

Ein weiterer Abschnitt in Ihrem Antrag beschäftigtsich mit Ethik und Forschung auf europäischer Ebene.Sie schreiben auf Seite zwei des Antrages „Eine ethischverantwortliche europäische Forschung braucht die of-fene gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Na-tionalstaaten hinweg.“ Prinzipiell ist eine gesellschaftli-che Debatte über Grenzen hinweg, ob nun national oderanderer Art, immer zu begrüßen. Die Darstellung undKonfrontation verschiedener Positionen und der Ver-such, zu mehrheitsfähigen Problemlösungen zu gelan-gen, ist immer bereichernd. Debatten werden aber nor-malerweise nicht nur der Debatte wegen geführt – siesollen Konsequenzen haben. Bleiben sie hingegen fol-genlos, stellen sich Politikverdrossenheit und Enttäu-schung ein. Für den Bereich der ethischen Fragen bedeu-ten Konsequenzen dann aber, dass Kompromisse aufeuropäischer Ebene für alle Mitgliedstaaten bindend seinmüssten.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass beispielsweise eineuropäisches Gremium darüber entscheidet, in welchem

Umfang und mit welchen Grenzen in Deutschlandethisch problematische Forschung möglich sein sollte.Mal davon abgesehen, dass bereits die Auswahl der Ver-treter der deutschen Position sehr kompliziert werdenwürde. Welche Aufgabe hätte denn der Bundestag inethischen Grundsatzdebatten noch? Beim DeutschenEthikrat haben die Grünen noch vor einer Entparlamen-tarisierung gewarnt, nun kann man den Eindruck bekom-men, sie forderten selbst eine Verschiebung der Debatteauf die EU-Ebene. Beim Thema Ethik ist es bereits aufnationaler Ebene schwierig, einen Kompromiss zu fin-den. Eine klare ethische Positionierung aller EU-Staatenund nationaler Öffentlichkeiten kann ich mir deshalbderzeit beim besten Willen nicht vorstellen. Wir habenund werden uns bei ethischen Fragen in der Forschungnoch lange nicht auf eine gemeinsame europäische Posi-tion verständigen können.

Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifftdie stärkere europäische Koordinierung von nationalenForschungsprogrammen. Als Ziel wird dazu im Antraggenannt „[…] dass es dabei aus europäischer Perspektiveweder zu unsinnigen Doppelungen noch zu Lücken in denjeweiligen Forschungsbemühungen kommt“. Gegen Dop-pelungen anzugehen macht sicherlich Sinn. Aber was ge-nau sind „unsinnige“ Doppelungen? Es kann durchaussinnvoll sein, parallel Forschungen durchzuführen. Diediesjährige Vergabe des Nobelpreises für Physik an denDeutschen Peter Grünberg und den Franzosen Albert Fertist sicherlich das beste Beispiel für positive Doppelungvon Forschung! Beide haben unabhängig voneinander, dereine in Jülich, der andere in Paris, am Magnetoeffekt ge-forscht. Das Ergebnis dieses Wettstreits findet sich mitt-lerweile in Form von Festplatten in jedem Computer wie-der. „Doppelungen“ können also Ansporn sein im Sinnevon belebender Konkurrenz oder auch der Versuch, dasgleiche Ziel auf anderem Wege zu erreichen.

Lassen Sie mich noch ein paar weitere Worte zum Be-reich der europäischen Koordinierung von nationalenForschungsprogramme sagen. Es macht natürlich Sinnzu wissen, wo die Schwerpunkte der anderen nationalenForschungsprogramme liegen, in welchen Bereicheneine Kooperation möglich ist und welche Bereiche viel-leicht europaweit vernachlässigt werden.

Eine prinzipielle Öffnung der einzelnen nationalenForschungsprogramme für alle Mitglied Staaten er-scheint mir dabei aber problematisch. Nicht nur die Ko-ordination könnte dadurch, wie im Antrag erwähnt,schwieriger werden. Ich sehe viel mehr – und mit dieserMeinung stehe ich nicht allein – die Gefahr von „Tritt-brettfahrern“. Denn es existieren leider große Unter-schiede zwischen den staatlichen Ausgaben für For-schung und Entwicklung in den einzelnen europäischenMitgliedsstaaten. Dass sich einzelne Länder ihre For-schungsanstrengungen durch deutsche Programme be-zahlen lassen, kann nicht das Ziel eines vereinigten Eu-ropäischen Forschungsraumes sein. Vielmehr müssendie einzelnen Mitgliedsstaaten eigene Anstrengungenunternehmen, mehr in Forschung und Entwicklung zuinvestieren.

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Eine weitere Forderung der Grünen sind die verstärkteBereitstellung von Mitteln für wissenschaftliche Infra-struktur in den neuen EU-Mitgliedsländern. Die östlichenEU-Neumitglieder mögen aufgrund ihrer Historie eineschlechter ausgebaute Forschungsinfrastruktur haben.Langfristig muss es deshalb das Ziel sein, dass exzellentenKöpfen, egal aus welchem EU-Land, die passende Infra-struktur zur Verfügung steht. Entscheidend für die Überle-gungen zur Ansiedlung neuer Forschungsinfrastrukturdarf dabei aber nicht die Geografie, sondern der wissen-schaftliche Nutzen des Standortes sein. Und dieser mussnicht zwangsläufig in den neuen Mitgliedstaaten liegen.Das muss aber nicht automatisch bedeuten, dass man nurin Bestehendes investiert, sondern auch offen ist für dieEntwicklung von Potenzialen.

Soweit einige Anmerkungen zum Antrag. Lassen Siemich als Fazit aber noch sagen: Es ist eindeutig, dass wirauf die forschungspolitischen Fragen des 21. Jahrhun-derts nicht mehr allein nationalstaatlich antworten kön-nen. Großprojekte wie der X-FEL bei Hamburg oderForschungsbereiche wie die Klimaforschung können nurgemeinsam erfolgreich angegangen werden. Als logi-sche europäische Konsequenz daraus führt an einem ge-meinsamen europäischen Forschungsraum kein Wegvorbei! Bis zur Vollendung haben wir aber noch vieleSchritte vor uns! Im Forschungsland Deutschland – ichdenke, bei zwei von drei diesjährigen Nobelpreisträgernin naturwissenschaftlichen Kategorien darf man dieswohl voller Überzeugung sagen – tun wir gut daran, unsauch weiterhin an diesen Diskussionen und der Gestal-tung aktiv zu beteiligen. Der uns jetzt vorliegende An-trag der Grünen bietet uns dafür, bei all seinen Defiziten,eine gute Diskussionsgrundlage.

Cornelia Pieper (FDP): Ich teile die Auffassungmeiner Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen, die eine Verbesserung der Kooperation und Koordi-nation im europäischen Forschungsraum fordern. Seit-dem in der sogenannten Lissabon-Strategie das Zielformuliert wurde, Europa bis zum Jahr 2010 zur dyna-mischsten wissensbasierten Wirtschaftsregion der Weltzu entwickeln, sind nunmehr sieben Jahre vergangen.Heute, im Landeanflug sozusagen, ist es durchaus rich-tig, danach zu fragen, ob uns eine Punktlandung in dreiJahren gelingen wird. Ich gebe zu, damals wie heute ver-folgen wir ein ambitioniertes Ziel, das aber die Zustim-mung aller im Bundestag vertretenen Parteien fand. Ichstellte gestern im Ausschuss Frau Dr. Schavan die zen-trale Frage, ob sie glaubt, dass wir bei weiter steigendemWirtschaftswachstum das 3-Prozent-Ziel erreichen wer-den. Die Kollegen im Ausschuss haben es gehört. FrauSchavan ist der Auffassung, dass die Bundesregierung inihren einzelnen Forschungshaushalten dieses Ziel bis2010 realisieren wird.

Heute, nach sieben Jahren, müssen wir feststellen:Europa hat mit anderen Wirtschaftsräumen der Weltnicht Schritt halten können. Die FuE-Wachstumsratenbleiben hinter denen Asiens oder der USA zurück, dieBeschäftigungsziele werden nicht erreicht, und demZiel, 3 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklungzu investieren, sind wir immer noch nicht näher gekom-

men. Das ist außerordentlich bedauerlich, zumal der Zu-wachs nicht einmal reicht, um den Status quo herzustel-len. Ich habe schon sehr oft gesagt, dass wir auch aufRegierungsseite unsere Schlagkraft stärken müssen. Unddas geht eben doch besser, wenn die Verantwortung ineinem Innovationsministerium liegt.

Die Schlüsselzahlen 2007 zu Wissenschaft, Technolo-gie und Innovation in der EU zeigen, dass die FuE-Inten-sität – Ausgaben für Forschung und Entwicklung alsProzentanteil des BIP – in Europa, trotz des Lissabon-Prozesses, seit Mitte der 90er-Jahre unverändert bei1,84 Prozent des BIP geblieben ist. Und das, obwohlFrankreich – plus 1,02Prozent–, Deutschland – plus0,76 Prozent – und Großbritannien – plus 0,7 Prozent –ihre FuE-Ausgaben steigern konnten. Dagegen haben al-lein die USA – plus 1,08 – ihr Engagement im BereichFuE deutlich verstärkt und damit zur Entstehung einerWelt beigetragen, in der das Wissen gleichmäßiger ver-teilt ist als jemals zuvor. Europa konnte auch das Investi-tionsdefizit im Bereich FuE gegenüber den VereinigtenStaaten in den vergangenen Jahren nicht abbauen.

Sie können das auch im FuE-Bericht der Europäi-schen Kommission nachlesen. Europäische Unterneh-men geben nicht einmal halb soviel Geld für Forschungaus wie ihre Konkurrenten in anderen Teilen der Welt.Die 1 000 größten europäischen Investoren gaben imvergangenen Jahr 121,1 Milliarden Euro für Forschungund Entwicklung aus. Bei den 1 000 größten außerhalbder EU waren es 250,5 Milliarden Euro. Der Berichtkommt zu dem Schluss, dass sich die Kluft zwischen derEU und anderen Weltregionen weiter vergrößert. Immer-hin, wenn auch um einen Platz abgeschlagen, gehörtDaimler auf Platz fünf zu den größten in FuE investie-renden Unternehmen. Innerhalb Europas nimmt DaimlerPlatz eins ein. Deutsche Unternehmen belegen Platz drei– Siemens –, Platz fünf – VW –, Platz sieben – Bosch –und Platz acht – BMW.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf dasGrünbuch zum Europäischen Forschungsraum, EFR,verweisen. Es hat eine breite Debatte über die künftigenOrientierungen für den EFR in Gang gesetzt. Die Ent-wicklung macht deutlich, dass aus mindestens fünfGründen dringender Handlungsbedarf besteht:

Die EU ist Teil einer globalisierten Welt, in der dasWissen gleichmäßiger verteilt ist als jemals zuvor. Derstarke Wettbewerb auf dieser Ebene verlangt von derEU, dass sie sich anpasst und dass sie den EFR für denRest der Welt attraktiver macht.

Im Jahr 2005 wurden in der EU der 27 lediglich1,84 Prozent des BIP für FuE aufgewendet, womit dasAusgabenniveau nach wie vor unter dem in den USA, inJapan oder in Südkorea liegt. Die neuen, aufstrebendenVolkswirtschaften wie China holen rasch auf. Solltensich die derzeitigen Trends fortsetzen, wird China – wasdie FuE-Intensität anbelangt – bis 2009 zur EU aufge-schlossen haben. Auch Deutschland ist dem 3-Prozent-Ziel immer noch nicht näher gekommen.

Mehr als 85 Prozent der Differenz zwischen der FuE-Intensität in der EU und der FuE-Intensität bei ihren

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wichtigsten Wettbewerbern hat ihren Grund in den Un-terschieden in der FuE-Finanzierung durch die Unter-nehmen. Die im Vergleich zu den USA geringe Höhe derFuE-Ausgaben des privaten Sektors in Europa ist in ers-ter Linie auf Unterschiede in der Industriestruktur undauf die geringere Größe der Hightechindustrie in der EUzurückzuführen.

Was die Forschungsexzellenz anbelangt, ist festzu-stellen, dass obwohl die EU weltweit der größte Produ-zent von wissenschaftlichem Wissen ist, die Wirkung dereuropäischen Wissenschaft geringer ist, als die der Wis-senschaft der USA. In allen wissenschaftlichen Diszipli-nen hinkt Europa hinter den Vereinigten Staaten her, so-wohl was die Zitationshäufigkeit, als auch was die Zahlder häufig zitierten Publikationen anbelangt. Auch sinddie Universitäten der EU stark unterrepräsentiert in derSpitzengruppe eines Rankings, das auf der Grundlage bi-bliometrischer Indikatoren der weltweit größten Univer-sitäten erstellt wurde. Ferner ist die Verknüpfung zwi-schen Technologie – patentierten Erfindungen – und derWissenschaftsbasis in der EU wesentlich schwächer alsin den USA. Europa tut sich schwer damit, sich in denneuen Hightechindustrien gut zu positionieren.

Wenngleich Investitionen des privaten Sektors fürForschung und Entwicklung von zentraler Bedeutungsind, sollte dem öffentlichen Sektor künftig eine wich-tige Rolle zufallen. Die öffentliche Hand muss in der EUweiter in FuE investieren, damit sich die FuE-Aktivitä-ten der Privatwirtschaft weiterentwickeln. Andererseitsmüssen wir das enge Zusammenwirken von Wissen-schaft und Forschung durch Public-Private-Partnershipdeutlich besser im Auge behalten Hier gibt es nochgroße Spielräume.

Die Konkurrenzfähigkeit unserer Forschungs- undEntwicklungskompetenzen können wir nur durch eineStärkung der Wettbewerbsfähigkeit des gesamten FuE-Systems erhöhen. Das setzt voraus, dass wir den Mut zueinem Wissenschaftsfreiheitsgesetz haben. Das könntedie Voraussetzungen für eine enge FuE-Zusammenarbeitzwischen Wirtschaft und Hochschulen, der Schaffungvon Wissenschaftsclustern und letztendlich auch für ei-nen Wissenschaftstarifvertrag schaffen.

Im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie sinddie Mitgliedstaaten neue, weit reichende Verpflichtun-gen eingegangen, indem sie Zielvorgaben für die künf-tige FuE-Intensität gemacht haben.

Der für Unternehmens- und Industriepolitik zustän-dige Vizepräsident der Kommission Günter Verheugenbetonte in diesem Zusammenhang, es sei wichtig, denstrukturellen Wandel nicht als Bedrohung, sondern alsMöglichkeit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zusehen: In Europa muss sich eine wirklich wissensba-sierte und innovationsfreundliche Gesellschaft heraus-bilden, die die Innovation nicht fürchtet, sondern will-kommen heißt, sie nicht behindert, sondern fördert.Verheugen rief dazu auf, Innovation als gesellschaftli-chen Grundwert zu etablieren.

Die Realität bei uns zu Lande zeigt jedoch: Das Gen-technikgesetz behindert nach wie vor die Entwicklung

der Grünen Gentechnik; es gibt keinen Durchbruch beider Stammzellenforschung durch den Abbau gesetzli-cher Hemmschwellen. Jeder zweite Student in höherenSemestern sieht seine Zukunft heute im Ausland. So-lange das im EU-Ausland ist, mag es ja noch in dieLissabon-Strategie passen, aber immer mehr sehen ihreChancen in den USA, in den Staaten Osteuropas und inAsien.

Wie sehen wichtige Leitlinien überhaupt aus? Es gehtum die Einrichtung innovationsfreundlicher Bildungs-systeme. Davon sind wir noch weit entfernt. Es geht umdie Gründung eines Europäischen Technologieinstituts,das europaweit Forschungsnetzwerke bildet, und es wirdja jetzt auch kommen.

Der Antrag der Grünen will aber genau das verhin-dern.

Es soll ein gemeinsamer Arbeitsmarkt für Forscheraufgebaut werden. Gerade hier war die Gesetzgebungdieser Bundesregierung – ich denke da in erster Linie andie Zuwanderung – nicht gerade förderlich. Die Verbin-dungen zwischen Forschung und Wirtschaft sollen inten-siviert werden. Hier wurde der zaghafte Versuch einerkleinen Lösung für die Forschungsprämie unternommenund nach Anmahnung durch die FDP noch um die Kom-ponente „gemeinnützige Forschungseinrichtungen“ er-weitert. Wir brauchen aber den großen Wurf für alle for-schenden Unternehmen in Deutschland. ÜberarbeiteteRegeln zu staatlichen EU-Beihilfen für Forschung undEntwicklung sowie für Innovationen bessere FuE-Steu-eranreize müssen Realität werden. Hier scheint ja Bewe-gung in die Diskussion gekommen zu sein, zumal einigeeuropäische Länder diesen Weg schon erfolgreich be-schreiten.

Die Zukunft ist nur mit und nicht gegen Europa zu ge-stalten.

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Seit dem sogenanntenMillenniumsgipfel im März des Jahres 2000 in Lissabonwerden in der Europäischen Union Wissenschaft, For-schung und Entwicklung sowie Wissenstransfer über ei-nen gemeinsamen Nenner definiert und strukturiert. Bis2010 soll der „wettbewerbsfähigste und dynamischstewissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“ entstehen.Alles, was nicht dieser Zielstellung dient, ist nachrangigund wird auch so behandelt. Die Linke hat diesen kon-zeptionellen Ansatz bereits mehrfach als einseitig kriti-siert.

Im Mittelpunkt dieses maßgeblich aus öffentlichenMitteln gespeisten Forschungsförderrahmens, dessenBestandteile das rund 50 Milliarden Euro schwere7. Forschungsrahmenprogramm (FP7) und die Schaf-fung eines Europäischen Forschungsraums sind, stehtnahezu ausschließlich wirtschaftliches Verwertungsinte-resse. Welche Forschung eine Gesellschaft braucht, umMenschen bessere Lebens- und Beschäftigungsbedin-gungen zu sichern und damit auch als Gesellschaft zivili-satorischen und kulturellen Fortschritt zu erhalten,taucht immer nur dann auf, wenn es Schnittmengen mitwirtschaftlichen Interessen gibt. Dabei muss gerade For-

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schung wesentliche Beiträge leisten, wie man langfristigden großen globalen Konflikten und Herausforderungensowie gesellschaftlichen Widersprüchen begegnenkönnte.

Eine entsprechende öffentliche Forschungsförderungsollte sich diesem Anspruch selbstbewusst stellen. Die„Freiheit von Forschung und Lehre“ muss im Mittel-punkt stehen und nicht die Ausrichtung auf Themen, diesich ökonomisch verwerten lassen. So melden sichgegenwärtig mehr und mehr Wissenschaftler und Wis-senschaftlerinnen zu Wort; die diese Entwicklung kriti-sieren. Sie wenden sich ausdrücklich gegen eine Ökono-misierung der Wissenschaftslandschaft und gegen dasKonzept, sich bei der Hochschulsteuerung an Unterneh-men zu orientieren.

Das Grünbuch „Der Europäische Forschungsraum:Neue Perspektiven“ und der zuständige EU-Kommissarfür Wissenschaft und Forschung, Jan Potocnik, stehenallerdings ganz klar für die in Lissabon definierteGrundausrichtung, einen europäischen Binnenmarkt fürdie Forschung zu schaffen. Die Linke hält diese strategi-sche Ausrichtung für einen gravierenden Fehler.

Daraus leitet sich ab, und das kritisieren wir Linkegleichermaßen, dass sich europäische Forschungs- undTechnologieförderung vor allem aus einem Block- undKonkurrenzdenken gegen andere Wissenschafts- undTechnologieregionen und -mächte definiert. Häufig ge-nannt werden in diesem Zusammenhang die USA oderdie aufholenden Asiaten wie China oder Indien. Ein ko-operativer globaler Ansatz wird ausdrücklich nicht ver-folgt. Es geht in jedem Falle um einen maximalen Mehr-wert für die europäische Wirtschaft.

So ist es wenig verwunderlich, wenn die Optimierungder Forschungsprioritäten – beispielsweise bei den im7. Forschungsrahmenprogramm geförderten gemeinsa-men Technologieplattformen – den Schwerpunkt aufThemen legt, die sich aus den Interessen der Industrie er-geben. Dazu gehören unter anderem die „Technologie-initiative Clean Sky“ oder auch ARTEMIS – die „Tech-nologieinitiative für eingebettete IKT-Systeme“. Die EUlässt sich mit „Clean Sky“ die Luft- und Raumfahrtfor-schung in den nächsten Jahren rund 800 Millionen Eurokosten; die eingebetteten Computersysteme werden vonder öffentlichen Hand mit rund 420 Millionen Euro sub-ventioniert. Alle Technologieinitiativen werden aber vonUnternehmen geleitet.

Auch die Entwicklung und Stärkung von Forschungs-einrichtungen richtet sich vorrangig nach ihrer themati-schen, materiellen, personellen und finanziellen Dienst-leistungsfunktion gegenüber der Industrie und demdaraus abgeleiteten spezifischen Bedarf an Wissens-transfer. Ein Beispiel dazu: Zum Fahrplan des Europäi-schen Strategieforums zu Forschungsinfrastrukturen,ESFRI, gehört das Projekt IFMIF, International FusionMaterial Irradiation Facility. Es soll Materialforschungfür zukünftige Fusionsreaktoren, sprich nukleare Ener-gieforschung, betreiben. Erwartete Kosten: Rund 850 Mil-lionen Euro.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es zwangsläufigzu einer dramatischen Ausblendung von Themen ausdem geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Be-reich kommen muss. Diese Wissenschaftsdisziplinenwerden häufig auf Akzeptanzforschung zur Einführungund Umsetzung von umstrittenen Technologien redu-ziert. So stellt das Sicherheitsforschungsprogramm dieEntwicklung von Detektionstechnologien zur Bekämp-fung von Terrorangriffen in den Vordergrund. Ängstevor einem aufgeweichten Datenschutz oder einge-schränkten Bürgerrechten werden hier als zu überwin-dende Hürden definiert, für die Konzepte zum „Dialogmit den Bürgern“ präsentiert werden sollen.

Dass Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften inder europäischen Forschungsförderung ins Hintertreffengeraten ist zumindest insoweit widersprüchlich, als dieKommission zwischen April und August 2007 ausge-sprochen interessante Handlungsrichtlinien veröffent-licht hat, die auf ethische Spannungsfelder in verschie-denen Forschungsfeldern Bezug nehmen. Vor diesemHintergrund hält es die Linke für notwendig, eine eigen-ständige und unabhängige Forschungskritik zu entwi-ckeln und diese Risikobegleitforschung auch angemes-sen zu finanzieren.

Die Linke kann die Europäische Kommission dahernur nachdrücklich auffordern, die eigene Position umzu-setzen und sowohl in der Spitze als auch der Breite derSysteme zu fördern. Auch die Einbindung von gesell-schaftlichen Akteuren bei der Auswahl forschungspoliti-scher Schwerpunkte muss offensiver verfolgt werden.Bisher werden in der Europäischen Gemeinschaft parti-zipative Verfahren nur am Rande aufgeworfen.

Sieht man einmal von der Grundkritik an der Ausrich-tung des europäischen Forschungsraumes ab, wirft dasGrünbuch aber auch wichtige und richtige Probleme auf.Dazu gehören unzureichende Forschungsinvestitionen,die Fragmentierung der Forschung, die Kritik an denMobilitätshindernissen für Forscher und Forscherinnen,ihre schlechten Arbeitsbedingungen und sehr begrenztenLaufbahnaussichten sowie nicht zuletzt die Unterreprä-sentanz von Frauen in der Wissenschaft.

Vergleicht man nun diese Überlegungen aus demGrünbuch mit der nationalen Forschungsförderung inDeutschland, dann zeigt sich eine ganze Reihe von Wi-dersprüchen.

Offensichtlich versuchen punktuell nicht nur 16 Bun-desländer Alleinstellungsmerkmale gegen das EU-Kon-zept zu realisieren, sondern auch die Forschungspolitikder Bundesregierung erschwert unnötig eine Harmoni-sierung der Forschungsbedingungen in Europa. Das zei-gen zum Beispiel die Föderalismusreform, die angekün-digte Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes, dasWissenschaftszeitvertragsgesetz und das jüngst von derKanzlerin gelobte Wissenschaftsfreiheitsgesetz, das imkommenden Frühjahr das Licht der Welt erblicken soll.

Doch eine leistungsfähige Forschung wird in Deutsch-land und Europa auf lange Sicht nur zu sichern sein,wenn den Beschäftigten nicht nur Mitsprache in betrieb-lichen, sondern auch in wissenschaftlichen Fragen ein-

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geräumt wird. Rechtliche Mindeststandards sollten imRahmen eines sektoralen sozialen Dialogs europaweit fi-xiert werden. Die Linke unterstützt daher alle Forderun-gen, die die „Empfehlungen der Europäischen Kommis-sion zur Charta für Forscher und einen Verhaltenscodexfür die Einstellung von Forschern“ aus dem Jahre 2005als verbindliche Grundlage bestimmen wollen.

Die Bundesregierung sollte mit den Bundesländernvereinbaren, das attraktivere Nachwuchsmodell der EUumzusetzen und damit die Promotion durchgängig alserste Phase wissenschaftlichen Arbeitens anzuerkennen.Deutsche Sonderwege auf nationaler, bundesstaatlicherund hochschul- bzw. wissenschaftseinrichtungsbezoge-ner Ebene erschweren zusätzlich die Begründung trans-parenter und attraktiver Beschäftigungsbedingungen füralle beteiligten Beschäftigungsgruppen – nicht nur fürSpitzenwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen. Diesesind ohne Engagement ihrer Mitarbeiter gar nicht in derLage, Spitzenforschung zu realisieren.

Die Linke betrachtet es zudem als entscheidendenRückschritt, dass innerhalb des 7. Forschungsrahmen-programms kein Gender-Action-Plan integriert wurde.Diesbezüglich ist einiges in Deutschland im letzten Jahrpositiv in Bewegung gekommen, gerade bei den großenForschungsorganisationen. Die Bundesregierung solltedaher die verbindliche Erfüllung von Gleichstellungskri-terien an die Vergabe von Forschungsmitteln knüpfen.

Abschließend sei betont: Die Linke hält das Grün-buch für eine wichtige Chance, europäische Forschungs-förderung kritisch zu überprüfen. Lassen Sie uns nunendlich die Weichen für eine verbesserte Forschungspo-litik und damit für künftige Rahmenprogramme der EUstellen.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diegrüne Fraktion ist der Ansicht, dass wir uns in der For-schungspolitik in stärkerem Maße, als dies bisher derFall ist, mit der europäischen Ebene beschäftigen müs-sen und die europäische Koordinierung und Kooperationzu stärken haben.

Deshalb debattieren wir heute unseren Antrag, mitdem wir in die Debatte um die Weiterentwicklung deseuropäischen Forschungsraumes einsteigen wollen. DieEuropäische Kommission hat zu diesem Thema einGrünbuch vorgelegt, das vielfältige Anforderungen undHandlungsbedarfe identifiziert. Ich möchte hier nur aufwenige zentrale Aspekte eingehen – wir werden dasThema in der Folge im Ausschuss dann noch erschöp-fend behandeln.

Am offensichtlichsten zeigt sich der Mehrwert einereuropäischen Dimension wahrscheinlich bei der Schaf-fung einer leistungsfähigen Forschungsinfrastruktur imBereich von Großanlagen. Gerade bei deren Einrichtunghat die Planung auf europäischer Ebene den Vorteil, dassmehrere Länder ihre Mittel bündeln können und so eineffizienterer Einsatz der Mittel und letztlich bessere undvielfältigere Möglichkeiten für die Forscherinnen undForscher eröffnet werden. Eine gesamteuropäische Pla-nung bietet den Vorteil, dass einzelstaatliche Versuche,

sich mit der Errichtung von Großprojekten zu profilie-ren, in europäisch koordinierte Bahnen gelenkt werdenund so ineffiziente Doppelungen und Lücken der Infra-struktur vermieden werden. Hinzu kommt, dass vorbild-hafte paneuropäische Infrastrukturen auch die Öffnungdes europäischen Forschungsraumes zur Welt befördern,weil sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausanderen Teilen der Welt anziehen. Allerdings ist bisherbei vielen Vorhaben der neuen „ESFRI-Roadmap“ nochnicht klar, wie sie finanziert werden können. Besondersbedenklich ist es, dass sich die Wirtschaft bisher selbstdann nicht engagiert, wenn die entsprechenden Einrich-tungen für sie von unmittelbarem Nutzen sind.

Zweitens sind die Forschungsrahmenprogramme einzentrales Element zur Verwirklichung eines europäi-schen Forschungsraumes. Mit dem inzwischen gestarte-ten 7. Forschungsrahmenprogramm sind die finanziellenMittel erhöht worden, wenn auch nicht so deutlich, wiees wünschenswert gewesen wäre. Außerdem sind wei-tere innovative Maßnahmen eingeführt worden, zumBeispiel der Europäische Forschungsrat, mit dem exzel-lente Grundlagenforschung eine echte gesamteuropäi-sche Ausrichtung erhält.

Es geht in der Zukunft darum, sicher stellen, dass wirfür eine kontinuierliche Verbesserung und den Ausbauder Forschungsrahmenprogramme Sorge tragen. Außer-dem muss es gelingen, den bürokratischen Aufwand beider Beantragung von Mitteln weiter zu reduzieren, sodass auch kleine Hochschulen, kleinere Forschungsein-richtungen und kleine und mittelständische Unterneh-men bessere Chancen auf eine erfolgreiche Beteiligunghaben.

Drittens muss sich der europäische Forschungsraumdurch die Mobilität der Forscherinnen und Forscher aus-zeichnen. Ein besonders schwerwiegendes Hindernis fürdie Mobilität von Forscherinnen und Forschern ist dieTatsache, dass häufig die Portabilität von Sozialversi-cherungsansprüchen nicht gegeben oder sehr unüber-sichtlich und schwierig ausgestaltet ist. Ziel muss essein, hier zu vernünftigen europäischen Regelungen zugelangen, um der besonderen Bedeutung des Wissen-schaftssektors und den erhöhten Mobilitätsanforderun-gen an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ge-recht zu werden. Wie dies gelingen kann, ist derzeit nochnicht klar, und hier wird sicherlich noch einiges an Ar-beit und Beratungsbedarf auf uns zukommen.

Es ist uns aber auch wichtig, zu betonen, dass der eu-ropäische Forschungsraum keineswegs eine Angelegen-heit sein soll, die alleine von der Kommission betriebenwird. An einigen Stellen des Grünbuches hat man aberden Eindruck, dass die Kommission zu stark auf einen„top down“-Ansatz setzt. Nach unserer Überzeugungwäre es zum Beispiel kontraproduktiv, wenn man natio-nale Forschungsförderungsprogramme grundsätzlich fürBewerber aus anderen europäischen Staaten öffnenwürde. Stattdessen sollte man hier lieber auf dezentraleKoordinierung und freiwillige Kooperation der Mit-gliedstaaten und der Forschungsinstitute setzen, wie diesja auch von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissen-

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schaftlern in ihren Reaktionen auf das Grünbuch geäu-ßert wird.

Im Übrigen sollte nach Auffassung der grünen Frak-tion ein Markenzeichen des europäischen Forschungs-raumes in einer starken Präsenz von Forschung und For-schungspolitik in der europäischen Gesellschaft liegen.Ein wirklicher europäischer Forschungsraum kann nurgelingen, wenn sich eine demokratische europäische Öf-fentlichkeit mit den Richtungen, Zielen und Bedingun-gen von Forschung auseinandersetzt. Zentral sind dabeioffene Debatten über die wissenschaftlichen Schwer-punkte, über Chancen aber auch Normen und Grenzenfür die Forschung. Eine erfolgreiche und verantwor-tungsvolle europäische Forschung braucht die offene ge-sellschaftliche Debatte über die Grenzen der National-staaten hinweg.

Wir treten dafür ein, dass das nationale Parlamentsich sehr entschieden in den weiteren Entscheidungspro-zess einbringt und die Weiterentwicklung des europäi-schen Forschungsraumes konstruktiv und kritisch be-gleitet. Ich freue mich deshalb auf unsere weiterenBeratungen auf der Grundlage des Grünbuches und un-seres Antrages.

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Ge-setzes zur Änderung des Versicherungsauf-sichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21)

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Das Bun-desverfassungsgericht erklärte im Juli 2005 Teile desbestehenden Versicherungsaufsichtsgesetzes für ver-fassungswidrig. Neu geregelt werden sollte die Be-standsübertragung durch Versicherungsvereine auf Ge-genseitigkeit und die Überschussbeteiligungen in derLebensversicherung. Unabhängig von diesem Urteil desBundesverfassungsgerichts war es notwendig, die Versi-cherungsaufsicht an internationale Standards anzupas-sen. Als Ergebnis liegt nun der Gesetzesentwurf derNeunten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz vor.

Wir als Unionsfraktion bewerten den Gesetzesent-wurf grundsätzlich positiv. Das Versicherungsaufsichts-gesetz wird im Sinne des Bundesverfassungsgerichts ge-ändert. Des Weiteren wird die Versicherungswirtschaftauf die kommenden Aufsichtsstandards im Rahmen dereuropäischen Solvency-II-Regelungen vorbereitet. Da-bei werden erhöhte Anforderungen an Entscheidungs-prozesse und das Risikomanagement in Versicherungs-unternehmen gestellt. Der Übergang von bisher zustarren Regelungen zu einer prinzipienbasierten Aufsichtgibt den Unternehmen jetzt größeren Handlungsspiel-raum und steigert die Wettbewerbsfähigkeit. Das stärktden Versicherungsstandort Deutschland nachhaltig!

Einen Punkt in der Novelle sehen wir in der Union al-lerdings kritisch. Die Regelungen für deutsche Pensions-fonds sind nach wie vor zu eng. Schon in der SiebtenNovelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz wurde dieser

Punkt verhandelt, allerdings dann doch zurückgestellt.Nun steht er wieder auf der Tagesordnung. Die größtendeutschen Unternehmen, also alle DAX-30-Unterneh-men und ein bedeutender Teil der größten mittelständi-schen Unternehmen, planen Folgendes: Sie wollen diebetriebliche Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter in eigen-ständige Pensionsfonds auslagern und absichern. DieBasis war das von der rot-grünen Regierung im Jahr2001 verabschiedete Altersvermögensgesetz. Allerdingshaben nur vier Betriebe bisher überhaupt Pensionsfondsgegründet. Das spricht nicht unbedingt für die aktuellenRegelungen. In der Tat beurteilen die Unternehmen dasgeltende Recht als zu einschränkend. Daher weicht einGroßteil von ihnen momentan auf Treuhandgesellschaf-ten aus, die sogenannten CTAs, Contractual Trust Arran-gements. Das Problem hierbei ist aber, dass diese Gesell-schaften weder einer Aufsicht noch einer Absicherungunterliegen.

Pensionsfonds hingegen sichern Betriebsrentenan-sprüche dreifach ab:

Erstens. Sie sind zu 100 Prozent durch Fondskapitalgedeckt.

Zweitens. Eine zeitweilige Unterdeckung, beispiels-weise bei großen Schwankungen am Aktienmarkt, istüber den Pensionssicherungsverein, PSV, abgesichert.

