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Plenarprotokoll 15/69 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 69. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003 Inhalt: Gratulation zum 60. Geburtstag des Abgeord- neten Eckhart Lewering . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 6 a und b, 18 und 20 b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung – 14./15. Legis- laturperiode (Drucksache 15/1303) . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Rahmenbedingungen für Ge- schäftsreisen verbessern (Drucksache 15/1329) . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Rahmenbedingungen, Infrastruktur und Marketing für Wassertourismus in Deutschland verbessern (Drucksache 15/1595) . . . . . . . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Schaffung einer familien- freundlichen, verkehrsentlastenden und wirtschaftsfördernden Fe- rienregelung (Drucksachen 15/934, 15/1286) . . . . . Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA . Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . Undine Kurth (Quedlinburg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . Brunhilde Irber SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . Annette Faße SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Josef Sebastian CDU/CSU . . . . . . . Bettina Hagedorn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Verantwortung für die Sicherung der Welternährung übernehmen – Chancen der grünen Gentechnik nutzen (Drucksache 15/1216) . . . . . . . . . . . . . . . Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan FDP . . . . . . . . . 5887 A 5887 A 5887 D 5888 A 5888 B 5888 B 5888 C 5888 C 5888 D 5891 A 5893 A 5894 D 5896 C 5898 C 5900 B 5901 C 5902 D 5903 B 5905 A 5907 C 5907 C 5908 D 5910 C 5911 C

Deutscher Bundestag - Bundesgerichtshof...Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003 III einer Übergangsregelung zum Kind-schaftsrechtsreformgesetz

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Plenarprotokoll 15/69

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

69. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003

I n h a l t :

Gratulation zum 60. Geburtstag des Abgeord-neten Eckhart Lewering . . . . . . . . . . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung der Tagesordnungspunkte 6 a und b,18 und 20 b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

a) Unterrichtung durch die Bundesregie-rung: Tourismuspolitischer Berichtder Bundesregierung – 14./15. Legis-laturperiode (Drucksache 15/1303) . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten KlausBrähmig, Jürgen Klimke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Rahmenbedingungen für Ge-schäftsreisen verbessern (Drucksache 15/1329) . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten ErnstBurgbacher, Angelika Brunkhorst,weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP: Rahmenbedingungen,Infrastruktur und Marketing fürWassertourismus in Deutschlandverbessern (Drucksache 15/1595) . . . . . . . . . . . . .

d) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Tourismus zu demAntrag der Abgeordneten KlausBrähmig, Ernst Hinsken, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Schaffung einer familien-

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freundlichen, verkehrsentlastendenund wirtschaftsfördernden Fe-rienregelung (Drucksachen 15/934, 15/1286) . . . . .

Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA .

Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Undine Kurth (Quedlinburg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Burgbacher FDP . . . . . . . . . . . . . . . . .

Brunhilde Irber SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Klimke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Annette Faße SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wilhelm Josef Sebastian CDU/CSU . . . . . . .

Bettina Hagedorn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . .

Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Antrag der Abgeordneten Peter H.Carstensen (Nordstrand), Dr. ChristianRuck, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU: Verantwortungfür die Sicherung der Welternährungübernehmen – Chancen der grünenGentechnik nutzen (Drucksache 15/1216) . . . . . . . . . . . . . . .

Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU

Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . .

Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan FDP . . . . . . . . .

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5893 A

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II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003

Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . . . . . . . . .

Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan FDP . . . . . . . . .

Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . . . . . . . . .

Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . . . . .

René Röspel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . .

Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . .

Reinhold Hemker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . .

Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sibylle Pfeiffer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . .

Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

a) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Änderungsteuerlicher Vorschriften (Steuerän-derungsgesetz 2003 – StÄndG 2003) (Drucksachen 15/1621, 15/1798) . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Umsetzung des Be-schlusses (2002/187/JI) des Ratesvom 28. Februar 2002 über die Er-richtung von Eurojust zur Verstär-kung der Bekämpfung der schwerenKriminalität (Eurojust-Gesetz – EJG)(Drucksache 15/1719) . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Interna-tionalen Übereinkommens von 1974zum Schutz des menschlichen Le-bens auf See und zum Internationa-len Code für die Gefahrenabwehrauf Schiffen und in Hafenanlagen(Drucksache 15/1780) . . . . . . . . . . . . .

d) Erste Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Fünfunddreißigsten Strafrechts-änderungsgesetzes zur Umsetzungdes Rahmenbeschlusses des Rates

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der Europäischen Union vom28. Mai 2001 zur Bekämpfung vonBetrug und Fälschung im Zusam-menhang mit unbaren Zahlungsmit-teln (35. StrÄndG) (Drucksache 15/1720) . . . . . . . . . . . . .

e) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Protokoll vom28. November 2002 zur Änderungdes Europol-Übereinkommens unddes Protokolls über die Vorrechteund Immunitäten für Europol, dieMitglieder der Organe, die stellver-tretenden Direktoren und die Be-diensteten von Europol (Drucksache 15/1648) . . . . . . . . . . . . .

f) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Vertrag vom13. April 2000 zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Fran-zösischen Republik über die Fest-legung der Grenze auf denausgebauten Strecken des Rheins(Drucksache 15/1650) . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 2:

a) Antrag der Abgeordneten Marion Seib,Katherina Reiche, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU:Für mehr Wettbewerb und Flexibili-sierung im Hochschulbereich – derBologna-Prozess als Chance für denWissenschaftsstandort Deutschland (Drucksache 15/1787) . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Peter H.Carstensen (Nordstrand), Dr. PeterPaziorek, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU: Multita-lent nachwachsender Rohstoff effi-zient fördern (Drucksache 15/1788) . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten UrsulaHeinen, Julia Klöckner, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Verbraucher aufklären undschützen – Innovation und Vielfaltin der Produktentwicklung undWerbung für Lebensmittel erhalten(Drucksache 15/1789) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Einführung

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003 III

einer Übergangsregelung zum Kind-schaftsrechtsreformgesetz für nichtmiteinander verheiratete Eltern (Drucksachen 15/1552, 15/1807) . . . .

c) Zweite und dritte Beratung des vomBundesrat eingebrachten Entwurfs ei-nes … Gesetzes zur Änderung luft-verkehrsrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 15/1469, 15/1793) . . . .

d) Zweite Beratung und Schlussabstim-mung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Vertrag vom 5. März2002 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Schweizeri-schen Eidgenossenschaft über denVerlauf der Staatsgrenze in denGrenzabschnitten Bargen/Blum-berg, Barzheim/Hilzingen, Dörf-lingen/Büsingen, Hüntwangen/Ho-hentengen und Wasterkingen/Hohentengen(Drucksachen 15/1187, 15/1717) . . . .

e) Beschlussempfehlung des Rechtsaus-schusses: Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestagzugeleiteten Streitsachen vor demBundesverfassungsgericht (Drucksache 15/1614) . . . . . . . . . . . . .

f–j) Beschlussempfehlungen des Petitions-ausschusses: Sammelübersichten 65,66, 67, 68 und 69 zu Petitionen (Drucksachen 15/1701, 15/1702,15/1703, 15/1704, 15/1705) . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 3:

Beschlussempfehlung und Bericht desRechtsausschusses zu dem Antrag der Ab-geordneten Sibylle Laurischk, RainerFunke, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Sorgerecht für nicht-eheliche Kinder vor In-Kraft-Tretender Kindschaftsrechtsreform regeln (Drucksachen 15/757, 15/1807) . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

a) Beschlussempfehlung und Bericht desAuswärtigen Ausschusses zu der Un-terrichtung durch die Bundesregie-rung: Bericht der Bundesregierungzum Stand der Bemühungen umRüstungskontrolle, Abrüstung undNichtverbreitung sowie über die

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Entwicklung der Streitkräftepoten-ziale (Jahresabrüstungsbericht 2002)(Drucksachen 15/1104, 15/1800) . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Uta Zapf,Petra Ernstberger, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Winfried Nachtwei,Marianne Tritz, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Verhin-derung der Proliferation vonMassenvernichtungswaffen durchAbrüstung und kooperative Rüs-tungskontrolle (Drucksache 15/1786) . . . . . . . . . . . . .

Uta Zapf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ruprecht Polenz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . .Kerstin Müller, Staatsministerin AA . . . . . . .Harald Leibrecht FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . .Petra Ernstberger SPD . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . .Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Verbraucherschutz, Er-nährung und Landwirtschaft

– zu der Unterrichtung durch die Bundes-regierung: Waldzustandsbericht 2002– Ergebnisse des forstlichen Umwelt-monitorings –

– zu dem Entschließungsantrag derAbgeordneten Gabriele Hiller-Ohm,Sören Bartol, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Cornelia Behm, VolkerBeck (Köln), weiterer Abgeordneter undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtungdurch die Bundesregierung: Wald-zustandsbericht 2002 – Ergebnisse des forstlichen Um-weltmonitorings –

(Drucksachen 15/270, 15/745, 15/1027) .

Gabriele Hiller-Ohm SPD . . . . . . . . . . . . . . .

Georg Schirmbeck CDU/CSU . . . . . . . . . . .

Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär BMVEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003

Georg Schirmbeck CDU/CSU . . . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan FDP . . . . . . . . .

Cajus Caesar CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . .

Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zurAufhebung des Art. 232 § 2 Abs. 2 desEinführungsgesetzes zum BürgerlichenGesetzbuche (Drucksache 15/1490) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dirk Manzewski SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marco Wanderwitz CDU/CSU . . . . . . . . . . .

Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Günther (Plauen) FDP . . . . . . . . . . .

Wolfgang Spanier SPD . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 9:

Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Ernst Burgbacher, DirkNiebel, weiteren Abgeordneten und derFraktion der FDP eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Ju-gendarbeitsschutzgesetzes (Drucksachen 15/756, 15/1593) . . . . . . . .

Wolfgang Grotthaus SPD . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . .

Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Burgbacher FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Renate Gradistanac SPD . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

Antrag der Abgeordneten WolfgangBosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen(Drucksache 15/1328) . . . . . . . . . . . . . . . .

Günter Baumann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . .

Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Max Stadler FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ralf Göbel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

Antrag der Abgeordneten Dr. MichaelMeister, Heinz Seiffert, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU:Neue EU-Wertpapierdienstleistungs-richtlinie (Drucksache 15/1564) . . . . . . . . . . . . . . . .

Leo Dautzenberg CDU/CSU . . . . . . . . . . . . .

Florian Pronold SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Andreas Pinkwart FDP . . . . . . . . . . . . . .

Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Georg Fahrenschon CDU/CSU . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 15:

Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Hochschulrahmengesetzes(HRG ÄndG) (Drucksache 15/1498) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Frankenberg, Minister (Baden-Württemberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Hartmann (Homburg) FDP . . . . . .

Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Rachel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . .

Ute Berg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenAnja Hajduk und Krista Sager (beide BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmungüber den Entwurf eines Gesetzes zur Ände-rung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 20 c) . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003 5887

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69. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Der Kollege Eckhart Lewering feiert heute seinen60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses sehrherzlich und wünsche alles Gute.

(Beifall)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zu Berichten über Äuße-rungen des Bundesumweltministeriums, die Vernichtungvon Arbeitsplätzen durch das Dosenzwangspfand sei poli-tisch gewollt (siehe 68. Sitzung)

ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib,Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSUFür mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im Hochschul-bereich – der Bologna-Prozess als Chance für den Wissen-schaftsstandort Deutschland– Drucksache 15/1787 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen(Nordstrand), Dr. Peter Paziorek, Bernhard Schulte-Drüggelte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUMultitalent nachwachsender Rohstoff effizient fördern– Drucksache 15/1788 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Heinen, JuliaKlöckner, Uda Carmen Freia Heller, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU

Verbraucher aufklären und schützen – Innovation undVielfalt in der Produktentwicklung und Werbung fürLebensmittel erhalten– Drucksache 15/1789 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts desRechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-ordneten Sibylle Laurischk, Rainer Funke, Ina Lenke, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPSorgerecht für nichteheliche Kinder vor In-Kraft-Tretender Kindschaftsrechtsreform regeln– Drucksachen 15/757, 15/1807 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine LambrechtUte GranoldIrmingard Schewe-GerigkSibylle Laurischk

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPReform der Arbeitsstättenverordnung muss zu einem ech-ten Bürokratieabbau für Unternehmen in Deutschlandführen– Drucksache 15/1699 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.

Des Weiteren ist vereinbart worden, die Tagesord-nungspunkte 6 a und 6 b – Mautvertrag und Güterkraft-verkehrsgewerbe –, 18 – Normenflut begrenzen – und20 b – Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgeset-zes – abzusetzen. Der Tagesordnungspunkt 15 – Ände-rung des Hochschulrahmengesetzes – soll bereits heuteals letzter Tagesordnungspunkt aufgerufen werden.

Sodann möchte ich Sie darüber informieren, dass dieerste Beratung der Rentengesetze morgen gegen 11 Uhraufgerufen wird.

Redetext

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Präsident Wolfgang Thierse

Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisun-gen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:

Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäreHilfe zur Mitberatung überwiesen werden:

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umset-zung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zurSanierung und Liquidation von Versiche-rungsunternehmen und Kreditinstituten

– Drucksache 15/1653 –überwiesen:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitHaushaltsausschuss

Der in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurMitberatung überwiesen werden:

Gesetzentwurf der Bundesregierung über dieZustimmung zur Änderung der Satzung desEuropäischen Systems der Zentralbanken undder Europäischen Zentralbank

– Drucksache 15/1654 –überwiesen:Finanzausschuss (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Tourismuspolitischer Bericht der Bundesre-gierung – 14./15. Legislaturperiode

– Drucksache 15/1303 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrähmig, Jürgen Klimke, Ernst Hinsken, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen ver-bessern

– Drucksache 15/1329 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten ErnstBurgbacher, Angelika Brunkhorst, Hans-MichaelGoldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Rahmenbedingungen, Infrastruktur und Mar-keting für Wassertourismus in Deutschlandverbessern

– Drucksache 15/1595 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)Sportausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Tourismus (19. Aus-schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten KlausBrähmig, Ernst Hinsken, Edeltraut Töpfer, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Schaffung einer familienfreundlichen, ver-kehrsentlastenden und wirtschaftsförderndenFerienregelung

– Drucksachen 15/934, 15/1286 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bettina Hagedorn

Zum tourismuspolitischen Bericht der Bundesregie-rung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derFDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-ter Wolfgang Clement das Wort.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich habe das Vergnügen, Ihnen den tourismus-politischen Bericht der Bundesregierung zu erläuternund damit auch zu den Anträgen, die zur Tourismuspoli-tik in Deutschland gestellt worden sind, Stellung zu neh-men.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass der Tourismuseiner der wichtigsten Motoren unserer Dienstleistungs-wirtschaft und damit ein handfester Wirtschaftsfaktor ist.Ich denke, wir stimmen auch in der Zielsetzung überein,den Tourismus in Deutschland und die Wettbewerbsfä-higkeit unserer Tourismuswirtschaft zu stärken. Geradein der jetzigen wirtschaftlichen Phase ist dies von außer-ordentlicher Bedeutung.

Die Reisetätigkeit – ob Urlaubsreisen oder Reisen zugeschäftlichen Zwecken – steuert etwa 8 Prozent zumBruttoinlandsprodukt in Deutschland bei. Diese Zahlführen sich wenige vor Augen. Vom Tourismus insge-

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Bundesminister Wolfgang Clement

samt hängen direkt und indirekt etwa 2,8 Millionen Ar-beitsplätze ab. Allein in der Hotellerie und in der Gastro-nomie in Deutschland werden etwa 1 Million Menschenbeschäftigt. Die Tourismuswirtschaft hat sich zu einemaußerordentlich wichtigen Ausbildungssektor entwi-ckelt. Etwa 100 000 junge Leute werden in diesem Be-reich ausgebildet.

Wenn man den Tourismus von einem anderen Blick-winkel aus betrachtet, dann stellt man fest, dass Deutsch-land neben den USA interessanterweise die wichtigstetouristische Quellregion der Welt ist. Das hört sich etwasvornehm an. Es bedeutet, dass viele Deutsche außerhalbder Bundesrepublik Deutschland Urlaub machen. Als je-mand, der aus dem Ruhrgebiet kommt und die Sehnsuchtdes Reviermenschen nach Mallorca und nach anderenRegionen kennt, weiß ich, was das bedeutet: Ziemlichviel Kraft und Geld werden ins Ausland getragen.

Unser Land ist aber gleichzeitig ein bedeutendes Zielfür den Tourismus, und zwar in zunehmenden Maße so-wohl für uns Deutsche selbst – das werde ich noch zei-gen – als auch für Gäste aus dem Ausland. Die Bundes-bürger bewegen bei Reisen in Deutschland jährlich etwa100 Milliarden Euro.

Wichtig ist, dass Deutschland als Messestandortweltweit an Platz eins steht, was die nach Deutschlandkommenden ausländischen Gäste anbelangt. Hier neh-men wir eine absolut führende Position im weltweitenVergleich ein.

(Beifall bei der SPD)

Die unternehmerischen Strukturen in der Tourismus-branche sind sehr vielgestaltig. Wir haben einerseits dieBig Players des Tourismus wie TUI – wahrscheinlichweltweit das größte Tourismusunternehmen –, ThomasCook und REWE-Touristik. Wir haben mit der Lufthansaund der Deutschen Bahn auch Unternehmen, die ganzüberwiegend im Tourismussektor tätig sind. Andererseitshaben wir auch sehr ausgeprägte kleine und mittelständi-sche Strukturen in Form von Hotels und Gaststätten, Rei-severanstaltern und Reisebüros, Busunternehmen undReedereien. Sie alle sind für die Tourismuswirtschaft vonaußerordentlicher Bedeutung.

Das heißt zugleich, dass die Tourismuswirtschaft wieandere mittelständisch strukturierte Bereiche unsererWirtschaft von den mittelstandspolitischen Initiativender Bundesregierung profitiert, etwa von unseren Bemü-hungen zur Unterstützung von Existenzgründung oderum Bürokratieabbau. Sie sind für den kleinstrukturiertenReisebürosektor ebenso wichtig wie für Hotels und Res-taurants. Nehmen Sie als ein ganz kleines Beispiel denAbbau von statistischen Verpflichtungen der Unterneh-men.

Über die allgemeine Wirtschaftspolitik hinaus unter-nehmen wir einige Anstrengungen, um den Deutsch-landtourismus gezielt voranzubringen. Reisen in undnach Deutschland kommen nämlich nicht nur der Touris-muswirtschaft unmittelbar zugute, sondern auch anderenBranchen, etwa dem Einzelhandel, der Konsumgüter-industrie, dem Fahrzeugbau oder anderen. Letztlich birgtdas Kommen von Gästen aus dem Ausland immer auch

die Chance der Imagewerbung für den Standort Deutsch-land, das heißt für die Landschaft, die Produkte, dieDienstleistungen, also insgesamt für unser Land.

Was tun wir nun konkret? Die tragende Säule derTourismuspolitik des Bundes ist die Deutsche Zentralefür Tourismus mit Sitz in Frankfurt am Main. DieseDZT wirbt im Auftrag der Bundesregierung im Auslandfür Deutschland als Reise- und Urlaubsziel. Die Bundes-regierung hat die Arbeit der DZT, die aus dem Haushaltdes Wirtschafts- und Arbeitsministeriums finanziertwird, bewusst ausgebaut. Wir haben in diesem Jahr dieZuwendungen an die DZT erneut erhöht, auf jetzt23,5 Millionen Euro.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, dass der Erfolg uns Recht gibt: Die DZTarbeitet vorzüglich und hat sich in den letzten Jahren– das ist, wie ich erfahren habe, allgemein anerkannt –mit professioneller Arbeit hohe Anerkennung bei uns inder Politik ebenso wie in der Wirtschaft erworben. Auchdie Zahlen, die sie mit beeinflusst, sprechen eine deutli-che Sprache: Die Anzahl der Übernachtungen ausländi-scher Gäste hat in den sieben Jahren von 1996 bis 2002um 17,4 Prozent, bis zum Jahr 2000 – da kam der Rück-schlag durch terroristische Anschläge und anderes – so-gar um ein Viertel zugenommen. Deutschland ist alsReiseziel im Aufwind.

Wir unterstützen über die Deutschlandwerbung hinausdie mittelständische Tourismuswirtschaft, um sie nochleistungsfähiger und besser zu machen. Wir tun das mitrecht bescheidenen Haushaltsmitteln. Ich meine, dass wirdamit recht fruchtbare Anstöße geben können. Ich nenneals Beispiele den so genannten barrierefreien Tourismus.Dabei geht es um Reisen von Menschen mit Behinderun-gen, denen wir besondere Aufmerksamkeit schenken.Das wirkt sich sehr positiv auf die touristischen Möglich-keiten von behinderten Menschen aus. Wir haben ebensoim Themenbereich naturnaher Tourismus Akzente ge-setzt und damit den Deutschlandtourismus gestärkt. Im-merhin verbrachten 58 Prozent der Deutschen im vergan-genen Jahr ihren Urlaub in Deutschland. DieserTourismus wurde natürlich besonders auch durch dieTemperaturen begünstigt.

Wir machen mit der Tourismuspolitik natürlich nichtan unseren Grenzen Halt. Eine wichtige Aufgabe sehenwir darin, neue Quellmärkte zu erschließen, also Gästeaus dem Ausland für Reisen nach Deutschland zu gewin-nen. Ein besonders hervorhebenswertes Ereignis ist ge-wiss der Abschluss eines Memorandum of Understand-ing mit der Volksrepublik China Mitte letzten Jahres.Es ermöglicht jetzt zum ersten Mal chinesischen Bürge-rinnen und Bürgern, private Gruppenreisen nachDeutschland zu unternehmen. Wir sind ein ganz kleinwenig stolz darauf, als erstes Mitgliedsland der Europäi-schen Union einen solchen Status im Reiseverkehr mitChina erreicht zu haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

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Bundesminister Wolfgang Clement

Es ist völlig klar, dass China ein besonders interessanterQuellmarkt, wie es so wunderschön heißt, ist und ange-sichts des in der nächsten Zeit wachsenden Potenzialseine besondere Aufmerksamkeit verdient.

Wir bemühen uns in ähnlicher Weise um die immerinteressanter werdenden Märkte in Mittel- und Ost-europa; auch diese Märkte sind nicht zu unterschätzen.Die Länder in dieser Region sind sowohl als Zielländerfür den Tourismus aus Deutschland als auch als Quell-länder, deren Bürger in zunehmender Zahl unser Landbesuchen, interessant. Die Zahlen, was gerade den Tou-rismus aus den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropasangeht, sind sehr ermutigend.

Aber ebenso wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass dieLage nicht immer nur rosig ist. Terroranschläge, derIrakkrieg und die Lungenkrankheit SARS hatten dieTourismuswirtschaft schwer getroffen. Wir haben mitunseren Mitteln und Möglichkeiten versucht, vor allenDingen die Sicherheit im Flugreiseverkehr zu erhöhen.Nachdem wir einige dieser Herausforderungen gemeis-tert haben, scheint es so zu sein, dass die Reiseveranstal-ter und die Fluggesellschaften die Talsohle durchschrit-ten haben.

Beim Gipfeltreffen der Tourismuswirtschaft vor we-nigen Wochen in Berlin hat sich gezeigt – das haben die-jenigen Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament,die sich für die Tourismuswirtschaft besonders interes-sierenm miterlebt –, dass die Zuversicht in die weitereEntwicklung zurückgekehrt ist.

Ich möchte auch noch gerne darauf hinweisen, dasswir uns in Deutschland angewöhnen sollten, bestimmteEreignisse als imagefördernde Werbung für unser Landund damit auch für tourismuspolitische Belange stärkerzu nutzen, als es bisher der Fall war. Ich denke beispiels-weise an ein Ereignis wie die Fußballweltmeisterschaft2006. Die Bedeutung dieses Ereignisses ist uns vielleichtnicht ausreichend bewusst. In anderen Staaten wird derStellenwert eines solches Ereignisses mehr zur Kenntnisgenommen.

Wahrscheinlich ist die Fußballweltmeisterschaft 2006– unsere Nationalmannschaft wird ja daran teilnehmen;wir hoffen, dass sie bis dahin noch einige Fortschritte er-zielt – das wichtigste Ereignis für die BundesrepublikDeutschland innerhalb dieses Jahrzehnts, was das Anse-hen Deutschlands und das Interesse für Deutschland an-geht. Es wird innerhalb dieses Jahrzehnts vermutlichkein Ereignis geben, das weltweit eine solche Aufmerk-samkeit auf Deutschland ziehen wird wie die Fußball-weltmeisterschaft 2006. Angesichts eines solchen Ereig-nisses empfiehlt es sich, alle Register zu ziehen und zuzeigen, was wir in Deutschland leisten können. Wir soll-ten also alles tun, um diese Fußballweltmeisterschaft,deren Austragungsorte in allen Regionen Deutschlandsliegen, zu einer groß angelegten Werbeveranstaltung fürDeutschland zu machen.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dann müssenunsere Frauen spielen! – Beifall bei der SPDund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Herr Kollege Benneter, Ihr Hinweis ehrt Sie ganzbesonders; ich vermute, dass Sie deshalb diesen Zwi-schenruf gemacht haben. Ich gratuliere der Frauen-nationalmannschaft. Ich sprach aber von der Fußball-weltmeisterschaft der Männer, was man mir verzeihenmöge.

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland kannein großartiges touristisches Ereignis für unser Landwerden. Das Beherbergungsgewerbe rechnet mit zusätz-lich 5 Millionen Übernachtungen. Ich denke, dass wirdieses Ereignis nutzen sollten, um noch mehr fürDeutschland zu werben. Die Deutsche Zentrale für Tou-rismus bemüht sich schon darum.

Ich möchte noch drei Anmerkungen zu Anträgen derOppositionsfraktionen zum Tourismus machen. Zum ei-nen fordern Sie eine Stärkung der Förderung von Ge-schäftsreisen in die Bundesrepublik. Die DZT, die schonerwähnte Deutsche Zentrale für Tourismus, ist dabei, inenger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kongress-büro, dem alle renommierten deutschen Tagungs- undKongressstandorte Deutschlands angehören, das Thema„Tagungen, Kongresse und Geschäftsreisen“ sehr inten-siv zu bearbeiten. Die DZT hat die Werbung im Auslandfür 2003 ausdrücklich unter dieses Thema gestellt.

Zum Thema Wassertourismus. Es ist zweifellosrichtig, dass wir in Deutschland bisher nicht genügendvon dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Im Vergleichmit den Niederlanden, mit Großbritannien, den USA undKanada nutzen wir das Potenzial des Wassertourismus inDeutschland bisher nicht ausreichend. In den Städtenund Ländern müssen in diesem Bereich noch erheblicheInvestitionen getätigt werden; das gilt auch für das Land,für das ich bis vor einiger Zeit die politische Verantwor-tung getragen haben. Wir können in diesem Bereich er-heblich mehr Tourismus, auch internationalen Touris-mus, auf uns ziehen. Wir wollen uns jetzt vor allenDingen auf softe Themen wie die Charterscheinregelungund die bundesweite Einführung der „Gelben Welle“konzentrieren.

Mit der neuen Sommerferienregelung, die die Mi-nisterpräsidentenkonferenz für das Jahr 2005 schon aufden Weg gebracht hat, sind einige Kolleginnen und Kol-legen noch ein wenig unzufrieden. Die Ferienspanneliegt jetzt bei 85 Tagen; das ist nicht das Maximum – siekönnte auf 90 Tage ausgedehnt werden –, allerdingsschon deutlich mehr als bei der Ferienregelung, die fürdieses Jahr galt und die nicht besonders günstig war, wiezu Recht allgemein festgestellt wurde. Die Regelung, diewir jetzt vorliegen haben, ist dagegen eine deutliche Ver-besserung. Deshalb schlage ich Ihnen vor, mit dieserNeuregelung erst einmal Erfahrungen zu sammeln, an-statt sie schon jetzt infrage zu stellen.

Zum tourismuspolitischen Bericht habe ich die Bitte,dass wir möglichst gemeinsam daran weiterarbeiten, denTourismus in unserem Land zu stärken. Ich denke, eslohnt sich für unser Land und für alle, die in der Touris-

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Bundesminister Wolfgang Clement

muswirtschaft besondere Interessen haben, wenn wirauch bei diesem Thema an einem Strang ziehen.

Ich danke Ihnen sehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Das war eine historische Rede!)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Hinsken,

CDU/CSU-Fraktion.

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen, ver-ehrter Herr Präsident, der Sie gestern Ihren 60. Geburts-tag feiern konnten, auf das Herzlichste – sicherlich imNamen aller hier Versammelten – zu gratulieren.

(Beifall)

Nun zur Sache. Die Haupturlaubszeit und die Reise-zeit sind vorbei. Heute wird tourismuspolitisch Bilanzgezogen. Verehrter Herr Minister Clement, Sie habenversucht, vieles schönzumalen. So ist es aber nicht. Ichwerde Ihnen den Beweis dafür bringen. Ich bin dankbardafür, dass gerade heute die Möglichkeit besteht, dieseDebatte im Rahmen der Kernzeit durchzuführen; denndadurch wird die Bedeutung der Tourismuswirtschaft fürdie Bundesrepublik Deutschland besonders unter Beweisgestellt.

Machen wir alle uns nichts vor: Der Tourismus ist dieLeitökonomie der Zukunft. Es gab im vergangenenJahr weltweit 715 Millionen Reisende. Die WTO rech-net mit jährlichen Steigerungsraten von 12 Prozent.Weltweit sind 225 Millionen Menschen im Tourismusbeschäftigt. Nach den Rückschlägen durch SARS undandere Umstände – Sie, Herr Minister Clement, habendas angesprochen – ist der Tourismus dabei, sich wiederzu erholen.

Ich möchte es nicht versäumen, auch einige Zahlen zunennen, die speziell für uns in der BundesrepublikDeutschland von besonderer Bedeutung sind. 140,6 Mil-liarden Euro Umsatz im Tourismus entsprechen 8 Pro-zent unseres Bruttoinlandsproduktes. Zählt man den vor-und nachgelagerten Bereich hinzu, kommt man auf circa2,8 Millionen Beschäftigte. Das sind dreimal so viel Be-schäftigte wie im Baugewerbe, viermal so viel Beschäf-tigte wie in der Automobilindustrie bzw. sechsmal soviel Beschäftigte wie in der chemischen Industrie. Zu-dem – das ist mir besonders wichtig, gerade in der heuti-gen Zeit – stellt die Tourismuswirtschaft 107 000 Aus-bildungsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ein bisschen Werbung istin diesem Falle durchaus angebracht: Vom Kochlehrlingzum Hoteldirektor, solche Karrieren sind im Tourismuskein Einzelfall.

(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Mit Meisterbrief!)

Hier gibt es die Möglichkeit dazu. Wir müssen die jun-gen Leute nur motivieren.

Leider ist nicht zu leugnen, dass der Tourismus auchbei uns in einer schweren Krise steckt. Wir haben Grundzur Sorge: 52 Prozent der Deutschen haben in diesemSommer keine Urlaubsreise angetreten. Große Reisever-anstalter schreiben dicke Verluste: Der eine muss fest-stellen, dass sein Verlust doppelt so hoch ist wie imvergangenen Jahr; der andere – ohne jetzt Namen zu nen-nen – verzeichnet einen gar zwölfmal so hohen Verlust.

Wir müssen uns gerade heute die Frage stellen: Washält die Leute vom Reisen ab? Erstens ist es die Kon-sumzurückhaltung, zweitens die Konjunkturflaute, drit-tens die Angst um den Arbeitsplatz und viertens dieArbeitslosigkeit. Für diese vier Posten ist die Bundesre-gierung verantwortlich; das möchte ich besonders unter-streichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Bei der wichtigsten Zielgruppe in Sachen Tourismus,bei der Gastronomie, ist es besonders katastrophal. DerUmsatz im vergangenen Jahr lag bei minus 7,2 Prozent.Verehrter Herr Minister Clement, das Jahr 2002 war dasschlechteste Jahr für die Gastronomie seit 1949. Leiderwahr! Seit 1974 ist die Anzahl der Betriebe von 274 000auf 248 000 geschrumpft. Auch hier also ein Minus von10 Prozent, obwohl die Bevölkerungszahlen nach obendeuten.

Ein probates Mittel, um dem Gastronomiegewerbe zuhelfen, wäre die Harmonisierung der Mehrwertsteuer-sätze. Herr Minister Clement, bereits auf der ITB 1999hat Ihr Vorgänger, Herr Bundesminister Müller, ange-kündigt, dass er sich dafür verwenden werde. Geschehenist nichts. Alles Schall und Rauch! Ein entsprechenderRichtlinienvorschlag, aus Brüssel kommend, liegt bei Ih-nen auf dem Tisch. Aber Bundesfinanzminister Eicheltritt auf die Bremse. Obwohl auch Tourismuspolitikerder SPD und insbesondere unser wichtigster Bündnis-partner in der Europäischen Union, Frankreich, eine sol-che Reduzierung der Mehrwertsteuer in der Gastronomiebefürworten, wird das nicht gemacht.

(Renate Gradistanac [SPD]: Wer soll das be-zahlen?)

Wie ist es zu rechtfertigen, Herr Schmidt, dass dieMehrwertsteuer für Leistungen im Hotelbereich in zwölfLändern der EU niedriger ist als bei uns in der Bundesre-publik Deutschland? In Frankreich liegt sie bei 5,5 Pro-zent und in Österreich bei 10 Prozent. Aber wir sind mit16 Prozent Spitze.

Warum ist in zehn Ländern der Europäischen Unionder Mehrwertsteuersatz für Angebote von Freizeitparksniedriger als bei uns? Warum ist in acht Ländern der Eu-ropäischen Union der Mehrwertsteuersatz für Leistun-gen in der Gastronomie niedriger als bei uns? Wettbe-werbsverzerrungen über Wettbewerbsverzerrungen!

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Ernst Hinsken

Wir alle sind aufgefordert, dem entgegenzusteuernund dafür zu sorgen, dass bestimmte Wirtschaftsbereichebei uns im Vergleich zu denen in anderen Ländern in derEuropäischen Union nicht weiter durch Steuern belastetwerden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Eine ganz besondere Herausforderung steht vor derTür: Die EU wird erweitert. Tschechien, Ungarn und Po-len treten ein. Diese behalten aber ihre niedrigerenMehrwertsteuersätze bei. Deshalb fordere ich nochmals,darüber nachzudenken, ob es nicht gewisse Korrekturengeben sollte.

Auch bei den Kur- und Heilbädern ist ein schärfererWind zu erwarten. Wir sind darüber besorgt, dass bei derLeistungserbringung im In- und Ausland keine einheitli-chen Qualitätsstandards vorhanden sind. Darum solltenwir ganz besonders besorgt sein. Unsere deutschen Kur-orte brauchen vor allen Dingen zusätzliche Einnahmenüber die Gemeindefinanzreform, um Geld für den Aus-bau und den Erhalt ihrer Infrastruktur zur Verfügung zuhaben, damit sie mit den Kurorten in anderen Ländernkonkurrieren können.

(Renate Gradistanac [SPD]: Stimmen Sie zu!)

Der Gesundheitstourismus gewinnt an Bedeutung.Im Jahr 2030 wird die Zahl der über 60-Jährigen vonheute 17 Millionen auf 26 Millionen angestiegen sein.Schon heute gibt es in der Bundesrepublik Deutschland3,3 Millionen Mitbürger, die älter als 80 Jahre sind. Vorallem die frönen dem Gesundheitstourismus. Aber dieRahmenbedingungen müssen stimmen.

Die Senioren gelten übrigens schon heute als Wachs-tumsmotor des Tourismus. 2002 sind mehr als 12 Millio-nen Deutsche über 60 Jahre mindestens einmal im Jahrin den Urlaub gefahren; das waren 67 Prozent. Schätzun-gen gehen davon aus, dass in 20 Jahren 80 Prozent derSenioren in den Urlaub fahren werden. Sie brauchen einauf sie zugeschnittenes Angebot und der Tourismusbe-reich benötigt von uns den politischen Flankenschutz,also Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, für Seni-oren besondere Programme aufzulegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwasausführen, was im Zusammenhang mit dem Tourismusbesonders wichtig ist: Wir brauchen einen funktionieren-den Verkehr. Speziell spreche ich hier das Auto an; denn60 Prozent der Deutschen wählen das Auto, um in Urlaubzu fahren. Verehrter Herr Minister Clement, durch dieÖkosteuer haben Sie das Autofahren nicht gerade billigergemacht. Insofern ist es ein kleiner Luxus, mit dem Autoin den Urlaub zu fahren. Als Beleg dafür nehme ich einenHamburger, Herr Kollege Klimke, der bereit ist, seinenUrlaub im Berchtesgadener Land zu verbringen. 1 000 Ki-lometer hin, 1 000 Kilometer zurück und ein paar Kilome-ter dazwischen ergeben einen Spritverbrauch von etwa200 Litern. Mit der Ökosteuer ziehen Sie dem Bürger200 mal 15 Cent aus der Tasche. Das sind sechs gute Mit-tagessen, die Sie dem Bürger nicht gönnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächer-lich!)

In diesem Zusammenhang erteile ich der von verschie-dener Seite geforderten PKW-Maut eine Absage, weilsie weitere Umsatzeinbrüche beim Gastronomiegewerbemit sich brächte.

Eine Bemerkung zur Bustouristik: Verehrter HerrMinister Clement, Sie haben dieses Thema hier nur ganzknapp abgehandelt, obwohl 6 000 mittelständische Un-ternehmen mit über 65 000 Beschäftigten im Bustouris-tikgewerbe tätig sind. Gerade in der jetzigen Zeit ist eswichtig, ein Bekenntnis zur Bustouristik abzulegen, weilder Bus nach wie vor das sicherste Verkehrsmittel in derBundesrepublik Deutschland ist; er ist 62-mal sichererals das Auto.

An dieser Stelle muss ich auch die Bürokratie anspre-chen. Es passt nicht zusammen, meine Damen und Her-ren, wenn ewig von Bürokratieabbau gesprochen, abernichts getan wird. 5 000 Gesetze und 85 000 Verordnun-gen machen insbesondere der Tourismuswirtschaft zuschaffen. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dassjemand, der in einem Hotel unter Kopfweh leidet, auf-grund des deutschen Arzneimittelrechts von der Hotelre-zeption keine Kopfschmerztablette bekommen kann undan die nächste Apotheke, die ein paar Kilometer entferntwird, verwiesen werden muss. Hier sind wir alle gefor-dert, etwas zu unternehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutschland ist Messeplatz Nummer eins. Zwei Drittelaller internationalen Messen finden hier statt. Zusammensind hier 220 000 Aussteller betroffen, die 17 MillionenBesucher anlocken. Wir müssen für den Messetourismusmehr tun, um unseren Rang, wichtigster Messeplatz derganzen Welt zu sein, behalten zu können. Dies geht nichtvon selbst; vielmehr ist es erforderlich, das Notwendigezu tun.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Gerade die mittelständische Tourismuswirtschaft ist aufgünstige Rahmenbedingungen wie zu verkraftende Steu-ern, Arbeitsmarktflexibilität, zügige Genehmigungsver-fahren, weniger Bürokratie, eine ergänzende Ferienrege-lung usw. angewiesen. Wir dürfen nicht nur über denTourismus reden, sondern müssen auch entsprechendhandeln. Es ist das Gebot der Stunde, dass wir seitensder Politik die vernünftigen Rahmenbedingungen schaf-fen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig! Das können die nicht!)

Ich fordere uns alle, insbesondere aber die Bundesregie-rung, vertreten durch Sie, Herr Minister Clement, auf,das Notwendige zu tun, damit dieser wichtige Wirt-schaftszweig auch in der Bundesrepublik Deutschlandwieder richtig in Schwung kommt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort der Kollegin Undine Kurth,

Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren auf den Besucherrängen! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Im Bericht der Bundesregierung sind eineMenge Zahlen genannt worden; im Entschließungsan-trag der FDP sind sie wiederholt worden und auch HerrHinsken hat sich eben zum Teil auf sie berufen. DieseZahlen belegen, einen welch wichtigen Wirtschaftsfak-tor die Tourismuswirtschaft in unserem Lande darstellt.Sie, Herr Minister, haben dankenswerterweise sehr klarformuliert, dass der Tourismus zu den Schwergewichtenunserer Volkswirtschaft gehört und dass die Bundesre-gierung diesen Wirtschaftszweig sehr ernst nimmt.

Herr Hinsken, ich kann nicht recht verstehen, warumSie diesen Wirtschaftszweig und seine momentanenChancen schlechtreden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich werde Ihnen eine Zeitung überreichen,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Reichen Sie sie mal her!)

der man nicht nachsagen kann, dass sie den Grünen oderRot-Grün besonders freundlich gesonnen ist. Diese Zei-tung schreibt auf der Titelseite: Reisebranche kann hof-fen, Umsatzplus von 5 Prozent möglich.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Von Hoffnungen allein konnte noch niemand leben!)

Ich glaube nicht, dass ein Wirtschaftszweig so etwas ver-künden würde, wenn er diese Hoffnung nicht hätte. In al-ler Regel neigt man doch dazu, eher zu klagen und vieleÄnderungen zu fordern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich kann wirklich nicht verstehen, wie Sie diese Zahlenheranziehen konnten, um eine Branche, die für unserLand wichtig ist, schlechtzureden.

Reisen ist unbestritten eine der schönsten Seiten desLebens und obwohl der Tourismussektor nicht nur ausUrlaubsreisen besteht, sind Fernweh und Urlaubswunschdie wichtigsten Impulse, um diesen zu einem führendenund schnell wachsenden Wirtschaftszweig weltweit zumachen. Gleichzeitig müssen wir aber auch zur Kenntnisnehmen: Der Tourismus ist ein sehr anfälliger Wirt-schaftszweig, der auch Zufällen unterworfen ist. Politi-sche Unruhen, Terroranschläge, spektakuläre Entführun-gen, Krankheiten wie SARS, Naturkatastrophen in denZielregionen, aber auch konjunkturelle Schwankungenin den Herkunftsländern der Touristen können die Nach-frage nach einem Reiseland in kürzester Zeit zusammen-brechen lassen. Die starken Konkurrenzen unter deneinzelnen Reiseländern und ihre zunehmende Aus-tauschbauten machen die Situation zusätzlich schwierig

und lassen den Gast sehr leicht umschwenken. Dies wie-derum kann zu dramatischen Folgen für die Tourismus-regionen führen.

Was heißt das auf unser eigenes Land bezogen? Wasmüssen wir tun, um dem Tourismus in Deutschland aufdie Beine zu helfen? Es wurde bereits gesagt, dass dieNachfrage nach deutschen Reisezielen erfreulicherweisegestiegen ist. Deutsche reisen wieder verstärkt nachDeutschland und das ist gut so. Die Umsatzzahlen inGastronomie und Hotellerie stabilisieren sich; auch dasist gut. Das zeigt: Wir haben die im Rahmen der Bundes-zuständigkeit gegebenen Möglichkeiten in den zurück-liegenden fünf Jahren ernsthaft und gut genutzt und dieVoraussetzungen für einen erfolgreichen Deutschland-tourismus verbessert. Der Bericht der Bundesregierungdokumentiert das.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Aber auch international haben wir deutliche Anstren-gungen unternommen, um die Zukunftsfähigkeit, alsodie Nachhaltigkeit des Tourismus – auch ich möchte dasviel bemühte Wort verwenden – zu sichern. Ich nennebeispielhaft den im Herbst 2002 mit Unterstützung derBundesregierung überarbeiteten Entwurf der Richtliniefür Tourismus und Biodiversität, der jetzt der7. Vertragsstaatenkonferenz mit der Empfehlung zur An-nahme vorliegt. Der Entwurf ist eine Art Leitfaden fürdie Tourismusentwicklung. Er bezieht sich auf alle For-men und Aktivitäten des Tourismus, sowohl auf den tra-ditionellen konservativen Massentourismus als auch aufden Ökotourismus. Darüber hinaus bezieht er sich aufalle geographischen Regionen.

Wir beweisen mit solchen Aktivitäten, dass wir unsder ökologischen Konsequenzen des Tourismus und derdaraus resultierenden Aufgaben sehr wohl bewusst sindund auch handeln wollen. Wir alle wissen: Für den Tou-rismus ist intakte Natur ein überaus wichtiger Faktor.Die von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisenjährlich durchgeführte Reiseanalyse bestätigt, dass derWunsch, Natur zu erleben, zu einem der wichtigstenReisemotive der Deutschen zählt. Fakt ist aber auch,dass der Tourismus in erheblichem Maße zu den vorhan-denen Umweltproblemen beiträgt.

Ich meine damit zum Beispiel seine allgemeinen Aus-wirkungen auf das Klima; sie stellen den direkten Bezugzur Ökosteuer her. Der von Deutschland ausgehendeTourismus verursachte 1999 mehr als 75 Millionen Ton-nen Treibhausgasemissionen. Die chemische Industrie,die allgemein zu den großen Emittenten zählt, hat imgleichen Zeitraum 37,5 Millionen Tonnen, also dieHälfte, emittiert. Ich glaube, das verdeutlicht die Dimen-sion des Problems, vor dem wir stehen.

80 Prozent der Treibhausgase, die aus dem Tourismusresultieren, verursacht der Flugverkehr. Wenn die Prog-nosen der Reiseanalysen zutreffen, wird sich dieses Pro-blem in Zukunft noch verschärfen. Auch aus diesemGrund werden wir Bemühungen, attraktive Urlaubs-angebote in Deutschland zu schaffen, unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

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Undine Kurth (Quedlinburg)

Uns ist aber klar: Auch wer nicht das Flugzeug nutzt,muss nicht unbedingt „sündenfrei“ reisen. Immer nochwerden 70 Prozent der inländischen Urlaubsreisen– diese Zahl liegt mir vor – mit dem Auto angetreten,nicht einmal 20 Prozent der Gäste reisen mit der Bahn.Das kann man nicht als Erfolg verkaufen. Wenn es unsgelingt, attraktive und zuverlässige Serviceangebote zumachen, schaffen wir es vielleicht, mehr Kunden zurBahn zu bringen. Herr Klimke könnte dann eventuell dieBahn nutzen und sich ein Essen mehr leisten. Damitwäre doch allen geholfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU:Das Fahrrad!)

– Das Fahrrad wäre noch eine wunderbare Ergänzung.

Es ist in unser aller Interesse, wenn wir nicht in ersterLinie daran denken, den Urlaub mit dem Auto billiger zumachen, sondern überlegen, ob es andere Möglichkeitengibt, den Urlaubsort bequem, gut und zuverlässig zu er-reichen. Schließlich bleibt das nahezu sprichwörtlicheÖkogewissen der Deutschen auch im Urlaub erhalten.84 Prozent der Deutschen legen Wert auf umweltfreund-liches Verhalten im Urlaub. Deshalb war es richtig, dieDachmarke Viabono für umweltorientierte touristischeAngebote zu entwickeln. Sie bietet Verbraucherinnenund Verbrauchern in Bezug auf natur- und umweltver-trägliche touristische Angebote eine einfache Entschei-dungshilfe.

Ich appelliere von dieser Stelle aus noch einmal analle Hoteliers, Gastronomen, Betreiber von Bauernhö-fen, Campingplätzen, Naturparks und Heilbädern sowiean die Kommunen: Sie alle sollten überlegen, ob siediese Dachmarke nicht der Natur und ihren Gästen zu-liebe sowie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die ostdeutschen Länder können hiervon besonders pro-fitieren. Hier entstanden in den letzten Jahren durch För-derungen und sehr viel Eigeninitiative zahlreiche neue,moderne touristische Angebote, die sich für eine Verbin-dung mit Viabono geradezu anbieten.

Die zur Überweisung anstehenden Anträge will ichangesichts der Kürze der Zeit nicht im Einzelnen behan-deln. Wir haben dazu in den Ausschüssen sicherlich aus-giebig Zeit. Ich möchte nur eines versichern: Wir werdensinnvolle Vorschläge nicht ignorieren, billige Polemikaber freundlich zurückweisen.

Ich möchte noch etwas anderes ansprechen, wofürsich die Vielschichtigkeit der eben erwähnten Anträgegut als Beispiel eignet: Hätten wir jetzt ausreichend Zeit,würden wir über Geschäftsreisen, die Ferienregelungenund über den Wassertourismus debattieren, und das si-cher auch zu Recht. Das sind jeweils Aspekte des Tou-rismus, die erheblich in andere Politikfelder hineinrei-chen und die klar machen: Tourismus ist eineQuerschnittsaufgabe. Querschnitt sollte aber nicht hei-ßen: Jeder macht irgendetwas, alle machen es gleichzei-tig, aber keiner hat den Überblick.

Deshalb glaube ich, noch einmal betonen zu müssen:Im Moment gibt es viele gute tourismuspolitische An-sätze in den einzelnen Ressorts. Sie werden nebeneinan-der entwickelt. Seien wir ehrlich: Wir alle sind schon ei-nigermaßen erstaunt, wenn wir von einem uns bishervöllig unbekannten Modellprojekt eines Ressorts erfah-ren. Ich frage mich und Sie, ob es nicht an der Zeit ist,dieser Zersplitterung der Verantwortung für die Entwick-lung des Tourismus zumindest auf Bundesebene entge-genzuwirken. Mir erscheint es als eine erhebliche Ver-geudung finanzieller und personeller Ressourcen, wennin jedem Bundesressort die Tourismuspolitik neu erfun-den wird.

(Beifall des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU] und des Abg. Ernst Burgbacher [FDP])

– Es freut mich, dass Sie applaudieren, dass wir da einerMeinung sind.

Eine Bündelung der Ressourcen und der Verantwor-tung im eigentlich zuständigen Wirtschaftsministeriumerscheint mir nicht nur sinnvoll, sondern auch erstre-benswert. Ich weiß, dass dazu Umstrukturierungen erfor-derlich sind, und ich weiß, dass das nicht einfach seinwird. Das kann aber nicht dazu führen, dass man eine alsnotwendig erachtete Aufgabe nicht angeht. Ich glaube,dass wir gemeinsam versuchen sollten, auf diesem Ge-biet etwas zu erreichen, um die vielen guten Ansätze, diees bereits gibt, weiterzuführen und um für diesen wirk-lich wichtigen Wirtschaftszweig in unserem Land etwaszu erreichen.

Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Aufmerksam-keit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-

Fraktion, das Wort.

Ernst Burgbacher (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-

gen! Ich glaube, die Ausgangsbasis dessen, worüber wirheute reden, ist tatsächlich ziemlich kompliziert.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: So ist es!)

Der weltweite Tourismus hat eine große Krise, bedingtdurch den 11. September 2001, den Irakkrieg, SARS undandere Dinge, hinter sich. Im Augenblick gibt es An-haltspunkte dafür, dass es uns gelingt, diese Krise einStück weit zu überwinden. Das bezieht sich aber leiderweniger auf die Binnennachfrage. Von daher erfordertdie Situation eine sehr differenzierte Betrachtungsweise.

Es gibt einige Bereiche, die mir wirklich Sorgen be-reiten. Das ist zunächst der Hotel- und Gaststättenbe-reich, der für mich die Basis jeglichen Tourismus inDeutschland ist. Wenn es im Hotel- und Gaststättenbe-reich nicht stimmt, brauchen wir über den Tourismus ei-gentlich nicht zu reden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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Ernst Burgbacher

Wir müssen zusehen – die Entwicklungen in diesemPunkt betrachte ich mit großer Sorge –, dass sich die Er-tragslage bei den Betrieben wieder so entwickelt, dasssie investieren können. Denn sonst werden sie die Quali-tät nicht bieten können, die sie bieten müssen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch bei den Reisebüros ist die Situation schwierig.In dieser Branche gab es, wie wir wissen, eine Krise, dieweiterhin besteht. Niemand weiß im Augenblick, wiesich die Veränderungen bei der Buchung von Pauschal-reisen – ich nenne nur das Internet – und andere Verän-derungen auf die Reisebüros auswirken werden. Auch indieser Branche stehen viele Tausende von Arbeitsplätzenauf dem Spiel.

Es gibt etwas, um das wir, Herr Minister, uns wirklichnoch einmal kümmern müssen, nämlich um die Ferien-regelung. Wir alle miteinander hatten bei der Ferienre-gelung ja schon einen Erfolg erzielt. Aber die Erfahrungin diesem Jahr hat gezeigt, dass das nicht ausreicht. Wirmüssen dieses Thema noch einmal problematisieren undversuchen, die Gesamtzeit etwas auszuweiten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird viel Kriti-sches in dieser Zeit gesagt. Lassen Sie mich deswegenauch einmal ein paar lobende Worte sagen. Ich möchtedie leistungsfähige Abteilung Tourismus im Bundesmi-nisterium für Wirtschaft und Arbeit mit ihren hoch enga-gierten Mitarbeitern loben.

(Beifall bei der FDP, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der CDU/CSU)

Ich bitte Sie, Herr Minister, dieses Lob weiterzugeben.Hier wird hervorragende Arbeit geleistet. Das wissenwir aus unserer Ausschussarbeit.

Ich möchte auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegender anderen Fraktionen im Tourismusausschuss, loben.Vieles haben wir gemeinsam versucht. Manches ist unsnicht ganz gelungen. In manchen Fragen sind wir poli-tisch weit auseinander. In manchen Punkten haben Sieleider in der eigenen Fraktion keine Mehrheit gefun-den. – Schade.

(Beifall bei der FDP)

Einiges aber ist uns gemeinsam gelungen: Ich freuemich nach wie vor, dass wir es vor allem auf intensivenDruck der FDP in der letzten Legislaturperiode geschaffthaben, dass das Haus einstimmig die Trinkgeldbesteue-rung abgeschafft und damit ein deutliches Zeichen ge-setzt hat.

(Beifall bei der FDP)

Ich freue mich, dass wir im Bereich der touristischen Be-schilderung wenigstens einen kleinen Schritt weiterge-kommen sind, auch wenn wir, liebe Kollegin Faße, erheb-lich mehr gewollt haben. Zumindest dieser kleine Schrittist uns aber gelungen. Gemeinsam haben wir Einiges fürdas Schaustellergewerbe in Deutschland getan.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Auf anderen Gebieten allerdings waren wir wenigererfolgreich. Vier Jahre lang haben wir gegen die unsin-nige Rücknahme der 630-Mark-Regelung gekämpft.Jetzt haben wir eine solche Regelung wieder, zwar mitmehr Bürokratie, aber immerhin haben Sie nach fünfJahren gelernt. Es ist ein Befreiungsschlag für die Bran-che, dass es jetzt wenigstens die Minijobs gibt. Wenn Siedas fünf Jahre vorher nicht abgeschafft hätten, wäre dieBranche heute in einer viel besseren Lage.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich sage auch Lob für den Haushalt, was die Deut-sche Zentrale für Tourismus anbetrifft. Ich finde esgut, dass es gelungen ist, die Mittel dafür zu erhöhen. Ichmöchte an dieser Stelle aber auch sagen: Was gestern imTourismusausschuss geschehen ist, kann ich nicht mit-tragen. Bei einem Haushaltstitel wurden 100 000 Eurodraufgelegt, danach wurden 200 000 Euro in manchenBereichen bei drei Organisationen zweckgebunden fürKlientel der Grünen. Diese Klientelpolitik werden wirnicht mitmachen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es gibt Bereiche, bei denen wir leider nicht weiterge-kommen sind: bei den Sperrzeiten insbesondere für dieAußengastronomie und beim Jugendarbeitsschutzgesetz;das wird sich vielleicht heut Mittag noch zeigen.

Es gibt Vieles, was nach wie vor zu tun ist. Einiges istbesonders wichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Dazu zählt die Förderung des barrierefreien Tourismus.Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine GroßeAnfrage dazu gestellt. Daraus müssen wir jetzt etwas ma-chen. Wir haben einen Antrag zum Wassertourismus vor-gelegt. Ich will dem Kollegen Hinsken beim Thema Bus-tourismus ausdrücklich zustimmen: Es kann nicht sein,dass der Bustourismus durch ungerechtfertigte Wettbe-werbsverzerrungen, zum Beispiel durch die Ökosteuer,benachteiligt ist. Das werden wir immer anmahnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Bei allen positiven Zeichen: Tourismuspolitik vonRot-Grün ist nach wie vor ideologisch zu verbrämt. Sieist viel zu mutlos. Die Rahmenbedingungen sind völligfalsch gesetzt. Hierzu gibt es übrigens ein schönes Zitatvon Wilhelm Busch: Froh schlägt das Herz im Reisekit-tel, vorausgesetzt man hat die Mittel.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Genau das ist das Problem.

Ich möchte Ihnen einen Satz aus einem vor zwei Wo-chen erschienenen Prognos-Gutachten zitieren. Dortheißt es:

Die Reiseausgaben der Deutschen stiegen in den90er-Jahren kontinuierlich, stagnierten 2001 und

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Ernst Burgbacher

sanken 2002 und 2003 geringfügig. Damit wurdeder mit 25 Prozent Marktanteil wichtigste europäi-sche Quellmarkt ähnlich stark von exogenen Markt-entwicklungen betroffen wie andere Quellmärkte.Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland wirddabei von „hausgemachten“ wirtschaftlichen Hemm-nissen stärker tangiert als die Entwicklung in denmeisten anderen europäischen Staaten, die bereitswieder auf Wachstum eingeschwenkt sind.

Herr Minister, hier wird deutlich gesagt: Sie tragen dieVerantwortung dafür, dass es uns im Gegensatz zu allunseren Nachbarn nicht gelingt, beim Tourismus wiederaus dem Tief herauszukommen, und dass die Nachfrage-flaute bei uns nach wie vor bestimmend ist. Das müssenSie auf Ihre Kappe nehmen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben es nicht geschafft, Bürokratie abzubauen.Die FDP hat die Aktion „Bürokratie abbauen – Wir ma-chen es einfacher“ gestartet. Wir haben jede Woche ei-nen konkreten Vorschlag für Bürokratieabbau gemacht.Leider haben Sie so gut wie keinem zugestimmt. Wir er-warten, dass Sie endlich nicht nur reden, sondern auchhandeln.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben nicht dereguliert, sondern mehr reguliert.Vor allem bei den Reformen im Arbeitsrecht, die fürdas Gewerbe wichtig sind, sind sie total blind. Wenn wiran das Arbeitsrecht nicht herangehen, werden wir dieProbleme dieser Branche nicht lösen können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss im Bild des Tourismus bleiben: Die Regierungnimmt uns seit 1998 auf eine Abenteuerreise mit. Dabeigab es durchaus einige schöne Strecken; das sei zugege-ben. Insgesamt war es jedoch eine Abenteuerreise. DieReisenden wollen aber etwas anderes. Herr Minister, siewollen das Ziel kennen und wissen, wohin es geht. Dasist das Entscheidende. Die Reisenden wollen auch wis-sen, wie lang eine solche Reise dauern wird.

(Dirk Niebel [FDP]: Bis 2006!)

Sie lassen sich nicht ewig auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertrösten. Es muss ja keine Pauschalreise sein, beider alles vorbestimmt ist. Die Reisenden sind sehr wohlbereit, auch einmal steile Berge zu überqueren und Bau-stellen in Kauf zu nehmen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nur mit derentsprechenden Ausrüstung! – Volker Kauder[CDU/CSU]: Nur, wenn es eine Seilbahngibt!)

Sie wollen dann aber auch wissen, dass sie nach einerabschätzbaren Zeit an dem richtigen Ziel ankommen.Genau das ist Ihr Problem: Weder Zeit noch Ziel sind be-kannt. Deshalb wäre es die beste Maßnahme für denDeutschlandtourismus, wenn wir der Regierung eine

Fahrkarte in die Opposition schenken und wieder dierichtigen Leute an das Steuer lassen würden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Klaus Brähmig [CDU/CSU]:Fahrkarte in die Opposition ohne Rückfahr-schein!)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Fraktion,

das Wort.

Brunhilde Irber (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Dies ist eine Sternstunde für die Tourismuspo-litiker des Deutschen Bundestages, weil wir den touris-muspolitischen Bericht in der Kernzeit debattieren kön-nen. Das freut uns und ist der Bedeutung des Tourismusangemessen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir danken der Bundesregierung für diesen sehr aus-sagekräftigen Bericht,

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was? – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist er nicht!)

in dem erstmals auch der Gender-Gedanke berücksich-tigt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In dem Bericht wird der Tourismus unter anderem auchals Wirtschaftsfaktor behandelt. Minister Clement hatdies soeben sehr ausführlich dargelegt. Deshalb kann ichdarauf verzichten.

Ich möchte hier heute auf die Rolle des Parlamentsund insbesondere auf die der Regierungsfraktionen fürden Tourismus in Deutschland ausführlicher eingehen.

Unser Bestreben war und ist es, den Stellenwert desTourismus für Wachstum und Beschäftigung bei denEntscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft ins Be-wusstsein zu bringen. Deshalb kann es als Erfolg bezeich-net werden, dass es gelungen ist, bei den Fraktionen desDeutschen Bundestages mehr Aufgeschlossenheit fürTourismusthemen zu erzielen, was auch durch gemein-schaftliche Anhörungen mit verschiedenen anderen Aus-schüssen zum Ausdruck kommt. Dafür möchte ich michbei den Kolleginnen und Kollegen bedanken.

(Beifall bei der SPD)

Erfreulich ist auch, dass der Tourismus nun als Fach-bereich beim Deutschen Industrie- und Handelskammer-tag und beim BDI etabliert ist. Wir erhoffen uns hiervonstarke Wachstumsimpulse für den Deutschlandtouris-mus.

Eine Erfolgsstory ist auch das von der Bundesregie-rung initiierte länderübergreifende Inlandsmarketingdurch die Deutsche Zentrale für Tourismus, das nunseit drei Jahren besteht und das sich insbesondere bei der

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Brunhilde Irber

Hochwasserkatastrophe im letzten Jahr als Instrumentfür die betroffenen Regionen positiv ausgewirkt hat. Ichhoffe, dass es diese Zusammenarbeit auch über 2006 hi-naus geben wird.

Ein Blick zurück sei mir dennoch erlaubt. Zur Zeitunserer Regierungsübernahme war die touristische Situ-ation von Stagnation und rückläufigen Zahlen geprägt.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt istdas der Fall!)

– Nein, Herr Vorsitzender, so ist es nicht. Wenn Sie sichdie Zahlen anschauen, dann werden Sie eines Besserenbelehrt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Ihrer Regierungszeit hatten Sie geplant, die Mittelfür die Deutsche Zentrale für Tourismus um 11 Millio-nen DM – damals haben wir noch in D-Mark gerechnet –auf 25 Millionen DM zu kürzen. Dies wäre ein Kahl-schlag gewesen.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das stimmtdoch gar nicht! Die Unwahrheit wird nichtdurch ständiges Wiederholen zur Wahrheit!)

Das haben wir aufgrund der Änderung der Mehrheitsver-hältnisse in diesem Haus stoppen können.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben den Haushaltsansatz für die Deutsche Zen-trale für Tourismus von einstmals 25 Millionen DM, dieSie angepeilt hatten, im Jahre 2004 auf 24,474 MillionenEuro erhöht.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Eine rückwärts ge-wandte Betrachtung! Die hilft uns nicht weiter!)

Damit haben wir das Ergebnis im Vergleich zu Ihnen fastverdoppelt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unter anderem der guten Arbeit der DZT ist es zu ver-danken, dass wir im Jahre 2002 fast 38 Millionen Über-nachtungen von Ausländern in Deutschland hatten. Hierzunur ein Zahlenvergleich: Von 1998 bis zum Jahr 2002 hatsich die Zahl der Übernachtungen in Deutschland trotzSARS, trotz des Irakkriegs, trotz der Ereignisse vom11. September 2001 insgesamt um 24 Millionen erhöht.Dies ist ein Faktum, das Sie nicht wegdiskutieren können.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Innerdeutsch!)

– Das sind die insgesamt getätigten Übernachtungen inDeutschland. Nur das ist eine aussagekräftige Zahl.

(Beifall bei der SPD)

Die Maßnahmen der DZT geben der Branche vielfa-che Wachstumsimpulse. Dadurch werden zielgerichtetPotenziale für den Deutschlandtourismus erschlossen.Ich möchte mich deshalb auch bei Frau Schörcher vonder Deutschen Zentrale für Tourismus und ihren Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern bedanken.

(Beifall bei der SPD)

Im Bund-Länder-Ausschuss „Tourismus“ wurde voreiner Woche eine Studie der DZT mit ersten Zahlen, Da-ten und Fakten zum Inlandstourismus vorgestellt. EinErgebnis dieser Repräsentativbefragung bestätigt: Ur-laub in Deutschland ist in.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es jammern aberalle, dass nichts mehr geht! Sie haben mit denGastronomen schon lange nicht mehr gespro-chen!)

Die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtesbestätigen dies. Nach der Statistiknovelle, die wir ange-regt haben und nach der seit Januar dieses Jahres erst-mals die Zimmerauslastung erfasst wird, ist die Auslas-tung der Zimmer im ersten Halbjahr kontinuierlich von27 Prozent im Januar auf 43 Prozent im Juli gestiegen.Sie strafen sich also Lügen mit Ihren Aussagen, die Siehier getroffen haben.

(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Im Sommer steigen die Zahlen immeran!)

Insgesamt kommt man damit für das erste Halbjahr aufeine Auslastung von 37 Prozent, bei den Hotels auf mehrals 40 Prozent. Das ist mehr, als in Ihrer Regierungszeitzu verzeichnen war.

(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist gar nicht wahr!)

Von Januar bis August wurden 234 Millionen Gäste-übernachtungen gezählt; das entspricht in etwa dem Vor-jahresergebnis. Die Zahl der Gästeübernachtungen imAugust ist im Vergleich zu dem entsprechenden Vorjah-resmonat um 6 Prozent bzw. zum Juli dieses Jahres um8 Prozent höher.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Alles Milch-mädchenrechnungen!)

Der Auslandstourismus hat im August sogar um1 Prozent zugenommen. – Aber ich möchte mich jetztnicht weiter mit Zahlen aufhalten.

Deutschland ist ein sicheres Reiseland. Deshalb ent-scheiden sich viele Gäste, zu uns zu kommen. Die Bun-desregierung hat in der Zeit nach dem 11. September2001 und den vielen anderen Ereignissen mit umfangrei-chen Sicherheitsmaßnahmen dafür gesorgt, dass unserLand ein sicheres Reiseland bleibt.

Deutschland hat von der Ferienwohnung bis zumFünf-Sterne-Hotel gute Unterkünfte, eine gute Küche,köstliche Weine und ein gutes Bier, das sich internatio-nal messen lassen kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deutschland hat ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis.Wir sind zwar bei den Dienstleistungen bestimmt nochkeine Weltmeister, aber wir stärken Qualität durch ver-schiedene Modellprojekte, die der Bund finanziert hat.Damit kommen wir dem Ziel „Der Kunde ist König“ nä-her. Deshalb gilt mein Dank allen Dienstleistern im Tou-rismus.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Deutschland hat hohe Spritpreise! Das haben Sie vergessen!)

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Brunhilde Irber

In der vergangenen Legislaturperiode haben wir dieTrinkgeldbesteuerung abgeschafft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörgvan Essen [FDP]: Auf Initiative der FDP!)

– Dass dies auf Initiative der FDP geschah, ist ein Mär-chen. Aber die FDP hat uns dabei unterstützt.

(Jörg van Essen [FDP]: Viermal mussten wir es einbringen!)

Dadurch haben wir die Beschäftigten im Hotel- undGaststättengewerbe motiviert, höchste Leistungen zu er-bringen. Dies gilt auch für die Betriebsrente, die durchdie Zusammenarbeit der Gewerkschaft Nahrung-Ge-nuss-Gaststätten und des DEHOGA eingeführt wurde.

Auf die Mehrwertsteuer will ich nicht mehr eingehen.Da befinden wir uns in Europa in einem guten Mittel-feld. Diese Sache ist es nicht wert, dass man sich damitnoch einmal auseinander setzt; das alles haben wir schonlängst abgehandelt.

Deutschland hat vielfältige attraktive touristische An-gebote und eine gute Verkehrsinfrastruktur, die durchden Bundesverkehrswegeplan noch einmal verbessertwerden wird. Deshalb kommen viele ausländische Gästezu uns. China wurde schon erwähnt.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Viele fahren zum Tanken in die Nachbarländer!)

Deutschland hat ein interessantes Kulturangebot.Gerade Ostdeutschland hat die Chance, im Tourismusweiter voranzukommen. Leider wird hierzu im Berichtnichts ausgeführt. Wir werden in einer gemeinsamenAnhörung mit dem Kulturausschuss entsprechende Ak-zente setzen.

Deutschland hat – Frau Kollegin Kurth hat es schonangesprochen – viel Natur zu bieten. Familienurlaub inDeutschland wird unser nächstes Thema sein. Ich freuemich, dass wir mit unserem Antrag im Sommer diesesJahres gerade im Bereich des barrierefreien TourismusSchwerpunkte gesetzt haben.

Ich sehe, dass meine Zeit abläuft.

Präsident Wolfgang Thierse: Es ist doch nur Ihre Redezeit.

(Heiterkeit)

Brunhilde Irber (SPD): Ich komme zum Schluss. – In Deutschland wird sich

das Freizeitverhalten verändern. Deshalb erwarten wiruns von der von uns in Auftrag gegebenen Herbststudie„Zukunftstrends im Tourismus“ neue Grundlagen für dieTourismuspolitik und die Branche. Ich denke, dass wirdiese Klientel im Sinne von mehr Wachstum und Be-schäftigung stärken können.

Qualität und Qualitätssteigerung, das ist der rote Fa-den, der sich durch unsere Politik zieht. Nur mit Qualitätwerden wir uns auf dem heiß umkämpften Markt be-

haupten können. Deshalb werden wir nicht nur gewerbe-politischen Forderungen nachkommen, sondern langfris-tige Ziele in der Tourismuspolitik setzen, damit das, wasim Bericht steht, wahr wird, dass der Tourismus einer-seits ein Instrument der Völkerverständigung und ande-rerseits ein Markt der Zukunft ist. Wir wollen erreichen,dass sich dies in Deutschland auszahlt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Klimke, CDU/

CSU-Fraktion.

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Stu-

dieren des Berichtes, aber auch während der einführen-den Worte von Minister Clement bin ich bisweilen anden Katalog eines unseriösen Reiseanbieters erinnertworden, gegen den wir als Bürger und Politiker immerwettern.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bisher lief es eigentlich ganz gut!)

Darin wird ein Zimmer mit Meerblick versprochen, aberdas Meer liegt 20 Minuten zu Fuß entfernt.

Man kann Ihnen nur den Abschluss einer Schadens-ersatzversicherung empfehlen; denn der Bericht formu-liert Ziele, die nicht erreicht werden können. Es handeltsich um Scheinangebote. Ich darf das an vier Beispielenbelegen.

Ein Beispiel haben wir angesprochen – im Berichtwird es nicht erwähnt, Herr Minister –, nämlich die Situ-ation der Geschäftsreisenden. Dieses Reisesegmentwird von der Bundesregierung ignoriert. Dabei geht esum 10 Millionen Geschäftsreisende, von denen jeder22 Reisen im Jahr unternimmt. Das sind 50 MilliardenEuro Umsatz im Jahr. Das ist fast ein Drittel des Ge-samtumsatzes.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hinzu kommt noch Folgendes: Im Gegensatz zu denUrlaubsreisen, bei denen drei Viertel des Geldes im Aus-land ausgegeben werden, bleiben 70 Prozent des Geldes,für Geschäftsreisen im Inland. Somit schaffen und si-chern Geschäftsreisen bundesweit ganzjährig Arbeits-plätze, die direkt oder indirekt von diesen Ausgaben ab-hängig sind. Das muss immer wieder deutlich gemachtwerden.

Aber trotz vollmundiger Versprechen, die wir vorhinnoch einmal gehört haben, nämlich dieses Marktsegmentzu fördern, wird nichts getan. Es heißt in dem Bericht:„Darüber hinaus profitiert die Tourismuswirtschaft vonden allgemeinen wirtschaftspolitischen Initiativen derBundesregierung, …“

(Lachen des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

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Jürgen Klimke

Das ist schlicht und einfach eine Drohung für den Tou-rismus.

(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brähmig[CDU/CSU]: Wo er Recht hat, hat er Recht,der Kollege Klimke!)

Schauen Sie sich unseren Antrag an, was die Ge-schäftsreisen betrifft! Richten Sie die Auslandswerbungüber die DZT stärker auf Geschäftsreisen aus! WerDeutschland beruflich besucht, der kommt auch spätersicherlich mit seiner Familie hierher. Hier besteht alsoZuwachspotenzial.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Reduzieren Sie die Bürokratie – das ist ein wichtigesThema, das wir hier immer wieder angesprochenhaben – durch eine Vereinfachung der steuerlichen Be-handlung von Bewirtungs-, Hotel- und Mietwagenbele-gen! Das alles ist im Moment fürchterlich bürokratisch.Ich weiß das. Ermöglichen Sie bessere Ausbildungs-möglichkeiten für Spezialisten im Bereich der Ge-schäftsreisen und professionalisieren Sie dieses Arbeits-platzpotenzial! Denn auch hier ist der Tourismus eineJobmaschine. Weitere Anregungen, Herr Minister, kön-nen Sie unserem Antrag entnehmen.

Mein zweiter Punkt betrifft das Defizit beim Haupt-stadtmarketing. Im gesamten Bericht findet sich keinWort dazu.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist aber traurig!)

Ich fordere: Berlin muss als deutsche Hauptstadt touris-tisch endlich in der ersten Liga spielen,

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das muss das touristische Flaggschiff sein!)

genauso wie Rom, London, Paris oder auch New York,obwohl Letzteres nicht Hauptstadt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung aber sagt: Das sollen andere ma-chen, zum Beispiel die Berlin Tourismus MarketingGmbH, bei der wir gestern gewesen sind und die ihreArbeit im Übrigen hervorragend macht. Aber Berlin istfast pleite und hat kein Geld. Zu sagen: „Andere sollendie Arbeit machen“ reicht nicht. Was Berlin fehlt, ist einNetzwerk von Land, Bund und Tourismuswirtschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dass eine solche Symbiose funktioniert, zeigt dasBeispiel Hamburg. Ich will mich hier nicht dem Ver-dacht aussetzen, meine hanseatische Eitelkeit zu befrie-digen, aber der Erfolg spricht für sich. Dieses Jahr wirdin Hamburg die Zahl der Besucher auf 5 Millionen stei-gen. Hamburg hat als einzige Region in Deutschland mit6 Prozent einen starken Zuwachs, während die Zahlenfür Gesamtdeutschland um 4 Prozent zurückgegangensind. Das muss doch Gründe haben. Es wird auf dieMusicals verwiesen, aber das Entscheidende ist das sogenannte One-Stop-Shopping, das heißt: Alles aus einerHand. So wird die Hamburger Tourismuszentrale vonden wichtigsten Interessenvertretern der Stadt mitgestal-

tet. Die Wirtschaftsbehörde ist eng mit der Tourismus-zentrale verbunden, aber bevormundet sie nicht. Waswichtig ist: Wo Hamburg draufsteht, ist auch Hamburgdrin. Hamburg wird als Marke verkauft. Genauso brau-chen wir ein Label „Hauptstadt Berlin“

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und eine Schnittstelle zwischen dem Land und demBund, mit der dieses Hauptstadtmarketing unterstütztwerden kann. Das heißt nicht, dass wir unendlich vielGeld dort hineinstecken wollen. Nein, wir müssen ein-fach kreativer sein und die Potenziale nutzen. Wir habendie DZT, die das intensiver machen könnte, wir habendeutsche Botschaften im Ausland, wir haben Auslands-handelskammern, wir haben die Goethe-Institute und diepolitischen Stiftungen.

(Brunhilde Irber [SPD]: Ja, das gibt es alles! Das ist nichts Neues!)

Hier stärker zu kooperieren und Berlin stärker als Haupt-stadt zu vermarkten ist eine ganz wichtige Sache,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

gerade jetzt, wo die EU-Osterweiterung Berlin großeChancen bietet, sich stärker als das Zentrum in Mittel-europa zu profilieren.

Das dritte Beispiel ist die Ostseekooperation. Auchhier verliert sich die Bundesregierung in Ankündigun-gen. Es gebe keine einheitliche Linie, kein einheitlichesImage, beklagte sie. Wird sie jedoch aktiv? – Nein.

(Brunhilde Irber [SPD]: Doch!)

Um in der Ostseepolitik Profil zu zeigen, muss auchin dieser Frage eine Zusammenarbeit der Anrainerstaa-ten notwendig werden. Es gilt auch hier, die Ostsee alsMarke zu verkaufen. In Brüssel gibt es den so genanntenClub Méditerranée. In ihm sind all diejenigen vertreten,die ein Interesse am Mittelmeer und an dessen Vermark-tung haben. Deutschland liegt aber nicht am Mittelmeer,sondern an der Ostsee.

(Zurufe von der SPD: Auch an der Nordsee!)

– An der Nordsee, aber auch an der Ostsee. Ich rede jetztüber die Ostsee.

Schaffen wir doch einen Club Mare Balticum, zumBeispiel unter Einbindung der Russen! Damit hätten wirein geeignetes Instrument, um europäischen Belangenmehr Aufmerksamkeit zu sichern.

(Brunhilde Irber [SPD]: Das zeigt doch, dassihr sonst nichts zum Kritisieren gefundenhabt!)

Tourismus darf, wie wir wissen, nicht nur auf Europabeschränkt sein. Auch die Entwicklungsländer sind einlohnendes Ziel. In diesem Zusammenhang müssen aberauch Themen wie Ausbeutung, soziokulturelle und öko-logische Beeinträchtigung, mangelnde Sicherheit fürTouristen und – das ist besonders tragisch – die sexuelleAusbeutung von Kindern berücksichtigt werden. An die-ser Stelle ist der Bericht der Bundesregierung sehr aus-führlich.

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Jürgen Klimke

Wir unterstützen wirkungsvolle Maßnahmen zumSchutz von Kindern. Bei dieser Form der Ausbeutunghandelt es sich nicht um Kavaliersdelikte. Es sind viel-mehr Straftatbestände, die auch in der Bundesrepublikkonsequent verfolgt werden müssen.

Ansonsten gilt: Internationaler Tourismus kann nurfunktionieren, wenn er nachhaltig und langfristig ist,wenn die lokalen Wirtschaftssysteme integriert werdenund die Bevölkerung vor Ort in die Planung und Reali-sierung von Projekten einbezogen wird.

Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Klimke, Sie müssen zum Ende kommen.

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich darf

das Bild des Reisekatalogs, das ich zu Beginn meinerRede erwähnt habe, noch einmal aufgreifen. Der Berichtenthält viele Scheinangebote, ein paar Ankündigungen,Lockangebote und vielleicht einige Ausrufungszeichen.Aber der Tourismus als Jobmaschine ist viel zu wenigberücksichtigt worden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion,

das Wort.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Die kommt von der Nordsee!)

Annette Faße (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Polemik und Schlechtreden helfen der Branchenicht.

(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Vernünftige Politik machen! Eine gutePolitik machen! Dann läuft es!)

Was Sie heute Morgen betreiben, wird keinen Boom undAufwuchs bringen. Die Menschen werden vielmehr sa-gen: Mein Gott, warum soll ich eigentlich in Deutsch-land Urlaub machen?

Die Bundesregierung hat einen hervorragenden Be-richt vorgelegt, in dem hervorragende Zukunftsperspek-tiven dargestellt werden. Ich möchte allen Menschen, dieuns heute zuhören, Mut machen: Urlaub in Deutschlandlohnt sich!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:Daran haben wir nicht gezweifelt!)

Ich möchte zu einem speziellen Bereich des Touris-mus Stellung nehmen, und zwar zum Wassertourismus.Wassersport und Tourismus auf unseren Wasserstraßenhaben seit 1990 stark an Bedeutung gewonnen. Aufdiese Entwicklung hat die Bundesregierung umgehend

reagiert und in ihren tourismuspolitischen Berichten demWassertourismus einen eigenen Punkt gewidmet.

Es gibt in Deutschland ein Wasserwandernetz voncirca 10 000 Kilometern Länge. Damit verfügen wirüber eines der attraktivsten Wassersportgebiete inner-halb Europas.

(Beifall der Abg. Brunhilde Irber [SPD])

Neben den Bundeswasserstraßen gibt es die Landesge-wässer und viele Fließgewässer, die nur von Kanus undRuderbooten befahrbar sind. Schätzungen zufolge gibtes in Deutschland über 6,3 Millionen Wassersportler.Etwa 17 Millionen Bundesbürger verbringen ihre Frei-zeit oder ihren Urlaub in, an oder auf dem Wasser.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und unter Was-ser!)

– Ja, auch unter Wasser. Manchmal würde ich auch Sieganz gern einmal unter Wasser sehen, Herr Hinsken.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Als Tiefsee-taucher!)

Die Wassersportwirtschaft nimmt mit einem Umsatzvon 1,7 Milliarden Euro eine gute Position ein. Die Zah-len sprechen für sich. Wir haben erkannt, dass sich die-ser Wirtschaftszweig zu entwickeln lohnt und dass indiesem Bereich neue Arbeitsplätze geschaffen werdenkönnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die rot-grüne Bundesregierung wird dieses touristi-sche Marktsegment weiter fördern. Für Bau, Betrieb undUnterhaltung der Wasserstraßen wenden wir jährlichüber 1 Milliarde Euro auf. In der Erschließung histori-scher und romantischer Kanäle liegen weitere Möglich-keiten. Ein gutes Beispiel dafür ist der Finowkanal nord-östlich von Berlin, der gemeinsam mit dem LandBrandenburg für den Wassersport erschlossen wird.

Die zunehmende Nutzung unserer Wasserstraßen er-fordert allerdings auch angemessene Regelungen. OhneRegeln geht es nicht; zu viele allderdings behindern diewirtschaftliche Entwicklung. An dieser Stelle möchteich als Beispiel dafür, dass wir bereits Regelungen ver-ändert bzw. gestrichen haben, den so genannten Charter-schein nennen, den die Bundesregierung im Jahr 2000– zunächst als Feldversuch – eingeführt hat. Der Bun-desverkehrsminister hat im April dieses Jahres denersten Ergebnisbericht vorgelegt. Aus diesem ist eineVerordnung hervorgegangen, die gestern im Verkehrs-ausschuss beschlossen wurde. Es steht fest, dass sich derCharterschein bewährt hat.

(Beifall bei der SPD)

Somit ist die Befristung aufgehoben und die Ausdeh-nung auf geeignete, weitere Wasserstraßen im Osten un-seres Landes vorgenommen worden. Auch an den bishe-rigen Regelungen betreffend die Personenzahl und dieLänge eines Bootes haben wir Korrekturen vorgenom-men. Dies ist ein Zeichen gerade für den Osten unseresLandes, wo es sehr viele Wasserstraßen gibt.

(Beifall bei der SPD)

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Annette Faße

Die Erfordernisse der Sicherheit werden dabei weiter be-achtet. Wir haben die entsprechenden Regelungen erwei-tert: Im Bereich der Schleusen und des Begegnungsver-kehrs gelten neue Kriterien.

Wie vielfältig die Urlaubsform „Wassertourismus“ist, verdeutlicht die Grundlagenuntersuchung zum Was-sertourismus, die das Wirtschafts- und Arbeitsministe-rium in Auftrag gegeben hat und deren Ergebnisse jetztvorliegen. Neben dem Wassertourismus im engerenSinne, zu dem Wasserwandern, Kanutourismus, Segeln,Motorbootfahren, Surfen, Wasserski, Tauchen sowie An-geln und Fischen gehören, gibt es den Wassertourismusim weiteren Sinne, der alle Aktivitäten am Wasser wiebeispielsweise Strand- und Campingtourismus sowieRuderbootverleihe umfasst. Maritime Großveranstaltun-gen, Werftbesichtigungen und Schifffahrtsmuseen wer-den in der Untersuchung als „mit dem Wassertourismusverbundene Segmente“ bezeichnet. Gerade die Großver-anstaltungen, wie wir sie von der Küste her kennen, ha-ben Magnetwirkung. Der ganze Bereich der Fahrgast-schifffahrt, von der Kreuzfahrtschifffahrt über dieFlussschifffahrt bis hin zu der Fährschifffahrt, ist einsehr wichtiges Segment für Nord- und Ostsee, Herr Kol-lege Klimke. Schon im Jahr 1998 gab es tourismuspoliti-sche Kontakte betreffend den Ostseeraum. 1999 gab esdie ersten Modellprojekte. Sie sollten fairerweise zuge-ben, dass auch das im tourismuspolitischen Bericht ent-halten ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – ErnstHinsken [CDU/CSU]: Sie haben noch etwasvergessen, Frau Kollegin Faße! Auch die Bun-desregierung schwimmt den Bach herunter!)

Lassen Sie mich die Forderungen zum Wassertouris-mus nennen, die sich aus dem Bericht ergeben. Landes-weite Entwicklungskonzepte gibt es leider nicht in allen,sondern nur in einigen Bundesländern. Wir haben unsauch mit Regelwerken auseinander zu setzen, die kei-nem ausländischen Gast verständlich zu machen sind. Soist es einem ausländischen Gast kaum zu vermitteln,dass sein Angelschein nur für die Gewässer eines Bun-deslandes gilt und dass er einen Gesetzesverstoß begeht,wenn er die Grenze zu einem anderen Bundesland über-schreitet und dort angelt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nach der öffentlichen Anhörung werden wir an diesemWochenende in Cuxhaven eine Veranstaltung mit aus-ländischen Gästen durchführen; denn bei diesem Themakönnen wir von England, Irland, den Niederlanden undFrankreich lernen.

Ich möchte gerne noch ein paar abschließende Sätzesagen. Verkehrspolitik und Tourismuspolitik – HerrHinsken hat in seiner Art schon darauf hingewiesen –haben sehr viel miteinander zu tun.

Erstens. Wir sollten ganz deutlich darstellen, dass dieSicherheit der Busse auch nach den Unglücken, mit de-nen wir leider leben müssen, weiterhin große Prioritäthat. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Bun-desländern gehandelt. Dort, wo es notwendig ist, werdenwir die entsprechenden Regelungen ändern. Die Sicher-

heit unserer Gäste in den Bussen zu gewährleisten bleibtweiterhin ein vorrangiges Ziel.

Zweitens. Es gibt zum ersten Mal einen nationalenRadwegeplan. Für seine konsequente Umsetzung habenwir im Haushalt des Bundesverkehrsministeriums je-weils 2 Millionen Euro über drei Jahre eingestellt. Wirhaben auch eine personelle Verstärkung gefordert. HerrHinsken, Verkehr und Tourismus bedeuten nicht aus-schließlich Auto und Tourismus. Es gibt auch viele an-dere Verkehrsmittel.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es gibt auch den Kinderwagen, Frau Kollegin!)

Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Gästesowie unsere Bürgerinnen und Bürger das Verkehrsmit-tel nutzen können, das sie gerne nutzen möchten.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Wilhelm Josef

Sebastian, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Der Bericht der Bundesregierung und die heutige De-batte zeigen uns die wirtschaftliche Bedeutung des Tou-rismus in unserem Land. Aber es ist auch zu konstatie-ren, dass sich Dinge verändert haben, nicht nur durchden 11. September 2001, sondern auch durch die wirt-schaftliche Lage in unserem Land. Aber es heißt ja soschön: Jede Krise bietet auch eine Chance. – Viele Men-schen in unserem Land haben nun entdeckt, wie schönDeutschland wieder ist oder auch immer gewesen ist.Urlaub im eigenen Land hat große Vorzüge.

Als ich die Ausführungen von Frau Irber eben gehörthabe, fiel mir ein Lied ein, das vor Jahren ein großerSchlager war – ich singe es Ihnen einmal vor –:

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir singen mit!)

„Wann wirds mal wieder richtig Sommer?“

(Brunhilde Irber [SPD]: Es war ein schöner Sommer!)

Eine Zeile hieß: „Denn schuld daran ist nur die SPD!“

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Als ich Ihnen eben gelauscht habe, habe ich gedacht,Sie hätten sagen wollen, der schöne Sommer dieses Jah-res sei allein der SPD zu verdanken.

(Annette Faße [SPD]: Natürlich! So ist das! –Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Bitte noch einLied!)

Nein, so ist das wirklich nicht.

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Wilhelm Josef Sebastian

Der großartige Sommer, den wir gemeinsam erlebthaben, hat vielen Menschen einfach Anlass gegeben, zuHause zu bleiben oder Urlaub im eigenen Land zu ma-chen. Nordsee, Ostsee, Bayerischer Wald, Eifel, Erzge-birge, unzählige Urlaubsziele in unserem Land habenbesonderen Reiz. Die Bedürfnisse der Menschen sindnatürlich anders geworden. Viele Junge fahren immernoch in den Süden, wollen da sein, wo etwas los ist.Aber Ältere – dazu zähle ich mich auch schon –

(Widerspruch bei der CDU/CSU – KlausBrähmig [CDU/CSU]: Wann ist manälter?)

haben mehr das Bedürfnis, geruhsame Tage zu erleben,gut zu essen, guten Wein zu trinken. Das ist in unseremLand ganz hervorragend möglich.

Wir reden seit einigen Wochen über die Strukturver-änderungen im Gesundheitswesen. Dabei spielt Touris-mus für mich auch eine Rolle;

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

denn in unserem Land gibt es hervorragende Heilbäderund Kurorte, die die Menschen dazu einladen, etwas fürihre Gesundheit zu tun. Wir wissen, dass wir zukünftigselbst sehr viel mehr Vorsorge für unsere Gesundheittreffen müssen und auch mit höheren Eigenanteilenrechnen müssen.

Das verändert natürlich auch die Landschaft der Kur-orte und Heilbäder. Die Heilbäder allein sind in derKürze der Zeit nicht in der Lage, die sich veränderndenAnforderungen zu erfüllen. Hinzu kommt – ErnstHinsken hat es angesprochen –, dass es durch die EU-Erweiterung einen stärkeren Wettbewerb gibt. Es mussdafür Sorge getragen werden, dass er unter gleichen Be-dingungen stattfindet,

(Beifall bei der CDU/CSU)

dass es nicht zu Verschiebungen kommt,

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Vor allem fürSachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vor-pommern!)

dass nicht in anderen Ländern, in denen andere Stan-dards gelten, Leistungen mit unseren Mitteln gleich ho-noriert werden.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!)

Ein wichtiger Bestandteil des Tourismus – darauf hateben schon die Kollegin Faße hingewiesen – ist derWassertourismus in Deutschland. Ich will kurz daraufeingehen, weil wir bereits im Mai einen Antrag zumWassertourismus in Deutschland eingebracht haben.Heute steht der Antrag der Kollegen der FDP auf der Ta-gesordnung. Das Thema ist zeitgemäß. Nicht umsonststeht das Motto „Faszination Wasser“ im kommendenJahr im Zentrum der Aktivitäten der Tourismusver-bände. Es ist unser Anliegen, auf die Bedeutung diesesäußerst breit gefächerten touristischen Segments auf-merksam zu machen, um den Wassertourismus inDeutschland zu einem noch höheren Stellenwert zu ver-helfen.

Wenn man bedenkt, dass es in Europa 40 000 Kilome-ter Wasserwege gibt, davon allein 10 000 Kilometer inDeutschland, dann erkennt man: Das ist eine großeChance. Aber es muss zu mehr Gemeinsamkeiten kom-men. Vor nicht allzu langer Zeit hat die zuständigeBund-Länder-Kommission eine einheitliche Beschilde-rung gefordert. Minister Clement hat heute Morgen ge-sagt, dass man auf dem Weg ist, die so genannte GelbeWelle einzuführen. Hier ist gesagt worden, dass für eineeinheitliche Beschilderung in der Bundesrepublik340 000 Euro notwendig sind. Das ist, gemessen an denGesamtausgaben, ein minimaler Betrag. Jeder in denTourismus investierte Euro bringt das Doppelte undDreifache an Wirtschaftswachstum mit sich. Es ist im-mer ein gut angelegter Euro – bei aller Knappheit, diewir haben.

Wassersport lässt sich vielfältig beschreiben. Eben istgesagt worden, mit welchen Dingen er zu tun hat. Esgeht aber nicht nur um die, die den Wassersport ausüben,sondern auch um die, die sozusagen begleitend tätigsind. Die Gastronomie und viele andere, beginnend vomBootsbauer bis hin zum Reiseveranstalter, partizipierendaran.

Ich kann ebenso erfreut feststellen, dass sich derDeutsche Industrie- und Handelstag dieser Dinge ange-nommen hat. Er fordert eine moderne Infrastruktur amWasser, kreative Wassersportangebote und vor allenDingen ein professionelles Marketing. Diese Dinge müs-sen wir gemeinsam verbessern; denn – man schaue aufunsere Nachbarn! – die Konkurrenz ist groß.

Ich komme zum Schluss. Wir sollten nicht nur reden,sondern auch handeln. Gerade die Regierung hat in derVergangenheit oftmals zu wenig gehandelt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-ruf von der CDU/CSU: Für den Josef noch einLied!)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kollegin Bettina Hagedorn, SPD-Frak-

tion, das Wort.

Bettina Hagedorn (SPD): Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Ich beschäftige mich hier mit dem An-trag der CDU/CSU zur Ferienregelung. Diese Regelung– sie ist von der Kultusministerkonferenz schon 1999 be-schlossen worden – hat uns in diesem Jahr in den Ur-laubsregionen in Deutschland erstmals zu schaffen ge-macht. Im Antrag der CDU/CSU wird ein Problembeschrieben. Ich unterstreiche gerne: Die CDU/CSUwird hier, in diesem Haus, breite Unterstützung finden.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist gut!)

Das ist auch kein Wunder, Herr Hinsken, weil die in die-sem Antrag enthaltene Problembeschreibung weitestge-hend abgeschrieben worden ist. Die SPD-Fraktion imBundestag hat anlässlich der ITB, die in diesem Jahr im

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Bettina Hagedorn

März in Berlin stattgefunden hat, das Thema Ferienrege-lung auf die Tagesordnung gesetzt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie hat dieses Problem im Verbund mit den Tourismus-verbänden in Deutschland lange vor Ihnen behandelt.Außerdem hat sie ihre engen Kontakte zu den Ländern– es war ein Kultusministerbeschluss; also waren dieLänder diejenigen, die erfolgreich handeln konnten – ge-nutzt, um etwas voranzubringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – ErnstHinsken [CDU/CSU]: Wir wollen das auch!Da pflichten wir Ihnen bei!)

– Sehr geehrter Herr Hinsken, wenn Sie „Wir wollen dasauch!“ sagen, dann darf ich Sie daran erinnern, dass ichschon am 4. Juni, als wir dieses Thema im Ausschuss fürTourismus behandelt haben, an Sie appelliert habe, sichin den verbleibenden drei Wochen bei den Ministerpräsi-denten der Länder des Südens – das Problem liegt beiBayern und Baden-Württemberg – dafür einzusetzen,dass sie sich gegen die Kultusminister durchsetzen undden Beschluss der Wirtschaftsministerkonferenz vom14./15. Mai dieses Jahres umsetzen.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das haben wiralles gemacht! Wir machen eine neue Anhö-rung! Da brauchen wir Ihre Unterstützung!)

Das haben Sie offenbar entweder versäumt oder Sie wa-ren bei den Ministerpräsidenten, denen Sie politischnahe stehen, nicht erfolgreich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – KlausBrähmig [CDU/CSU]: Ich kann Ihnen dieBriefe alle zeigen! Wir waren sehr aktiv!)

Am 26. Juni hat die Ministerpräsidentenkonferenzletzten Endes einen Beschluss gefasst, der eindeutig indie richtige Richtung geht, auch wenn er keine Maximal-lösung ist. Die Forderung der Wirtschaftsministerkonfe-renz ist mit der des Antrags der CDU/CSU-Fraktion ab-solut identisch. Leider ist es so, dass Sie sich aufgrundder mangelnden Unterstützung der CDU- oder CSU-regierten Länder nicht durchsetzen konnten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Hinsken?

Bettina Hagedorn (SPD): Ja.

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin Hagedorn, sind Sie bereit, zur

Kenntnis zu nehmen, dass sich insbesondere der bayeri-sche Ministerpräsident Edmund Stoiber nachhaltig füreine neue Ferienregelung verwandt hat? Sind Sie zudembereit, uns bei einem neuen Anlauf, die Ferienregelungauf mindestens 90 Tage auszuweiten, zu unterstützen?

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: HerrHinsken als Jubelperser! – Weiterer Zuruf vonder SPD: Frau Hohlmeier hat es abgelehnt!)

Bettina Hagedorn (SPD): Herr Hinsken, die Federführung in der Wirtschafts-

ministerkonferenz – ihr lag ein Antrag vor, der mit dem,den Ihre Fraktion hier vorgelegt hat, identisch ist – hatteder schleswig-holsteinische Minister für Wirtschaft, Ar-beit und Verkehr, Bernd Rohwer. Die Wirtschaftsminis-terkonferenz ist dieser Vorlage auch gefolgt, die Minis-terpräsidentenkonferenz leider eben nicht. Ich habe hierdas Ergebnisprotokoll der Besprechung der Regierungs-chefs der Länder am 26. Juni 2003 in Berlin. Ich möchteSie darauf aufmerksam machen, dass es dort heißt:

Die Regierungschefs der Länder nehmen den modi-fizierten Vorschlag der Kultusministerkonferenzvom 12. Juni 2003 zur Regelung der Sommerferien-termine zustimmend zur Kenntnis.

Protokollerklärung der Länder Schleswig-Holsteinund Mecklenburg-Vorpommern:

– ich muss an dieser Stelle nicht erwähnen, von wemdiese Länder regiert werden –

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Doch! Erwähnen Sie das ruhig noch einbisschen! So lange ist das nicht mehr!)

Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommernunterstützen die von der Wirtschaftsministerkonfe-renz mit Beschluss vom 14./15.05.2003 vorgeschla-gene Neuregelung der Sommerferientermine.

Sie sehen, hierfür gibt es eine breite Koalition.

(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehen Sie, da war Stoiber dabei! Siehaben mich jetzt bestätigt! Dafür danke ichIhnen! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die ba-den-württembergische SPD ist die fußkrankeSPD! – Gegenrufe von der SPD)

– Es wäre schön, wenn ich jetzt weitersprechen dürfte.

Präsident Wolfgang Thierse: Sie dürfen.

Bettina Hagedorn (SPD): Ungeachtet der Tatsache, dass Frau Irber schon zu

Recht darauf hingewiesen hat, dass es ausgesprochenpositive Anzeichen für eine Verbesserung der Situationbei den Übernachtungszahlen gibt – das Sommerhoch„Michaela“ hat sicherlich ein Stück weit dazu beigetra-gen –, muss, um die ganze Wahrheit darzustellen, selbst-verständlich auch gesagt werden, dass die Sommer-ferienregelung, die 1999 beschlossen worden ist,negative Auswirkungen gehabt hat, die wir dieses Jahrzum ersten Mal gespürt haben. Die Zahlen von 2003 hät-ten nämlich noch besser sein können. Das soll nicht un-erwähnt bleiben.

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Bettina Hagedorn

Auf der Basis der Zahlen von Schleswig-Holstein– die bundesweiten Zahlen liegen mir noch nicht vor –kann ich feststellen, dass es in den Monaten von Januarbis Juli ein deutliches Minus von 5 bis 8 Prozent anÜbernachtungen in Pensionen, Ferienwohnungen undJugendherbergen gegeben hat. Man könnte auch andereEinrichtungen betrachten; ich habe aber diese Unterbrin-gungsmöglichkeiten zum Beleg herangezogen, weil sieunter anderem für Familien besonders interessant sind.Das Minus bei den Übernachtungszahlen in diesem Zeit-raum hängt natürlich mit der Ferienregelung zusammen,weil sich ja erst Ende Juli 41 Millionen Einwohner Ba-den-Württembergs, Bayerns und Nordrhein-Westfalensfast gleichzeitig auf den Weg in die Ferien begebenkonnten. Das hat zu dramatischen Engpässen in unserenFerienregionen, auch in Schleswig-Holstein und Meck-lenburg-Vorpommern, geführt und stellte natürlich auchein Ärgernis für die betroffenen Urlauberinnen und Ur-lauber dar. Ich würde mich freuen, wenn die Länder-chefs, die in den südlichen Ländern Verantwortung tra-gen, einen Beitrag zu einer weiteren Optimierung derSommerferienregelung leisten würden.

(Beifall der Abg. Brunhilde Irber [SPD])

Tatsache ist aber auch, dass das Supersommerwetter imAugust die Gesamtstatistik noch einmal deutlich verbes-sern wird. Bei den Übernachtungsformen, die ich geradeangesprochen habe, verzeichnen wir in Schleswig-Hol-stein für diesen Zeitraum teilweise ein Plus von bis zu18 Prozent.

Zu Ihrem Antrag ist schließlich noch zu sagen: DasUrheberrecht, die Probleme richtig erkannt zu haben, dieSie in Ihrem Antrag darstellen, können Sie nicht für sichbeanspruchen

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist nicht dasEntscheidende! Entscheidend ist, was heraus-kommt!)

und die Lösungsvorschläge, die Sie dazu machen, sindvöllig kontraproduktiv. Wir können unter anderem des-halb Ihrem Antrag nicht zustimmen, weil darin gefordertwird, dass sich der Bund in eine Sache einmischt, für diedie Zuständigkeit allein bei den Ländern liegt. MeineDamen und Herren von der CDU/CSU, wir haben ge-rade vor einer Woche gemeinsam eine Kommission insLeben gerufen, die die Zuständigkeiten zwischen Bundund Ländern parteiübergreifend und im Dialog zwischenBund und Ländern neu definieren soll. Da können wir jagemeinsam über diese Dinge diskutieren. Aber sich jetztvon Bundesseite, wie Sie es wünschen, in eine Länder-angelegenheit einzumischen, ist sicherlich nicht der rich-tige Weg. Ein solches Vorgehen würde von den Ländernmit Sicherheit auch nicht begrüßt werden.

Darüber hinaus regen Sie an, dass Vertreter der Tou-rismuswirtschaft in Zukunft bei Beschlüssen der Kultus-minister ein Wörtchen mitreden sollen. Damit würdenwir ein völlig systemfremdes Element einführen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da haben Sie Recht!)

Das ist auch nicht nötig, weil die Ministerpräsidenten-konferenz auf Vorschlag von Frau Simonis bereits am27. März dieses Jahres beschlossen hat, dass die Kultus-ministerkonferenz nur im Einvernehmen mit der Wirt-schaftsministerkonferenz eine neue Beschlusslage her-beiführen soll.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist gut so!)

– Das ist richtig; das ist gut so. Dabei handelte es sichaber um eine Initiative von Frau Simonis und nicht umeine, die von Ihrer Seite ausgegangen ist.

(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund – ich muss zum Schlusskommen – möchte ich noch eines sagen: Sie werden mitSicherheit, wenn es um eine weitere Optimierung geht,die SPD-Fraktion, die Tourismusverbände und insbeson-dere auch die Länder Schleswig-Holstein und Mecklen-burg-Vorpommern an Ihrer Seite haben.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das würde unsüberraschen! Die Frau Irber hat etwas anderesgesagt!)

– Es wäre schön, wenn Sie mich ausreden lassen wür-den. – Der Kompromiss, den jetzt die Ministerpräsiden-ten erreicht haben, wird ja für eine deutliche Verbesse-rung der Terminierung der Ferienzeiten sorgen. Dasbedeutet bei 1,05 Millionen Übernachtungen und einemDurchschnittspreis von 69 Euro pro Ferientag ein Plusfür die Tourismuswirtschaft von 385 Millionen Euro,das ab 2005, wenn die neue Ferienregelung greift, zu er-zielen sein wird.

Es wäre allerdings viel besser gewesen, wenn sich dieWirtschaftsminister der Länder Schleswig-Holstein undMecklenburg-Vorpommern durchgesetzt hätten. Dannwäre es nämlich zu einer Ferienregelung gekommen, diein den nächsten Jahren bis 2010 im Durchschnitt für sie-ben weitere Ferientage gesorgt hätte. Das hätte zu einemweiteren Plus von 420 Millionen Euro pro Jahr aufseitender Tourismuswirtschaft geführt.

Sie sehen: Wir werden mitarbeiten, die von HerrnBurgbacher hier genannten hausgemachten Hemmnisse,die es in Deutschland gibt, zu beseitigen.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Schön wär’s!)