Drittens. Für alle Fälle müssen die Trägerunterneh-men haften. Dies wurde mit der Siebten VAG-Novelleeingeführt.

Es gibt hier nur einen strittigen Punkt: Die Deckungs-regeln sind zu rigide. Das benachteiligt eindeutig dieUnternehmen, die in Deutschland einen Pensionsfondsgründen möchten. Aktuell kann die Unterdeckung dieserFonds bei nur maximal 5 Prozent liegen, Das bedeutet,wenn die Differenz zwischen Pensionsansprüchen undFondsvermögen die Grenze von 5 Prozent überschreitet,so muss die Trägergesellschaft sofort einspringen undausgleichen. Besonders diese Ausgleichspflicht erfordertvon den Trägerunternehmen kurzfristig eine sehr hoheLiquidität. Mehr noch, sie sind sogar gezwungen, per-manent Liquidität bereitzustellen. Findet sich kein Kom-promiss, so besteht die Gefahr, dass die hier gewünsch-ten Pensionsfonds nicht hier, sondern im Auslandaufgelegt werden. Unsere europäischen Nachbarländerstehen auch schon in den Startlöchern und bieten sichganz offen als künftige Standorte für Pensionsfonds an.Wollten wir nicht gerade die großen, international täti-gen Unternehmen bewegen, ihre gesamten Betriebsren-tenansprüche über deutsche Pensionsfonds zu decken,um damit den Standort Deutschland zu stärken?

Ich bin der Meinung, dass die Unterdeckungsgrenzein Pensionskassen auf 10 Prozent angehoben werdensollte. Auch ein sofortiger Ausgleich wird von den Ex-perten, auch der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht, als nicht unbedingt zwingend erachtet.Ein Korridor von 10 Prozent der Rückstellungen ent-spricht internationalen Regelungen. Im Falle einer Un-terdeckung und einer Gefährdung der Erfüllbarkeit desPensionsplans müsste mit der Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht ein konkreter und realisierbarer

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Sanierungsplan erstellt und durchgeführt werden. Dieswürde auch der EU-Pensionsfondsrichtlinie entsprechen,die bereits im Rahmen der Siebten VAG-Novelle umge-setzt wurde.

Das Bundesministerium für Finanzen bringt im Zu-sammenhang mit einer Lockerung der Bedeckungsre-geln immer wieder das Argument von möglichen Steuer-ausfällen. Ich kann dem aber nicht zustimmen: Warum?Jede Zuführung zu Rückstellungen für die betrieblicheAltersvorsorge ist eine Verbindlichkeit des Trägerunter-nehmens. Sie mindert somit den Gewinn und folglichauch die Steuern, genau wie die Bewertungsdifferenz,die durch Übertragung von Pensionsansprüchen auf Pen-sionsfonds entsteht und über zehn Jahre abgeschriebenwerden muss. Auch die rigide Nachschusspflicht wirdnatürlich nur durch steuerabzugsfähige Nachschüsse er-füllt. Die Steuerfrage kann hier also keine Rolle spielen.

Insgesamt muss deutlich werden: Wir wollen flexib-lere Deckungsregeln im Aufsichtssystem. Wir wollenaber keine Änderungen oder besondere Vorteile im Steu-errecht.

Lassen sie mich abschließend noch kurz einen Punktvorbringen: Es geht um die sogenannten Rückstellungenfür Beitragsrückerstattungen. Die Bildung dieser Rück-stellungen ist nur zulässig, wenn sie ausschließlich fürdie Beitragsrückerstattung verwendet wird. Das Han-dels- und das Steuerrecht verlangen dies. Ich kann mirvorstellen, dass in bestimmten Fällen jedoch eine Ent-nahme aus diesen Rückstellungen gerechtfertigt er-scheint. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Ver-sicherer zu erhöhten garantierten Leistungen verpflichtetwird, die er an die Versicherten zu zahlen hätte. So kanneine Verlustabdeckung abgesichert werden. Die aus-schließliche Verwendung dieser Rückstellungen fürLeistungen an Versicherte bleibt schließlich gewahrt.Darüber hinaus muss auch immer die Bundesanstalt fürFinanzdienstleistungsaufsicht zustimmen. Ich halte dasfür eine sinnvolle Ergänzung zur Novelle des Versiche-rungsaufsichtsgesetzes.

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Das Bundes-verfassungsgericht hat in einem Urteil vom 26. Juli 2005§ 14 des Versicherungsaufsichtsgesetzes, VAG, für ver-fassungswidrig erklärt. Mit der vorliegenden Novellie-rung des Versicherungsaufsichtsgesetzes kommen wirdem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach, biszum 31. Dezember 2007 eine verfassungsmäßige Neure-gelung der Übertragung von Versicherungsbeständen zuerarbeiten.

Im Zuge der vorgelegten Novellierung der Versiche-rungsaufsicht unterziehen wir das Verhältnis der Auf-sichtsbehörde zu den Versicherungsunternehmen einerkritischen Revision und weiteren Verbesserungen. Dabeipassen wir es an Veränderungen internationaler Stan-dards für die Finanzaufsicht an, insbesondere hinsicht-lich des internen Risikomanagements der Unternehmen.Unsere Neuregelung sieht darüber hinaus vor, das Ver-fahren der Mindestüberschussbeteiligung der Versicher-ten in der Lebensversicherung im Interesse des Verbrau-cherschutzes zu vereinfachen.

Diese Klarstellungen liegen im Interesse der Verbrau-cherinnen und Verbraucher, die auf klare Vorschriftenfür die Produkte der Versicherungswirtschaft, derenVertrieb und Übertragung sehr großen Wert legen, umihre privaten Vermögensverhältnisse eigenverantwort-lich und mit hoher Rendite gestalten zu können.

Auch die Versicherungswirtschaft, die nach der Kre-ditwirtschaft das zweitgrößte Kapitalsammelbecken un-serer Volkswirtschaft darstellt, braucht Klarheit hinsicht-lich der aufsichtsrechtlichen Anforderungen an ihreProdukte. Klarheit und Kalkulierbarkeit in den Detailre-gelungen des Versicherungsvertrages können dazu bei-tragen, attraktive Produkte anzubieten und die starkeStellung der deutschen Versicherungswirtschaft im euro-päischen Wettbewerb zu verteidigen und auszubauen.Denn es kann im Wettbewerb mit anderen Unternehmeneinen großen Vorteil darstellen, wenn man potenziellenKunden klare Informationen über wichtige Rahmenda-ten eines Versicherungsvertragsverhältnisses gebenkann, beispielsweise über Bestandsübertragungen, Prä-mienberechnung oder Überschussermittlungsverfahren.

Die vorliegende Novelle trägt mit den Neuregelungenzu Bestandsübertragungen und Überschussermittlungenzur Etablierung eines voll entwickelten Finanzdienstleis-tungsmarktes im europäischen Rechtsraum mit einemfunktionierenden Aufsichtsregime und einem Höchst-maß an Rechtssicherheit für die Kundinnen und Kundender Versicherungsunternehmen bei. Sie schließt dabeinoch bestehende Regelungslücken in diesen Bereichen,wie wir dies schon im Bereich der Rückversicherung,beim Schutz der Versicherten im Falle von Unterneh-menskrisen und für die Aufsicht über Versicherungshol-dinggesellschaften getan haben.

Folgende Maßnahmen haben wir im Einzelnen vorge-sehen, um unser Ziel der Wahrung der Belange der Ver-sicherten und der Erfüllbarkeit der Verträge sicherzustel-len:

Das Bundesverfassungsgericht hat strenge Vorschrif-ten vorgegeben, nach denen ein Versicherungsunterneh-men alle oder einen Teil seiner Versicherungsverträgeauf ein anderes Versicherungsunternehmen übertragenkann. Solche Bestandsübertragungen müssen durch diezuständige Aufsichtsbehörde BaFin genehmigt werden.Allein ausschlaggebendes Kriterium für eine Genehmi-gung war bislang die Frage, ob die finanzielle Sicherheitder Versicherungsverträge gewahrt blieb.

Dieses Kriterium entwickeln wir mit dem vorliegen-den Entwurf weiter, indem wir die aufsichtsrechtlicheGenehmigung der Bestandsübertragung nur dann erlau-ben, wenn die Belange der Versicherten in vollem Um-fang gewahrt bleiben – ein wichtiger Beitrag zur Kon-kretisierung unseres Ziels des Verbraucherschutzes. BeiVersicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sichern wirbeispielsweise im Falle einer Bestandsübertragung denAnspruch der Mitglieder auf Zahlung eines angemesse-nen Entgelts.

Soweit erforderlich, übertragen wir diese Maßstäbeauch auf andere Versicherungsverträge mit Überschuss-

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beteiligung, beispielsweise die Altersrückstellung in derKrankenversicherung.

Die Vermögenswerte, die durch die Prämienzahlun-gen der Versicherten entstanden sind und der Erwirt-schaftung von Überschüssen dienen, müssen auch bei ei-nem Übergang eines Versicherungsvertrages auf einanderes Versicherungsunternehmen in gleichem Umfangerhalten bleiben. Diese gesetzliche Regelung der Über-schussbeteiligung in der Lebensversicherung wird be-gleitet durch das Gesetz zur Reform des Versicherungs-vertragsrechts, das wir am 5. Juli 2007 beschlossenhaben.

Der Schutz der Verbraucher stand auch bei einem As-pekt im Vordergrund, den wir im Versicherungsvertrags-gesetz im Sinne der Versicherten geregelt haben. VieleVersicherungsunternehmen hatten Prämienzahlung undVertragsabschlusskosten – die sogenannte Zillmerung –sowie negative Erträge und Überschüsse verrechnet,zum Nachteil der Versicherungskunden, deren Prämien-zahlungen sich dadurch reduzierten.

Die Vorschriften zur Ermittlung der Mindestüber-schussbeteiligung regeln wir hingegen mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf neu. Im Laufe der Zeit ergabensich Unterschiede in der Berechnung der Mindestüber-schussbeteiligung für „regulierte“ Verträge, denen eingenehmigter sogenannter Technischer Geschäftsplan zu-grunde liegt, und „deregulierte“ Verträge. Dies führtedazu, dass einzelne Verträge zulasten anderer systema-tisch und einseitig mit Risiken anderer Verträge belastetwerden. Diese unterschiedlichen Verfahren wollen wirvereinheitlichen.

Künftig können Verluste nur noch begrenzt mit Ge-winnen verrechnet werden. Die Bundesanstalt für Fi-nanzdienstleistungsaufsicht verfügt mit den von den Ver-sicherungsunternehmen vorzulegenden Berichten überdas geeignete Kontrollinstrument, um die Einhaltungdieser „Saldierungsbegrenzung“ seitens der Unterneh-men zu überwachen. Wir versprechen uns davon einedeutliche Vereinfachung der bislang geltenden Regelun-gen der Berechnung der Mindestüberschussbeteiligungder Versicherten.

Auch die international zu beobachtende Entwicklungvon der regelbasierten hin zu einer stärker prinzipienba-sierten Finanzaufsicht bilden wir mit der Novellierungdes Versicherungsaufsichtsrechts ab. Dieser Übergangweg von einem regelgebundenen Aufsichtsregime er-höht auch in der Versicherungswirtschaft die Anforde-rungen an die Entscheidungsprozesse innerhalb derUnternehmen. Um eine ordnungsgemäße Geschäftsorga-nisation innerhalb der Unternehmen der Versicherungs-wirtschaft zu gewährleisten, sieht die Neuregelung dieEntwicklung einer Risikostrategie sowie interne Steue-rungs- und Kontrollsysteme einschließlich einer internenRevision vor. Dies gilt natürlich auch für Unternehmens-gruppen, deren Risikomanagement Aufschluss darübergeben muss, wie sich die Verteilung der Risiken aufGruppenebene darstellt.

Die interne Berichterstattung erlaubt eine Einschät-zung des Risikos der Unternehmen, der Sensibilität des

Unternehmens gegenüber Änderungen des Umfeldes so-wie eine realistische Beurteilung der aus derartigen Än-derungen erwachsenden neuen Risikosituation und er-möglicht so der Geschäftsleitung, gegebenenfalls eineÄnderung der Geschäftspolitik oder andere geeigneteKorrekturmaßnahmen, zum Beispiel zur Risikominde-rung, einzuleiten.

Um eine praktikable Umsetzung zu ermöglichen undinsbesondere kleinere Versicherungsunternehmen vonbürokratischen Pflichten zu entlasten, gelten für Pen-sionskassen und kleinere Versicherungsvereine verein-fachte Kontrollanforderungen. Zudem eröffnen wir dieMöglichkeit, sich von bestimmten Anforderungen, wieder Ausfertigung eines Risikoberichts, freistellen zu las-sen, wenn der Aufwand für die betroffenen Unterneh-men unverhältnismäßig groß wäre.

Vorteil einer Regelung zu diesem frühen Zeitpunkt istes, dass damit die Versicherungswirtschaft Zeit erhält,sich auf die kommenden Aufsichtsstandards des euro-päischen Solvency-II-Regimes vorzubereiten. Damitmachen wir einen weiteren Schritt zur Entwicklung undVollendung eines europäischen Binnenmarktes für Fi-nanzdienstleistungen.

Wir hoffen, dass wir mit den vorgesehenen Neuerun-gen unsere Ziele der Neuregelung der Übertragung vonVersicherungsbeständen, des internen Risikomanage-ments der Versicherungsunternehmen sowie der Min-destüberschussbeteiligung erreichen. Damit nutzen wirunsere aufsichtsrechtlichen Gestaltungsspielräume, umwirksame Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, die dieKunden der Versicherungsunternehmen schützen. In Ge-sprächen mit Bürgerinnen und Bürgern mache ich aller-dings auch immer deutlich, dass staatliche Aufsichtsre-gelungen persönliche Verantwortlichkeit nur ergänzen,nicht aber ersetzen können.

Denn unsere Regelungen entheben sie nicht derPflicht, im eigenen Interesse die Risikowahrscheinlich-keiten zu kalkulieren und zur Ordnung ihrer Vermögens-verhältnisse die richtigen Versicherungsprodukte zuwählen. Wachsame Aufsichtsbehörden und kluges Risi-komanagement seitens der Unternehmen bedeuten nicht,dass sich Risiken komplett ausschalten oder versiche-rungsrechtlich auffangen lassen. Ihnen und allen Bürge-rinnen und Bürgern wünsche ich gute Entscheidungen,um das Verhältnis von Risiko und Chancen auch in Zu-kunft zu optimieren.

Frank Schäffler (FDP): Die Große Koalition ist inder Finanzmarktgesetzgebung eine Koalition der ver-passten Chancen. Dies sieht man in allen abgeschlosse-nen bzw. laufenden Gesetzgebungsverfahren. Ob REITS,ob Private Equity oder Investmentgesetz, um nur einigezu nennen: Immer machen Sie nur einen halben Schritt,nie geben Sie dem Finanzplatz Deutschland die Chance,im internationalen Wettbewerb den Platz einzunehmen,der ihm gebührt. Stattdessen misstrauen Sie dem Markt,beschließen staatliche Eingriffe und werfen der Finanz-branche Steine in den Weg.

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Das vorliegende Gesetzgebungsverfahren bildet dakeine Ausnahme. Natürlich setzt der Gesetzentwurf dieVorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu Bestands-übertragungen und zur Überschussbeteiligung in der Le-bensversicherung um; dagegen ist nichts zu sagen. Ent-scheidend ist jedoch, was wiederum nicht im Gesetzsteht. Sie haben seitens der Koalition – auch wenn derGesetzentwurf im Bundesfinanzministerium erarbeitetwurde, so ist er ja doch vom Kabinett insgesamt abge-segnet worden – das Thema „Flexibilisierung der Bede-ckungsvorschriften für Pensionsfonds“ erneut nicht auf-gegriffen. Dies ist umso bedauerlicher, als wir in denAusschussberatungen zur achten VAG-Novelle festge-halten hatten, dass das Thema bei der neunten Novelleaufgegriffen werden sollte.

Da der Regierungsentwurf eine Flexibilisierung nunnicht vorsieht, ist es unsere Aufgabe im parlamentari-schen Verfahren, diese Regelung noch ins Gesetz einzu-fügen. Ich bin zuversichtlich, dass der in der Anhörungzur Verfügung stehende Sachverstand uns erneut über-deutlich machen wird, dass wir hier im Interesse der in-ternationalen Wettbewerbsfähigkeit der inländischenPensionsfonds handeln müssen. Die Union hat hier ent-sprechende Bereitschaft signalisiert; es wäre nun an derZeit, dass sie auch die SPD davon überzeugt. Lassen Sieseitens der Union den Finanzplatz Deutschland nichtlänger „links“ bei der SPD liegen, sondern geben Sie dasTempo vor.

Die zuständigen Bundesratsausschüsse haben sich inihren Empfehlungen übrigens ebenfalls für eine entspre-chende Änderung des Gesetzentwurfs ausgesprochen,um Wettbewerbsnachteile für inländische Pensions-fonds zu beseitigen.

Beim Thema Solvency II gibt es einen Punkt, bei demsich alle Fraktionen einig sind. Soweit wir uns mit denAuswirkungen von Solvency II beschäftigen, darf esnicht dazu kommen, dass kleinere Unternehmen einemunverhältnismäßigen Aufwand ausgesetzt werden. Da-rauf sollten wir gemeinsam achten. Darüber hinaus soll-ten wir bei der Rückstellung für Beitragsrückerstattungeine Konkretisierung vornehmen, wann Mittel entnom-men werden können, um die gegenüber den Versiche-rungsnehmern ausgesprochenen Garantien sicherzustel-len. Dies ist deshalb so wichtig, weil die Rückstellungenfür Beitragsrückerstattung mit 42 Milliarden Euro mehrals 80 Prozent der Eigenmittel der deutschen Lebensver-sicherungsunternehmen umfassen. Die Branche und dieBundesratsausschüsse haben hierzu im Einklang mitdem Solvency-II-Richtlinienentwurf entsprechende Vor-schläge gemacht, die wir aufgreifen sollten.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-setzentwurf der Bundesregierung zur Neunten Novelledes Versicherungsaufsichtsgesetzes findet im Grundsatzdie Unterstützung meiner Fraktion.

So sehen wir in der Neuregelung des § 14 einenSchritt, der die Rechte der Versicherten stärkt. Aller-dings bedurfte es erst eines Urteils des Bundesverfas-sungsgerichtes, das die Bundesregierung zwang hier tä-tig zu werden. Zu kritisieren ist auch, dass die

Bundesregierung erst auf den letzten Drücker tätigwurde. Denn immerhin wurde dieser Passus bereitsMitte 2005 für verfassungswidrig erklärt. Spätestens mitder Achten Novelle des VAG hätte bereits die Möglich-keit bestanden diese Rechtsunsicherheit für die Versi-cherten zu beenden.

Desgleichen unterstützen wir die Festlegung der An-forderungen an das Risikomanagement der Versiche-rungsunternehmen, womit die zu erwartenden Solven-cy-II-Regeln vorweg in nationales Recht umgesetzt wer-den sollen. Maßnahmen, wie die Pflicht zur Vorlage desinternen Risikoberichts und die Ausdehnung anderer Be-richtspflichten gegenüber der staatlichen Aufsicht oderdie Sicherstellung der bevorzugten Behandlung von An-sprüchen der Versicherten im Insolvenzfall finden ohneZweifel unsere Unterstützung.

Wenn Ihre Politik des Rentenklaus in der gesetzlichenRentenversicherung schon diejenigen, die es sich leistenkönnen (!) in die Arme der Versicherungskonzernetreibt, dann muss wenigstens ausreichend dafür Sorgegetragen werden, dass der Umgang mit den Geldern derVersicherten nicht völlig den kurzfristigen Renditeinte-ressen der Versicherer überlassen wird.

Allerdings gilt es, in Anbetracht der Komplexität, diedas gesamte Solvency-II-Regelwerk mit sich bringenwird, auch darauf zu achten, dass damit kleine Versiche-rungsunternehmen, wie etwa regionale Haftpflichtversi-cherer, nicht überfordert werden. Solvency II darf keinBeitrag zur weiteren Monopolisierung des Versiche-rungsmarktes sein! Daher begrüßen wir es, dass Versi-cherungsunternehmen, die nur in Teilbereichen des Ver-sicherungsmarktes tätig sind, nicht die ganze Bürde derAnforderungen aufgezwungen wird.

Gebetsmühlenartig bemühen die Finanzpolitiker vonCDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im-mer wieder die Floskel von der Sicherung und dem Aus-bau des Finanzplatzes Deutschland, um neue Finanz-instrumente und Anlageformen hier zu Lande zuetablieren. Deren volkswirtschaftlicher Nutzen ist oftmehr als fragwürdig und die Staatseinnahmen werdendadurch in Milliardenhöhe belastet (Zulassung vonHedge-Fonds, REITs, Steuergeschenke für PrivateEquity Fonds etc.). Geht es hingegen um das Setzen vonaufsichtsrechtlichen Standards, die tatsächlich das Ver-trauen von Anlegern, vor allem aber von Versichertenstärken, dann tut sich manch einer von Ihnen doch rechtschwer damit. So habe ich während der gestrigen Sit-zung des Finanzausschusses doch mit einiger Verwunde-rung vernommen, dass aus den Reihen von CDU/CSUund FDP Stimmen laut wurden, Pensionsfonds einedeutlich größere Unterdeckung ihrer Verpflichtungen zuermöglichen. Da müssen Sie sich schon die Frage gefal-len lassen, weshalb sich die Attraktivität deutscher Pen-sionsfonds für Versicherte erhöhen soll, wenn zugleichdas Risiko für die Fondseinlagen erhöht wird? WelcheLehren ziehen Sie eigentlich aus den seit Monaten an-haftenden Turbulenzen auf dem Finanzmarkt und demBeinahe-Kollaps des britischen Versicherers „EquitableLife“?

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Die Linke wird sich jedenfalls für eine wirksame Ver-sicherungsaufsicht und gegen jegliche Ausweitung spe-kulativen Agierens auf den Versicherungs- und Finanz-märkten aussprechen. Nur so kann das Vertrauen derVersicherten gewahrt, die Finanzmarktstabilität gewähr-leistet und – wenn Sie so wollen – dem FinanzplatzDeutschland auf mittlere und lange Sicht Vertrauen ver-schafft werden. Wir fordern die Bundesregierung auf,sich auf EU-Ebene bei der Umsetzung von Solvency IIan den Interessen der Versicherten zu orientieren und da-für Sorge zu tragen, dass Versicherungsunternehmen dieAnlage der ihnen anvertrauten Gelder in Hedge-Fondsund anderen hochspekulativen Anlagegeschäften ver-wehrt bleibt.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das Versicherungsaufsichtsgesetz beschäftigt uns kurznach der Achten Novelle erneut. Hauptinhalt der Neun-ten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz ist eineUmsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom26. Juli 2005. In diesem Urteil wurden die Übertragun-gen von Versicherungsbeständen, wie sie bislang im Ver-sicherungsaufsichtsgesetz geregelt wurden, für verfas-sungswidrig erklärt.

Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die Be-lange der Versicherten von der Aufsichtsbehörde umfas-send festzustellen und ungeschmälert in die Entschei-dung über die Genehmigung und die dabeivorzunehmende Abwägung einzubringen sind. Bei Le-bensversicherungen muss gesichert sein, dass die durchPrämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versi-cherer geschaffenen Vermögenswerte im Fall von Be-standsübertragungen als Quellen für die Erwirtschaftungvon Überschüssen erhalten bleiben und den Versichertenin gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Aus-tausch des Schuldners. Bei Versicherungsvereinen aufGegenseitigkeit muss auch der Anspruch der Mitgliederauf Zahlung eines angemessenen Entgelts gewahrt blei-ben.

Grundsätzlich befürworten wir die vorgeschlagenenÄnderungen in dem Regierungsentwurf. Wichtig ist abernun, bei der Bestandsübertragung zu überprüfen, wie derÜbergang der Rechte und Pflichten des übertragendenUnternehmens auf das übernehmende Unternehmenvollzogen wird. Besonders vor dem Hintergrund derDiskussion über den Verkauf von Immobilienkrediten isteine sehr genaue Überprüfung der gesetzlichen Regelun-gen zur Wahrung der Verbraucherinteressen notwendig.

Wenn nun ein Versicherungsnehmer ein Produkt ab-geschlossen hat, das besondere Anlagestrategien ver-folgt, wie beispielsweise besonders ethische, ökologischoder soziale Kapitalanlagen und das zu übernehmendeUnternehmen diese nicht anbietet; dann sollte nach einerLösung gesucht werden, die auch gegebenenfalls einSonderkündigungsrecht für die Versicherungsnehmervorsieht.

Das Urteil der verfassungsrechtlichen Anforderun-gen an die Lebensversicherer ist zum Großteil schon indem Versicherungsvertragsgesetz umgesetzt worden.Die Berechnung, die Saldierung von Verlusten und Ge-

winnen für die Überschussberechnung obliegt aber derAufsichtsbehörde und unterliegt daher dem Versiche-rungsaufsichtsänderungsgesetz. Einer geäußerten Kri-tik, die die Bestandsübertragung bei Verträgen mit Über-schussbeteiligung betrifft, ist unseres ErachtensRechnung zu tragen. Bei Versicherungsverträgen mitÜberschussbeteiligung ist bei Übertragung sicherzustel-len, dass der Wert der Überschussbeteiligung des auf-nehmenden und des abgebenden Versicherungsunterneh-mens jeweils gleich bleibt. Dabei sollen auch die denVerträgen bereits zugewiesenen Bewertungsreservennach dem Zeitwert einbezogen werden.

Interessant bei der Neunten Novelle ist auch derÜbergang zu einer mehr prinzipienbasierten Aufsichtüber die Versicherungswirtschaft, gerade im Hinblickauf die geplanten europäischen Aufsichtsstandards fürdie Versicherungswirtschaft Solvency II. Da wird dieEntwicklung, wie sie mit Basel II bei den Banken statt-gefunden hat, auf den Versicherungssektor übertragen.Hierbei möchten wir die Zusammenhänge von der durchdas Versicherungsaufsichtsänderungsgesetz veranlass-ten Änderungen in Betracht auf Solvency II näher disku-tieren. Die weiteren Verhandlungen zu Solvency II fin-den auch erst nach Abschluss der Neunten VAG-Novellestatt, so dass wir die Debatte zu dem Versicherungsauf-sichtsgesetz auch vor dem Hintergrund der europäischenHarmonisierungsbestrebungen führen können.

Ein wichtiger Punkt bei der prinzipienbasierten Auf-sicht ist, wie die Aufsichtsbehörde durch die neu formu-lierten Anforderungen an das Risikomanagement derVersicherungsunternehmen das Risikoergebnis kontrol-lieren kann. In dem jetzt vorliegenden Regierungsent-wurf wird die Implementierung eines angemessenenRisikomanagementsystems bzw. einer angemessenenRisikosteuerung verlangt. Allerdings stellt der Entwurfder Bundesregierung nur auf die Implementierung derRisikosysteme und ihrer Funktionsfähigkeit ab, verlangtaber keine explizite Nennung des Risikoergebnisses.Hier stellt sich die Frage, ob dies genügt, um den beauf-sichtigenden Institutionen einen effektiven Überblick zuverschaffen.

Im Rahmen der Diskussion um die Achten Novelledes Versicherungsaufsichtsgesetzes wurde bereits überdie Frage der Unterdeckung bei Pensionsfonds gespro-chen. Damals wurde zugesichert, dass dies im Rahmender Neunten Novelle überprüft werden soll. Neben denbereits im Gesetz enthaltenen Punkten werden wir unsalso mit dieser Thematik befassen. Das ist auch richtigso. Als eine wichtige Säule der Altersvorsorge sollte diebetriebliche Altersvorsorge durch Pensionsfonds erleich-tert werden, und zwar auch mit Standort in Deutschland.Das entsprechende Altersvermögensgesetz trat am 1. Ja-nuar 2002 in Kraft. Pensionsfonds sind in Deutschlandaber noch nicht verbreitet. Wichtig wird es für diese Dis-kussion sein, dass wir klären, ob und wenn ja, in welcherHöhe eine Neuregelung Steuerausfälle verursachenwürde, und wie die Interessen der Verbraucherinnen undVerbraucher an Sicherheit bei ihrer Altersversorgung ge-währleistet werden können.

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Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge:

– Deutschland muss rüstungskontrollpoliti-sche Glaubwürdigkeit beweisen – Angepass-ten KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestagzur Abstimmung vorlegen

– Angepassten Vertrag über KonventionelleStreitkräfte in Europa ratifizieren

– Die Krise des KSE-Vertrages durch neueImpulse für konventionelle Abrüstung undRüstungskontrolle in Europa beenden

(Tagesordnungspunkt 20 a und b, Zusatztages-ordnungspunkt 9)

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU): Zweifelsohne hat sich der unmittelbar nach demEnde des Kalten Krieges allgemein herrschende abrüs-tungspolitische Enthusiasmus in den letzten Jahren ingewissem Maße erschöpft. Dachte man in den Jahrennach dem Fall der Berliner Mauer, nun sei entsprechen-der Raum gegeben für umfassende und globale abrüs-tungspolitische Initiativen, so mussten wir in den folgen-den Jahren feststellen, dass die Welt durch denUntergang des Kommunismus zwar ein bedeutendesStück freier, aber nicht in jeder Hinsicht stabiler gewor-den ist.

Nun finden wir uns wieder auf dem knarzenden Bo-den der Tatsachen. Neue Bedrohungen und ein damitverbundenes anhaltendes Gefühl von asymmetrischerGefahr und Unsicherheit in den internationalen Bezie-hungen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staa-ten in ihrer Gesamtheit, aber vor allem die alten undneuen aufstrebenden Großmächte nicht bereit sind, indem Sinne auf den Erhalt und Aufbau ihrer Waffenarse-nale in dem Maße zu verzichten, wie wir es uns in die-sem hohen Hause vielleicht wünschten.

Der Staatengemeinschaft sind zudem neue abrüs-tungspolitische Herausforderungen entstanden: Die Pro-liferation waffentauglicher Nukleartechnologie an Staa-ten wie an nichtstaatliche terroristische Akteure ist indiesem Zusammenhang hervorzuheben. Die AmbitionenIrans, den gesamten Brennstoffkreislauf zu beherrschenund die damit verbundenen Möglichkeit, atomare Waf-fensysteme zu entwickeln, stellen in diesem Zusammen-hang mit Sicherheit die dringendste Herausforderung fürdie Weltgemeinschaft dar.

Lediglich angesichts der Diskussionen um die vonRussland angedrohte Aussetzung des KSE-Vertrages voneiner erschütternden Krise der internationalen Abrüs-tungs- und Rüstungskontrollregime zu reden, wäre – beialler berechtigten Sorge – doch etwas pathetisch. Interna-tionale Kooperation mit Russland ist teilweise schwieri-ger geworden, doch sie besteht im Interesse aller Betei-ligten fort. Eher führt das rüstungskontrollpolitischeGesamtbild zum Krisenszenario.

Auch um die abrüstungspolitischen Kooperation zwi-schen der NATO und Russland ist es tatsächlich äußerstschwierig, aber weniger desaströs bestellt, wie dies teil-weise suggeriert wird. Dies gilt übrigens auch für die ab-rüstungspolitischen Bemühungen zwischen Russlandund den USA. Die weitgehend unbeachtet gebliebeneTatsache, dass Russland und die USA beim bilateralenGipfel von Kennebunkport die baldige Aufnahme vonGesprächen über eine Nachfolgeregelung des Ende 2009auslaufenden START-I-Vertrages vereinbart haben, darfin diesem Kontext genannt werden. Ziel dieser Gesprä-che soll es sein, die Anzahl der strategischen Atomwaf-fen auf das tiefstmögliche Maß zu verringern. Auch inFragen der Nichtverbreitung findet nach wie vor umfas-sende Kooperation statt. Anzeichen für eine unüber-windbare Krise sind demnach trotz des russischen Thea-terdonners faktisch noch nicht festzustellen. SovielNüchternheit sollten wir uns trotz aller Sorge um die hierzu behandelnde Thematik gönnen.

Präsident Putins Ankündigung, die Verpflichtungendes bisherigen KSE-Vertrages ab dem 12. Dezemberauszusetzen, verändert nicht die Sicherheitslage in Eu-ropa, sie verändert nicht die strategische Lage, aber sieberührt doch in gewisser Weise das besondere fragileVertrauensverhältnis zwischen Russland und der NATO,welches durch den KSE-Vertrag und die Nachfolgever-handlungen über den angepassten KSE-Vertrag geschaf-fen wurde.

Es ist aber in diesem Zusammenhang äußerst bedenk-lich, dass das grundlegende Vertragswerk über konven-tionelle Abrüstung, Sicherheit und Rüstungskontrolle inEuropa von russischer Seite zur Disposition gestelltwird. Trotz aller Mängel und Unzulänglichkeiten kommtdem bisherigen KSE-Vertrag doch eine hohe Symbol-kraft zu und es muss in unserem Interesse liegen, dass erin Kraft bleibt und weiterentwickelt wird.

Putin muss sich allerdings an der Erwartbarkeit dereigenen russischen Schritte messen lassen. Nicht erst seitder Münchner Sicherheitskonferenz sendet der Kremlunmissverständlich missverständliche Signale aus, die inunterschiedlichen, nicht immer homöopathischen Dosenauf die wohlberechneten Befindlichkeiten der unter-schiedlichen NATO-Staaten einwirken. Die von Moskauverfolgte Politik der rhetorischen Eskalation legt zudemden Verdacht nahe, dass Russland den hohen Eigenwertdes KSE-Prozesses unterschätzt und stattdessen den Ver-trag ganz offensichtlich als taktische Masse benutzt, umeuropäische Friktionspotenziale zu wecken und weiter-gehende, sachfremde Interessen zu verfolgen.

Unterschwellig vorhandene, diffuse Bedrohungs-ängste – dies gilt wiederum im besonderen Maße fürDeutschland – sollen durch wolkige Einlassungen undDrohungen unterfüttert werden. In diesem Sinne ent-spricht auch das von mir eingangs kritisierte allzu leicht-fertige Reden über sicherheitspolitische Krisen und einneues Wettrüsten mutmaßlich durchaus dem Kalkül der-jenigen, die den KSE-Vertrag zur Disposition stellen.Dieses Verhalten sehe ich nach wie vor als durchsichtigund als nicht akzeptabel an.

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Gleichwohl und erneut: Der KSE-Prozess befindetsich in einer kritischen Phase. In dieser Situation istDeutschland als wichtiger Förderer und Impulsgeber desKSE-Prozesses besonders gefordert, den Ratifizierungs-prozess nach Kräften zu unterstützen und zu befördern.

Wir begrüßen die bisher erfolgten Anstrengungen derBundesregierung, den Dialog innerhalb der KSE-Unter-zeichnerstaaten voranzutreiben. Deutschland kann undmuss den KSE-Prozess mit kreativen Ansätzen und ho-hem Engagement befördern. Um dieses Ziel zu verfol-gen gilt es nun, insbesondere den offenen und zielfüh-renden Dialog mit Russland weiterzuverfolgen. Hierinliegt eines der Kernanliegen dieses Antrages, aufwei-chen ich hier eingehen will.