Der von Ihnen so gerne erzeugte Eindruck, dass für dieseHemmnisse immer die SPD-geführte Bundesregierungzuständig ist,

(Ernst Burgbacher [FDP]: So ist es leider!)

ist von mir an dieser Stelle widerlegt worden. Wie so häu-fig gilt: Der Knüppel liegt bei den Ländern des Südens.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Der Knüppel liegt beim Bund!)

Es wäre schön, wenn Sie Ihren Einfluss geltend machenwürden, an dieser Stelle für Bewegung zu sorgen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kollegen Klaus Brähmig, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Klaus, auf geht’s!)

Klaus Brähmig (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/

CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den tourismuspoliti-schen Bericht der Bundesregierung und dankt ausdrück-lich den Mitarbeitern des Tourismusreferats im Supermi-nisterium für Wirtschaft und Arbeit.

Dieser Bericht ist eine wichtige Grundlage für die Dis-kussion über die richtigen Strategien, die notwendig sind,Deutschland als Tourismusstandort zu stärken. Bisherwird unser Land in der Öffentlichkeit meist nur als Indus-triestandort wahrgenommen. Diese einseitige Sichtweiseist aber angesichts der beeindruckenden Umsatz- und Be-schäftigungszahlen im Tourismusbereich nicht gerechtfer-tigt.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!)

Die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben da-rauf schon hingewiesen. So steht Deutschland im inter-nationalen Reiseverkehr bei den Gästeankünften im-merhin auf Platz 10. Wie wir diese Position halten undsogar verbessern können ist Inhalt der heutigen Debatte.

Grundsätzlich mangelt es dem vorgelegten Berichtaber an Strategien für die Zukunft; er ist fast ausschließ-lich rückwärts gewandt. Der Teil, der die Ziele und dieInstrumente der Tourismuspolitik der Bundesregierungdarstellen soll, ist mit nicht einmal einer halben Seitenun wirklich sehr knapp, wenig wegweisend und nichtsehr konkret.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Zusätzlich werden ernsthafte Probleme der Touris-musbranche wie etwa die Wettbewerbsverzerrung durchunterschiedliche Mehrwertsteuersätze im Gastgewerbeinnerhalb der EU, die Ökosteuer oder die Probleme beider Nutzung von Urheberrechten totgeschwiegen. DieCDU/CSU-Fraktion schlägt deshalb grundsätzlich diejährliche Vorlage des Tourismusberichts vor, der ne-ben einer reinen Marktbeschreibung auch Zukunftsper-spektiven und Handlungsempfehlungen aufzeigen sollte.Ich nenne zum Beispiel die Probleme bezüglich der De-mographie, Entwicklung der Kaufkraft, Reiseverhalten,neue Trends und anderes mehr.

In Verbindung mit fundiertem und umfassendem Zah-lenmaterial – ich nenne zum Beispiel das OSGV-Touris-musbarometer – könnte der Bericht als grundlegendePlanungshilfe für die gesamte Branche dienen. Die Bun-desregierung widmet sich auch anderen Bereichen mitjährlichen Berichten. So gibt es den Waldzustandsbe-richt, den Migrationsbericht, den Agrarbericht und einenStrahlenbelastungsbericht. Warum soll es nicht einenjährlichen Tourismusbericht geben? Leider wird demTourismus vonseiten der Bundesregierung nicht die Be-

deutung beigemessen, die ihm eigentlich zukommenmüsste.

Sehr geehrter Herr Minister Clement, Sie haben in Ih-rer Rede das Ruhrgebiet erwähnt. Ich bin der festenÜberzeugung: Gerade Rhein und Ruhr sind touristischnoch sehr unterentwickelt. Dort gibt es riesige Poten-ziale. Wie in den letzten 20 Jahren der Strukturwandelgerade im Bereich von Tourismus und Dienstleistungvollzogen wurde, ist schon sehr respektabel.

Im Rahmen der engen deutsch-französischen Zusam-menarbeit ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass es in Frank-reich wie in vielen anderen Ländern einen Staatssekretärfür Tourismus gibt. Da der Tourismus in Deutschlandetwa denselben Anteil am Bruttoinlandsprodukt wie inFrankreich hat, bleiben wir bei unserer Forderung, dasses auch in Ihrem Hause einen Staatssekretär gebensollte, der sich hauptsächlich dem Tourismus widmet.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Aber nicht namens Schlauch!)

Mit der Koordination tourismuspolitischer Fragestellun-gen in den Bundesressorts und der Verbesserung derKommunikation mit den zuständigen Ressorts in denBundesländern dürfte ein Staatssekretär ausreichendausgelastet sein.

In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden,dass auch das Fachreferat Tourismus im Bundeswirt-schaftsministerium logistisch und personell zu schlechtaufgestellt ist. Durch die Zusammenlegung der RessortsWirtschaft und Arbeit ist die Bedeutung dieses Referatsnoch weiter geschrumpft. Aus diesem Grund fordert dieCDU/CSU eine deutliche Stärkung der Stellung des Tou-rismusreferats innerhalb dieses Bundesministeriums.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine der volkswirtschaftlich wichtigsten Branchen mussauch von einem schlagkräftigen Team betreut werden.

Herr Clement, Sie empfinden zwar durchaus Sympa-thie für den Tourismus, doch weder Sie noch Ihr Vorgän-ger haben sich mehr als einmal im Jahr im zuständigenAusschuss blicken lassen. Diese Aussage sollten Sieauch als Einladung auffassen.

Wie wichtig es für die Tourismusbranche wäre, dassbeim Bund eine zentrale Anlaufstelle zur Koordinierungder Tourismuspolitik installiert würde, zeigt sich amBeispiel der Sommerferienregelung. Ich habe gesternden Vorschlag gemacht, eine weitere Anhörung der be-troffenen Branche zu diesem Thema durchzuführen undgemeinsam mit den Ländern nach weiteren Lösungen zusuchen. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen dazu ein.

Das Statistische Bundesamt meldet für den Juli 2003 ge-genüber dem Vorjahresmonat – da gab es noch keinen Ein-fluss des Hochwassers; dieser kam erst im August – einendeutlichen Rückgang bei den Übernachtungszahlen, undzwar um insgesamt 4 Prozent auf – in Euro ausgedrückt –40 Millionen Euro. Diese Entwicklung beruht ausschließ-lich auf der sinkenden Zahl von Übernachtungen inlän-discher Gäste. Zu Recht hat der Deutsche Hotel- undGaststättenverband darauf hingewiesen, dass das unter

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anderem die katastrophalen Folgen der neuen Ferienre-gelung sind. Wegen der Verkürzung des Sommerferien-zeitraums auf 75 Tage durch die Kultusministerkonfe-renz konnten in der ersten Hälfte des Monats Juliwesentlich weniger Bundesbürger in Urlaub fahren.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja, so ist es!)

Ein Teil der Betten hat daher leer gestanden. Im Augustgab es dank des Jahrhundertsommers einen großen An-sturm auf deutsche Reiseziele: Die Zimmer hätten dop-pelt oder dreifach vergeben werden können.

Mit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vomJuni 2003 zu einer Neufeststellung der Ferienregelungvon 2005 bis 2010 sind die Probleme aus Sicht derCDU/CSU und der Tourismuswirtschaft noch immernicht befriedigend gelöst. Zu dem von der CDU/CSUgeforderten Gesamtferienzeitraum von 90 Tagen gibt eskeine Alternative.

(Beifall bei der CDU/CSU – Brunhilde Irber [SPD]: Wer hat denn das verhindert?)

Die Bundesregierung muss koordinierend tätig werden,wenn auch – das ist uns klar – in vielen Fragen die Zu-ständigkeit bei den Bundesländern liegt.

In der Tourismuspolitik beobachten wir seit einigenJahren ein Phänomen, das wir auch aus anderen Politik-bereichen kennen: Hinweise auf sich abzeichnende Pro-bleme und Meldungen über eine negative Entwicklungquittiert die rot-grüne Bundesregierung mit der Argu-mentation, die Opposition rede unser Land schlecht undbetreibe Panikmache.

(Brunhilde Irber [SPD]: So ist es ja auch! – PeterDreßen [SPD]: So seid Ihr! – Ernst Hinsken[CDU/CSU]: Das ist wirklich unerhört!)

Tatsache ist aber, dass Hotels, Gaststätten, Reisebürosund Reiseveranstalter gegenwärtig unter der allgemeinenKonsumzurückhaltung, der weit verbreiteten Angstum die Arbeitsplätze sowie steigenden Steuern und Ab-gaben leiden.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wenn die Leutekein Geld mehr haben, können sie nicht mehrin Urlaub fahren!)

Die kurzatmigen Reformversuche der Bundesregierung,die ohne übergreifendes Konzept eine Notfalllösungnach der anderen produziert, verunsichern die Bevölke-rung zusätzlich. Die Folgen: Es wird weniger gereist undviel weniger ausgegeben.

(Brunhilde Irber [SPD]: Das stimmt nicht!)

Die nur leicht rückgängigen Übernachtungszahlenzeigen aber noch lange nicht den dramatischen Ernst derLage.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Umsatzeinbrüche führen zu Entlassungen, Be-triebsauflösungen in der Tourismuswirtschaft, im Ein-zelhandel und auch im Handwerk sowie im Dienstleis-tungssektor.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!)

Im Moment steht pro Tag 1 Million Betten leer, wie derDEHOGA neulich anmerkte. Es geht aber nicht nur da-rum, dass die Betten belegt werden, sondern wichtig istauch, von wem und zu welchem Preis sie belegt werden.Das gilt nicht nur für das Hotel oder die Pension, son-dern für die gesamten Dienstleistungs- und Einzelhan-delsunternehmen in einer Stadt oder Region. So sindetwa ausländische Gäste, Geschäftsreisende oder Messe-und Kongressbesucher besonders ausgabefreudig undhaben mehr Kaufkraft als andere.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)Meine Damen und Herren, um diese Potenziale wirk-

sam auszuschöpfen, gibt es die Deutsche Zentrale fürTourismus, die – mit Unterstützung des Bundes – imAusland für Reisen nach Deutschland wirbt. Ich möchtean dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, sehr ge-ehrte Frau Kollegin Irber, dass falsche Sachverhalte auchdann nicht richtig werden, wenn man sie ständig wieder-holt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Hinsken[CDU/CSU]: Bei der Rede von Frau Irber hatvieles nicht gestimmt!)

Während wichtige Konkurrenzländer ihre öffentli-chen Ausgaben für touristische Vermarktung massiv er-höhen, bleibt der Mittelansatz im Bundeshaushalt 2004für die DZT mit einer Erhöhung um 1 Million Euro auf24,5 Millionen Euro vergleichsweise sehr gering.

(Brunhilde Irber [SPD]: Ihr habt gestrichen und nicht erhöht!)

Spanien zum Beispiel investiert in die nationale Touris-muswerbung fast viermal so viel öffentliche Mittel wieDeutschland, Großbritannien fast dreimal so viel undselbst das kleine Österreich fast doppelt so viel. BeimVergleich der Pro-Kopf-Ausgaben für die öffentlicheFörderung des Auslandsmarketings bildet Deutschlandinnerhalb der Europäischen Union sogar mit Abstanddas Schlusslicht.

Den Glauben an die Macht des Marketings hat dierot-grüne Bundesregierung schon, aber nur dann, wennes um die eigenen Interessen geht.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn!)Für ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit will sich die Bundes-regierung für 2004 einen satten Zuwachs, von 78 Millio-nen Euro auf 88 Millionen Euro, genehmigen – Selbstbe-dienung vom Feinsten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ernst Burgbacher [FDP]: Unerhört!)

In diesem Zusammenhang lehne ich auch einen Sub-ventionsabbau nach Rasenmähermethode, wie im Koch/Steinbrück-Papier vorgeschlagen, ab.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aha!)Bei den DZT-Mitteln handelt es sich nicht um einekünstliche Maßnahme zur Lebensverlängerung einesnicht wettbewerbsfähigen Industriezweiges, sondern umInvestitionen in eine Zukunftsbranche, die vor allemdem Mittelstand in Deutschland zugute kommen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl!)

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Neben den positiven wirtschaftlichen Effekten ist eineintensivere Werbung für den TourismusstandortDeutschland grundsätzlich auch eine verbesserte Image-werbung, die Deutschland insgesamt als Wirtschafts-,Wissenschafts-, Kultur- und Verkehrsstandort sichertund stärkt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Mehr Werbung für den Tourismusstandort Deutschlandist auch deswegen wichtig, weil der Tourismus eine be-sonders arbeitsplatzintensive Branche mit Beschäfti-gungspotenzialen auch für gering qualifizierte Arbeit-nehmer ist. Der große Vorteil ist: Diese Arbeitsplätzesind nicht exportierbar. Produziert werden müssen dieseDienstleistung und der Service an Ort und Stelle, alsohier in Deutschland.

Sehr geehrter Herr Minister Clement, wenn Sie dieJobmaschine Tourismus wieder flottmachen wollen,müssen Sie als Wirtschaftsminister endlich das Steuerherumreißen. Wir brauchen eine Aufbruchstimmungsowie klare Signale für mehr Wachstum und Beschäf-tigung statt eines kleinkarierten Stopfens von Haushalts-löchern ohne übergreifendes Konzept. Die Tourismus-branche wird zu den ersten Gewinnern in unserem Landgehören, wenn die Verunsicherung der Verbraucher unddie Angst um den Arbeitsplatz von hoffnungsvollerenZukunftsaussichten abgelöst werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Peter Dreßen [SPD]: Jetzt übertrei-ben Sie aber mal nicht!)

Meine Damen und Herren, es gibt keine rechte oderlinke Tourismuspolitik, sondern nur eine gute oderschlechte Politik. Es gibt in unserem Land viel zu tun.Lassen Sie uns dies gemeinsam anpacken!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/1303, 15/1329 und 15/1595 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion derFDP auf Drucksache 15/1799 soll an dieselben Aus-schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 15/1303 über-wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 3 d, Beschlussempfehlung desAusschusses für Tourismus, Drucksache 15/1286, zudem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel„Schaffung einer familienfreundlichen, verkehrsentlas-tenden und wirtschaftsfördernden Ferienregelung“. DerAusschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/934abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD unddes Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen derCDU/CSU und der FDP angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H.Carstensen (Nordstrand), Dr. Christian Ruck,Christa Reichard (Dresden), weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU

Verantwortung für die Sicherung der Welt-ernährung übernehmen – Chancen der grünenGentechnik nutzen

– Drucksache 15/1216 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenPeter Carstensen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Herr Präsident! Erst einmal auch von mir nachträglich

herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich habe Ih-nen kein Geschenk mitgebracht. Aber ich bin gestern ex-tra zum Friseur gegangen, weil ich Ihnen ordentlich ge-genübertreten wollte.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Planungs-sicherheit ist in der Politik ein hoher Wert. Die Bundes-regierung ist von Planungssicherheit weit entfernt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Halbwertszeit einiger Beschlüsse – ob das in der So-zial-, in der Renten-, aber auch in der Agrarpolitik ist –wird immer geringer. Nur in einem Bereich kann mansich darauf verlassen, dass die Feindbilder gleich blei-ben: in der Agrarpolitik.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Eines der größten Feindbilder der Regierungskoali-tion ist die grüne Gentechnik. Wer eine Zukunftstech-nologie, wie es die Biotechnologie ist, derart ideologischund mit Vorurteilen behandelt, wie es die Bundesregie-rung tut, macht sich doppelt schuldig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zum einen werden Investitionen zurückgehalten undzum anderen werden Forschungs- und Entwicklungsar-beiten nicht mehr von deutschen Wissenschaftlern undStudenten an den heimischen Universitäten durchge-führt. Diese wandern vielmehr ins Ausland ab.

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Peter H. Carstensen (Nordstrand)

Die Bundesregierung wird damit nicht nur ihrer natio-nalen Verantwortung nicht gerecht, sondern verhält sich,auch global betrachtet, verantwortungslos.

Die Gentechnik ist eine der Schlüsseltechnologiender Zukunft und wird helfen, die Welternährung im21. Jahrhundert zu sichern. Dies ist im Übrigen nichtnur meine private Einschätzung, sondern auch die Auf-fassung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisa-tion der Vereinten Nationen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Fatal und makaber an der momentanen Politik sindzwei Dinge: Zum Ersten werden die Auswirkungen nichtheute, sondern erst übermorgen sichtbar, wenn uns dieEntwicklung der Weltbevölkerung dazu zwingen wird,die Erträge pro Hektar auf ein Vielfaches des heutigenNiveaus zu steigern. Zum Zweiten werden die Leidtra-genden einer falschen Weichenstellung von heute nichtdie Länder der Weichensteller wie die satte Bundesrepu-blik sein, sondern die Länder Afrikas und Südostasiens.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, ich habe mich gefragt, wie Menschen, die inder Verantwortung stehen, gegen gute Argumente so re-sistent sein können. Wenn die besseren Argumente seit1998 immer wieder von der Opposition kommen,

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dann kann ich es ja begreifen, wenn eine Regierung sienicht zur Kenntnis nimmt. Aber ich habe kein Verständ-nis für die Taubheit, wenn die gleichen Argumente ausden Reihen von Wissenschaftlern an die Regierung he-rangetragen werden und sie trotzdem nicht zur Kenntnisgenommen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vonseiten der Grünen und von Teilen der SPD – ichsage ganz bewusst: von Teilen der SPD – wird immerwieder gern behauptet, wir würden das Argument der Si-cherung der Welternährung nur instrumentalisieren, umunsere Vorstellungen in den Gesetzgebungsverfahrendurchzudrücken.

(Matthias Weisheit [SPD]: Was anderes tut ihrdoch nicht! – Manfred Helmut Zöllmer [SPD]:So ist es doch auch!)

Dazu kann ich nur sagen: Das stimmt. – Aber wenn wirdieses Argument nicht einmal mehr vorbringen dürfenund über grüne Gentechnik nicht gesprochen werdendarf, lieber Kollege Weisheit, obwohl 820 MillionenMenschen auf dieser Erde hungern, dann ist dies eintrauriges Faktum.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für die Union ist die grüne Gentechnik ein zentralesInstrument, um die Ernährung der Weltbevölkerung im21. Jahrhundert sicherzustellen.

(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Weil Sie engstirnig sind!)

– Engstirnig? Also sind diejenigen, die sich öffnen, eng-stirnig, während diejenigen, die von Ideologie behaftet

sind, offen sind. Liebe Frau Kollegin Wolff, Sie sindganz schön weit von der Wirklichkeit entfernt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich wiederhole: Für die Union ist die grüne Gentech-nik ein zentrales Instrument, um die Ernährung der Welt-bevölkerung im 21. Jahrhundert sicherzustellen.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Guten Appetit!)

Aber bitte unterstellen Sie uns nicht, dass wir die Kom-plexität des Hungers nicht verstünden und davon über-zeugt wären, dass die grüne Gentechnik das einzige In-strument zur Lösung des Hungerproblems ist. Spätestensseit der grünen Revolution in Asien wissen wir aber,dass die Weitergabe von Wissen und Technologie einsehr wirksamer Ansatzpunkt ist, mit dem der gordischeKnoten des Hungers zerschlagen werden kann. Diegrüne Revolution ist vor allem durch die Entwicklungertragreicher Reissorten vorangetrieben worden.

Wir müssen uns darauf einstellen, dass im Jahre 2020zwischen 7 und 8 Milliarden Menschen auf der Erde le-ben werden. Diese Bevölkerung ausreichend mit Nah-rung, Wasser, Gesundheitsdiensten, Bildung und Arbeitzu versorgen ist die größte globale Herausforderung derkommenden Jahre. Dieser Herausforderung werden Sienicht mit Flächenstilllegung und Extensivierung gerecht,sondern dadurch, dass wir auf den begrenzten Flächendie Produktion um 60 Prozent erhöhen.

Meine Damen und Herren, die Frage ist erlaubt, wel-che Probleme die Gentechnik mit sich bringen kann. Seitzehn Jahren wird sie angewandt und wir machen denMenschen immer noch vor, dass es bei uns überall vonGentechnik freie Nahrung gäbe. Wir haben bei uns einenweißen Kreis. Aber diejenigen, die Verantwortung über-nehmen wollen, dürfen sich nicht nur fragen, was passie-ren wird, wenn Gentechnik eingesetzt wird, sondern siemüssen sich genauso fragen, welche Folgen es habenwird, wenn Gentechnik nicht eingesetzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen empfinde ich es schon als makaber, dass dieReichen und Satten dieser Welt denjenigen eine neueTechnologie vorenthalten, die sie brauchen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile Bundesministerin Renate Künast das Wort.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt wird es für die Gentechnik Nacht!)

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Nach übereinstimmender Auffassung aller internati-onalen Hilfsorganisationen und der Vereinten Nationensind die Hauptursachen für Hunger und Armut fehlenderZugang zu Ressourcen wie Land, Saatgut und dem Le-

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Bundesministerin Renate Künast

bensmittel Nummer eins, Wasser, das Fehlen geeigneterLager- und Transportbedingungen, unfaire Handelsbe-dingungen und eine unfaire Agrarpolitik sowie Krieg,Korruption und Misswirtschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Man muss deshalb meines Erachtens sagen, dass800 Millionen von Hunger bedrohte Menschen Folge ei-nes tief greifenden Politikversagens sind. Ich freuemich deshalb, aus den Worten des Herrn Carstensenschließen zu können, dass auch er für eine Agrarwendeinnerhalb der EU ist. Na endlich, Herr Carstensen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn wir bei der Bekämpfung des Hungers erfolg-reich sein wollen, müssen wir bei den konkreten Lebens-und Arbeitsbedingungen der Menschen ansetzen. Wirstellen fest: Von den über 800 Millionen Menschen, dieauf der Welt hungern, leben 70 Prozent im ländlichenRaum; das muss man sich auf der Zunge zergehen las-sen: 70 Prozent der Hungernden leben dort, wo Mannund Frau normalerweise Lebensmittel produzieren.

Das besonders Perfide daran ist, dass sie zu einemgroßen Teil sogar in der Landwirtschaft arbeiten. Abersie arbeiten auf großen Plantagen zu extremen Hunger-löhnen, mit denen sie ihre Familien nicht ernähren kön-nen. Sie arbeiten meist auf Plantagen, die Futtermittelherstellen. Herr Carstensen, es sollte uns christlich Erzo-genen eigentlich in der Seele wehtun, dass man in derSojaproduktion zum Beispiel, statt das Produkt zu nut-zen, um viele Menschen zu ernähren, das Prinzip um-dreht und Soja dem Tierfutter beimischt. Statt mit dieserMenge Soja zehn oder 20 Menschen zu ernähren, landetdas Fleisch später als kleines Steak auf unseren Tellern.Das tut mir in der Seele weh.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]:Dann sollten Sie bei der WTO eine andereRichtung vertreten!)

Das ist falsch organisiert, weil man die gleiche MengeSoja, statt sie durch das Tier zu schicken, nutzen könnte,um viel mehr Menschen zu ernähren.

Für diese Menschen ist nicht die erste Sorge, wie siejedes Jahr ohne Nachbaurecht das teure gentechnischveränderte Saatgut kaufen können, sondern ihre Fragelautet: Wie kann ich hier und heute die Ernährung mei-ner Familie organisieren?

(Albert Deß [CDU/CSU]: Ich werde Ihnen dazu etwas sagen!)

Wir wissen, dass die teure grüne Gentechnik für denkommerziellen Landbau entwickelt wurde und ent-sprechend designed ist. Deshalb ist die erste gentech-nisch veränderte Pflanze Soja, Futtersoja.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Was ist dagegen einzuwenden?)

Produktentwicklungen zur Bekämpfung des Hungers derMenschen standen nicht im Vordergrund. Sonst hätte alsErstes gentechnisch verändertes Maniok entwickelt wer-den müssen; denn das essen die Menschen zum Beispielin Afrika.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Was ist mit Golden Rice?)

Doch es ging nicht darum, Produkte im Interesse derHungrigen zu entwickeln.

Es ist mir ehrlich gesagt mittlerweile egal, wie oft Siedie ideologische Keule ins Feld führen.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Ihnen ist alles egal, Frau Künast!)

Die Gentechnikfirmen haben Soja für das Tierfutter undnicht die Nahrungsmittel entwickelt, die die Menschenin den Regionen gewöhnt sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)Sie sagen oft – das steht auch in vielen Werbebro-

schüren –, dass zum Beispiel Vitamin-A-haltiger Reisder große Retter in Hungergebieten sei, um mangel-ernährte Menschen vor Blindheit zu schützen.

(Albert Deß [CDU/CSU]: So ist es!)Vandana Shiva, die alternative Novelpreisträgerin, hatdie Sache klar auf den Punkt gebracht, als sie fragte:Wenn sich die Menschen in diesen Gebieten nicht ein-mal normalen Reis kaufen können, wie sollen sie sich ei-gentlich gentechnisch veränderten Reis als Saatgut kau-fen können? Das ist eine logische Frage.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Ist der teurer?)Er ist teurer, weil man das dazu passende Herbizidbraucht

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Er ist normal!)

und weil die Menschen dort kein Nachbaurecht haben. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Natürlich haben sie das! Es ist falsch,was Sie sagen, Frau Künast!)

Sie dürfen den Samen nicht selber herstellen, sondernsind wegen der Patentrechte verpflichtet, jährlich neu zukaufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Deshalb ist er teurer.(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/

CSU]: Das ist falsch!)– Das ist nicht falsch. Die in dem von Ihnen so geschätz-ten Landwirtschaftsministerium tätigen Mitarbeiter ha-ben es recherchiert; deshalb kann es nur richtig sein,Herr Carstensen. Sie selber sagen doch immer, ich sollauf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hören. Dastue ich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

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Bundesministerin Renate Künast

Wir wollen etwas anderes: Wir wollen Hilfe zurSelbsthilfe und nicht neue finanzielle Abhängigkeiten.Deswegen haben wir und hat auch unsere Entwicklungs-hilfepolitik hier einen ganz anderen Ansatz. Ich will Ih-nen sagen, wie das geht: So hat beispielsweise der brasi-lianische Staatspräsident Lula mit einem Aktionsplanzur Bekämpfung von Hunger angefangen.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Er hat gerade Gentechnik genehmigt!)

Auch Sierra Leone hat damit angefangen. Wir meinen,dass nicht immer nur die Eliten in einem Land von Geldprofitieren sollen, sondern dass Aktionspläne zur Be-kämpfung von Hunger tatsächlich ein zwingender Be-standteil von Good Governance werden sollen. Deshalbgibt es jetzt zum Beispiel in Sierra Leone mithilfe derGTZ entsprechende Projekte. Dabei geht es darum, dasregionale Saatgut der Menschen zu sichern und sie imKampf gegen Hunger zu unterstützen.

Ich meine – das muss ich an die Adresse der Kolle-ginnen und Kollegen von der CDU/CSU sagen –, Sieversuchen, mit dem Stichwort Hungerbekämpfung einDeckmäntelchen über Ihre Position zur Gentechnik zulegen.

(Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Sie versuchen, an dieser Stelle unter dem Schlagwort„Verantwortung für die Welternährungssituation“ eineganz andere Diskussion zu führen. Das ist aus mehrerenGründen falsch: Wir müssen zunächst – das ist meineLeitlinie – Wahlfreiheit für die Landwirte hier herstel-len. Ihr Text enthält die Aussage: Wir sollen hier ver-stärkt mit Gentechnik veränderte Pflanzen anbauen, da-mit wir das Welthungerproblem lösen können.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Nein, das steht nicht drin! – Albert Deß[CDU/CSU]: Sie kennen die einfachsten Zu-sammenhänge nicht!)

– In Ihrem Antrag steht hinter einem Spiegelstrich, dieBundesregierung solle dafür Sorge tragen, hier mehrgentechnisch veränderte Pflanzen anzubauen, damit soein Beitrag zur Sicherstellung der Welternährung geleis-tet werden kann.

Ich sage Ihnen: Die hiesigen Landwirte wollen das zu70 Prozent nicht. Wir müssen hier also die Wahlfreiheitgeben und an dieser Stelle entsprechende Regeln einfüh-ren.

Präsident Wolfgang Thierse: Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Carstensen?

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:

Bitte.

Präsident Wolfgang Thierse: Bitte schön.

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Frau Ministerin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-

men, dass unser Antrag nicht auf die Ausweitung desAnbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen in derBundesrepublik Deutschland zielt, sondern dass wir da-für sorgen wollen, dass gerade unsere Forschungsein-richtungen in diesem Bereich wieder wesentlich mehrtun können, damit sie ihre Ergebnisse an die Länder derDritten Welt weiterleiten können?

(René Röspel [SPD]: Die Dritte Welt als Experimentierfeld!)

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:

Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie die For-schung an dieser Stelle ausweiten wollen. Ich glaubeauch, dass es durchaus gute Forschungsergebnisse gibt.Es sollte allerdings nicht wieder für die Tierhaltung, son-dern mit Blick auf eine Lösung der Probleme der Men-schen vor Ort geforscht werden.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie sind so einseitig!)

Herr Carstensen, die Frage lautet: Was will man über dieGene von Pflanzen wissen?

Unter einem Spiegelstrich fordern Sie aber auch denAnbau grüner Gentechnik hier in Europa, damit ein Bei-trag zur Bekämpfung des Welthungers geleistet werdenkann. Jetzt habe ich Ihren Antrag nicht hier, sondern nurmeine eigene Rede, sodass ich Ihnen die entsprechendePassage aus Ihrem Antrag nicht vorlesen kann.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Soll ich Ihnen den geben?)

Ich habe beides in Ihrem Antrag wiedergefunden.

Ich meine, Sie sollten den Mut haben, die Debattenüber Welternährung einerseits und über die Gentechnikhier und ihre Bedingungen andererseits zu trennen. Siesollten auch wissen, dass Sie neue Abhängigkeitenschaffen, wenn Sie hier Nahrungsmittel für andere pro-duzieren.

Der richtige Weg heißt Hilfe zur Selbsthilfe. Genausomachen wir unsere Entwicklungshilfepolitik. Die Men-schen sollen in ihren Ländern, in ihren Regionen Nah-rungsmittel anbauen können. Wenn sie hungern, dannsollen sie Lebensmittel aus ihren jeweiligen Regionenund nicht aus dem Überfluss des Nordens zukaufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich meine, dass die katholische Soziallehre an dieserStelle nicht falsch ist. Auch sie betont: Hilfe zur Selbst-hilfe ist das Prinzip.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Kein Widerspruch!)

In Großbritannien zum Beispiel, einem Land, das nunwirklich nicht verdächtig ist, eine kritische Haltung zurroten oder grünen Gentechnik einzunehmen, haben neu-este Befragungen unter Wissenschaftlern ergeben – aufdiese Untersuchungen hat Herr Carstensen gar nicht Be-

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Bundesministerin Renate Künast

zug genommen; ich würde mich freuen, wenn Sie auchso etwas einmal sehen würden –, dass sich die grüneGentechnik negativ auf die Artenvielfalt auswirkt. Dawir alle christlich erzogen sind, gehe ich davon aus, dassauch die CDU/CSU die Artenvielfalt erhalten möchte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Nach all dem kann man meines Erachtens nur einessagen: Der Einsatz gentechnisch veränderten Saatgutszur Bekämpfung von Hunger will gut überlegt sein. Wirsollten uns an dieser Stelle genau überlegen, ob wir gutberaten wären, über die Köpfe anderer hinweg zu agie-ren. Es gilt auch, die Wahlfreiheit der Menschen, diehungern, zu berücksichtigen.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Darauf können die gerne verzichten!)

– Herr Carstensen, die haben selber viele gute Forderun-gen wie zum Beispiel die, dass wir unsere Agrarpolitikändern, damit sie Produkte anbauen können und darüberzu Deviseneinnahmen kommen, um in ihren Ländern diehungernde Bevölkerung in den Städten zu ernähren.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sie fahren doch nach Brasilien! Siewissen doch, wie die Schlachtordnung ist!)

– Genau, für solche Gespräche fahre ich nach Brasilien.Ich werde bestimmt mit vielen Informationen für Sie zu-rückkommen.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist sehr schön!)

In Ihrem Antrag hat mich am meisten die Aufforde-rung irritiert, im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit Frei-landversuche zu genehmigen und zu unterstützen. Ichkomme ja auf brillante Ideen, aber auf den Gedanken,Freilandversuche mit Gentechnik zwecks Öffentlich-keitsarbeit durchzuführen, bin ich nun nicht gekommenund möchte auch nach Lektüre Ihres Antrags nicht da-rauf kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Peter H.Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das istdie Ideologie!)

Die größten Ursachen von Hunger und Elend kannman nur beheben, indem man den Menschen in den Län-dern selbst die Möglichkeit gibt, Anbau zu betreiben.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Damit wir hier zu einem Ergebnis kommen, müssen wirdie guten und positiven WTO-Verhandlungen unterstüt-zen. Es muss ein Recht auf Nahrung geben. Diese Län-der müssen – unterstützt durch unsere Entwicklungshilfeund wirtschaftliche Zusammenarbeit – dafür sorgen,dass die Menschen ihre Lebensmittel selber produzierenkönnen. Darin liegt die Lösung und nicht darin, zu ver-suchen, Umwege über die grüne Gentechnik zu gehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel

Happach-Kasan, FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Künast, Pflanzenzuchtunternehmen richten ihreStrategie nach ihren eigenen Verdienstmöglichkeiten ausund das ist auch gut so. Ansonsten müssten wir den Mit-arbeitern Sozialhilfe bezahlen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So sieht es aus!)

Sie, Frau Künast, richten Ihre Strategie nach den grü-nen Klientelinteressen satter Menschen aus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen haben die Menschen der armen Länder bei Ih-nen keine Chance. Das kann man sehr deutlich daran er-kennen, dass Sie in einer solchen Debatte als Erstes dieFrage der Wahlfreiheit thematisieren. Als ob derjenige,der Hunger hat, gerne wählen möchte!

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Zynisch!)

Er möchte einfach nur essen und satt werden, nichts an-deres.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben hier Hilfe zur Selbsthilfe propagiert. Das istrichtig. Das ist übrigens ein liberales Prinzip. Aber neh-men Sie bitte zur Kenntnis: 6 Millionen Kleinbauern inden Schwellenländern und in der Dritten Welt bauen be-reits transgene Pflanzen an und haben damit gute Erfah-rungen gemacht; denn jedes Jahr werden es mehr.

(Beifall bei der FDP)

Haben Sie die FSE, die Farm Scale Evaluations,wirklich einmal gelesen? Dabei geht es nicht um Nega-tivwirkungen transgener Organismen, sondern um nichtsweiter als um Unkrautmanagement. Dort, wo wenigerBeikräuter wachsen und es weniger Tiere und Insektengibt, die auf diesen leben, sind die Erträge höher. Vondaher ist dieses Beispiel absolut ungeeignet.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Ernährungsprobleme in der Dritten Welt sindgroß. Ursache sind die Armut und die Verantwortungslo-sigkeit totalitärer Regime – dazu zählt zum Beispiel daskommunistische Regime in Nordkorea –, aber auch diewachsende Weltbevölkerung, der kaum vermehrbareAckerflächen gegenüberstehen. Daraus ergibt sich dieNotwendigkeit, die Intensität der landwirtschaftlichenProduktion zu steigern, damit alle Menschen statt wer-den.

Die Probleme bei der Welternährung konnten in denletzten Jahrzehnten deutlich verringert werden. Es wur-den neue Sorten entwickelt. Wir können erwarten, dassmit gentechnischen Methoden Erträge weiter gesichertund die Qualität der Nahrungsmittel weiter verbessert

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Dr. Christel Happach-Kasan

wird. Deutsche Unternehmen wollen sich ihrer Verant-wortung bei der Entwicklung neuer Sorten stellen. Dafürbrauchen sie praktikable Rahmenbedingungen, die ihnendie rot-grüne Regierung noch immer verweigert.

Der Bundeskanzler ist einmal angetreten, im kriti-schen Diskurs eine verantwortbare Position zur Gentech-nik zu finden. Im Zuge von BSE hat ihn der Mut verlas-sen. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, allein IhreAbwesenheit dokumentiert:

(Albert Deß [CDU/CSU]: Wo ist er denn?)

Welternährung ist nicht Ihr Thema,

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

grüne Gentechnik ist es auch nicht mehr.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie las-sen aber auch nichts aus!)

Sie haben grüne Gentechnik wegen BSE kurz vor demerfolgreichen Abschluss gestoppt. Schade!

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wo ist denn Herr Westerwelle?)

– Herr Westerwelle weiß, dass ich eine gute Rede halte.Er muss nicht hier sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Dennoch muss der Streit zwischen Frau Künast undHerrn Clement sowie Frau Bulmahn endlich im Sinneder grünen Gentechnik entschieden werden. Herr Bun-deskanzler, nehmen Sie Ihre Richtlinienkompetenzwahr, sprechen Sie ein Machtwort, beenden Sie die Gra-benkämpfe und bringen Sie diese Innovation in Deutsch-land voran!

(Beifall bei der FDP)

Mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung mit der grünenGentechnik zeigt: Die grüne Gentechnik ist verantwort-bar, durch ihr Innovationspotenzial hilft sie, in Deutsch-land Arbeitsplätze zu schaffen, und sie ist zur Verbesse-rung der Ernährung der Menschen in den ärmstenLändern der Erde ethisch geboten. Daher unterstützt dieFDP den Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Grundsatz.

Herr Kollege Carstensen, in einem Punkt widerspre-chen wir dem Antrag aber ausdrücklich:

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ui!)

Kennzeichnungsschwellenwerte oberhalb der techni-schen Machbarkeitsgrenze sind anders, als Sie es sagenund als Sie es in Ihrem Antrag fordern, sehr wohl akzep-tabel.

(Beifall bei der FDP)

Bei der Festlegung der Schwellenwerte müssen die tech-nischen Machbarkeitsgrenzen berücksichtigt werden,aber nicht mehr. Dabei orientiert man sich am Umwelt-und Gesundheitsschutz.

Transgene Pflanzensorten werden geprüft wie andere,sie haben dieselben Risiken wie andere und sie verhaltensich in der Umwelt wie andere, auch wenn die Grünenmeinen, etwas anderes behaupten zu müssen. Eine Son-derstellung transgener Sorten ist daher durch nichts ge-rechtfertigt.

(Beifall bei der FDP)

Das sieht auch Staatssekretär Catenhusen, SPD, aus demForschungsministerium so. In einem Interview in der„Zeit“ hält er gesonderte Haftungsregelungen für denUmgang mit transgenen Sorten für nicht erforderlich. IhrStaatssekretär hat Recht. Wer Recht hat, soll auch Rechtbehalten.

Gesundheitsschäden werden in unserer Gesellschaftzumeist durch falsche Ernährung und Umweltschäden,insbesondere durch den Schadstoffeintrag, verursacht.Das haben auch die Bürgerinnen und Bürger erkannt.Deswegen finden sie es gut, wenn mit gentechnischenMethoden Pflanzen und Tiere gezüchtet werden, die ge-gen Schädlinge immun sind. Nach einer Umfrage, dievom Bundespresseamt in Auftrag gegeben wurde, sind46 Prozent dafür. Die Grünen sind dagegen. Aber: Wel-che in der Zeit seit ihrer Gründung etablierten Zukunfts-technologien haben die Grünen jemals befürwortet?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Kurzzeitig oder längerfristig wurden abgelehnt: diefriedliche Nutzung der Kernenergie, der Computer – derBeschluss existiert noch immer –, das Handy, der Trans-rapid, die PET-Flaschen und die rote Gentechnik.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Bei der SPD kommt noch der Fernseherdazu!)

– Danke, Herr Carstensen.

Der jetzige Außenminister hat im Hessischen Landtagdie Turnschuhe eingeführt und den Bau der Anlage zurgentechnischen Herstellung von Humaninsulin 14 Jahrelang verzögert. Mit dieser Lebensleistung wurde er dannAußenminister.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit dem Kulturpessimismus der Grünen wären dieErnährungsprobleme Europas nie gelöst worden.

(Beifall bei der FDP)

Daher ist der Kulturpessimismus der Grünen auch nichtgeeignet, den Menschen in den ärmsten Ländern derErde zu helfen.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau! Das ist die Wahrheit!)

Noch immer folgen die Grünen ganz treu Karl Valentin:Die Zukunft war früher auch besser.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Kann man wirklich so flach sein?)

Warum unterstützt eine SPD, die sich immer auf ihresoziale Verantwortung beruft, diese Politik? Sie ist un-

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Dr. Christel Happach-Kasan

ethisch, weil sie verhindert, dass die Möglichkeiten dergrünen Gentechnik zur Entwicklung leistungsfähigerSorten genutzt werden. Sie ist umweltfeindlich, weil siedie Potenziale der grünen Gentechnik zur Verminderungdes Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln nicht nutzt. Sieist verbraucherfeindlich, weil sie sich nicht am Wunschder Verbraucher nach sicheren Lebensmitteln orientiert– transgene Sorten werden besser geprüft als andere.Schließlich ist sie unsozial, weil sie die Abwanderungvon Arbeitsplätzen ins Ausland fördert.

Ich fordere die SPD auf, eine derartig dem Gemein-wohl zuwiderlaufende Politik des grünen Koalitionspart-ners zu verhindern.

(Beifall bei der FDP)

Laufen Sie den Grünen nicht wie die Lemminge hinter-her und springen Sie nicht in den Abgrund!

In den letzten zehn Jahren wurden transgene Sortenmit sehr interessanten und für die Ernährungssituationder Menschen in den ärmsten Ländern der Erde wichti-gen Eigenschaften entwickelt. Golden Rice ist das be-kannteste Beispiel; es gibt einige andere mehr. DieFrage, ob transgene Sorten verantwortbar sind, ist beant-wortet: Sie sind verantwortbar. Inzwischen stellt sich dieFrage, ob es ethisch verantwortbar ist, den Landwirten inden Entwicklungsländern diese Sorten weiter zu verwei-gern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Professor von Weizsäcker hat in seiner Rede zum Car-tagena-Protokoll über ein Beispiel aus Indien berichtet, beidem sich der Anbau einer transgenen Sorte nicht bewährthaben soll. Das mag so sein. Vor solchen Sorten muss aberniemand geschützt werden. Professor von Weizsäcker, ichbedauere sehr, sagen zu müssen: Dieses einzige Beispiel inIhrer Rede zum Cartagena-Protokoll war unter Ihrem Ni-veau. 6 Millionen Landwirte haben im vergangenen Jahrtransgene Kulturpflanzen angebaut. 75 Prozent davon wa-ren Kleinbauern in Entwicklungs- und Schwellenländern.Ihre Anzahl ist von Jahr zu Jahr gestiegen.

Der Beauftragte für Welternährungsfragen des Evan-gelischen Entwicklungsdienstes stuft den Beitrag dergrünen Gentechnik zur Sicherung der Welternährung alsgering ein und sieht die Gefahr der Abhängigkeit derKleinbauern von Patentinhabern. Die Realität sieht an-ders aus. Den theoretischen Vorbehalten stehen ganzkonkrete Vorteile der grünen Gentechnik gegenüber, wiezum Beispiel sichere Ernten durch Bt-Mais in China.Das Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften inMünchen hat einen Leitfaden entwickelt, mit dem trans-gene Sorten nach ökologischen, ökonomischen und so-zialen Kriterien individuell bewertet werden können. Einsolcher Leitfaden ist ethisch sehr viel wertvoller als diegrüne Fundamentalopposition gegen die grüne Gentech-nik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Er ermöglicht es, die Eignung einzelner Sorten zu be-werten, statt alle pauschal zu verdammen. Eine wach-sende Weltbevölkerung stellt steigende Anforderungen

an die Landwirtschaft. Diese Herausforderungen könnenwir nur meistern, wenn wir Armut und totalitäre Regimebekämpfen –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): – ich bin beim letzten Satz – und die Intelligenz sowie

den Erfindungsreichtum von Menschen für die Weiter-entwicklung der Landwirtschaft nutzen. Die grüne Gen-technik kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herta Däubler-

Gmelin, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Carstensen und Frau Happach-Kasan, ich schätzeSie beide sehr. Aber ich muss sagen: Nach Ihren beidenRedebeiträgen ist, glaube ich, auch dem letzten Zuhörerklar, worum es Ihnen heute Morgen geht: Es geht um dasalte Ritual: „Wie beschimpft die Opposition die Regie-rung?“ und das wieder möglichst laut in der Öffentlich-keit. Ich finde es außerordentlich schade, dass Sie diewichtige und ernste Frage der Bekämpfung des Welthun-gers und die Frage, was wir dazu beitragen können, mitdiesem Ritual vermischen. Das tut dem Thema nicht gutund das tut auch dem Deutschen Bundestag nicht gut.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei sind und waren wir schon weiter. Die Frage desWelthungers und seiner Bekämpfung beschäftigt Sie ge-nauso wie uns im Agrarausschuss. Gerade gestern habenwir über einen Antrag – übrigens der SPD – zur Frageder Landreform geredet, die selbstverständlich mit derFrage der Bekämpfung des Welthungers zu tun hat; dennin den Entwicklungsländern bedarf es insbesondere derSicherung von bäuerlichen Familienexistenzen und einervernünftigen Sozialstruktur. Das fehlt jedoch in IhremAntrag; das wissen Sie auch.

Gerade gestern hat der Kollege Deß von der CDU/CSU einen sehr bemerkenswerten Beitrag geleistet. Erhat darauf hingewiesen, dass auch im Zusammenhangmit der Zuckerordnung sehr sorgfältig auf die Sicherungder bäuerlichen Familienbetriebe und damit den Aufbauvon Sozialstrukturen in der Dritten Welt geachtet werdenmuss, die für die Bekämpfung des Welthungers dringenderforderlich sind. Wo ist denn das in Ihrem Antrag?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen

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Dr. Herta Däubler-Gmelin

[Nordstrand] [CDU/CSU]: Lesen Sie den docheinmal!)

Ich habe den Eindruck, dass Sie wieder einmal einepolemische Diskussion und keine seriöse Diskussions-grundlage gesucht haben. Ich kann das nur bedauern undalle auffordern, das im Zuge der weiteren Diskussion zuändern; denn es ist doch völlig klar: Das Recht auf Nah-rung gehört zu den Grundrechten jedes Menschen. Da-rüber wird sich dieses Haus doch wohl auch im Klarensein.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sind wir doch auch!)

Wenn Sie, Herr Carstensen, was ich gut finde, die Do-kumente der FAO zitieren, dann tun Sie es doch bitterichtig.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Dann zitieren Sie erst einmal unserenAntrag richtig!)

Ich lese es Ihnen gerne noch einmal vor. In der letztenWoche, nämlich am 16. Oktober, war Welternährungs-tag. Am Welternährungstag hat der Generaldirektor derFAO ausdrücklich dazu aufgefordert, gemeinsam eineAllianz gegen den Hunger zu bilden, die die Ursachenfür den Hunger bekämpft. Zu den Ursachen des Hun-gers gibt es eine Menge an wirklich wichtiger internatio-naler Übereinstimmung. So weist zum Beispiel der Welt-ernährungsgipfel deutlich darauf hin, dass „Hungersowohl Ursache als auch Auswirkung von extremer Ar-mut ist, durch den die Armen dieser Welt davon abgehal-ten werden, von neuen Entwicklungen zu profitieren“.Das müssen wir berücksichtigen und angehen.

Da spielt natürlich auch die deutsche Agrarpolitik unddie europäische Agrarpolitik eine große Rolle. Wir allewissen ganz genau, dass die Agrarmärkte der Entwick-lungsländer auch durch die Subventionen der EU beimAgrarexport mit kaputt gemacht werden. Mit den Über-legungen, das zu ändern, haben wir uns in diesem Som-mer beschäftigt. Mich ärgert, dass die CDU den deut-schen Bauern immer wieder erklärt, das gehöre zu derschlechten Agrarpolitik dieser Regierung oder der EU.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

– Sehen Sie, das ist gerade die Widersprüchlichkeit, diemich dazu bringt, zu sagen: Es geht Ihnen eben um Pole-mik und Rituale, nicht etwa um die Sicherung der Welt-ernährung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:Quatsch!)

Zur Stabilisierung der Märkte – bitte akzeptierenSie auch das – sind Landreformen in vielen Teilen derWelt notwendig. Wenn Sie das genauso sehen, dann un-terstützen Sie es doch.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das tun wirdoch auch! Sagen Sie einmal etwas zum An-trag!)

Wichtig sind auch Technologie- und Wissenstrans-fer. Wer will das denn bestreiten? Wir alle wissen, dassdie Erwartungen an die Biotechnologie – ich meine nichtnur die grüne Gentechnik, Sie müssen den Gesamtbe-reich sehen – sehr hoch sind. Wir dürfen aber nicht nurdiese Erwartungen sehen, sondern wir müssen auch dieErfahrungen und Probleme zur Kenntnis nehmen. Diesewerden übrigens in allen internationalen Dokumenten– außer Ihrem Antrag – auch diskutiert. Das ist auch er-forderlich, um das Thema richtig anzugehen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Carstensen?

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Später gerne. Zunächst möchte ich ein paar Punkte,

die vielleicht seine Zwischenfrage beantworten werden,weiter ausführen. Aber keine Sorge, die Zeit für IhreZwischenfrage habe ich noch.

Richtig seriös wäre es, wenn Sie diese Aspekte in Ih-rem Antrag nennen würden. Aber auch Ihr Beitrag hatgezeigt, dass Sie daran kein Interesse haben. Ihr Antragist eine ärgerliche Mischung aus Einbahnstraßendenken– er vermittelt den Eindruck, als könne man mit einemKnopfdruck und der richtigen Technik die Welternäh-rungsprobleme lösen –

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das sagt doch keiner!)

und Vernebelungstaktik, wo es um klare Feststellungengehen müsste, zum Beispiel bei der Kennzeichnungs-pflicht. Darauf werde ich gleich noch eingehen. Au-ßerdem liest sich Ihr Antrag streckenweise wie der Wer-bewaschzettel der entsprechenden Industrie, die ihrProdukt verkaufen will. Das gilt auch für FunctionalFood, die ja mit Gentechnik nicht zwangsweise etwas zutun haben muss. Diese Art von Lebensmitteln wird heuteschon vielfach ohne Gentechnik hergestellt.

Ich finde Ihren Antrag deswegen so ärgerlich, weilder Generalsekretär der Vereinten Nationen in seinemjüngsten Bericht, der jetzt in der Generalversammlungdiskutiert wird, den Industrieländern viel konkreterRichtiges und Verpflichtendes ins Stammbuch geschrie-ben hat. Er hat deutlich gemacht, dass die Abhängigkeitder Entwicklungsländer nicht vergrößert werden darf,sondern vermindert werden muss. Was aber finden wir inIhrem Antrag? Die Bundesregierung soll sicherstellen,dass Kleinbauern nicht abhängig werden, sagen Sie undwollen gleichzeitig deren Abhängigkeit von Patenten er-höhen. Auch Ihr Widerstand gegen die EU-Agrarreformmuss in diesem Zusammenhang benannt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen einmal laut sagen, was Sie wollen, und sichnicht in Unverbindlichkeiten ergehen. Lesen Sie einmalnach, was Genetiker aus Äthiopien vom „GoldenenReis“ und vor allem von seinen Auswirkungen auf dieErnährungslage oder die Sozialstruktur im ländlichen

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Dr. Herta Däubler-Gmelin

Raum halten. Das ist doch keineswegs nur positiv, son-dern sehr problembehaftet.

Ich komme zu einem Punkt, der mich zusätzlich är-gert: Ihre Äußerungen zur Kennzeichnungspflicht. Dahabe ich Frau Happach-Kasan überhaupt nicht verstan-den. Ich habe immer gedacht, Sie würden mit mir dieGrundauffassung teilen, dass die Wahlfreiheit der Land-wirte und der Verbraucher ein hohes Gut ist. Wenn Siedie grüne Gentechnik mit Schwellenwerten einführenwollen, von denen Sie gerade gesprochen haben, hat we-der der Verbraucher noch der Landwirt irgendeineChance zu Wahlfreiheit. Sie als Biologin müssten daseigentlich laut sagen. Ich halte nichts davon, den Men-schen – unter welchem Vorwand auch immer – ein X fürein U vorzumachen. Wer Wahlfreiheit und die Chancefür Koexistenz will, darf bei der Kennzeichnung nichtüber die technische Nachweisgrenze gehen.

(Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage.