Mit dem vorliegenden Antrag wollen die Fraktionenvon CDU/CSU und SPD ein deutliches Bekenntnis zumKSE-Vertrag und dessen Nachfolgeregelungen ablegen.Dieses Bekenntnis schließt allerdings das in Istanbulvereinbarte Junktim über den russischen Abzug aus Mol-dawien und Georgien ein. Ein Abrücken von eingegan-genen internationalen Verpflichtungen oder eine weitereInstrumentalisierung des Vertragswerkes für das Errei-chen anderer Ziele durch einzelne Vertragsstaaten musshingegen ausgeschlossen werden. Die Bundesregierungmuss verdeutlichen, dass sich der wichtige KSE-Vertragnicht als Verhandlungsmasse eignet. Je deutlicher undeinmütiger dies insbesondere gegenüber der russischenFührung kommuniziert wird, desto besser und zielfüh-render.

In diesem Sinne muss auch die angedachte Möglich-keit eines schrittweisen parallelen Ratifizierungsprozes-ses des A-KSE, den wir begrüßen würden, an die konse-quente Erfüllung der genannten Bedingungen gebundensein. Russland hat auch diesen Vorschlag reserviert aufge-nommen, obwohl dieser ein wesentliches Entgegenkom-men bedeutet. Moskau wäre gut beraten, die Initiativeaufzugreifen und seinerseits Zeichen der Konstruktivitätzu setzen. Um den Lösungsansatz zu ermöglichen ist dierussische Seite zudem aufgefordert, umgehend von ihrerangekündigten Aussetzung der Anwendung des gültigenKSE-Vertrages Abstand zu nehmen. Der konstruktiveund von den USA mitgetragene Vorschlag eines schritt-weisen Prozesses darf nicht als Carte blanche für Russ-land missverstanden werden.

Wir würdigen die hohe Symbolkraft des KSE-Vertra-ges und sehen ihn auch weiterhin und ungeachtet allerSchwierigkeiten als zentrales Instrument an, um die rüs-tungspolitische Vertrauensbildung in Europa zu befesti-gen und weiterzuentwickeln. Die Bundesregierungbleibt aufgefordert, auf alle Mitgliedstaaten des KSE-Vertrages einzuwirken, ein Scheitern des KSE-Prozesseszu vermeiden. Als Förderer des KSE-Prozesses undwichtiger NATO-Staat muss Deutschland ein hohes Inte-resse daran haben, langfristig auch die NATO-Mitgliederin das Vertragswerk miteinzubeziehen, die bisher nochnicht zu den Unterzeichnerstaaten gehören.

Letztlich gilt es jedoch in erster Linie auf die russi-sche Seite einzuwirken, ihren eingegangenen internatio-nalen Verpflichtungen nachzukommen. Dies betrifftebenso die Wahrnehmung der Vertragspflichten des bis-

herigen KSE-Vertrages wie auch die Erfüllung der Istan-bul-Commitments. Der Bundesregierung kommt daherauch die Aufgabe zu, Moskau auch im Rahmen des in-tensiven deutsch-russischen Dialoges von der langfristi-gen und allseitigen Bedeutung des A-KSE-Prozesses fürdas bilaterale Verhältnis der beiden Länder zu überzeu-gen.

Dr. Rolf Mützenich (SPD): Das KSE-Regime befin-det sich in einer tiefen Krise, nachdem der russische Prä-sident Wladimir Putin am 14. Juli 2007 die Aussetzungdes Vertrags ab dem 12. Dezember 2007 angekündigthat. Zuvor blieben sowohl die Dritte Überprüfungskon-ferenz vom 30. Mai bis 2. Juni 2006 wie eine auf AntragRusslands einberufene außerordentliche Konferenz allerKSE-Vertragsstaaten vom 12. bis 15. Juni 2007 in Wienohne Ergebnis.

Mit seiner Drohung, das KSE-Vertragssystem notfallsgänzlich infrage zu stellen, bringt Wladimir Putin diewestlichen Staaten in Zugzwang. Sie müssen nun ent-scheiden, was ihnen dieser „Eckpfeiler der europäischenSicherheit“ und die vertraglich vereinbarte Rüstungs-kontrolle insgesamt künftig wert sind. Der russischeVorstoß kam dabei nicht überraschend, sondern kündigtesich schon seit längerem an. Schon seit Jahren kritisiertRussland die westliche KSE-Politik. Dennoch: Rüs-tungskontrollpolitik darf nicht zum Spielball national-staatlicher Interessen gemacht werden.

Worum geht es? Der KSE-Vertrag legt Obergrenzenfür die Zahl der Waffensysteme vom Ural bis zum Atlan-tik fest. Ziel war es zunächst, das Ungleichgewicht kon-ventioneller Streitkräfte der Vertragspartner abzubauenund Überraschungsangriffe unmöglich zu machen. Indem am 19. November 1990 unterzeichneten KSE-Ver-trag einigten sich die Staaten des damaligen WarschauerPaktes und der NATO auf Grenzen für Waffenpotenzialewie Kampfpanzer, Artilleriesysteme oder Kampfhub-schrauber. Über 60 000 schwere Waffen wurden unterinternationaler Aufsicht zerstört.

Die veränderte Sicherheitslage nach Ende des War-schauer Pakts und der NATO-Erweiterung führte dann1999 in Istanbul zu einem „angepassten KSE-Vertrag“,A-KSE, mit insgesamt 30 Vertragsstaaten. Kern der An-passung waren nationale und territoriale Truppenober-grenzen, die nur nach Konsultationen mit den Partnerngeändert werden können. Alle KSE-Mitglieder unter-zeichneten zwar den A-KSE-Vertrag 1999, doch in Kraftgetreten ist er bis heute nicht. Nur vier der 30 KSE-Staa-ten – Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Uk-raine – haben ihn ratifiziert.

Die NATO-Staaten binden ihre Ratifizierung an dieEinhaltung der sogenannten „Istanbuler Verpflichtun-gen“, die besagen, dass Russland seine Truppen aus Ge-orgien und dem Gebiet Transnistrien in Moldawien voll-ständig abziehen müsse. Russland hingegen akzeptiertdiese Argumentation nicht. Dem zeitlichen Junktim hatRussland nie zugestimmt. Zudem hat Moskau den Ab-zug zwar politisch, aber nicht rechtlich verbindlich zu ei-nem bestimmten Termin zugesagt. Darüber hinaus hat esseine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum größten

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Teil erfüllt. So hat sich die russische Seite mit Georgienauf einen Stationierungsvertrag und den Abzug seinerTruppen bis Ende 2008 geeinigt und diesen bereits groß-teils umgesetzt. In Moldawien gebe es nur noch wenigeHundert Soldaten, die ein Munitions- und Waffendepotbewachen, das keinesfalls unbeaufsichtigt bleibenkönne.

Diese Argumentation lässt sich nicht vollständig vonder Hand weisen. Ich finde, dass man die BemühungenRusslands um die Umsetzung der in Istanbul eingegan-genen Verpflichtungen und die bislang erzielten Ergeb-nisse durchaus würdigen sollte. Man sollte auch andereBefürchtungen Moskaus ernst nehmen. Die Debatte umeinen NATO-Beitritt von Georgien und der Ukraine trägtebenso dazu bei wie das geplante US-Raketenabwehr-system in Polen und Tschechien. Dabei ist klar: Der Vor-stoß Putins stellt eine unzulässige Vermengung zwischender Raketenabwehr und dem KSE-Vertrag dar. Das einehat mit dem anderen nichts zu tun und sollte getrenntvoneinander behandelt werden.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es gelingenkann, den A-KSE zu ratifizieren und das KSE-Regimezu retten. Dies erfordert allerdings Bewegung auf beidenSeiten. Ich appelliere deshalb an die russische Regie-rung, dass sie den diplomatischen Bemühungen den not-wendigen Raum gibt und die angekündigte Suspendie-rung des KSE-Vertrages überdenkt. Ich fordere aberauch von den USA und den NATO-Partnern, auf die rus-sische Regierung einzuwirken und miteinander in einenkonstruktiven Dialog für ein rasches Inkrafttreten desA-KSE einzutreten. Dabei muss im NATO-Russland-Ratauch über die rüstungskontrollpolitischen Folgen desUS-Raketenschirms diskutiert werden.

Ein Ausweg aus der festgefahrenen Situation könntedarin liegen, dass auf westlicher Seite bereits jetzt eineGruppe von Staaten den A-KSE-Vertrag auf Vorrat rati-fiziert, um die Hinterlegung der Ratifikationsurkundenbei weiteren Fortschritten schnell vornehmen zu können.Gleichzeitig müsste die russische Seite die noch offenenIstanbuler Verpflichtungen zügig umsetzen und das an-gekündigte Moratorium aussetzen. Darüber muss drin-gend diskutiert und verhandelt werden.

Ich bin deshalb Außenminister Frank-WalterSteinmeier sehr dankbar, dass er vor wenigen Tagen inBad Saarow alle KSE-Vertragsstaaten sowie die balti-schen Staaten und Slowenien zu einem informellen Tref-fen zum Erhalt und Fortbestand des KSE-Regimes ein-geladen hat, um über diese Fragen zu diskutieren. Dabeikonnten ein erster Überblick gewonnen, bestehende Dif-ferenzen benannt und mögliche Lösungsansätze disku-tiert werden.

Konventionelle Rüstungskontrolle hat sicherlich inEuropa nicht mehr die Bedeutung, die ihr während desOst-West-Konflikts zukam. Gleichwohl wäre ein Schei-tern des KSE-Regimes verhängnisvoll und ein schwererRückschlag für die Vertrauensbildung in Europa. Es gibtaus deutscher und europäischer Sicht viele gute Gründe,am KSE-Regime festzuhalten. Es beschränkt effektiv dieMilitärpotenziale, es ist Grundlage für den Vertrag überden „Offenen Himmel“, der gegenseitige Inspektions-

flüge erlaubt, und für die Wiener Vereinbarungen zumjährlichen Austausch militärischer Daten unter denOSZE-Staaten.

Es liegt deshalb im Interesse Deutschlands und Euro-pas, dass Russland auch weiterhin in das KSE-Systemeingebunden und der KSE-Vertrag als Eckpfeiler euro-päischer Sicherheit erhalten bleibt. Die Verhandlungensollten darüber hinaus durch weitere abrüstungspoliti-sche Initiativen ergänzt werden. Angesichts der weitge-henden inhaltlichen Deckungsgleichheit der Anträgezum KSE-Regime möchte ich zum Schluss zu überlegengeben, die Anträge zu einem gemeinsamen interfraktio-nellen Antrag zusammenzufassen.

Elke Hoff (FDP): Am 12. Dezember 2007 soll dierussische Suspendierung des Vertrages über Konventio-nelle Streitkräfte in Europa in Kraft treten. Sollte dieseEntscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putinnicht doch noch abgewendet werden können, steht diekonventionelle Rüstungskontrolle in Europa vor demAus. Denn eine russische Suspendierung wäre de factoauch das Ende des KSE-Vertrages.

Ein Wegfall dieses tragenden Pfeilers der Stabilitätund Sicherheit in Europa steht im vollkommenen Wider-spruch zu den sicherheitspolitischen Interessen der Bun-desrepublik und aller anderen Mitgliedstaaten. Deshalbist es von entscheidender Bedeutung, dass die Vertrags-staaten gemeinsam einen Kompromiss finden, der denAusstieg Moskaus aus der konventionellen Rüstungs-kontrolle noch abwenden kann.

Doch ich habe wenig Hoffnung, dass dies ohne einglaubwürdiges und belastbares Signal vonseiten derNATO-Mitgliedstaaten gelingen kann. Denn selbst nachder von Bundesaußenminister Steinmeier erst vor zweiWochen so eifrig wie informell in Bad Saarow einberu-fenen Konferenz mit Vertretern aus 33 KSE-Mitglied-staaten, tritt die Vertragsgemeinschaft weiter auf derStelle. Nichts war zu hören von substanziellen Fort-schritten oder gar einem Durchbruch in Sachen KSE-Vertrag. Die Zeit für die Rettung der konventionellenRüstungskontrolle in Europa läuft damit langsam, abersicher ab. Wir dürfen hier nicht länger zusehen. Deutsch-land muss als wichtiger NATO-Staat in dieser Krise end-lich Vorreiter und Brückenbauer sein.

Wladimir Putin hat seine Entscheidung zur Suspen-dierung des KSE-Vertrages immer wieder mit Verweisauf die Stationierung einer US-Raketenabwehr auf euro-päischem Boden begründet. Aber in Wirklichkeit hat dieDebatte um den US-Raketenabwehrschirm dem russi-schen Präsidenten nur ein zweites Mal – nach der Dro-hung, den INF-Vertrag zu kündigen – als Vorwand ge-dient, um der russischen Unzufriedenheit mitinternationalen Abrüstungsvereinbarungen nachhaltigwie eindrucksvoll Ausdruck zu verleihen. Denn tatsäch-lich schwelt der Konflikt um die ausstehende Ratifizie-rung des angepassten KSE-Vertrages schon seit dem Jahr2000: Die NATO-Mitgliedstaaten machten vor dem Hin-tergrund des Tschetschenienkrieges die von Moskau1999 parallel zum A-KSE-Vertrag unterzeichneten soge-nannten Istanbuler Verpflichtungen – besonders den rus-

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sischen Truppenabzug aus Georgien und Moldau – zurVorbedingung für ihre Ratifizierung des A-KSE-Vertra-ges. Russland hat diese Vorbedingung nie anerkannt.Seitdem steht der Ratifizierungsprozess still.

Die Entscheidung von Präsident Putin zum De-facto-Ausstieg aus dem KSE-Vertrag hat nun die konventio-nelle Rüstungskontrolle in eine existenzielle Krise ge-stürzt und die NATO-Mitgliedstaaten unter Zeitdruckgesetzt. Eine Rettung des Vertragswerks kann nur er-reicht werden, wenn die NATO-Staaten mit Russland zueinem konstruktiven, lösungsorientierten Dialog zurück-finden. Hierfür bedarf es eines glaubwürdigen Signals,dass die NATO-Staaten auch weiterhin am A-KSE-Ver-trag festhalten und dass ihre harte Haltung bei den Istan-buler Verpflichtungen keine Verzögerungstaktik gegen-über einem unliebsamen Rüstungskontrollinstrument ist.Besonders die Vereinigten Staaten müssen hier von derBundesregierung an ihre Verantwortung und Leitbild-funktion erinnert werden. Dies muss aber geschehen,ohne den russischen Muskelspielen – die hier zweifelloseine nicht unbeträchtliche Rolle spielen – zu sehr entge-genzukommen.

Auch wenn Russland die Istanbuler Verpflichtungenbislang nicht erfüllt hat, ist mit dem russisch-georgi-schen Abkommen vom 31. März 2006 über den Abzugder russischen Streitkräfte aus Georgien ein wichtigerSchritt zur Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen ge-tan worden. Denn in Moldau wird lediglich nur nochüber den Abtransport alter russischer Munition gestrit-ten. Daher sollten die NATO-Mitgliedstaaten ihrerseitsvor dem Hintergrund des drohenden russischen Aus-stiegs aus dem KSE-Regime Beweglichkeit und Kom-promissbereitschaft demonstrieren.

Die FDP-Bundestagsfraktion fordert deshalb mit demvorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, den A-KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstim-mung vorzulegen und damit ein starkes glaubwürdigesSignal setzen, dass Deutschland weiterhin – trotz dieserKrisensituation – am A-KSE-Vertrag festhält. Eine Zu-stimmung des Deutschen Bundestages ermöglicht es,dass die Ratifizierungsurkunde für den A-KSE-Vertragbereits ausgestellt und die Ratifizierung damit weitestge-hend vorbereitet werden kann. So kann die deutsche Ra-tifizierung umgehend durch die Hinterlegung der Ratifi-zierungsurkunde wirksam werden, wenn Russland dieletzten Truppen aus Georgien abzieht. Ein solches Vor-gehen von Deutschland, als Vorreiter unter den NATO-Mitgliedstaaten, kann den Spagat schaffen, der wiederBewegung in den Ratifizierungsprozess des A-KSE-Ver-trages bringt:

Dieser Spagat bedeutet, ein glaubwürdiges Signal zusenden, dass am A-KSE-Vertrag festgehalten wird, unddarüber hinaus den Konsens der NATO-Staaten zu wah-ren, nicht vor Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungenden A-KSE-Vertrag zu ratifizieren. Sollten die anderenNATO-Mitgliedstaaten dem Beispiel der Bundesregie-rung folgen, könnte dies der Schritt zur Rettung desKSE-Regimes sein.

Mit dem von der FDP-Fraktion vorgeschlagenen Vor-gehen ist es möglich, unverzüglich nach einem endgülti-

gen russischen Truppenabzug aus Georgien die Ratifika-tionsurkunden zu hinterlegen und den A-KSE-Vertragumgehend in Kraft treten zu lassen. Eine solche „wei-testgehende Vorbereitung“ der Ratifizierung des A-KSE-Vertrages schafft eine konkrete Zukunftsperspektive fürdas KSE-Regime. Deshalb fordere ich die Bundesregie-rung auf, unserem Antrag zu folgen und dem DeutschenBundestag den A-KSE-Vertrag endlich zur Abstimmungvorzulegen und bei den NATO-Partnern für einen eben-solchen Schritt zu werben.

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Die Deregulie-rung der internationalen Beziehungen schreitet voran.Am sichtbarsten wird dies sicherlich am Krieg gegenden Terrorismus der USA, der fast vorbehaltlos von denNATO-Staaten und auch der Bundesregierung unter-stützt wird. Allenthalben werden völkerrechtlicheSchranken abgebaut, werden internationale Verträge auf-gekündigt oder nach Gutdünken der Mächtigen umdefi-niert. Vertrauensbildende Maßnahmen, einst Grundpfei-ler friedlicher Diplomatie, werden durch das Recht desStärkeren abgelöst.

Statt Rüstungskontrolle und Abrüstung bestimmenheutzutage Rüstungsmodernisierung und Aufrüstung dieAgenda. Das NATO-Bündnis, allen voran die USA, istfür mehr als zwei Drittel der weltweiten Rüstungsausga-ben verantwortlich. Die NATO-Mitgliedstaaten exportie-ren modernstes Kriegsgerät im Wert mehrerer Milliardenan andere Staaten und treiben die Aufrüstungsspiraleweiter an. Führende Mitgliedstaaten betreiben nach wievor eher eine Konfrontationspolitik und nehmen dafürdie Aushöhlung und Schwächung bestehender Kontroll-regime in Kauf. So ist die NATO in keiner Weise bereit,die Vorgaben des Nichtverbreitungsvertrags zu befolgen.Die USA, aber auch die NATO wollen nach einer sym-bolischen Ruhepause nach der Aufkündigung des ABM-Vertrags nun den Raketenabwehrschirm aufbauen, umsich vor den negativen Konsequenzen ihrer Aufrüstungs-politik zu schützen. Hier muss die Reißleine gezogenwerden. Wir brauchen einen neuen tragfähigen Ansatz inder Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Es mussum den Abbau der Rüstungspotenziale gehen. Den ver-trauensbildenden Maßnahmen muss wieder mehr Raumgegeben werden; sie müssen wieder verstärkt gefördertwerden.

Vor diesem Hintergrund ist die Sorge der Bundesre-gierung um den Fortbestand des KSE-Vertrags und ihreEmpörung über die Ankündigung der russischen Regie-rung im Juli, den KSE-Vertrag zum 12. Dezember auszu-setzen, geradezu verlogen. Wo war die Bundesregierung,als es acht Jahre lang darum ging, im Westen für eineUnterzeichnung des Anpassungsvertrags zum KSE-Ver-trag zu werben? Es ist ein Zeichen mangelnder Weitsichtder Bundesregierung, dass nicht bereits nach der Unter-zeichnung des Anpassungsvertrages wenigstens demDeutschen Bundestag ein Ratifikationsgesetz vorgelegtwurde.

Die Liste der Versäumnisse der Bundesregierungließe sich für andere Rüstungskontroll- und Abrüstungs-bereiche durchdeklinieren: das Verhalten in der Nuclear

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Suppliers Group angesichts des Nukleardeals zwischenden USA und Indien, das Festhalten an der nuklearenTeilhabe oder die Duldung einer Modernisierung deramerikanischen Atomsprengköpfe. Wo war die Bundes-regierung 2003, als es darum ging, die Pläne für eineAusweitung des US-amerikanischen Raketenabwehrsys-tems nach Europa zu unterbinden?

„Zu spät, zu wenig“, so kann man die Rüstungskon-trollpolitik der Bundesregierung beschreiben. Außenmi-nister Steinmeier betont zwar bei jeder sich ihm bieten-den Gelegenheit, wie zuletzt auch im Bundestag, wiewichtig ihm Abrüstung und Rüstungskontrolle sind – al-lerdings vor allem der anderen Staaten.

Natürlich darf das Verhalten der russischen Regierungnicht beschönigt werden. Der grundfalsche Kurs derNATO-Staaten, Russland bei den strategischen militäri-schen rüstungskontrollpolitischen Entscheidungen fürEuropa nicht auf Augenhöhe in die Diskussion einzubin-den und Rücksicht auf russische Bedenken zu nehmen,hat zu ebenso falschen Entscheidungen der russischenSeite geführt. Fakt ist, die Auseinandersetzung um denKSE-Vertrag ist vor allem ein Symptom der allgemei-nen, vom Westen mitverschuldeten Krise in der Rüs-tungskontrolle.

Um die eigentliche strukturelle Krise der Rüstungs-kontrolle zu überwinden, muss man allerdings vermei-den, den KSE-Vertrag zu mystifizieren. Die Realitätsieht längst anders aus. Die im Anpassungsvertrag neuvereinbarten Truppenobergrenzen stellen keine Ein-schränkung für die NATO dar. Die globale militärischeInterventionsfähigkeit der USA bzw. der NATO wirddurch die Regelungen in keiner Weise berührt. Den US-Truppen reichen permanente Materiallager als Sprung-brett in die Kriegsgebiete aus. Wir brauchen stattdessenein weiterführendes und den geänderten Bedingungenangepasstes Konzept zur konventionellen Rüstungskon-trolle in Europa, welches auch die qualitative Dimensionberücksichtigt und neue Rüstungstechnologien mit ein-bezieht.

Gleichzeitig gilt aber auch: Die für den Weltfriedenwichtige Rüstungskontrolle kann keine weiteren Krisengebrauchen. Der KSE-Vertrag schaffte eine weltweit ein-malige Transparenz über die Stationierung von Streitkräf-ten in einer Region und zählt aufgrund des Verifikations-systems zu einem der wichtigsten vertrauensbildendenMaßnahmen. Es ist wichtig, dass beim KSE-Vertrag derSchalter doch noch umgelegt wird. Dies sollte zudem dasStartsignal für weitergehende Verhandlungen über kon-ventionelle Abrüstung im OSZE-Rahmen sein.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der russische Präsident Putin hat am 14. Juli angekün-digt, dass Russland mit Wirkung vom 12. Dezember die-ses Jahres die Anwendung des KSE-Vertrages und desFlankendokuments von 1996 aussetzen werde. UnsereFraktion bedauert das zutiefst und fordert Russland auf,auf eine Aussetzung des KSE-Vertrages zu verzichten.Der KSE-Vertrag ist eines der zentralen Instrumente derRüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Europa.Wer die Anwendung des KSE-Vertrages aussetzt, setzt

damit auch das Zeichen, dass für ihn die Zeit der koope-rativen Sicherheitspolitik ausläuft. Das kann und darfnicht im Interesse Russlands und Europas sein.

Wenn Putin, wie jüngst geschehen, von der „Wieder-auferstehung“ der russischen Armee redet, mag man dasals Innenpolitik oder Wahlkampfmanöver abtun. Wirfürchten, das ist mehr. Die politische und militärischeFührung Russlands hat in den vergangenen Monatenwiederholt Signale gesendet, dass sie gewillt ist, zu einerkonfrontativeren Politik gegenüber dem Westen zurück-zukehren. Die verbale und ideologische Aufrüstung istvor dem Hintergrund der geplanten Stationierung ameri-kanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tsche-chien sowie dem immer weiteren Heranrücken derNATO an Russland in vollem Gange. Auch im militäri-schen Bereich hat die russische Führung in den vergan-genen Wochen die Muskeln demonstrativ spielen lassen.

Solche Drohgebärden sind kontraproduktiv. Sie kön-nen das fragile Gebäude der Rüstungskontrolle und Ab-rüstung weiter zum Einsturz bringen. Es ist kein Ge-heimnis, dass es in den USA, bei europäischen NATO-Partnern und in der Bundesregierung durchaus Kräftegibt, die die vertragliche Rüstungskontrolle und Abrüs-tung als Fessel empfinden und abstreifen wollen. Die imDezember 2001 erfolgte ersatzlose Aufkündigung desABM-Vertrags vonseiten der Bush-Administration wardabei ein Dammbruch. Putin hat sich diesem Ansinnennicht widersetzt. Im 2002 geschlossenen Moskauer Ver-trag über den Abbau strategischer Offensivwaffen habenBush und Putin auf ein Verifikationssystem verzichtet.Die USA haben im Mai dieses Jahres angekündigt, den1991 unterzeichneten START-Vertrag 2009 auslaufen zulassen. Russland hat signalisiert, dass es damit keinenennenswerten Probleme hat und sich mit einem weni-ger formalisierten Folgeabkommen abfinden könnte.

Die Drohungen aus Russland, gegebenenfalls auchden Mittelstreckenraketenvertrag aus dem Jahr 1987 zukündigen, haben auf amerikanischer Seite niemandenbeeindruckt. Dort ist man anscheinend bereit, die Auf-kündigung dieses historischen Vertrages in Kauf zu neh-men. Das Risiko für die USA wäre – im Gegensatz zuEuropa – minimal. Abrüstungspolitisch bewegen wir unsdamit in Richtung der Vor-Gorbatschow-Ära. Dies kannnicht das Interesse Deutschlands und der EU sein. Wirdürfen nicht zulassen, dass die multilaterale Rüstungs-kontrolle an die Wand gefahren wird.

Der Antrag der Regierungsfraktionen verspricht, dieKrise des KSE-Vertrages durch neue Impulse beendenzu wollen. Diese Impulse bleiben Sie schuldig. Sieschieben den Schwarzen Peter Russland zu. Wir solltennicht so tun, als wäre der KSE-Vertrag erst per Dekretaus Moskau in die Krise geraten. Wir sollten nicht sotun, als hätte es die NATO-Erweiterung 2004 nicht gege-ben und als würden Georgien und die Ukraine nicht ander Pforte der NATO auf Einlass warten. Wir solltenauch nicht so tun, als würden Militärbasen in Rumänienund Bulgarien oder die Stationierung von Raketenab-wehrsystemen in Europa russische Sicherheitsinteressennicht berühren. Der Westen hat durch das Verschleppender A-KSE-Ratifizierung an der Krise des KSE-Regimes

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eine nicht unwesentliche Mitverantwortung. Wir müsseneinen wesentlichen Teil der Kritik Russlands ernst neh-men und nach Wegen suchen, wie wir zu einer vertrau-ensvollen Zusammenarbeit zurückkehren können.

Es mag im Jahr 2000 gute Gründe gegeben haben,warum man bei der NATO auf die vorherige Erfüllungder sogenannten Istanbul-Verpflichtungen beharrt hat.Die Lage hat sich in den vergangenen sieben Jahren,zum Beispiel durch den 11. September oder durch dieNATO-Erweiterung in vielfacher Hinsicht substanziellverändert. Russland hat Schritte zur Erfüllung der Istan-bul-Verpflichtungen in die Wege geleitet. Die müssenumgesetzt und abgeschlossen werden. Die grundsätzli-che Blockadehaltung der NATO ist für uns nicht mehrnachvollziehbar.

An der restlichen Implementierung der Istanbul-Ver-pflichtungen darf die Ratifizierung des A-KSE-Vertragesnicht scheitern. Wir sind der Auffassung, der Vertragmuss jetzt unverzüglich ohne Wenn und Aber ratifiziertwerden. Gleichzeitig sollte ein Prozess in die Wege ge-leitet werden, wie die seit 1999 neu hinzugekommenenFragen der konventionellen Rüstungskontrolle im ge-genseitigen Einvernehmen gelöst werden können. Wirkönnen die Rüstungsobergrenzen ohne Sicherheitsver-lust weiter senken und auf andere Waffenkategorien aus-weiten. Der NATO-Russland-Rat und die OSZE habenihr Kooperationspotenzial im Rüstungskontrollbereichnoch nicht ausgeschöpft.

Wir haben zur Kenntnis genommen, dass Außenmi-nister Steinmeier in den vergangenen Monaten Schritteunternommen hat, um den Streit um die Ratifizierungdes A-KSE-Vertrags zu entschärfen und den Dialog inGang zu halten. Wir haben den Eindruck: Dem Außen-minister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternist es ernst. Sie sind daran interessiert, den A-KSE zumErfolg zu führen. Unsere Unterstützung haben Sie.

Gleichzeitig haben wir Zweifel, ob die Unionsfraktio-nen tatsächlich an einem Erfolg des Außenministers in-teressiert sind. Zum wiederholten Male versagt dieUnion dem Außenminister und dem Koalitionspartner inAbrüstungsfragen die Unterstützung. Wer die Bundesre-gierung nicht dabei unterstützt, unverzüglich den Ratifi-zierungsprozess einzuleiten, nimmt das Scheitern desKSE-Regimes billigend in Kauf. Was die Regierungs-koalition als Antrag vorlegt, ist daher ein Armutszeug-nis. Viel deutlicher kann man den Außenminister nichtim Regen stehen lassen.

Der Vorschlag der FDP, den Vertrag in Deutschlandzu ratifizieren, die Ratifizierungsurkunde aber nicht zuhinterlegen, ist nicht neu. Vor sieben Jahren wäre daseine gute, vor sieben Monaten eine noch denkbare Op-tion gewesen. Heute, so befürchte ich, hilft uns dieserTrippelschritt nicht mehr weiter. Für solche Spielchen istkeine Zeit mehr. Entweder wird der A-KSE-Vertragschnellstmöglich ratifiziert und weiterentwickelt, oderdas KSE-Regime wird in wenigen Monaten der Ge-schichte angehören und zu Grabe getragen – mit allenUnwägbarkeiten für die Rüstungskontrolle insgesamt.

Der angepasste KSE-Vertrag schafft bessere Verifika-tionsbedingungen, senkt die Obergrenzen und ermög-licht zum Beispiel auch den überfälligen Beitritt anderereuropäischer Staaten. Die Ratifizierung des angepasstenKSE-Vertrages war in Russland 2004 nicht unumstritten.Sie war ein Vertrauensvorschuss an den Westen, den wirjetzt, in dieser kritischen Phase, erwidern sollten. Gehenwir einen großen Schritt auf Russland zu. Stärken wirdem deutschen Außenminister bei dieser schwierigenMission den Rücken. Lassen Sie uns in Deutschland denA-KSE-Vertrag unverzüglich ratifizieren und damit auchein Zeichen für andere NATO-Partner setzen. Sorgen wirdafür, dass das System der konventionellen Rüstungs-kontrolle in Europa erhalten und weiter ausgebaut wird.Dafür werben wir in unserem Antrag.

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuchund anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 23)

Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute findet dieerste Lesung des Gesetzes zur Änderung des Vierten Bu-ches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze statt. DerGesetzentwurf zielt vor allem auf Veränderungen in dreiProblembereichen:

Zum einen gehen wir mit den vorgesehenen Änderun-gen im Verfahrensrecht weitere Schritte auf eines derZiele unserer Koalition zu, den Bürokratieabbau. Damittragen wir zu vereinfachten Arbeitsabläufen für alle Be-troffenen bei.

Des Weiteren sollen offene Fragen in Bezug auf dieVerwaltungspraxis der Träger der Rentenversicherunggeklärt werden.

Schließlich setzen wir mit dem Gesetzentwurf die Ka-binettsentscheidung vom 13. Dezember 2006 um undverteilen die Erstattungslasten zwischen dem Bund undden fünf „neuen“ Ländern aus dem Anspruchs- und An-wartschaftsüberführungsgesetz neu.

Die Bundesregierung arbeitet für die Änderung desSozialversicherungsgesetzes eng mit den Vertretern derArbeitgeberverbände und der Sozialversicherungsträgerzusammen. Damit wird sichergestellt, dass das Recht aufder Höhe der Zeit bleibt, also dass die Änderungen aufdie derzeitigen Erfordernisse in den Betrieben und beiden Sozialversicherungsträgern zugeschnitten sind. Die-ser Dialog trägt wesentlich dazu bei, dass das Sozialver-sicherungsänderungsgesetz ein Erfolg wird, indemArbeitsabläufe passgenau vereinfacht oder zusammen-gefasst werden. Dafür möchte ich den Arbeitgeberver-bänden und den Sozialversicherungsträgern an dieserStelle herzlich danken. Danken für die gute und kon-struktive Zusammenarbeit, die keine Selbstverständlich-keit ist, sondern Beharrlichkeit und Ausdauer erfordertund ein kontinuierliches Aufeinanderzugehen um derSache willen. Der Normenkontrollrat spricht in diesemZusammenhang sogar davon, dass dieser kontinuierliche

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Dialog der Bundesregierung mit den Arbeitgeberverbän-den und Sozialversicherungsträgern richtungweisend ist.Lassen Sie uns daran auch in Zukunft festhalten!

Um die drei angesprochenen Ziele des Gesetzent-wurfs zu erreichen, haben wir neben all den technischenVeränderungen viele kleine Anpassungen vorgenom-men. Diese Kleinarbeit auf dem Weg zu unserem ZielBürokratieabbau ist nicht populistisch verkäuflich, da sievon der Allgemeinheit nicht hoch angesehen wird. Siewerden selten jemanden finden, der Ihnen dafür dankbarauf die Schulter klopfen wird. Und dennoch ist dieseKleinarbeit wichtig, da die Ergebnisse der in diesem Ge-setzentwurf vorgenommenen Änderungen konkrete Ver-besserungen für die jeweils Betroffenen mit sich brin-gen. Auf einige davon gehe ich im Folgenden genauerein.

Die Zusammenfassung der Vorschriften im Bereichdes Sozialversicherungsausweises und die Aufhebungder Sozialversicherungsausweisverordnung begrüße ichausdrücklich. Diese Neuerungen tragen wesentlich zu ei-ner größeren Übersichtlichkeit und damit vor allem zueiner Entlastung der Arbeitgeber bei. Auch der Bundes-verband der Arbeitgeber und der Zentralverband desDeutschen Handwerks stimmen hier mit uns überein undbegrüßen die geplanten Änderungen.

Ein besonders zukunftsträchtiges Zeichen sehe ich inder Vollautomatisierung des Melde- und Beitragsverfah-rens sowie der vollautomatischen Rückmeldung an dieArbeitgeber. Diese technischen Neuerungen stellen we-sentliche Erleichterungen dar, kann die Information docheinmal eingegeben und ohne weiteren Aufwand weiterverwendet werden. An sich wurde das Verfahren schonzum 1. Januar 2006 eingeführt, aber erst mit dem Sozial-versicherungsänderungsgesetz wird durch die verbindli-che Genehmigung von entsprechenden Datensätzen dieVoraussetzung für eine komplette Umstellung der Ar-beitgeber vom Papier- auf das elektronische Verfahrengeschaffen. Schätzungen des Bundesministeriums fürArbeit und Soziales zufolge können mit dieser Maß-nahme rund 7 Millionen Euro jährlich eingespart wer-den.

Durch die zum 1. Januar 2009 geplante zentrale Mel-destelle für alle berufsständischen Versorgungseinrich-tungen müssen die Unternehmen die Unterlagen zukünf-tig auch nicht mehr in Papierform an mehr als 80verschiedene Einrichtungen schicken. Damit sollte derBearbeitungsaufwand sowohl für die Arbeitgeber alsauch für die Versorgungseinrichtungen reduziert werden.Das Ministerium spricht hier daher von Einsparungen inHöhe von rund 45,36 Millionen Euro.

Diese und weitere Änderungen der Informations-pflicht werden daher auch ausdrücklich vom Normen-kontrollrat gelobt, und es wird von einer Entlastung ge-sprochen.

Die für mich zentrale Verbesserung des hier vorlie-genden Entwurfs des Sozialversicherungsänderungsge-setzes sind die Änderungen in Bezug auf die Familienan-gehörigen im Handwerk. Endlich kam es hier zu einerKlärung des Status derselben. Dies ist ein Ergebnis aus

der Zusammenarbeit mit dem Zentralverband des Deut-schen Handwerks und anderen sowie des kontinuierli-chen Einsatzes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion fürdieses Ergebnis. Bisher haben die Familienangehörigenin Handwerksbetrieben zwar meist Sozialversicherungs-beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einge-zahlt, damit jedoch nicht automatisch einen Anspruchauf Leistungen erhalten. Begründet liegt das in der Ein-stufung der Familienangehörigen durch die Sozialversi-cherungsträger als Unternehmer und nicht als Arbeitneh-mer. Bereits mit dem Vierten Gesetz für moderneDienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) konntehier ein Teilerfolg errungen werden: Für diejenigen, dieab dem 1. Januar 2005 erstmalig der Einzugsstelle alsArbeitnehmer gemeldet wurden, wurde das automati-sche Feststellungsverfahren durchgeführt. Damit findetfür diese zugleich auch die leistungsrechtliche Bindungder anderen Sozialversicherungsträger statt. Es blieb je-doch dabei, dass Altfälle nur durch Klagen und langwie-rige Verfahren zu ihrem Recht kommen konnten, und beiden Neufällen waren nur die Ehegatten automatisch be-rücksichtigt, für Kinder musste ein gesonderter Antraggestellt werden.

Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf kommt esfür die Familienangehörigen von Handwerkern nun zuweiteren Verbesserungen:

Zum einen wird das automatische Feststellungsver-fahren ausgeweitet und damit auf Ehegatten und Kinderzugleich angewendet. Die Prüfung wird dabei über dieClearingstelle der Deutschen Rentenversicherung erfol-gen. Damit erhalten dann endlich alle im Handwerksbe-trieb angestellten Familienangehörigen für ihre Zahlun-gen in die Sozialversicherung im Bedarfsfall auch diedamit verbundenen Leistungen.

Zum anderen wurde die Regelung hinsichtlich der be-reits gezahlten Beiträge von Familienangehörigen zurgesetzlichen Rentenversicherung geändert. Diese geltenin Zukunft als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge, wo-durch eine Schlechterstellung der in Handwerksbetrie-ben angestellten Familienangehörigen gegenüber demtatsächlich Pflichtversicherten verhindert wird. Eine Er-stattung der gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Renten-versicherung findet zwar nicht statt, aber die Beiträgebleiben zukünftig als solche erhalten.

Auch an dieser Stelle ist der Dialog hervorzuheben,der hier mit dem Zentralverband des Deutschen Hand-werks, den Unternehmerfrauen des Handwerks und an-deren geführt wurde und letzten Endes zu mehr Rechts-sicherheit durch diese für die Betroffenen in der Praxisrelevanten Verbesserungen führen wird. Daher auch andieser Stelle herzlichen Dank an all diejenigen, die zudiesem Ergebnis beigetragen haben. Ein Ergebnis, daseine erhebliche und nachhaltige Verbesserung für Hand-werkerfamilien bringt, da nun endlich ein automatischesFeststellungsverfahren durchgeführt wird und somit diesoziale Absicherung rechtssicher geregelt wird. Undauch hier die Aufforderung: Weiter so!

Auf zwei weitere konkrete Beispiele aus dem Gesetzmöchte ich noch eingehen, zwei für die Allgemeinheitwohl nur kleine Beispiele, die für die jeweils Betroffe-

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nen jedoch wichtige Veränderungen mit sich bringen:Für gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen eine Bes-serstellung und für Unternehmen eine weitere Vereinfa-chung.

Im Sozialversicherungsänderungsgesetz ist vorgese-hen, dass gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen bei derInanspruchnahme von Sozialleistungen einen Dolmet-scher beanspruchen können. Damit wird es in Zukunftüber die Kostenübernahme keinen Streit mehr geben, dadiese in Höhe der Sätze des Justizvergütungs- und -ent-schädigungsgesetzes (JVEG) vorgenommen werden soll.Konkret heißt das, dass für einen Dolmetschereinsatz beider Ausführung von Sozialleistungen die Kosten dafürmindestens in der Höhe erstattet werden, die bei einemvorgelagerten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren ent-stehen würden. Damit werden gehörlose und hörbehin-derte Menschen beim Dolmetschereinsatz anlässlich derAusführung von Sozialleistungen in Zukunft genauso ge-stellt wie in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren. DieRegelung dient dabei sowohl der Gleichbehandlung alsauch dem Abbau von Bürokratie und damit der Reduzie-rung von Kosten.

Das andere Beispiel, auf das ich eingehen wollte, sinddie Krankengeldzuschüsse – ein kleines, aber oft leidi-ges Thema für Unternehmen. Leidig vor allem dann,wenn durch Tarifverträge vereinbart wurde, das Kran-kengeld durch einen Arbeitgeberzuschuss auf 100 Pro-zent des vorherigen Nettoentgelts aufzustocken. Dennschon allein die Fortzahlung von Kleinstbeträgen, wiedie Erstattung von Kontoführungsgebühren oder Zu-schüssen zu vermögenswirksamen Leistungen, war bis-her beitragspflichtig. Der dadurch entstehende Berech-nungs-, Melde- und Nachweisaufwand steht jedoch zurBeitragshöhe oft in keinem vertretbaren Verhältnis. Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf soll daher künftig eineBagatellgrenze von 50 Euro pro Monat laut § 23 cSGB IV eingeführt werden. Schätzungen des Ministe-riums für Arbeit und Soziales gehen dabei von einer Ent-lastung der Arbeitgeber von rund 32,4 Millionen Euroaus.

Der heute zum ersten Mal ins Plenum eingebrachteGesetzentwurf ist, wie Sie an der von mir vorgenomme-nen Auswahl sehen, eine Ansammlung von vielen klei-nen Änderungen.

Der Bundesrat hat sich mit diesem Gesetzentwurf be-reits am 21. September 2007 in erster Lesung befasstund stimmte dem Entwurf grundsätzlich zu. Die Bundes-regierung hat die Übernahme der meisten Anregungenzugesagt. Kritisch gesehen wurden zwei Vorschläge desBundesrates:

Zum einen wurde die vorgeschlagene Streichung zurRegelung der Kommunikationshilfegewährung abge-lehnt, da durch den damit einhergehenden Bürokratieab-bau Kosten gespart werden und nicht eine große finan-ziellen Mehrbelastung für die Länder, wie vomBundesrat geäußert, erwartet wird. Außerdem ist anzu-merken, dass der Bedarf an sich gering ist und die Län-der – sollte der Bedarf doch ansteigen – die Möglichkeit

zu gesonderten Vergütungsvereinbarungen laut § 14JVEG haben.

Zum anderen wurde die Verhängung von Säumniszu-schlägen mit der Begründung abgelehnt, dass mit denÄnderungsvorschlägen nichts geregelt wird, was nichtbereits durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ab-gedeckt wäre. Das Bundessozialgericht sprach sich be-reits in einem Urteil aus dem Jahr 2004 grundsätzlich fürSäumniszuschläge aus und sieht auch die säumniszu-schlagsfreie Dreimonatsfrist als angemessen an. Letztereentspricht auch der seit Jahren üblichen Verwaltungspra-xis, welcher zu insgesamt 85 Prozent bzw. 95 Prozentbei Schuldnern auf Bundesebene mit steigender Tendenznachgekommen wird.

Geprüft werden sollen noch die Vorschläge zur Anhe-bung der Hinzuverdienstgrenze für Rentner und die Aus-weitung der Vertrauensschutzregelung für Versichertemit einer Vorruhestandsversicherung. Bei beiden Punk-ten stehen wir mit unserem Koalitionspartner im Ge-spräch und werden in den nächsten Wochen die Ände-rungsmöglichkeiten und -wünsche veröffentlichen.

Als Reaktion auf die vielen konstruktiven Vorschlägedes Bundesrates und zahlreiche weitere Anregungenwird die Bundesregierung daher voraussichtlich dem-nächst einen Änderungsantrag im Bundestag einbringen.Hierzu werden noch viele offene Gespräche stattfinden,und es ist klar, dass auch beim Entwurf des Sozialversi-cherungsänderungsgesetz gilt, dass noch kein Gesetzden Bundestag so verlassen hat, wie es als Entwurf ein-gebracht wurde. In der nächsten Sitzungswoche wird derGesetzentwurf zunächst im Ausschuss für Arbeit undSoziales beraten. Es ist geplant, dass die zweite unddritte Lesung des Sozialversicherungsänderungsgesetzesvor dem 16. November stattfinden wird, damit das Ge-setz pünktlich zum 1. Januar 2008 in Kraft treten kann.

Mit diesem Gesetzentwurf werden viele Einzelpro-bleme gelöst und wird in Kleinarbeit Abhilfe durch Ver-einfachungen geschaffen. Daher freue ich mich für allebetroffenen Personengruppen, so vor allem über dieKlarstellung für Familienangehörige von Handwerkernhinsichtlich ihrer sozialen Sicherung und auch über dieHilfen für gehörlose und hörbehinderte Menschen, je-doch auch generell über die Verbesserungen für unsereUnternehmen.

Der hier vorliegende Entwurf des Sozialversiche-rungsänderungsgesetzes ist ein wesentlicher Beitrag zumBürokratieabbau. Besonders bemerkenswert ist hierbei,dass unsere Unternehmen durch den geplanten Bürokra-tieabbau voraussichtlich Kosten in Höhe von rund200 Millionen Euro einsparen können. 200 MillionenEuro, die auf Erleichterungen und Vereinfachungen be-ruhen und damit keine Abschöpfung darstellen, sonderneine wirkliche Einsparung. Und daher auch 200 Millio-nen Euro, die für Wachstum und Beschäftigung genutztwerden können, auf dass auch in Zukunft die Wirtschaftweiter wächst und die Arbeitslosigkeit weiter sinkt.

Dieser Gesetzentwurf zeigt deutlich, dass man mitvielen kleinen Schritten einiges erreichen kann und dasswir dabei auf einem guten Wege sind.

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Anton Schaaf (SPD): Der vorliegende Gesetzent-wurf ist ein typisches Beispiel für ein sogenanntes Om-nibusgesetz. In einem solchen Gesetz werden Regelun-gen untergebracht, die für die Verfahren undArbeitsabläufe der jeweiligen Verwaltungen und Unter-nehmen wichtig sind, aber dennoch – wegen des hohenAufwands – jeweils keinen eigenen Gesetzentwurfrechtfertigen.

Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des ViertenBuches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze beinhaltetdaher zahlreiche Regelungen zum Verfahrensrecht derSozialversicherung. Es erfolgen Anpassungen an die be-triebliche Praxis in den Unternehmen und bei den So-zialversicherungsträgern. Arbeitsabläufe werden verein-facht und zusammengefasst. Überflüssig gewordeneVorschriften werden aufgehoben. Das gesamte Maßnah-menpaket entlastet die Unternehmen von Bürokratie unddamit von Kosten in einer Höhe von rund 190 MillionenEuro.

Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungenim Rentenversicherungsrecht und anderen Bereichen desSozialversicherungsrechts vor, mit denen Klarstellungenfür die Verwaltungspraxis erfolgen. Diese betreffen unteranderem das Auslandsrentenrecht für Hinterbliebene,den Zeitpunkt der Rentenauskunft, das Rentensplittingsowie die Alterssicherung der Landwirte. Ferner werdenin Zukunft bei der Altersteilzeit die Erstattung für Auf-stockungsleistungen für arbeitslos Gemeldete und Emp-fänger von ALG II vereinheitlicht.

Ich möchte allerdings auf jene Neuerungen eingehen,die mir politisch wichtig sind:

Erstens werden in Zukunft bereits gezahlte Arbeit-nehmerbeiträge zur Sozialversicherung vor einer nach-träglichen Rückforderung durch einen Insolvenzverwal-ter geschützt.

Zweitens werden die finanziellen Ausgaben derneuen Länder für die Zusatz- und Sonderversorgungs-systeme der Rentner deutlich gesenkt.

Drittens prüft die Bundesregierung Vorschläge, dieder Bundesrat zum vorliegenden Gesetzentwurf gemachthat. Die Aufnahme dieser Vorschläge ist zu begrüßen,weil sie deutliche Verbesserungen für Rentenversicherteund Rentenbezieher mit sich bringen. Dazu gehören dieAnpassung der Hinzuverdienstgrenze bei einer vorge-zogenen Rente an die Entgeltgrenze für geringfügigeBeschäftigung in Höhe von 400 Euro und ergänzendeRegelungen zum Sozialversicherungsschutz für Vorru-hestandsgeldbezieher.

Der Gesetzentwurf stellt mit einer Ergänzung des§ 28 e Abs. 1 SGB IV klar, dass Arbeitnehmerbeiträgezur Sozialversicherung im Insolvenzfall zum Vermögendes Arbeitnehmers gehören und damit bei den Sozialver-sicherungsträgern verbleiben.

Bisher können im Insolvenzfall Beiträge für einenZeitraum von bis zu zehn Jahren von den Sozialversiche-rungsträgern zurückgefordert werden. Geschätzte800 Millionen Euro jährlich gehen damit den Sozialver-sicherungen verloren. Zusätzlich verzichtet der Fiskus

auf 120 Millionen Euro Einkommens- und Umsatz-steuer.

Die entgangenen Beiträge müssen letztendlich vonder Versichertengemeinschaft aufgebracht werden, denndie Ansprüche aus den Versicherungen – insbesondereder Rentenversicherung – bleiben für die Versichertenselbstverständlich bestehen.

Dies kann im Extremfall zu der paradoxen Situationführen, dass einer langen Erwerbsbiografie keine ent-sprechenden Beiträge an die Rentenversicherung gegen-überstehen. Dies gilt auch für die anderen Zweige derSozialversicherung.

Die einschlägigen Interessenverbände warnen davor,eine gesetzliche Änderung vorzunehmen. Sie wollenverfügbare finanzielle Mittel – die Sozialversicherungs-beiträge gehören nach dieser Argumentation dazu – zurAbwendung des Konkurses verwenden. Demnach be-drohen nicht zurückgeforderte Sozialversicherungsbei-träge die Existenz der betroffenen Unternehmen. Belast-bare Statistiken, die diesen Zusammenhang bestätigen,konnten bisher allerdings nicht vorgelegt werden. Zu-meist jedoch werden die entsprechenden Verfahren oh-nehin mangels Masse eingestellt. Die zurückgeflossenenSozialversicherungsbeiträge dienen deshalb eher dazu,die Gebühren für die Insolvenzverwaltung zu decken.

Die jetzt gefundene Regelung ist nicht optimal, kannaber einen Teil des Schadens für die Sozialversicherungabwenden. Wünschenswert aus meiner Sicht ist aller-dings eine Lösung, die auch von den Arbeitgebern ge-leistete Sozialversicherungsbeiträge in Zukunft vor ei-nem Zugriff schützt.

Des Weiteren soll die finanzielle Entlastung derneuen Bundesländer durch den vorliegenden Gesetzent-wurf nicht unerwähnt bleiben. Bisher tragen die neuenLänder zwei Drittel und der Bund zu einem Drittel dieLasten, die für die Rentenversicherung durch Aufwen-dungen für die Zusatzversorgungssysteme (Zusatz- undSonderversorgungssysteme der DDR) entstehen. In § 15Abs. 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberfüh-rungsgesetz (AAÜG) wird nun festgelegt, dass einestufenweise Anhebung des Finanzierungsanteils desBundes im Jahr 2008 auf 36 Prozent, im Jahre 2009 auf38 Prozent und ab 2010 auf 40 Prozent vorgesehen ist.Dies führt zu Mehrbelastungen des Bundes in Höhe vonca. 65 Millionen Euro im Jahr 2008, circa 113 Millio-nen Euro im Jahr 2009 und circa 162 Millionen Eurojährlich ab dem Jahr 2010. Die neuen Bundesländermüssen dann entsprechend weniger ausgeben und wer-den damit deutlich entlastet.

Darüber hinaus erscheint im Anschluss an die Anhe-bung des Rentenalters durch das RV-Altersgrenzenan-passungsgesetz eine bessere Einbeziehung des Vorruhe-stands in das Regelwerk notwendig. Ursprünglich solltedas Rentenalter für langjährig Versicherte von 63 auf62 Jahre abgesenkt werden. In Anlehnung daran sehendie bis dahin abgeschlossenen Vereinbarungen einenVorruhestandsgeldbezug bis zum Alter von 62 Jahrenvor. Der mit dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzbeschlossene Verbleib der Altersgrenze bei der Rente für

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langjährig Versicherte bei 63 Jahren stellt die Versicher-ten deshalb vor ein Problem.

Durch die neue Regelung kann in Zukunft eine Ver-sorgungslücke von bis zu einem Jahr zwischen Vorruhe-stand und Rente entstehen. Besonders gravierend wäreder Wegfall der Versicherungspflicht in der Renten-,Kranken- und Pflegeversicherung durch das Ende desVorruhestandsgeldbezugs.

Die Bundesregierung lehnt es allerdings ab, den imRV-Altersgrenzenanpassungsgesetz verankerten Vertrau-ensschutz für die Altersteilzeit auf Vorruhestandsverein-barungen, die vor dem 1. Januar 2007 abgeschlossenwurden, auszudehnen. Sie prüft aber Möglichkeiten,auch in Zukunft den Sozialversicherungsschutz nachAuslaufen eines Vorruhestandsgeldbezugs zu gewähr-leisten. Eine denkbare Lösung ist der Verbleib der Al-tersgrenze bei 62 Jahren für eine klar einzugrenzendePersonengruppe – in Abhängigkeit von Geburtsjahrgangund Zeitpunkt der Vorruhestandsvereinbarung.

Zwar können Arbeitnehmer und Arbeitgeber heutemit der neuen Rechtslage die Vorruhestandsvereinbarun-gen an die neue Altersgrenze von 63 Jahren anpassen.Für bereits abgeschlossene Vereinbarungen muss es abereine verbindliche Regelung geben, um die Rechts- undPlanungssicherheit für die Versicherten zu gewährleis-ten.

Der Bundesrat empfiehlt ebenfalls eine prüfenswerteVerbesserung des Hinzuverdienstes bei Bezug einer vor-gezogenen Rente. Meines Erachtens ist eine solche Re-gelung wünschenswert und längst überfällig. Denn dieFestsetzung der gültigen Hinzuverdienstgrenze bei Be-zug einer vorgezogenen Altersvollrente oder einer vollenErwerbsminderungsrente auf ein Siebtel der Bezugs-größe – in 2007 sind dies 350 Euro – ist für viele Rent-nerinnen und Rentner kaum nachvollziehbar. Sie orien-tieren sich an der Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euround gehen davon aus, dass sie neben der Rente eine ge-ringfügige Beschäftigung ausüben dürfen. Was bisherzur Folge hat, dass bei mehrmaligem Überschreiten der350-Euro-Grenze die Rente in der Regel ganz oder teil-weise zurückgefordert wird.

Mit der Vereinheitlichung der Hinzuverdienstgrenzewerden in Zukunft solche von niemandem ernsthaft ge-wollten Ergebnisse vermieden. Und sie bedeutet aucheine erhebliche Verwaltungsvereinfachung für die Ren-tenversicherungsträger, weil aufwendige Überprüfun-gen und Rückforderungen entfallen.

Wir entwickeln unser Sozialrecht weiter. Das vorlie-gende Gesetz trägt dazu bei und dokumentiert unser Be-mühen, auch in Zukunft mit den gesellschaftlichen undökonomischen Entwicklungen Schritt zu halten undmehr noch diese auch in unserem Sinne zu gestalten.

Heinz-Peter Haustein (FDP): Der vorliegende Ge-setzentwurf zielt darauf ab, eine ganze Reihe von Rege-lungen im Sozialversicherungsrecht zu ändern, um Ver-fahren und Abläufe zu vereinfachen und anzupassen.Insofern begrüßt die FDP den Schritt der Regierung, mitder vorliegenden Initiative aktiv geworden zu sein. Die

Vielzahl der in Rede stehenden Regelungen und Vor-schriften verbietet an dieser Stelle eine abschließendeBehandlung. Auf einige wenige Sachverhalte möchte ichjedoch gezielt eingehen.

Zunächst offeriert der Entwurf etliche aus unserer Sichtunproblematische Regelungen: So ist die Streichung derÜbergangsvorschriften im sogenannten Statusfeststellungs-verfahren ebenso richtig wie die Zusammenfassung derVorschriften zum Sozialversicherungsausweis, der nun vonder Rentenversicherung ausgestellt werden soll, unterGenehmigungsvorbehalt des Ministeriums. Auch dieKlarstellung zum Melde- und Beitragsverfahren, in demdie Rückmeldungen an die Arbeitgeber künftig ebenfallsvollautomatisiert abgewickelt werden sollen, ist aus un-serer Sicht ein sinnvoller Schritt.

Auch das Meldeverfahren für Versicherte in den be-rufsständischen Versorgungseinrichtungen soll laut demEntwurf zukünftig richtigerweise in das Meldeverfahrenzur Sozialversicherung integriert werden. Die Festle-gung eines einheitlichen Zeitpunktes zur Übermittlungder Beitragsnachweise, der nun als Kompromiss zwi-schen Arbeitgebern und Einzugsstellen auf „zwei Ar-beitstage vor Fälligkeit“ fixiert werden soll, ist so hin-nehmbar.

Dies alles und andere der vorgesehenen Regelungen– ich will und kann hier nicht den ganzen Entwurf abar-beiten – sind aus Sicht der FDP völlig unstrittig. Nocheinmal sorgfältig überdenken sollte man jedoch unsererMeinung nach insbesondere zwei der beabsichtigtenNeuerungen:

Zum Ersten sollen laut dem Gesetzentwurf künftigdie zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtetenBeiträge nur noch für die jeweils letzten vier Jahre anden Beitragszahler rückerstattet werden, falls sich he-rausstellen sollte, dass dieser gar nicht versicherungs-pflichtig war. Der Status quo hingegen sieht für den Fallder Feststellung der fehlenden Versicherungspflicht vor,dass die Beiträge umfassend rückerstattet werden. Zwarbesteht bei der Arbeitslosenversicherung im Falle derFeststellung der fehlenden Versicherungspflicht bereitsheute lediglich die Verpflichtung zur Rückerstattung derBeiträge der letzten vier Jahre. Das dies jedoch ein Prä-judiz dafür sein soll, in der gesetzlichen Rentenversiche-rung ebenso zu verfahren und nicht eine Angleichung inanderer Richtung vorzunehmen, sollte nicht ohne jedeweitere Diskussion so stehengelassen werden.

Gerade vor dem Hintergrund der Streitfälle der Ver-gangenheit bei im Betrieb mitarbeitenden Familienange-hörigen und hinsichtlich der für den Einzelnen erhebli-chen Summen, die über Jahre bei fehlerhafterBeitragszahlung zusammenkommen können, sollte nocheinmal darüber nachgedacht werden, in welcher Rich-tung man hier eine Angleichung der Verfahren vorneh-men möchte. Wir müssen eine Antwort auf die Frage fin-den, ob wir jemandem, der nicht der Versicherungspflichtunterliegt und keinerlei Anspruch auf Versicherungsleis-tungen hat, wirklich erklären wollen, dass er möglicher-weise über Jahre hinweg Beiträge gezahlt hat, von denener nicht mit einem Cent etwas hat, weder bezüglich einesVersicherungsanspruchs noch in Form einer Rückerstat-

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tung. Da selbst die zurückgezahlten Beiträge ohne Ver-zinsung erstattet werden, besteht schon darin eine Be-nachteiligung der Betroffenen, die gegenüber einerkapitalgedeckten Altersvorsorge deutliche Nachteile hat.

Es ist zu klären, inwieweit die Sozialversicherungs-träger die Folgen und Konsequenzen von Irrtümern beider Feststellung der Versicherungspflicht legitimerweiseeinseitig auf die Betroffenen abwälzen dürfen. Aus unse-rer Sicht ist in dieser Frage mit äußerster Sensibilitätvorzugehen. Die FDP hat bereits in der letzten Legisla-turperiode einen Antrag in den Bundestag eingebracht,der vorsah, dass Betroffene, die jahrelang im Glauben andie Sozialversicherungspflicht Beiträge zahlten und beidenen sich dann herausstellte, dass keine Versicherungs-pflicht gegeben ist, ein Wahlrecht erhalten. Die Betroffe-nen müssen die Möglichkeit haben, zu wählen zwischender Inanspruchnahme der Versicherungsleistung einer-seits, derer sie sich jahrelang sicher waren, und derRückerstattung der Beiträge andererseits. Im Sinne einerAngleichung der Verfahren könnte durchaus in der ande-ren Richtung verfahren werden. Die Festlegung auf dieLösung zuungunsten der Betroffenen sollten wir nocheinmal überdenken, wie ich meine.

Zum Zweiten muss die beabsichtigte Neuverteilungder Erstattungslasten des Bundes nach dem Anwart-schafts-Überführungsgesetz betrachtet werden. Bislangtrugen die Länder zwei Drittel der Lasten, der Bund trugein Drittel. Die stufenweise Erhöhung des Bundesanteilsauf 40 Prozent im Jahr 2010 zieht die Frage nach sich,warum es hier zu einer Entlastung der Länder kommensoll. Darüber hinaus kritisiert der Bundesrat in seinerStellungnahme eine Reihe anderer Neuregelungen, zumBeispiel, dass auch die Landesaufsichtsbehörden dieaufbereiteten Gesamtdaten von den Rentenversiche-rungsträgern erhalten sollen. Auch die vorgeseheneÜbernahme von Kosten für gehörlose und hörbehinderteMenschen im Sozialleistungsverfahren bemängelt dieLänderkammer angesichts der Tatsache, dass bislang je-der ausdrückliche Hinweis auf die Höhe der zu erstatten-den Kosten im SGB I fehlt. Es wird also im weiterenVerlauf des parlamentarischen Verfahrens noch genugüber den vorgelegten Gesetzentwurf zu reden sein.

Katja Kipping (DIE LINKE): Das Sozialgesetz-buch IV enthält gemeinsame Vorschriften für die Sozial-versicherungen und regelt insbesondere Verfahren, diefür alle Zweige der Sozialversicherung gelten. Mit demneuerlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung sollendiese zunächst an „Erfordernisse der betrieblichen Pra-xis“ sowie bei den Trägern der Sozialversicherungen an-gepasst werden.

Insgesamt sind für das SGB IV 14 Änderungen vor-gesehen. Zum Teil dienen die Vorschriften der Klarstel-lung von gewünschten Verfahrensabläufen, die entwederVereinfachung für die Arbeitgeber oder die Sozialver-sicherungsträger darstellen. Für die Versicherten sindfolgende Neuregelungen relevant:

Erstens. Zu Unrecht geleistete Beiträge zur gesetzli-chen Rentenversicherung konnten bislang rückwirkenderstattet werden. Nunmehr sollen nach Ablauf einer Ver-

jährungsfrist von vier Jahren diese Beiträge als Pflicht-beiträge gewertet werden. Eine Erstattung ist nicht mehrmöglich.

Zweitens. Es wird klargestellt, dass im Insolvenzfalldie Arbeitnehmerbeiträge als Besitzstand des Arbeitneh-mers gelten.

Außerdem werden weitere 18 Änderungen in anderenGesetzen vollzogen, die teilweise den redaktionellenCharakter oder Verfahrensfragen klären bzw. vereinfa-chen sollen. Als bedeutsam erachte ich hier folgende As-pekte:

Erstens. Nach dem Anspruchs- und Anwartschafts-überführungsgesetz übernehmen der Bund und die neuenLänder die vollständige Erstattung von Rentenkosten,die auf der Überführung von Zusatz- und Sonderversor-gungssysteme in der DDR beruhen. Die Aufteilung derKosten zwischen Bund und neuen Ländern wird zuguns-ten der neuen Länder geändert. Der Bund trägt derzeitein Drittel der Kosten und steigert seinen Anteil stufen-weise auf 40 Prozent im Jahr 2010.

Zweitens. Bei einer Anpassung des Auslandsrenten-rechts bei Hinterbliebenenrenten wird die großzügigereRegelung des EU-Gemeinschaftsrechts übernommen.Bislang wurden Renten für Hinterbliebene bei gewöhnli-chem Aufenthalt im Ausland für drittstaatsangehörigeHinterbliebene nur in Höhe von 70 Prozent ausgezahlt,während das EU-Gemeinschaftsrecht die volle Leis-tungsgewährung vorsieht.

Drittens. Die Prüfrechte zur Prüfung von Erstattungs-ansprüchen von Werkstätten für behinderte Menschenund ähnliche Einrichtungen werden auf Ersuchen desBundesrechnungshofs ausgeweitet.

Viertens. Im landwirtschaftlichen Bereich ist die Hof-übergabe immer die Voraussetzung für den Rentenbe-zug. Nunmehr soll die Möglichkeit der Hofabgabe unterEhegatten erleichtert werden, mit dem Ziel ein früheresRenteneintrittsalter zu ermöglichen. Eine Hofabgabe anden anderen Ehegatten soll – schon – dann möglich sein,wenn der den Hof übernehmende Ehegatte ein Lebensal-ter erreicht hat, ab dem er frühestens eine vorzeitige Al-tersrente beziehen könnte, nach Ablauf der Übergangs-zeit wäre dies das 57. Lebensjahr.

Für mich ist klar erkennbar, dass ein Großteil der Än-derungen vor allem dazu dient, Vereinfachung und Kos-tenminimierung bei Verwaltungsabläufen herbeizufüh-ren. Das ist prinzipiell zu begrüßen, ebenso wie derInsolvenzfall oder die stärkere Kostenbeteiligung desBundes an Rentenansprüchen nach dem Anspruchs- undAnwartschaftsüberführungsgesetz, auch wenn natürlichder Aspekt Rentenüberleitung ausführlicher und grund-sätzlicher in Bezug auf das Leistungsrecht behandeltwerden sollte. Ob negative Auswirkungen auf die Versi-cherten eintreten, das bleibt allerdings abzuwarten.

Zudem sehe ich die beabsichtigte Änderung des § 73SGB IV zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben kri-tisch. Es ist vorgesehen, diese Entscheidung dem Ver-waltungsrat zu übertragen. Das widerspricht in meinenAugen einer flexiblen und situationsgerechten Handha-

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bung des Haushaltsrechtes. In der Regel tagen Verwal-tungsräte in recht großen zeitlichen Abständen, sodasszusätzliche Treffen anberaumt werden müssten, die fürdie Krankenkassen natürlich einen erheblichen zusätzli-chen Verwaltungsaufwand sowie Mehrkosten verursa-chen. Deutlich günstiger wäre es, auch diese Bewilligun-gen beim Vorstand zu belassen, da diesem ohnehin diefinanzrelevanten Aufgaben obliegen.

Aus den genannten Gründen kann meine Fraktiondiesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DerGesetzentwurf enthält eine Vielzahl verfahrenstechni-scher Regelungen und rechtlicher Anpassungen, die imSinne einer Harmonisierung des Sozialrechts zu begrüßensind. Problematisch sind solche Verfahrensänderungen,wenn sie die Selbstbestimmungs- und Widerspruchs-rechte der betroffenen Leistungsempfänger beschneiden.

Deshalb kritisieren Bündnis 90/Die Grünen ausdrück-lich die Pläne der Bundesregierung, Rentenversichertendas Recht auf Erstattung von zu Unrecht entrichteten Bei-trägen zu nehmen. Durch die geplante automatische Um-wandlung zu Unrecht gezahlter Beiträge in Anwartschaf-ten nach Ablauf der Verjährungsfrist von vier Jahren wirdden Antragstellern außerdem ihr Widerspruchsrecht ge-nommen. Denn Bescheide, die die Unrechtmäßigkeit derBeiträge feststellen, werden durch diese Regelung hinfäl-lig. Auf diese Weise hebelt die Bundesregierung elemen-tare Verfahrensrechte für viele Millionen Versicherte aus.

Wir vermissen außerdem Erläuterungen seitens derBundesregierung über die finanziellen Auswirkungendieser Regelung sowohl für die Versicherten als auch fürdie Rentenversicherung.

Kein Verständnis haben wir für die Ablehnung derBundesländer zu den Plänen der Bundesregierung, dieKostenberechnung von Gebärdensprachdolmetschern undKommunikationshelfern bei der Ausführung von Sozial-leistungen auf festere Füße zu stellen. Diese sollen andie Regelungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahrenangepasst werden. Ich begrüße ganz ausdrücklich diesesVorhaben der Bundesregierung. Gehen Menschen mitHörbehinderungen heute zum Arzt, so ist die Kostener-stattung bzw. Refinanzierung für eine Gebärdensprach-dolmetschung alles andere als unproblematisch. Auchdie Rahmenvereinbarungen mit den Krankenkassen ent-sprechen bei Weitem nicht dem Standard, den wir schonin anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens er-reicht haben. Das Behindertengleichstellungsgesetz ge-bietet einen barrierefreien Zugang für Menschen mitBehinderungen zu den Sozialleistungen sowie eine aus-kömmliche Vergütung der Dolmetschung. Die geplanteÄnderung durch die Bundesregierung ist daher unum-gänglich.

Die vorgesehene Änderung der Zuständigkeit für dieVerordnungsermächtigungen des Behindertengleichstel-lungsgesetzes vom Bundesministerium des Innern aufdas Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist einrichtiger und nachvollziehbarer Schritt in die richtigeRichtung. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-

les hat den höheren Sachbezug zu den Themen der Men-schen mit Behinderungen. Ganz ausdrücklich warne ichjedoch davor, die Zuständigkeiten des Behinderten-gleichstellungsgesetzes zu einseitig auf das Bundesmi-nisterium für Arbeit und Soziales zu konzentrieren. Bar-rierefreiheit betrifft fast alle Ressorts der einzelnenMinisterien und muss im Sinne eines Disability Main-streaming ministeriumsübergreifend mitgedacht werden.