Ich bedaure es sehr, dass die Union in ihrem Antrageinen sehr vagen Begriff von „technischer Machbarkeit“benutzt und nicht klar herausstellt, dass der Grenzwertvon 0,1 Prozent beim Saatgut – das muss jetzt ent-schieden werden – die Grundlage für Wahlfreiheit undKoexistenz ist.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, inzwischen wollen zwei Kollegen eine

Zwischenfrage stellen. Herr Kollege Carstensen, bitteschön.

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, dass Sie unse-

ren Antrag nicht richtig gelesen haben.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das soll es öfter geben!)

Ich habe weiterhin den Eindruck, dass Sie mir nicht zu-gehört haben. Ich habe in meiner Rede darauf hingewie-sen – das ist Ihnen vielleicht entgangen –, dass die grüneGentechnik für die Union ein Instrument ist und sie sehrwohl um die Komplexität des Themas Hunger weiß.Können Sie mir aufgrund Ihres landwirtschaftlichenSachverstands sagen, wie Sie den Herausforderungender nächsten Jahre begegnen wollen? Die FAO sprichtdavon, dass wir eine Steigerung der Erträge um 60 Pro-zent brauchen, davon notwendigerweise 80 Prozentdurch eine Steigerung des Flächenertrags. Wie wollenSie diese Steigerung erreichen, wenn Sie den Entwick-lungsländern nicht moderne Technologien zur Verfü-gung stellen?

Lassen Sie mich bitte eine letzte Frage stellen. Wenndas Thema so wichtig ist, wieso gibt es eigentlich keinenAntrag zu diesem Bereich von der Koalition?

(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das wollte ich auch fragen!)

Warum haben Sie nicht die Möglichkeit genutzt, IhrePosition in einem Antrag deutlich zu machen? Wiesogibt es denn einen Streit zwischen dem Wirtschafts-minister und dem Umweltminister und dem Verbrau-cherschutzministerium? Die Forschungsministerin undder Wirtschaftsminister sagen, wir müssten viel mehrGeld in die neuen Biotechnologien investieren, anderer-seits aber wird die Biotechnologie abgeblockt. Wir kön-nen Ihre Politik nicht mehr begreifen. Können Sie unsdas erklären?

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Lieber Herr Carstensen, es würde eine Antwort viel

leichter machen, wenn nicht aus jedem Wort herauszu-hören wäre, dass Sie die Antwort eigentlich gar nicht in-teressiert.

(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist nicht fair!)

Ich will es dennoch probieren. Lassen Sie mich nocheinmal wiederholen: Ich habe jedem Wort, das Sie vor-hin gesagt haben, ehrfürchtig, so wie es der Respekt vorIhnen gebietet, zugehört. Natürlich haben Sie auch die-sen Satz vorgetragen. Jetzt haben Sie ihn wiederholt. Ichbin froh darum, weil er dadurch vielleicht eine größereBedeutung bekommt. Er hat vorher auch nicht länger ge-dauert als wenige Sekunden und Sie haben insgesamtrund 7,5 Minuten geredet. Das war der einzige Satz.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Ich habe nur sechs Minuten geredet!)

Über die Frage Ihrer Gewichtung und der damit verbun-denen Wertigkeit sollten Sie jetzt vielleicht noch einmalnachdenken.

Der zweite Punkt ist folgender: Eine seriöse Ausei-nandersetzung mit dem Hungerproblem – Sie wissen,dass ich gerade bei der FAO in Rom war – zeigt, dass esin der Tat richtig ist, dass die Erwartung von Mitte der90er-Jahre, man könne die Zahl der Menschen, die aufder Welt Hunger leiden, bis 2015 halbieren, im Momentskeptisch beurteilt wird. Wenn man sich anschaut, wel-che Länder der Welt bei der Verbesserung der Hungersi-tuation Erfolg haben und welche Länder nicht, dannstößt man auf das auch von Frau Happach-Kasan, aller-dings in falschem Zusammenhang, erwähnte Indien.

Indien ist ein Land, das seit Jahren GMOs einsetzt,das Nahrungsmittel exportiert und ein steigendes Hun-gerproblem hat, trotz all der hervorragenden Ergebnisse,die Indien unzweifelhaft erreicht hat. Schon diesesmüsste jedem sagen, dass das Hungerproblem, was auchauf dem World Food Summit gesagt wurde, ein Vertei-lungs- und Armutsproblem ist. Dass die Technik und derTechniktransfer aus den verschiedenen Zonen der Welteine Rolle spielen, ist gar keine Frage, aber keine ent-scheidende. Schauen Sie doch einmal in den Bericht desUN-Generalsekretärs! Dann werden Sie genau das fest-stellen. Ich will Ihnen die Passage gerne zitieren, damitSie nicht meinen, ich würde etwas Falsches sagen. DerGeneralsekretär schreibt in seinem Bericht an die Gene-ralversammlung der Vereinten Nationen:

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Dr. Herta Däubler-Gmelin

Biotechnology has yet to deliver products in agri-culture, health industry and environment in develo-ping countries.

(Zurufe von der CDU/CSU und FDP: Oh!)

– Er spricht nun einmal Englisch. Ich finde gut, dass Sieso deutlich machen, dass Sie es verstehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich übersetze es aber bei Bedarf auch gerne. Er führtfort: Es gibt ein bisher ausgesprochen begrenztes Inte-resse des privaten Sektors, transgene Produkte von eini-germaßen großer Bedeutung an die sich entwickelndenLänder zu übergeben.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Natürlich!)

Das sind die Probleme, mit denen wir es zu tun haben.Da geht es um Geld und Gewinne, nicht um die Über-windung des Welthungers. Das ist in Ihrem Antrag, derdurch Einbahnstraßendenken gekennzeichnet ist, leiderGottes in keiner Weise ersichtlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Heiderich, ich gehe wegen Ihrer Reak-

tion davon aus, dass Ihre Frage bereits vom KollegenCarstensen gestellt worden ist. Bitte schön, Frau Kolle-gin, Sie können fortfahren.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Frau Happach-Kasan hatte sich auch noch gemeldet.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Happach-Kasan hat sich zu einer Kurzinterven-

tion gemeldet, wenn ich das richtig verstanden habe.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Ich bitte um Entschuldigung.

Lassen Sie mich noch einmal Folgendes sagen: Ichfände es ausgesprochen gut, es gäbe in diesem Haus ei-nige Zukunftsthemen, die wir von allen Seiten mit ver-gleichbarer Seriosität behandeln würden, und – –

(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

– Zur Seriosität gehört auch, Herr Goldmann, dass manzunächst einmal die erste Hälfte eines Satzes anhört, be-vor man gleich in Jubel oder Klagen ausbricht. Die Be-kämpfung des Welthungers und die Frage, was wir dazubeitragen können, gehört ohne Zweifel zu den wichtigenZukunftsthemen.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Deswegen gibt es diesen Antrag!)

Wie gesagt, das Recht auf Nahrung – dazu gehört auchdie Sicherung der Pflanzen und der so genannten geneti-schen Ressourcen in allen Ländern – ist ein Menschen-recht.

Deswegen – das darf ich noch ausführen, bevor FrauHappach-Kasan ihre Kurzintervention vorträgt – sindIhre Ausführungen zur Artenvielfalt und deren Siche-rung problematisch. Ich bin sicher, dass wir noch öfterüber dieses Thema diskutieren werden. Aber wenn Siedie neue Studie, die in England erstellt wurde, einfachabtun, werden wir nicht vorankommen.

Ich hatte gestern die Gelegenheit, mit einigen engli-schen Kollegen zu reden. Auch die Biologen bzw. Mole-kularbiologen oder Genetiker unter ihnen nehmen sichdie Zeit, die Studie sehr sorgfältig zu prüfen, bevor siesie bewerten. Das sollten auch wir tun.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das tun wir auch!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich erteile der Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan

zu einer Kurzintervention das Wort.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Liebe Frau Däubler-Gmelin, Sie haben mich als Bio-

login nach meiner Meinung gefragt, wofür ich ausge-sprochen dankbar bin. Denn ich meine, dass gerade inder grünen Gentechnik Biologiekenntnisse sehr wohlvon Bedeutung sind.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist hilfreich für Juristen!)

Ich habe mich in der Tat mit den Farm Scale Evalua-tions beschäftigt. In diesem Zusammenhang habe ichmich mit Botanikern auseinander gesetzt und mich überdie tatsächlichen Ergebnisse informiert. Festzustellen ist,dass die Ergebnisse nicht so eindeutig sind, wie Sie undauch Ministerin Künast es darstellen.

Aus den Ergebnissen geht schlicht und ergreifend her-vor, dass bei dem Anbau von herbizidtolerantem Rapsdie Menge der Unkräuter sinkt. Wenn es in einem Raps-feld weniger Beikräuter gibt, ist auch weniger Nahrungfür Insekten vorhanden, die auf solchen Beikräuternleben. Von daher ist es richtig, dass die Artenvielfalt ineinem Rapsfeld – in dem allerdings ohnehin in ersterLinie Raps wachsen soll – dadurch sinkt. Gleichzeitigsteigt aber auch der Ertrag, weil der Boden verstärkt demRaps zugute kommt statt den Beikräutern.

(René Röspel [SPD]: Das steht aber nicht im Gutachten!)

Das ist eine Frage des Unkrautmanagements; es gehtdabei nicht darum, auf welche Art und Weise die Herbi-zidtoleranz in einem Rapsfeld hergestellt wurde. Das istmit gentechnischen Methoden wie auch mit anderenZuchtmethoden möglich. Im Ergebnis kommt es zu einergeringeren Artenvielfalt im Rapsfeld. Das bedeutet abernicht, dass sie außerhalb des Rapsfeldes ebenfalls sinkt.

Von daher rate ich Ihnen Frau Kollegin: BeschäftigenSie sich doch ein bisschen gründlicher mit dieser The-matik und fragen Sie auch einen Botanikprofessor nach

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Dr. Christel Happach-Kasan

der Frage der Artenvielfalt im Rapsfeld, unabhängig da-von, ob es sich bei der angebauten Pflanze um einetransgene Sorte handelt oder nicht!

Ich darf auch darauf hinweisen, Frau Däubler-Gmelin, dass sich der Antrag der CDU/CSU-Fraktionauch mit der Sicherung der Welternährung befasst. Wennwir diese Aufgabe Ernst nehmen, dann spielt die Wahl-freiheit, die nur in satten Gesellschaften, nicht aber inder Dritten Welt ein Thema ist, in diesem Zusammen-hang keine Rolle.

Das gilt auch für die Kennzeichnungspflicht. Sind Ih-nen die Zahlen bekannt, wie viele Menschen in denärmsten Ländern der Erde lesen und schreiben können?Was hilft diesen Menschen eine Kennzeichnung, wennsie hungrig sind und nicht lesen können?

Sie sprechen Punkte an, die in der Auseinanderset-zung in Deutschland an Relevanz gewonnen haben, weilwir eine reiche und satte Gesellschaft sind und es unsleisten können, die Trennung von aus transgenen Pflan-zen und aus anderen Pflanzen hergestellten Lebensmit-teln zu fordern.

Ich bitte Sie herzlich, das Thema Welternährung inden Mittelpunkt zu stellen, statt sich an Fragen abzu-kämpfen, die nur in der Auseinandersetzung innerhalbDeutschlands ein Rolle spielen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zur Erwiderung hat nun Frau Kollegin Dr. Däubler-

Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Frau Happach-Kasan, Sie wissen, dass ich immer für

Ratschläge dankbar bin. Aber darf ich Ihre geschätzteAufmerksamkeit auf den letzten Spiegelpunkt aufSeite 3 des Antrags der CDU/CSU lenken. Dort wird aufdie Frage der Kennzeichnung ziemlich ausführlich ein-gegangen. Darauf habe ich mich bezogen. Vielleichtsollten Sie – wenn ich das zurückgeben darf – den An-trag einfach einmal lesen. Dann werden Sie feststellen,dass die Frage der Kennzeichnung sehr wohl angespro-chen wird. Dort, wo der Kennzeichnungsschwellenwertals klare Voraussetzung für Wahlfreiheit und Koexistenzeine Rolle spielen sollte, muss man sich festlegen. Mankann man nicht argumentieren – das tun Sie bedauerli-cherweise –: Einerseits, andererseits, ich meine aber garnichts! Wer so verfährt, nimmt unseren Bauern jedeChance für Wahlfreiheit und Koexistenz.

Ich darf Sie darauf hinweisen, dass zum Beispiel derTräger des Alternativen Nobelpreises des letzten Jahres,ein Biologe und Genetiker aus Äthiopien, der sicherlichauch Ihren strengen fachlichen Ansprüchen genügt, sehrdeutlich die Mängel des Goldenen GV-Reises kritisierthat. Er meinte auch, das die Grundsätze von Wahlfreiheitund Nichtabhängigkeit, auf die wir für unsere BauernWert legen, auch für die Bauern in den sich entwickeln-den Ländern gelten müssten. Er wies auch deutlich aufdie Probleme von GMO beispielsweise für Auswirkun-gen auf die Sozialstruktur und die Abhängigkeit von ge-werblichen Schutzrechten hin. Er befürchtet sogar, dass

sich das Armutsproblem durch den Einsatz der grünenGentechnik vielfach verschärfen werde – aber auch dasist zunächst nur eine Meinung –, und weist außerdemdarauf hin, dass man die Bedeutung der Artenvielfalt,also der Biodiversität, selbstverständlich auch unter bio-logischen Gesichtspunkten zur Kenntnis zu nehmenhabe. Das ist das, was auch ich tue und empfehle.

Lassen Sie mich nochmals deutlich sagen, dass bei ei-nem Schwellenwert über der technischen Nachweisbar-keit für die Kennzeichnung von Futtermitteln die Chancenfür Wahlfreiheit und Koexistenz nicht mehr bestehen. Dasist so. Und darüber, welche der Erwartungen an Biotech-nologie und grüne Gentechnik tatsächlich erfüllbar seinkönnen, sollten wir – dafür habe ich plädiert – sehr sorg-fältig beraten.

Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt zu der Stu-die aus England ansprechen. Ich habe es mir angewöhnt,dass ich eine neue Studie – die jetzt vorliegende ist in derTat im Internet zu bekommen und ist sehr dick – erst ein-mal lese und sie dann mit Kollegen und Fachleuten be-spreche. Da die Studie aus England erst in dieser Wocheveröffentlicht wurde, wird man noch Zeit benötigen, umsie genau einzuschätzen. Ich denke, dazu wird in unse-rem Ausschuss jede Möglichkeit bestehen. Wenn Sie,Frau Happach-Kasan, diese Studie offenbar per Hand-auflegen bewerten können, dann sage ich Ihnen: Ichkann das nicht und bisher hat nur Carlo Schmid so etwasgeschafft.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Helmut Heiderich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In we-

nigen Tagen trifft sich die FAO in Rom, um dort erneutüber den „Kampf gegen den Hunger“ zu debattieren. Siewird dort sicherlich die Forderungen betreffend die Nut-zung der Bio- und Gentechnik fortschreiben, die sie be-reits beim Weltgipfel im vergangenen Jahr formulierthat. Frau Künast und Frau Däubler-Gmelin, auch das istBestandteil der Forderungen internationaler Organisatio-nen. Warum wird genau dieser Punkt von Ihnen in allenIhren Reden unterschlagen? Auch das sollten Sie eigent-lich erwähnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn alle Fachleute kommen weltweit übereinstimmendzu dem Ergebnis, dass diese Technologie in den nächstenJahrzehnten wichtige Beiträge zur Ernährung der Welt-bevölkerung leisten kann. Wir behaupten nicht, dass siedie Ernährung der Weltbevölkerung alleine sicherstellenkann. Aber sie kann, wie gesagt, einen Beitrag leisten.Wenn man sie verhindert, dann verhindert man auch einepositive Entwicklung.

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Helmut Heiderich

Zwei Entwicklungen stehen unverrückbar fest: Ers-tens. Die Weltbevölkerung wird sich in absehbarer Zeitmehr als verdoppeln. Zweitens. Die verfügbare landwirt-schaftliche Nutzfläche pro Kopf wird auf weniger als dieHälfte zusammenschrumpfen. Als Fachleute behauptenwir nicht, dass diese Herausforderungen alleine mit derBiotechnik zu meistern seien. Aber sie werden auchnicht alleine durch Ihren Antrag zur Landreform sowiedas, was Sie jetzt vorgetragen haben, gemeistert werden.Die Erfolge der grünen Revolution haben jedenfalls ge-zeigt, wie deutlich solche neuen Technologien zur Be-kämpfung des Hungers beitragen können.

Die Biotechnik steht noch am Anfang, obwohl sie be-reits auf 60 Millionen Hektar eingesetzt wird. Aber siebietet unendlich viele Möglichkeiten, die wir uns geradeerst zu erarbeiten beginnen. Trotzdem, Frau Künast, blo-ckiert die Bundesregierung deren Erforschung, Entwick-lung und Anwendung in Deutschland bereits seit Jahren.Was Sie eben zu den Grenzwerten vorgetragen haben,Frau Däubler-Gmelin, wird diese Blockade weiter erhö-hen.

Ich bringe Ihnen einmal eine Warnung der deutschenWissenschaft zur Kenntnis, die aktuell an uns gerichtetworden ist: Mit diesen neuen Gentechnikregeln von FrauKünast wird Forschung zur grünen Gentechnik inDeutschland nicht mehr möglich sein. – Die Leute wis-sen, wovon Sie reden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Inzwischen ist die Bundesregierung in sich völlig zer-stritten. Die BMBF-Ministerin Bulmahn hat am Montagdieser Woche erklärt: Nach weltweiten Schätzungen wirdim Jahr 2020 jede zweite Innovation mit einem biotechno-logischen Verfahren zusammenhängen. – Der BMWA-Minister Clement – er war vorhin noch hier – sagte imMai 2003 in Washington: Ich werde mit Nachdruck da-für eintreten, dass Europa sein De-facto-Moratorium beigentechnisch veränderten Produkten aufgibt. – LiebeFrau Däubler-Gmelin, würden Sie sagen, dass auch diesebeiden jede Seriosität in der Diskussion um diesesThema vermissen lassen, oder haben Sie da eine andereMesslatte, als wenn Sie über uns reden?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die positiven Einstellungen werden durch die ideolo-gische Verklemmung von BMVEL-Ministerin Künastständig ausgebremst und konterkariert. Die Ministerinredet öffentlich zwar immer von Wahlfreiheit, meint da-mit aber wohl eher, dass sich jeder in diesem Lande ih-rem einseitigen Weltbild völlig unterwerfen müsse.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Bevormundung meint sie!)

Sie haben uns vorhin vorgeworfen, dass wir Polemikin die Diskussion hineinbringen. Ich sage Ihnen: DieRede von Frau Künast war eine einzige Attacke auf un-seren Antrag und auf die Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast,Bundesministerin: Das stimmt! – UlrikeHöfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das

ist auch richtig so! – Friedrich Ostendorff[BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat ergut erkannt!)

Ich will einige wenige Beispiele dazu vortragen, wiewir nach unserer Auffassung die Biotechnik hilfreich imKampf gegen den Hunger einsetzen könnten. Ich meine,dass wir als Technologienation genau an dieser Stelle et-was leisten müssen, damit die Entwicklungsländer trans-gene Innovationen in ihren landesüblichen Pflanzenan-bau einbringen können. Die Labors haben ja schoneiniges entwickelt, zum Beispiel Süßkartoffeln mit einereingebauten Virusresistenz, wodurch die heute üblichenErtragsverluste von bis zu 80 Prozent vermieden werdenkönnen, oder Bananenpflanzen, die gegen den Sigatoka-Pilz resistent sind. Auf Hawaii ist der Papaya-Ringspot-Virus durch Gentechnik erfolgreich bekämpft worden.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Kein Viehfutter!)

Die Papayaproduktion auf Hawaii ist heute überhauptnur noch möglich, weil eine solche Veränderung stattge-funden hat. Aber das interessiert Frau Künast natürlichnicht. Sie redet lieber mit anderen, statt sich solche Ar-gumente anzuhören.

Ein weiteres Beispiel ist die Bekämpfung der Wur-zelunkräuter in der Saharazone in Afrika. Heute müssendie Menschen dort, im Wesentlichen die Kinder und dieFrauen, jeden Tag auf das Feld gehen und diese Unkräu-ter von Hand ausreißen. Trotzdem müssen sie amSchluss einen Ernteverlust hinnehmen. Frau Däubler-Gmelin, wo ist da Ihr Blick auf die Sozialstruktur? Ha-ben Sie auch einmal über dieses Thema nachgedacht?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gibt eine ganze Menge Möglichkeiten, die bereitsvorhandenen Entwicklungen auch zum Nutzen der Ent-wicklungsländer umzusetzen, aber wir müssen etwas da-für tun. Da frage ich Sie, Frau Künast: Wo sind der Bei-trag Ihres Ministeriums und der Beitrag Deutschlands alsForschungsnation, um den Entwicklungsländern in die-ser Frage zu helfen? Eines ist doch klar: Die großen pri-vaten internationalen Organisationen kümmern sich zu-nächst um die weit verbreiteten Nahrungsmittel, weil sieja ihren Ertrag erzielen müssen. Aber wir mit unserenUniversitäten und Institutionen hätten die Möglichkeit,etwas für die für die Entwicklungsländer so wichtigenFrüchte und Nahrungsmittel zu entwickeln und mit ih-nen gemeinsam so umzusetzen, dass diese Technik dorterfolgreich angewendet werden kann. Hier liegt unsereAufgabe. Wir sollten einiges tun, um den Entwicklungs-ländern, wie Sie gesagt haben, Hilfe zur Selbsthilfe zugeben.

Gerade die kleinen Landwirte dort brauchen keineneue technische Ausstattung. Sie müssen keine großenKapitalinvestionen vornehmen, um mit dem biotech-nisch fortentwickelten Saatgut Erfolge erzielen zu kön-nen. Es geht doch nicht an, dass wir uns verpflichten,den Entwicklungsländern zu helfen – in der letzten Wo-che haben wir den Entwurf eines Gesetzes zu dem Proto-koll von Cartagena verabschiedet –, und gleichzeitig,wenn es um diese Fragen geht, außen vor bleiben und

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Helmut Heiderich

lieber über Bürokratieabbau in Deutschland statt überErfolge für die Entwicklungsländer diskutieren. Hiersind wir in der Pflicht und hier muss die Bundesregie-rung endlich etwas tun.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPD-

Fraktion.

René Röspel (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Den Hunger in der Welt bekämpfen, das ist eineVorstellung, die wir alle teilen. Den Hunger in der Weltmit grüner Gentechnologie bekämpfen, das ist einegroße, eine sehr interessante Herausforderung. Aber istes eine realistische Herausforderung? Diese Frage musserlaubt sein. Ist der Hunger in der Welt zum Beispielnicht eher – Frau Ministerin Künast und auch HertaDäubler-Gmelin haben darauf hingewiesen – ein Pro-blem der ungerechten Verteilung? Müsste dieses Pro-blem nicht politisch gelöst werden?

(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Auch!)

Kann man ein politisches Problem mit einer technischenAntwort lösen?

(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Unter anderem!)

Ich glaube, auch das ist eine interessante Frage.

Ich habe meine Zweifel, ob grüne Gentechnologie dierichtige Antwort auf diese Frage ist. Ich will das auchbegründen. Wir haben einigen Optimismus gehört. Wennman optimistisch ist, dann kann man sagen, dass der ver-stärkte Anbau gentechnisch veränderter Organismen undNahrungsmittel die Produktion der Entwicklungsländererhöhen könnte. Aber ist diese optimistische Sicht realis-tisch? Ich stelle diese Frage, weil der Zeitraum der Er-fahrungen, die wir mit grüner Gentechnologie haben, ge-messen an der Evolution sehr klein ist. Ist es nichtgeradezu notwendig, Pro und Kontra in einer Angele-genheit, die möglicherweise nicht rückholbar ist, abzu-wägen?

Herr Carstensen und Sie von der FDP haben heutewie üblich behauptet, wir seien vorurteilsbehaftet undideologieverblendet. Es wird langsam langweilig. Es warfast herausragend, dass Herr Heiderich auch einmal einpaar positive Beispiele genannt hat. Ich will Ihnen einigeArgumente nennen, die mindestens zum Nachdenken an-regen sollten.

Mein Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker hat letzteWoche von dieser Stelle von seiner Reise nach Indien indiesem Monat berichtet. Er traf dort Bauern, die einegentechnisch veränderte Baumwollart anpflanzen. Die-ser Baumwollart wurde ein Gen aus einem Bodenbakte-rium eingepflanzt, das das Insektizid gegen den ärgstenFeind selbst produziert. Dieses Saatgut ist zwar viermalso teuer wie das bisher verwandte konventionelle; aberdie Mittel für die höheren Kosten sollten dadurch wieder

hereinkommen, dass die Bauern weniger Pestizide ein-setzen müssen.

Diese Rechnung ist nicht aufgegangen; das Gegenteilist eingetreten. Der Pestizideinsatz der Bauern ist größergeworden, weil auch andere Schädlinge auftraten, undder Ernteertrag war deutlich geringer als beim Einsatzdes konventionellen Saatgutes. Den Schaden haben nundie Bauern in Indien, die weit weg von diesem Hausesind. Ich glaube, das muss man berücksichtigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Bt-Insektengiftgen ist übrigens eines der Vorzei-geprodukte der grünen Gentechnologie. Auch wird im-mer propagiert, wie sinnvoll der Einsatz des so genann-ten Bt-Maises gegen den ärgsten Feind des Maises, denMaiszünsler, sein könne. Man ist zunächst geneigt, zuglauben, dass man im Vergleich zu normalen Maispflan-zen weniger Pestizide, also weniger Insektengift, aus-bringen muss.

Bt ist übrigens das einzige im ökologischen Landbauzugelassene Gift. Es wird bei Befall der Pflanzen in sei-ner inaktiven Kristallform auf die Felder versprüht. Erstim Magen der Insekten wird es – diese interessante Vari-ante kennen wahrscheinlich die wenigsten – in die ak-tive, giftige Form umgewandelt. Wenn es von den Insek-ten nicht aufgenommen wird, dann wird es vomSonnenlicht binnen weniger Stunden zerstört; das Giftkann nicht mehr aktiv werden und es bilden sich keineResistenzen.

Genau das ist der elementare Unterschied zum gen-technisch veränderten Mais; er produziert dieses Giftnämlich ständig in seiner aktiven Form. Untersuchungenhaben gezeigt, dass dieses Gift nach der Ernte im Pflan-zenabfall noch persistent ist. Das führt schlicht und ein-fach dazu, dass die Gefahr sehr groß ist, dass die Schad-insekten Resistenzen ausbilden. Wenn Resistenzenausgebildet werden, dann bedeutet das automatisch dasAus für den ökologischen Landbau und die Nutzung desBt-Giftes.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Röspel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heiderich?

René Röspel (SPD): Ja.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Heiderich, bitte, Sie haben das Wort.

Helmut Heiderich (CDU/CSU): Herr Kollege Röspel, da Sie hier über die Frage des

Bt-Maises sprechen, sind Ihnen sicherlich auch die Stu-dien aus Nordamerika bekannt, die genau zu diesemProblem der Resistenzen gemacht worden sind. Im End-ergebnis hat man in allen Studien festgestellt, dass esselbst dort nicht zu solchen Resistenzen gekommen ist,wo man keine Refuges, also Bt-Mais-freien Zonen,

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Helmut Heiderich

eingerichtet hat. So hat sich das Problem, das Sie ebenangesprochen haben, in der landwirtschaftlichen Praxisnicht bewahrheitet.

René Röspel (SPD): Das stimmt in dieser Konsequenz nicht. Es gibt zwar

in der Tat diese Studien, es gibt aber auch andere Stu-dien, die zu anderen Ergebnissen gekommen sind. Dashat dazu geführt, dass die US-amerikanische Umweltbe-hörde, die für die Zulassung zuständig ist, die EPA, denAnbau von Bt-Mais nur zulässt, wenn ein Insektenresis-tenz-Managementprogramm nachgewiesen wird. Daswiederum beinhaltet, dass auf 20 Prozent jeder Anbau-fläche konventioneller Mais angebaut werden muss. Derwissenschaftliche Beirat bei der EPA hat übrigens einenAnteil von 50 Prozent gefordert, das heißt, man hätte aufder Hälfte der Fläche konventionellen Mais anbauenmüssen, um sicherstellen zu können, dass es zu keinenResistenzen kommt. Gerade aufgrund der Erkenntnissein den USA, dass es Resistenzen gibt, hat die EPA, dienun wirklich nicht technikfeindlich ist, dieses Manage-ment in den USA vorgeschrieben.

An diesem Punkt wird deutlich, dass diese Technolo-gie schlicht und einfach nicht dazu geeignet ist, unter inEntwicklungsländern herrschenden Bedingungen ange-wandt zu werden. Dort gibt es in der Regel wenig großeFlächen. Außerdem setzt diese Technologie ein Vorge-hen und eine Kenntnis von Landwirtschaft voraus, dieüblicherweise in den kleinbäuerlichen Strukturen nichtvorhanden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt übrigens andere Wege – es wird ja immer nachAlternativen gefragt –: 65 000 Kleinbauern in Bangla-desh versuchen künftig, ohne Chemie Landwirtschaft zubetreiben, das heißt auch ohne Abhängigkeit von Impor-ten und großen Konzernen. Sie bauen im WechselFrüchte wie Zwiebeln, Knoblauch, Rettich, Linsen, Kar-toffeln, Kürbisse und Zuckerrohr an. Statt Kunstdüngernehmen sie stickstoffhaltige Hülsenfrüchte oder Was-serhyazinthen; man kann immer noch dazulernen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,Sie bezeichnen in Ihrem Antrag an anderer Stelle – dashaben wir heute schon mehrfach gehört – den so genann-ten goldenen Reis als mögliche Waffe gegen Vitamin-A-Mangel, der ja leider sehr häufig Kinder in der DrittenWelt betrifft. Was ist das nun für ein Reis? In diesen hatman gentechnisch Betacarotinmoleküle eingebaut, diedie Vorstufe von Vitamin A darstellen. Die Chemikerund Biologen, verehrte Kollegin von der FDP, wissen,dass Betacarotin ein fettlösliches Molekül ist. Das heißt,Sie können es nur für den Körper verfügbar machen,wenn Sie geeignete fettreiche Nahrung zu sich nehmen.Deswegen essen wir den Salat mit Öl, um diese Mole-küle überhaupt mobilisieren zu können. Nun gibt es abergerade in den Bereichen, wo Vitamin-A-Mangel kombi-niert mit anderen Mangelerscheinungen auftritt, keineMöglichkeit, sich fettreich zu ernähren. Das heißt, werwill, dass Golden Rice als Mittel gegen Mangelerschei-nungen geliefert und angebaut wird, muss auch für fett-

reiche Ernährung sorgen, damit dessen Wirkungen über-haupt mobilisiert werden können. Ansonsten wirdBetacarotin vom Körper ausgeschieden, ohne dass es inVitamin A umgewandelt wurde. Das ist schlicht und ein-fach wissenschaftliche Erkenntnis, die berücksichtigtwerden muss. Golden Rice bringt also auch Schwierig-keiten mit sich.

Das Verrückte an dieser ganzen Geschichte ist: Derursprünglich in den Entwicklungsländern angebauteReis, der braune Reis, enthält in seiner Schale genugBetacarotin und sogar Vitamin A. Er ist aber von dem inder westlichen Zivilisation bevorzugten weißen Reisverdrängt worden. Dadurch, dass kein brauner Reis mehrangebaut bzw. dieser nicht mehr ungeschält gegessenwird, entstand das Vitamin-A-Problem.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Eines ist allen Technologien gemeinsam, die wir indie Dritte Welt exportieren: Sie werden einheimische,standortgerechte, bodenständige, traditionelle Verfahrenund Saatgute verdrängen und neue Abhängigkeiten vongroßen Konzernen der ersten Welt schaffen und wahr-scheinlich kleinbäuerliche Strukturen dauerhaft zer-stören. Es ist nicht zu erwarten, dass diese teure Techno-logie den Entwicklungsländern dauerhaft gratis zurVerfügung gestellt wird. Das Eigeninteresse der Indus-trieländer wird natürlich bestehen bleiben. Einige Kolle-gen und ich haben das gestern wieder direkt erfahrenkönnen.

Wir hatten Besuch von einem Reisbauern aus Thai-land. Dieser Besuch wurde vermittelt von einer Organi-sation, die nicht unbedingt verdächtig ist, der Gentech-nik mit Vorurteilen zu begegnen, nämlich von Misereor,dem Hilfswerk der katholischen Kirche. Dieser Reis-bauer aus Thailand hat uns nicht nur die Situation seinerFamilie, sondern auch die Situation von 5 MillionenKleinbauern in der Region, in der er lebt, geschildert.Diese Bauern leben vom Anbau des Jasminreises. Dasist ein Reis mit einem besonderen Aroma, der in dieUSA exportiert wird. Damit erzielen die Bauern einenTeil ihrer Erlöse.

Die USA versuchen nun im Rahmen eines For-schungsprojekts, diesen Reis mit gentechnischen Verfah-ren an die klimatischen Bedingungen in den USA anzu-passen. Gelingt der Anbau in den USA, wird denthailändischen Bauern die Existenzgrundlage entzogen.Dann werden wir wieder eine Debatte führen und unswahrscheinlich überlegen, mit welchen gentechnischenMethoden wir diesen Bauern helfen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Regelmäßig erscheinen neue wissenschaftliche Ar-beiten zu den Auswirkungen der Gentechnologie aufdie Umwelt, manchmal mit gegensätzlichen Aussagen:Mendelsohn et al. relativieren in der September-Ausgabevon „Nature Biotechnology“ die Auswirkungen von Bt-Pflanzen auf die Umwelt. In Großbritannien gibt es dieweltweit größte Studie zu den Auswirkungen gentech-nisch veränderter Nutzpflanzen. Im Rahmen dieser Stu-

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René Röspel

die wird von massiven Auswirkungen auf die Vielfaltvon Ackerkräutern und auf die Insektenfauna gespro-chen. Wir wissen also nicht eindeutig, welche Folgendas Ausbringen von gentechnisch veränderten Pflanzenin die Natur haben kann.

Ich habe vor einigen Wochen zusammen mit HerrnBundestagspräsident Thierse von der Aktion „Mensch“das Ergebnis der Kampagne „www.1000fragen.de“überreicht bekommen. Eine der Fragen hat mich sehr be-eindruckt: Dürfen wir ein Spiel spielen, dessen Regelnwir nicht verstehen? Wenn wir nicht wissen, welcheKonsequenzen es haben kann, ein Gen aus einem Bo-denbakterium in eine höhere Pflanze einzubauen, ist esdann nicht sinnvoller, eher zurückhaltend zu sein? Soll-ten wir nicht gerade gegenüber den Entwicklungsländernaufhören, zu glauben, dass unsere Technologie besser seials ihre Tradition?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mein letzter Punkt. Sie sprechen in Ihrem Antrag da-von, dass Gentechnik helfen könnte, Pflanzen zum Bei-spiel gegen Salz toleranter zu machen. Vielleicht sinddie Entwicklungsländer schon weiter, als wir glauben.Ein thailändischer Forscher hat sich die 7 000 einheimi-schen Reissorten vorgenommen und hat 230 Varietätenunter salzhaltigen Bedingungen in seinem Institut ange-baut. Vier Sorten haben diese salzhaltigen Bedingungenertragen. In ihrem Anbau liegt die Zukunft in dieser salz-haltigen Region: ohne Gentechnik und mit Sorten, diedie einheimischen Bauern bezahlen können und die sieselbst vermehren können, weil diese Sorten seit Jahrhun-derten an die dortigen Bedingungen angepasst sind.

Ich hoffe, ich habe Ihnen ein wenig erläutern können,warum ich glaube, dass wir das Problem der Welternäh-rung nicht technisch lösen können. Die wichtigsten Ur-sachen haben andere schon erwähnt. Technik hilft dawenig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Albert Deß, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Albert Deß (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Bedeu-tung der grünen Gentechnik für die Welternährung gibtGelegenheit, auf die Chancen der modernen Biotechno-logie hinzuweisen und die Öffentlichkeit erneut über dieunsinnige Bremserrolle von Rot-Grün bei der Nutzungdieser Zukunftstechnologie aufzuklären.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass immer noch über 800 Millionen Menschen,hauptsächlich in den Entwicklungsländern, an Unter-ernährung leiden, ist schlichtweg ein Skandal. Neben

eigenen Anstrengungen der betroffenen Länder ist dieVölkergemeinschaft politisch und moralisch gefordert,alles zu tun, um die Eigenversorgung der von Unter-ernährung betroffenen Länder zu verbessern.

Ein Mittel zur Hungerbekämpfung stellt ohne Zweifelder Einsatz der grünen Gentechnik zur Produktivitäts-steigerung in den Entwicklungsländern dar. Diese mo-derne Technologie, Herr Kollege Röspel, ergänzt diekonventionellen Verfahren zur Ertragssteigerung. Füreine gesicherte Ernährung der rasant wachsenden Welt-bevölkerung ist der Einsatz der grünen Gentechnik un-verzichtbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jüngstes Beispiel ist die genetische Schaffung des sogenannten Goldenen Reises – er wurde gerade schonangesprochen – durch Professor Ingo Potrykus von derTechnischen Hochschule in Zürich und Professor PeterBeyer von der Universität Freiburg. Beide Biologen ha-ben die Gene von Reispflanzen so verändert, dass sieVitamin A produzieren. Diese revolutionäre Entwick-lung ist für mehr als 2 Milliarden Menschen in der Drit-ten Welt, die sich hauptsächlich von Reis ernähren, vongrößter Bedeutung. 400 Millionen Menschen hat die ein-seitige Ernährung krank gemacht. Denn herkömmlichemReis fehlt das lebenswichtige Vitamin A. Wegen diesesVitaminmangels wird jedes Jahr rund eine halbe MillionKinder blind geboren.

Wie das ZDF am 29. Juli 2003 in „Frontal 21“ ein-drucksvoll berichtete, kann laut Professor Potrykus miteiner Tagesration von 200 Gramm von diesem GoldenenReis der Vitamin-A-Mangel für rund 2 Milliarden Men-schen beseitigt werden. Wenn hier behauptet wird, dassdadurch eine Abhängigkeit von Konzernen geschaffenwerde, ist das – das sage ich mit aller Deutlichkeit – ge-rade in diesem Fall eine glatte Lüge und nichts anderes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieser Goldene Reis geht kostenlos, ohne Einschränkun-gen und ohne irgendeine Limitierung an die Reiszüchterin den Entwicklungsländern und wird zurzeit weiterent-wickelt, um dort die notwendigen lokalen und regiona-len Sorten für die Bevölkerung herzustellen. Wie wollenSie hier eine Abhängigkeit erklären, wenn die Patentekostenlos dorthin geliefert werden?

Vitamin-Gene werden in traditionelle Reissorten ein-gekreuzt. Reisforscher sprechen von einem historischenEreignis: Goldener Reis werde – Rot-Grün wird dasnicht verhindern – die Gesundheit der Menschen verbes-sern. In den USA gelten die Erfinder schon als Nobel-preiskandidaten. Die Heimatländer der Erfinder aber,Deutschland und die Schweiz, bewilligen ihnen nichteinmal Forschungsgelder.

So kann man mit seinen führenden Wissenschaftlernnicht umgehen. Deshalb fordere ich die rot-grüne Bun-desregierung auf, ihre ideologischen Scheuklappen ab-zulegen und die Forscher Professor Ingo Potrykus undProfessor Peter Beyer als Nobelpreisträger vorzuschla-gen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Albert Deß

Die selbst ernannten Menschheitsbeglücker vonGreenpeace aber kritisieren den Goldenen Reis als Tro-janisches Pferd der Saatgutindustrie und beschwören an-gebliche Gefahren. Wie der genannte ZDF-Bericht zeigt,bringt Greenpeace aber nicht Frieden, sondern Unfrie-den: So zerstörte kürzlich eine Greenpeace-Gruppe eingentechnisches Versuchsfeld in Gotha, das vorher vonden zuständigen Bundesbehörden genehmigt wordenwar. Wo, Frau Ministerin Künast, bleibt Ihre eindeutigeDistanzierung von diesem Gesetzesbruch?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Künast lehnt die Gentechnik als Mittel zur Hun-gerbekämpfung ab, schließt sich der Desinformation vonGreenpeace an und behauptet in dieser ZDF-Sendungsogar, dass die grüne Gentechnik nur den Interessen derinternationalen Saatguthersteller diene. Frau Künast,wenn Sie etwas für die Kleinbauern in der Dritten Welttun wollen, dann – ich habe das gestern in der Aus-schusssitzung angesprochen – müssen Sie sich bei derWTO für eine ganz andere Richtung einsetzen, als sieheute verhandelt wird. Denn wenn die Agrarmärkte voll-ständig liberalisiert werden, werden die Leidtragendendie Kleinbauern in den Entwicklungsländern sein, weildann nur noch die Agrarkonzerne in den Industrielän-dern und in den Entwicklungsländern überleben werden.Aber dazu habe ich von Ihnen nichts gehört.

(Renate Künast, Bundesministerin: Was?)

Biologen in der Dritten Welt halten die Ablehnungder grünen Gentechnik als Mittel zur Welthungerbe-kämpfung zu Recht für westliche Arroganz und werfenden Industrieländern vor, den weltweiten Hunger nichternst zu nehmen. Ein Professor aus Nairobi sagte indieser Sendung:

Das reiche Europa hat die Wahl: Genfood – ja odernein? Segen oder Fluch? – Hungerländer haben sienicht.

Wir sollten den Ländern, in denen Hunger herrscht,helfen, indem wir ihnen die Ergebnisse unserer For-schung kostenlos zur Verfügung stellen, damit sie denHunger im eigenen Land besser bekämpfen können.Dies wäre wirkungsvolle Entwicklungshilfe.

Eines sage ich in aller Deutlichkeit: Mit sozialisti-schen Ideen lässt sich der Hunger in der Welt nicht be-kämpfen. Da kann mit grüner Gentechnik wesentlichmehr erreicht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie unglaubwürdig die Bundesregierung ist, möchteich an einem Beispiel darstellen. BundeskanzlerSchröder besuchte im Juni 2000 die Saatgutfirma KWS.Er sprach dort den Forschern und Unternehmern im Be-reich der grünen Gentechnik höchstes Lob aus und botihnen an, dass der Staat und die Wirtschaft gemeinsamein Anbau- und Forschungsprogramm fördern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist doch genau das Gegenteil von dem, was heutevon Rot-Grün vorgetragen wird. Aber Widersprüche ge-hören zu dieser Bundesregierung; das sind wir gewohnt.

Wir werden mit unserem Antrag dafür sorgen, dass inder Öffentlichkeit über die grüne Gentechnik im Zusam-menhang mit der Welternährung sachgerecht diskutiertwird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,

Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bedanke mich ganz herzlich bei der CDU/CSU-Fraktion für die Möglichkeit, diese Debatte heutezu führen. Damit hört der Dank aber auch schon auf;denn ich finde Ihre Argumente wirklich gruselig. Siesind voller Ideologie.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ihre Ideologie, die Sie unter dem Deckmantel, das Hun-gerproblem in der Welt – das nehme ich Ihnen übel – mitder Gentechnik lösen zu wollen, verbreiten, finde ich in-fam. Das ist ein leeres Versprechen, von dem keiner sattwird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich gehe noch einmal – eigentlich wollte ich es nichttun – auf den Golden Rice, diese angebliche Wunder-waffe, ein. Erstens wird er – das Bundesministerium fürVerbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hathier nachgeforscht – nicht kostenlos abgegeben.

Zweitens ist diese Art von Zwangsmedikation – dasmöchte ich den Ausführungen meines Kollegen Röspelhinzufügen – keineswegs positiv für die menschlicheGesundheit. In der EU wurden extra, von Deutschlandunterstützt, Grenzwerte in Bezug auf Betacarotin einge-führt, weil die Verwendung von Betacarotin für die Ge-sundheit problematisch ist.

Drittens beinhaltet das Recht auf Nahrung die Mög-lichkeit – damit komme ich noch einmal auf die WTO-Konferenz in Cancun zurück; das möchte ich den Aus-führungen der Ministerin hinzufügen –, die Zwangsbe-glückung in Form von gentechnisch veränderten Nah-rungsmittelhilfe zurückzuweisen, wie das Sambia nachden Problemen, die in Mexiko bestehen, zu Recht getanhat. Das betrifft darüber hinaus die Aspekte der Nach-haltigkeit. Denn die Ackerflächen gehen doch aufgrundnicht standortgemäßer Bewirtschaftung verloren. Hiermuss etwas getan werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

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Ulrike Höfken

Erneuerbare Energien wären zum Beispiel ein gutes Mit-tel, um die Armut in diesen Ländern bekämpfen zu hel-fen und die Hilfe zur Selbsthilfe voranzutreiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Albert Deß[CDU/CSU]: Gerade dazu brauchen wir dieGentechnik!)

Den Ausführungen über Indien will ich hinzufügen:Dort ist gerade die gentechnisch veränderte Sorte einesPartners von Monsanto zurückgewiesen worden, weil siedie lokalen bzw. regionalen Sorten gefährdet, die einebessere Resistenz gegen einen dort vorherrschendenSchädling haben.

Damit komme ich zum Thema Resistenzen – Sie be-rücksichtigen offensichtlich überhaupt nicht die in die-sem Zusammenhang gewonnenen Erkenntnisse –: In denUSA – davon hat der Kollege Röspel gesprochen – gibtes die Erkenntnis, dass es drei neue Mutationen gibt, undzwar im Zusammenhang mit dem Bt-Mais. Auch hiergibt es warnende Schilder, die in Anbaumanagementplä-nen gipfeln und die in allen betroffenen Ländern – auchbei uns – eingeführt werden müssten.

Ich möchte auf die Studie aus Großbritannien zu spre-chen kommen. Sie ist die aktuellste; einige Teile liegenseit längerem vor. In ihr werden wesentliche Punkte dar-gestellt: Erstens ist der Einsatz von gentechnisch verän-derten Agrarprodukten und Lebensmitteln – dasdeckt sich übrigens mit unseren Erkenntnissen – unwirt-schaftlich, weil sie unverkäuflich sind. Der Markt willsie nicht; der LEH lehnt sie ab.

(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das wissen Sie doch nicht!)

– Aber natürlich. Es gibt Dutzende von Untersuchungenin Großbritannien. – Sie sind zweitens unwirtschaftlich,weil sie nicht zu gesicherten höheren Erträgen führen;die entsprechenden Studien kann man zuhauf wiederho-len. Zudem führen sie zu geringeren Kosten.

Sie sind drittens umweltschädlich; sogar die Vögelsind bedroht. Die Auskreuzungen sind wesentlich be-drohlicher, als bisher angenommen. Bisher ging manvon 800 bis 900 Metern aus. Jetzt ist in Großbritannienvon 26 Kilometern die Rede. Das heißt, man muss dieseErkenntnisse einbeziehen.

Das „Handelsblatt“ schreibt heute: „Die Gentechnikist tot.“ Es verweist darauf, dass Monsanto Großbritan-nien verlassen hat. Ich sage einmal: Monsanto hat eswahrscheinlich getan, weil es sowieso pleite ist.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derSPD)

Wir brauchen – das ist für uns wichtig – klare Rege-lungen zur Sicherung der gentechnikfreien Produk-tion; dies ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Koa-litionsvertrages. Sie ist die Voraussetzung für dieWahlfreiheit der Verbraucher, die Sie doch alle wollen.All das, was an gesetzlichen Rahmenbedingungen dazu-

gehört, ist keine Formalität, sondern zwingende Notwen-digkeit:

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

verursachergerechte Haftung, Standortregister, Monito-ring, Schutz der ökologisch sensiblen Gebiete. All diesgehört zur Wahlfreiheit. Wer sich diesen Regelungenvon der Industrieseite widersetzt – die uns immer gesagthat, die Koexistenz sei möglich, jetzt aber plötzlichZweifel äußert und anders lautende Aussagen trifft –, dermuss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass dies ein An-griff auf die Demokratie, die Souveränität der Menschenund die Freiheit von Unternehmern und Verbrauchernist. Der Mensch ist, was er isst; das ist seine Intimsphäre.Wer sie verletzt, verletzt damit auch die Persönlichkeits-rechte des Menschen.

Deswegen begrüßen wir mit allem Nachdruck, dassdie Ministerin Künast in Umsetzung der Freisetzungs-richtlinie ein neues Gentechnikgesetz

(Albert Deß [CDU/CSU]: Ein Behinderungs-gesetz!)

in die Diskussion und in die Ressortabstimmung ge-bracht hat. Ihnen, insbesondere denen, die vor allem dieWirtschaft im Auge haben, lege ich nahe, was die Bau-ern sagen. Sie sagen, sie brauchten den Frieden in denDörfern, sie brauchten Schwellenwerte – die 0,1 Mikro-gramm sind gerade nach den britischen Studien wich-tig –,

(Albert Deß [CDU/CSU]: Das sagt Greenpeace!)

die es in der Praxis ermöglichen, dass man die Food- undFeed-Verordnung tatsächlich einhalten kann. Ferner sa-gen die Bauern, sie wollten keine Kosten für diejenigen,die gentechnikfrei produzieren. Ich füge hinzu: Wir wol-len auch nicht, dass der Bundeshaushalt mit weiterenKosten belastet wird.

Der Bundesverband für Verbraucherschutz lehntebenfalls jede Maßnahme ab, die die Wahlfreiheit derVerbraucher gefährden könnte.

In diesem Sinne werden wir in die Diskussion gehen,um den Schutz der gentechnikfreien Produktion zu-nächst einmal national zu gewährleisten; die EU hat sichja um Regelungen herumgedrückt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir werden – auch unterstützt von der heutigen Dis-

kussion; hier bin ich ganz zuversichtlich – damit erfolg-reich sein.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Reichard,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich

beginne mit einer Meldung von gestern: In Deutschlandhaben mittlerweile jedes fünfte Kind und jeder dritteTeenager Übergewicht. Die meisten essen zu viel, zu fettoder zu süß. Mit einer groß angelegten Kampagne willBundesverbraucherministerin Renate Künast nun demÜbergewicht der Jugend in Deutschland zu Leibe rü-cken. Die Welternährungsorganisation meldet zur selbenZeit, dass über 800 Millionen Menschen an Hunger lit-ten und weitere 1,5 Milliarden von Mangelernährung be-troffen seien, und sagt, es seien verstärkte Anstrengun-gen erforderlich, um das Millenniumsziel überhauptnoch erreichen zu können. Diese Meldungen zeigen uns,dass sowohl der Mangel als auch der Überfluss Pro-bleme bereiten.

Wir können und dürfen nicht zusehen, wenn Millio-nen von Menschen hungern. Im Gegenteil, wir im rei-chen Norden stehen gerade deshalb in der Verantwor-tung, weil wir mit unserem wissenschaftlichen undtechnischen Know-how dazu beizutragen können, dieseNot entscheidend zu lindern. Fruchtbares Ackerland istin den meisten Entwicklungsländern ein knappes Gut,das durch Wüstenbildung sogar zusätzlich gefährdet ist.Daher muss auf derselben Fläche eine höhere Ernte er-zielt werden, möglichst ohne Böden und Grundwasserstärker zu belasten. Dafür brauchen wir auch neue An-sätze und müssen die Erkenntnisse von Wissenschaftund Forschung für diese Aufgaben nutzbar machen. Na-türlich sind gute Regierungsführung, der Zugang zuWasser und Land und funktionierende Märkte von gro-ßer Bedeutung; das will hier niemand infrage stellen.Aber es wird eben auch die grüne Gentechnik gebraucht.Sie schließt keine der anderen Strategien aus.

Mit unserem Antrag wollen wir besonders die Chan-cen der grünen Gentechnik bei der Bekämpfung vonHunger und Mangelernährung in den Mittelpunkt einerparlamentarischen Debatte stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Durch gentechnische Methoden können Pflanzen gegentierische Schädlinge, aber auch gegen Virus- und Pilz-erkrankungen resistent werden. Der Verlust von Erntenließe sich entscheidend reduzieren. Gentechnik kannhelfen, Pflanzen in Bezug auf Einflüsse von Dürre undSalz tolerant zu machen, sodass sie auch auf schlechtenBöden besser wachsen können. Auch die Qualität vonNahrungsmitteln ließe sich deutlich verbessern.

Wir haben es schon mehrfach gehört: Durch Vita-minanreicherung im Reis könnte die Kindersterblichkeitum etwa ein Viertel gesenkt werden. Das glaubt nicht ir-gendwer, sondern das ist die Einschätzung der Weltge-sundheitsorganisation.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)

Besonders hervorheben möchte ich die positiven Um-weltaspekte. Resistente Pflanzen können zu einem deut-lich reduzierten Einsatz von chemischen Pflanzenschutz-und mineralischen Düngemitteln führen. Dagegenspricht auch nicht das eine oder andere Beispiel, bei demdas nicht der Fall ist. Aber durch diese Technik erhaltenwir Chancen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Sie helfen uns, Böden und Grundwasser vor Belastungenzu schützen.

Ist Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von derKoalition, eigentlich klar, dass die grüne Gentechnikauch große Chancen für den Naturschutz bietet? Ertrag-reiche Sorten können helfen, die Rodung von Regenwäl-dern und Savannen zu verhindern. Sie leisten damit ei-nen Beitrag zum Klimaschutz.

(Lachen des Abg. Matthias Weisheit [SPD])

– Das ist überhaupt nicht zum Lachen, Herr Kollege.

Vor allem aus ideologischen Gründen verschließenSie die Augen vor dieser Schlüsseltechnologie. LassenSie mich auf ein Beispiel aus meinem Wahlkreis verwei-sen.

(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dort sind die Regenwälder!)

Dort will die Bundesanstalt für Züchtungsforschungnach langjähriger, öffentlich finanzierter Forschung gen-veränderte Apfelbäume freisetzen, um die Resistenz ge-gen Schädlinge zu testen. Grüne Bundestagsabgeordnetekämpfen nun gegen die Freisetzung dieser Bäume undstellen damit den Erfolg dieser Investition infrage.

(Renate Künast, Bundesministerin: Das stimmt nicht!)

Um den Erhalt dieser Forschungseinrichtung hatte ichmich vor Jahren erfolgreich bemüht

(Beifall des Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU])

und bin über die zukunfts-, forschungs- und standort-feindliche Aktion dieser Abgeordneten entsetzt.

Natürlich dürfen wir mögliche Risiken nicht außerAcht lassen. Auch die Risikobewertung muss Teil derForschung sein und bleiben. Das ist doch selbstverständ-lich. Ich fordere die Bundesregierung auf, die Öffent-lichkeit endlich objektiv und nicht einseitig über diegrüne Gentechnik zu informieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich erwarte, dass das angekündigte 100-Millionen-Euro-Programm für Biotechnologieunternehmen, das amMontag dieser Woche verkündet wurde, auch für dieFörderung der grünen Gentechnik eingesetzt wird.

Angesichts der Potenziale der grünen Gentechnik fürdie Welternährung und die Umwelt ist eine Politik, wel-

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Christa Reichard (Dresden)

che Forschung, Entwicklung und Anwendung der grü-nen Gentechnik hemmt, einfach verantwortungslos. Wirhaben die Chance, einen Beitrag gegen Hunger undMangelernährung zu leisten. Nutzen wir sie!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Reinhold Hemker,

SPD-Fraktion.

Reinhold Hemker (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Im Antrag, über den wir heute debattieren, wird mitRecht auf den Welternährungsgipfel des Jahres 1996 undseine Abschlusserklärung verwiesen. Es wird im Antragdeutlich, dass die Nachfolgekonferenz im Jahr 2002noch einmal die Brisanz der Welternährungskrise be-wusst gemacht hat. In der Abschlusserklärung wurdeauch betont, dass weltweit kaum Fortschritte erzielt wur-den.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: So ist es!)

Vor allem wurden die Rahmenbedingungen nationalund international nicht so verbessert, dass mit besserenProduktionsbedingungen für Nahrungsmittel sowohl inquantitativer als auch in qualitativer Hinsicht zu rechnenist. Der im Antrag erwähnte so genannte versteckte Hun-ger, also Mangelernährung, konnte nicht eingeschränktwerden.

Die Bemühungen im Rahmen des Welternährungs-programms, auf das verwiesen wird, für und in be-stimmten Notstandsgebieten haben im Übrigen dazu bei-getragen – zum Teil mit Miniüberlebensrationen ausgentechnisch verändertem Mais bzw. Soja –, dass dieZahl der Verhungerten bzw. Verhungernden vorüberge-hend zurückgegangen ist und weiter zurückgeht, HerrCarstensen. Allerdings wurden und werden damit keineChancen für ein lebenswertes Leben eröffnet. Aber – dasist das Entscheidende – insgesamt ist die Produktions-,Verteilungs- und damit auch die Versorgungssituationzurzeit so, dass – darauf ist schon hingewiesen worden –die Ziele des Aktionsprogramms 2015 weltweit auchnicht annähernd erreicht werden können. Das ist daseigentliche Problem und der eigentliche Skandal.

Ein Mangel an Nutzung der Chancen der grünen Gen-technik bestand und besteht in diesem Zusammenhang– so stellt es auch die FAO dar – nicht, wie es die CDU/CSU in ihrem Antrag direkt oder indirekt unterstellt.Aber es besteht nach wie vor ein Mangel darin, dieAuswirkungen der Kolonialzeit abzustellen und die Be-dingungen der Globalisierung sowie die ungerechteWelthandelsordnung mit tief sitzenden spürbaren struk-turellen Problemen zu ändern. Dafür müssen wir unseinsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord-strand] [CDU/CSU]: Stimmt! Gar keineFrage!)

Hinzu kommt, dass sich die Besitz- und Eigentums-verhältnisse nicht geändert haben. Diese wurden oft so-gar politisch und ökonomisch stabilisiert und verstärkt.Das ist ein weiterer Skandal. So führen zum Beispielfehlende Bestimmungen über Mindestbetriebsflächen,das Fehlen einer Grundsteuer in vielen Ländern, fehl-geleitete Subventionen und Steuervorteile und die all-gemeine Orientierung der bestimmenden Gesetze amPrinzip des Großfarmbetriebes weiterhin zu einer unge-rechten Landverteilung.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Deß?

Reinhold Hemker (SPD): Gerne.

Albert Deß (CDU/CSU): Herr Kollege Hemker, ich bin Ihrer Meinung, dass in

vielen Entwicklungsländern die Besitz- und Eigentums-verhältnisse nicht in Ordnung sind. Aber sind Sie mitmir der Meinung, dass in Simbabwe durch die Verände-rung der Besitzverhältnisse, die dort vorgenommen wor-den ist bzw. wird, die Ernährungssicherung für das Landverstärkt wird, sodass dort die Einkommenssituation derBevölkerung verbessert wird?

Reinhold Hemker (SPD): Lieber Kollege Deß, Sie wissen, dass ich in letzter

Zeit an der Erarbeitung vieler Anträge beteiligt war, indenen auf die skandalöse Landverteilung sowie die da-raus resultierenden Konflikte hingewiesen worden ist.Einen solchen Konflikt gibt es in der Tat in Simbabweim Zusammenhang mit den schlimmen und ungerechtenMethoden des Regimes und der Mobilisierung von jun-gen Kräften, den so genannten Green Bombers, die ab-seits aller gesellschaftlichen Strukturen gelebt haben unddeswegen mobilisiert werden können. Genau deswegen– darauf verweise ich noch einmal – geht es darum, diestrukturellen Bedingungen grundsätzlich zu verbessern,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

damit nicht Diktatoren oder solche Leute wie in Sim-babwe, zum Beispiel Herr Mugabe, diese Menschen mo-bilisieren können. Das ist unser Anliegen. Darum geht esbei jeder Welternährungsdebatte.

Es muss klar sein, dass der größte Teil der Bevölke-rung – das gilt und galt übrigens auch in Simbabwe –keinen direkten Zugang zu eigenen nutzbaren Landflä-chen hat. Oder sie haben wie in vielen Entwicklungslän-dern viel zu kleine Flächen – und dann auch noch ohneBesitztitel – für eine angemessene, effiziente Produk-tion.

Daraus folgt nicht nur für mich – darüber müssen wirbei einem solchen Antrag wie dem heute vorliegendendiskutieren –: Die Welternährungskrise ist vor allemdurch strukturelle Probleme bedingt. Dieser Aspektmuss folglich auch bei den Reformbemühungen als

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Reinhold Hemker

wesentliche Ursache berücksichtigt werden, an denensich im Übrigen unser Ministerium für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft und das Ministe-rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung seit fünf Jahren international und national sehrintensiv beteiligen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Neben dem Regelungsrahmen der Konvention überbiologische Vielfalt und des Cartagena-Protokolls – da-rüber wurde hier vor einiger Zeit debattiert – ist für dieReformen, die Lösungsansätze und Programme die Ver-einbarung für die Schaffung eines internationalenRechts auf Nahrung von entscheidender Bedeutung.Lieber Kollege Carstensen, dazu haben wir im Übrigenvor einigen Monaten bereits einen Antrag vorgelegt.

Ich hoffe nun, dass durch den Druck der USA und derinternational im GVO-Bereich tätigen Konzerne die an-stehenden Vereinbarungen nicht aus wirtschaftlichenund politischen Eigeninteressen boykottiert und das Set-zen auf GVO-Produkte einseitig verfolgt wird, wie dasteilweise in der Vergangenheit der Fall war.

Für die Lösungen bedarf es politischer Entscheidun-gen für umfassende Agrar- und Bodennutzungsrefor-men, die nicht durch ein einseitiges – da bedanke ichmich insbesondere bei dem Kollegen René Röspel, weiler die Details schon dargestellt hat – technisches Kon-zept ersetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hinzu kommt: Politische Entscheidungen zur Be-kämpfung der Welternährungskrise müssen zunächst inden Industrieländern getroffen werden; auch darauf istschon hingewiesen worden. Diese müssen darauf zielen,dass Subventionen für solche Produkte Schritt für Schrittgekürzt werden, die von uns aus in den Export und inden Handel gehen, und dass der Import solcher Produktegefördert wird, die mit dem Transfair-Siegel ausgestattetsind und die aus den Ländern der Dritten Welt zu unskommen.

Die Bekämpfung der Hungerkrise sollte also vor al-lem durch eine Optimierung der Landnutzung erfolgen,die unter anderem durch eine effektivere und am Stand-ort ausgerichtete Gestaltung der Bodennutzung, durchQualifizierung der Farmbesitzer und der Arbeiter, durchBerücksichtigung des Nachhaltigkeitsaspektes unddurch verbesserte Arbeitsbedingungen erreicht werdenkann.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Carstensen?

Reinhold Hemker (SPD): Ja, gerne.

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Herr Kollege Hemker, Sie wissen, dass ich Ihnen

gerne zuhöre, weil Sie sehr sachkundig und sehr überlegtreden. Ich stimme Ihnen zu, dass bei der Bekämpfungdes Hungers in der Welt eine ganze Reihe von Maßnah-men notwendig sind. Aber können Sie mir erläutern, wa-rum Sie noch immer gegen eine dieser Maßnahmen indiesem großen Bündel, nämlich die technische Maß-nahme Gentechnologie – sie stellt eine bestimmte Fa-cette dar –, argumentieren?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Reinhold Hemker (SPD): Lieber Kollege Carstensen, Sie verweisen in Ihrem

Antrag darauf – und zwar, wie ich finde, ein wenig kri-tisch –, dass sich zum Beispiel die Consultative Group ofInternational Agricultural Research mit diesen Fragenbeschäftigt. Weiter schränken Sie sich insoweit ein, alsSie sagen, insbesondere die Förderung der grünen Tech-nologie müsse weiter ausgebaut werden, was auch dieEinschätzung dieses Institutes ist. Dieses Institut wirdübrigens von den USA gefördert; ich nenne nur dieRockefeller-Stiftung. Das müssen wir hier aber nicht imDetail besprechen, sondern können das auf die Aus-schussberatungen verschieben.

Sie erwähnen an dieser Stelle aber nicht, dass es eineReihe von internationalen Instituten gibt, die sich zumBeispiel für die Weiterentwicklung traditioneller Saat-gutsorten einsetzen und zum Beispiel durch Mischungoder durch Verzicht auf Monokulturen bessere Ergeb-nisse erreichen als diejenigen Institute, zu denen hierheute auch schon kritische Anmerkungen zu hören wa-ren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Bei der Bekämpfung der Welternährungskrise geht esnicht nur darum, sich hinter die FAO und diese Institutezu stellen, sondern man muss sich zunächst auf die Rah-menbedingungen konzentrieren und darf nicht einenTeil besonders hervorheben und besonders positiv dar-stellen. Wir haben doch das Problem, lieber KollegeCarstensen, dass für all die Maßnahmen zur Bodennut-zungs- und Landreform und zur Unterstützung der inter-nationalen Institute noch kein Geld vorhanden ist, aberdass sich auf der anderen Seite viele Konzerne mit Un-terstützung zum Beispiel der US-amerikanischen Regie-rung oder der kanadischen Regierung dafür einsetzen,die grüne Gentechnik weiter nach vorne zu bringen. Ei-gentlich besteht gar kein Mangel bei der Förderung dergrünen Gentechnik. Stattdessen sollte etwas mehr für dieVerbesserung der Rahmenbedingungen getan werden.Das ist ein anderer Ansatz.

Sie haben vorhin darauf hingewiesen, wir hätten zudieser Frage keine parlamentarischen Initiativen entwi-ckelt. Das stimmt einfach nicht. Sie haben in Ihrer Inter-vention eben sogar Initiativen genannt. Wir haben vorden Verhandlungen in Cancun einen sehr umfangreichenAntrag vorgelegt, in dem wir auf die Rahmenbedingun-gen eingegangen sind. Wir haben einen Antrag zur Bo-dennutzungs- und Landreform vorgelegt; darüber haben

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Reinhold Hemker

wir gestern im Fachausschuss sogar noch gesprochen. Esgibt darüber hinaus einen Antrag von uns – er ist nochnicht in der parlamentarischen Beratung, ist aber schoneingebracht –, der sich mit der Frage Recht auf Nahrungbeschäftigt; darauf hat Frau Ministerin Künast in ihrerEingangsrede dankenswerterweise hingewiesen. So ge-sehen, lieber Kollege Carstensen, haben wir das Gesamt-konzept dargestellt; in diesem Zusammenhang wäreauch über Ihren Antrag zu diskutieren. Aber dass Siediese Diskussion so eng führen, das lehnen wir ab.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte Ihnen deswegen sagen: Es kommt jetztdarauf an, dass wir dies in der parlamentarischen De-batte und dann in den Debatten in den Ausschüssen deut-licher machen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Hemker, sehen Sie bitte einmal auf die

Uhr.

Reinhold Hemker (SPD): Ich beantworte doch die Frage des Kollegen

Carstensen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nein, Sie beantworten die Frage des Kollegen

Carstensen schon lange nicht mehr. Ich habe genau da-rauf geachtet, dass die Uhr während Ihrer Beantwortungangehalten wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Reinhold Hemker (SPD): Ich war der Meinung, dass ich noch die Frage beant-

wortet habe.

Ich werde dem Kollegen Carstensen dies im Aus-schuss noch einmal erläutern, damit er versteht, in wel-chem Gesamtzusammenhang nicht nur mein, sondernunser politisches Engagement steht.

Ich komme zum Abschluss.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nein, Herr Kollege Hemker, Ihre Redezeit ist deutlich

abgelaufen. Bitte schließen Sie schnell ab.

Reinhold Hemker (SPD): Ja, ich schließe mit drei ganz kurzen Hinweisen aus

einem Papier ab.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Hemker, ich lasse diese drei kurzen

Hinweise nicht mehr zu. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Reinhold Hemker (SPD): Gut.

Dann sage ich nur noch: FAO ist eben nicht nur GMO

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Aus ist aus, Hemker!)

und Welternährung ist mehr als Gentechnik. Schauen Siesich die Erklärung von „Misereor“ und „Brot für dieWelt“ sehr genau an!

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ausschalten!)

Dort wurden kritische Anmerkungen für die Öffentlich-keit gemacht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Voodoo, Zauberei, schwarze Magie, Hexenwerk –manchmal könnte man meinen, man spräche von sol-chen Machwerken, wenn die grüne Gentechnik ange-schnitten wird.

Mittlerweile sind wir weit davon entfernt, sachlichüber die Gentechnik – gar nicht zu sprechen von der grü-nen Gentechnik – diskutieren zu können. Ich muss sa-gen: leider. Die Medien spielen auf dieser Klaviaturebenso gerne mit. Horrorszenarien werden aufgemaltund damit Emotionen sowie Ressentiments in der Bevöl-kerung geschürt, die für meine Begriffe der Sache nichtgerecht werden, sondern ihr eher schaden.

Die Prämisse der Bundesregierung, unter der sie ihreHaltung zu diesem Thema darlegt, scheint Handelndurch Nichthandeln zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Albert Deß [CDU/CSU]: Das sind wir von die-ser Regierung schon gewohnt! – Uta Zapf[SPD]: Na, na, na!)

Im Falle des De-facto-Moratoriums auf europäischerEbene hat die Bundesregierung ebenso durch Nichtstungeglänzt. Der Vorstoß von Wirtschaftsminister Clementin diesem Frühjahr war, wie ich meine, richtig. Was istdamit geschehen? Er wurde unter Protest von Rot-Grünbegraben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höfken?

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Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Ja, gerne.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin, im „Handelsblatt“ steht heute, dass die

Versicherungen in Großbritannien das Risiko im Zusam-menhang mit der Gentechnik ähnlich bewerten wie dasRisiko des Terrorismus oder die Gefährdungen durchContergan und ähnliche Dinge. Würden Sie das auch alsVoodoo bezeichnen?

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist das, was sie meinte!)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Das bezeichne ich nicht als Voodoo, aber es passt zu

dem, was ich vorhin gesagt habe, dass Medien nämlichsehr gerne – fast ausschließlich und in erster Linie –Horrorszenarien aufnehmen. Deshalb wurde das logi-scherweise auch als Erstes aufgenommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Übrigen stellt unsere Frau Ministerin für Verbrau-cherschutz Künast Unternehmen der Biotechnologie öf-fentlich an den Pranger. Frau Ministerin Künast, das ha-ben Sie auch heute wieder getan. Haben Sie unserenAntrag überhaupt gelesen? Sie haben nämlich nur herz-lich wenig dazu gesagt, dass die grüne Gentechnik alsChance begriffen werden kann. Lehrer würden in diesemZusammenhang sagen: Thema verfehlt.

Sie haben mit Recht auf Risiken hingewiesen. Chan-cen, die zweifelsohne auch vorhanden sind, haben Sieaber mit keinem Wort erwähnt. Sie haben es ungeprüftabgelehnt, zur Kenntnis zu nehmen, dass Chancen exis-tieren. Das halte ich für Ideologie pur.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist der falsche Weg, Unternehmen der Biotech-nologie schlechtzureden. Die deutschen Unternehmender Biotechnologie verlieren ihre Kompetenz, betroffeneUnternehmen wandern ins Ausland ab und der StandortDeutschland ist um Arbeitsplätze wesentlich ärmer. Diesnimmt die Bundesregierung billigend in Kauf. Das isteine falsche Politik. Sie hilft Deutschland nicht und sieverdeckt die vorhandenen Chancen der grünen Gentech-nik völlig. Die Politik ist ideologisch motiviert. Uns,liebe Frau Kollegin Höfken, Ideologie vorzuwerfen halteich doch für etwas verfehlt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich plädiere daher vehement dafür, dass wir zu einersachlichen und offenen Auseinandersetzung über dasThema zurückkehren. Dabei – das sehe ich genauso wieSie, meine Damen und Herren von Rot-Grün – dürfendie Risiken nicht außen vor bleiben. Jede Medaille hatzwei Seiten, auch diese. Es lohnt sich, beide zu betrach-ten.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Deß?

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Gerne.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Ach, um die Ecke!)

Albert Deß (CDU/CSU): Frau Kollegin Pfeiffer, ich habe vor kurzem gelesen,

dass die Grünen vor etwa 20 Jahren einen Parteitags-beschluss gefasst haben, mit dem sie sich gegen die Ein-führung der EDV-Technik ausgesprochen haben. MeineFrage ist: Sind Sie mit mir der Meinung, dass die Grünenmit ihrem Widerstand gegen die grüne Biotechnologieweltweit genauso scheitern werden, wie sie mit ihremWiderstand gegen die Einführung der EDV-Technik ge-scheitert sind?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Kollege Deß, jeder, der Zukunft nicht zur Kennt-

nis nimmt, jeder, der, ideologisch verbrämt, sich die Zu-kunft selbst verbaut, jeder, der Zukunftstechnologiennicht als Chance begreift, wird zwangsläufig scheitern;das ist keine Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU – Albert Deß [CDU/CSU]: So sehe ich das auch!)

Wir sind uns darin einig, werte Kolleginnen und Kol-legen, dass die Themen Welternährung und Gesundheit,Hunger und Armut auch uns betreffen. Grüne Gentech-nik kann unter anderem oder auch – das bitte ich zurKenntnis zu nehmen: unter anderem oder auch – als Er-gänzung oder Lösung dafür dienen. Diese Ergänzungenzur Kenntnis zu nehmen ist, denke ich, auch Ihre Auf-gabe, die Aufgabe von Rot-Grün. Dies sage ich auch imAnschluss an das, was Kollege Deß eben gesagt hat.

Die grüne Gentechnik könnte dem versteckten Hun-ger den Kampf ansagen. Die vielfältigen Möglichkeitenmuss Politik zur Kenntnis nehmen, müssen wir zurKenntnis nehmen. Wir dürfen sie nicht von vornhineinablehnen. Es geht nicht an, dass wir sie nicht zur Kennt-nis nehmen oder überhaupt nicht darüber diskutieren. ImGegenteil: Man sollte ihnen in Teilbereichen nachgehen.

Ich fordere Sie auf, genau das zu tun, nämlich von Ih-rer kategorischen Ablehnung zurückzukehren zu einersachlich geführten Diskussion, damit wir nicht mehrüber Hexenwerk, Teufelswerk, schwarze Magie undÄhnliches reden müssen.

Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von derSPD: Schwarze Magie ist keine Ideologie! Siehaben jetzt viermal „ideologisch“ gesagt, abernicht ein einziges Sachargument geliefert!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/1216 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003 5929

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 f sowiedie Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:

19 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung steuerlicher Vorschriften (Steuer-änderungsgesetz 2003 – StÄndG 2003)

– Drucksachen 15/1621, 15/1798 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung des Beschlusses (2002/187/JI) des Ratesvom 28. Februar 2002 über die Errichtung vonEurojust zur Verstärkung der Bekämpfung derschweren Kriminalität (Eurojust-Gesetz – EJG)

– Drucksache 15/1719 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)InnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Internationalen Übereinkommensvon 1974 zum Schutz des menschlichen Lebensauf See und zum Internationalen Code für dieGefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafen-anlagen

– Drucksache 15/1780 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)InnenausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismus

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines FünfunddreißigstenStrafrechtsänderungsgesetzes zur Umsetzungdes Rahmenbeschlusses des Rates der Euro-päischen Union vom 28. Mai 2001 zur Be-kämpfung von Betrug und Fälschung im Zu-sammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln(35. StrÄndG)

– Drucksache 15/1720 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll vom 28. November 2002 zur Änderungdes Europol-Übereinkommens und des Proto-kolls über die Vorrechte und Immunitäten fürEuropol, die Mitglieder der Organe, die stell-

vertretenden Direktoren und die Bedienstetenvon Europol– Drucksache 15/1648 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-trag vom 13. April 2000 zwischen der Bundes-republik Deutschland und der FranzösischenRepublik über die Festlegung der Grenze aufden ausgebauten Strecken des Rheins– Drucksache 15/1650 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarionSeib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUFür mehr Wettbewerb und Flexibilisierung imHochschulbereich – der Bologna-Prozess alsChance für den WissenschaftsstandortDeutschland– Drucksache 15/1787 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H.Carstensen (Nordstrand), Dr. Peter Paziorek,Bernhard Schulte-Drüggelte, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSUMultitalent nachwachsender Rohstoff effizientfördern– Drucksache 15/1788 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten UrsulaHeinen, Julia Klöckner, Uda Carmen FreiaHeller, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUVerbraucher aufklären und schützen – Inno-vation und Vielfalt in der Produktentwicklungund Werbung für Lebensmittel erhalten– Drucksache 15/1789 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorge-schlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 c bis20 j sowie den Zusatzpunkt 3 auf:20 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-

gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Einführung einer Übergangsregelung zumKindschaftsrechtsreformgesetz für nicht mit-einander verheiratete Eltern– Drucksache 15/1552 –(Erste Beratung 63. Sitzung)Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)– Drucksache 15/1807 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine LambrechtUte GranoldIrmingard Schewe-GerigkSibylle Laurischk

c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung luftverkehrsrechtlicher Vorschrif-ten– Drucksache 15/1469 –(Erste Beratung 63. Sitzung)Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(14. Ausschuss)– Drucksache 15/1793 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Peter Danckert

d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. März2002 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der Schweizerischen Eidgenossen-schaft über den Verlauf der Staatsgrenze inden Grenzabschnitten Bargen/Blumberg,Barzheim/Hilzingen, Dörflingen/Büsingen,Hüntwangen/Hohentengen und Wasterkingen/Hohentengen– Drucksache 15/1187 –(Erste Beratung 53. Sitzung)Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses (3. Ausschuss)– Drucksache 15/1717 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra ErnstbergerBernd SchmidbauerDr. Ludger VolmerHarald Leibrecht

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 4

über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht

– Drucksache 15/1614 –

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 65 zu Petitionen

– Drucksache 15/1701 –

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 66 zu Petitionen

– Drucksache 15/1702 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 67 zu Petitionen

– Drucksache 15/1703 –

i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 68 zu Petitionen

– Drucksache 15/1704 –

j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 69 zu Petitionen

– Drucksache 15/1705 –

ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk,Rainer Funke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP

Sorgerecht für nichteheliche Kinder vor In-Kraft-Treten der Kindschaftsrechtsreform re-geln

– Drucksachen 15/757, 15/1807 –

Berichterstattung:Abgeordnete Christine LambrechtUte GranoldIrmingard Schewe-GerigkSibylle Laurischk

Es handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denenkeine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 20 a: Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zurEinführung einer Übergangsregelung zum Kindschafts-rechtsreformgesetz für nicht miteinander verheiratete El-tern, Drucksache 15/1552. Der Rechtsausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 15/1807, den Gesetzentwurf in der Aus-

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003 5931

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hausesangenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hausesangenommen.

Zusatzpunkt 3: Unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 15/1807 empfiehlt derRechtsausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 15/757 mit dem Titel „Sorgerecht für nicht-eheliche Kinder vor Inkrafttreten der Kindschaftsrechts-reform regeln“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 20 c: Abstimmung über den Ge-setzentwurf des Bundesrates zur Änderung luftverkehrs-rechtlicher Vorschriften, Drucksache 15/1469. Zu die-sem Tagesordnungspunkt liegen zwei schriftlicheErklärungen nach § 31 GO vor.1) Der Ausschuss für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt aufDrucksache 15/1793, den Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.

Tagesordnungspunkt 20 d:

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom5. März 2002 mit der Schweizerischen Eidgenossen-schaft über den Verlauf der Staatsgrenze in bestimmtenGrenzabschnitten, Drucksache 15/1187. Der Auswär-tige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1717, demGesetzentwurf zuzustimmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an-genommen.

Tagesordnungspunkt 20 e: Beschlussempfehlung desRechtsausschusses auf Drucksache 15/1614 zur

1) Anlage 2

Übersicht 4 über Streitsachen vor dem Bundesverfas-sungsgericht. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hausesangenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 20 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 65 zu Petitionen

– Drucksache 15/1701 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 65 ist mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 20 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 66 zu Petitionen

– Drucksache 15/1702 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 66 ist mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 20 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 67 zu Petitionen

– Drucksache 15/1703 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 67 ist mit den Stimmen derKoalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und derFDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 20 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 68 zu Petitionen

– Drucksache 15/1704 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 68 ist mit den Stimmen derSPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSUgegen die Stimmen der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 20 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 69 zu Petitionen

– Drucksache 15/1705 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 69 ist mit den Stimmen der

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5932 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegendie Stimmen der CDU/CSU angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Bericht der Bundesregierung zum Stand der Be-mühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstungund Nichtverbreitung sowie über die Entwick-lung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüs-tungsbericht 2002)

– Drucksachen 15/1104, 15/1800 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Rolf MützenichRuprecht PolenzDr. Ludger VolmerHarald Leibrecht

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten UtaZapf, Petra Ernstberger, Hans Büttner (Ingol-stadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten WinfriedNachtwei, Marianne Tritz, Volker Beck (Köln),weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Verhinderung der Proliferation von Massen-vernichtungswaffen durch Abrüstung undkooperative Rüstungskontrolle

– Drucksache 15/1786 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Uta Zapf, SPD-Fraktion.

Uta Zapf (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gestern war ein guter Tag für die Politik der Nichtver-breitung. Wir alle haben mit Erleichterung das Ergebnisder Gespräche der drei europäischen Außenminister– Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands – mitTeheran zur Kenntnis genommen und die gute Nachrichtin den Ausschüssen diskutiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. HaraldLeibrecht [FDP])

Iran sagt zu, das Zusatzprotokoll der InternationalenAtomenergie-Organisation zu zeichnen, das weit rei-chende Inspektionen der Atomanlagen ermöglicht. Iransagt außerdem zu, dieses Protokoll schon vor der Ratifi-zierung zu implementieren. Iran sagt weiterhin zu, dieUrananreicherung und Wiederaufarbeitung auszusetzen

und volle Transparenz bezüglich seines Atompro-gramms herzustellen.

Dies ist ein großartiger Erfolg einer weisen Dialog-und Verhandlungsdiplomatie. Ich möchte Herrn Außen-minister Fischer und seinen beiden Kollegen ausdrück-lich von dieser Stelle aus danken. Dies ist ein schönerErfolg. Frau Staatsministerin, wir bitten Sie, das weiter-zusagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An dieser Stelle sagen wir aber auch der IAEO für ihrestringenten Bemühungen Dank, Iran zu einer völligenOffenlegung der Nuklearprogramme zu bewegen. DiesesErgebnis ist möglicherweise ein dramatischer Wende-punkt in der Frage der Eindämmung von nuklearer Proli-feration, vorausgesetzt, diese Vereinbarungen werdenauch umgesetzt. Iran muss seine Zusagen schnell undohne Abstriche erfüllen. Es muss darauf verzichten,einen geschlossenen Brennstoffkreislauf aufzubauen,und damit auch auf die Option verzichten, waffenfähigesSpaltmaterial zu produzieren. Tut es dies nicht, stehtnicht nur die Stabilität einer ganzen Region auf demSpiel, sondern auch das ohnehin gefährdete Gefüge desNichtverbreitungsregimes.

Mich erfüllt die Hoffnung, dass dieses Lösungsmo-dell auch ein Lösungsmodell für den schwierigen FallNordkorea sein kann. Mit dem KEDO-Prozess wurdeein solcher Versuch bereits früher unternommen. Er istleider gescheitert. Aber wir haben keine andere Chance,als einen Dialog und eine Verhandlungslösung zu su-chen.

Präemptive Militärschläge stellen keine Lösung dar,weder für Nordkorea noch für Iran oder sonst ein ande-res Land. Sie sind völkerrechtswidrig und führen zur Es-kalation und zur Destabilisierung. Sie unterminieren dasSystem kollektiver Sicherheit, das Grundlage der UN-Charta ist. Es gibt keine Alternative zur Stärkung multi-lateraler Rüstungskontrollregime, wenn die Verhinde-rung der Proliferation von Massenvernichtungswaffenunser Ziel ist. Diese Regime müssen gestärkt werden. Esist völlig richtig, wenn die USA die kollektive Verant-wortung aller Teilnehmerstaaten für die Einhaltung derNichtverbreitungs- und Abrüstungsverträge einklagen,wie es der Vertreter der USA, Herr Rademaker, soebenvor dem Ersten Ausschuss der UN gemacht hat. Gelin-gen kann dies allerdings nur, wenn alle Teilnehmerstaa-ten ohne Ausnahme ihre Verpflichtungen vollständig er-füllen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. HaraldLeibrecht [FDP])

Die Umsetzung der Vertragsbestimmungen, aber auchdie Fortentwicklung der Verträge angesichts neuerHerausforderungen ist notwendig. Daran besteht über-haupt kein Zweifel. Die Universalisierung, also dasDrängen auf Beitritt aller Staaten zu den Konventionen,muss ein zentrales Anliegen multilateraler Rüstungskon-trolle sein.

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. Oktober 2003 5933

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Uta Zapf

Lassen Sie mich das einmal am Beispiel des Nicht-verbreitungsvertrages durchdeklinieren. Vor 30 Jahrenhatte man noch befürchtet, dass um das Jahr 2000 etwa25 Staaten über Nuklearwaffen verfügen würden. Tat-sächlich haben aber viele Staaten ihre heimlichen Nukle-arprogramme aufgegeben und sind dem Nichtverbrei-tungsvertrag beigetreten, zum Beispiel Südafrika,Brasilien und Argentinien. Im Jahr 1995 gelang es, die-sen Vertrag unbegrenzt zu verlängern. Das ist ein wichti-ger Punkt.

Nicht zuletzt der Abrüstungsprozess zwischen dengroßen Nuklearmächten mag dazu beigetragen haben,aber vor allen Dingen auch das Versprechen der Atom-mächte, alle Atomwaffen abzurüsten. Ein schrittweiserProzess der Einlösung der Abrüstungsverpflichtungenaus dem Art. VI zeichnete sich ab. Der Atomteststopp-vertrag lag auf dem Tisch, ein Mandat zum Abkommenüber den Stopp der Produktion waffenfähigen Spaltmate-rials – das ist der so genannte Cut-off – wurde diskutiert.Im Jahr 2000 einigte sich die Überprüfungskonferenz auf13 Punkte zur Stärkung des Nichtverbreitungsvertragesund zur Einlösung dieser Verpflichtungen.

Seither aber gab es leider fast keine Fortschritte. DerAtomteststoppvertrag ist nicht in Kraft getreten, Ver-handlungen zu einem Cut-off finden nicht statt, derABM-Vertrag ist aufgekündigt worden, der START-II-Vertrag zur Abrüstung strategischer Waffen wird nicht inKraft treten. Dafür ist ein Vertrag zwischen Moskau undden USA geschlossen worden, der keine bindende Ver-pflichtung zur Abrüstung von Nuklearwaffen enthält.Die Umsetzung dieses Vertrages ist umkehrbar, nicht ve-rifizierbar und nicht transparent.

Indien, Pakistan und Israel sind die einzigen Staaten,die dem Nichtverbreitungsvertrag nicht beigetreten sind.Sie entwickeln stattdessen ihre nukleare Rüstung weiter.Nordkorea hat den Nichtverbreitungsvertrag aufgekün-digt und droht mit nuklearer Aufrüstung. Japan undSaudi-Arabien stellen Überlegungen an, sich nukleareAbschreckungspotenziale zuzulegen. In den USA wer-den Forschungen zur Entwicklung neuer, operativer Nu-klearwaffen angestellt und es ist vielleicht nur noch eineFrage der Zeit, dass das Testmoratorium fällt.

Kolleginnen und Kollegen, das alles zeigt, dass esZeit für neues Denken in der Nichtverbreitungspolitik istund dass neue Instrumente notwendig sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die bereits erwähnten 13 Punkte aus dem Überprüfungs-vertrag von 2000 sind zum Teil überholt. Das ist deutlicherkennbar. Deshalb müssen diese 13 Punkte – auch wennnicht alle obsolet geworden sind – überprüft werden. Esgibt dazu bereits Vorschläge, zum Beispiel von derMiddle Powers Initiative, die ich allen Abrüstern undAbrüsterinnen zur Lektüre empfehle.

Ich bitte die Bundesregierung an dieser Stelle ganz of-fiziell, in diesem Jahr im Ersten Ausschuss der Resolu-tion der New Agenda Coalition zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt nicht einen Punkt in dieser Resolution, den wirmit unserer Politik nicht voll unterstützen würden undden die Bundesregierung ablehnen müsste.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die Regierungsbank nickt!)

– Das ist hervorragend; noch eine gute Nachricht.

Es gibt keinen Multilateralismus à la carte. BisherigeAbkommen können nicht selektiv genutzt werden.Konsensbildung – so mühsam sie ist – ist nicht ein Aus-laufmodell des Kalten Krieges, wie der bereits erwähnteAssistant Secretary of State der USA, Rademaker, vordem Ersten Ausschuss der VN erklärt hat. Sie ist viel-mehr eine zwingende Notwendigkeit, wenn man dieWelt nicht in gute Staaten und Schurkenstaaten aufteilenwill.

Multilateralität bedeutet, die Sicherheitsbedürfnissealler Staaten zu beachten, Stabilität durch Vertrauensbil-dung zu fördern sowie Transparenz und Überprüfbarkeitder Einhaltung von Verpflichtungen zu garantieren. DieBeteiligung an multilateralen Abkommen muss einewin-win-Situation für alle gewährleisten. Ich glaube, fürdas jetzt verabredete Prozedere mit dem Iran liegt derCharme genau darin, dass für beide Seiten eine absolutewin-win-Situation entsteht. Nur dann kann die„noncompliance“ – das heißt die Nichteinhaltung vonVerträgen – mit Fug und Recht von der internationalenStaatenwelt sanktioniert werden.

Die Verhinderung der Proliferation von Massenver-nichtungswaffen auf Staatenebene bleibt die größte He-rausforderung der Nichtverbreitungspolitik. Aber einweiteres Kernanliegen zukünftiger Nichtverbreitungspo-litik muss die Sicherung von atomaren, chemischen undbiologischen Stoffen vor unbefugtem Zugriff, zum Bei-spiel durch Terroristen, sein.

In diesem Zusammenhang möchte ich die G-8-Initia-tive „Globale Partnerschaft“ hervorheben, die auf die-sem Felde eine hohe Priorität besitzt. Jeder einzelneStaat, der über solche Stoffe verfügt, trägt selber großeVerantwortung für ihre Sicherung. Aber es ist auch inunserem eigenen Interesse, anderen Staaten bei der Si-cherung dieser Stoffe zu helfen, wenn das für dieseStaaten – an dieser Stelle ist Russland namentlich zunennen – mit großen Schwierigkeiten verbunden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen möchte ich noch einmal darauf hinweisen,dass wir in diesem Bereich schon sehr viel getan haben,zum Beispiel mit der Anlage in Gorny zur Vernichtungchemischer Waffenbestände in Russland. Wir werdendas im Rahmen der G-8-Initiative in Kambarka weiter-führen, wo ein ähnliches Projekt aufgelegt wird. Wirwerden des Weiteren in die Sicherung nuklearer Stoffeeinsteigen. Ich halte das für einen sehr wichtigen Be-reich, in dem wir in Zukunft noch mehr tun sollten.

Darüber hinaus gibt es ein Projekt im Zusammenhangmit der Entsorgung von U-Booten, die in der Saida-Bucht liegen. Das alles sind sicherlich sinnvolle Pro-jekte. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung

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Uta Zapf

einen Beitrag von 1,5 Milliarden Euro über zehn Jahrezugesagt hat, mit denen diese Projekte vorangetriebenwerden sollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michnoch kurz die neue Proliferation Security Initiativeanführen, die den illegalen Transfer von Massenvernich-tungswaffen verhindern und zur Stärkung und Verbes-serung internationaler Nichtverbreitungsinitiativen bei-tragen soll. Wichtig ist, dass die Bundesregierung unddie anderen europäischen Regierungen – dafür bedankeich mich – darauf dringen, dass dies immer im Rahmendes internationalen Rechts geschieht. Das ist ein wichti-ger Punkt.

Der Jahresabrüstungsbericht 2002 zeigt Erfolge unddie Wichtigkeit multilateraler Nichtverbreitungsabkom-men, aber auch Stagnation, die Rückschläge und die Ge-fährdung des Erreichten auf. Kooperative Sicherheit– das sollte ein Leitgedanke sein – ist kein veraltetesModell des Kalten Krieges, sondern eine Chance, auchden neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zubegegnen. Dazu möchten wir mit unserem gemeinsamenAntrag von Rot-Grün einen Beitrag leisten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die

Unionsfraktion fand, dass gestern, als die Nachricht überdas Einlenken der iranischen Regierung kam, ein guterTag war. Wir sehen das als einen ersten wichtigen Schrittan, der zu Hoffnungen berechtigt. Ich hoffe – ich glaube,das tun wir alle –, dass man im Rückblick das, was ges-tern gelungen ist, als einen entscheidenden Durchbruchbezeichnen wird. Auch wir zollen der Leistung unsererDiplomaten und des Außenministers Anerkennung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP –Gernot Erler [SPD]: Sehr gut! Weiter so, HerrKollege!)

Es gibt aber auch ein Jubiläum. Fast auf den Tag ge-nau vor 20 Jahren, am 22. Oktober 1983, hat die großeDemonstration gegen die Nachrüstung und gegen denNATO-Doppelbeschluss auf den Bonner Hofgartenwie-sen stattgefunden.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wohl wahr! – Gernot Erler [SPD]:Da war ich dabei! – Gegenruf des Abg.Manfred Grund [CDU/CSU]: Aber auf der fal-schen Seite!)

Damals gab es einen tiefen Konflikt darüber, ob Abrüs-tung einseitig oder gleichgewichtig und kontrolliert er-folgen solle. Unsere Position – Frieden schaffen mitimmer weniger Waffen – erschien damals vielen De-monstranten als unglaubwürdig und illusionär; das weißich noch genau. Heute wird in dem von der Bundesregie-rung vorgelegten Jahresabrüstungsbericht 2002 der Mos-kauer Vertrag, der im Jahre 2002 zur strategischen Ab-rüstung zwischen den USA und Russland geschlossenwurde und der eine Reduzierung der Zahl der nuklearenOffensivwaffen um zwei Drittel bis zum Jahre 2010 vor-sieht, richtigerweise als Erfolg verbucht. Heute könntealso die Formel „Frieden schaffen mit immer wenigerWaffen“ unser aller gemeinsames Ziel beschreiben.Grundsätzlich gibt es ja eine große Übereinstimmung imUnterausschuss „Abrüstung und Rüstungskontrolle“.

Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird festgestellt,dass sich die Rüstungskontrolle in einer Krise befindet.Ich stimme dieser Feststellung ausdrücklich zu. Es gibteinen neuen Rüstungswettlauf in Asien und im NahenOsten. Besonders besorgniserregend ist dabei, dass erauch eine nukleare Dimension hat; denn Nordkorea undIran streben – vermutlich oder tatsächlich – nach Atom-waffen.

Welches sind die Ursachen für die Krise der Rüs-tungskontrolle? Erstens. Die bestehenden Mechanismender Rüstungskontrolle wurden für den Ost-West-Kon-flikt entwickelt. Man hat auf eine gleichwertige gegen-seitige Abrüstung und gegenseitige Kontrolle gesetzt.Man ging außerdem von der Grundprämisse einer ge-genseitigen Abschreckung aus. Man unterstellte sich da-mit gegenseitig ein kalkulierbares und rationales Verhal-ten.

Zweitens. Die Mechanismen, die wir bisher kennen,wurden im Hinblick auf die Rüstung von Staaten ent-wickelt. Man hat gemeinsam bestimmte Kategorien vonMassenvernichtungswaffen und Trägersystemen verbo-ten. Man hat multilaterale Abkommen geschlossen, mul-tilaterale Überprüfungen festgelegt und gemeinsame In-stitutionen wie etwa die IAEO zur Überwachung undKontrolle geschaffen. Aber heute – das macht die verän-derte Lage aus – gibt es zusätzliche oder veränderteKonfliktlagen und Bedrohungswahrnehmungen. Inner-staatliche Kriege, also Bürgerkriege, werden von denbisher bestehenden Rüstungskontrollregimen gar nichterfasst. Die Privatisierung des Krieges wird davon nichterfasst. Wir haben das Problem von Terrorismus undFailed States, also zerfallenen Staaten, sowie das Pro-blem der Verbindung von Terrorismus und Staaten, dieuns Sorgen machen, die von den Amerikanern „RoughStates“ genannt werden.

Wenn man über die Krise der Rüstungskontrollbemü-hungen spricht, muss man sich natürlich auch mit denUrsachen für die Hochrüstung und für die zunehmendenRüstungsanstrengungen auseinander setzen. Es sind imWesentlichen fünf Ursachen:

Erstens: die jeweilige Bedrohungswahrnehmung.

Zweitens: das Streben nach Vormacht, nach Einfluss,nach Prestige.

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Ruprecht Polenz

Drittens: innenpolitischer Machterhalt. Denken wirnur daran, dass Saddam Hussein nicht nur die eigenenStreitkräfte zur Absicherung der diktatorischen Herr-schaft gedient haben; er hat sogar die Massenvernich-tungswaffen unter diesem Aspekt eingesetzt.

Viertens: Unternehmer in Sachen Gewalt, die Rüs-tung als lukratives Geschäft betreiben. Denken wir zumBeispiel an die Situation der Warlords in Afghanistan.

Fünftens: terroristische Ziele einschließlich des Stre-bens nach Massenvernichtungswaffen.

Ich komme zu einem sehr schwierigen Punkt, der ausmeiner Sicht ebenfalls eine Ursache für Rüstung seinkann, wahrscheinlich auch schon ist. Ich meine die Ne-benwirkungen – so will ich es einmal nennen – unsererSicherheitsstrategien. Wenn die Streitkräfte von klassi-scher Landesverteidigung auf Interventionsfähigkeit um-gestellt werden, wenn wir aus humanitären Gründen in-tervenieren – aus unserer Sicht völlig berechtigt; wirhaben es auch gemeinsam beschlossen –, dann bedeutetdas in der Wahrnehmung mancher Dritte-Welt-Staaten– wie man verkürzt sagen könnte – natürlich eine latenteBedrohung und führt zu zusätzlichen Rüstungsanstren-gungen.

Auch die Erforschung so genannter Mini-Nukes,durch die die Schwelle eines Atomwaffeneinsatzes ge-senkt wird – jetzt nur auf der Forschungsebene, aber esbesteht die Gefahr, dass das dann auch operativ umge-setzt wird –, ist sicherlich eher rüstungstreibend als rüs-tungsbegrenzend. Natürlich gehört in diesen Kontextauch die Diskussion über Prävention und Präemption.

Der Koalitionsantrag stellt also zu Recht fest, dasssich die Rüstungskontrolle in einer Krise befindet unddeshalb neuer Impulse bedarf. Er umfasst 21 Punkte und– ich habe es gezählt – 13 Unterpunkte. Das zeigt auf dereinen Seite, dass Sie ganz fleißig waren, und auf der an-deren Seite zeigt es natürlich auch die Dichte des bishe-rigen Regelwerks. Im Grunde lauten die Vorschläge, dieSie zur Weiterentwicklung machen, in aller Regel: mehrvon demselben, dasselbe noch etwas besser. Das sage ichgar nicht kritisch. In die Richtung geht es im Wesentli-chen.

Dass Sie die Bundesregierung ausdrücklich auffor-dern, finanzielle Zusagen auch einzuhalten – das habeich mit etwas Schmunzeln gesehen –, versteht in diesemHause angesichts der finanzpolitischen Unzuverlässig-keit der Bundesregierung nun wirklich jedermann.

(Uta Zapf [SPD]: Wir wollten Ihnen doch et-was zum Schmunzeln geben!)

– Klar, aber es kommt noch mehr.

Sie haben in Ihrem Antrag eine Strategie, die präemp-tive Militärschläge zulässt, ausdrücklich abgelehnt. Dasist angesichts der Diskussion um das Solana-Papiereine, glaube ich, voreilige Festlegung. In dem Papiersteht immerhin, dass man in Europa eine strategischeKultur entwickeln soll, die ein frühzeitiges, rasches und,wenn nötig, robustes Eingreifen begünstigt. In dem So-lana-Papier heißt es auch: Für eine normgestützte Welt-ordnung gilt, dass die Gesetze mit den Entwicklungen

wie Proliferation, Terrorismus und globale ErwärmungSchritt halten müssen.

Auch in einem anderen Punkt haben Sie sich meinesErachtens falsch festgelegt. Sie fordern Beschlüsse desUN-Sicherheitsrats als zwingende Voraussetzung fürdie Verhängung von Sanktionen. Das geht weit über dasgegenwärtige Völkerrecht hinaus. Das gegenwärtigeVölkerrecht lässt Sanktionen auch ohne Beschluss desUN-Sicherheitsrats zu. Ich weiß nicht, ob es klug ist,dass sich die Europäische Union beispielsweise einessolchen Instruments begibt, so wie Sie das in Ihrem An-trag fordern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Um zu Abrüstungserfolgen zu kommen, müssen auchdie neuen Konflikte angegangen werden. Im Hinblickauf Failed States ist Nation Building erforderlich. Gefor-dert ist eine Antiproliferationpolitik mit Exportkontrol-len, aber auch dem Abfangen von Lieferungen von Mas-senvernichtungswaffen zum Beispiel auf hoher See. Dasind Sie schon an einem Punkt, an dem das Völkerrechtweiterentwickelt werden muss.

Auch bei der Terrorismusbekämpfung werden Sieohne den Gedanken der Prävention nicht weiterkommen.Dort ist eine Weiterentwicklung des Völkerrechts erfor-derlich. In der Präventionsdebatte geht es nämlich vorallen Dingen um die letzten beiden Punkte: Antiprolife-ration und Terrorismusbekämpfung. Natürlich muss jedegefundene Regelung – an diesem Punkt sind wir uns si-cherlich einig – allgemein gelten, also auch für Indienund Pakistan, und sie darf nicht konflikteskalierend wir-ken.

Um zu erreichen, dass weitere Staaten, die miteinan-der im Konflikt stehen, abrüsten, dürfte es darauf an-kommen, ob und wieweit es gelingt, den Grundgedankendurchzusetzen, dass man Sicherheit nicht gegen oder voreinem anderen Staat gewinnen kann, sondern nur mitei-nander.

Nun komme ich auf den Nahen Osten zurück. Mansollte die Bundesregierung auffordern, sich für nahöstli-che Rüstungskontrollgespräche stark zu machen. Es hatsie nach der Nahostkonferenz von Madrid von 1992 bis1995 schon gegeben. Die Veränderungen, die im Irak zu-letzt stattgefunden haben, und auch die Veränderungen,die sich im Iran hoffentlich abzeichnen, könnten ein Mo-mentum für solche Gespräche darstellen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Ich mache mir keine Illusionen: Ein Abkommen zurAbrüstung ist im Nahen Osten vorläufig nicht zu errei-chen; aber ein Forum könnte dazu dienen, Bedrohungs-wahrnehmungen der beteiligten Staaten auf den Tischzu bringen. Syrien könnte, anders als damals, bereitsein, teilzunehmen. Es hat nämlich selbst vorgeschla-gen, die amerikanischen Vorwürfe, man habe Massen-vernichtungswaffen, nicht bilateral mit den Amerika-nern, sondern im internationalen Rahmen zu behandeln.Natürlich müssten, anders als damals, auch der Iran und

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der Irak – notfalls die dortige Übergangsregierung –dazu eingeladen werden.

Solche nahöstlichen Rüstungskontrollgespräche wä-ren auch eine Chance für die USA und den Iran. Es gibtaus unterschiedlichen Gründen für beide Regierungenbisher keine offiziellen Möglichkeiten, sich in bilatera-len Gesprächen auszutauschen; aber im multilateralenRahmen könnte man Positionen gegenseitigen Interessesklären.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss.

Letztlich wäre eine solche Initiative – an ihr müsstenEuropäer und Amerikaner nämlich in jedem Fall teilneh-men – auch ein Signal, dass Frieden und Sicherheit imNahen Osten ein gemeinsames transatlantisches Inter-esse ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Bundesregierung hat jetzt die Staatsministerin

Kerstin Müller das Wort.

Kerstin Müller, Staatsministerin im AuswärtigenAmt:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht erstseit dem 11. September 2001 wissen wir, dass sich dieSicherheitslage seit dem Ende des Kalten Krieges völ-lig verändert hat. Wir sind mit ganz neuen, komplexe-ren sicherheitspolitischen Herausforderungen konfron-tiert – Kollege Polenz hat einige davon erwähnt –: mitder Terrorismusgefahr, regionalen Instabilitäten, derGefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaf-fen, Failed States. Angesichts dieser neuen, komplexe-ren Herausforderung brauchen wir die Rüstungskont-rolle mehr denn je.