Finanzpolitisch fragwürdig sind außerdem die ge-planten Änderungen zu den Kostenerstattungsregelun-gen des Anspruchs- und Anwartschaftsrechtes zwischenBund und neuen Bundesländern. Hierzu ist festzustellen,dass die finanzielle Lage des Bundes auch nicht besserals die der Länder ist. Im Gesetzentwurf findet sichkeine Erläuterung zur Grundlage dieser Entscheidung.Verwiesen wird lediglich auf eine Kabinettsentscheidungvom 13. Dezember 2006. Wir fordern die Bundesregie-rung auf, die Gründe für diese Änderung offenzulegen.

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Arbeit und Soziales: Mit dem Gesetz zurÄnderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und an-derer Gesetze geht die Bundesregierung konsequent wei-ter den Weg, bürokratische Hemmnisse für die deutscheWirtschaft im Bereich der Sozialversicherung abzu-bauen. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen werdendie Kosten für die deutsche Wirtschaft um rund 200 Mil-lionen Euro pro Jahr reduziert. Der Standort Deutsch-land wird weiter gestärkt.

Dabei werden die Möglichkeiten moderner Datenver-arbeitung für die Übermittlung von Daten konsequentgenutzt, zum Beispiel für die Beitragsabrechnung derVersicherten in berufsständischen Versorgungswerken.Bisher senden die Unternehmen für ihre Versicherten an85 Versorgungseinrichtungen umfangreiche Daten aufPapier. Zukünftig werden nun alle notwendigen Datenautomatisiert an eine Annahmestelle der Versorgungs-einrichtungen übermittelt. Von dort werden die Daten andie zuständige Versorgungseinrichtung weitergeleitet.Genutzt werden dabei Techniken, die sich auch imMelde- und Beitragsverfahren für die Sozialversiche-rung bewährt haben.

Ein weiteres Beispiel ist die Vereinheitlichung desAbgabezeitpunktes für die Beitragsmeldungen zur So-zialversicherung. Gab es bisher für die Übermittlungeine Frist von vier bis zwei Tagen je nach Satzung derEinzugsstelle, ist zukünftig die Frist auf spätestens zweiTage vor Fälligkeit der Beiträge gesetzlich festgelegt.Dadurch werden in erheblichem Umfang Mahnverfahrenund Säumniszuschläge für verspätete Übermittlungenbzw. zusätzliche Meldungen eingespart.

Über diese direkten Entlastungen der Wirtschaft hi-naus, werden mit dem Gesetz auch zahlreiche kleinereMaßnahmen umgesetzt, die für die betroffenen Personenwichtig sind. Ich nenne hier beispielhaft die Meldungvon im eigenen Unternehmen beschäftigten Kindern zurFeststellung ihres Versichertenstatus – ein Anliegen, dasbesonders den Handwerksbetrieben am Herzen liegt.

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Außerdem wird klargestellt, dass in Insolvenzfällendie Insolvenzverwalter die Meldepflichten des Arbeitge-bers zu übernehmen haben. Damit wird sichergestellt,dass den entlassenen Versicherten zumindest in Bezugauf ihre Zeiten im Versichertenkonto keine Nachteilemehr entstehen.

Diese Beispiele machen deutlich: Das Gesetz zur Än-derung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und ande-rer Gesetze ist mehr als ein Artikelgesetz mit vielentechnischen Einzelregelunge. Sondern: Es handelt sichdabei um ein Gesetz, das mit seinen vielen Einzelrege-lungen die tägliche Arbeit in den Unternehmen bei denSozialversicherungsträgern spürbar erleichtern wird unddarüber hinaus die Rechte von Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern spürbar schützt, um ein Gesetz, das gutzu einer modernen sozialen Marktwirtschaft passt.

Anlage 12

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts: Dem Verlust an Agrobiodiversität ent-gegenwirken (Tagesordnungspunkt 22)

Johannes Röring (CDU/CSU): Der vor uns lie-gende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Agrobio-diversität ist geprägt von Wunschvorstellungen undTräumereien, die mit der Realität allerdings nichts zu tunhaben. Um Irritationen zu vermeiden, lassen Sie michzunächst konstatieren, dass es auch für mich eine wich-tige Rolle spielt, wie wir mit der Natur umgehen, dassbiologische Vielfalt und Naturschutz eine große Bedeu-tung bei der Arbeit in der Natur haben. Die Menschenund Beschäftigten in der Agrarbranche wissen dies undhandeln nach den Vorgaben der guten fachlichen Praxis,um die Interessen von Natur und Mensch zu achten.

Doch lässt der aktuelle Antrag tatsächlich eher denSchluss zu, dass von den Grünen Fakten ignoriert wer-den und man eher Träumereien hinterherläuft, die mitden aktuellen Gegebenheiten nicht in Einklang zu brin-gen sind. Zugespitzt kann man auch sagen, dass dieserAntrag eine Generalkritik an der zukunftsgerichteten,modernen Landwirtschaft und dem IndustriestandortDeutschland ist.

Zunächst sollte man sich die Frage stellen, was über-haupt Biodiversität ist und inwieweit sie konkret be-schreib- und messbar ist. Wissenschaftlich gesprochenist unter dem Begriff Biodiversität zum einen die Vielfaltunterschiedlicher Tier- und Pflanzenarten zu fassen, zumzweiten gehört die Vielfalt innerhalb der Arten, also diegenetische Unterschiedlichkeit innerhalb der Arten undihrer Populationen dazu, und den dritten Aspekt der Bio-diversität bildet die Vielfalt der Lebensräume und Lebens-gemeinschaften. Schließlich zählen auch alle zwischenden genannten Ebenen auftretenden Wechselwirkungendazu.

In Ihrem Antrag wagen Sie nun einen Vergleich mitder Biodiversität des 19. Jahrhunderts und sprechen da-bei von der unglaublichen Fülle an Arten und Sorten, die

damals im Gegensatz zu heute existierte, und klagen da-bei die über Probleme der Nutzung durch den Menschen.Dabei scheinen Sie vergessen zu haben, dass viele Tier-und Pflanzenarten erst durch menschliches Handeln inDeutschland heimisch geworden sind. Bei Ausbleibeneiner menschlichen Nutzung würde die Zusammenset-zung der Tier- und Pflanzengesellschaften dagegen imWesentlichen von Boden und Klima bestimmt. Wärealso in der Vergangenheit keine landwirtschaftliche Nut-zung durch den Menschen erfolgt, dann würde in weitenTeilen Deutschlands bis heute ein vergleichsweise arten-armer Eichen- und Buchenwald vorherrschen. Erst durchdie Nutzung der Flächen, durch Rodung, Beweidung undAckerbau, sind neue Lebensräume entstanden, die vonweiteren, vielfach auch gebietsfremden Arten besiedeltwerden konnten. In vielen Teilen des Landes würdenheute noch Schafe über sumpfige Moorlandschaften zie-hen und die Menschen dort verhungern, wenn man nichtaktiv die Natur um- und mitgestaltet hätte.

Wir leben in einer Welt, in der sich das Bevölkerungs-wachstum in besorgniserregender Weise erhöht, wir alsoauf den vorhandenen Flächen mehr anbauen müssen, umimmer mehr Menschen satt machen zu können. DieseEntwicklung ist schon seit langem bekannt, weshalb ichauch gerne aus den offiziellen Dokumenten der Verein-ten Nationen zur Agenda 2010 der Rio-Konferenz von1992 zitieren möchte:

Im Jahr 2025 werden 83 Prozent der Weltbevölke-rung, die bis dahin auf voraussichtlich 8,5 Milliar-den gestiegen sein wird, in den Entwicklungslän-dern leben. Es ist allerdings fraglich, ob dieKapazität der vorhandenen Ressourcen und Tech-nologien ausreichen wird, um die Bedürfnisse die-ser ständig weiter wachsenden Bevölkerung inbezug auf Nahrungsmittel und andere landwirt-schaftliche Produkte zu befriedigen. Die Landwirt-schaft muß dieser Herausforderung in erster Liniedadurch begegnen, daß sie die Produktion auf be-reits bewirtschafteten Flächen steigert; … Vorrangmuß dabei die Erhaltung und die Steigerung derLeistungsfähigkeit der ertragreicheren landwirt-schaftlichen Nutzflächen haben, denn nur so kanneine wachsende Bevölkerung ausreichend versorgtwerden.

In Anbetracht der dramatischen Entwicklung derWeltbevölkerung von 1,6 Milliarden Menschen im Jahr1900, über circa 2,5 Milliarden 1950 und aktuell etwa6,5 Milliarden mussten vielfältige Anstrengungen unter-nommen werden, die Produktivität der Agrarflächen zusteigern. Durch die damit verbundenen Eingriffe – Ent-wässerung, Bewässerung, Bodenbearbeitung, Nährstoff-zufuhr, Pflanzenschutz, Konzentration auf ertragreicheSorten – ist es möglich geworden, dass heute effizienterund effektiver als zu Beginn des vorigen Jahrhundertsgearbeitet werden kann. Aktuelle Daten bestätigen, dassdie optimale Ressourceneffizienz und Nettoenergiege-winne nur dann erzielbar sind, wenn nicht etwa extensiv,sondern mit bedarfsgerechter Düngung und ebensol-chem Pflanzenschutz gewirtschaftet wird. Man kann nurnoch einmal betonen: Eine nachhaltige Landwirtschaftist geprägt durch ihre Intensivität. Die im Antrag vorge-

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brachten Kritikpunkte an der Düngung und dem Pflan-zenschutz sind damit als obsolet zu betrachten.

Abschließend möchte ich betonen, dass es nicht nurangesichts der weiter wachsenden Weltbevölkerung,sondern auch durch die zunehmende Nachfrage nachnachwachsenden Rohstoffen und der ebenso steigendenweiteren Beanspruchung der Fläche durch Versiegelungund sonstige Nutzungen kein Ziel sein kann, die vomMenschen verursachte damalige Artenvielfalt auf Pro-duktionsflächen heute zum Ziel von Visionen zu ma-chen. Eine solche Zielstellung missachtet nicht nur dieEntstehung und Herkunft dieser „Vielfalt“, sondern auchdie heutigen grundlegenden Anforderungen einer insge-samt nachhaltigen Entwicklung. Denn folgen wir den Il-lusionen dieses vorliegenden Antrags hinsichtlich derAusweitung des Ausbau der ökologischen Landwirt-schaft müssten wir feststellen, dass beispielsweise beimAnbau von Weizen die mehr als doppelt so große An-baufläche wie bei der konventionellen Landwirtschaftnotwendig wäre und damit neue Flächen erschlossenwerden müssten, auch jetzige Naturschutzflächen.

Die Forderungen nach einer Extensivierung der land-wirtschaftlichen Produktionsmethoden ist folglich ein-hergehend mit einem erhöhten Anbauflächenbedarf, derbei den uns nur begrenzt verfügbaren Flächen zwangs-läufig und unausweichlich zulasten der Flächen gehenmuss, die heute noch uneingeschränkt als Naturschutz-gebiete existieren. Unsere Aufgabe muss folgerichtignicht eine weitere Extensivierung, sondern eine Effi-zienzsteigerung sein.

Wir sehen also, dass dieser Antrag inhaltlich an allenRealitäten vorbeigeht und wir daher guten Gewissensdiesen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ablehnenkönnen.

Dr. Gerhard Botz (SPD): Das Thema Biodiversität– einfacher gesagt: die Grundlage und Vielfalt unseresmenschlichen Daseins – steht nicht oft im Mittelpunktunserer Reden. Wenn man sich einmal die Zeit nimmtund intensiv darüber nachdenkt, wie Prozesse auf unse-rer Erde vonstatten gehen, erkennt man die Bedeutungdes Themas als lebensnotwendig und lebenserhaltendund die Verpflichtung und Verantwortung, die wir beidiesem Thema haben.

Die Gefährdung der biologischen Vielfalt ist nichteinfach nur ein Verlust an Arten von Pflanzen und Tie-ren, sondern über diesen Verlust gerät auch unser ganzesÖkosystem ins Wanken; dessen sollten wir uns bewusstsein. Über die biologische Vielfalt werden solche Öko-systemleistungen wie Bestäubung, Bodenbildung, Nähr-stoff- und Wasserkreisläufe, Klimaregulierung etc. ent-scheidend gesteuert. Wir sind abhängig von denDienstleistungen der Natur – von sauberer Luft, reinemTrinkwasser, fruchtbaren Böden –, und wir gefährdenunsere eigene Existenzgrundlage, wenn wir den Reich-tum der Arten, deren Lebensräume und die genetischenRessourcen zu stark einschränken.

Darum ist es richtig, den Schutz der Artenvielfalt ein-zufordern. Vor dem Hintergrund der stetig steigenden

Weltbevölkerung, der Aufholprozesse der Entwicklungs-länder und des ständig steigenden Bedarfs an Rohstoffenund Lebensmitteln ist das wahrlich keine einfache Auf-gabe. Doch wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen,wer dann? Heute stehen wir nicht nur vor der Frage, wiewir die Biodiversität erhalten wollen, sondern, wie wirsie überhaupt erhalten können. Denn mit dem Klima-wandel wird sich eine Änderung der Biodiversität ein-stellen, auf die wir keinen Einfluss mehr haben. Be-stimmte Pflanzen- und Tierarten werden einfachaussterben, weil sie die dann herrschenden klimatischenVerhältnisse nicht mehr vertragen. Noch haben wir es inder Hand, etwas zu unternehmen.

Der Begriff Agrobiodiversität grenzt den Begriff derBiodiversität auf den Bereich der Land-, Forst- und Nah-rungsgüterwirtschaft ein. Er steht hauptsächlich für Er-nährungssicherheit. Eine Möglichkeit, positiven Einflussauf die Agrobiodiversität zu nehmen, die Vielfalt derPflanzen- und Tierarten zu erhöhen und ökologischeDienstleistungen zu vollbringen, ist der Anbau von Bäu-men auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, die soge-nannte Agroforstwirtschaft. Pflanzungen mit Wertholz-bäumen, Nutztierhaltung oder ackerbauliche Nutzungzwischen Baumreihen sind Formen der Agroforstwirt-schaft, die für den Naturschutz und die Agrobiodiversitäteinen besonders wertvollen Beitrag liefern.

Es wird nicht nur die Biodiversität erhöht, sondern eswerden auch die Folgen von Wind- und Wassererosiongemindert. Das CO2-Bindevermögen der landwirtschaftli-chen Nutzfläche wird gesteigert und die Humusproduk-tion des Bodens verbessert, wodurch eine Reduzierungdes Düngemitteleinsatzes möglich ist. Durch verbesserteSchattenwirkung innerhalb der Schläge ergeben sich posi-tive Auswirkungen auf Bodenwasserhaushalt und Ertrag.Dies alles kann einen besonders vielschichtigen und lang-fristigen Ansatz zur Agrobiodiversität liefern.

Die Agroforstwirtschaft ist also in der Lage, eineSchlüsselrolle für eine nachhaltige Landwirtschaft zuübernehmen. Sie kann auch eine sichere Versorgungnachfolgender Generationen mit Lebensmitteln undlandwirtschaftlichen Rohstoffen ermöglichen, ohne dieAspekte der Agrobiodiversität aus den Augen zu verlie-ren. Die wachsende Nachfrage nach Biomasse für dieenergetische Nutzung wird zurzeit hauptsächlich überRaps oder Mais realisiert. Es besteht daher die berech-tigte Befürchtung, dass Monokulturen unsere landwirt-schaftlichen Nutzflächen dominieren. Im Vergleich dazuleistet der Anbau von Energieholz in Kurzumtriebsplan-tagen durch längere Umtriebszeiten einen wesentlichgrößeren Beitrag zur Agrobiodiversität. Forschungsar-beiten und Modellvorhaben müssen sich in diese Rich-tung orientieren.

Den heute vorliegenden Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Dem Verlust an Agro-biodiversität entgegenwirken“ werden wir ablehnen.Zwar ist er inhaltlich tragbar, an einigen Stellen jedochüberholt. Bereits im Mai dieses Jahres wurde im Bun-destag ein Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und derSPD zu Maßnahmen zur Erhaltung der Artenvielfalt ver-abschiedet. Der darin geforderte nationale Strategieplan

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zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung steht kurzvor dem Abschluss. Er enthält ein breites Spektrum anMaßnahmen und Instrumenten zum Schutz und Erhaltder biologischen Vielfalt in Deutschland und für entspre-chende Schritte auf europäischer und globaler Ebene.Die Große Koalition hat auch an dieser Stelle ihre Haus-aufgaben gemacht und wird diese wichtige Zielstellungweiter verfolgen.

Gabriele Groneberg (SPD): Wenn wir uns heutemit dem Verlust der Agrobiodiversität beschäftigen,dann handelt es sich hier um ein Problem von zentralerentwicklungspolitischer Bedeutung.

Circa 80 Prozent der biologischen Vielfalt, des natür-lichen Vorkommens an genetischen und biologischenRessourcen weltweit liegen in Entwicklungsländern. Dielandwirtschaftliche Vielfalt von Nutztieren und -pflan-zen ist Teil dieser biologischen Vielfalt. Der Erhalt die-ses Artenreichtums ist für die Entwicklungsländer exis-tenziell; denn Agrobiodiversität dient direkt derErnährungssicherung. Es ist wichtig, die natürliche Ar-tenvielfalt, aber auch die Ergebnisse jahrtausendealterZüchtungsarbeit in Entwicklungsländern sowie das tra-ditionelle Wissen im Nutzpflanzenbereich zu erhalten.Landwirtschaftlich nutzbarer Artenreichtum wird dieEntwicklungsländer weniger verletzlich machen gegen-über den Folgen des Klimawandels und erhöht ihre An-passungsfähigkeit gegenüber sich verändernden Um-weltbedingungen.

Was ich damit meine, möchte ich an einem Beispielerläutern: Das für seine formschönen Hörner bekannteAnkole-Rind in Uganda könnte innerhalb der nächstenJahrzehnte aussterben, weil die Bauern lieber auf Rin-derarten mit höheren Milcherträgen zurückgreifen. Wäh-rend einer Dürreperiode stellte sich allerdings der Vorteildes einheimischen Rinds heraus. Die Bauern konntenmit den widerstandsfähigen Ankole-Rindern weite Stre-cken bis zur nächsten Wasserquelle zurücklegen. DieBauern mit den importierten Rindern haben ihre gesamteHerde verloren.

Dass in dem vorliegenden Antrag dieser Aspekt be-tont wird, kann ich zwar als Entwicklungspolitikerin be-grüßen. Dies habe ich auch in meiner Stellungnahme am24. Mai 2007 deutlich zum Ausdruck gebracht. Aller-dings frage ich mich, warum Sie sich nicht mit der natio-nalen Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesre-gierung auseinandergesetzt haben. Im Übrigen haben wirmit der Verabschiedung des Koalitionsantrages im Mai2007 zu Maßnahmen gegen den Artenrückgang und dasArtensterben im Grunde dazu das Wesentliche gesagt,und auch deshalb hätten Sie Ihren Antrag zurückziehenkönnen.

Wenn Sie sich mit der Strategie zur biologischen Viel-falt der Bundesregierung beschäftigen, werden Sieschnell feststellen, dass die Große Koalition durchausbegriffen hat, dass das Thema Biodiversität in dieserVielschichtigkeit zu erfassen ist und anspruchsvolle undauch umsetzbare Ziele zu definieren sind. Dies gilt so-wohl für den Erhalt der biologischen Vielfalt in allenAgrarökosystemen als auch für den Bereich Biodiversi-

tät und Armutsbekämpfung. All dies wird auch in dieserStrategie dargelegt.

Vor dem Hintergrund des ersten Millenniumsentwick-lungsziels, die Anzahl der Menschen, die Hunger leidenin der Welt, bis 2015 zu halbieren, sehen wir den Schutzund die nachhaltige Nutzung der Biodiversität als inte-grale Bestandteile einer wirtschaftlich, sozial und ökolo-gisch nachhaltigen Entwicklungspolitik an.

Wir brauchen eine enge Kooperation mit den Ent-wicklungsländern, um eine gemeinsame Lösung zu erar-beiten. Angesichts unserer Rolle als Gastgeber für dieneunte Vertragsstaatenkonferenz zum Schutz der biolo-gischen Vielfalt in Bonn im nächsten Jahr wäre es wün-schenswert, wenn Sie sich dazu entscheiden könnten, dieStrategie zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung,die wir entwickelt haben, offensiv mitzuvertreten.

Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Die Landwirt-schaft ist unverzichtbarer Partner für den Erhalt der Bio-diversität in Deutschland. Eine besondere Rolle spieltdabei die Agrobiodiversität. Zu ihrer Sicherung ist eineökologisch, ökonomisch und sozialverträgliche Nut-zung unabdingbar. In engem Zusammenhang zur Agro-biodiversität steht die Vielfalt von Bewirtschaftungs-und Produktionsformen. Anders als bei der biologischenVielfalt, sind viele Bestandteile der Agrobiodiversitätausschließlich auf menschliche Aktivität angewiesen.Die Agrobiodiversität ist der Grundstein für die Siche-rung der menschlichen Ernährung und trägt gleichzeitigzum Erhalt der Ökosysteme bei. Das bedeutet, dass einehohe Agrobiodiversität die zukünftigen Lebensgrundla-gen des Menschen sichert, unter anderem dadurch, dassein breiter Genpool erhalten bleibt. Von den vorkom-menden rund 340 000 Pflanzenarten werden derzeit nur7 000 vom Menschen genutzt.

Weltweit gesehen brauchen wir beides: Wir brauchenden Naturschutz, den Schutz von biologisch bedeutsamenFlächen, Biotopen und Nationalparks. Wir brauchen aberauch die Landwirtschaft zur Produktion unserer Nah-rungsmittel sowie zur Produktion nachwachsender Roh-stoffe für die stoffliche und inzwischen insbesondere fürdie energetische Produktion.

Jede Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfaltmuss die Ursachen für das Aussterben von Arten be-kämpfen und artenreiche Regionen schützen. 3 Prozentder weltweit beschriebenen Arten kommen in Deutsch-land vor. Das klingt sehr wenig, ist aber sehr viel. Es isteine große Aufgabe, diesen Schatz zu schützen. Arten-vielfalt bedeutet Informationsvielfalt.

Das Aussterben des Mammuts in Europa war eineFolge des Klimawandels. Es war unvermeidlich. DerKlimawandel ist allgegenwärtig und ist keine Erfindungdes 21. Jahrhunderts. Der vom Menschen verursachteAnteil des Klimawandels muss weiter bekämpft werden,muss gemindert werden. Aber die durch den Klimawan-del hervorgerufene Veränderung des Artenspektrumswerden wir nicht aufhalten können. Wir können höchs-tens versuchen, frühzeitig durch Anpassungsstrategiendie Folgen zu mildern.

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Es gibt einen Rückgang an Arten, der über diese un-vermeidbare Änderung des Artenspektrums hinausgeht.Wir haben in Deutschland 48 000 Tierarten und28 000 Pflanzenarten. 520 Tierarten sowie 512 Pflanzen-und Pilzarten sind ausgestorben. Der Präsident des Um-weltbundesamtes hat recht: Der Wandel des Artenspek-trums in Deutschland ist nicht dramatisch. Für Deutsch-land können wir verzeichnen, dass wir bei dichterBesiedlung und hoher Intensität der landwirtschaftlichenBewirtschaftung keinen großen Artenschwund haben.Der öffentliche Eindruck eines Artenrückgangs geht mitder Entfremdung der Menschen von der Natur einher.Wer nur Unter den Linden spazieren geht, weiß ebennicht, wie artenreich unsere Wälder sind.

Die Zerstörung von Lebensräumen ist Hauptursachefür den Rückgang der Artenzahl. Angesichts der Tatsache,dass die Weltbevölkerung 1800 bei 1 Milliarde Menschenlag und nun 6 Milliarden beträgt, ist es normal und rich-tig, dass wir Flächen verstärkt landwirtschaftlich nutzenund die Intensität der landwirtschaftlichen Nutzung er-höht haben. 1800 wurden in Deutschland 7 Doppelzent-ner Weizen auf 1 Hektar geerntet. Nun sind es über90 Doppelzentner. Auf diese Intensivierung der Land-wirtschaft können wir nicht verzichten.

Von daher können wir auch dem Antrag der Grünennicht zustimmen. Denn er steht im krassen Widerspruchzur Forderung einer weltweit ausreichenden Nahrungs-mittelversorgung und einer weitreichenden Energiepro-duktion aus nachwachsenden Rohstoffen zugunsten desKlimaschutzes.

Auf Deutschland bezogen können wir sagen: Vielesist auf einem guten Weg. Probleme bereiten die zuneh-mende Flächeninanspruchnahme, das Zerschneiden vonNaturräumen und das Eindringen fremder Arten.

Aber weltweit betrachtet ist die Situation dramatischanders. Die Bedrohung der Artenvielfalt wächst: Das an-haltende Bevölkerungswachstum erfordert vermehrteAnstrengungen bei der Armutsbekämpfung und damitauch eine vermehrte und intensivere Flächennutzung.Zunehmend mehr Menschen haben keinen Zugang zugesundem Trinkwasser. Die Übernutzung der Fischbe-stände bedroht die Biodiversität in den Meeren. Undselbst wir in der EU schaffen es noch nicht einmal, denillegalen Fischfang in der Ostsee einzuschränken. Derweitere Verlust von Wäldern, unter anderem bedingtdurch den fortgesetzten illegalen Holzeinschlag, hatAuswirkungen auf das Klima. Das gilt auch für die zu-nehmende Flächenkonkurrenz zwischen Nahrungsmit-telproduktion und Erzeugung von Biomasse für die ener-getische Nutzung.

Wie diesen Herausforderungen international begegnetwerden kann, ist noch weitgehend offen. Die FDP for-dert die Bundesregierung auf, schnellstens Lösungsan-sätze zu erarbeiten, wie sie dem Verlust der Agrobio-diversität gedenkt entgegenzuwirken. Die FDP wird sichdiesbezüglich mit einer Kleinen Anfrage zur Wildpflan-zen-Gendatenbank in die parlamentarische Debatte ein-bringen.

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Bereits EndeMai haben wir uns mit der Agrobiodiversität befasst.Leider ging der gute Antrag der Kolleginnen und Kolle-gen der grünen Fraktion während der Debatte zumschwarz-roten Placebo-Antrag zur Biodiversitätsstrate-gie etwas unter. Das ist schade, denn die Artenvielfaltauf und neben dem Acker sowie in den Ställen ist min-destens genauso wichtig wie die Biodiversität in der Na-tur. Und mindestens ebenso gefährdet!

Im Antrag wird auf das in der Öffentlichkeit kaum be-achtete Problem des Artenrückgangs bei Nutzpflanzenund Nutztieren hingewiesen. Dabei hat dieser Verlust derArtenvielfalt schwerwiegende Konsequenzen: Er bedeu-tet Verlust an genetischem Anpassungspotenzial. Damitwird unter anderem die Ernährungssicherung unsererZukunft gefährdet. Wir brauchen eine große Vielfalt derRassen, Sorten und Ökosysteme, um die zukünftigenHerausforderungen der Land- und Forstwirtschaft be-wältigen zu können. Die Herausforderungen werdendurch den Klimawandel und dessen Auswirkungen aufdie Agrarökosysteme eher größer als kleiner.

Doch dieser Rückgang an Agrobiodiversität passiertnicht so einfach von allein. Schauen wir also genauerhin: Er ist vor allem die Folge eines rücksichtslosenKampfes um eine weltweite Konzentration von Wirt-schaftsmacht in immer weniger Händen, und es geht umMarktanteile!

Wir als Linke haben dabei ein besonders kritischesAuge auf die Machenschaften der weltweit agierendenAgrarkonzerne. Der Saatgutmarkt wird zum Beispiel un-terdessen von fünf großen Unternehmen beherrscht.Diese interessieren sich für den Erhalt der Sortenvielfaltnur dann, wenn es ihren eigenen Interessen entspricht –als Ressource für noch mehr Profit und noch mehrMarktmacht! Ein freier Zugang aller Bäuerinnen undBauern zum Saatgut ist in ihrer Welt nicht wichtig. Ein-zig die profitorientierte Vermarktung weniger Sorten istvon Bedeutung und wird durch das Patentrecht gesi-chert.

Patente auf Tiere und Pflanzen schützen aber nur dieInteressen der Agrarkonzerne. Sie eignen sich privat dennatürlichen Reichtum an. Er gehört aber uns allen! Da-her ist der Patentschutz nicht im Interesse der Bäuerin-nen und Bauern, der Landwirtinnen und Landwirte undder Verbraucherinnen und Verbraucher!

Deshalb ist für meine Fraktion Die Linke ganz klar:Patente auf Lebewesen sind absurd, und wir lehnen sieab! Der öffentliche Zugang zu den natürlichen Ressour-cen muss gewährleistet bleiben. Das dient gleichzeitigauch dem Schutz der Artenvielfalt in Natur und Land-wirtschaft!

Agrobiodiversität und die Debatte darüber dürfen ausSicht meiner Fraktion auf keinen Fall dazu führen, dassnun die Agrogentechnik hoffähig gemacht wird. Dieseerhöht nicht, sondern gefährdet die Artenvielfalt! Beson-ders problematisch ist die Nutzung dieser Risikotechno-logie in der Nähe von Genbanken, in denen Sorten durchAnbau konserviert werden. Daher tritt Die Linke auchkonsequent gegen die Nutzung der Agrogentechnik in

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der Nähe der Genbank für Kulturpflanzen in Gaterslebenein. Darüber gab es in diesem Jahr ja schon mehrere De-batten. Man kann vielleicht über die Höhe des Kontami-nationsrisikos streiten. Aber es ist nicht zu verstehen,warum es ausgerechnet an diesem Ort überhaupt einge-gangen werden muss. Denn zumindest den Risikofaktor„menschliches Versehen“ wird man niemals ausschlie-ßen können.

Die Grünen führen in ihrem Antrag aus, die Aufhe-bung der obligatorischen Flächenstilllegung könnte einweiteres Artensterben der Agrarökosysteme zu Folge ha-ben. Diese Gefahr sehen wir in der Tat auch. Allerdingsmuss diese Diskussion auch im Zusammenhang mit demaktuell steigenden Bedarf an nachwachsenden Rohstof-fen, insbesondere für die energetische Nutzung, geführtwerden. Der damit verbundene steigende Flächenbedarfist unbestritten. Außerdem ist der Anbau von Biomassenicht automatisch, aber eben in vielen Fällen energie-und klimapolitisch sinnvoll. Andererseits ist auch nichtjede Flächenstilllegung automatisch naturschutzfachlichwertvoll.

Daher begrüßt Die Linke das Aussetzen der obligato-rischen Flächenstilllegung. Gleichzeitig machen wir unsGedanken um den Ersatz der damit wieder reduziertenRückzugsräume für bedrohte Pflanzen- und Tierarten imAgrarökosystem. Wir fordern, das Aussetzen der Flä-chenstilllegung durch eine Verstärkung anderer Agrar-umweltmaßnahmen und ökologisch sinnvoller Markt-anreizprogramme zu begleiten. Ziel muss unter anderemder Erhalt oder die Verbesserung der Agrobiodiversitätsein. Darüber haben wir gestern im Agrarausschuss jabereits gesprochen. Es wäre zum Beispiel denkbar, dieökologisch sinnvolle Gestaltung von Ackerseitenrändernals gesellschaftlich sinnvolle Arbeit der landwirtschaftli-chen Betriebe zum Erhalt der Kulturlandschaft nochkonsequenter zu fördern.

Die Agrobiodiversität ist öffentlich kaum beachtet,obwohl sie im Interesse der gesamten Gesellschaft liegt.Sie bietet unsere genetische Rückversicherung für zu-künftige Herausforderungen in der Landwirtschaft – ichnenne hier beispielhaft Tierseuchen, Trockenheit, Kälte,Standortangepasstheit – und ist andererseits Zeugnis un-serer jahrhundertealten landwirtschaftlichen Geschichte.Damit ist die Artenvielfalt unserer Nutztiere und -pflan-zen auch ein Wert an sich – ökologisch und kulturhisto-risch gleichermaßen. In diesem Sinne stimmen wir demgrünen Antrag zu, auch wenn wir nicht jeden einzelnenVorschlag mit der gleichen Vehemenz unterstützen.

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ar-tenvielfalt ist Ernährungssicherheit. Dies ist der Leitge-danke unseres Antrages zur Agrobiodiversität.

Heute beruht ein Großteil der Welternährung nur nochauf einer kleinen Zahl von Kulturpflanzenarten. DieZahl der Nutztierrassen ist auf einen Bruchteil der ausdem vorletzten Jahrhundert bekannten Vielfalt zurückge-gangen. Die Fruchtfolgen konzentrieren sich auf immerweniger ertragsstarke Sorten. Diese ertrags- und leis-tungsstarken Sorten und Rassen werden zudem intensivangebaut und in Großanlagen gehalten. Eine solche

Landwirtschaft aber ist gefährdet. Schädlinge undKrankheiten haben auf diese Weise ein leichtes Spiel.Schädlingskalamitäten und Seuchenzüge, die große wirt-schaftliche Schäden verursachen, gehören heute zumAlltag der „modernen“ Landwirtschaft. Es gehört nichtviel Fantasie dazu, um zu erkennen, wie leicht diesessensible Gefüge überdehnt und die Ernährung der Welt-bevölkerung in Gefahr geraten kann.

Im Agrarausschuss haben uns die Kollegen von derUnion entgegengehalten, die Agrobiodiversität zu erhal-ten hieße, so zu wirtschaften wie im 19. Jahrhundert. Sokönne man die Welt heute nicht mehr ernähren. DiesePolemik zeigt, dass Sie das Anliegen unseres Antrages– den Erhalt des Genreservoirs zur Absicherung zukünf-tiger Ernten – nicht wirklich verstanden haben.

Staatssekretär Müller ist da schon weiter. Er ließ imOktober letzten Jahres erklären: „Unsere Verantwortunggegenüber den nach uns folgenden Generationen gebie-tet es, den großen Reichtum und die unermessliche Viel-falt der Nutzpflanzen, wie sie von Generationen vonBauern und Züchtern weltweit über Jahrhunderte ausWildpflanzen entwickelt worden sind, als Nutzungs-potenzial für weitere züchterische Fortschritte und neu-artige Verwendungen von Pflanzen zu erhalten.“ Tref-fender kann man es nicht ausdrücken.

Ja, wir brauchen neue Sorten, die standortangepasstgute Erträge bringen, um die Welt mit Nahrung undnachwachsenden Rohstoffen zu versorgen. Es bestehtauch gar kein Widerspruch zwischen der Züchtung er-tragreicher Sorten und dem Erhalt der Agrobiodiversität.Vielmehr ist die Agrobiodiversität mit ihren großen Gen-pools Voraussetzung für die Züchtungsforschung.

Aber es geht nicht nur darum, die Arten- und Sorten-vielfalt in Saatgutbanken zu erhalten. Wir wollen, dasssie auch angebaut und zur Bereicherung unseres Speise-zettels genutzt werden. Und das ist kein Zurück ins Ges-tern, sondern wir sind gut beraten, wenn wir die Zahl dergenutzten Kulturpflanzenarten und -sorten vergrößern.Das gibt den Landwirten die Möglichkeit, die Fruchtfol-gen auszuweiten, was sowohl unter phytosanitären As-pekten als auch im Interesse des Erhalts der Boden-fruchtbarkeit nur sinnvoll sein kann.