Da dabei kein Staat im Alleingang Aussicht auf Er-folg haben kann, setzt die Bundesregierung auf Zusam-menarbeit und natürlich auf Konfliktprävention, unddas vor allem im multilateralen Rahmen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich stimme den Prämissen des Koalitionsantragesganz ausdrücklich zu. Ein Ansatz, der allein auf militäri-sche Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit setzt, istverfehlt. Wir müssen die zur Verfügung stehenden inter-nationalen Rüstungskontrollmechanismen effektiv nut-zen und verbessern, um adäquate und wirksame Antwor-ten auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffenzu finden und um vor allem das Risiko zu mindern, dassTerroristen Zugriff auf solche Waffen erhalten könnten.

Die Gespräche der Außenminister Frankreichs, Groß-britanniens und Deutschlands vorgestern in Teheranwurden hier erwähnt. Diese Gespräche haben uns ge-zeigt, dass eine kooperative Sicherheitspolitik mit denMitteln der Diplomatie erfolgreich sein kann, auch wennes schwierig ist. Der Iran hat sich zur vollen Kooperationmit der IAEO sowie zur Zeichnung und Umsetzung desZusatzprotokolls klar bekannt. Er hat zugesagt, alle Ak-tivitäten zur Urananreicherung und zur Wiederaufberei-tung vorläufig zu suspendieren. Damit werden zentraleForderungen der internationalen Gemeinschaft in der Tatvorerst erfüllt.

Ich glaube, das Ergebnis eröffnet wirklich die Chancefür eine längerfristige Lösung und dafür, dass internatio-nales Vertrauen wieder hergestellt werden kann. Esstärkt aber auch insgesamt das Nichtverbreitungsregimebzw. den Nichtverbreitungsvertrag. Wir hoffen wirklich,dass es nun auch zur Umsetzung dieser Zusagen kommt.Darauf wird vor allen Dingen die IAEO, darauf werdenaber auch wir achten.

Das Beispiel zeigt: Abrüstung, Rüstungskontrolle undNichtverbreitung sind der beste Ansatz für friedlicheLösungen auf globaler wie regionaler Ebene. Es mussmehr denn je darum gehen, die vorhandenen Instrumen-tarien im Abrüstungs- und Nichtverbreitungsbereich zustärken. Darum bemüht sich die Bundesregierung. Ange-sichts neuer Rüstungswettläufe – das wurde schon er-wähnt – hoffe ich wirklich, dass wir dabei mit den Mit-teln der Diplomatie in Zukunft erfolgreich sein werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Im Kampf gegen Proliferation spielen aber auch dieAusfuhr von kleinen und leichten Waffen, zugehörigerMunition und entsprechender Herstellungsausrüstungsowie die Lieferungen von Dual-use-Gütern in Drittlän-der eine sehr große Rolle. Sie erlauben, dass ich auch inder Debatte zum Jahresabrüstungsbericht auf diesesThema eingehe. Hier leistet die Bundesregierung einenwichtigen Beitrag, weil sie auf diesem Feld eine äußerstrestriktive Rüstungsexportpolitik betreibt. So sollen un-ter anderem künftig in Drittländern außerhalb vonNATO und EU keine neuen Herstellungslinien für Klein-waffen oder entsprechende Munition mehr eröffnet wer-den. Ferner beabsichtigen wir, den Exportgrundsatz „neufür alt“ anzuwenden, wo immer dies möglich ist. Dasheißt, Lieferverträge sollen so gestaltet werden, dass au-ßer Dienst gestellte Kleinwaffen zu vernichten sind undso dem Weiterverkauf entzogen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir haben für diese Politik auch auf der Ersten VN-Konferenz zum Kleinwaffenaktionsprogramm im Julidieses Jahres in New York nachdrücklich geworben unduns für die Kontrolle von Rüstungsexporten und Waffen-vermittlungsgeschäften eingesetzt. Dies ist uns eine zu-tiefst humanitäre Verpflichtung wie auch unsere fortge-setzten Bemühungen für ein umfassendes Verbot vonAntipersonenminen.

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Staatsministerin Kerstin Müller

Außerdem ist die Genehmigungspraxis der Bundesre-gierung bei der Ausfuhr von Dual-use-Gütern, die nebenihrem regulären zivilen Zweck auch für Massenvernich-tungswaffenprogramme missbraucht werden könnten,seit langem sehr restriktiv; sie genießt nicht zuletzt des-wegen internationale Wertschätzung. Mit Blick auf diefortgesetzten Beschaffungsversuche einiger Staaten undauf die Gefahr des Zugriffs von Terroristen auf Massen-vernichtungswaffen arbeiten wir hier aktuell an einerVerschärfung bei der Umsetzung der einschlägigen In-strumentarien der Exportkontrolle.

Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich Ih-nen allen noch einmal für Ihre Unterstützung bei dieserschwierigen Aufgabe der Abrüstung, Rüstungskontrolleund Nichtverbreitung danken. Ich hoffe, dass wir auchzukünftig mit Ihrem Rückhalt rechnen können, wenn esdarum geht, diese Herausforderungen als ein prioritäresAufgabenfeld für die EU fest zu verankern. Da stehenwir am Anfang. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wirauch hier weiterkommen und zukünftig eine wichtigeRolle bei Abrüstung und Rüstungskontrolle spielen wer-den.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von

der FDP-Fraktion.

Harald Leibrecht (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Proliferation von Massenvernichtungswaf-fen zu verhindern ist wichtiger und dringlicher als je zu-vor. Das hat die aktuelle Situation im Iran gezeigt. Ichselber war vor wenigen Tagen mit dem AuswärtigenAusschuss im Iran, um mir selbst ein Bild über die Lagevor Ort zu machen. Während dieses Besuchs versuchtedie iranische Führung, uns davon zu überzeugen, dasssie mit ihrem Nuklearprogramm nur zivile Nutzunganstrebt. Wie Sie wissen, waren wir jedoch anderer Mei-nung. Inzwischen scheint die iranische Regierung umzu-denken: Sie wird das Zusatzprotokoll zum Atomwaf-fensperrvertrag unterschreiben und Inspektionen vorOrt zustimmen. Dies, meine lieben Kolleginnen undKollegen, ist in der Tat ein bemerkenswerter Erfolg un-seres Außenministers und seines britischen und seinemfranzösischen Amtskollegen. Hierfür drücke ich die An-erkennung auch der FDP-Fraktion aus.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie Sie wissen, ist die FDP mit der derzeitigen deut-schen Außenpolitik nicht immer einverstanden, so auchin der Frage des Kunduz-Einsatzes in Afghanistan. AmDienstag hat sich gezeigt, dass eine einheitliche europäi-sche Außenpolitik erfolgreich sein kann. Bei aller Zu-versicht muss ich dennoch sagen: Der Iran muss denWorten jetzt Taten folgen lassen. Ich hoffe nicht, dassder Iran irgendwann sein Atomwaffenprogramm fort-

setzt. Das jetzt zugesagte Aussetzen des Programmsstimmt zwar optimistisch, lässt aber Hintertüren offen.Auch ohne dieses Nuklearprogramm geht vom Iran einepotenzielle militärische Gefahr aus. Wie Sie wissen, ver-fügt der Iran über Langstreckenraketen, die Israel errei-chen können. Das Beispiel Iran zeigt, wie schnell eineinternationale Bedrohung von einem Land ausgehenkann, wenn es Massenvernichtungswaffen entwickeltoder herstellt.

Wir müssen in diesem Bereich die Ursachen sozusa-gen an der Wurzel packen. Ohne Material und Know-how aus dem Ausland wäre selbst ein Land wie der Irankaum in der Lage, ein Nuklearprogramm voranzutrei-ben. Ob durch Unterstützung russischer Unternehmenoder durch Unterstützung aus Nordkorea: Immer wiederweisen Spuren in diese Länder, wenn es um Nuklearpro-gramme geht. Wir müssen dazu beitragen, dass Rüs-tungsexporte, die der Herstellung von Massenvernich-tungswaffen dienen, endlich unterbunden werden.

Iran ist abrüstungspolitisch ein wichtiges Thema, aberbei weitem nicht das einzige. Der Abrüstungsbericht derBundesregierung für 2002 ist schön aufgearbeitet undliest sich in weiten Teilen wie eine einzige Erfolgsstory.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist eine!)

Dass dieser Bericht aber nicht nur schön, sondern leiderauch schönfärberisch geschrieben ist, zeigt schon dieTatsache, dass die Regierungsfraktionen zum Abrüs-tungsbericht heute einen eigenen Antrag einbringen.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das hat mit parlamentarischer De-mokratie zu tun!)

In diesem Antrag ist die Aussage enthalten – HerrPolenz hat schon darauf hingewiesen –:

Die Rüstungskontrolle befindet sich in einer Kriseund bedarf deshalb neuer Impulse.

Das ist wohl wahr.

Viele der unzähligen Abrüstungsabkommen stam-men in der Tat aus der Zeit, als die Welt noch in Ost undWest geteilt war. Sie passen heute nicht mehr. Für dieBewältigung der neuen Herausforderungen sind dieseAbkommen unzureichend. Das ist der Grund dafür, dasseinzelne – wie wir wissen: ganz maßgebliche – Ländersich nicht mehr auf die multilateralen Instrumente derRüstungskontrolle verlassen, sondern auf Bedrohungeninzwischen unilateral reagieren.

Abrüstungspolitik braucht deshalb – mehr als einJahrzehnt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts –dringend eine Bestandsaufnahme. Damit meine ich nichteine Auflistung der unterschiedlichen Instrumente; dieseAuflistung ist in dem Abrüstungsbericht enthalten. Ichmeine eher eine ehrliche und kritische Auseinanderset-zung mit den Fragen, was diese Instrumente heute nochleisten können, wie wir sie an grundlegend veränderteSituationen anpassen können und wie neue Instrumentemöglicherweise aussehen sollten. Genau das bietet derAbrüstungsbericht eben nicht.

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Harald Leibrecht

In der ersten Lesung des Abrüstungsberichts habenSie, Frau Staatsministerin Müller, für die Bundesregie-rung angekündigt:

Wir müssen die vorhandenen Abrüstungs- undNichtverbreitungsinstrumente stärken und schärfen.

Ich fordere die Bundesregierung auf, das nicht nur anzu-kündigen, sondern auch in diesem Bereich zu handelnund gleichzeitig mit den Partnern auf internationalerEbene zu prüfen, ob wir möglicherweise neue, effekti-vere Instrumente brauchen.

Gerne hätte ich in diesem Abrüstungsbericht gelesen,was vonseiten der Bundesregierung getan wird, um Rüs-tungskontrollen in Zukunft zu verbessern.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das haben Sie gestern im Unteraus-schuss gehört!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger von

der SPD-Fraktion.

Petra Ernstberger (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Kollege Leibrecht, es gibt eine ganzeinfache Möglichkeit, nämlich unserem Antrag zuzu-stimmen.

(Uta Zapf [SPD]: Richtig!)

Auch ich möchte, wie schon viele Vorrednerinnenund Vorredner, Erleichterung über und Dank für den Er-folg zum Ausdruck bringen, den die AußenministerFrankreichs, Deutschlands und Großbritanniens auf ihrerIran-Mission errungen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man stelle sich nur einmal vor, was passiert wäre, wennder Erfolg ausgeblieben wäre. Der Iran gehört nämlichzu den Unterzeichnern des Nichtverbreitungsvertrages.Die Glaubwürdigkeit vertragsgestützter Abrüstung undRüstungskontrolle steht und fällt doch mit der Bereit-schaft der Staaten, die Verträge, die sie unterschriebenhaben, einzuhalten. Ein Vertragsbruch bzw. der Ausstiegaus diesem Nichtverbreitungsvertrag hätten sowohl fürdie Region als auch für die Politik der Rüstungskontrollezu unabsehbaren Konsequenzen führen können. Sogareine Eskalation bis hin zu einem Krieg wäre denkbar ge-wesen.

Im Augenblick können wir aufatmen; aber es ist kei-nesfalls so, dass alle Fragen geklärt wären. Das Zusatz-protokoll bezüglich der Safeguards der IAEO ist nochnicht unterschrieben. Die Urananreicherung ist lediglichausgesetzt. Es bleiben also noch offene Fragen. Es isteine Tür aufgestoßen worden; jetzt muss weitergearbei-tet werden.

Wir begrüßen die Schritte der drei Außenminister,weil sie zur Deeskalation beigetragen haben. Sie habengezeigt, dass die Europäer in der Frage der Nichtweiter-verbreitung von Nuklearwaffen handlungsfähig sind underfolgreich sein können, wenn sie in den Zielen und beiden einzusetzenden politischen Mitteln einig sind und aneinem Strang ziehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen macht es Sinn, die Politik der Deeskalationweiterzuentwickeln. Staaten dagegen zu einer „Achsedes Bösen“ zu zählen ist in meinen Augen wenig hilf-reich und kann das Gegenteil von Deeskalation bewir-ken. Wir dürfen deshalb nicht darin nachlassen, nachWegen einer politischen Einbeziehung zu suchen, auchwenn uns der Charakter von bestimmten Regimen nichtgefällt. E kommt auf die richtige Mischung aus politi-schem Druck und politischer Einbeziehung an.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung enthältzahlreiche Beispiele dafür, was unter Einbeziehung zuverstehen ist, und zahlreiche Gründe dafür, warum hier-durch Sicherheit und Stabilität zu gewinnen sind. Diewichtigste Maßnahme, um die Sicherheit durch Abrüs-tungs- und Rüstungskontrollverträge zu erhöhen, ist dieUniversalisierung bereits bestehender Abkommen.Es müssen alle beitreten, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, eben auch „die Bösen“.

Bei der Nichtverbreitung von Atomwaffen ist das be-reits weitestgehend gelungen. Nach dem Beitritt Kubaszum Nichtverbreitungsvertrag im letzten Jahr sind es ei-gentlich nur noch drei Staaten, die nicht beigetreten sindund sich somit auch nicht den Verpflichtungen des Ver-trages unterworfen haben, nämlich Indien, Pakistan undIsrael. Es ist sicherheitspolitisch sinnvoll, auch diese dreiStaaten nicht auszugrenzen oder mit Sanktionen zu bele-gen; man muss ihnen vielmehr Möglichkeiten der Mit-wirkung beim internationalen Dialog und eine Mitspra-che bei Entscheidungen über globale Sicherheitsfrageneinräumen.

Indien hatte sich früher beklagt, bei wichtigen inter-nationalen Sicherheitsfragen keine Beachtung zu finden.Das hat sich geändert – seit den indischen Atomtests.Diese Verquickung können wir nicht wollen. Deshalbmüssen wir künftig mehr tun, um sie unattraktiv zu ma-chen.

Bei den beiden anderen Massenvernichtungswaffen,den C- und B-Waffen, sowie den Trägersystemen istnoch längst keine Universalität erreicht. Insbesonderedie Länder des Nahen und Mittleren Ostens müssen ge-drängt werden, die Verträge zu unterzeichnen und dendaraus erwachsenden Verpflichtungen nachzukommen.

Der Abrüstungsbericht 2002 ist – wie alle seine Vor-gänger – informativ und eine gute Basis für die Arbeit inunserem Unterausschuss. In diesem Jahr ist er besondersvon den Terrorangriffen am 11. September 2001 und denEntwicklungen im Irak geprägt. Er spiegelt die Bemü-

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Petra Ernstberger

hungen der Einzelstaaten und der verschiedenen interna-tionalen Organisationen und Allianzen um die Bekämp-fung des Terrorismus wider und thematisiertinsbesondere die Möglichkeit, dass Massenvernich-tungswaffen in die Hände von Terroristen gelangen.

Für die Beurteilung all dieser Maßnahmen ist eszweckmäßig, sich die bisherigen Daten über den Einsatzvon Massenvernichtungswaffen durch Terroristen vorAugen zu halten. In den letzten 25 Jahren hat es vier sig-nifikante Angriffe von Terroristen, also nicht von Staa-ten, gegeben, die Giftgas, Krankheitserreger oder radio-aktives Material als Waffe eingesetzt haben. Der ersteFall war 1984, als eine religiöse Sekte im Zusammen-hang mit Lokalwahlen den Salat eines Restaurants inOregon mit Salmonellen vergiftete: 751 Erkrankte. Derzweite Fall war 1990, als die Liberation Tigers of TamilEelam, die LTTE, die Streitkräfte von Sri Lanka mitChlorgas angriffen: 60 Verletzte. Der dritte Fall fand1995 statt, als die japanische Aum-Shinrikyo-Sektedie U-Bahn von Tokio mit flüssigem Sarin angriff. Derletzte Fall fand im September 2001 nach den Terroran-schlägen in den USA statt, als es Angriffe mit Milz-brand- und Anthraxbriefen gab. Im Abrüstungsberichtwerden zusätzlich Ricinfunde in Großbritannien undBlaupausen zum Bau radiologischer Waffen bei nichtnäher charakterisierten Terroristen thematisiert.

Dies ist eigentlich eine relativ schmale Datenbasis fürverallgemeinerbare Kenntnisse über die Bereitschaft vonTerroristen, Massenvernichtungswaffen zu erwerben, zuproduzieren oder sie direkt einzusetzen. Entsprechendbeliebig erscheinen die im Abrüstungsbericht aufgeführ-ten Maßnahmen, um dieser Problematik Herr zu werden.Einleuchtend und relativ naheliegend sind alle Maßnah-men, die sich auf die Sicherung von nuklearen Materia-lien, Nuklearwaffen und chemischen Substanzen sowieauf die Vernichtung von C-Waffen in Russland beziehen.Frau Kollegin Zapf hat bereits die Global Partnership er-wähnt, die ein Erfolgsmodell Deutschlands ist, weil wirim Rahmen der Anlage in Gorny Vorarbeit für die Ver-trauensbildung mit Russland geleistet haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dies ist wirklich gut angelegtes Geld; denn die Kon-trolle der Risikobestände von hoch angereichertemUran, Plutonium und der chemischen Waffen in Russ-land ist besonders vordringlich. Ebenso bedeutsam wärees, einen Vertrag über ein Verbot der Produktion vonspaltbarem Material für Waffenzwecke abzuschließen.Auch das Thema Cut-off-Abkommen hat Frau KolleginZapf bereits angesprochen. Diese Verträge, über die imPrinzip schon seit 1978 verhandelt wird, scheitern im-mer wieder daran, dass die Interessenlage Chinas undder USA sehr unterschiedlich ist.

Es ist sehr anzuerkennen, dass im vorliegenden Abrüs-tungsbericht nicht nur die Erfolge und die positiven Schritteder bisherigen Abrüstungsarbeit dargestellt, sondern auchverpasste Chancen thematisiert werden. Zu einer dieser ver-passten Chancen gehört die Uneinigkeit über ein brauchba-res Kontrollregime für den B-Waffen-Vertrag und denTeststoppvertrag, die beide nach wie vor noch nicht in

Kraft sind, obwohl hierfür bereits vor längerer Zeit inWien eine Kontrollbehörde geschaffen wurde.

Die so genannten neuen Bedrohungen, das heißt dieGefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungs-mitteln, der Terrorismus und die unkontrollierte Machtvon kriminellen Organisationen in schwachen oder zer-fallenden Staaten, haben neue Anforderungen an dieRüstungskontrolle gestellt. Die Staatenwelt muss sichinsgesamt sicher sein, dass die Verträge, die die Staatenunterschreiben, auch wirklich eingehalten werden. Dafürmüssen die entsprechenden Überprüfungsmechanismendeutlich erweitert werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derFDP)

Wenn wir all dies nicht hätten und nicht weiter forcie-ren würden, wäre die Alternative, Zwangsmittel einzu-setzen oder militärische Gewalt anzuwenden. Aber wirAbrüster können, so glaube ich, einstimmig sagen: Ab-rüstung durch Krieg ist für uns völlig unakzeptabel.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Position, liebe Kolleginnen und Kollegen, könnenwir aber nur durchhalten, wenn es uns gelingt, Abrüs-tung durch Verträge als eine realistische Strategie darzu-stellen, die zum Erfolg führt.

Danke schön.(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Lamers von

der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden

heute über den Jahresabrüstungsbericht 2002.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Schon eine ganze Weile!)

Rüstung und Abrüstung haben schon immer in der Ge-schichte die Geister bewegt. Der britische Journalist undSchriftsteller Gilbert Keith Chesterton hat einmal gesagt– ich empfehle dieses Zitat Ihrer Aufmerksamkeit –:

Es ist nur verständlich, dass die Wölfe die Abrüs-tung der Schafe verlangen, denn deren Wolle setztdem Biss einen gewissen Widerstand entgegen.

(Heiterkeit bei der SPD)

So kann es natürlich nicht gehen, meine Damen undHerren. Abrüstung heißt nicht, dass die Starken dieSchwachen zur Abrüstung zwingen, um anschließendumso leichtere Beute zu haben. Abrüstung heißt, Ver-trauen zu bilden, Stabilität zu schaffen und Sicherheit zustärken.

(Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]) und der Abg. Claudia Roth [Augsburg][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

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Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)

Das wichtigste abrüstungspolitische Ereignis dieserTage war in der Tat die Nachricht aus Teheran, dass derIran eingelenkt und sein nukleares Anreicherungspro-gramm ausgesetzt habe. Das hört sich gut an. Ich bittedie Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass dies im Er-gebnis auch gut wird;

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

denn der Iran gehört nach dem vorliegenden Abrüs-tungsbericht zu den so genannten Problemstaaten, derenNuklearprogramm nicht eindeutig eine militärische Nut-zung ausschließt. Der Verdacht ist gewiss nicht von derHand zu weisen, der Iran entwickle Nuklearwaffen – einAlptraum für die ganze Welt!

Alle Zeitungen haben es berichtet: Der britische, deut-sche und französische Außenminister haben die Zusiche-rung des Iran erreicht, entsprechende Nuklearprogrammeauszusetzen und nur noch friedliche Atomenergienutzungzu betreiben. Ich erlaube mir nur die Frage: Wo war So-lana? Wäre es nicht besser gewesen, Europa mit einzu-beziehen?

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Gut! Sehr guter Hinweis!)

Unabhängig davon gibt ihnen der Erfolg Recht.

Meine Damen und Herren, dieses Beispiel zeigt, wasgemeinsamer, entschlossener und entschiedener Druckin einer solchen Angelegenheit erreichen kann, wennAmerikaner und Europäer gemeinsam Seite an Seitedeutlich machen, dass sie nicht bereit sind, den Appetitvon weiteren Staaten auf Atomwaffen hinzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Richtig!Absolut richtig!)

Genau dies ist im Fall Iran geschehen. Da haben allean einem Strang gezogen: Die Amerikaner auf ihreWeise und die Europäer, die bemerkenswerterweisediesmal zusammenstanden: Deutschland, Frankreichund Großbritannien.

Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass man aus Fehlernlernen kann. Wie man sieht, mit Erfolg: Im Irak war dieWeltgemeinschaft gespalten. Besser gesagt, sie wurdegespalten, nicht zuletzt durch den deutschen Bundes-kanzler,

(Zuruf des Abg. Winfried Nachtwei (BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

der im Wahlkampf erklärte – das müssen Sie sich anhö-ren, Herr Nachtwei –, egal was die Waffeninspektionenzutage förderten, Deutschland werde sich auf keinen Fallan Maßnahmen gegen den Irak beteiligen, auch nicht imRahmen der Vereinten Nationen.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Bis jetzt war Ihre Rede eigentlichgut!)

Das war schlimm; denn hier wurde Außenpolitik innen-politisch instrumentalisiert und die Weltgemeinschaft

durch eine neue Achse Berlin–Paris–Moskau gespalten.Dies hat der Abrüstung einen Bärendienst erwiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Solche Spaltungen nützen immer dem, den man eigent-lich zur Ordnung rufen will. Das war damals SaddamHussein.

Ich freue mich, dass es im Iran jetzt offensichtlich andersist. Für mich ist diese Erkenntnis auch die Quintessenz auseinem persönlichen Gespräch mit dem Chief InspectorHans Blix im Dezember des vergangenen Jahres in NewYork, der sagte, die Weltgemeinschaft habe bei der Ab-rüstung nur dann Erfolg, wenn sie wirklich zusammen-stehe. Aber gerade dies war damals nicht der Fall. Viel-leicht hätten wir den Krieg verhindern können, wenn wirglaubwürdig, geschlossen und mit einer Stimme aufge-treten wären.

(Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Nachtwei[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht ge-meinsam in Gefolgschaft! So ist die Sache!)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ver-folgt nach ihren eigenen Worten einen kooperativen undpräventiven sicherheitspolitischen Einsatz. Das geht inOrdnung. Ich frage aber, ob sie hier nicht schon wiedereinen Gegensatz zur Haltung unserer amerikanischenFreunde aufbaut, wenn sie in diesem Bericht wörtlichausführt, dass „der Schwerpunkt des US-Ansatzes ... inMaßnahmen zur Counterproliferation sowie militäri-scher Abschreckung“ liege, die sich alle Optionen derhoch entwickelten US-Militärtechnologie offen halte.“Um es klar zu sagen: Ich sehe darin keinen Gegensatz,für mich gehört beides zusammen.

Wir alle wollen eine Welt mit weniger Waffen. Wirwollen keine weitere Verbreitung von atomaren, biologi-schen und chemischen Kampfmitteln. In Afghanistan hatdie Weltgemeinschaft ein Zeichen gesetzt, dass sie nichtwillens ist, Gewalt und Terrorismus hinzunehmen. Auchim Irak gibt es ein entsprechendes Signal. Die Welt hatin beiden Fällen Verantwortung übernommen. EinScheitern hier wie dort würde das Ende jeder Abschre-ckung bedeuten und nur die Falschen ermuntern.

Im Jahresabrüstungsbericht sind Erfolge, aber auchDefizite und Schattenseiten aufgelistet worden. Bezüg-lich des Iraks habe ich darauf hingewiesen, dass es dieMöglichkeit gegeben hätte, gemeinsam erfolgreich zu-sammenzustehen. Nordkorea ist jetzt in der Tat ein Kri-senherd. Ich meine, wir sind alle gut beraten, der nord-koreanischen Regierung ein deutliches Signal zu geben.Auch hier muss die Weltgemeinschaft zusammenstehen.Nordkorea braucht keine Nuklear- und Langstrecken-waffen, um in der Zukunft bestehen zu können, sondernReis, Brot und Energie.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

In dieser Welt sind alle Verantwortlichen aufgerufen,dem Konfrontationskurs Nordkoreas so zu begegnen,dass es nicht zu einer Katastrophe kommt. Reden wirmiteinander und zeigen wir dem Regime in Nordkoreadie Grenzen auf!

(D)

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Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)

Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung zuden Ausführungen über die Entwicklung des Streitkräfte-potenzials in Deutschland machen. In dem Bericht stehtetwas von Reform der Bundeswehr. Von neuen Prioritä-ten und Herausforderungen ist die Rede. Dann aberkommt die Sache mit dem Geld. Wir haben gestern imVerteidigungsausschuss deutlich gemacht, dass wir denVerteidigungshaushalt ablehnen, Herr Staatssekretär – Siewissen das, Sie sind ein ehrlicher Mensch –,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

weil wir überzeugt sind, dass Sie mit diesem Haushalt inHöhe von 24,3 Milliarden Euro die alten und neuen Auf-gaben der Bundeswehr nicht bewältigen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir brauchen einen klaren Auftrag der Bundeswehrund, daraus abgeleitet, das dafür notwendige Geld. Das,was Rot-Grün macht, geht auf keinen Fall. Es könnennicht immer mehr Aufgaben und Einsätze mit deutlichweniger Geld bestritten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

So kann man Verteidigungs- und Sicherheitspolitik indiesem Land nicht gestalten.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit weit überzo-

gen. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Einen Satz noch. – Lassen Sie mich mit Robert

Schuman enden, der einmal gesagt hat: Die Abrüstungder Geister muss der Abrüstung der Waffen vorausge-hen.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Fan-gen Sie mal damit an!)

Das entspricht auch meiner Überzeugung.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Bundesregierung hat erneut einen umfangreichen Be-richt zur Abrüstung vorgelegt. Großen Raum nehmendarin die Massenvernichtungswaffen, deren Nichtver-breitung und Rückbau ein. Meine dreiminütige Rede be-zieht sich weniger auf das, was Sie an Positivem auflis-ten, sondern mehr auf das, was Sie schwammigumschreiben oder ganz verschweigen.

Erstes Beispiel: Sie verweisen darauf, dass Nordkoreaaus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten ist. Siekritisieren das zu Recht und warnen vor den unkalkulier-baren Risiken. Sie verschweigen aber, dass Indien, Pa-

kistan und Israel, ebenso mutmaßlich Kernwaffen besit-zende Staaten, dem Vertrag bislang überhaupt noch nichtbeigetreten sind. Sie verschweigen darüber hinaus, dassdie USA an der Entwicklung einer neuen Generation vonKernwaffen arbeiten, dafür neue Testgelände erschließenund so eklatant gegen bestehende Verträge verstoßen.

Ich vermisse auch eine eindeutige Position zum Ein-satz von uranangereicherter Munition durch die USAund Großbritannien wie jüngst im Irakkrieg.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

Hinzu kommt: Die Wahrscheinlichkeit ist riesengroß,dass sich weitere Länder in ein nukleares Abenteuerstürzen, nachdem die USA völkerrechtswidrig einen Er-oberungskrieg gegen den Irak geführt haben. Diese Be-drohungen sind nicht minder groß als die von Ihnen auf-gelisteten. Daher gehören auch sie in einen seriösenBericht.

Zweites Beispiel: Sie schreiben mehrfach über bes-sere Kontrollen, um Rüstungsexporte einzudämmen.Sie widmen sich in Abschnitt VII des Berichts den sogenannten Kleinwaffen, leichten Waffen und Antiperso-nenminen. Das tun Sie wiederum zu Recht; denn die be-waffneten Konflikte der vergangenen Jahre, zum Bei-spiel in Afrika, wurden zu einem großen Teil mit solchenKleinwaffen ausgetragen. Jemand hat sie einmal dieMassenvernichtungsmittel der heutigen Kriege genannt.

Zu den am meisten exportierten und eingesetztenKleinwaffen aber zählt neben der Kalaschnikow dasdeutsche G3-Schnellfeuergewehr von Heckler & Koch.Davon wurden 7 Millionen exportiert. In 17 Ländernwird es in Lizenz gebaut und in 64 Ländern wird es ein-gesetzt. Sie erklären, Sie wollen Rüstungsexporte ein-dämmen. Gut, dann fangen Sie zu Hause, hier inDeutschland an und nehmen Sie endlich auch Ihre eige-nen Richtlinien ernst.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

Demnach untersagen Sie sich nämlich selbst, Rüstungs-güter in Krisenregionen zu exportieren. Sie tun es den-noch unvermindert, wie auch das Beispiel Israel zeigt.

Drittes und letztes Beispiel: Sie widmen im vorlie-genden Bericht dem internationalen Terrorismus vielPlatz. Das war zu erwarten. Das macht den Bericht aller-dings nicht besser. Die PDS im Bundestag bleibt dabei:Den Kampf gegen den Terrorismus kann man gewinnen,einen Krieg dagegen nicht; denn Krieg löst keine Pro-bleme, Krieg schafft neue Probleme. Deshalb ist auchdie NATO-Strategie falsch, die Sie im Bericht loben,ebenso die Militarisierung der EU.

Da wir hier über wirkliche Abrüstung reden: Die lau-fende Hoch- und Umrüstung der Bundeswehr ist das Ge-genteil davon. Das steht auch nicht in dem Bericht, ge-hört jedoch dazu.

Ein letzter Punkt: Eigentlich hätten wir schon heuteMorgen in der Kernzeitdebatte, als wir hier das weiteThema Tourismus behandelt haben, über einen echten

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Petra Pau

Abrüstungsschritt reden müssen, nämlich darüber, end-lich das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide zuschließen, statt in ein solches Tourismusgebiet einenBombenabwurfplatz hineinzupflanzen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei

vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie

gestatten, dass auch ich mit gestern anfange, allerdingsmit gestern vor 20 Jahren, als Hunderttausende vonMenschen in der damaligen Bundesrepublik auf dieStraße zogen, um gegen neue Atomwaffen in der Bun-desrepublik zu protestieren. So viele Positionen sichsonst auch in der Zwischenzeit geändert haben mögen:Dieser Protest damals war und ist richtig. Es war einProtest gegen den Wahnwitz der Atomrüstung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Heute, 20 Jahre danach, ist der Ost-West-KonfliktGott sei Dank überwunden und sind die riesigen Atom-waffenarsenale erheblich abgebaut worden. In diesemZusammenhang kann ich allerdings nicht verstehen, wa-rum laut Presseberichten noch 64 Atombomben mit ei-ner Sprengkraft von 600 Hiroschima-Bomben in derBundesrepublik lagern. Dies ist ein Überbleibsel desKalten Krieges und meiner Auffassung nach nicht zurechtfertigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions-los] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Zugleich stellt die Verbreitung von Massenvernich-tungswaffen an neue staatliche und nicht staatliche Ak-teure eine neue Herausforderung dar. Der Jahresabrüs-tungsbericht der Bundesregierung macht deutlich, wievielfältig die Bemühungen um Rüstungskontrolle, Ab-rüstung und Nichtverbreitung sind und dass diese sehr zuUnrecht im Schatten öffentlicher Aufmerksamkeit ste-hen.

Auch ich will hier nur zwei gute Beispiele nennen, dieweitgehend unbekannt sind: Das ist erstens die G-8-Ini-tiative „Globale Partnerschaft“, die im vorigen Jahrvon Kanzler Schröder und Präsident Putin angestoßenwurde, um mit den Altlasten des Kalten Krieges im Be-reich der Massenvernichtungswaffen aufzuräumen. DieBundesrepublik leistet in diesem Bereich hervorragendeBeiträge. Das erste gemeinsame deutsch-russische Pro-jekt zur Chemiewaffenvernichtung ist das einzige Pro-jekt in Russland, welches in diesem Bereich überhauptfunktioniert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das zweite gute Beispiel ist die Selbstverpflichtungder Bundesregierung, alle ausgemusterten Kleinwaffender Bundeswehr, eben gerade die G3-Gewehre, zu ver-nichten. Das sind Hunderttausende von Gewehren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir müssen aber auch sehr nüchtern feststellen: Dasletzte Jahr war ein schlechtes Jahr für Rüstungskontrolle,Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernich-tungswaffen. Die verschiedenen Aspekte sind – das istschon genannt worden – der deutliche Anstieg der Welt-rüstungsausgaben, die zerfallenen Staaten mit der priva-tisierten Gewalt, Rüstungswettlauf in Asien und – leidertreibend bei der Krise der Rüstungskontrolle – die US-Regierung, die mit der Nuclear Posture Review und derEntwicklung von Kleinstatomwaffen die Schwelle fürden Einsatz von Atomwaffen deutlich absenkt und derenso genannter Präventivkrieg gegen den Irak ein Schlaggegen das Völkerrecht und die multilaterale Abrüstungwar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich kann nicht verstehen, Kollege Lamers, und zwarheute noch weniger als damals, dass Sie dieser Art vonvölkerrechtswidrigem Krieg im Grunde genommen nochimmer zustimmen. Das sprechen Sie nicht ehrlich undoffen aus, aber Sie äußern hier indirekt Zustimmung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ziem-lich offen!)

Vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungenund der Krise der Rüstungskontrolle ist der Antrag derKoalitionsfraktionen von besonderer und höchsterAktualität. In ihm wird die Krise der Rüstungskontrollepartnerschaftlich, aber deutlich beim Namen genannt. Ermacht deutlich, dass neue Impulse unbedingt notwendigsind, um zu einer Stärkung und Universalisierung dermultilateralen Abkommen zu kommen.

Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, das In-strument der multilateralen Rüstungskontrolle undNichtverbreitung wirksamer zu machen. Wodurch soll eswirksamer gemacht werden? Erstens kann das über denpolitischen Dialog geschehen, bei dem die Sicherheits-interessen der anderen Seite wahrgenommen werden undbei dem man nicht einfach davon ausgeht, dass die ande-ren die Bösen sind, die dann sozusagen platt gemachtwerden. Zweitens kann die Verifikation, also die Über-prüfung, mit Sanktionsmöglichkeiten dazu beitragen.Aber politisch wirksam werden diese Maßnahmen nur,wenn sie auf dem Boden des Völkerrechts und mit derStärke des Rechts durchgeführt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich empfinde es als ausgesprochen ermutigend, dasssich die Europäische Union mit ihrem Entwurf einer Si-cherheitsstrategie auf diesem Weg befindet. Ich emp-finde es als ausgesprochen ermutigend, dass die Außen-

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Winfried Nachtwei

minister von Großbritannien, Frankreich und derBundesrepublik auf dieser Basis gegenüber dem Iranagiert haben und einen ersten Durchbruch erzielt haben.Schließlich finde ich es ermutigend, dass wir in derFrage Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbrei-tung in diesem Hause – vor allem der erste Sprecher derUnionsfraktion hat das deutlich gemacht – weitgehendan einem Strang ziehen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat nun der Kollege Karl-Theodor Freiherr

von und zu Guttenberg von der CDU/CSU-Fraktion.

Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg(CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Verehrter Herr Kollege Nachtwei, ich unter-stütze Sie bei dem, was Sie in Ihrem letzten Satz gesagthaben, dass wir in vielen Punkten weitgehend an einemStrang ziehen.

Ich will nicht auf gestern zurückblicken, weil ich dieBewertung mit allen in diesem Hause teile. Ich will abereinen Blick zurück in den vergangenen Juni werfen so-wie einige Kritikpunkte nennen, die sich insbesondereauf den Antrag, den wir heute behandeln, beziehen. Imvergangenen Juni war ein hörbarer Seufzer der Erleich-terung in der Bundesregierung zu vernehmen, dass end-lich und ohne eigenes Zutun der Entwurf einereuropäischen Sicherheitsstrategie auf den Weg ge-bracht wurde. Diese Strategie in Form des Solana-Pa-piers enthält, wie wir gehört haben, wichtige Ansätze zurAbrüstung und Rüstungskontrolle. Diese Strategie ist inihren wesentlichen Inhalten auf die einvernehmliche Zu-stimmung der derzeitigen und kommenden europäischenMitglieder gestoßen. Im Dezember ist aller Voraussichtnach eine Entscheidung bezüglich dieses Papiers zu er-warten.

Es gibt viele Punkte in Ihrem Antrag, die sehr lobens-wert sind. Es verwundert aber doch, dass nur vier Mo-nate später und so kurz vor jenem Dezember ein Antragzur Beratung vorliegt, der in elementaren politischenund strategischen Punkten insbesondere im Be-gründungsteil eine Abstimmung mit den VorschlägenSolanas nicht erkennen lässt. So schließt der Text desSolana-Papiers – es mag vielleicht ein wenig schwärme-risch sein, aber nicht minder bedeutsam – mit einem Ap-pell an die transatlantische Zusammenarbeit, nämlich dieeuropäische und die amerikanische Sicherheitsstrategie,die ebenfalls essenzielle Abrüstungs- und Rüstungskon-trollfragen umfasst, aufeinander abzustimmen.

Diesbezüglich ist es lohnend, den Begründungsteil Ih-res Antrags zu überprüfen. Im Ergebnis bietet er – daskann ich Ihnen leider nicht ersparen – ein ärmlichesBild, weil hier erneut lediglich Pauschalurteile und Ver-urteilungen mit einer Konzentration auf die VereinigtenStaaten abgegeben werden. Die „nationale Sicherheits-

strategie“ der Vereinigten Staaten wird wie immerholzschnittartig – das mussten wir so oft hören – auf denBegriff Präemption verkürzt. Ähnlich wird die „Strategiezur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen“ be-handelt. Ich glaube, wir werden in dieser Zeit aufpassenmüssen, dass wir unsere Stammtische durch den sprach-lichen Stil nicht aufrüsten. Das wäre der falscheste Bei-trag, den wir mit der Begründung eines durchaus richti-gen Antrages leisten könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Frau Zapf, die vielen durchaus begrüßenswerten undnicht unvernünftigen Einzelforderungen – RuprechtPolenz hat sie benannt – erfahren mit einer solchen Um-mantelung eine bedauerliche Abwertung.

(Uta Zapf [SPD]: Das ist doch überhaupt nicht wahr!)

Wenn Sie diese Diktion in Ihrem Antrag beibehalten,dann leisten Sie einen erneuten Beitrag zur Pflege dertransatlantischen Verwerfungen. Das wünscht niemandin unserem Haus.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie auf diese Weise die notwendige Zusammenfüh-rung und Feinabstimmung der beiden vorhandenen gro-ßen Strategien bewerkstelligt werden sollen, bleibt IhrGeheimnis. Allerdings ist es dann konsequent – diesenPunkt konnte ich auch nicht finden –, dass kein wirklichüberzeugender Zusammenhang innerhalb der Bedro-hungstrias Proliferation, internationaler Terrorismus undFailed States hergestellt wird. Damit fällt es leicht, jegli-chem Einsatz von militärischen Mitteln, so wie Sie estun, scharf entgegenzutreten und diesem im Forderungs-teil durch ein geradezu apodiktisches Nichtnennen eineentsprechende Wertung zuteil werden zu lassen.

(Uta Zapf [SPD]: Sie müssen mal den Antrag lesen!)

Das mag Ihrer respektablen Überzeugung sicher sehrentsprechen. Allerdings muss man die Frage stellen, obman in diesem Gesamtzusammenhang damit einen euro-päischen Konsens herstellt.

Sie schreiben in Ihrem Antrag: Der Deutsche Bundes-tag fordert die Bundesregierung auf – ich darf das zitie-ren –,

die Erarbeitung einer europäischen Nichtverbrei-tungs- und Sicherheitsstrategie zu nutzen, um dieBedeutung vertraglich verankerter und kooperativerRüstungskontrolle zu stärken …

Schön und gut und richtig. Weiterhin steht in Ihrem An-trag, dass die internationale Gemeinschaft geschlossenauf Verletzungen von Abrüstungs- und Nichtverbrei-tungsregeln reagieren soll.

Wenn Ihr Beitrag zur Geschlossenheit im Begrün-dungsteil in der Nichtbeachtung gewisser gemeinsamer– europäischer und amerikanischer – Erkenntnisse be-steht, nämlich dass beispielsweise – was sicherlich niewünschenswert ist – als Ultima Ratio auch der Einsatzmilitärischer Mittel nicht ausgeschlossen werden kann,

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Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg

dann leisten Sie – ich sage es noch einmal – keinen ge-wichtigen Beitrag zu jener Geschlossenheit und für dieZusammenführung dieser Strategien. Deshalb darf manschon die Frage stellen – in eineinhalb Monaten stehenwir möglicherweise vor ihr –: Wollen Sie nun Solanaoder nicht? Ich erwarte von der Bundesregierung und derrot-grünen Koalition irgendwann eine Festlegung, damitwir wissen, woran wir hier sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Harald Leibrecht [FDP])

Sie fordern zu Recht ein multilaterales Handeln. Ef-fektiver Multilateralismus gründet sich gelegentlich aberauch auf einen angemessenen Tonfall und entsprechendeUmgangsformen mit unseren Partnern. Beides lassen Siein diesem Antrag – wiederum im Begründungsteil – ver-missen. Effektiver Multilateralismus verbietet auch un-reflektierte Pauschalierungen wie Kritiklosigkeit. Natür-lich muss, darf und soll Kritik auch gegenüber unserenPartnern möglich sein. Das müssen wir uns ohne Fragegegenseitig gestatten. Wir müssen nur sehr aufpassen,dass wir in all diesen Dingen Kritik nicht zur Manie wer-den lassen, nämlich dann, wenn man die Suppe vor lau-ter Haaren nicht mehr schmeckt.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Genau!)Das transatlantische Verhältnis bzw. der Atlantik scheintin meinen Augen aber noch voll von Haaren zu sein.

Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zum Jahresabrüstungsbericht 2002 derBundesregierung, Drucksachen 15/1104 und 15/1800.Der Ausschuss empfiehlt, den Bericht zur Kenntnis zunehmen und die Bundesregierung zu bitten, mit der jähr-lichen Berichterstattung fortzufahren. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltungder beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/1786 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss)

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rung

Waldzustandsbericht 2002

– Ergebnisse des forstlichen Umwelt-monitorings –

– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-ten Gabriele Hiller-Ohm, Sören Bartol,

Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-geordneten Cornelia Behm, Volker Beck(Köln), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneterund der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bun-desregierung

Waldzustandsbericht 2002

– Ergebnisse des forstlichen Umwelt-monitorings –

– Drucksachen 15/270, 15/745, 15/1027 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Cajus Caesar Cornelia Behm Dr. Christel Happach-Kasan

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieKollegin Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion dasWort.

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sieht

es in unseren Wäldern aus? Aus dem vorliegenden Be-richt der Bundesregierung wird deutlich: Seit 1995 hatsich der Zustand unserer Wälder nicht weiter verschlech-tert. Das in Deutschland befürchtete Waldsterben konntegestoppt werden. Das ist ein Erfolg, aber leider auch nurein sehr schwacher Trost; denn noch immer sind zweivon drei Bäumen in unseren Wäldern krank. Die rot-grüne Bundesregierung hat deshalb in den letzten Jahrenenorme Anstrengungen zum Schutz der Wälder unter-nommen. Bedauerlicherweise ist jedoch schon heute ab-zusehen, dass sich die Situation auch im kommendenJahr kaum verbessern wird.

Woran liegt das? Ich bin mir sicher, wir alle hier ha-ben die südeuropäischen Sommermonate bei uns inDeutschland sehr genossen. Für viele Wälder sind dieFolgen dieses Sommers mit lang anhaltender Trocken-heit jedoch katastrophal. In einigen Regionen sind ganzeKulturen und Jungbestände von Aufforstungen abgestor-ben. Die Trockenheit hat zu einer massiven Vermehrungder Borkenkäfer geführt. Die Käfer haben den durch dieDürre gestressten Bäumen vor allem in strukturarmenMonokulturen im wahrsten Sinne des Wortes den Saftabgedreht. Um das Problem der massenhaften Aus-breitung der Borkenkäfer in den Griff zu bekommen,mussten die befallenen Bäume vorzeitig abgeholzt undverkauft werden. Das wiederum führt zu einem Überan-gebot, drückt auf die Holzpreise und zwingt einigeForstbetriebe in die Knie.

Sind wir der Situation hilflos ausgeliefert? – Nein,meine Damen und Herren, das sind wir nicht. Wir kön-nen etwas tun und wir müssen etwas tun, damit unsereWälder die zunehmenden Klimaschwankungen, zum

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Gabriele Hiller-Ohm

Beispiel Dürre und Sturm, langfristig besser überste-hen.

(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Dann tun Sie doch was!)

Wir brauchen dafür keine aufwendigen Aufforstungspro-gramme, keine teuren und umweltbelastenden Pesti-zideinsätze, zum Beispiel gegen die Borkenkäferplageoder gegen schädlichen Pilzbefall. Wir brauchen auchkeine flächendeckenden Düngungen. Sie sind nicht nö-tig, um unsere Wälder in wetterextremen Zeiten wach-sen zu sehen.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wovon sprechen Sie eigentlich?)

Die Lösung ist recht einfach: Wir müssen den ein-geschlagenen Weg der naturnahen Bewirtschaftungunserer Wälder konsequent fortsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es hat sich gezeigt, dass Mischwälder mit naturnahemWirtschaftskonzept Trockenperioden deutlich besserüberstehen als Monokulturen. Die gefährlichen Killerkä-fer haben in einem Mischwald sehr viel geringere Chan-cen, sich auszubreiten. Auch Jungbestände, die sichselbst angesamt haben, sind durch Wetterextreme in derRegel nicht gefährdet. Das Geld für Neuanpflanzungenkönnen wir hier also einsparen.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Haushalts-sanierung auf Kosten des Waldes! So habe ichmir das vorgestellt!)

Es ist deshalb richtig, naturnahe Waldbewirtschaftungim Bundeswaldgesetz verpflichtend festzuschreiben.Dafür setzen wir uns ein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Mit Bürokratie den Wald retten!)

Wir brauchen starke, widerstandsfähige Wälder.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl!)

Monokulturen sind in Deutschland Kunstwälder. Sie ge-hören nicht in unser Land. Sie sind zu anfällig, zu teuerund deshalb betriebs- und volkswirtschaftlich höchstproblematisch.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist wieim Bundestag! Dort sind auch nur Menschen,die anfällig sind!)

Wälder bilden die wirtschaftliche Grundlage für dievielen Waldbauern und die Holz verarbeitende Industriein unserem Lande. Daher ist es ein wichtiges Ziel – dieshaben wir in unserem vorliegenden Antrag genau be-schrieben –, die Rahmenbedingungen für die Forst-und Holzwirtschaft in Deutschland zu verbessern.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist schon gut!)

Mehr als 700 000 Arbeitsplätze hängen an diesem wich-tigen Wirtschaftszweig. Das sind mehr als in der chemi-

schen Industrie, im Kohlebergbau und in der Stahlerzeu-gung zusammen. Auf diese Arbeitsplätze werden wirnicht verzichten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen uns noch mehr anstrengen, die Waldwirt-schaft voranzubringen und als wichtigen Wirtschaftsfak-tor in Deutschland zu stärken. Wie können wir das errei-chen?

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sparen!)

Wir müssen die Schadstoffeinträge weiter reduzieren;das ist gar keine Frage. Wir brauchen hohe Qualitäts-standards, um auf dem Markt bestehen zu können. Ichnenne ein Beispiel: Der Möbelriese Ikea – er ist uns al-len bekannt – will zukünftig nur noch Massivholzmöbelmit Qualitätssiegel auf höchstem Niveau verkaufen. An-dere Unternehmen stehen ebenfalls in den Startlöchern.Wir dürfen dieses deutliche Signal hin zu hochwertigenZertifizierungsstandards in Deutschland nicht verschla-fen.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen uns massiv anstrengen, damit genügend ent-sprechend zertifiziertes Holz aus Deutschland zur Verfü-gung steht; denn die Konkurrenz – da bin ich mir ganzsicher – schläft nicht, während wir in Deutschland imGezänk um Qualitätsstandards wichtige Marktchancenaus den Augen zu verlieren drohen. Die Möbelindustriewird ihr Holz dann aus europäischen Nachbarländern be-ziehen. Da ist man im Übrigen schon sehr viel weiter alsbei uns. Der englische Staatswald ist bereits nach FSCzertifiziert. Aber auch über die EU hinaus gibt es immermehr Bestrebungen, sich hohen Standards zuzuwenden.In Russland gibt es immer mehr zertifizierte Betriebe.Das sollte uns aufrütteln.

Wir brauchen hohe Qualitätsstandards. Wir müssenuns zur Stärkung der heimischen Forst- und Holzwirt-schaft aber auch gegen ruinöse internationale Wettbe-werbsverzerrungen zur Wehr setzen. Ich bin sehr froh,dass sich auf EU-Ebene endlich etwas bewegt und dieMitgliedstaaten einen Aktionsplan gegen illegale Holz-importe erarbeiten. Billigholzimporte schwächen deneuropäischen und auch den heimischen Holzmarkt undgefährden den Bestand der letzten Urwälder auf unsererErde.

Die Waldbestände vor allem in den Entwicklungslän-dern sind durch Raubbau enorm zurückgegangen. Inden letzten fünf Jahren wurde eine Waldfläche von derGröße Frankreichs vernichtet. Sie ist unwiederbringlichverloren. In Deutschland nehmen die Waldbestände Gottsei Dank wieder zu.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie haben nichts dafür getan!)

Uns steht ein jährliches Potenzial von rund 60 MillionenKubikmetern Holz zur Verfügung. 20 Millionen Kubik-meter bleiben jedoch zurzeit ungenutzt. Das bedeutet,dass noch enorme Kraftreserven zum Klimaschutz in un-

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Gabriele Hiller-Ohm

seren Wäldern schlummern. Diese Kraftreserven müssenwir mobilisieren.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ja!)

So sichern wir Arbeitsplätze, stützen die heimischeForst- und Holzwirtschaft und tun gleichzeitig etwas fürdie Umwelt.

(Beifall bei der SPD – Cajus Caesar [CDU/CSU]: Wann fangen Sie damit an?)