Wenn wir über Agrobiodiversität reden, dürfen wirnicht nur Kulturpflanzen im Blick haben, sondern müs-sen wir auch die Ackerbegleitflora und -fauna sehen. DieEU hat sich zum Ziel gesetzt, den Artenrückgang bis2010 zu stoppen. Dazu gehört auch die Artenvielfalt inunseren Agrarökosystemen, einschließlich Ackerkraut-diestel, Brauner Bär und Rebhuhn. Zu erreichen ist dasnur durch den Ausbau von Agrar- und Waldumweltmaß-nahmen, eine bessere Förderung des Ökolandbaus, dieVerminderung chemisch-synthetischer Pestizide und ei-nen verbindlichen Anteil an Strukturelementen anstelleder Flächenstilllegung. Auch qualifizierte Cross-Com-pliance-Regelungen und eine mittelständische Züch-tungsforschung, die ihre Kraft nicht auf wenige gentech-nisch veränderte Sorten, sondern auf Vielfalt und dieHerausforderungen der Zukunft konzentriert, können ei-nen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität leisten.

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Die vielfältigen, artenreichen Kulturlandschaften, diemit diesen Maßnahmen entstehen, sind genau diejeni-gen, die die Menschen in unserem Land schätzen. KeinMensch liebt ausgeräumte Agrarlandschaften, in denendie Schläge fast bis zum Horizont reichen. Auch diessollte für Sie ein Grund sein, unseren Antrag zu unter-stützen.

Anlage 13

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Messen und Ge-schäftsreisen als Chance für den Tourismus-standort Deutschland (Tagesordnungspunkt 25)

Klaus Brähmig (CDU/CSU): Deutschland verfügtim internationalen Bereich über ein hohes Ansehen alsKongress- und Tagungsziel. Durch seine Professionali-tät, seine Zuverlässigkeit, der Gewährleistung eines si-cheren Umfeldes sowie durch die gute Tagungs- undVerkehrsinfrastruktur kann sich Deutschland an vorders-ter Stelle der attraktiven Tourismusstandorte behaupten.Auch das große Potenzial von über 1 000 außergewöhn-lichen Tagungsstätten wie etwa Schlösser, Burgen, Mu-seen, Industriedenkmäler, Freizeitparks und modernsteTagungszentren wird immer stärker genutzt. So liegtDeutschland nach einer Studie des International Asso-ciation Meeting Market 2005 im internationalen Ver-gleich nach den USA auf Rang zwei der beliebtestenKongress- und Tagungsstandorte. Trotz neuester Kom-munikationstechnik ist die Bedeutung des Kongresswe-sens nach wie vor sehr hoch, insbesondere für den Wis-sens- und Know-how-Transfer.

Kongresse und Tagungen sind für die Kommunika-tion von Angesicht zu Angesicht und den interdisziplinä-ren Informationsaustausch unverzichtbar. Zudem lässtsich Sozialkompetenz nicht über das Internet vermitteln.Damit wird der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft undGesellschaft importiertes Wissen vor Ort kostengünstigzugänglich gemacht und ein wichtiger Beitrag zur Siche-rung des Informations- und Wissensvorsprungs Deutsch-lands geleistet. Gleichzeitig kann sich Deutschland mitseinem eigenen Know-how präsentieren und seine füh-rende Position als Exportweltmeister sichern. Der Mes-sen- und Dienstreisensektor ist neben den Urlaubsreisenvon großer wirtschaftlicher Bedeutung. Jeder dritte Ar-beitsplatz in der Tourismuswirtschaft ist direkt oder indi-rekt vom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig.Die Zahlen der Geschäftsreisenanalyse 2006 des Verban-des Deutsches Reisemanagement, VDR, belegen dieseTatsachen. Im Jahr 2005 lag die Anzahl von Geschäfts-reisenden bei rund 150 Millionen. Davon sind 35 Pro-zent Besucher von Messen, Kongressen, Firmenevents,Schulungen und Seminaren.

Zudem profitiert die deutsche Tourismuswirtschaft inerheblichem Maße von Geschäftsreisenden, die insbe-sondere auch in der Nebensaison und unter der Wochefür die Auslastung der Beherbergungsbetriebe und derGaststätten sorgen. Reisende aus dem Ausland verbin-den oft ihre Kongress- und Messebesuche mit privaten

Reisen in Deutschland. Geschäftsreisende geben dabeidurchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reine Ur-laubsgäste. Dabei profitiert der Einzelhandel enorm.Doch stellen Geschäftsreisen nicht nur eine wirtschaftli-che Notwendigkeit dar, sondern auch einen Kostenfak-tor. Es besteht hinsichtlich der verwaltungstechnischenAbläufe bei der Organisation von Dienstreisen ein er-hebliches Effektivitäts- und Einsparpotenzial.

Mit unserem Antrag möchten wir die Rahmenbedin-gungen für Messen und Geschäftsreisen weiter verbes-sern, um den Wirtschafts- und TourismusstandortDeutschland weiter zu entwickeln und weiter wettbe-werbsfähig, in der immer stärker werdenden internatio-nalen Konkurrenz zu etablieren. Deshalb fordern wirinsbesondere den Abbau bürokratischer Hemmnisse unddie Vereinfachung bürokratischer Abläufe. Statistik-,Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflich-ten, denen Unternehmen bei Geschäftreisen unterliegen,müssen geprüft werden. Zudem fordern wir die Überprü-fung der aktuelle Situation im Hinblick auf die Bearbei-tung von Visa-Anträgen für Aussteller und Geschäftrei-sende im Rahmen der Schengen-Regelung undinwieweit diese Bedingungen praktikabler gestaltet wer-den können.

Die Bewerbung Deutschlands als Kongress- und Ta-gungsstandort muss von der Deutschen Zentrale für Tou-rismus, DZT, stärker als bisher auf Geschäftsreisendeausgerichtet werden. Dabei kann bei der Vermarktungmit den Namen großer Dichter, Denker, Erfinder undSchriftsteller geworben werden. Hier gibt es oft Image-vorteile gegenüber der Vermarktung als reinem Urlaubs-ziel. Als Reisemotiv stehen bei Tagungen und Kongres-sen auch die fachlichen Themen und Inhalte derVeranstaltungen sowie die Möglichkeit des Erfahrungs-austausches im Vordergrund. Zudem besticht Deutsch-land mit seinen sehr interessanten und attraktiven The-menjahren. Kulinarisches Deutschland heißt im diesemJahr das Motto und beweist eindrucksvoll, dass Deutsch-lands Spezialitäten die Gourmets der Welt begeisternkönnen. Unser Preis-Leistungs-Verhältnis braucht auchmit keinem Land dieser Welt einen Vergleich zuscheuen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt für den Kongress- undTagungsstandort Deutschland ist eine gut ausgebauteund moderne Infrastruktur. Für Besucher von Messenund Kongressen sind öffentliche Verkehrsmittel in dengroßen Messestädten Deutschlands, wie Berlin, DresdenFrankfurt, Hannover und andere, die schnellste und ein-fachste Art sich zu bewegen. Eine effektive Vereinfa-chung der öffentlichen aber auch privaten Verkehrsinfra-struktur kann durch die mehrsprachige Gestaltung derVerkehrszeichen und Hinweistafeln, zumindest an gro-ßen Messestandorten, erreicht werden. Die Länder undKommunen müssen aufgefordert werden, diese loh-nende Maßnahme umzusetzen.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für unsereForderungen einzusetzen, damit Deutschland nicht nurweltweit wettbewerbsfähig, sondern auch weiterhin ander Spitzenposition der attraktivsten Messe- und Kon-gressstandorte international bleibt. Um dieses Ziel zu er-

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reichen, muss Deutschland seine weltoffene, toleranteund gastfreundliche Art bewahren, getreu dem Mottodes DZT „Deutschland – Das Reiseland“.

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDUCSU): Die Bedeu-tung von Messen und Geschäftsreisen für den Touris-musstandort Deutschland steigt. Das führt der vorlie-gende Antrag der Koalitionsfraktionen ganz deutlichaus. Die Zahlen sprechen für sich, und sie unterstreichennachhaltig, dass die Relevanz der Geschäftsreisen undinsbesondere der Messen für unsere Wirtschaft und denStandort Deutschland nicht hoch genug eingeschätztwerden kann.

Da ist zum Einen der große Komplex der Geschäfts-reisen. Gerade für eine Handels- und Exportnation wieDeutschland ist es ein unabdingbares Muss, die Infra-struktur und die Rahmenbedingungen hierzu auf dembestmöglichen Stand zu halten. Vor diesem Hintergrundsind vielfältige Maßnahmen möglich und nötig. Der An-trag führt hier etliche auf, zum Beispiel im Bereich vonVerkehrsdienstleistungen.

Der andere Komplex, auf den ich mich konzentrierenmöchte, ist der Bereich des Messetourismus; dabei nichtin seiner Bedeutung für die großen Messestandorte, son-dern vielmehr hinsichtlich seiner regionalen Relevanz.

Wir verfügen in der Bundesrepublik mit zahlreichenMessen und Ausstellungen über ein erhebliches Poten-zial, um innovative Produkte, zukunftsweisende Techno-logien und überzeugende Dienstleistungen unsererUnternehmen der Öffentlichkeit zu präsentieren. DieMessen und Ausstellungen geben als wichtige Leis-tungsschauen ein sehr anschauliches Beispiel für dieWirtschaftskraft unseres Landes. Sie sind damit zugleichein starker und wirkungsvoller Magnet für Geschäftsrei-sende wie auch Verbraucher.

Zu den rund 150 internationalen Messen kommt eindichtes Netz regionaler Fach- und Verbraucherausstel-lungen. Dabei ist eine zunehmende Verknüpfung vonMesse- und Kongressaktivitäten zu beobachten. Messe-begleitende Kongresse und Tagungen haben jährlichetwa 400 000 Besucher. Zusammen werden knapp1,9 Millionen Teilnehmer gezählt. Als ein Schlüsselbe-reich in der deutschen Dienstleistungswirtschaft sindMessen und nationale wie internationale Wirtschaftsaus-stellungen gerade für die kleinen Standorte damit ein un-erhört wichtiges Mittel der Eigendarstellung.

Eines der Hauptziele von Messeausstellern ist dieNeukundengewinnung. Das äußern immer wieder mehrals 90 Prozent der ausstellenden Unternehmen. Für dieMessestandorte sind das einerseits Messebesucher, dieals Geschäftsreisende direkt die Gastronomie und Frem-denverkehrsbetriebe nutzen und die in ihren Parallelpro-grammen zum Messebesuch die Freizeit- und Touristik-angebote der Region nachfragen und in Anspruchnehmen. Andererseits bedeutet diese Messezielsetzungaber zugleich auch eine Ansprache von immer wiederneuen Geschäftsreisenden, die insbesondere für die klei-nen Standorte auch zu Multiplikatoren und Werbeträgernfür die Region werden. Gerade in diesem Bereich eröff-

nen sich positive Imagewirkungen für die Regionen auchüber die Ansprache weiterer Zielgruppen und damit dieMöglichkeit zu einer nachhaltigen Vermarktung als Tou-rismusregion. Die positiven Effekte des Messetourismushinsichtlich des Umsatzes, der Beschäftigung, der Aus-lastung etc. liegen damit auf der Hand. An kleinerenMessestandorten sind sie für die regionale Wirtschaftaber von proportional wesentlich größerer Bedeutung.

Daher ist mir unsere Forderung, eine stärkere Wer-bung und bessere Vermarktung von Messen und Ge-schäftsreisen durch die DZT zu prüfen, ein besonderswichtiges Anliegen, weil neben der Chance zur Stärkungdes Tourismusstandortes auch eine Standortstärkung ei-ner Stadt und Region erreicht werden kann.

In den vergangenen Jahren hat sich neben der insge-samt wachsenden Bedeutung des Messetourismus aberauch gezeigt, dass die Zahlen der Teilnehmer und Aus-steller bei den verschiedenen Messen und Ausstellungenrückläufig gewesen sind. Darauf müssen wir reagieren.Als Beispiel für diese Entwicklung möchte ich Ihnenkurz die Situation der Messe- und Veranstaltungs GmbHin meinem Wahlkreis in Pirmasens schildern. Dies liegtan der Grenze zu Frankreich und ist mit der Nähe zu Lu-xemburg auch gut erreichbar von einem internationalenHandelsplatz.

Es handelt sich dabei um den größten Messestandortin Rheinland-Pfalz, der in den 60er- und 70er-Jahren dergrößte Standort für die Messen der Schuhindustrie war.Mit dem Zusammenbruch dieser Monopolindustriemusste die Messe neue Wege gehen. Aufgabe der Mes-severantwortlichen war und ist eine neue Positionierungals Veranstaltungsort. Wenn durch attraktive Messenoder Kongresse Geschäftsreisende in eine Stadt oder ineine Region kommen, profitiert nicht allein die Messedavon, sondern die Besucher tragen zur Wertschöpfungbei und stärken somit auch die Tourismuswirtschaft.

Die Pirmasenser Messe zeichnet sich heute nicht al-lein durch zahlreiche regionale Ausstellungen, sondernauch durch nationale und internationale Messen aus.Hierzu haben die Verantwortlichen beispielsweise neueMessen entwickelt. Vorstellbar wäre aber auch die Bün-delung von Spezialthemen, zum Beispiel eine Messe„Junge Designer aus drei Ländern“ oder „Wellness imDreiländereck“, aber auch neue Ansätze wie zum Bei-spiel ein Wettbewerb für Hotel- und Kongressinvestitio-nen in Kooperation mit der Messe.

Doch eine neue inhaltliche Ausrichtung von Messenreicht nicht allein. Der Messebesucher oder der Ge-schäftsreisende will nicht nur eine interessante Veran-staltung erleben, sondern er will auch ohne große Mühezum Ort kommen. Als ausländischer Gast will er in sei-ner Sprache oder zumindest in einer gängigen internatio-nalen Sprache informiert werden. Damit diese Voraus-setzungen gegeben sind, ist auch die Unterstützungvonseiten der Bundesregierung nötig, wie wir es in unse-rem Antrag formuliert haben.

Es gibt – wenn ich damit auf einige Einzelheiten inunserem Antrag zurückkommen darf – um die StadtPirmasens herum beispielsweise noch keine internatio-

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nalen Schilder. Es gibt keinen Shuttletransport vomHauptbahnhof zur Messe oder vom 20 Kilometer ent-fernten Flughafen Zweibrücken nach Pirmasens. Dassind Faktoren, die sich in der Vergangenheit bei den klei-neren Messen, aber auch bei der alle zwei Jahre stattfin-denden Verbrauchermesser „hageha“ als nachteilig er-wiesen haben. Diese Messe zieht Besucher ausFrankreich, Luxemburg und dem Saarland an. Es ist eineder größten Verbraucherausstellungen in Rheinland-Pfalz. Die Lage von Pirmasens in unmittelbarer Nähezum Elsass, Lothringen, Luxemburg, Saarland und Ba-den-Württemberg sorgt für ein großes Einzugsgebiet undviele Besucher, die aber noch zahlreicher wären, wenndie Bedingungen im Umfeld besser wären. Dazu gehörteine bessere Verkehrsanbindung mit der Bahn und denBussen, aber auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.

Wenn die Rahmenbedingungen für Messen und Ge-schäftsreisen durch die Bundesregierung verbessert wer-den, stärken wir auch den Tourismusstandort Deutsch-land. Auf diese Weise kann auch insbesondere auskleineren Städten oder ländlich strukturierten Regionentouristisches Potenzial entwickelt werden. Davon profi-tiert die Wirtschaft und damit natürlich unser ganzesLand.

Brunhilde Irber (SPD): Einmal mehr haben dieDeutschen im vergangenen Jahr den Tourismuswettbe-werb als Reiseweltmeister beendet. Deutsche Urlauberhaben für Auslandsreisen über 60 Milliarden Euro aus-gegeben. Umgekehrt haben unsere ausländischen Gästejedoch nur 26 Milliarden Euro nach Deutschland ge-bracht.

Zwar gilt nach wie vor: Deutschland ist für Kongresseund Tagungen der beliebteste Messestandort in Europa,und darauf können wir stolz sein. Dennoch glaube ichfest daran, dass wir unseren Standort attraktiver gestal-ten können, indem wir entsprechende gesetzliche Rah-menbedingungen schaffen. An diesem Punkt setzt dervorliegende Antrag der CDU/CSU und der SPD „Mes-sen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismus-Standort Deutschland“ an.

Für den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch-land haben Messen und Geschäftsreisen eine unschätz-bare Bedeutung. 2006 haben ausländische und deutscheGeschäftsreisende in Deutschland gemeinsam 82,6 Mil-lionen Geschäftsreisen mit Übernachtungen unternom-men; dabei wurden über 60 Milliarden Euro mit (Tages-)Geschäftsreisen umgesetzt. Laut der Studie „Internatio-nal Association Meetings Market“ der InternationalCongress and Convention Association, ICCA, sind wirbei Tagungen und Kongressen weltweit die Nummerzwei hinter den USA. Über 1,85 Millionen Veranstaltun-gen mit knapp 90 Millionen Teilnehmern wurden organi-siert und durchgeführt. Hinzu kommt eine große Zahlvon Regionalmessen. Laut der aktuellen VDR-Ge-schäftsreiseanalyse planen neun von zehn Unternehmenfür das Jahr 2008 gleich viele oder sogar mehr Ge-schäftsreisen. Jeder dritte Beschäftigte unternahm min-destens eine Geschäftsreise. Die Tendenz ist steigend,das Tourismussegment der Geschäftsreisen boomt.

Auch benachbarte Wirtschaftsbereiche profitierenvon den Geschäftsreisenden, die außerhalb der Hauptur-laubszeiten und unter der Woche dafür sorgen, dass Ho-tels und Gaststätten ausgelastet sind. Jeder fünfte Beher-bergungsbetrieb rechnet sogar mit einem Zuwachs derHotelübernachtungen im kommenden Jahr. Deutschlandist für Geschäftsreisende nicht zuletzt deshalb attraktiv,weil in Deutschland die Zimmerpreise durchschnittlichhalb so hoch sind wie in den Metropolen Moskau, Genf,Paris, London oder Rom. Laut „European Travel Moni-tor“ liegt bundesweit der durchschnittliche Anteil derGeschäftsreisen bei 30 Prozent und derjenige der Pri-vatreisen bei 70 Prozent. Aber ausländische Tagungsteil-nehmer verbinden oft ihre Geschäftsreisen mit privatenReisen in Deutschland. 2006 gaben sie mit 148 Euro proTag durchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reineUrlaubsgäste. Daher ist es richtig, dass wir in unseremAntrag die stärkere Ausrichtung der Auslandswerbungder Deutschen Zentrale für Tourismus, DZT, auf Ge-schäftsreisende verlangen. Wenn wir unseren Aufwärts-trend nicht unterbrechen wollen, brauchen wir eine effi-zientere Bearbeitung von Visa-Anträgen für Ausstellerund Geschäftsreisende und eine damit einhergehende eu-ropaweite Harmonisierung der langwierigen Antragsver-fahren.

Übrigens: Für uns sind die touristischen Organisatio-nen in Deutschland wichtige Partner bei der Planung undEinführung neuer Richtlinien oder Bestimmungen. Des-halb haben wir bereits in den rot-grünen Jahren das Bud-get der DZT erhöht. Auch in der schwarz-roten Koali-tion ist es uns gelungen, in den Bundeshaushalt 2008eine erneute Anhebung der Bundeszuwendung an dieDZT um 500 000 Euro auf 25,5 Millionen Euro durchzu-setzen. In den nächsten Jahren ist ebenfalls eine kontinu-ierliche Erhöhung dieser Bundeszuwendung um einehalbe Million pro Jahr geplant, da wir als SPD um dieBedeutung der Werbetätigkeit der DZT für das deutscheWirtschaftswachsturn wissen. Mit ihrer Kampagne „DieWelt zu Gast bei Freunden“ und der Standortinitiative„Deutschland – Land der Ideen“ wurden weltweit3,5 Milliarden Menschen erreicht. Da Deutschland in er-heblichem Maße vom Imagegewinn der Fußballwelt-meisterschaft profitiert hat, wirbt die DZT im Auslandaktuell unter dem neuen Slogan „Deutschland. Einfachfreundlich“ auch mit einem neuen Logo, das die Natio-nalfarben Schwarz-Rot-Gold in Form eines Balls zeigtund damit das positive Image der Fußball-WM aufgreift.

Geschäftsreisen sichern weit über eine halbe MillionArbeitsplätze in Deutschland. Jeder dritte Arbeitsplatz derdeutschen Tourismuswirtschaft ist direkt oder indirektvom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig.Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Tagungs-oder Kongressteilnehmer. Kein Wunder, denn 2006 habendeutsche Unternehmen für die Geschäftsreisen ihrer Mit-arbeiter stolze 47,4 Milliarden Euro ausgegeben. Damitwird eines ganz deutlich: Wirtschaftswachstum hängt we-sentlich vom deutschen Geschäftsreisetourismus ab. Mit2,8 Millionen Arbeitsplätzen im vor- und nachgelagertenBereich und mehr als 110 000 Ausbildungsplätzen ist derTourismus eine boomende Branche für Beschäftigung.Offizielle Schätzungen gehen von circa 300 000 neuen

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Arbeitsplätzen bis 2015 in Deutschland aus. Besondersfreue ich mich über die gestiegene Ausbildungsbereit-schaft im Gastgewerbe. Auch die Einführung des Ausbil-dungsberufs „Kaufmann/Kauffrau für Tourismus undFreizeit“ zeigt, dass die Tourismusbranche ihrer gesell-schaftlichen Verantwortung bewusst ist. In diesem Zu-sammenhang appellieren wir an die Verantwortlichen inden Ländern, die Qualität im Dienstleistungsbereichdurch entsprechende Ausbildungsangebote, insbesonderedie Aufnahme des Schwerpunktes „Geschäftsreisema-nagement“ und die Förderung von Fremdsprachenkennt-nissen, zu verbessern.

Die Welttourismusorganisation prognostiziert bis 2020ein Wachstum der weltweiten Touristenankünfte inDeutschland von über 4 Prozent. Eine Wachstumspro-gnose der DZT für 2015 besagt, dass Deutschland miterfolgreichem Marketing 58 Millionen Übernachtungenaus dem Ausland erzielen könnte. Das wären etwa16 Millionen mehr als heute ohne Camping. Wenn auchländliche Regionen von diesen positiven Trends profitie-ren könnten, wäre dies ein wichtiger wirtschaftlicher Im-puls.

Die SPD ist sich ihrer Verantwortung für den Mittel-stand äußerst bewusst. Laut der Geschäftsreiseanalyse2007 des Verbandes Deutsches Reisemanagement e. V.,VDR, wenden sich immer mehr Unternehmen ange-sichts steigender Energie- und Reisekosten als Form derGeschäftsreisevermeidung Video- und Telefonkonferen-zen zu. In der überwiegend mittelständisch geprägtendeutschen Tourismuswirtschaft sind Kostensteigerun-gen für Geschäftsreisen um 24 Prozent wie im letztenJahr oftmals nicht finanzierbar. Im Rahmen unserer Mit-telstandspolitik setzen wir uns daher in diesem Antragfür Verbesserungen im Reisemanagement und für denAbbau von bürokratischen Hemmnissen im Bereich derStatistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchfüh-rungspflichten ein.

Ich habe diesen Antrag von Anfang an mit Initiativeund großem Enthusiasmus vorangetrieben. Ich gebe zu,dass ich an der einen oder anderen Stelle weitergehendeVorschläge und präzisere Forderungen eingebracht habe,die leider nicht realisierbar waren. WeitergehendenHandlungsbedarf sehe ich beispielsweise im zu kompli-zierten Steuersystem für Geschäftsreisen, in den exzessi-ven Aufbewahrungsfristen für Reisekostenabrechnungenoder in der Unterscheidung von Dienstreise, Einsatz-wechseltätigkeit und Fahrtätigkeit. Auch eine Neudefini-tion des Begriffs „regelmäßige Arbeitsstätte“ ist überfäl-lig.

Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber mansollte nicht darauf sitzen.

Das wusste bereits Erich Kästner. So ist dieser Antragzwar eine Kompromisslösung. Ich denke aber, dass da-mit ein Schritt in die richtige Richtung getan wird, umdie herausragende Stellung des MessestandortesDeutschland im internationalen Ranking weiter auszu-bauen.

Einig waren wir mit dem Koalitionspartner in demWunsch, das Reiseland Deutschland zu stärken. Dazu

gehören neben bereits Erwähntem der Ausbau der Infra-struktur mit mehrsprachigen Hinweistafeln an großenMessestandorten wie zum Beispiel Hannover, Frankfurta. M. und Köln. Außerdem sollen die Deutsche Bahnund andere Verkehrsanbieter ihre Verkehrsmittel undBahnhöfe so weit wie möglich barrierefrei gestalten.Schließlich ist auch beim Ausbau der Verkehrswege da-rauf zu achten, dass Umsteigezeiten möglichst geringgehalten werden.

Wir wollen mit diesem Antrag ein positives Zeichenfür den Messe- und Kongressstandort Deutschland inEuropa setzen und mit attraktiven Angeboten das Seg-ment „Geschäftsreisen“ weiter fördern. Auch bin ich mirsicher, dass sich die wirtschaftliche Entwicklungsdyna-mik der neuen EU-Länder positiv auf den Markt für Ge-schäftsreisende auswirken wird.

Ernst Burgbacher (FDP): Der Antrag der Regie-rungsfraktionen, Messe- und Geschäftsreisen als Chancefür den Tourismusstandort Deutschland zu begreifen undzu fördern, ist begrüßenswert. Messen und Geschäftsrei-sen stellen eine große Chance, aber auch eine große He-rausforderung für den Tourismusstandort Deutschlanddar.

Im Jahr 2006 gaben deutsche Unternehmen für Ge-schäftsreisen mehr als 47 Milliarden Euro aus, was einenAnstieg um 3 Prozent im Vergleich zu den Ausgaben imJahr 2005 bedeutet. Jede dritte Übernachtung und jederzweite Euro in der Kasse der deutschen Hotelleriestammt aus Geschäftsreisen. Die Anzahl der Reisendenist ebenfalls um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr auffast 158 Millionen Reisende gestiegen. Diese Geschäfts-reisen führen zu fast 52 Millionen Hotelübernachtungen.

Allerdings waren die Gesamtausgaben für Geschäfts-reisen in Deutschland von 54,1 Milliarden Euro in 2003auf 44,0 Milliarden Euro in 2004 deutlich zurückgegan-gen. Welche Möglichkeiten gibt es hier, die Geschäftrei-sen noch attraktiver für Unternehmen zu machen?

Es fallen die hohen – oftmals staatlichen – Kostentrei-ber einer (Geschäfts-) Reise auf. Knapp 54 Prozent derReiseausgaben entfielen 2006 auf die Verkehrsträger.Dabei sind die Ausgaben für die Flugtickets mit30 Prozent der Geschäftsreisekosten und insgesamt14,4 Milliarden Euro der größte Einzelposten der Kos-ten. Flugreisen befinden sich laut VDR-Geschäftsreise-analyse 2007 weiter im Aufwind, eine einseitige Belas-tung des Luftverkehrs würde sich hier negativ auswirkenund wäre nachteilig für den Geschäftsreisesektor und diedamit verbundenen Arbeitsplätze. Außerdem suchen im-mer mehr Unternehmen – darunter vor allem kleinereund mittlere Unternehmen – aufgrund der ReisekostenAlternativen zu Geschäftsreisen. Alternativen werdenvor allem in Telefon- und Videokonferenzen gesehen.Die Anwendung anderer Formen der Kommunikationzeigt, dass die Unternehmen ein Interesse daran haben,möglichst wirtschaftlich mit ihrer Zeit und ihren Res-sourcen umzugehen. Bereits 65 Prozent der Unterneh-men praktizieren diese Art der Reisevermeidung. Jedochhaben auch diese Wege ihre Grenzen. So betonte auchder Präsident des VDR Michael Kirnberger die Bedeu-tung der Geschäftsreisen für die deutschen Unterneh-

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men. Um überall auf der Welt Geschäfte machen zu kön-nen, ist die deutsche Wirtschaft auf die Mobilität ihrerMitarbeiter angewiesen. Gerade für ein exportorientier-tes Land wie Deutschland sind Geschäftsreisen unab-dingbar für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatz-sicherheit.

Viele bürokratische Hemmnisse, wie beispielsweisedie zehnjährige Aufbewahrungsfrist der Reisekostenab-rechnung – § 147 AO – oder die unterschiedlichen Ver-pflegungspauschalen, bewirken einen hohen Aufwandund somit weitere unnötige Kosten.

Sicherlich ist im Zuge der immer noch vorhandenenTerrorgefahr verstärkt auf die Sicherheit an Flughäfen zuachten, denn gerade auch die Sicherheitsmaßnahmenmachen Deutschland für ausländische Gäste so attraktiv.Ohne Zweifel darf nicht an geeigneten und notwendigenSicherheitsmaßnahmen gespart werden. Jedoch dürfenSicherheitsmaßnahmen den Firmen und Reisenden nichtdie Mobilität nehmen oder diese unverhältnismäßig ver-teuern. Die Sicherheitsgebühr, die nach den Anschlägenvom 11. September 2001 veranschlagt wurde, ließ dieFlugpreise um 5 Prozent steigen.

Gebühren und bürokratische Hemmnisse stellen diegrößten Kostentreiber dar. Großunternehmen stellen inder Regel mehrere Mitarbeiter ein, um den erhöhten bü-rokratischen Aufwand zu bewältigen. Kleinere Unter-nehmer sind jedoch dazu nicht in der Lage und sind folg-lich mit diesen Pflichten überlastet. Während dasReisebudget und die Zahl der Reisenden 2006 im Mittel-stand im Schnitt um 4 Prozent stiegen, kamen die großenUnternehmen mit 5 Prozent weniger aus, obwohl derenMitarbeiter viel häufiger Geschäftsreisen unternehmen.

Aus diesem Grunde sollte vorrangig die Entbürokrati-sierung das Ziel sein. Denn nur so lassen sich die Kostender Flug- und somit auch der Geschäftsreise senken. Ge-mäß der Ziffer 9 des Koalitionsvertrages ist der Bürokra-tieabbau ein wesentliches Ziel der Bundesregierung. Einguter Schritt in diese Richtung wäre die Entbürokratisie-rung bei Geschäftsreisen.

Der internationale Tourismus muss weiter gefördertwerden, und es müssen attraktive Angebote für ausländi-sche Messeteilnehmer entwickelt werden. Vor allem dieneuen Quellmärkte der Wirtschaftsmächte China, Indienund die EU-Osterweiterung bieten Chancen. Gleich-zeitig gilt es, Deutschland als internationalen Messe-standort in Europa zu stärken. Dazu zählt neben derVernetzung der Verkehrswege und -mittel auch diemehrsprachige Gestaltung der Beschilderung der Ver-kehrszeichen und Hinweistafeln. Um eine möglichsthohe Mobilität und unkomplizierte Einreise ausländi-scher Geschäftsreisender zu ermöglichen, muss eine zü-gigere Visavergabe erfolgen.

Der Geschäftsreisemarkt wirkt stabilisierend auf diewirtschaftliche Lage. Er ist saisonunabhängig und weit-gehend krisenfest, weil Mobilität meistens eine wichtigeVoraussetzung für Wachstum ist.

Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits in der vergange-nen Legislaturperiode einen Antrag „Rahmenbedingun-gen für Geschäftsreisen verbessern“ vorgelegt, der aller-

dings von der damaligen rot-grünen Regierungsmehrheitabgelehnt wurde. Es ist erfreulich, dass die SPD sich nunauch für die Stärkung des Geschäftsreisesektors einsetzt.Dem vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionenkann die FDP in vielen Punkten zustimmen. Ich bietegerne an, im Ausschuss ausführlich zu diskutieren undeventuell einen gemeinsamen Antrag zu formulieren.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Es ist unstrittig: Mes-sen und Geschäftsreisen sichern zahlreiche Arbeitsplätzein der Tourismuswirtschaft, vor allem in höherpreisigenHotels außerhalb von Ferien und Wochenenden, in denFirst- und Businessklassen der Flugzeuggesellschaftenund der ersten Klasse der Bahn. Wenn die Welt nur ausTourismus bestehen würde, hätte der Antrag meiner Kol-leginnen und Kollegen aus dem Tourismusausschuss vonCDU/CSU und SPD seine Berechtigung. Ich meine aber,auch wir Tourismuspolitiker müssen über den Tellerrandblicken. Deswegen sollte für Geschäftsreisen das Mottogelten: So viel wie nötig und so effektiv, kostengünstigund ökologisch wie möglich. Davon ist im Antrag derKoalition nichts zu finden, hier geht es trotz der schonohne Zutun der Bundesregierung wachsenden Brancheum noch mehr Geschäftsreisen ohne Rücksicht auf dieAuswirkungen auf Klima und Umwelt.

Unter der Überschrift „Schmutzbilanz mit Folgen“zeigt die Wirtschaftswoche in einem Artikel vom24. September 2007 auf, dass die Wirtschaft in ihremDenken schon ein ganzes Stück weiter ist als die Verfas-serinnen und Verfasser dieses Antrages. Rund ein Drittelder 500 VDR-Mitglieder – VDR steht für Verband Deut-sches Reisemanagement – beschäftigt sich nach einerUmfrage des Verbandes mit Klimaschutzproblemen, einViertel diskutiert darüber, in die CO2-Kompensation vonDienstreisen einzusteigen. Die internationale Travel-Ma-nagement-Vereinigung ACTE hält im Schnitt 40 Prozentaller Dienstreisen für verzichtbar, wenn stattdessen kon-sequent Video-, Web- und Telefonkonferenzen genutztwürden. Um nicht missverstanden zu werden: Auch dieLinke weiß, dass das sich Versammeln an einem Ort– und sei aus geschäftlichen oder dienstlichen Gründen –mehr ist als das Austauschen von Informationen. Undwenn Dienst- und Geschäftsreisen noch stärker in mittel-ständischen Landhotels – möglichst außerhalb der Sai-son – stattfinden, wissen auch wir die positiven Effektefür die Wirte und die Beschäftigten zu würdigen.

Zunehmend mehr Unternehmen nutzen die Bahn stattInlandsflüge, schaffen sich schadstoffarme Autos anbzw. mieten solche für Dienstreisen, leisten für FlügeKompensationszahlungen an „Atmosfair“ und andereOrganisationen, weisen für ihre Geschäftsreisenden per-sönliche CO2-Bilanzen aus und schaffen Synergiendurch Fahrgemeinschaften. Damit wird nicht nur einBeitrag für die Umwelt geleistet. Die Unternehmen sen-ken Kosten und fördern die Gesundheit Ihrer Beschäftig-ten durch Reduktion von nicht gerade stressarmen Rei-sen.