Wie machen wir das? Das ist eigentlich ganz einfach.Holz ist genug da.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ja!)

Am Absatz mangelt es. Wir fördern also den Absatz. Wirschmieden ein weitreichendes Aktions- und Organisati-onsbündnis in Deutschland, die Charta Holz, um Holzvor allem in den Bereichen Wohnen, Bauen und Heizenaus seinem derzeitigen Schattendasein herauszuholen.

(Beifall bei der SPD)

Die Skandinavier machen uns vor, wie es geht. Sieverbrauchen pro Kopf zwei- bis dreimal so viel Holz wiewir. Da sind also noch enorme Potenziale. Holz als nach-wachsender Bau- und Heizstoff wird bei uns leider nochnicht so akzeptiert und hat sich noch nicht so durchge-setzt, wie es nötig wäre. Das wollen wir ändern. Dasmacht ökonomisch und ökologisch Sinn. Das machenwir mit der Charta Holz. Die rot-grüne Bundesregie-rung hat mit der Charta Holz einen wichtigen Prozess inGang gesetzt. Im Dezember sollen die ersten Ergebnissevorliegen. Ich bin sehr gespannt und ich bin guter Hoff-nung, dass wir hier einen Schritt weiterkommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist schon erstaunlich: In Deutschland wird ganz offen-sichtlich der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Von Rot-Grünvor allem!)

Obwohl wir tolle Waldbestände in Deutschland haben,wird Holz bei Bauvorhaben häufig sträflich benachtei-ligt.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Ich habe esverwendet, Frau Kollegin!)

Ich nenne ein Beispiel: Es lag ein Angebot vor, die Mes-sehalle in München in Holzbauweise zu errichten, dassogar noch 20 Millionen Euro günstiger als ein anderesAngebot war. Trotzdem hat man sich gegen dieses Ange-bot entschieden. Woran liegt das? Ganz offensichtlich istdie Stahl- und Betonlobby in Deutschland besser aufge-stellt als die Forst- und Holzwirtschaft. Diese Schieflagewollen wir mit der Charta Holz ein wenig geraderücken.Die hohe Qualität von Holz auch bei Großkonstruktio-nen ist inzwischen bewiesen. Ich nenne als Beispiel dasHolzgroßbauprojekt auf dem ehemaligen EXPO-Ge-lände. Diese Halle erhielt das größte Holzdach Europas.Es geht also.

Holz sollte nicht nur bei Neubauten verstärkt zumZuge kommen, auch bei Renovierungs- und Sanierungs-maßnahmen gibt es einen enormen Bedarf an Holz. InDeutschland sind zurzeit 25 Millionen Wohnungen mo-dernisierungsbedürftig. Da könnte man Holz sehr guteinsetzen. Auch als Heizstoff ist Holz eine Alternativezu Kohle, Öl und Gas.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Seit langembekannt!)

Warum nutzen wir diesen attraktiven nachwachsendenRohstoff nicht noch viel stärker?

(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Sie sind doch an der Regierung!)

Tun wir es doch! – Ich hoffe, dass wir mit der ChartaHolz den Durchbruch in Deutschland schaffen werden,und bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Schirmbeck von

der CDU/CSU-Fraktion.

Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Frau Kollegin Hiller-Ohm, wenn Sie heute dieCharta Holz statt eines prosaischen Entschließungsan-trags vorgelegt hätten, dann wären wir einen Schritt wei-ter. Ich kann Ihnen nur zustimmen, dass Holz ein idealerBaustoff ist und wir Holz viel stärker energetisch nutzenkönnten. Aber diese Feststellung, über die wir uns alleeinig sind, braucht man nicht zum siebenundzwanzigs-ten Mal zu wiederholen. Man muss vielmehr konkreteSchritte einleiten, damit die Marktnachteile, die zurzeitvorhanden sind – was Sie über die Lobby ausgeführt ha-ben, kann man auch nur unterstreichen –, ausgemerztwerden und wir damit einen Schritt weiterkommen.

Wir sprechen heute über den Waldzustandsbericht2002. Die Daten, die darin enthalten sind, stammen teil-weise aus dem Jahr 2001 und berücksichtigen nicht diereale Lage. Frau Hiller-Ohm, Sie haben richtig gesagt,dass der Sommer für alle, die Urlaub machen wollten,gut, für den Wald aber eine Katastrophe war. Deshalb istdie Lage erheblich schlechter, als sie in dem jetzt vorlie-genden Bericht, den wir hier diskutieren, zum Ausdruckkommt.

Aber was braucht der Wald? Notwendig sind konkreteMaßnahmen, wenn wir auf die bestehende Situation rea-gieren wollen. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel,wo Sie als Regierung etwas bewegen können. VieleNeuanpflanzungen, die gefördert worden sind, sind indiesem Jahr nicht hochgekommen. Wenn im nächstenJahr die Anpflanzung wiederholt werden muss, stelltsich die Frage, ob dafür in allen Bundesländern erneutFördermittel fließen. Wenn Ihre Ministerin gemeinsammit der Agrarministerkonferenz und den Bundesländernin diesem Zusammenhang entsprechende Regelungenerarbeiten würde, dann wäre das eine konkrete Hilfe.

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Georg Schirmbeck

Aber wie sieht die reale Lage aus? Festzustellen ist,dass diese Fördermittel, die im Rahmen der Gemein-schaftsaufgabe bereitgestellt werden, gekürzt werden.Das heißt, auch in diesem Bereich, in dem Fördermittelaus dem Bundeshaushalt und aus den Landeshaushaltenzur Verfügung gestellt werden

(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber doch nicht dafür! – MatthiasWeisheit [SPD]: Sie haben dem FDP-Antragzugestimmt, der noch mehr Kürzungen ent-hielt!)

– ich komme gleich auf diesen Punkt zu sprechen –, istaufgrund der Kürzungen keine zusätzliche Maßnahmemöglich.

Entlarvend war Ihre Äußerung, dass im Wald nichtgedüngt werden soll. Unter Düngen verstehen Sie dochwahrscheinlich das Waldkalken. Es ist die erklärte Aus-sage Ihrer Bundesregierung, dass die Waldkalkungenfür die Waldböden, die teilweise sauer wie Essig sind,noch über einen sehr langen Zeitraum notwendig sind.Faktisch finden aber in diesem Jahr keine Waldkalkun-gen mehr statt, weil die Spitzenfinanzierung nicht mehrsichergestellt ist. Wir wissen, dass eine hundertprozen-tige Finanzierung bei der derzeitigen Gesetzeslage nichtmöglich ist. Die Mitfinanzierung über die Kommunen,die in der Vergangenheit üblich war, ist nicht mehr mög-lich, weil die Kommunen wegen Ihrer Wirtschafts- undFinanzpolitik pleite sind. Faktisch finden keine Kalkun-gen mehr statt, sodass eine sinnvolle Sanierungsmaß-nahme nicht mehr umgesetzt wird.

Das, was Sie auf den Weg bringen könnten, wenn Siees denn wollten – das gehört zu Ihren Regierungsaufga-ben –, unterlassen Sie. Sie schaden damit unserem Wald.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Sie haben ausgeführt, Ikea werde zukünftig nur nochgutes Holz aus zertifizierten Beständen verarbeiten. Siesollten in diesem Zusammenhang auch zur Kenntnisnehmen, dass im Privatwald durch die Initiative der Ei-gentümer mittlerweile 60 Prozent des Bestandes nachPEFC zertifiziert sind, das das in Europa vorherrschendeSystem ist. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass imPrivatwald diejenigen, die ein besonderes Interesse amWald haben, aus eigenem Antrieb tätig sind!

In Ihrem Entschließungsantrag fordern Sie, Systemezur Zertifizierung zu unterstützen, die pestizidfrei wirt-schaften. Sie sollten den Grafen Hatzfeld fragen, ob dasfür die FSC-Zertifizierung zutrifft. Die Umsetzung IhrerForderung hätte zur Folge, dass es in Deutschland garkein System zur Zertifizierung mehr gäbe. Sie sollten in-sofern die Realität berücksichtigen, statt Forderungen zustellen, die an den Fakten vorbei gehen.

Nach wie vor besteht ein wesentliches Problem darin,dass die Schadstoffe durch die Luft eingetragen werden.Von entscheidender Bedeutung für die Luftqualität sinddie vom Verkehr verursachten Belastungen. Ich habe ge-lesen, dass Sie den Verkehr durch geeignete Maßnahmen– Genaueres bleibt, wie üblich, im Dunkeln – reduzieren

wollen. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin,dass Ihre Regierung angegeben hat, dass der Verkehr– sowohl von LKW als auch von PKW – in den nächstenJahren noch drastisch zunehmen wird. Die Realität siehtalso anders aus.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Jawohl, Herr Präsident. – Insofern helfen uns Ihre

prosaischen Ausführungen nicht weiter. Sie müssen viel-mehr endlich handeln, soweit konkrete Regierungsmaß-nahmen erforderlich sind. Für die Sicherung der Qualitätunseres Waldes brauchen wir keine Worte, sondern Ta-ten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Albert Deß [CDU/CSU]: Da hat ein Fachmanngesprochen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-

rische Staatssekretär Matthias Berninger.

Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Schirmbeck, dann wollen wir einmal von den Re-den zu den Taten kommen.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ja!)

Ich glaube, dass der Wald es verdient, dass wir inner-halb dieses Hauses einen Konsens entwickeln, nämlichdass die Waldpolitik eine stärkere Aufmerksamkeit ver-dient, als sie in den vergangenen Jahren gelegentlichvorhanden war. Denn mir fällt immer wieder auf, dassdiejenigen, die sich für den Wald interessieren – sowohldie Waldbesitzer als auch die Umweltschützer –, vielmehr gemeinsame Interessen haben als Streitpunkte.Dennoch ist die politische Diskussion hauptsächlich vondem Streit geprägt.

Es ist das konkrete Ziel der Bundesregierung, auf denGemeinsamkeiten aufzubauen. Deswegen habe ich michsehr darüber gefreut, dass wir in der Diskussion über dasNationale Waldprogramm ein sehr umfangreiches Papierbeider Seiten bekommen haben, das sich mit der Frageder Zukunft unseres Waldes befasst.

Ein wesentlicher Bestandteil – Frau Hiller-Ohm hatdarauf hingewiesen – ist die naturnahe Waldwirtschaft.Wenn sich beide Seiten einig sind, dass die Zukunft demnaturnah bewirtschafteten Wald gehört, also einemWald, der sich selber regenerieren kann, in dem dieBaumarten wieder von selbst wachsen und bei dem mannicht auf Monokulturen, sondern auf Vielfalt und aufPflanzen setzt, die standortverträglich sind, dann rechneich fest damit, dass Sie unserem Entwurf eines Bundes-waldgesetzes, den wir noch vorlegen werden, zustimmen

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Parl. Staatssekretär Matthias Berninger

werden; denn genau in diesem Gesetzentwurf werdenwir die naturnahe Waldbewirtschaftung zum künftigenStandard erheben. Schließlich wollen wir nicht, dass sichdie Fehler der Vergangenheit – das sind die großenMonokulturen – in der Zukunft fortsetzen. Diese Fehlerbereiten uns ja hauptsächlich Sorgen.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Von wel-chem Zeitraum reden Sie denn? Wovon redenSie denn? Von Buchen?)

Wann immer Stürme über das Land hinweggefegt sind,wiesen die Monokulturwälder die Hauptschäden auf.Auch bei der momentanen Diskussion über die Problememit dem Borkenkäfer – dazu gibt es eine Anfrage derAbgeordneten Happach-Kasan – stellt man fest, dass dasHauptproblem bei den Wäldern besteht, die wir künftignicht mehr wollen. Unterstützen Sie also unser Ansin-nen, naturnahe Waldwirtschaft künftig nach vorne zubringen.

Ein weiteres Beispiel ist die Naturverjüngung vonWäldern. Jeder, der sich mit Wäldern auskennt, weiß,dass der zu hohe Wildbestand uns in den allermeistenWäldern große Probleme bereitet, weil dadurch die Na-turverjüngung enorm erschwert wird. Nun wird aus demBundesjagdgesetz, dessen Reform eine notwendigeMaßnahme ist, um die Naturverjüngung der Wäldernach vorne zu bringen, ein heiliger Gral gemacht. Ange-sichts dessen, was hier abläuft, kann ich manchmal nurden Kopf schütteln. Auch bei dieser sehr konkretenMaßnahme könnte die CDU/CSU-Fraktion im Deut-schen Bundestag statt eine Lobby, die Einzelinteressenvertritt, die Waldbesitzerinnen und Waldbesitzer sowiedie Umweltverbände in Deutschland sehr tatkräftig un-terstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]:Die Jäger sind ganz anständige Menschen! Siesind keine Lobby!)

– Herr Kollege Deß sagt gerade, dass die Jäger ganz an-ständige Menschen seien. Diese Meinung teile ich voll-kommen. Wir wollen durch die Reform des Bundesjagd-gesetzes auch nicht die Jagd verbieten, sondern dieJägerinnen und Jäger in die Lage versetzen, den Wald sozu bewirtschaften und in ihm so zu jagen, dass letztend-lich das Gleichgewicht zwischen Wald auf der einenSeite und Tieren auf der anderen Seite zu einer Verbesse-rung der Situation führt. Hier brauchen wir in der Tat dieUnterstützung der Jägerinnen und Jäger, nicht aber der-jenigen, die meinen, dass ein Gesetz, das 1934 vomReichsjägermeister Göring geschaffen worden ist, bis inalle Zukunft zu gelten habe.

Ausweislich des Waldzustandsberichts 2002 ist derGesundheitszustand der Eichen relativ gut. Meine bei-den Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass esnächstes Jahr aufgrund der besonderen Situation in die-sem Jahr – es herrschte sehr große Trockenheit – Pro-bleme geben wird. Das kann man schon jetzt aufgrundder Daten für den Waldzustandsbericht 2003 sagen. DieSituation wird insbesondere für die Eichen ernster. Wirwerden hier mit großen Problemen zu kämpfen haben.

Diese kann man in der Tat durch Emissionsminimierungbekämpfen. Wenn es stimmt, dass der Verkehr zunimmt,dann ist auf jeden Fall eine Politik notwendig, die füreine Verteuerung von Treibstoffen sorgt sowie Innovati-onen wie zum Beispiel Benzin sparende Autos fördert.Hier brauchen wir Ihre Unterstützung und nicht Ihre Be-lehrung, Herr Kollege Schirmbeck.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Cajus Caesar [CDU/CSU]:Bei Ihnen wird immer nur abkassiert!)

Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die mir einfal-len, auf die alle ich aber aus Zeitgründen nicht eingehenkann.

Wichtig ist mir, dass es uns gelingt, gemeinsam dasProdukt Holz stärker nach vorne zu bringen. Ich denke,auch das ist ein Feld, auf dem wir mit der Charta Holzgemeinsame Initiativen ergreifen können. Ich teile Ihrediesbezügliche Einschätzung: Der Worte sind viele ge-wechselt. Wir sollten versuchen, den Streit zwischenverschiedenen Zertifizierungsorganisationen produktivaufzulösen. Das bedeutet aber, dass wir Standards defi-nieren sollten, an die sich alle halten müssen. Das wirddie Bundesregierung mit der Vorlage einer nationalenBeschaffungsrichtlinie in den nächsten Monaten tun.

Wir werden Ihnen 2003/04 – das ist im Koalitionsver-trag verankert – die Entwürfe eines Bundeswaldgesetzesund eines Bundesjagdgesetzes, Zertifizierungsstandardsfür den Wald sowie den Entwurf einer Charta Holz vor-legen, die helfen wird, gerade die ökonomischen Fragendes Waldes zu beantworten. Wir haben die Hoffnung,dass wir mit diesen Maßnahmen etwas für die Waldpoli-tik tun. Ich habe die herzliche Bitte, dass wir dafür dieUnterstützung des ganzen Hauses bekommen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Berninger, erlauben Sie noch sozusagen

eine Abschlussfrage des Kollegen Schirmbeck?

Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft:

Ja.

Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden,

dass Sie durch die nationale Beschaffungsrichtlinie prak-tisch FSC-Standards festschreiben wollen?

Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft:

Nein. Ich glaube, dass ich mich anders ausgedrückthabe. Ich möchte, dass wir durch die nationale Beschaf-fungsrichtlinie Standards definieren, die die naturnaheWaldwirtschaft befördern.

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Parl. Staatssekretär Matthias Berninger

Ich bin für Wettbewerb der Zertifizierungsorganisa-tionen. Alle die, die diese Standards einhalten können,sollen bei der nationalen Beschaffung besonders berück-sichtigt werden. Wir sind nicht nur für die Forsten, son-dern auch für den Verbraucherschutz zuständig. Was wirnicht wollen, ist eine nationale Beschaffungsrichtlinie,an deren Ende Etikettenschwindel steht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen eine Zertifizierung unterstützen, die eine na-turnahe Waldbewirtschaftung fördert.

Ich wünsche mir, dass möglichst viele Waldbauern inDeutschland und auch möglichst viele in Deutschland tä-tige Zertifizierungsorganisationen mitmachen. Bei derZertifizierung gilt das, was in der Waldpolitik insgesamtgilt: Der Konsens unter denen, die sich da bemühen, isteigentlich größer als der Dissens. Wir streiten uns bei derZertifizierung in einem Kleinkrieg über mehrere Fragen,die wir im Detail im Ausschuss diskutieren können undvon denen ich glaube, dass sie lösbar sind. Die Bundes-regierung wird in Abstimmung von Wirtschaftsministe-rium, Umweltministerium und Verbraucherschutzminis-terium handeln. Die Zertifizierungsorganisationenkönnen, denke ich, einen Kompromiss finden, an dessenEnde steht: Mehr Holz aus Wäldern, die naturnah be-wirtschaftet werden, wird bei der Beschaffung des Bun-des und hoffentlich auch der Länder und der Kommunenberücksichtigt.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach-

Kasan von der FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist hier ein kleiner, aber offensichtlich ausgesprochenwaldinteressierter Kreis. Ich hoffe, dass wir ihn in Zu-kunft etwas vergrößern können.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Alle anderen befin-den sich beim Waldspaziergang!)

Herr Berninger, Sie haben die Maßnahmen angespro-chen, die sich die Bundesregierung vorgenommen hat.Ich möchte dazu anmerken: Global betrachtet ist der ille-gale Holzeinschlag in vielen Wäldern anderer Erdteiledas gravierende, das ganz große Problem. An diesemProblem ändern wir nichts, wenn wir in Deutschlandweitere Regelungen schaffen. Ihr Waldgesetz wird wei-tere Regelungen und zusätzliche Standards zur Zertifi-zierung enthalten. Wir brauchen ein bisschen mehr Ver-trauen in unsere Waldbesitzer, die ihre Wälder inJahrzehnten ordentlich entwickelt haben. Stattdessensollen sie mit weiterer Bürokratie belastet werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Wald wächst, die Holzbodenfläche nimmt zuund der Holzvorrat nimmt ebenfalls zu. Die Apokalypsedes Waldsterbens ist erkennbar nicht eingetreten. Rot-Grün hat daran, glaube ich, keinen Anteil.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Matthias Weisheit[SPD])

Gleichzeitig – darum kann man nicht herumreden –werden in alten Waldformen deutliche Schäden beo-bachtet. Das ist kein Widerspruch. Das eine schließt dasandere nicht aus. Darüber kann auch eine Äußerung vonMinisterin Künast nicht hinwegtäuschen. Sie hat davongesprochen, dass der Trend gestoppt ist. Leider ist er esnicht.

Der Zustand der Waldböden ist besorgniserregend.Die Schadstoffeinträge haben die Waldflächen großflä-chig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark be-einträchtigt. Als Gegenmaßnahme empfiehlt der BerichtWaldkalkungen. Ich möchte Ihnen vorlesen, was dieehemalige Ministerin Martini in Rheinland-Pfalz gesagthat:

Nichtstun gibt die Waldböden teilweise irrepara-blen Schäden preis und gefährdet die Nachhaltig-keit der Waldwirtschaft und die Qualität unsererWasserressourcen.

Ich fordere die Regierungskoalition auf, die Maßnah-men gegen Waldschäden, die im Bericht genannt wer-den, auch zu realisieren. Dazu gehören Waldkalkungen.Dafür brauchen wir angesichts der schlechten Ertrags-situation der Wälder eine öffentliche Förderung. Außer-dem muss deutlich gemacht werden: Nur gesundeWaldböden können gesunde Wälder tragen. Andersfunktioniert es nicht.

Der heiße Sommer hat dramatische Borkenkäferschä-den in den Wäldern zur Folge gehabt. Die Schadbilder,die ich in den vergangenen Wochen gesehen habe, sindausgesprochen schlimm. Es steht zu befürchten, dass füreinige Bestände der Kahlschlag der einzige Weg ist, dieVoraussetzungen für die Neubegründung von Wald zuschaffen. Die Borkenkäferkalamität hat aber auch deut-lich gemacht, dass die eigentlichen Probleme in Fehlernvergangener Jahrzehnte liegen – es gibt Wälder, dienicht stabil sind; es gibt Monokulturen, die so nicht wei-ter betrieben werden können; deswegen werden wir ja sogroße Schäden haben –, dass FSC und die Polarisierungzwischen zwei Zertifizierungssystemen nicht die Ant-wort sind, die wir brauchen.

Frau Hiller-Ohm, Sie haben darauf abgehoben, dassSie die Arbeitsplätze im Wald erhalten wollen. FSC-Holz erzielt zurzeit einen geringeren Preis als anderesHolz. Damit ist es kaum geeignet, die Arbeitsplätze imWald zu erhalten.

Solange die Zertifizierungssysteme nicht darauf Rück-sicht nehmen, dass in Deutschland eine sehr kleinteiligeStruktur gegeben ist – 1,3 Millionen Waldbesitzer –, undsolange nicht sichergestellt ist, dass die Standards in deneinzelnen Länder gleich sind, kann ein solches Zertifi-zierungssystem meines Erachtens keinen Bestand haben.

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Dr. Christel Happach-Kasan

Ich fordere die Regierung auf, die Berichte, die sieverfasst, auch wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Wirkönnen es uns nämlich sparen, Geld für solche Berichteauszugeben, wenn sie hinterher nicht konsequent umge-setzt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Ein Satz zum Antrag der Regierungskoalition: Er

enthält – ich habe ihn in meiner ersten Rede bewertet –durchaus Sinnvolles – das will ich hier deutlich sagen –,aber es fehlt sehr viel und einiges ist überflüssig.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Cajus Caesar von der

CDU/CSU-Fraktion.

Cajus Caesar (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Der Bedeutung des Waldes muss zukünftig mehr Beach-tung geschenkt werden.

Schauen wir uns die positiven Wirkungen des Waldesan. Ich nenne hierzu die Stichworte Luft, Wasser, Klima,Boden, Artenvielfalt und, nicht zu vergessen, die Wirt-schaft; die rund 800 000 Arbeitsplätze in diesem Bereichsind nicht zu vernachlässigen.

Der Waldzustandsbericht beinhaltet eine Analyse undeine Zustandsbeschreibung. Beides ist richtig und wich-tig. Wo sind aber die Taten der Regierung? Wir suchensie vergebens. Außer Papier und Reden findet man herz-lich wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben Erfolge bei der Schadstoffreduzierung zuverzeichnen; aber in der Statistik werden nicht umsonstdie Zeiten der CDU/CSU-geführten Regierung wesent-lich einbezogen. Von 1990 bis 2000 ist die Emission vonSchwefeldioxiden um 85 Prozent zurückgegangen; dieEmission von Stickoxiden ist um 41 Prozent zurückge-gangen.

(Lachen des Abg. Matthias Weisheit [SPD] –Matthias Weisheit [SPD]: Weil die DDR plattgemacht wurde!)

Dennoch gibt es dringenden Handlungsbedarf; aberSie sind offensichtlich nicht in der Lage, die notwendi-gen Dinge auf den Weg zu bringen. Die Bodenversaue-rung schreitet weiter voran: 80 Prozent der Flächen wei-sen einen pH-Wert unter 5 auf. Einige Standorte weiseneinen pH-Wert unter 3 auf. Sie wissen: Ein Sinken despH-Wertes um zwei Punkte bedeutet eine Verhundertfa-chung der Versauerung. Das hat eine Verdrängung vonPflanzennährstoffen, einen Verlust an Vitalität, die An-

reicherung von Schwermetallen, einen Verlust von Ar-tenvielfalt und, Herr Staatssekretär, insbesondere eineVerringerung des Laubholzanteils zur Folge; denngerade das Laubholz benötigt einen hohen pH-Wert.Darüber sollten Sie nachdenken.

Verehrte Kollegin, Sie haben vorhin vorgetragen, dassmöglichst keine Düngung und damit keine Waldkal-kung auf ganzer Fläche vorgenommen werden soll. Ichdarf Ihnen darstellen, was die Regierung auf eine An-frage von mir aus diesem Jahr geantwortet hat:

Die Bodenschutzkalkung ist – neben Luftreinhalte-maßnahmen – die einzige praktikable Maßnahme,um weiteren Bodenschäden durch Nährstoffauswa-schung und Bodenversauerung entgegenzuwirken.

Sie haben es doch erkannt. Tun Sie auch etwas!

Tatsache ist auch: Die Kalkungsfläche der Staatswäl-der ist von 70 000 Hektar auf 39 000 Hektar zurückge-gangen. Die Kalkung der Privatwälder wurde ausgewei-tet. Die entsprechenden Bundesmittel sind von5,5 Millionen Euro auf 4,4 Millionen Euro zurückgegan-gen. Das sind die tatsächlichen Zahlen, die die Bundes-regierung hier auf den Tisch legt. Das können wir nichthinnehmen. Wir von der Union wollen uns für die1,3 Millionen Waldbesitzer in der BundesrepublikDeutschland weiterhin einsetzen und sie unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

„Keine Zukunft vermag gutzumachen, was man in derGegenwart versäumt.“ Das hat Albert Schweitzer gesagt.Es ist ein Zitat, das Sie sich zu Herzen nehmen sollten.Sie führen stattdessen immer mehr Bürokratie und Be-lastungen – Steuern, wie die Ökosteuer, sowie Gesetze,Verordnungen, Leitbilder, Richtlinien, Verbote, Geboteund Festsetzungen – ein. Das sind Ihre Handlungsvorga-ben. Sie legen mit der Novellierung des Bundeswaldge-setzes und des Bundesjagdgesetzes noch eins drauf. Siewollen dem einzelnen kleinen Waldbesitzer vorschrei-ben, auf welchem Quadratmeter er welche Pflanze inwelcher Größe und von welcher Sorte pflanzen soll.

Gleichzeitig vernachlässigen Sie Ihre internationaleVerantwortung. Wo sind denn die Gelder für den Tro-penwald, wo täglich Tausende von Hektar verloren ge-hen? Sie kürzen sie doch! Das ist nicht unsere Politik;das ist nicht die Politik der Union.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen Taten statt Worte: Wir wollen, dass mehrForschung sowie Marketing für Holz und Wald – es tutbeiden gut – betrieben wird, dass die vielfältigen Ein-satzmöglichkeiten des nachwachsenden RohstoffesHolz ausgenutzt werden. Das wollen wir voranbringen.Es wäre ein Beitrag zur Reduzierung von CO2, zum Kli-maschutz und zur Verbesserung der Ertragslage. Es för-dert die Waldpflege und stärkt insbesondere unserenländlichen Raum.

Dies ist eine Chance für unser Holz, für unserenWald, für die Biomasse. Diese haben es verdient.

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Cajus Caesar

Sie sind gefordert, Ihrer Verantwortung gerecht zuwerden: Bewahren Sie das Erbe eines gesunden Waldesfür die Bürger unseres Landes, aber auch für unsere Kin-der.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Abschließend hat der Kollege Albert Deß von der

CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Albert Deß (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktio-nen SPD und Grüne zum Waldzustandsbericht 2003,über den wir hier bereits im April ausführlich debattierthaben, bringt nur wohlfeile Waldlyrik. Der Wald wirddort fast ausschließlich unter dem Ökoaspekt betrachtet.Die Umweltfunktion des Waldes ist aber nur die eineSeite. Genauso wichtig ist die wirtschaftliche Funktiondes Waldes.

Fast ein Drittel unseres Landes ist mit Wald bewach-sen. Durch die Aufforstung weiterer Flächen nimmt dieWaldfläche in Deutschland im Gegensatz zu anderenLändern, wo leider riesige Waldflächen gerodet werden,zu. Allein in Bayern wurden in den vergangenen zehnJahren 20 000 Hektar neue Waldfläche geschaffen. DerAufwuchs von 1 Festmeter Holz entzieht der Atmo-sphäre 1 Tonne Kohlendioxid. Wird Holz nach dem Auf-wuchs zum Beispiel beim Bau verwendet, bleibt diesesCO2 für lange Zeit gebunden. Der vermehrte Einsatz vonHolz in den verschiedensten Bereichen, verbunden miteiner sinnvollen Waldwirtschaft, gibt uns die Möglich-keit, eine noch bessere CO2-Bilanz zu erreichen. Weilich immer großen Wert darauf lege, dass Reden undHandeln zusammenpassen, habe ich beim Umbau mei-nes Wohnhauses im vergangenen Winter möglichst vielHolz verwendet; das Ganze schaut auch noch gut aus.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD und der FDP – Georg Schirmbeck[CDU/CSU]: Solche Männer braucht dasLand! Vorbildlich!)

Nur wenn wir das Ökosystem des Waldes bewahrenund stärken, können wir seine für uns ebenso wichtigenFunktionen als Erholungsraum und Erwerbsgrundlagedauerhaft nutzen. Der Wald bietet vielfältige Möglich-keiten zur Entspannung und schafft Einkommen und Ar-beitsplätze in der Forst- und Holzwirtschaft. Es ist einFortschritt, dass selbst von den Grünen, den Panikma-chern und -profiteuren der Nation, nicht mehr derAlarmruf „Waldsterben!“ in den Mund genommen wird.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gab in den 80er-Jahren fast keine Veranstaltung derGrünen, in der das Thema Waldsterben nicht auf der Ta-gesordnung stand.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig zu Recht!)

„Der Wald stirbt!“ war eine der unverantwortlichen Pa-rolen zu dieser Zeit. Ich bin froh, dass sich die Waldbe-sitzer davon nicht entmutigen ließen und die Pflege ihrerangeblich hoffnungslos erkrankten Wälder nicht aufge-geben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU – Josef PhilipWinkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Dank grüner Umweltpolitik!)

Sie haben trotz der grünen Panikmache weiter in dieWälder investiert. Damit haben sie einen großen Beitragdazu geleistet, dass die Situation unseres Waldes trotznegativer Umwelteinflüsse nicht schlechter gewordenist. Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern und denForstbesitzern, den echten Grünen, die durch unermüdli-che Arbeit unseren Wald pflegen und erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Von den selbst ernannten grünen Aposteln brauchtsich die Holz- und Forstwirtschaft nicht vorwerfen las-sen, dass sie den ökologischen Aspekt des Waldes nichtbeachtet. Die Forst- und Holzwirtschaft war es, die denBegriff der Nachhaltigkeit geprägt und seit langem ihrePraxis danach ausgerichtet hat. Nachhaltigkeit in derForstwirtschaft lässt sich aber nur mit den Betroffenen,vor allem den rund 1,3 Millionen Kleinwaldbesitzern,verwirklichen und nicht gegen sie.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist es!)

Unsere Waldbauern brauchen keine Belehrungen vonSachunkundigen, die mit Modulationsmitteln dem Waldhelfen wollen, die vorher meinen Berufskollegen aus derTasche gezogen wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Wolff[Wolmirstedt] [SPD]: Aber jetzt mal ganzlangsam!)

Die Waldbauern wären schon zufrieden, wenn sie bei derBewirtschaftung ihrer Waldflächen von Rot-Grün nichtständig schikaniert würden.

Überflüssig ist auch die besonders von den Grünengeforderte Novellierung des Jagdrechts. Ich bin keinJäger. Deshalb kann ich ohne Hintergedanken sagen:Hier wollen sich die grünen Ideologen eine neue Spiel-wiese schaffen, auf der sie ihren Vorurteilen gegen dieJagd und Jäger freien Lauf lassen können. Das Jagdrechtist untrennbar mit dem Eigentum an Grund und Bodenverbunden und darf nicht angetastet werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sinduns alle einig, dass bei der Novellierung des Energieein-speisegesetzes die Biomasse einen höheren Stellenwerterhalten kann. Wenn die Bundesregierung und Rot-Gründies vorhaben, dann werden wir als Opposition bei die-sem Punkt konstruktiv mitarbeiten.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Deß, kommen Sie bitte zum Schluss!

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Albert Deß (CDU/CSU): Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Die

thermische Verwertung von Holz bietet eine interessantePerspektive. Wir sollten die Möglichkeiten, die damitverbunden sind, nutzen.

Ich möchte mich zum Schluss bei allen bedanken, dieheute gekommen sind, um bei dieser Walddebatte dabeizu sein. Ich möchte mich besonders, ohne dass ich damitandere zurücksetzen will, bei meinen drei Fraktionskol-legen Ulla Heinen, Gitta Connemann und Peter Bleserbedanken, die auf meinen Wunsch hin gekommen sind,obwohl sie einen anderen wichtigen Termin gehabt hät-ten.

(Unruhe bei der SPD)

Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Deß, die Anwesenheit von Kollegen be-

darf keines besonderen Dankes. Das gehört zu ihrenAufgaben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. ChristelHappach-Kasan [FDP] – Matthias Weisheit[SPD]: Die haben da zu sein! – Albert Deß[CDU/CSU]: Zu diesem Tagesordnungspunkt istdas aber nicht selbstverständlich!)

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft auf Drucksache 15/1027 zum Waldzustands-bericht 2002 und zu dem Entschließungsantrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenhierzu. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Wald-zustandsberichts 2002 auf Drucksache 15/270 den Ent-schließungsantrag auf Drucksache 15/745 anzunehmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das Zweite ist die Mehrheit!)

ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenom-men.

Ich darf fragen, ob es eine andere Meinung gibt? – Dasist nicht der Fall.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Zählen Sie mal durch!)

– Sie können sicher sein, dass abgezählt wurde.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des

Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzeszum Bürgerlichen Gesetzbuche

– Drucksache 15/1490 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so be-schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebeich dem Kollegen Dirk Manzewski von der SPD-Frak-tion das Wort.

Dirk Manzewski (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heuti-

gen Tag debattieren wir den Gesetzentwurf des Bundes-rats zur Aufhebung der in den neuen Ländern geltendenSonderregelung zur Verwertungskündigung, die dortausgeschlossen ist. Hintergrund des Gesetzentwurfs istinsbesondere die in den neuen Ländern bestehende Leer-standsproblematik und damit ein wichtiges und durchauskomplexes Problem. Der Gesetzentwurf reagiert dabeiauf eine Entwicklung, die vor einer Dekade in dieserSchärfe sicherlich kaum vorhersehbar gewesen ist.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands stand demGesetzgeber noch ein ganz anderes Bild vor Augen. Da-mals befürchtete man eine Welle von Kündigungen inden neuen Ländern und damit die Verdrängung von Mie-tern aus ihren Wohnungen, aus ihrer vertrauten Umge-bung. Das sollte vermieden werden. Deshalb hat man fürdas Gebiet der neuen Länder ein Verbot der Verwer-tungskündigung in das Einführungsgesetz zum Bürgerli-chen Gesetzbuch aufgenommen.

Heute tut sich mit den erheblichen Leerständen inden Städten und Kommunen Ostdeutschlands allerdingsein völlig anderes Szenario auf. Eine Verdrängung vonMietern ist angesichts des großen Angebots von Miet-raumwohnungen derzeit nicht zu befürchten. Ganz imGegenteil: Die Wohnungswirtschaft bei uns im Ostenwirbt um jeden Mieter.

Bereits im Rahmen der Mietrechtsreform vor etwasüber zwei Jahren hatte die Bundesregierung den neuenBundesländern signalisiert, dass sie das Verbot im Rah-men der Reform aufheben würde, wenn sich die Länderdarauf einigen könnten.

Dazu kam es damals jedoch nicht. Nach der Reformgab es stattdessen vonseiten der Länder Vorschläge fürein spezielles Sonderkündigungsrecht mit ganz neuenstädtebaulichen Tatbestandsmerkmalen. Ein solchesSonderkündigungsrecht war unter den Ländern aber lei-der nicht konsensfähig.

Über den Vorschlag des Bundesrates, der jetzt aufdem Tisch liegt und der in der Vergangenheit bereits an-diskutiert worden ist, sollten wir nun ernsthaft nachden-ken. Die hinter der Aufhebung des Verbots der Verwer-tungskündigung stehende Intention ist klar: Damit würde

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Dirk Manzewski

für noch aus der DDR stammende Mietverträge der ver-mutlich letzte große mietrechtliche Unterschied zwi-schen Ost und West beseitigt. Die Aufhebung des Ver-bots würde also mitnichten zu einer Sonderbehandlungbzw. Schlechterstellung ostdeutscher Mieter mit Altver-trägen führen. Sie würden lediglich gleich behandeltwerden wie alle anderen Mieter.

Wichtig ist für mich als Rechtspolitiker aber auch derverfassungsrechtliche Aspekt, den wir hier sicherlichnicht aus den Augen verlieren sollten. Das Verbot derVerwertungskündigung berührt nämlich das in Art. 14des Grundgesetzes geschützte Eigentumsrecht, das auchfür Vermieter gilt. Beschränkungen der Rechte vonEigentümern müssen verhältnismäßig sein. Angesichtsdes zunehmend entspannten Wohnungsmarktes in Ost-deutschland sehe ich die Verhältnismäßigkeit des Ver-bots der Verwertungskündigung mittlerweile infrage ge-stellt. Wir sollten also sorgfältig prüfen, ob nicht dieAufhebung des Verbots inzwischen schon allein mitBlick auf das Eigentumsrecht der Vermieter verfassungs-rechtlich geboten ist.

Von der Pflicht zur sorgfältigen Prüfung entbindet unsmeiner Auffassung nach auch nicht die Rechtsprechungzur so genannten Abrisskündigung. Diese Rechtspre-chung hat bisher nur in extremen Einzelfällen eine Kün-digung durch den Vermieter ermöglicht, nämlich dann,wenn ein einziger Mieter in einem großen und ansonstenleer stehenden Wohnkomplex verblieben war. Eine Prog-nose, ob diese Rechtsprechung auch in anderen Fällen zueiner zulässigen Kündigung führt – wenn zum Beispielder Leerstand nicht 90 Prozent, sondern nur 75 Prozentoder 80 Prozent beträgt und der Abriss vom Grundsatzher genehmigt ist –, ist nicht möglich. Unklar ist auch,wie die Rechtsprechung bei einem Fortbestehen des Ver-bots der Verwertungskündigung mit den übrigen von derVerwertungskündigung erfassten Fällen, wie etwa demeiner umfassenden Sanierung, umgeht.

Voraussichtlich für das nächste Jahr können wir zu die-sem Themenbereich eine Stellungnahme des Bundesge-richtshofes erwarten, dem diesbezüglich gerade ein Ur-teil des Landgerichtes Gera zur Entscheidung vorliegt.Unabhängig von dieser Entscheidung meine ich, dassuns deswegen nicht die Hände gebunden zu sein brau-chen, hier gesetzgeberisch aktiv zu werden. Ganz im Ge-genteil, denn wenn der BGH die Rechtsprechung zurAbrisskündigung nicht bestätigen sollte, bliebe bei einerAufhebung des Verbots der Verwertungskündigung dieMöglichkeit, auf diese zurückzugreifen. Damit stündenin der Praxis in jedem Fall verlässliche Instrumentarienzur Verfügung, mit denen auf das Leerstandsproblem re-agiert werden könnte.

Den Mieterschutz sehe ich hierdurch – das ist meineMeinung als Rechtspolitiker – nicht gefährdet. In derRegel werden Mietverhältnisse in Abrissfällen ohnehineinvernehmlich beendet. Ist dies nicht der Fall, bleibt einausreichender Mieterschutz auch bei Aufhebung desVerbots der Verwertungskündigung sichergestellt; derKollege Spanier wird das in dieser Debatte noch näherausführen. Die Hürden für eine Verwertungskündigungsind bereits so hoch, dass der Mieter hinreichend ge-

schützt ist. Im Übrigen gibt es noch die so genannte So-zialklausel, also das Recht zum Widerspruch gegen dieKündigung, und den Räumungs- und Vollstreckungs-schutz.

Ich meine deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen– damit komme ich zum Abschluss –, dass wir dem Ge-setzentwurf des Bundesrates aufgeschlossen gegenüber-stehen und ihn ausführlich diskutieren sollten.

(Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz

von der CDU/CSU-Fraktion.

Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu-

nächst, Herr Kollege Manzewski, sei mir gestattet, Fol-gendes zu sagen: Ich finde es sehr erfreulich, dass vonder SPD-Fraktion jetzt – im Gegensatz zu der Debatte,die wir im Juli dieses Jahres geführt haben – zumindestPrüfbedarf gesehen wird.

(Dirk Manzewski [SPD]: Da habe ich noch nicht geredet, Herr Kollege!)

– Sie haben damals nicht geredet, das ist richtig. – WennSie das schon etwas früher erkannt hätten, dann hätteauch die Prüfung schon etwas eher erfolgen können.

Nichtsdestotrotz: Da ich nicht sicher bin, ob das auchIhre Kolleginnen und Kollegen erkannt haben, glaubeich, dass zu der Entstehung dieser Regelung noch eini-ges gesagt werden sollte.

Die hier in Rede stehende Sonderregelung des Art. 232§ 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum BürgerlichenGesetzbuch erweist sich – das habe ich bereits in meinerRede im Juli gesagt – zunehmend als Hemmschuh fürdie weitere wohnungswirtschaftliche Entwicklung inden neuen Ländern.

Diese Regelung verbietet es dem Vermieter, sich bei ei-nem vor dem 3. Oktober 1990 abgeschlossenen Mietver-hältnis – das betrifft noch eine große Zahl an Mietern –auf ein berechtigtes Interesse für eine Kündigung zu be-rufen, wenn er durch die Fortführung des Mietverhält-nisses an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwer-tung gehindert wäre. Die Anwendung des Kündigungs-tatbestandes in § 573 BGB, den Sie schon ansprachenund der dies ermöglichen würde, ist für diese Mietver-hältnisse nach der genannten Vorschrift ausdrücklichausgeschlossen.

Durch diese besondere Rechtslage wird es den Eigen-tümern erschwert, Gebäude grundlegend zu sanieren,um- oder neu zu gestalten, abzureißen bzw. in ihrer Ge-samtgröße oder in ihrem Gesamtzuschnitt den geänder-ten Verhältnissen auf dem Wohnungsmarkt anzupassen.

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Marco Wanderwitz

Diese Vorschrift gilt, wie schon ausgeführt, nur fürdie neuen Länder; sie geht auf den Einigungsvertrag zu-rück. Zweck war es, wie ebenfalls schon richtig ange-sprochen, Mieter von preisgünstigem Wohnraum in An-betracht der herrschenden Wohnungsknappheit in derehemaligen DDR vor Kündigung zu schützen. Fortge-führt wurden aber auch – ich denke, das sollten wir hiererwähnen – die mietrechtlichen Schutzvorschriften desZGB der ehemaligen DDR, in denen aufgrund der völliganderen Eigentümerstruktur im Bereich des Wohnrau-mes eine Kündigungsmöglichkeit zur Verwertung desGrundstücks nicht vorgesehen war.

Wenn man sich nochmals die Wohnraumsituation zumZeitpunkt der Wiedervereinigung vergegenwärtigt, sohatte diese Regelung zu diesem Zeitpunkt durchaus ihreBerechtigung. Mittlerweile hat sich jedoch auf dem Woh-nungsmarkt vieles grundlegend verändert – und das nichterst im letzten halben Jahr. Wir sollten beispielsweise diein großem Umfang getätigten Sanierungen oder die vielenNeubauten und nicht zuletzt den seit Ende der 90er-Jahrewieder erhöhten Abwanderungsdruck im Osten nichtaus den Augen verlieren. Allein in den letzten vier Jah-ren ist der Leerstand, bezogen auf das Gebiet der neuenLänder, um mehr als 300 000 Wohnungen auf nunmehrrund 1,2 Millionen Wohnungen angestiegen. In einigenGebieten steht fast jede fünfte Wohnung leer. Damit ein-hergehend steht genügend preiswerter, sanierter Wohn-raum zur Verfügung.

Der Ausschluss der Verwertungskündigung führt nundazu, dass Vermieter, wenn sich Mieter weigern auszu-ziehen – das sind nach meiner Einschätzung leider keineEinzelfälle –, die Gebäude in mehr oder weniger unver-ändertem Zustand erhalten müssen. Mit den Mietein-künften kann aber vielfach nur ein kleiner Teil der Kos-ten für die Gebäudeunterhaltung abgedeckt werden.Gerade die kommunalen Wohnungsbaugenossenschaf-ten und -gesellschaften, die in den neuen Ländern in sehrgroßer Zahl vorhanden sind, sind in ihrer Existenz oft-mals dadurch bedroht, dass gerade Plattenbauten, aberauch andere Altbauten nicht abgerissen werden können.

Vielfach bleibt nur die Möglichkeit, den letzten verblie-benen Mieter mit großzügigen Umzugsprämien – wennman sie so bezeichnen will; wenn man mit den Betroffe-nen spricht, ist teilweise von fünfstelligen Summen dieRede – dazu zu bewegen, auszuziehen. Aber selbst da-rauf lassen sich Mieter teilweise nicht ein. Sie bestehenvielmehr darauf, in ihrer Wohnung wohnen zu bleiben.Eigentümer müssen dann Vermögensverluste hinnehmen,denen sie mangels Verkäuflichkeit des Grundstücks – dasist leider traurige Realität – nicht ausweichen können.

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Diese Sonderregelunggefährdet den Erfolg des „Stadtumbaus Ost“ insgesamt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Eine Wohnungsgenossenschaft, die ein zum Abriss aus-gewähltes Quartier derzeit nicht leer ziehen kann, wirdresignieren und nicht Jahre später, wenn die Rechtslagegeändert wurde, wieder mit neuen Planungen beginnenund neue Konzepte entwerfen – falls es diese Genossen-

schaft dann überhaupt noch gibt. Die Entwicklung derMietpreise – auch das sei an dieser Stelle gesagt – ge-fährdet bereits jetzt den Wohnungsmarkt in den neuenLändern nicht unerheblich.

Deshalb ist eine Aufhebung der Sonderregelung ge-boten, zumal es sich um die einzig verbliebene miet-rechtliche Sonderregelung in den neuen Ländern seitÜberführung des Mietrechts des ZGB in unser BGB imBereich des Kündigungsschutzes handelt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang Folgendes klar-stellen: Es geht uns nicht – das konnte ich jüngst in der„Mieter-Zeitung“ des Deutschen Mieterbundes lesen – umein „Sonderkündigungsrecht Ost“. Wir wollen – ganz imGegenteil – ein nicht mehr zu rechtfertigendes „Sonder-recht Ost“ aufheben und damit die Rechtslage in Ost undWest in einem Rechtsgebiet vereinheitlichen, in dem keinsachgerechter Grund mehr für unterschiedliche Regelun-gen besteht.

Durch die Aufhebung dieser Sondervorschrift – Kol-lege Manzewski hat es angesprochen – werden keine be-rechtigten Interessen der Mieter verletzt. Zum einensetzt § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB dem Kündigungsrecht desVermieters enge Grenzen, weil nur dann gekündigt wer-den darf, wenn der Vermieter andernfalls erheblichewirtschaftliche Nachteile erlitte. Zum anderen sind dieMieter durch zu beachtende Kündigungsfristen ge-schützt. Außerdem bleibt ihnen die Möglichkeit, derKündigung zu widersprechen, wenn diese für sie eineunzumutbare Härte bedeutete. Diese Schutzmechanis-men haben sich in den alten Ländern selbst in Gebieten,in denen Wohnungsknappheit vorherrscht, als praktika-bel und zureichend erwiesen.

Mit den Kündigungsmöglichkeiten des allgemeinenMietrechts kann die gerade die neuen Länder betreffendeLeerstandsproblematik wesentlich entschärft werden, daauch Kündigungen zum Zwecke des Gebäudeabrisses er-möglicht würden. Nun verweist die Bundesregierung – sotat sie es zum Beispiel in der Debatte im Juli – auf ver-einzelte Rechtsprechung aus jüngster Zeit, in der dieAuffassung vertreten wird, der bloße Gebäudeabriss seikeine wirtschaftliche Verwertung. Diese Rechtsprechungist aber – so meine ich – ersichtlich aus der Not geboren.Nur dadurch, dass die Gerichte davon ausgegangen sind,der bloße Abriss sei kein Fall der Verwertungskündi-gung, war der Weg eröffnet, die Kündigung von Altmiet-verhältnissen trotz des Ausschlusses der Verwertungs-kündigung zumindest auf die Generalklausel stützen zukönnen. Hätte man, was meiner Auffassung nach zutref-fender ist, auch die Abrisskündigung der aufzuhebendenSondervorschrift unterworfen, wäre ein Rückgriff aufdie Generalklausel nicht möglich gewesen.

Diese Rechtsprechung wird im Übrigen in der Litera-tur gerade deshalb zu Recht heftig kritisiert. Wenn einVermieter berechtigt ist, zur wirtschaftlichen Verwertungzu kündigen, muss dies schon nach dem Zweck der Kün-digungsregel erst recht gelten, wenn es darum geht, ohnelukrativere Nutzungsmöglichkeit künftige wirtschaftli-che Einbußen abzuwenden, die ohne den Gebäudeabrisszweifellos einträten.

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Marco Wanderwitz

Zudem lagen den beiden in diesem Zusammenhangbekannt gewordenen Entscheidungen der AmtsgerichteHalle-Saalkreis und Jena ausgesprochene Extremfällezugrunde. Auch darüber haben wir in diesem Hauseschon gesprochen. In beiden Fällen waren die Gebäudeelfgeschossige Plattenbauten, die bis auf einen letztenverbliebenen Mieter leer gezogen waren. In dem Fall,über den das Amtsgericht Halle-Saalkreis zu befindenhatte, standen jährliche Mieteinnahmen von 4 000 EuroKosten zur Unterhaltung des Gebäudes in Höhe vonmehr als 50 000 Euro gegenüber. Daher lässt sich sicher-lich nicht behaupten, dass eine Aufhebung der Sonderre-gelung angesichts veränderter Rechtsprechung obsoletgeworden sei, zumal die weitere Entwicklung im Unkla-ren bleibt und von einer einheitlichen Entscheidungspra-xis noch keine Rede sein kann.

Insoweit ist die Stellungnahme der Bundesregierungzum vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates, demeine Initiative der Freistaaten Sachsen und Thüringen so-wie des Landes Sachsen-Anhalt zugrunde liegt – drei derneuen Bundesländer konnten sich also einigen –, zumin-dest schwer nachvollziehbar. Es heißt dort:

Es sollte aber im weiteren Verfahren geprüft wer-den, ob angesichts der Rechtsprechung eine Geset-zesänderung erforderlich ist.

Ich habe ihre Initiative anders, nämlich eher dahin ge-hend verstanden, dass es um eine sorgfältige Prüfung desvorliegenden Antrages gehe. Das, was die Bundesregie-rung hier in ihrer Stellungnahme schreibt – sie stellt dasOb und nicht das Wie infrage –, trifft das Problem alsonicht.

Das Abschaffen einer Sonderregelung und damit dieGeltung einer vorhandenen gesetzlichen Regelung imgesamten Bundesgebiet ist doch besser geeignet, Rechts-sicherheit zu schaffen, als eine sich langsam entwi-ckelnde Rechtsprechung, die stets nur den Einzelfall be-treffen kann. Außerdem wäre es für Sie, Kolleginnenund Kollegen der Regierungsfraktionen, doch eineschöne Sache, statt zu reden und zu prüfen – dies tun Sieauch auf diesem Gebiet schon eine ganze Weile – einmaletwas mit uns zusammen zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Den Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion„Stadtentwicklung Ost – Mehr Effizienz und Flexibilität,weniger Regulierung und Bürokratie“ haben Sie abge-lehnt. Geben Sie sich doch zumindest heute einmal obder überschaubaren Materie einen Ruck, sachpolitischund nicht ideologisch zu handeln.