Von all dem ist im Koalitionsantrag nicht die Rede.Stattdessen soll die Bundesregierung in einem Sammel-surium von Einzelpunkten und Prüfaufträgen aufgefor-

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dert werden, Messen- und Geschäftsreisen weiter voran-zubringen. Begrüßenswert ist, dass die Koalition beidiesem Antrag auch an die Barrierefreiheit denkt. Aberwie und warum nur im Zusammenhang mit Geschäfts-reisen? Laut Koalition soll die Bundesregierung bei allenbaulichen Einrichtungen des Bundes auf Barrierefreiheitachten. Das ist schön, aber bereits gesetzlich im Bundes-gleichstellungsgesetz und Baugesetzbuch geregelt. An-statt zu fordern, dass die Bundesregierung auch die Län-der und Kommunen darauf hinweist sollte der Bundestagdie Pflicht auf Barrierefreiheit für alle Neubauten ver-bindlich im Baugesetzbuch verankern.

Gleiches gilt auch hinsichtlich der Barrierefreiheit beider Bahn und anderen Bereichen des Personentransports.Schon jetzt erklärt die Bundesregierung sich bei diesbe-züglichen Forderungen regelmäßig für nicht zuständig,obwohl der Bund ja noch Eigentümer der Bahn ist undnicht wenig Geld für den ÖPNV zur Verfügung stellt.Statt Privatisierungen voranzutreiben, sollte die Bundes-regierung hier Ihren Pflichten als Eigentümer gerechtwerden – zum Wohle von Geschäfts- und Privatreisen-den und allen anderen Bürgerinnen und Bürgern. Auchdie Frage der Förderung von Sprachkompetenz von denin der Tourismuswirtschaft tätigen Menschen oder dieFrage der Bearbeitung von Visa-Anträgen ist keine spe-zifische Frage des Geschäftsreisetourismus.

Völlig ausgeblendet ist im Koalitionsantrag die Frageder Dienstreisen von uns selbst, der Bundesregierungund den in Bundesbehörden Beschäftigten. Wie viele un-nötige Dienst- und Heimreisen gibt es allein durch diedoppelten Dienstsitze aller Bundesministerien in Berlinund Bonn? Der überfällige Umzug aller Bundesministe-rien nach Berlin würde das Steuersäckel und die Umwelterheblich entlasten. Auch das darüber hinausgehendeDienstreisemanagement der Bundesbehörden muss kri-tisch hinterfragt werden, und vielleicht sollten wir Abge-ordnete künftig nicht nur unsere Nebeneinkünfte son-dern auch unsere persönliche CO2-Bilanz offenlegen?

Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der Markt für Tagungen und Kongresse stellt ein bedeu-tendes wirtschaftliches Segment dar. Laut einer Analysedes VDR, des Verbandes Deutsches Reisemangement,wurden im Jahr 2006 157,8 Millionen Geschäftsreisenvon Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern durch-geführt. Jede Stunde beginnen in Deutschland durch-schnittlich 17 200 Geschäftsreisen.

Der Anteil der Geschäftsreisen stellt aber auch einenerheblichen Teil des Personenverkehrs dar. Dementspre-chend ergeben sich gravierende Folgen für die Umwelt.Klimawandel, Umweltaspekte, aber auch die Erhöhungder Benzinpreise und die Kerosinsteuerdiskussion füh-ren dazu, dass Unternehmen anfangen, ihre Geschäfts-reisegewohnheiten zu überdenken. Wir begrüßen dieseEntwicklung und setzen uns für einen umweltverträgli-chen, barrierefreien, erfolgreichen, aber auch effizientenGeschäftsreisetourismus ein.

Der nationale Tagungs- und Kongressmarkt ist vor al-lem ein Markt in den großen Metropolen: Berlin, Mün-chen, Hamburg, Leipzig, Frankfurt seien an dieser Stelle

nur beispielhaft genannt, alles Orte mit einer guten in-nerstädtischen Infrastruktur und Verkehrsanbindung.Hier funktioniert der Geschäftstourismus vor allemdurch außergewöhnliche Veranstaltungsstätten und zu-sammen mit kulturellen Angeboten. Unser vielseitigesKultur- und Naturgut bietet einen gewissen Mehrwert.Diesen Mehrwert gilt es zu erhalten und nicht durchKürzungen von öffentlichen Mitteln zu vernichten. Lei-der vermisse ich diesen Aspekt gänzlich in Ihrem An-trag.

Wir machen uns im Bereich des Geschäftsreisetouris-mus stark für regionale, nachhaltige und qualitativ hoch-wertige Angebote mit einer guten Kunden- und Service-orientierung. Eine Konzentration auf wenige Metropolengilt es zu verhindern. Nur so kann auch zukünftig bran-chenübergreifend eine Vielzahl von Arbeitsplätzen inden ländlichen Räumen gesichert werden.

Es gilt, verstärkt vor Ort und in den Regionen Netz-werke und Kooperationen zwischen Industrie und Tou-rismusverbänden zu bilden, um daraus neue Projekte fürden Geschäftsreisetourismus zu entwickeln.

Anlage 14

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts zu dem Antrag: Oldtimer von Fein-staub-Fahrverboten ausnehmen (Tagesord-nungspunkt 24)

Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Seit der Erfin-dung des Motorwagens durch Karl Benz im Jahr 1886gehört das Automobil zu unserem Leben, und inDeutschland haben wir aus dieser Innovation viel ge-macht. Ein Blick auf das erste Automobil und ein heuti-ges Modell zeigt: Es hat sich in der technischen Ent-wicklung viel getan. Oldtimer sind Zeitzeugen dieserEntwicklung sie haben den heutigen technischenEntwicklungsstand erst ermöglicht. Dies trifft in beson-derem Maße auch für die Standards der Automobilindus-trie zur Emissionsvermeidung zu. Sie sind Qualitäts-merkmal und Verkaufsargument für die heutigenModelle – Modelle, die in 30 Jahren auch Oldtimer seinkönnen.

Die Geschichte des Automobils ist auch durch denWiderspruch von Begeisterung für Technik und Komfortund Nebenwirkungen gekennzeichnet. Emissionen bil-deten zu allen Zeiten Anlass für öffentliche Diskussio-nen und sind Gegenstand einer stetigen Verschärfung derRahmenbedingungen. Neu ist die Qualität, mit der wirdie Diskussion führen. Die Folgen für das Klima und dieGesundheit rücken in den Vordergrund der Verkehrspoli-tik. Wir debattieren über die Folgen von verkehrsbeding-ten Emissionen in unseren Verkehrszentren, den Städten.Jede Maßnahme, die hier begrenzend wirkt, wird unsereZustimmung finden, wenn sie die Realitäten und Not-wendigkeiten anerkennt und geeignet ist, spürbare Ver-besserungen herbeizuführen. Hierüber besteht grund-sätzlich Einigkeit in der Politik und bei den Verbänden.

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Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationalesRecht wurde die Zuständigkeit der Umsetzung der Vor-gaben den Ländern zugewiesen. In welchem Umfang dieKennzeichnung zur Einführung von Umweltzonen führt,liegt im Ermessen der jeweiligen Kommune bzw. Lan-desbehörde. Dies gilt ebenso für die Erteilung generelleroder einzelner Ausnahmeregelungen. Übergangsfristensind nicht vorgesehen. Feinstaubfahrverbote bedrohenMittelständer, Busunternehmer, Anlieger, Wohnmobil-besitzer und eben auch Oldtimer. Wir Deutsche versu-chen wieder einmal unserem Ruf als „Saubermänner“Europas gerecht zu werden: von Null auf Hundert in ei-nem Atemzug.

Doch wie sieht das Ergebnis ein halbes Jahr nach un-serer ersten Debatte nach dem Inkrafttreten der Kenn-zeichnungsverordnung aus? In Deutschland werden der-zeit für 21 Städte Umweltzonen geplant. Andere Städtehaben die Entscheidung zurückgestellt. Nicht ein einzi-ges feinstaubbedingtes Umweltfahrverbot wurde in die-sem Jahr ausgesprochen.

Blüten trieben bei uns die Vorschläge für Ausnahme-regelungen von feinstaubbedingten Fahrverboten. Siewaren so vielgestaltig, wie unser Land nur sein kann.Verunsicherung bei den Bürgern, den Unternehmen undVerbänden war die Folge. Zahlreiche Anfragen habenmein Büro und die Büros meiner Kollegen hierzu er-reicht. Selbst die entscheidungsbegünstigten Länder undKommunen waren in ihrem Gestaltungsrecht verunsi-chert. Von den Möglichkeiten einer Allgemeinverfügungmachten die wenigsten Gebrauch. Auch hier wuchs derWunsch nach bundesweit einheitlicher Ausgestaltungder Ausnahmen.

Besonders den Berliner Oldtimerfahrern wird nochdie Titelseite der „Berliner Morgenpost“ vom 21. März2007 in Erinnerung sein. Der hier aufgeführte Katalogfür Ausnahmen und Kosten von Umweltfahrverbotendürfte die unrühmliche Spitze in der Debatte darstellen.Mit umfangreichen Nachweispflichten für die technischeUnmöglichkeit der Nachrüstung, Kostenpflichten fürden Verwaltungsaufwand, Fahrtenbüchern und Kilome-terbegrenzungen waren diese Regelungsvorschläge desrot-roten Senats in Berlin an Bürgerfeindlichkeit undBürokratie-Irrsinn kaum noch zu übertreffen.

Eine bundesweit einheitliche Ausnahmeregelung istim Vergleich zu den vielgestaltigen Vorschlägen für dieBürgerinnen und Bürger klar verständlich. Sie erfordertkeine Zeit, keinen Papieraufwand, keine Verwaltungs-kosten, sie fördert im besten Fall die Tourismusbranche.Kurzum: Sie ist am Bürger und den tatsächlichen Gege-benheiten orientiert – sie ist vernünftig.

Dieser Antrag sieht eine solche Lösung für Oldtimervor. Die Diskussion zeigte wiederholt, dass wir bei Old-timern von unterschiedlichen Sachverhalten sprechen.An die Adresse meiner Kollegen gerichtet darf ich des-halb in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dassder Begriff des Oldtimers eng gefasst ist. Es sind Fahr-zeuge in einem guten technischen und orginalgetreuenErhaltungszustand, die älter als 30 Jahre sind. InDeutschland gibt es insgesamt 470 000 Fahrzeuge über25 Jahre. 153 000 Fahrzeuge besitzen das H-Kennzei-

chen. Oldtimer sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.Rund 6 Milliarden werden auf diesem Gebiet jährlich inDeutschland umgesetzt.

Die wiederholte Herabsetzung und Gleichsetzung derFahrzeuge mit gewöhnlichen Altfahrzeugen seitens ein-zelner Vertreter des Bundesministeriums für Umwelt wieauch einzelner Kollegen wird weder diesem technischenKulturgut noch dem privaten Engagement ihrer Haltergerecht. Sie geht schlicht am Thema vorbei. Für die Hal-ter und Fahrer sind Oldtimer nicht nur Liebhaberei, son-dern auch eine Verpflichtung aus Begeisterung und Inte-resse am technischen Kulturgut Automobil. Wir redenhier nicht von Prosecco-Gesellschaft oder Protzkisten,wie leider manche vorschnell und inkompetent urteilen.Tatsache ist: Die Fahrleistung eines Oldtimers beträgt imDurchschnitt jährlich weniger als 1 500 km, der Durch-schnittswert von Oldtimern in Deutschland liegt unter15 000 Euro, und in diese Statistik sind die 300SL-Flü-geltürer genauso eingerechnet wie der VW Käfer oderder Fiat 500. Über 90 Prozent der Besitzer sind Ange-stellte.

Wir haben uns in den Diskussionen mit unseremKoalitionspartner und in den parlamentarischen Beratun-gen deshalb aktiv für eine bürgernahe und sachgerechtebundesweit einheitliche Lösung eingesetzt. An dieserStelle gilt mein besonderer Dank meinem Kollegen JensKoppen. Seinem Engagement haben wir einen Antrags-entwurf zu verdanken, der in der Koalition zur Diskussiongestellt wurde. Über die darin geforderten bundesweit ein-heitlichen Ausnahmeregelungen für benzinbetriebeneFahrzeuge, Oldtimer, Anlieger und ortsansässige oderauftragsgebundene klein- und mittelständische Unter-nehmer sowie eine Übergangsfrist von fünf Jahrenkonnte mit den Kollegen von der SPD jedoch keine Eini-gung erzielt werden. Wir sind als CDU/CSU nach wievor bereit, nicht nur für die Oldtimer dies bundeseinheit-lich zu regeln. Wir wollen Politik bürgerfreundlich undpraxisnah gestalten.

Ich begrüße daher ausdrücklich die Zustimmung derunionsgeführten Bundesländer im Bundesrat am21. September 2007 zum Antrag Hessens, Oldtimer vonden feinstaubbedingten Fahrverboten auszunehmen.Einer Symbolpolitik des Bundesministeriums für Um-welt auf dem Rücken der Halter, Fahrer und all jener, dieFreude an Oldtimern haben, konnte erfolgreich eine Ab-sage erteilt werden. Bei einem Anteil von 0,07 Prozentam Verkehr ist der Effekt feinstaubbedingter Fahrver-bote fragwürdig. Wir sind deshalb froh über die Ent-scheidung des unionsdominierten Bundesrates und ge-hen fest davon aus, dass Bundesminister Gabriel sich andiesen Beschluss des Bundesrates hält. Deshalb ist die-ser FDP-Antrag überholt und der Sachverhalt geklärt.Ich möchte aber nicht verschweigen, dass ich mich trotz-dem über diese Initiative freue.

Selbst das rot-rote Berlin kommt nunmehr zur Ver-nunft. Die linke Umweltsenatorin Lompscher hat in der„Berliner Morgenpost“ vom heutigen Donnerstag Män-gel der Regelung eingeräumt und Nachbesserungen an-gekündigt. Wenn auch spät, kommen vielleicht linkePolitiker dann mal zur Vernunft, wenigstens punktuell.

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Mal sehen, was diese Ankündigung in der Realität be-deutet.

Für die Oldtimer wurde eine bundeseinheitliche Re-gelung durch den Bundesrat jetzt erreicht, der Flecken-teppich in Deutschland wurde somit verhindert, derFDP-Antrag hier ist hinfällig. Wir sind froh darüber,dass wir in Deutschland einen Anschlag auf das automo-bile Kulturgut Oldtimer verhindert haben.

Die Diskussion zu einem Sachverhalt aus der Praxiszeigt mir, wie Europa an der Realität vorbeigehen kann.Die zugrunde liegende EU-Richtlinie ist daher aus mei-ner Sicht völlig überzogen, praxis- und bürgerfern. Zu-dem widerspricht sie dem Prinzip der Subsidiarität. Be-reits jetzt sind weitere Untersuchungen und Grünbücherin der Schublade, mit denen die EU sich erneut in diekommunale Selbstverwaltung einmischen will. Hiermüssen wir im Interesse unserer Bürgerinnen und Bür-ger wie auch der Wirtschaft aufpassen.

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Wir alle wollenund brauchen saubere Luft zum Leben. Damit die Luft inEuropa sauberer wird und gesundheitsschädliche Fein-stäube reduziert werden, hat die EU das Instrument derLuftreinhaltepläne eingerichtet.

Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hatin dieser Woche schärfere Grenzwerte für Feinstaub be-schlossen. Die Kommission erwartet, dass durch die Ver-schärfung die Zahl der Todesfälle durch Luftverschmut-zung von jährlich 370 000 auf 230 000 sinken kann.

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat ent-schieden, dass die Anwohner stark befahrener Straßendie Kommunen verklagen dürfen, wenn die EU-Grenz-werte für Feinstaubbelastung überschritten werden.Denn seit 2005 dürfen in Deutschland die geltendenGrenzwerte für Feinstaub nur an 35 Tagen im Jahr über-schritten werden; viele deutsche Großstädte können dasnicht gewährleisten. Die Kommunen sind aber in derVerantwortung, mit Aktionsplänen dieses Ziel zu errei-chen. Mit der Feinstaubverordnung können KommunenUmweltzonen einrichten und Fahrzeugen mit zu hohemSchadstoffausstoß ein Fahrverbot für diese Zonen ertei-len.

Grundsätzlich sind von diesen Fahrverboten ältereFahrzeuge, zum Beispiel Autos mit altem Dieselmotor– EURO 1 und schlechter – und Benziner ohne Kataly-sator oder Kat-Fahrzeuge der ersten Generation, betrof-fen, es sei denn, sie werden mit einem Katalysator oderRußfilter nachgerüstet.

Oldtimer sind Autos, die älter als dreißig Jahre sind.Oldtimer können gewöhnlich nicht nachgerüstet werden.Der FDP-Antrag will deshalb eine bundesweite Aus-nahme für Oldtimer von den Feinstaubfahrverboten.

Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Grundprinzip der Eu-ropäischen Union. Es entspricht dem Subsidiaritätsprin-zip, dass Probleme, die auf untergeordneten Ebenen ge-regelt und gelöst werden können, auch dort geregeltwerden sollen. Die Kommunen, die in der Verantwor-tung für die Einhaltung ihrer Luftreinhaltepläne stehen,

können regionale Begebenheiten, landschaftliche Beson-derheiten und spezielle Probleme am besten beurteilenund die entsprechenden Konsequenzen ziehen. UnsererMeinung nach ist die Entscheidung, wer wann welchezusätzliche Ausnahmeerlaubnis erhält, bestens bei derjeweiligen Kommune aufgehoben. Ausnahmen – zumBeispiel für Oldtimer, damit das Brauchtum ausgeübtwerden kann – können auf kommunaler Ebene hinrei-chend gut getroffen werden.

Die Bundesländer haben in der Sitzung des Bundesra-tes am 21. September dem Antrag aus Hessen zuge-stimmt und eine generelle Ausnahme von Oldtimern be-schlossen. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierungden Wunsch der Länder berücksichtigen wird. Denn esist dringlich, dass die Kennzeichnungsverordnung inKraft treten kann und die Kommunen die Maßnahmenzur Luftreinhaltung umsetzen können.

Wir haben in unserem Entschließungsantrag der Ko-alitionsfraktionen vorgeschlagen, die gefundene Rege-lung nach zwei Jahren zu evaluieren. Nach zwei Jahrenwerden wir uns erneut damit beschäftigen, ob die Kom-munen in dem von ihnen gewünschten Rahmen in derLage waren, das Ziel einer sauberen Luft zu erreichen.Die Länder setzen damit die Maßstäbe und dürfen diegesundheitlichen Aspekte nicht vernachlässigen.

Oldtimer sind auch für mich ein Kulturgut. Oldtimergehören in unserem Automobilland zur Geschichte.Auch in Zukunft soll der Oldtimerfan sein Hobby pfle-gen und sein schönes Auto fahren dürfen. Die Frage ist,ob hochbelastete Städte bundesweite Ausnahmeregelun-gen brauchen oder ob es ausgereicht hätte, die vorhande-nen Möglichkeiten auf kommunaler Ebene auszuschöp-fen, um Oldtimertreffen, Autokorsos oder gelegentlicheFahrten in die Zentren zu ermöglichen. Unsere Intentionwar, diese Frage nicht von oben für alle Regionen zu ent-scheiden, sondern die entsprechende Wahlmöglichkeitvor Ort zu erhalten.

Das Problem, das ich bei der bundesweiten Ausnah-meregelung für Oldtimer sehe, ist, dass eine Regel ein-geführt wird und mit ihr eine Fülle von Ausnahmen.Zwar gilt das deutsche Sprichwort: Keine Regel ohneAusnahme. Ich gebe aber zu bedenken, dass mit jederzugelassenen Ausnahme bei denjenigen, die nicht vonder Regel befreit wurden, Gefühle von Unverständnisund Benachteiligung aufkommen. Es kommt die Frageauf: Wieso dürfen die und ich nicht?

Zum Beispiel ist der Handwerker, der seinen 15 Jahrealten Firmenwagen nicht nachrüsten kann, gezwungen,ein neues Fahrzeug anzuschaffen. Er könnte sich aller-dings auch einen Oldtimer anschaffen und dürfte dannweiter in der Umweltzone ausliefern. Beides kann ersich vielleicht aber nicht leisten. Seine wirtschaftlicheExistenz steht auf dem Spiel. Sicherlich gibt es viele Ar-gumente, die in einzelnen Fällen für eine Befreiung vomFahrverbot sprechen können. Einzelentscheide und Här-tefallausnahmen wird es ja auch geben. Eine generelleAusnahme für mittelständische Unternehmer gibt es abernicht. Die Forderung nach Ausnahmen für Wirtschafts-verkehre wird aber von der Wirtschaft erhoben.

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Es gibt viele Weiterentwicklungen des deutschenSprichwortes mit der Regel und den Ausnahmen. EineVariante lautet: Die Ausnahme belästigt die Regel, bissie selber Regel ist. Es gibt noch andere Interessengrup-pen, die Ausnahmen von den Fahrverboten fordern, zumBeispiel die Wohnmobilfahrer. Die haben auch nachvoll-ziehbare Argumente dafür, dass sie nicht außerhalb derUmweltzone parken wollen. Die EU fordert Ausnahmenfür Touristen, denn eine Urlaubsreise mit dem Autodurch unterschiedliche Umweltzonen bringt wenig Ver-gnügen. Eine Ausnahme folgt der Ausnahme folgt derAusnahme, und der Sinn der Regel, nämlich der Gesund-heitsschutz, stellt sich hinten an.

Individuelle und öffentliche Interessen sind gegenei-nander abzuwägen. Ich hoffe, dass die Länder in demvon ihnen gewünschten Rahmen, den öffentlichen Inter-essen der Luftreinhaltung und damit dem Schutz derMenschen vor krankmachenden Schadstoffen genügenwerden. Dies werden wir nach zwei Jahren prüfen.

Die gefährlich hohe Feinstaubbelastung in den Bal-lungsräumen einzudämmen, ist unser aller Interesse.Den Erfolg der Luftreinhalte- und Aktionspläne lässtsich an den Feinstaubwerten messen. Die Grenzwerteder EU sind der Maßstab unseres Handelns. Die Kom-munen müssen sich anstrengen. Im Mittelpunkt steht dieGesundheit der Bürgerinnen und Bürger.

Patrick Döring (FDP): Ich bin mir sicher, die großeZahl der hier Anwesenden schätzt William Shakespeareaußerordentlich. Da nehme ich mich nicht aus. Und wirerwarten sicherlich alle mit großer Spannung die Verfil-mung eines seiner vortrefflichsten Stücke, das in diesenTagen in die deutschen Kinos kommt. Aber bei allerLiebe zu Shakespeares Komödien: Die jüngsten Auffüh-rungen von Viel Lärm um Nichts und Wie es euch gefällt,die ich in diesem Hohen Hause in den letzten Monatenerleben durfte, fand ich eher missraten.

Auch das Drama, das die Koalition in der Diskussionum die Ausnahme von Oldtimern von den Feinstaub-Fahrverboten aufgeführt hat, bekommt zu Rechtschlechte Kritiken. Die Autoren und Regisseure der Ko-alition haben an dem kleinen Dramolett zwar lange gear-beitet, aber das Ergebnis ist nicht sehr sehenswert. Ausgutem Grund wird der letzte Akt jetzt in der Nachtvor-stellung aufgeführt. Es ist verständlich, dass man diesemStück eher keine Zuschauer wünscht.

Monatelang wurde da diskutiert und unser Antrag mitder Bitte aufgeschoben, man brauche die Zeit, um einevernünftige Lösung zu finden. Der Berg kreißte – undgebar einmal mehr eine Maus. Die von der Koalitionvorgelegte Entschließung ist ein Zeugnis der Ohnmacht.Die Vernunft wurde offensichtlich wieder einmal demPrinzip geopfert: Anstatt eine klare Entscheidung zu fäl-len, sollte die Diskussion für weitere zwei Jahre aufge-schoben werden, um dann die Auswirkungen der Ver-ordnung zu überprüfen. Für viele Betroffene wäre esdann freilich schon zu spät gewesen.

Wir können daher von Glück sagen, dass im Bundes-rat die Länder mit vereinter Kraft diesen Unsinn verhin-

dert haben und, in Übereinstimmung mit dem von unshier vorgelegten Antrag, auf einer Ausnahme für dieOldtimer bestanden. Ich erwarte nun mit Spannung dieUmsetzung durch die Regierung. Hier darf es keineHalbheiten geben.

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hät-ten es einfacher haben können. Von Anfang an war klar,dass die Einbeziehung der Oldtimer in die Fahrverboteunverhältnismäßig sein würde. Hätten Sie Ihren Willendurchgesetzt, der Schaden wäre immens gewesen: Der-zeit sind in Deutschland 21 Fahrverbotszonen in Pla-nung – und nach dem Feinstauburteil des Bundesverwal-tungsgerichtes werden es sicherlich bald noch mehr sein.Sie hätten dieses großartige Hobby, durch das einzigar-tige Fahrzeuge und damit auch ein kulturelles Erbe be-wahrt werden, quasi unmöglich gemacht. Bei jeder Fahrtwäre von dem Fahrer verlangt worden, sich zu erkundi-gen, ob und wo Fahrverbote bestehen und sich gegebe-nenfalls eine Ausnahmegenehmigung zu besorgen.

Auch hätte das Verbot schwere Folgen für Wirtschaftund Tourismus gehabt. Fahrverbote wären nicht nur dasEnde für Oldtimer-Rundfahrten gewesen, sondern hättenauch eine Branche gefährdet, die europaweit jedes JahrMilliarden Euro in den Bereichen Versicherungen, Fahr-zeughandel, Reparatur und Restaurierung von Oldtimernumsetzt.

Es wäre ein Leichtes gewesen, all dies durch die An-nahme unseres Antrages gleich zu verhindern. Stattdes-sen brauchte es erst eine Entschließung des Bundesrates,um der Regulierungswut der schwarz-roten Bundesre-gierung Einhalt zu gebieten. Der Anteil der Oldtimer anden Feinstaubemissionen in Deutschland ist denkbar ge-ring. Nach einer Studie des Fraunhofer-Institutes ma-chen Pkw ohnehin nur insgesamt 4 Prozent des Feinstau-baufkommens aus. Und der Anteil der Oldtimer an derZahl der Personenwagen liegt bei gerade einmal 0,4 Pro-zent. Noch geringer ist ihr Anteil an der jährlichen Stre-ckenleistung. Es ist daher geradezu lächerlich, die Ent-scheidung, ob Oldtimer ausgenommen werden sollen, zueiner Frage der Volksgesundheit zu machen.

Man muss sich tatsächlich fragen, warum Teile derKoalition – vor allem aufseiten der Sozialdemokratie –so nachdrücklich darauf beharren, die Oldtimer aus un-seren Städten zu verbannen. Anstatt Ihre Energien daraufzu verschwenden, den Menschen das Leben schwer zumachen, sollten Sie sich besser um wirkliche Lösungenbemühen.

Das Feinstaubproblem wird jedenfalls nicht gelöst,indem man ein paar Autoklassiker aus den Innenstädtenverbannt. Letztlich braucht es ein Gesamtkonzept undauch überregionale Ansätze. Doch hier machen Sie essich sehr einfach und lassen die Kommunen mit ihrenProblemen im Regen stehen.

Anstatt Oldtimer aus den Städten auszusperren, soll-ten Sie noch einmal über die Beschaffenheit der Grenz-werte nachdenken. Die Jahresgrenzwerte müssen schär-fer, die Tageswerte aber flexibler werden. Sonst werdenwir weiterhin die paradoxe Situation haben, dass in eini-gen Kommunen mit einer permanent hohen Feinstaub-

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konzentration, die aber die Grenzwerte nur selten über-schreitet, nichts geschieht, während auf der anderenSeite Städte an den Pranger gestellt werden, die nur anwenigen Tagen im Jahr ein dann aber sehr hohes Fein-staubaufkommen haben. Das Europäische Parlament hathier schon vorgedacht. Die Bundesregierung hat dieseInitiative aber leider bisher abgelehnt. Ich empfehle Ih-nen dennoch gerne den Beschluss des europäischen Um-weltausschusses als Lektüre.

Anstatt die Jagd auf Oldtimer zu eröffnen, sollten Sieendlich die 1. Bundesimmissionsschutz-Verordnung no-vellieren, um auch Grenzwerte für die Millionen kleinerHolzfeuerungsanlagen einzuführen. Denn diese stoßeninsgesamt etwa genauso viel Feinstaub aus wie die Mo-toren von Lkw, Pkw und Motorrädern zusammen.

Anstatt den Autoklassikern das Grab zu schaufeln,sollten Sie ein integriertes Konzept, zusammen mit Län-dern und Kommunen, aber auch den europäischen Nach-barn, entwickeln. Nur wenn wir die zahlreichen Fein-staubquellen in den Griff bekommen, können wir dasProblem lösen.

Nichts von alledem haben Sie bisher getan. Stattdes-sen erschöpft sich Ihre politische Arbeit in Aktionismusund Symbolpolitik. Den Schaden haben die Menschen inDeutschland, denen nicht effektiv geholfen wird – oderderen Interessen Sie für den öffentlichen Effekt opfern.

Es ist wahrlich ein Trauerspiel, das die Koalition hieraufgeführt hat, und es wird leider wohl auch nicht dasletzte sein, das Schwarz-Rot uns auf dieser Bühne dar-bieten wird. Es bleibt abzuwarten, wie Ihr Publikum diesgoutiert. Im vorliegenden Fall können wir von Glück sa-gen, dass durch den Bundesrat das größte Unglück ver-hindert wurde. Ein gutes Licht auf die Politik dieser Re-gierung wirft dies freilich nicht.

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Der Bundestag debat-tiert heute zum zweiten Mal über Oldtimer. Es geht umdie Frage, ob Oldtimer generell in Umweltzonen fahrendürfen oder nicht. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum,Oldtimern die Teilnahme am gesamten Straßenverkehrzu verbieten. Genau diesen Eindruck vermitteln aber dieOldtimer-Lobby und ihr Sprachrohr, die FDP. Auch wirdder Anschein erweckt, die spezialisierten Werkstättenstehen vor dem Ruin.

Dem ist aber nicht so – und das will meines Wissensauch niemand, auch Die Linke nicht, obwohl der durch-schnittliche Oldtimer-Besitzer nicht gerade zu unsererklassischen Wählerschicht gehört. Dies weiß ich aus ei-genem Erleben, als Tankstellenkassierer bediente ichfrüher eine Reihe von Oldtimer-Fahrern.

Ein Oldtimer ist eben nicht als Alltagsfahrzeug ge-dacht, sondern nur als zusätzliches „Liebhaber-Stück“für gelegentliche Ausfahrten vorgesehen. Das muss mansich erst mal leisten können. Deshalb nährt die FDP mitihrem Antrag den gelegentlich geäußerten Vorwurf, siesei die Partei der Besserverdienenden. Mit diesem An-trag wird einseitige Klientelpolitik betrieben. Umwelt-und Gesundheitsschutz sind bei der FDP anscheinendnur Lippenbekenntnisse.

Denn genau darum geht es – um den Gesundheits-schutz der Bevölkerung in den Innenstädten. Dafür wer-den nach Auskunft der Bundesregierung derzeit 21 Um-weltzonen vorbereitet. Dadurch wird die extremgesundheitsgefährdende Feinstaubbelastung gesenkt.Der EU-Grenzwert wird in vielen Städten, insbesonderean Hauptverkehrsstraßen, sehr häufig – zu häufig – über-schritten. Auch für das hochgiftige Stickstoffdioxid giltab 2010 ein strenger Grenzwert, der bislang vielerortsüberschritten wird.

Mit Umweltzonen werden also nicht Oldtimerfahrerschikaniert, sondern die Bevölkerung in den Innenstäd-ten vor Gesundheitsgefahren geschützt. Oldtimer sinddabei nicht vernachlässigbar, sondern eine nicht uner-hebliche Quelle von Luftverschmutzung. Obwohl sie nur0,4 Prozent an der gesamten Pkw-Flotte Deutschlandsausmachen, sind Oldtimer für 3 Prozent der Stickoxid-emissionen verantwortlich. Ihr Schadstoffausstoß liegtum bis zum 60-Fachen über einem Neuwagen.

Deswegen gibt es für Oldtimer keine generelle Be-freiung – und das ist auch gut so!

Es ist aber nun nicht so, dass Oldtimer gar nicht inden Umweltzonen fahren dürfen. Denn die Kommunenkönnen und sollen selber entscheiden, inwieweit sie Old-timern und anderen Betroffenen – dazu gleich mehr –Ausnahmen erteilen.

Berlin als Vorbild und Vorreiter wird als erste Kom-mune ab dem 1. Januar 2008 eine Umweltzone einrich-ten. Stuttgart und andere Städte Baden-Württembergswollten ursprünglich früher loslegen, mussten ihrenStarttermin aber immer wieder verschieben. Man könnteeinen gängigen Werbeslogan deshalb etwas abwandelnin „Baden-Württemberg – wir können alles außer Um-weltzone“.

Vielleicht haben sie aber nur auf die BestimmungenBerlins gewartet, um sie zu übernehmen? Berlin jeden-falls hat eine großzügige Regelung für Oldtimer geschaf-fen. Klar können sie weiter für Hochzeitsfahrten oderÄhnliches genutzt werden. Klar erhalten auch privateOldtimer eine unbefristete Ausnahmegenehmigung. Da-mit dürfen sie pro Jahr 700 Kilometer in der Umwelt-zone fahren.

Diese erstreckt sich nun nicht auf ganz Berlin, son-dern nur auf den S-Bahn-Ring. Wenn man da einmalrein- oder durchfährt, sind das fünf bis zehn Kilometer.Oldtimer können also weiterhin gelegentlich über die„Linden“ fahren und ihre Werkstätten besuchen. UndOldtimerbesitzer, die in der Umweltzone wohnen, müs-sen ihren Wagen weder verkaufen noch außerhalb derUmweltzone parken.

Deswegen frage ich mich: Warum diskutieren wirausgerechnet über Oldtimer in Umweltzonen? Kritischist nicht der Freizeitverkehr mit Oldtimern. Die wirklichproblematischen Fälle sind Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer, die aufs eigene Auto angewiesen sind. Er-freulicherweise hat sich durch die nachträgliche Rege-lung für G-Kats der Kreis der Betroffen erheblichreduziert.

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Auch der Wirtschaftsverkehr, dessen Lkw und Trans-porter oft veraltet sind, ist ein Problem. In beiden Fällenhat Berlin ebenfalls sinnvolle Ausnahmeregelungen ge-schaffen. Klar ist aber auch, dass nicht allen eine Aus-nahme erteilt werden kann. Dann könnte man die Um-weltzone gleich sein lassen.

In der Bundesregierung und insbesondere beim klei-neren Koalitionspartner wird ja viel über „fordern undfördern“ gestritten. Ich würde mir wünschen, dass dieBundesregierung auch im Gesundheitsschutz dem För-dern mehr Gewicht gegeben hätte. Denn wenn manMenschen zu Einschränkungen zwingt – Fahrverbotesind in der Tat eine Einschränkung –, dann sollte man ih-nen auch Alternativen anbieten.

Da der Gesundheitsschutz eine öffentliche Aufgabeist, sollte er nicht nur denjenigen angelastet werden, diealte Fahrzeuge haben. Nein, die Bundesregierung istgegenüber der EU für die Einhaltung der Grenzwertemitverantwortlich. Deshalb hätte sie die steuerliche För-derung der Umrüstung von Fahrzeugen mit Dieselrußfil-tern deutlich großzügiger gestalten müssen. Die sehr ent-täuschenden Zahlen bislang erfolgter Umrüstungenbelegen, dass 330 Euro viel zu wenig sind.

Auch für den Wirtschaftsverkehr sollten Förderpro-gramme – so weit möglich zur Nachrüstung, ansonstenzur Flottenerneuerung – aufgelegt werden.

Der Schutz der Gesundheit der Menschen geht allean, nicht nur Einzelne!

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Wir haben über den Antrag der FDP ja schon einmal An-fang März 2007 debattiert. Ich habe damals – wie anderemeiner Kolleginnen und Kollegen – eine Kennzeich-nungsverordnung begrüßt, die am 1. März 2007 in Kraftgetreten war, heute aber schon wieder der Vergangenheitangehört.

Was war geschehen? Es hatte handwerkliche Fehlergegeben, zu spät war aufgefallen, dass ein nicht unerheb-licher Teil von Fahrzeugen mit älteren Kats – nach US-Norm – ohne Plakette bleiben würde und so nicht in derUmweltzone fahren dürfe. Fahrzeuge mit Katalysatorender ersten Generation – G-Kat, Kats nach US-Norm –haben jedoch keine schlechteren Abgaswerte als Euro-1-Fahrzeuge, die nach der ersten Version der Verordnungdie grüne Plakette erhalten. Schon Anfang März hattedie Bundesregierung angekündigt, dies zu korrigieren.Bundesumweltminister Gabriel hat am 4. Juli 2007 eineentsprechende Änderung der Plakettenverordnung insKabinett eingebracht.

Die FDP hat mit ihrem Antrag für die Oldtimer einegenerelle Ausnahmeregelung von den Fahrbeschränkun-gen gefordert. So sollten alle Oldtimer mit H-Kennzei-chen sowie möglichst auch jene mit dem „roten 07er-Kennzeichen“ pauschal von der Verordnung ausgenom-men werden. Wir haben dieses Anliegen in der erstenLesung abgelehnt. Denn es ist sachlich und mit Blick aufeine vorsorgende Luftreinhaltung nicht einzusehen, dassalten Diesel-Oldtimern erlaubt sein soll, ein Mehrfachesan Feinstaub auszustoßen als andere Fahrzeuge. Aus der

Beschlussempfehlung – 16/6327 – des Verkehrsauschus-ses lässt sich entnehmen, dass auch die Mehrheit der Ab-geordneten einen Freifahrtschein für Oldtimer ablehnt.Das ist auch richtig so.

Vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundes-verwaltungsgerichtes in Leipzig sind Kommunen drin-gend aufgefordert, die Belastung der Bevölkerung mitFeinstaub wirksam einzudämmen. Das Feinstauburteilvon Leipzig erinnert die Städte und Gemeinden nicht nuran ihre Verantwortung, sondern es zieht sie zur Verant-wortung. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 27. Sep-tember 2007 höchstrichterlich entschieden, dass Anwoh-ner von besonders mit Feinstaub belasteten Straßen ihrRecht auf saubere Atemluft gerichtlich durchsetzen kön-nen. Kommunen könnten sich nicht auf das Fehlen einesAktionsplans zur Luftreinhaltung berufen, entschiedendie Richter. Sie müssen vielmehr dafür sorgen, dass einwirksames Aktionsprogramm auch realisiert wird.

Denn schon 2002 wurde mit den rot-grünen Vorgabenim Bundes-Immissionsschutzgesetz und der dazugehöri-gen Verordnung den Kommunen eine Vielzahl vonInstrumenten zur Verfügung gestellt, mit denen sie ge-gen die Emissionsquellen vorgehen können. Auch dieErmächtigungsgrundlagen für Verkehrsverbote oder -be-schränkungen stammen aus dem Regelwerk von 2002.Bis dahin waren Verkehrsbeschränkungen wegen Luft-verunreinigungen stets nur symbolische Politik.

Wir Grünen haben diese falsche Praxis beendet. Wirhaben damals im Bundes-Immissionsschutzgesetz zweineue Ermächtigungsgrundlagen für Verkehrsbeschrän-kungen wegen Luftverunreinigungen geschaffen – § 40Abs. 1 und Abs. 2 BimSchG. Damit wurden Kommunenzu Verkehrsverboten und -beschränkungen ermächtigt, diein Luftreinhalte- oder Aktionsplänen vorgesehen sind undihnen wurde gestattet, unabhängig von den planerischenInstrumenten Verkehrsbeschränkungen und -verbote zuerlassen, wenn der Verkehr zur Überschreitung von Im-missionswerten beiträgt.

Die Planung der Umweltzonen ist ein wesentlichesInstrument der Kommunen, die Grenzwertüberschrei-tungen in den Griff zu bekommen. Symbolische Politikist es aus unserer Sicht jedoch, Umweltzonen mit Fahr-beschränkungen anzukündigen und einzurichten und zu-gleich so viele Ausnahmetatbestände zu schaffen, dassdie Idee der Umweltzone wieder ad absurdum geführtwird.

Im Jahr 2002 hatten Bundestag und Bundesrat der22. BImSchV zugestimmt. Doch schon mit Näherrückendes Termins und erst recht aufgrund der Feinstaubmes-sungen vor 2005 änderte sich die Haltung in vielen Län-dern und Kommunen. Es war schnell klar: Viele Bal-lungsräume würden die Grenzwerte reißen. Doch stattsich um wirksame Maßnahmen zu kümmern, forderteneinzelne Länder nun eine Revision der EU-Vorgaben.Ziel: Grenzwerte, die man nicht einhalten kann, müsseneben angehoben werden. Es soll hier nicht ungesagt blei-ben, dass viele Länder und Kommunen rechtzeitig Luft-reinhaltepläne und Aktionspläne auf den Weg gebrachthaben.

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Was die Umweltzonen und Oldtimer angeht, so hatuns doch Herr Koch aus Hessen überrascht: Er hat seinHerz für das Kulturgut Oldtimer entdeckt und flugs imSeptember 2007 im Bundesrat den Antrag gestellt, dieOldtimer in den Ausnahmekatalog der Verordnung auf-zunehmen. Das Land Hessen war mit seinem Ände-rungsantrag zur Kennzeichnungsverordnung erfolgreich,und der Bundesrat stimmt der Verordnung mit dieser Än-derung zu. Mit dem Nachbessern an der Verordnung wa-ren die Oldtimer-Lobbyisten auf den Plan getreten undhaben offenbar ganze Arbeit geleistet. Jetzt stellt sich dieFrage, ob die Bundesregierung respektive der Umwelt-minister diese Bundesratsentscheidung hinnimmt oderdaran die ganze Verordnung scheitern lässt und wiederauf Anfang geht. Dies würde natürlich bedeuten, dassdamit die Rechtsgrundlage für die Umweltzonen ab2008 infrage steht. Eine weitere Verzögerung könnensich Bund und Länder im Kampf gegen den Feinstaubjedoch nicht leisten.

Wir waren dafür, pragmatische Regelungen für Old-timer-Veranstaltungen in Städten zu finden, und ange-sichts der überschaubaren Zahl von Oldtimer waren wirfür begrenzte Sondergenehmigungen, aber eine generelleAusnahme halten wir auch nach der Bundesratsentschei-dung nicht für sachgerecht. Schließlich ruft dies auch an-dere Betroffeneninteressen für weitere Ausnahmetatbe-stände auf den Plan.

Anlage 15

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurNeuregelung des Wohngeldrechts und zurÄnderung anderer wohnungsrechtlicher Vor-schriften (Zusatztagesordnungspunkt 10)

Gero Storjohann (CDU/CSU): Seit 40 Jahren wer-den durch das Wohngeld die Wohnkosten einkommens-schwacher Mieter und selbst nutzender Eigentümer be-zuschusst. Diese Leistung unseres Sozialstaates hat sichbewährt und ist für sozial schwache Bürger unverzicht-bar. Die Wohngeldberichte der Bundesregierung belegendas ein ums andere Mal.

Der Wohngeldbericht der Bundesregierung aus 2002hat erhebliche Vollzugsprobleme bei der Bewilligungvon Wohngeldleistungen offenbart. Lange Bearbeitungs-zeiten und komplizierte Berechnungsverfahren wurdenvon den Betroffenen beklagt, sowohl auf der Seite derWohngeldempfänger als auch aufseiten der Mitarbeiterder Bewilligungsstellen.

Dies bildete den Rahmen für die Koalitionsvereinba-rung zwischen CDU/CSU und SPD in Bezug auf dieWeiterentwicklung des Wohngeldgesetzes. Daher zitiereich den Text an dieser Stelle ausdrücklich: „Das Wohn-geld wird weiterhin der sozialen Absicherung des Woh-nens dienen. Wohngeld ist eine Fürsorgeleistung. Bundund Länder werden das Wohngeldrecht zügig mit demZiel einer deutlichen Vereinfachung überprüfen“. Sosteht es im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und

SPD. Mit dem heutigen Entwurf eines Gesetzes zur Neu-regelung des Wohngeldrechts und zur Änderung andererwohnungsrechtlicher Vorschriften setzt die Große Koali-tion dieses Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um.

Es ist jedoch ein weiterer Aspekt hinzugetreten: Vonder Hartz-IV-Gesetzgebung wurde auch das Wohngeldumfassend betroffen. So wurden Transferleistungsemp-fänger durch dieses Gesetz, vom Wohngeld ausgeschlos-sen. Damit wurde deutlich gemacht, dass es sich hierbeium zwei eigenständige soziale Sicherungsinstrumentehandelt. Real wurde das Wohngeld auf einen Kernbe-reich von Leistungsempfängern zurückgeführt. DieserKernbereich umfasst im Wesentlichen Menschen mitniedrigem Arbeitseinkommen bzw. mit niedriger Rente.Durch die Vollkostenübernahme für das Wohnen beiALG-II-Empfängern im Rahmen der Grundsicherung istein großer Teil der Wohngeldempfänger entfallen.

Zwischenzeitlich sind Schnittstellenprobleme zwi-schen den Leistungssystemen identifiziert und auch An-zeichen für Fehlanreize aufgetreten. So haben sich zumBeispiel Vollzugsschwierigkeiten zwischen Wohngeld-stellen und den für die Grundsicherung für Arbeit-suchende zuständigen Stellen bei der Gewährung vonSGB-Il-Leistungen und Wohngeld aufgetan.

Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es daher,den Verwaltungsaufwand im Vollzug zu vermindern undSchnittstellen mit den Transferleistungsgesetzen zu ver-einfachen. Darüber hinaus sollen die Wohngeldmittelnoch effizienter verwendet werden. Weiteres Ziel desvon der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwur-fes ist es, die Normen sowohl für Antragsteller als auchfür die Bearbeiter einfacher und besser verständlich zumachen. Dem setzt das komplizierte deutsche Steuer-recht jedoch natürliche Grenzen. Die Große Koalitionleistet mit diesem Gesetzentwurf auch einen Beitrag zumBürokratieabbau in Deutschland; er ist sicher nicht ent-scheidend, aber ein weiterer Baustein unser Ziele beidiesem Thema.

Was sieht das Gesetz im Einzelnen vor? Lassen Siemich die wichtigsten Neuerungen kurz darstellen.

Durch das Gesetz wird der wohngeldrechtliche Haus-haltsbegriff fortentwickelt. Alle Mitglieder einer Wohn-und Wirtschaftsgemeinschaft werden fortan in diesennach dem Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen einbe-zogen werden. Dadurch entfällt die für die Verwaltungäußerst kompliziert durchzuführende Vergleichsberech-nung. Auch wird dadurch die bisherige Regelung der vo-rübergehenden Abwesenheit hinfällig. Die Arbeit derVerwaltung bei Berechnung des jeweiligen Wohngeldan-spruchs wird damit erheblich erleichtert.

Des Weiteren wird durch den Gesetzentwurf die fürdie Höhe des Wohngeldes maßgebliche Differenzierungin vier Baualterklassen wegfallen. Auch hier musste dieVerwaltung in der Vergangenheit immer umständlicheBerechnungen anstellen. Dies wird durch das neue Ge-setz jetzt bereinigt.

Erhebliche Verbesserungen bringt der Gesetzentwurfauch für die Bezieher von Wohngeld. So haben wir dieRückforderung des Wohngeldes von den Erben erheb-

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lich erleichtert. Ferner werden durch das Gesetz die ge-samtschuldnerische Haftung aller Haushaltsmitgliederund die Erweiterung der Aufrechnungs- und Verrech-nungsmöglichkeiten bei überzahltem Wohngeld einge-führt.

Der Bundesrat hat mit seiner Stellungnahme eineVielzahl von Anregungen gegeben, bei denen die Bun-desregierung bereits eine Zustimmung oder entspre-chende Anpassung im parlamentarischen Verfahrenempfiehlt. Auch wir werden die vom Bundesrat aufge-worfenen Fragen eingehend prüfen. Uns ist klar, dasszum wichtigen Punkt der Beibehaltung der sachfremd imWohngeldgesetz verankerten Ausgleichsregelung fürgrundsicherungsbedingte Mehrkosten die Wünsche vonBundesrat und der Vorschlag der Bundesregierung nochnicht zusammenpassen. Deshalb müssen wir wohl deninhaltlichen Zusammenhang zum parallel zu beratendenEntwurf eines Zweiten SGB-XII-Änderungsgesetzes be-rücksichtigen.

Ich sehe der Ausschussberatung mit Interesse entge-gen und wünsche mir, dass Wohngeld auch in Zukunftein wirksames Instrument des verantwortungsvollen So-zialstaates bleibt.

Sören Bartol (SPD): Die zeitnahe Überarbeitung desWohngeldgesetzes mit dem Ziel einer deutlichen Verein-fachung hatten CDU/CSU und SPD im Koalitionsver-trag festgelegt; dieses Vorhaben wird mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf umgesetzt.

Dieser Gesetzentwurf ist ein dringend notwendigerSchritt zur Entbürokratisierung, der Verwaltungsauf-wand vermindert, Schnittstellen mit Transferleistungsge-setzen des SGB II vereinfacht, Wohngeldmittel noch ef-fizienter verwendet und Regelungen für Bürgerinnenund Bürger verständlicher gestaltet. Es ist ein wichtigerGesetzentwurf, auch weil er zugleich eine Aktualisie-rung diverser Bereiche und Begrifflichkeiten an eineveränderte gesellschaftspolitische Realität vornimmt.

Dazu zählen unter anderem die Fortentwicklung deswohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs, die Einführungder gesamtschuldnerischen Haftung aller Haushaltsmit-glieder sowie die Erweiterung der Aufrechnungsmög-lichkeit bei überzahltem Wohngeld und des Datenab-gleichs. Vorgesehen ist außerdem der Wegfall der für dieHöhe des Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung invier Baualtersklassen, den ich entgegen der Auffassungdes Bundesrats ausdrücklich begrüße.

Zum einen vereinfacht dies das Verwaltungsproze-dere, zum ändern trägt man damit der EntwicklungRechnung, dass der Wert vieler Altbauten in den letztenJahren durch Renovierungen und Sanierungen erheblichgestiegen ist. Bislang wurde in den Berechnungen alleinauf das Baujahr abgestellt. Im vorliegenden Gesetzent-wurf – § 12 WoGG-E – sind die Höchstbeträge nun derbisherigen Bauklasse IV aus der Tabelle des geltenden§ 8 WoGG entnommen: Eine Leistungsverbesserung, dieich – auch vor dem Hintergrund des Wohn- und Mieten-berichts 2006 der Bundesregierung – für richtig halte.Für weit genug gehend halte ich sie nicht. Man muss an

dieser Stelle klar sagen: Der Weisheit letzter Schlusskann der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nichtsein.

Zwar dient die Neuformulierung des Wohngeldgeset-zes in erster Linie der Verwaltungsvereinfachung, unddiesem Anspruch wird sie in der Tat gerecht; den seit2002 zu konstatierenden eklatanten Preisanstieg im Be-reich der Nebenkosten aber lässt sie außer Betracht.

Mittel- und langfristig haben wir mit dem CO2-Ge-bäudesanierungsprogramm eine adäquate und nachhal-tige Antwort auf steigende Energiekosten gefunden.Durch die energetische Sanierung von Wohnungen undHäusern werden die Belastungen von Mietern und Ei-genheimbesitzern erheblich reduziert. Um etwa 40 Pro-zent konnte der Heizenergieverbrauch je QuadratmeterWohnfläche in den letzten 20 Jahren mit entsprechendenMaßnahmen bereits gesenkt und der CO2-Ausstoß ver-ringert werden. Deshalb hatten wir das CO2-Gebäudesa-nierungsprogramm für 2006 um 350 Millionen Euro auf1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Allein in diesem Jahrkonnten mit dem Programm 265 000 Wohnungen undGebäude saniert und 900 000 Tonnen Kohlendioxid ver-mieden werden. Durch erneuerte Fassaden und Fenster,eine verbesserte Wärmedämmung und modernisierteHeizungen lassen sich bis zu 25 Prozent Energie sparen.So können die finanziellen Belastungen der Haushalteerheblich gesenkt werden.

Energieeffizienz wird künftig auch bei der Woh-nungsauswahl ein zentrales Kriterium sein: Ab 2008wird der Energieausweis zu einem wichtigen Instrumentfür Mieterinnen und Mieter, das zu Transparenz und län-gerfristig zu weiteren Gebäudesanierungen führen wird.

Aber natürlich benötigt die Sanierung unseres kom-pletten Gebäudebestandes Zeit; denn längst nicht alleWohngeldempfänger wohnen in energetisch saniertenHäusern. Vor dem Hintergrund von Preissteigerungen inHöhe von 30 Prozent bei Heizung und Warmwasser imVergleich zu 2002 sollte daher auch eine Weiterentwick-lung des Wohngeldes Gegenstand der parlamentarischenBeratungen sein.

Hierbei sollte es auch darum gehen, mögliche Instru-mente zur Schließung der Gerechtigkeitslücke zwischenden Unterkunftskosten nach § 22 SGB II und demWohngeld zu prüfen. Denn es ist nicht von der Hand zuweisen, dass die jetzige Gesetzeslage wohngeldberech-tigte Haushalte gegenüber Empfängern von ALG II, beidenen eine Vollbruttokostenerstattung der Miete inklu-sive der Nebenkosten erfolgt, benachteiligt.

Wenn also das Wohngeld seiner Intention, einkom-mensschwache Haushalte, die ihren Lebensunterhalt auseigener Hand bestreiten, angesichts der Mietbelastungjedoch an ihre finanziellen Grenzen stoßen, vor einerÜberforderung zu schützen, auch in Zukunft gerechtwerden will, sollten wir nicht nur über eine Anpassungder Miethöchstbeträge an die aktuellen Entwicklungendes Wohnungsmarktes und entsprechende Änderungender Wohngeldleistungstabellen diskutieren.

Angesichts der immens gestiegenen Nebenkostenwäre hier eine Regelung in Betracht zu ziehen, bei der

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auch warme Nebenkosten zu den zuschussfähigenWohnkosten zählen können. Dabei muss es um einenicht nur sozial-, sondern ebenfalls energiepolitischsinnvolle Lösung gehen.

In welchem Rahmen dies konkret erfolgen könnte, istnoch zu eruieren. Möglich wäre etwa die Festschreibungvon Höchstgrenzen nach einem vom Energiebedarf aus-gehenden Berechnungssystem.

Wir brauchen ein starkes, der veränderten Entwick-lung angepasstes Wohngeld, wenn es auch in Zukunftein funktionierendes Element unserer Wohnungspolitiksein soll, das einkommensschwachen Haushalten einangemessenes und familiengerechtes Wohnen ermög-licht. Das gilt umso mehr, wenn wir Menschen aus demALG-Il-Bezug herausholen wollen.

Joachim Günther (Plauen) (FDP): Der heute in ers-ter Lesung zu behandelnde Entwurf eines Gesetzes zurNeuregelung des Wohngeldes war zwischen den Regie-rungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbart und somitkeine größere Überraschung. Allerdings überrascht derInhalt schon; denn die Koalitionsparteien hatten sich indiesem Zusammenhang nicht nur darauf verständigt, dasWohngeldgesetz zu entschlacken und zu vereinfachen,sondern es sollte auch – so hatte ich es jedenfalls ver-standen – durch die materielle Verbesserung des Wohn-geldes auf die in den letzten Jahren erheblich gestiege-nen Wohnkostensteigerungen, insbesondere durch dieextrem gestiegenen Energiekosten, reagiert werden. Ichwill die Kostensteigerungen seit 2001 noch einmal nen-nen, damit klar ist, dass es hier nicht um Bagatellbeträgegeht: Die Kosten für Strom sind um 23,8, für Gas um30,3 und für Öl um 53,3 Prozent gestiegen. Das führt imExtremfall dazu, dass die Betriebskosten die Kaltmieteweit übersteigen und das Wohngeld damit seine Wirkungkomplett verfehlt.

Es ist also einerseits zu loben, dass mit dem EntwurfErleichterungen und Vereinfachungen geschaffen wur-den, zum Beispiel durch den Wegfall der für die Höhedes Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung in vierBaualtersklassen oder durch die Klarstellung wohnungs-rechtlicher Begriffe sowie der Abgrenzung zu Transfer-leistungen für ALG-II-Empfänger. Andererseits wirdaber die tatsächliche Mietkostenentwicklung nicht be-rücksichtigt. Das entspricht nicht dem eigentlichen An-liegen des Wohngeldes. Der Koalitionsvertrag beschreibtdieses Anliegen, indem er besagt, dass das Wohngeld dersozialen Absicherung des Wohnens diene. Ich teile dieseAuffassung, finde im Entwurf aber keine entsprechendeUmsetzung. Die Bundesregierung hat zwar im Wohn-geld- und Mietenbericht 2006 sowie in einer Antwort aufFragen der Fraktionen der FDP, der Grünen und der Lin-ken durchaus richtig erkannt, dass die Belastungen fürGeringverdiener mit einem Wohngeldanspruch insbe-sondere durch die warmen Betriebskosten extrem gestie-gen sind. Sie hat diese Erkenntnisse aber nicht in erfor-derlichem Maße in den hier vorliegenden Entwurfeinfließen lassen. Zum Beispiel macht allein der Wegfallder Baualtersklassen eine Anhebung der Höchstbeträgenicht entbehrlich.

Aus meiner Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass Bezie-her von Arbeitslosengeld II Unterkunftskosten und Heiz-kosten fast vollständig vom Staat ersetzt bekommen,während Bezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zurGrundmiete und zu den kalten Betriebskosten erhalten.Da insbesondere die hohen Energiekosten bei den Be-triebskosten zu Buche schlagen, ergibt sich hier klar eineGerechtigkeitslücke. Über dieses Thema wird in den fol-genden Debatten sicherlich noch zu reden sein.

Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Kommen wir gleichauf den Punkt: Seit dem 1. Januar 2001 ist das Wohngeldnicht mehr erhöht worden. Seit 2001 sind die Mietenohne Nebenkosten um 6,5 Prozent gestiegen. Die Ge-bühren für Wasser, Abwasser und Müll sind in diesemZeitraum um über 10 Prozent, die Kosten für Strom um23,8 Prozent, für Gas um 30,3 Prozent und für Öl um53,3 Prozent gestiegen. Für diese Preissteigerungen gibtes bis heute keinen Ausgleich und keinen Zuschlag zumWohngeld. Die Heizkosten werden überhaupt nicht be-rücksichtigt. Der von der Bundesregierung vorgelegteGesetzentwurf zur Neuregelung des Wohngeldgesetzesist keine Wohngeldreform, die diesen Namen wirklichverdient. Die Grundsatzfrage nach der längst überfälli-gen Erhöhung des staatlichen Zuschusses zum Wohnenwird vollständig ausgeklammert. Die Bundesregierungmuss ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag ernst neh-men und ihren Feststellungen aus dem soeben veröffent-lichten Wohngeld- und Mietenbericht 2006 Taten folgenlassen. Heute müssen knapp 60 Prozent aller Wohngeld-bezieher tatsächlich eine höhere Miete zahlen, als bei derWohngeldberechnung zugrunde gelegt wird. Hier wirdnicht auf die tatsächlich gezahlte Miete abgestellt, son-dern es gelten Höchstbeträge, je nach Wohnungsstan-dard, Baujahr und Wohnort, die im Wohngeldgesetzfestgelegt sind. Der Wegfall der Differenzierung der vierBaualtersklassen bringt für Wohngeldempfänger insbe-sondere in Altbauwohnungen einen spürbaren Vorteil.Dagegen ist der Versuch, wohnungsbezogene Leistun-gen aufeinander abzustimmen, beim besten Willen nichterkennbar. Im Gegensatz zu Haushalten, die Anspruchauf ALG II haben, bleiben bei Wohngeldempfängern dieHeizkosten völlig unberücksichtigt. Auch der jetzt vor-gelegte Gesetzentwurf macht keinen Versuch, diese Ge-rechtigkeitslücke zu schließen.

Seit Einführung der Hartz-Gesetze sank nach Anga-ben des Städtetages die Zahl der Wohngeldbezieher von2,3 Millionen um zwei Drittel auf rund 680 000 Men-schen. Die Zahl der Geringverdiener, die als sogenannte„Aufstocker“ Unterkunftskosten erhalten, stieg dagegenzwischen September 2005 und März 2007 um 20 Pro-zent auf inzwischen 1,15 Millionen. Damit Niedrigein-kommensbezieher/innen nicht zu Bedürftigen nach demSGB II werden, fordern wir eine deutliche Erhöhung desWohngeldes um mindestens 15 Prozent sowie die Anhe-bung der Einkommensgrenzen für Wohngeldbezieher/in-nen. Außerdem müssen Heizkosten und Warmwasserendlich im Wohngeld berücksichtigt werden. Hierzubefindet sich bereits ein Antrag meiner Fraktion im par-lamentarischen Verfahren. Die Fortentwicklung deswohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs ist durchaus zu

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begrüßen, da so auch andere Haushaltsmitglieder als Fa-milienangehörige in den Genuss von Wohngeld kommenund veränderten Lebensformen Rechnung getragenwird. Allerdings führt die vorgeschlagene Formulierungauch nach Einschätzung des Bundesrates zu einerSchlechterstellung von Behinderten, die in einer Wohn-gemeinschaft leben, gegenüber Behinderten als Be-wohner von Alten- und Pflegeheimen. Für Wohn-gemeinschaftsmitglieder und Verwaltung wird hoherzusätzlicher organisatorischer Aufwand durch notwen-dige wiederholte Antragsstellungen wegen Änderungdes Gesamteinkommens bei Tod oder Auszug einesHausgemeinschaftsmitgliedes verursacht. Auch die hier-mit verbundene gesamtschuldnerische Haftung allerHaushaltsmitglieder bei Wohngemeinschaften ist skep-tisch zu sehen.

Zukünftig soll nur eine Person der WohngemeinschaftWohngeld für die Gruppe in Anspruch nehmen können,sofern sich die Gruppe gemeinsam versorgt. Nach § 4des Wohngeldgesetzentwurfs würde sich das Wohngeldallerdings nach dem Gesamteinkommen aller Mitgliederder Wohngemeinschaft richten, und bei der Berechnungdes Wohngeldes wären sämtliche Haushaltsmitglieder zuberücksichtigen. Dadurch wären dann bei einer Erstat-tung von Wohngeld neben der wohngeldberechtigtenPerson auch die anderen Haushaltsmitglieder als Ge-samtschuldner haftbar zu machen. Die Tragweite der er-weiterten Rücküberweisung und Erstattung im Todesfallkann auf die Schnelle nicht abgeschätzt werden. Hier istSorge zu tragen, dass die überlebenden Haushaltsmit-glieder nicht in eine finanziell prekäre Situation geraten.Aus Sicht meiner Fraktion verbleiben zu viele Kritik-punkte und Änderungsbedarfe, als dass dieser Gesetz-entwurf still und leise, bei Nacht und Nebel, durch dasParlament gehen könnte. Daher wird in der Fraktion DieLinke die Ansetzung einer Anhörung zum Wohn-geldrecht prüfen und setzt dabei auf breite parlamentari-sche Unterstützung.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DieBundesregierung setzt mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf unter dem Deckmantel der Verwaltungsvereinfa-chung konsequent ihre Politik gegen moderne Wohn-und Lebensformen fort. Quasi in einer Nacht- und Nebel-aktion erscheint kurzfristig auf Drängen der Koalitionein Gesetz auf der Tagesordnung, das in der KonsequenzMenschen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften undWohngemeinschaften nötigt, eine vergleichsweise teu-rere Einzelwohnung zu beziehen, sofern sie aufgrund ih-rer Einkommenssituation Wohngeld in Anspruch neh-men müssen.

Künftig sollen für die Wohngeldberechnung nichtmehr die zum Haushalt zählenden Familienmitglieder,sondern alle „Haushaltsmitglieder“ herangezogen wer-den. Wohn-und Wirtschaftsgemeinschaften sollen perdefinitionem zu dieser gehören. Zukünftig werden alleWohngemeinschaften von der Alten-WG, der Studenten-WG bis zur Berufstätigen-WG bei neuen Mitbewohnernderen Einkommen prüfen müssen. Bei nicht abschätzba-ren Armutsrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit

werden sie künftig mit in die Haftung genommen. Dieswiderspricht dem Geist dieser modernen Wohnformen,in denen sich nicht familiär gebundene Individuen oft-mals nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit zu einerWohngemeinschaft zusammenschließen. Dass es sichhierbei nicht um eine Randgruppe handelt, beweist eineErhebung des Statistischen Bundesamtes: Hiernach le-ben 10 Prozent aller Alleinstehenden – dies sind rund1,5 Millionen Personen – mit anderen Personen unter ei-nem Dach.

Die Strategie der Zerschlagung von modernen Wohn-formen ist nicht neu. Schon beim Arbeitslosengeld IIhatten SPD und CDU ab 1. August 2006 per „Fortent-wicklungsgesetz“ die Umkehr der Beweislast bei nicht-eheähnlichen Lebensgemeinschaften eingeführt. Seithergilt immer schon dann die Vermutung der Bedarfsge-meinschaft, wenn Partner länger als ein Jahr zusammen-leben. In diesem Falle wird im SGB II das Vorliegeneiner Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ver-mutet. Diese kann allerdings noch widerlegt werden.Nach dem Willen der Bundesregierung soll das beimWohngeld nicht mehr möglich sein. Mit der geplantenReform des Wohngeldes geht die Bundesregierung überdas im SGB II geltende Prinzip der Verantwortungsge-meinschaft hinaus. Hier sollen bei der Berechnung desWohngeldes auch die Personen mit ihrem Einkommenals Haushaltsmitglied berücksichtigt werden, die mit ei-ner wohngeldberechtigten Person in einer „Wohn- undWirtschaftsgemeinschaft“ leben. Hierdurch verfehlt dieBundesregierung nicht nur ihr selbst gesetztes Ziel derHarmonisierung mit den Regelungen im SGB II. Sie er-weitert auch den Kreis der mit ihrem Einkommen zu be-rücksichtigenden Personen um Wohngemeinschaften,bei denen kein wechselseitiger Wille besteht, Verantwor-tung füreinander zu tragen.

Die erwarteten Kosteneinsparungen durch nicht ge-zahltes Wohngeld werden eher kurzfristiger Natur sein.Denn Personen mit keinem oder nur geringem Einkom-men werden faktisch genötigt, in Einzelwohnungen zuziehen, um an Transferzahlungen zu gelangen. Diesdürfte unter dem Strich, in der Regel teurer für Bund,Länder und Kommunen sein. Außerdem wird der Bedarfan Wohnungen für Einzelhaushalte steigen und einenPreisanstieg auf diesem Teilmarkt zur Folge haben, wassich mittelfristig wiederum negativ auf die Kosten fürTransferleistungen auswirkt.

Der Gesetzesentwurf sieht keine Erhöhung des Wohn-geldes vor. Seit der letzten Erhöhung zum 1. Januar 2001sind in vielen Regionen Deutschlands die Mieten undNebenkosten gestiegen. Wenn das Wohngeldgesetz wei-terhin seine Funktion der wirtschaftlichen Sicherung an-gemessenen Wohnens behalten soll, ist eine Anpassungan die gegebene Kostenentwicklung unerlässlich. Zu-dem verpasst die Bundesregierung mit ihrer Initiative dieChance, die aufgetretenen Fehlentwicklungen im Bezugvon Arbeitslosengeld II zu korrigieren. Die Zahl der so-genannten Aufstocker ist seit Einführung des Arbeits-losengeldes II kontinuierlich gestiegen. Heute beziehenrund 1,1 Millionen Erwerbstätige zusätzlich zu ihremErwerbseinkommen Arbeitlosengeld II. Davon erhalten

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aufgrund der Entwicklungen im Niedriglohnsektor rund275 000 Bedarfsgemeinschaften ausschließlich Kostender Unterkunft, die zum Großteil von den Kommunen fi-nanziert werden. Bündnis 90/Die Grünen fordern dieBundesregierung auf, durch eine konsequente Auswei-tung von Mindestlöhnen und eine längst fällige Anpas-sung der Wohngeldhöhe gegenzusteuern, damit dasWohngeld wieder als vorrangiges Sicherungssystem fun-gieren kann.

Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi-nister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: DasWohngeld ist ein bewährtes Instrument unserer sozialenWohnungspolitik. Es unterstützt einkommensschwacheHaushalte dabei, sich am Wohnungsmarkt mit angemes-senem und familiengerechtem Wohnraum zu versorgen.Durch die letzte große Reform im Wohngeld und dasVierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits-markt, wurden Transferleistungsempfänger vom Wohn-geld ausgeschlossen. Deren angemessene Kosten derUnterkunft einschließlich der Heizkosten werden seit2005 bei der jeweiligen Transferleistung berücksichtigt.In der Umsetzung zeigten sich an einigen Schnittstellendes Wohngeldgesetzes mit den Transferleistungsgesetzen

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- uVertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19

ISSN 07

Vollzugsschwierigkeiten, insbesondere mit dem Arbeits-losengeld II. Das Wohngeldrecht soll deshalb weiter ver-einfacht werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf er-füllen wir den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag, dasWohngeldrecht mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfa-chung zu überprüfen.

Lassen Sie mich zwei Beispiele für die Vereinfachungennennen: Die bisherige Unterteilung in vier Baualtersklassensoll abgeschafft werden. Für alle Gebäude sollen statt-dessen künftig einheitliche Höchstbeträge für die be-rücksichtigungsfähige Miete oder Belastung gelten. Da-durch werden Mieter und Vermieter entlastet, weil siedas Jahr der Bezugsfertigkeit und die Ausstattung desGebäudes nicht mehr mitteilen müssen. Die entspre-chenden Informationspflichten fallen also weg. DieseVereinfachung baut aber nicht nur für Bürger und Wohn-geldstellen spürbar Bürokratie ab. Sie hat gleichzeitigauch höhere Wohngeldleistungen für viele Haushalte zurFolge und ist für uns deshalb ein ganz zentrales Elementder Novelle. Viele der Haushalte mit einer Baualtersklassevor 1992 – das waren im Jahr 2005 circa 74 Prozent allerWohngeldhaushalte – werden bessergestellt, weil auchfür sie künftig allein die höchste Baualtersklasse geltensoll.

(D)

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