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

– Dieses Eindrucks kann man sich zumindest bei denLändern nicht erwehren, deren Regierungen sich diesemAntrag verweigert haben.

Die Sonderregelung begegnet auch im Hinblick aufdie Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz verfas-sungsrechtlichen Vorbehalten. Ich verkenne nicht, dassder Eigentümer in Anbetracht der Sozialpflichtigkeit desEigentums umso größere Einschränkungen seiner Eigen-tumsbefugnisse hinnehmen muss, je stärker das Eigen-

tumsobjekt soziale Funktionen erfüllt. Stets muss aberein sachlicher Grund für solche Einschränkungen gege-ben sein.

Sachliche Gründe dafür, die Verwertungskündigunggänzlich auszuschließen, sind aber nicht mehr ersicht-lich, schon gar nicht, wenn die Beschränkung auf dieneuen Bundesländer begrenzt ist, in denen im Gegensatzzu manchen Großstädten in den alten Bundesländernausreichend Wohnraum zur Verfügung steht. Jeder, derfür eine Angleichung der Lebensverhältnisse eintritt,müsste schon aus diesem Grunde den Antrag unterstüt-zen. Der Schutzzweck einer früher berechtigten Sonder-vorschrift hat sich ins Gegenteil verkehrt. Ich meine, wirsollten sie daher aufheben.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig

vom Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirmüssen sehen: Wir haben es hier mit zwei Themen zutun, die sich überlagern. Das eine ist der Anspruch,Rechtsgleichheit zwischen Ost und West im Mietrechtherzustellen – ich habe volles Verständnis dafür, dass dasvor allem den Rechtspolitikern sehr wichtig ist –, das an-dere ist der Anspruch, die Probleme des Leerstands imOsten und des Stadtumbaus Ost mit dem Instrument derVerwertungskündigung zu lösen. Ich möchte sehr deut-lich für Prüfung und Nachdenklichkeit werben und dasauch begründen.

Zunächst zur Seite des Eigentümers: Ich finde es ingewisser Weise schwierig, wenn der Eigentümer sagt,eine angemessene wirtschaftliche Verwertung könne nurdadurch vollzogen werden, dass er ein Haus abreißenoder einen Teil des Gebäudes zurückbauen muss. Dashat einen komischen Beigeschmack. Ähnlich ist es aufder Seite des Mieters: Auch er hat ein eigenartiges Ge-fühl, wenn ihm zur Verwertung des Objekts gekündigtwird und er weiß, dass es um den Abriss des Hausesgeht.

Es sollte also wirklich geprüft werden, ob das Instru-ment Verwertungskündigung für diesen Zweck – mankann sicher darüber diskutieren, ob es für andere Zwe-cke sinnvoll ist – das richtige Instrument ist. Man solltedies vor allem vor dem Hintergrund tun, dass ein we-sentlicher Unterschied zwischen Ost und West besteht:Im Osten gibt es einen dramatischen Leerstand – daraufhaben meine beiden Vorredner schon hingewiesen –, imWesten hat es ihn in dieser Weise nie gegeben; die Ver-wertungskündigung war dort glücklicherweise nie einInstrument, das in großem Umfang eingesetzt werdenmusste. Dort gab es sie nur für Einzelfälle. Wir wün-schen dem Westen, dass er nie in eine solche Situationkommen wird.

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Franziska Eichstädt-Bohlig

Mein Hauptanliegen ist: Wir müssen beim StadtumbauOst – das ist eine schwierige Situation für Vermieter undMieter – dafür sorgen, dass der soziale Frieden gewahrtwird. Insofern müssen wir prüfen, welches das richtige In-strument ist. Auf der einen Seite darf der Vermieter nichtin die Situation geraten, dass noch der berühmte letzteoder vorletzte Mieter in seinem Haus wohnt und er dieKosten für die Bewirtschaftung des ganzen Hauses tragenmuss. Auf der anderen Seite aber müssen auch die Inter-essen des Mieters bei einer Kündigung gewahrt bleiben.Nur dann werden die Mieter – das ist bisher der Fall – inkonstruktiver Weise am Stadtumbauprozess mitwirken.Wir dürfen also nicht ein Instrument beschließen, das densozialen Frieden, der zurzeit beim Stadtumbau herrscht,gefährdet. Von daher werbe ich dafür, dass wir mit diesemInstrument sehr achtsam umgehen

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

und nicht besserwisserisch vorab behaupten, das eineoder andere wäre das Richtige.

Ich muss gestehen, dass ich zu denjenigen gehöre, diemeinen, eine Kündigung aus berechtigtem Interesse er-füllt diese Kriterien. Richtig ist – das wurde hier bereitsgesagt –, dass wir noch nicht wissen, wie es mit derRechtsprechung weitergehen wird. Das muss noch ge-klärt werden.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir wahrschein-lich im Zuge der Novellierung des Baugesetzbuches dieMöglichkeit eröffnen, Stadtumbaugebiete qua kommu-naler Satzung definieren zu können. Auch insofern soll-ten wir prüfen, welches rechtliche Instrument geeignetist, entsprechend zu reagieren.

Ich möchte also dafür werben, dies zu prüfen und sichdie Stellungnahme des Bundesgerichtshofes anzusehen.Anschließend können wir § 573 BGB zur Entscheidungbringen. Ich glaube nicht, dass es hilft zu sagen:Rechtsangleichung ist automatisch ein sinnvolles Instru-ment für den Umgang mit dem Stadtumbau Ost. So ein-fach ist es nicht. Wir brauchen den Interessenausgleichzwischen Vermieter und Mieter. Insofern melde ich deut-lichen Beratungsbedarf bei diesem sensiblen Thema an.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Günther von

der FDP-Fraktion.

Joachim Günther (Plauen) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates entsprichtden Vorstellungen der FDP. Das in den neuen Bundes-ländern geltende Sonderrecht, das die Möglichkeit einerVerwertungskündigung ausschließt, wird der heutigenSituation nicht mehr gerecht und sollte schnellstmöglichverschwinden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bereits in den parlamentarischen Debatten zurMietrechtsreform 2001 haben wir darauf hingewiesen,dass sich dieses Sonderrecht erledigt hat und es daherschnell aus dem Gesetz herausgenommen werden sollte.Auch zu diesem Zeitpunkt war das Wohnungsüberange-bot im Osten Deutschlands schon bekannt und wusstenwir, dass es dort einen wachsenden Leerstand an Woh-nungen geben würde. Inzwischen sind es 1,4 Millionenleer stehende Wohnungen. Zum Glück hat sich die Ein-sicht in diese Richtung verändert. Ich finde es gut, dassSie mit uns darüber diskutieren wollen.

Aber die Leerstandsproblematik in den neuen Län-dern hat sich weiter verschärft. Das muss man ganz deut-lich sagen. Trotz des Programms Stadtumbau Ost, daswir von seinem Grundanliegen her unterstützen, wächstder Leerstand schneller, als Wohnungen im OstenDeutschlands abgerissen werden. Das ist das Problem.

Heute geht es darum, den geplagten Wohnungsunter-nehmen aus einer groben Einengung ihres Verfügungs-rechts herauszuhelfen. Die bekannten Fälle aus denAmtsgerichten Halle und Jena haben bereits verdeut-licht, dass die rechtlichen Hemmnisse auf dieser Streckenach wie vor groß sind. Dazu gehört auch die hier inRede stehende Möglichkeit, Mietern zu kündigen, diefreiwillig nicht bereit sind, ihre Wohnung in einem zumAbriss vorgesehenen Gebäude zu räumen.

Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Einelfgeschossiger Wohnblock in Erfurt mit 176 Wohnein-heiten ist für den Abriss vorgesehen. Die meisten Mieterwaren bereit umzuziehen. Ein Mieter blieb wohnen. Nachgeltendem Recht musste das Wohnhaus weiter betriebs-wirtschaftlich erhalten werden, was die Gesellschaft jähr-lich 77 000 Euro kostete. Der eine Mieter von 176, dernoch dort gewohnt hat, hat eine Warmmiete von 310 Euroim Monat gezahlt. Das kann sich kein Unternehmen mehrleisten. Deshalb muss sich hier etwas ändern.

Dass sich die Wohnungsunternehmen hierbei umsoziale Abfederung bemühen, haben sie zur Genüge be-wiesen. Diesem Mieter in Erfurt wurden eine vergleich-bare Wohnung im Nachbarhaus, sogar ein Reihenhausplus 20 000 Euro Abstandszahlung angeboten. Ich findedas ungerecht gegenüber den Mietern, die aufgrund derSituation bereit waren auszuziehen. Dieser Ausnutzungmüssen wir einen Riegel vorschieben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)Das Gesetz schreibt die soziale Abfederung vor. Dasbrauchen wir nicht weiter auszuführen. Im Übrigen istmir kein Wohnungsunternehmen bekannt, das bei sol-chen Umzügen bisher Druck auf die Mieter in der Formausgeübt hat, möglichst viele finanzielle Vorteile zu er-reichen. Im Gegenteil. Sie haben mehr als den Umzug be-zahlt und haben mit den Mietern ordentlich gesprochen.

Deshalb bin ich froh über den Entwurf des Bundesra-tes. Ich würde mich aber genauso freuen, Frau Eichstädt-Bohlig, wenn wir nicht sehr lange über diesen Entwurfdiskutierten, sondern noch in diesem Jahr zu einem Er-gebnis kämen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Das wäre schön!)

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich jetzt dem Kollegen Wolfgang Spanier von derSPD-Fraktion das Wort.

Wolfgang Spanier (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich betrachte den Gesetzentwurf des Bundesrates aus demBlickwinkel eines Wohnungspolitikers. Es ist sicherlichunsere gemeinsame Überzeugung, dass wir zwischen denRechten der Eigentümer und den Rechten der Mieter eineBalance zu wahren haben. Deswegen war es richtig undvernünftig, dieses Verbot einer Verwertungskündigungin den Einigungsvertrag einzubauen. Schließlich war dieSituation damals eine völlig andere; vor allen Dingenwollten wir Mieterinnen und Mieter nicht verunsichernund verängstigen.

Problematisch finde ich es allerdings, Mieterschutz-rechte mit der jeweiligen Situation am Wohnungsmarktin Zusammenhang bringen zu wollen. Ich finde, beidesmüssen wir unabhängig voneinander betrachten. Deswe-gen ist für mich auch der Hinweis auf den wachsendenLeerstand nicht das entscheidende Argument, um hierüber die Aufhebung des Verbots der Verwertungskündi-gung neu nachzudenken.

Vielmehr müssen wir die Eigentümerrechte unter demAspekt des Stadtumbaus sehen. Das ist für mich ent-scheidend. Wir müssen nämlich nicht nur die finanziel-len, sondern auch die rechtlichen Voraussetzungen dafürschaffen, dass das Programm zum Stadtumbau Ost, dasso erfolgreich angelaufen ist, zum notwendigen Erfolgführt. Zur Schaffung rechtlicher Voraussetzungen gehört– Frau Eichstädt-Bohlig hat das bereits angesprochen –,dass Änderungen im Baugesetzbuch vorgenommen undRegelungen wie die, um die es heute geht, überprüftwerden.

Dass wir uns im Rahmen der Mietrechtsreform nichtüber eine Änderung verständigen konnten, lag schlichtund einfach daran, dass sich in dieser Frage damals auchdie neuen Bundesländer uneins waren. Das hat die Re-gierung in ihrer Gegenäußerung noch einmal bekräftigt.Heute ist die Situation anders, was wiederum eine ganzandere Voraussetzung ist.

Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass dieRechtsprechung gezeigt hat, dass Abrisskündigungendurchgesetzt werden können,

(Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Unter wel-chen Kosten!)

und dass der BGH möglicherweise im nächsten Jahr eineGrundsatzentscheidung in dieser Frage treffen wird.Dennoch stimmen wir mit den Rechtspolitikern in derKoalition überein, dass wir, wie die Bundesregierungschon angekündigt hat, die neuen Sachverhalte sorgfältigprüfen müssen. Das ist kein fauler Kompromiss, sondernist angesichts der Güterabwägung das einzig Sinnvolle.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Für sehr problematisch halte ich alle Überlegungen zueinem Sonderkündigungsrecht, auch wenn man es nurfür bestimmte Stadtquartiere aussprechen wollte. Ichglaube, die Kernfrage, um die es in den nächsten Wo-chen geht, ist, ob wir das Verbot aufheben wollen odernicht.

Wichtig beim Stadtumbau ist, dass die Vermieter mitdieser schwierigen Situation – es ist eine schwierige Si-tuation, nicht nur für die Unternehmen, sondern auch fürdie Mieterinnen und Mieter – sorgsam umgehen; das hatFrau Eichstädt-Bohlig bereits gesagt. In der Regel tundie Unternehmen das auch, zum Beispiel durch das An-gebot guter Ersatzwohnungen, durch Umzugshilfen etc.Wir müssen aber auch erkennen – das ist vollkommenrichtig –, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass einzelneMieter die Möglichkeit zur Blockade erhalten. Die Ex-trembeispiele, die genannt worden sind, sind natürlichmehr als ärgerlich. Aber in der Regel laufen solche Vor-gänge einvernehmlich ab.

Wir haben zu prüfen, ob die guten Mieterschutz-rechte, die wir glücklicherweise haben, auch in dieserbesonderen Situation des Stadtumbaus Ost ausreichen.Das wird in den nächsten Wochen in den anstehendenSitzungen der Ausschüsse in Ruhe abzuwägen und zuberaten sein. Ich denke, dass es am Ende eine Regelunggeben wird, die einen vernünftigen rechtlichen Rahmenfür den Stadtumbau im Osten und demnächst sicherlichauch stärker im Westen unseres Landes bringen wird, dieaber auf der anderen Seite die gesicherten Mieterschutz-rechte an keiner Stelle auch nur im geringsten in Fragestellt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 15/1490 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Ernst Burgbacher, Dirk Niebel, KlausHaupt, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder FDP eingebrachten Entwurfs eines … Geset-zes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzge-setzes

– Drucksache 15/756 –

(Erste Beratung 48. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss)

– Drucksache 15/1593 –

Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Grotthaus

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeWolfgang Grotthaus, SPD-Fraktion.

Wolfgang Grotthaus (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Das Thema, so scheint mir, ist unerschöpflich.Gegen eine entsprechende Gesetzesänderung hat sich dieBundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine An-frage der FDP sowie auf Schreiben der DEHOGA undder NGG schon des Öfteren ausgesprochen. Zuletzt ha-ben wir noch am 5. Juni dieses Jahres hier im Plenumdarüber diskutiert. Man könnte also meinen, das Themasei ausdiskutiert.

Ich sage gleich zu Beginn, dass wir diesen Antrag derFDP ablehnen werden. Damit könnte die Diskussion füruns beendet sein, weil wir uns schon beim letzten Mal zudieser Thematik ausgetauscht haben. Da ich aber davonausgehe, dass die FDP ihre Argumente noch einmal vor-tragen wird, will ich die Gelegenheit nutzen und dies fürdie SPD auch tun.

Neue Erkenntnisse liegen aufgrund der Kürze der Zeitnatürlich nicht vor. Es stellt sich die Frage, was die FDPmit ihrem Antrag will. Gemäß ihrem Gesetzentwurfmöchte die FDP-Fraktion den Beginn der Nachtruhefür Jugendliche im Hotel- und Gaststättengewerbe so-wie im Schaustellergewerbe von bisher 22 Uhr auf24 Uhr und an den Abenden vor Berufsschultagen vonbisher 20 Uhr auf 21 Uhr heraufsetzen. Mit den Ände-rungen – so die Argumentation – soll eine bessere Aus-schöpfung des Ausbildungspotenzials in diesen Bran-chen ermöglicht und so der Jugendarbeitslosigkeitentgegengewirkt werden. In dem Antrag heißt es weiterweiter:

Zudem werden die Möglichkeiten von Haupt- undRealschülern für eine Ausbildung … verbessert.Die früheren Reifeprozesse und veränderten per-sönlichen Nachtruhezeiten der über 16-Jährigenlassen diese punktuelle Lockerung der Vorschriftenzu, ohne dass der notwendige Schutz der arbeiten-den Jugendlichen gefährdet würde.

Dies hört sich erst einmal gut an, vor allem dann, wennman bedenkt, dass es insbesondere um Ausbildungs-plätze für junge Menschen geht.

Wenn man sich die uns vorliegenden Zahlen einmal imDetail ansieht, dann erkennt man, dass sie jedoch eine ganzandere Sprache sprechen. Mit den FDP-Maßnahmen wirdkeine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze erreichtwerden. Allerdings, so halten wir für uns fest, würden da-mit die Grundwerte des Jugendarbeitsschutzgesetzesüber Bord geworfen. Die FDP spricht von einer Locke-rung, ich spreche von einer Aushöhlung des Jugendar-beitsschutzgesetzes. Die Gewährleistung einer ausrei-chenden Nachtruhe ist insbesondere für jungeMenschen, die in der Entwicklung stehen, wichtig. ImJugendarbeitsschutzgesetz wird den Besonderheiten im

Gaststätten- und Schaustellergewerbe durch Ausnahme-regelungen zur Nachtruhe schon jetzt Rechnung getra-gen. Die Nachtruhe vor Berufsschultagen soll sicherstel-len, dass Jugendliche am Folgetag ausgeruht undaufnahmefähig am Berufsschulunterricht teilnehmenkönnen.

Was sagen die Zahlen? Im Gegensatz zu anderenBranchen, in denen durchgängig ein Rückgang an Aus-bildungsplätzen feststellbar ist, konnte im Hotel- undGaststättengewerbe ein Plus von 0,3 Prozent neu abge-schlossener Ausbildungsverträge verzeichnet werden.Bricht man diese Aussage konkret auf das Gaststättenge-werbe herunter, dann erkennt man, dass es im Jahre 2002– dies sind die letzten Zahlen, die mir vorliegen –91 900 Ausbildungsplätze gab. Dies bedeutet eine Stei-gerung von fast 50 Prozent in den vergangenen zehnJahren. Ich meine, man sollte dem Gewerbe einmal Dan-keschön sagen, dass es sich für junge Menschen enga-giert einsetzt.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN und der FDP – Ernst Burgbacher[FDP]: Sie könnten aber noch viel mehr tun!)

– Herr Burgbacher, Sie sagen, dass da noch viel mehr ge-tan werden kann. Auch wir sind dieser Auffassung. Esbleibt dem Hotel- und Gaststättengewerbe selbst über-lassen, hier noch mehr zu tun. Dies wird sich aber nichtan einer oder zwei Stunden festmachen lassen. – Diesehervorragende Ausbildungsleistung erfolgte trotz desgeltenden Jugendarbeitsschutzgesetzes. Negative Aus-wirkungen auf die Ausbildungsbereitschaft sind deshalbnicht zu erkennen.

Die vorliegenden Daten belegen zudem, dass volljäh-rige Auszubildende bei der Einstellung gegenüberHaupt- und Realschülern nicht bevorzugt werden. DieBranche bildet erheblich mehr Haupt- und Realschülerals Abiturienten aus. Einige Beispiele: Bei den Restau-rantfachleuten sind rund 78 Prozent Haupt- und Real-schüler, bei den Fachkräften im Gaststättengewerbe sindes rund 70 Prozent und bei den Hotelfachleuten sind es64 Prozent usw. usf. Hier ist nicht die Differenz zu er-kennen, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben.

Die geltenden Regelungen stellen somit kein Ausbil-dungshindernis dar. Es erscheint mir deshalb wichtig, andieser Stelle nochmals auf den besonderen Wert des Ju-gendarbeitsschutzgesetzes im Arbeitsrecht hinzuweisen.Ein wie auch immer verändertes Ausgehverhalten alsBegründung für eine Gesetzesänderung heranzuziehenist nicht stichhaltig. Mögliche Freizeitaktivitäten beein-flussen weder die besondere Schutzbedürftigkeit Ju-gendlicher im Erwerbsleben noch den Schutzzweck desGesetzes. Zudem, so meine ich, besteht ein wesentlicherUnterschied darin, dass die Jugendlichen die Dauer ihrerFreizeitaktivitäten selbst bestimmen können, währendsie sich einer täglichen Arbeitszeit bis 24 Uhr nicht ent-ziehen können.

Ich fasse zusammen: Die SPD-Fraktion wird den An-trag aus zwei Gründen ablehnen. Zum einen erreichenwir mit den von der FDP vorgeschlagenen Maßnahmennicht das angestrebte Ziel. Die zugrunde gelegte Bewer-

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Wolfgang Grotthaus

tung, das geltende Recht behindere die Schaffung vonAusbildungsplätzen, habe ich anhand der dargestelltenZahlen widerlegt. Zum anderen ist die Begründung, dieJugendarbeitsschutzregelung aufgrund veränderten Frei-zeitverhaltens vernachlässigen zu dürfen, mehr als dürf-tig. Dies gilt für den gesamten Antrag der FDP: Er istmehr als dürftig. Deswegen lehnen wir ihn ab.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang

Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es geht bei dem Antrag nur vordergründig umdie Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Das ei-gentliche Anliegen des FDP-Antrages ist es, an einerStelle eine Korrektur vorzunehmen, durch die einHemmnis abgebaut werden kann, um so die Schaffungvon mehr Ausbildungsplätzen zu ermöglichen.

Es ist nicht ganz stichhaltig, Herr Grotthaus, dass Siesagen, in diesem Bereich seien es plus 0,3 Prozent. Washindert uns daran, durch eine Regelung einen Beitragdazu zu leisten, dass in dem Bereich plus 0,5 oder plus0,6 Prozent neue Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze ent-stehen?

(Wolfgang Grotthar [SPD]: Nicht von einer Stunde abhängig!)

Der Antrag geht in die richtige Richtung; denn er zieltdarauf ab, ein Stellschräubchen zu korrigieren, wodurchein Hemmnis, das im Gaststätten- und Hotelgewerbe ge-sehen wird, abgebaut werden kann.

Da ich eine relativ lange Redezeit habe, möchte ichden Versuch unternehmen, in die Betrachtung die Situa-tion einzubeziehen, in der wir uns momentan befinden.Wir haben in dieser Woche das Herbstgutachten derWirtschaftsforschungsinstitute bekommen. Darin wirdfestgestellt, dass die Zahl der Erwerbstätigen in diesemJahr alles in allem um rund 600 000 niedriger sein wirdals im Jahre 2002. Des Weiteren wird festgestellt, dasswir in diesem Jahr im Schnitt 4,4 Millionen Arbeitslosehaben werden und dass diese Zahl um rund 330 000 überder des letzten Jahres liegen wird.

Nun sagte die Bundesregierung, vertreten durch Mi-nister Clement, gestern in der Ausschusssitzung undauch hier im Plenum, dass wir in diesem Jahr im Schnitt4,39 Millionen Arbeitslose haben werden. Laut Herbst-gutachten werden wir im nächsten Jahr 4,45 MillionenArbeitslose haben, während die Bundesregierung dieZahl von 4,36 Millionen nennt. Auf den Streit, ob es um60 000 nach oben oder um 30 000 nach unten geht, willich mich gar nicht einlassen. Aber die Frage, ob es imnächsten Jahr 30 000 Arbeitslose weniger sein werden,

wie es die Auffassung der Bundesregierung ist, oder obes 50 000 mehr sein werden, wie es die Verfasser desHerbstgutachtens sagen, zeigt, über welche Größenord-nung wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit re-den. Das ist eine Marge, bei der es sich wirklich lohnt,an jeder Stelle zu schauen, ob wir nicht noch ein paarStellschräubchen haben, durch die wir Hilfestellung leis-ten können.

Wenn Sie die Situation am Ausbildungsmarkt ver-folgt haben, dann wissen Sie, dass diese in diesem Jahrbesonders schwierig war. Ende September waren – dassind die Eckdaten, die immer Ende September kommen –14 800 Ausbildungsstellen noch unbesetzt. Es gibt abernoch 35 000 Bewerber, die als nicht vermittelt gelten.Auch diese Zahlen zeigen, dass es uns wirklich jedenSchmalz Wert sein muss, ein bisschen darüber nachzu-denken, ob wir nicht an kleinsten Stellen, sozusagen alsTestfall für die Flexibilität der Fraktionen Rot-Grün,Stellschräubchen ändern können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich glaube, der Antrag geht in die richtige Richtung.Es geht nämlich nicht darum, Herr Grotthaus, wie Siegesagt haben, den Jugendarbeitsschutz auszuhöhlen oderden Gesundheitsschutz auszusetzen. Es geht auch nicht,wie das in der ersten Lesung von einem Vertreter derGrünen gesagt worden ist, um Ausbeutung oder Frühka-pitalismus. Ich finde, wir sollten uns solche Vokabelnnicht an den Kopf werfen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich habe noch ein paar neue mit-gebracht!)

Es geht allein um die Frage, ob in bestimmten FällenVeränderungen möglich sind. Ich will an einem konkre-ten Beispiel verdeutlichen, worum es geht. Die Frage ist,ob ein 17-jähriger Kochlehrling im Hotel- und Gaststät-tengewerbe um 22 Uhr den Löffel fallen lassen, durchden Hinterausgang seinen Arbeitsplatz verlassen unddurch den Vordereingang wieder hineinkommen kann,um dort zu essen und ein Bier zu trinken, weil er bis24 Uhr ausgehen darf. Dieser Fall ist möglich.

(Renate Gradistanac [SPD]: Das ist doch seine Privatsache, oder?)

Ich will das Freizeitverhalten der jungen Leute nicht alsBegründung heranziehen. Ich möchte aber darauf hinwei-sen, dass wir offensichtlich beim Jugendarbeitsschutzund beim Jugendschutz mit zweierlei Maß messen. Inbeiden Gesetzen sind Schutzgrenzen verankert.

Es stellt sich die Frage, ob dieser 17-Jährige im Hotel-und Gaststättengewerbe einen Ausbildungsplatz be-kommt, weil dort bis 23 Uhr gearbeitet wird. Betriebedes Hotel- und Gaststättengewerbes klagen zunehmenddarüber, dass dies ein Ausbildungshemmnis für Haupt-und Realschüler darstellt. Schauen wir uns einmal dasAusbildungseintrittsalter im Hotel- und Gaststättenge-werbe an! Ich nenne Ihnen die Zahlen. Im Bereich derFachleute für Systemgastronomie sind 85 Prozent18 Jahre oder älter. Bei Hotelkaufleuten sind fast 90 Pro-zent 18 Jahre oder älter. Selbst bei den Hotelfachleuten

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Wolfgang Meckelburg

sind 63 Prozent über der Grenze von 18 Jahren. Sokönnte man alle Berufsgruppen durchgehen. Das heißt,die Auszubildenden sind überwiegend 18 Jahre alt.

Diese Regelung ist eine Bremse für Haupt- und Real-schüler.

(Ernst Burgbacher [FDP]: So ist es!)

Sie sind nämlich wesentlich jünger. Dadurch entstehteine Hürde bei der Einstellung. Es geht also darum, dieseHürde abzubauen, nicht darum den Jugendschutz auszu-höhlen. Diese Zahlen haben wir übrigens nicht erfunden,sondern sie stammen vom Bundesinstitut für Berufsbil-dung.

Es geht einfach um die Frage, ob wir nicht auch den-jenigen eine Chance geben wollen, die mit 16 oder17 Jahren ihren Haupt- oder Realschulabschluss ge-macht haben und nun eine Ausbildung beginnen wollen.Die FDP stellt einen Antrag, Jugendliche bis 24 Uhr ar-beiten zu lassen. Wir als CDU/CSU haben schon in derersten Lesung einen Vermittlungsvorschlag gemachtund vorgeschlagen, die Grenze bei 23 Uhr festzulegen.Wir wollen nicht um Stunden feilschen, sondern dieseGrenze bei 23 Uhr gibt es schon. Sie wissen, dass inmehrschichtigen Betrieben auch 17-jährige Auszubil-dende bis 23 Uhr arbeiten müssen.

Nun frage ich mich ernsthaft, wie Sie das mit demGesundheitsschutz und dem Jugendarbeitsschutz inÜbereinstimmung bringen wollen. Ich möchte Ihnen einBeispiel nennen, um zu zeigen, dass diese Regelungenunlogisch sein können: Es ist erlaubt, dass beiMcDonald’s die Ausbildung bis 23 Uhr dauert. In demkleinen Restaurant nebenan aber ist dies nicht möglich.Mit Gesundheits- und Jugendarbeitsschutz hat diese Re-gelung nichts zu tun; denn in dem kleinen Restaurant istein Auszubildender nicht schützenswerter oder wenigergesund als bei McDonald’s.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist kein Grund, das abzu-schaffen!)

– Nein, das ist kein Grund, das abzuschaffen, aber ernst-haft darüber nachzudenken. Warum ist die Arbeit bis23 Uhr in dem einen Bereich erlaubt und in dem anderennicht? Warum ermöglichen wir nicht auch den kleinenund mittelständischen Betrieben, in denen nicht mehr-schichtig gearbeitet wird, Ausbildungsplätze dadurchbereitzustellen, dass Jugendliche länger arbeiten dürfen?An dieser Stelle lohnt sich die Überlegung.

Für mich ist das der Testfall, ob Sie sich an dieserwirklich kleinen Stelle, die von der Logik des Jugendar-beitsschutzes vorgegeben ist – dort ist die Uhrzeit von23 Uhr festgeschrieben –, bewegen. Das zeigt, wie re-formfähig wir in Deutschland sind, wenn Rot-Grün ander Regierung ist.

Ich fasse zusammen: In dem einen von Ihnen ge-schützten Bereich in Betrieben, in denen mehrschichtiggearbeitet wird, können Jugendliche im Alter von17 Jahren bis 23 Uhr arbeiten, dort gilt der Jugendar-beitsschutz und der Gesundheitsschutz für Jugendliche.In dem anderen Bereich liegt diese Grenze bei 22 Uhr.

Logisch begründen können Sie das nicht mehr.

(Renate Gradistanac [SPD]: Als Ausnahme!)

Das ist dasselbe Alter und das ist dieselbe Gruppe. Eshandelt sich einfach nur um einen anderen Betrieb.

(Renate Gradistanac [SPD]: Sie haben wenigErfahrung mit der Arbeitswelt der kleinen Be-triebe!)

Den Testfall haben wir leider in der zweiten und drittenLesung nicht hinbekommen können, in der Ausschuss-beratung auch nicht. Deswegen ist das ein Bereich, indem wir auch mit kleinen Kompromissen nicht weiter-kommen. Wir reden nicht über die großen Reformen derAgenda 2010, nicht über Hartz III und Hartz IV. Dassind große Gesetze. Da kann man sich an vielen Stellenschwer tun. Wir reden über ein kleines Stellschräubchen,über eine Bestimmung, mit der wir einen Beitrag leistenkönnten, in diesen kleinen Gastronomiebereichen 300,400 oder 500 Ausbildungsplätze mehr zu schaffen. Daswird nicht gelingen, weil Sie Gesundheits- und Jugend-arbeitsschutz auf zweierlei Art und Weise interpretieren.In dem einen Bereich darf man bis 23 Uhr arbeiten, imanderen nicht.

(Renate Gradistanac [SPD]: Ihnen fällt jetzt auch nichts Neues mehr ein!)

Logisch ist das jedenfalls nicht mehr zu begründen.

Wir haben uns im Ausschuss für die 23-Uhr-Grenzestatt der von der FDP vorgeschlagenen 24-Uhr-Grenzeausgesprochen, um Ihnen eine Brücke zu bauen. Aberselbst dazu waren Sie nicht bereit. Ich kann das jeden-falls keinem Vertreter des Hotel- und Gaststättengewer-bes erklären

(Renate Gradistanac [SPD]: Ich kann das! –Wolfgang Grotthaus [SPD]: Das müssen Sieuns überlassen! Wir machen das schon!)

und auch keinem 16- oder 17-Jährigen, der mit einemnormalen Hauptschul- oder Realschulabschluss dort eineAusbildungsstelle haben möchte, sie aber nicht be-kommt, weil das als Ausbildungshemmnis angesehenwird. Wenn Sie das versuchen, wird Ihre Logik durchei-nander geraten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Ich wollte andiesem einfachen Beispiel nur zeigen, wo wir die Mög-lichkeit hätten, etwas zu ändern. Selbst bei solch kleinenStellen gibt es starre Fronten, keine wirkliche Beratungim Ausschuss, kein Aufeinander-Zugehen. Wir werdenuns heute der Stimme enthalten,

(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ach nee!)

weil wir die 24-Uhr-Grenze nicht wollen. Wir sehen dasProblem auch. Ich war in der vorletzten Periode Bericht-erstatter für Jugendarbeitsschutz und weiß, worüber ichrede. Ich lasse mir von Ihnen nicht vorwerfen, dass wirden Jugendarbeitsschutz aushöhlen, ganz bestimmtnicht. Wir haben deswegen als Vermittlungsvorschlagdie 23-Uhr-Grenze angeboten. Die ist im Gesetz schonvorgesehen. Sie hätten leicht mitmachen können. Aber

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Wolfgang Meckelburg

offensichtlich ist die Zusammenarbeit auch an kleinenStellen nicht gewollt.

Wir haben noch die Möglichkeit, das über den Vermitt-lungsausschuss zu korrigieren. Ich vermute aber, dasswir das da auch nicht hinbekommen werden, weil dannandere Größenordnungen eine Rolle spielen. Ich bedau-ere, dass selbst solch kleine Schritte nicht möglich sind,weil Sie nicht mit uns den Versuch gemacht haben, dieseLogik ins Gesetz zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – RenateGradistanac [SPD]: Jetzt vergießen Sie aberKrokodilstränen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der nächste Redner ist der Kollege Josef Winkler,

Bündnis 90/Die Grünen.

(Renate Gradistanac [SPD]: Es hätte keine zwölf Minuten gebraucht, um das zu sagen!)

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Zunächst ein Wort an den Kollegenvon der CDU/CSU-Fraktion. Wenn Sie Ihre Reformfä-higkeit dadurch beweisen, dass Sie sich, wenn zwei Vor-schläge auf dem Tisch liegen, enthalten, dann guteNacht, Deutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ich habe einen Vermittlungsvorschlaggemacht!)

Jetzt zur FDP. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfwollen Sie, meine Damen und Herren von der FDP, denBeweis antreten, das unser jetziges Jugendarbeitsschutz-gesetz geändert werden muss, weil es zu starr sei, nichtmehr gut genug sei und sich zulasten der jungen Men-schen auswirke. Die Änderungen, die Sie vorschlagen,wurden jetzt schon mehrfach vorgetragen. Damit wollenSie erreichen, dass die Ausbildungsmöglichkeiten fürHaupt- und Realschüler verbessert werden. Der Ju-gendarbeitsschutz soll aufgeweicht werden, weil der ausIhrer Sicht frühere Reifeprozess von Jugendlichen eineLockerung angeblich zulässt.

Ich sage Ihnen klipp und klar: Es stimmt laut Statistiküberhaupt nicht, dass Haupt- und Realschüler benachtei-ligt sind, weil Unternehmer angeblich volljährige Aus-zubildende bevorzugen, die in der besonders arbeitsin-tensiven Phase zwischen 23 und 24 Uhr eingesetztwerden könnten. Alle vorliegenden Daten belegen, dassAbiturientinnen und Abiturienten bei der Einstellung imHotel- und Gaststättengewerbe eben nicht bevorzugtwerden.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Über 18 Jahre!)

Fast drei Viertel aller Auszubildenden sind Haupt- undRealschüler. Ich kann Ihnen das noch einmal aufschlüs-seln. Es geht nicht nur um das Alter, sondern auch da-rum, welcher Ausbildungsgang besucht wurde. 78 Pro-

zent der Auszubildenden im Bereich derRestaurantfachleute sind Haupt- und Realschüler. ImGastgewerbe sind es immer noch 70 Prozent.

Unter den Hotelfachleuten sind es 64 Prozent, unter denFachleuten für Systemgastronomie 57 Prozent und selbstbei den Hotelkaufleuten ist es noch ein gutes Drittel.

Was die FDP bewogen hat, in ihren Antrag auch nochdas Schaustellergewerbe mit aufzunehmen, bleibt ihrGeheimnis.

(Renate Gradistanac [SPD]: Das war ein Ver-sehen! – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wegen Westerwelle!Der fährt gerne Karussell!)

Unseres Wissens hat sich kein einziger Schausteller ge-genüber der Bundesregierung für eine Verkürzung derNachtruhe ausgesprochen. Insofern ist der angeblicheBedarf völlig aus der Luft gegriffen. Weil beide Ge-werbe in § 14 des Gesetzes geregelt sind, haben Sie sichwahrscheinlich gedacht – so erkläre ich mir das –, mankönne das in einem Abwasch regeln. Ich meine, das warschludrig gearbeitet, meine sehr verehrten Damen undHerren von der FDP.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es ist schon mehr als abenteuerlich, dass das verän-derte Ausgehverhalten von Jugendlichen dafür herhal-ten soll, sinnvolle Regelungen zum Schutz der arbeiten-den Jugend abzuschaffen. Es liegt in der Natur derSache, dass sich das Ausgehverhalten in den letztenJahrzehnten verändert hat. Dass meine Großeltern einanderes Unterhaltungsprogramm haben als ich oder alses meine Kindern haben werden, verstehen wir sicher-lich alle.

Dadurch wird aber kein Sinnzusammenhang nachdem Motto „Wer mit 16 Jahren in die Disko gehen kann,der kann auch bis 24 Uhr kellnern“ erkennbar. Es ist einvöllig neuer Aspekt, wenn Sie Arbeit und Freizeitverhal-ten in einen Sinnzusammenhang bringen.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Sie sollten den An-trag einmal lesen!)

Ich habe das bisher immer so verstanden, dass daseine Entspannung und Vergnügen und das andere Kon-zentration und harte Arbeit bedeutet.

(Birgit Homburger [FDP]: Wer feiern kann, kann auch arbeiten!)

Ihre Aussage, wenn das eine möglich sei, dann müsseauch das andere erlaubt sein, tragen wir nicht mit. Dennin der persönlichen Freizeitgestaltung kann sich jederselbst entscheiden und gehen, wann er will. Aber hin-sichtlich der täglichen Arbeitszeit ist das doch wohl inden seltensten Fällen möglich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Wolfgang Meckelburg[CDU/CSU]: Jetzt müssen Sie nur noch erklä-ren, warum in der Systemgastronomie 23 Uhrrichtig ist!)

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Josef Philip Winkler

Wenn man dann noch berücksichtigt – das wurde be-reits erwähnt –, dass eine Steigerung um fast 50 Prozentauf über 90 000 Ausbildungsverhältnisse stattgefundenhat, ohne dass das Gesetz geändert wurde, dann wird IhrGesetzentwurf endgültig zur Lachnummer.

Die CDU/CSU hat in der ersten Beratung im Junifestgestellt: Wir müssen die Jugend vor diesem Gesetzschützen. Richtig ist hingegen, dass wir die Jugendlichenmit diesem Gesetz schützen müssen,

(Renate Gradistanac [SPD]: Vor der FDP!)

und zwar zum einen, damit die Ausbildungsqualität er-halten bleibt, und zum anderen, weil junge Menschenbesonders geschützt werden müssen, damit ihre Ent-wicklung ungestört verläuft und ihre Gesundheit nichtgefährdet wird.

Meine Damen und Herren, hier soll ein Gesetz geän-dert werden, das sich in der Praxis bewährt hat. In Wirk-lichkeit geht es der Opposition nicht um den Abbau vonJugendarbeitslosigkeit, sondern um den Abbau von Ih-nen lästigen Schutzrechten für junge Menschen und da-mit auch von Arbeitnehmerrechten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Unsinn!)

Gerade weil junge Menschen in der Regel dasschwächste Glied einer Kette sind, werden wir das nichtzulassen. Insofern lehnen wir den Gesetzentwurf ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Dann nehmen Sie das für die System-gastronomie auch mit heraus!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher,

FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Winkler, Sie hätten die Werturteile, die Siegebracht haben, besser weglassen und sich stärker aufIhre eigenen Argumente konzentrieren sollen.

(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe heute Morgen in der Tourismusdebatte fest-gestellt, dass ein Problem von Rot-Grün darin besteht– das ist manchmal unerträglich –, dass Sie manchmaleine ideologisch verbrämte Politik betreiben. Sie habengerade den Beweis dafür angetreten.

(Beifall bei der FDP)

Es geht doch nicht um die Ausweitung von Arbeits-zeiten und um den Abbau von Jugendschutzrechten. Siehaben vorhin ausgeführt, Herr Grotthaus, Grundwertedes Jugendarbeitsschutzgesetzes würden über Bord ge-worfen. Was soll dieser Unsinn? Es geht doch um etwasganz anderes. Es gibt Schutzvorschriften und selbstver-ständlich bekennen wir uns alle zum Jugendschutz wie

zum Jugendarbeitsschutz. Wenn sich solche Schutz-rechte aber darin auswirken, dass Jugendlichen Chancengenommen werden, dann müssen sie infrage gestelltwerden. Das tun wir auch, und zwar in sehr verantwor-tungsvoller Weise.

Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Zunächst zu denZahlen, die Sie beide genannt haben: Die Prozentzahlensind völlig unsinnig; denn die Praxis sieht anders aus. Inder Praxis wird ein Haupt- oder Realschüler nicht nurabgelehnt, vielmehr wird ihm geraten, ein oder zweiJahre zu überbrücken und es erneut zu versuchen, wenner 18 Jahre geworden ist. In der Zwischenzeit besucht erdann eine Schule, wie Sie das übrigens zum System ma-chen.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist die Praxis, die auch Sie einmal zur Kenntnis neh-men sollten. Mir wird niemand den Sinn einer Regelungerklären können, wonach ein Jugendlicher, der einenAusbildungsplatz will, noch ein, zwei Jahre etwas ande-res machen muss, nur weil er angeblich noch nicht altgenug für eine Ausbildung im Hotel- und Gaststätten-gewerbe ist.

Ich möchte auf zwei konkrete Beispiele eingehen.

Erstens. Viele Hotels, vor allem die Spitzenhotels,nehmen praktisch nur noch Abiturienten, und zwar nichtweil sie Abiturienten generell bevorzugen, sondern weilsie, wenn sie jüngere Schulabgänger nehmen, Problememit dem Alter der jugendlichen Auszubildenden bekom-men. – Sie sollten nicht den Kopf schütteln. Sie solltensich lieber die Praxis einmal anschauen.

Zweitens. Als ich in bestimmten Betrieben – ich kannIhnen gerne die Namen der betreffenden Betriebe nen-nen, aber nicht jetzt – darauf hingewiesen habe, dass einTeil der Belegschaft, der noch nach 23 Uhr arbeitet,keine 18 sei, wurde mir gesagt, dass die Betreffendennur eingestellt worden seien, weil die Eltern versprochenhätten, nichts dagegen zu unternehmen. Auch das istPraxis. Ich meine, dass man aus einer sich veränderndenSituation Konsequenzen ziehen muss.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch keinBetriebsschutzgesetz, sondern ein Jugend-schutzgesetz!)

Verändertes Ausgehverhalten bedeutet nicht nur,dass Jugendliche durchschnittlich länger aufbleiben. Ichmöchte natürlich keinen direkten Zusammenhang zwi-schen Freizeit und Arbeitszeit herstellen. Aber dass esauch hier wesentliche Verschiebungen gibt, sollte manschon zur Kenntnis nehmen. Übrigens hat die KolleginHomburger völlig Recht, wenn sie Sie auffordert, sichlieber um die Einhaltung von Lärmschutzvorschriften inden Diskos zu kümmern. Aber hieran wagen Sie sichnicht.

Auch in der Gastronomie hat sich vieles verändert,weil sich die Zeiten, zu denen man essen geht, nach hin-ten verschoben haben. Es war früher bei uns nicht üb-

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Ernst Burgbacher

lich, spät zu essen. Das bürgert sich aber immer mehrein. Die Hauptarbeitszeiten der Restaurants sind alsospäter.

(Brunhilde Irber [SPD]: Dann sollen sie Er-wachsene einstellen!)

Zeigen Sie mir bitte die jungen Menschen, die im Hotel-und Gaststättengewerbe lernen und die um 22 Uhr, wennder Betrieb brummt, sagen: Tschüs, ich muss jetzt ge-hen. – Die meisten jungen Menschen bleiben natürlich.Das wollen sie auch selber; denn zum Glück gibt esnicht nur ideologisch verbildete Jugendliche, die das Ge-setz unter dem Arm tragen, sondern auch Jugendliche,die in den Betrieben vernünftig mitarbeiten wollen.

(Beifall bei der FDP)

Ich weiß, dass das nicht in Ihr Weltbild passt. Deshalbmachen Sie auch nichts.

(Brunhilde Irber [SPD]: Sie stellen das Gesetz als etwas Schlechtes dar! Das ist unlauter!)

Wo wir nur können, drehen wir im Augenblick an denStellschrauben, um Jugendlichen mehr Chancen zu ge-ben. Hier könnte man eine Veränderung vornehmen, dieniemandem schaden und nichts kosten würde. Trotzdemmacht man nichts. Man belastet die Menschen, wie manwill. Aber hier, wo man etwas machen könnte, tut mannichts, weil es nicht ins Weltbild passt.

Lassen Sie mich noch ein paar Takte zur CDU/CSUsagen. Ganz ehrlich, ich verstehe Ihr Verhalten nichtganz. Herr Dr. Göhner hat während der ersten Lesungeine flammende Rede zugunsten unseres Vorschlags ge-halten. Er wollte sogar noch über ihn hinausgehen. Siehaben das im Prinzip auch heute wieder getan. Daherverstehe ich nicht ganz, warum Sie unserem Gesetzent-wurf nicht zustimmen wollen. Natürlich können wir überden Kompromissvorschlag reden, den Beginn der Nacht-ruhe für Jugendliche im Hotel- und Gaststättengewerbeund im Schaustellergewerbe auf 23 Uhr festzulegen.Aber nach allem, was Sie gesagt haben, müssten sie un-serem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen.

Ich halte es für bedenklich, mit welcher Nonchalanceüber einen Vorschlag hinweggegangen wird – er wirdsogar lächerlich gemacht –, der Jugendlichen zusätzlicheechte Ausbildungschancen bieten könnte, wenn er um-gesetzt würde. Ich stelle wieder einmal fest: Die FDP istdie einzige Partei mit einem klaren Kurs. Ich bin ganz si-cher, dass wir in dieser Legislaturperiode noch einmaldarüber diskutieren werden. Wie in so vielen anderenFällen werden Sie uns auch hier wieder folgen und das,was wir vorgeschlagen haben, mit zeitlichem Verzugumsetzen. Wir werden Sie dabei unterstützen. Dann kön-nen Sie wieder sagen, dass Sie es gewesen seien. Daswird uns aber völlig egal sein, wenn nur unser Vorschlagim Interesse der jungen Menschen umgesetzt wird, dieeinen Ausbildungsplatz suchen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute werdenwir in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf derFDP zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes ab-lehnen. Dafür gibt es gute Gründe. Ich meine, dass wireinen anderen Blickwinkel haben. Er ist stärker werte-orientiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Burgbacher, Sie von der FDP haben die Forde-rung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandeseins zu eins übernommen,

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das stimmt über-haupt nicht!)

und zwar völlig unreflektiert. Sie beklagen, dass durchdas starre Arbeitsrecht das Ausbildungspotenzial imGaststätten- und Schaustellergewerbe nicht ausgeschöpftwerden kann. Nach der bestehenden Ausnahmeregelung– das haben wir heute schon oft gehört – dürfen Jugend-liche ab 16 Jahren bereits jetzt bis 22 Uhr und im Schicht-betrieb bis 23 Uhr arbeiten. Sie fordern, darüber hinausdie Beschäftigung bis 24 Uhr zu ermöglichen. Dass einBedarf für eine solche Gesetzesänderung besteht, ist völ-lig aus der Luft gegriffen. Ich rate Ihnen, mehr mit denJugendlichen und Auszubildenden zu sprechen

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das mache ich stän-dig, und zwar nicht nur mit gewerkschaftlichgebundenen, sondern auch mit normalen!)

und nicht immer nur die Sicht der Arbeitergeber und derArbeitgeberinnen darzustellen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Als Jugend- und Tourismuspolitikerin freut es mich,dass die Ausbildungsquote gerade im Gastgewerbe mit12 Prozent deutlich über dem Durchschnitt der Wirt-schaft liegt.

(Birgit Homburger [FDP]: Trotz Rot-Grün!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Meckelburg?

Renate Gradistanac (SPD): Nein. Was er sagen will, habe ich vorher schon gehört. Im Jahr 2002 gab es im Hotel- und Gaststättenge-

werbe 91 968 Ausbildungsverhältnisse. (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist

hervorragend!)– Ja.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Ja!)

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Renate Gradistanac

Während die Zahl der Beschäftigten in der Branchedeutlich zurückgegangen ist, wurde die Zahl der Ausbil-dungsplätze in den vergangenen zehn Jahren um fast50 Prozent gesteigert. Drei Viertel aller Auszubilden-den – ich führe das noch einmal an; Herr Winkler hat esschon vorhin im Einzelnen deutlich gemacht – sindHaupt- und Realschülerinnen und -schüler.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie desAbg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN] – Ernst Burgbacher [FDP]: Das Alter!)

Diese Daten belegen, dass volljährige Auszubildende,also Abiturientinnen und Abiturienten, im Hotel- undGastgewerbe nicht bevorzugt werden.

Seit circa acht Jahren – das wissen auch Sie – werdenverstärkt Abiturientinnen und Abiturienten für Aus-bildungsberufe mit neuen Zusatzqualifikationen, diespeziell auf Abiturientinnen und Abiturienten zuge-schnitten sind, geworben.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist doch gar nicht das Problem!)

Ich nenne die Hotelfachfrau oder den Hotelfachmannmit Euroqualifikation, das heißt mit Kenntnissen indrei Fremdsprachen und im Hotelmanagement. Damitsoll – das haben Sie vorhin auch kurz erwähnt – dieQualität unseres Tourismusstandorts gesteigert werden.

Mit großer Sorge erfüllt mich, dass 60 Prozent nachder Ausbildung die Branche wechseln. Beunruhigend istauch die hohe Zahl derer, die – das gehört, finde ich,ebenfalls in diesen Zusammenhang – ihre Ausbildungabbrechen. Die Quote der vorzeitig gelösten Ausbil-dungsverhältnisse im Verhältnis zu den neu abgeschlos-senen Ausbildungsverträgen insgesamt lag in Baden-Württemberg im Jahr 2001 bei 22 Prozent. Die Quote imHotel- und Gaststättenbereich ist mehr als doppelt sohoch. Sie liegt bei 46,4 Prozent. Das muss man sich ein-mal vorstellen!

(Brunhilde Irber [SPD]: Hört! Hört!)

Als Gründe nennen die Jugendlichen insbeson-dere – ich beziehe mich auf die Antwort der Landesregie-rung von Baden-Württemberg auf eine Große Anfrageder SPD aus dem Jahr 2002 –: Es gibt Schwierigkeitenmit den Vorgesetzten, mit den Ausbildern. Die Ausbil-dung entspricht nicht ihren Vorstellungen. Dabei wirdexplizit erwähnt: unattraktive Arbeitszeiten, keine Wo-chenarbeitszeitpläne.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Thema! Darüber re-den wir doch gar nicht! Wir reden doch überetwas ganz anderes!)

– Sie müssen sich einmal überlegen, wie das alles so zu-sammenkommt. – Darüber hinaus werden finanzielleGründe angeführt. Das hat etwas damit zu tun, dass dieBezahlung geringer ist als beispielsweise in der Indus-trie. Es geht also darum, wie attraktiv wir diese Berufegestalten. Ich bin der Meinung, dass Sie da ein Stückrückwärts gehen.

Auffällig ist, dass es eklatante Verstöße gegen das be-stehende Jugendarbeitsschutzgesetz gibt. Das ist inner-

halb und außerhalb der Branche bekannt. Sie haben hierBeispiele dafür genannt, auf welche Ideen Arbeitgeberkommen. Darüber hinaus kritisiert der Bericht der Bun-desregierung über Kinderarbeit in Deutschland insbe-sondere die Ausbeutung von Kindern im Gaststättenbe-reich.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Wir reden doch nicht über Kinder!)

– Aber da gibt es doch eine Tendenz!

(Ernst Burgbacher [FDP]: Jetzt wird es dochhanebüchen! Jetzt wird es lächerlich! Argu-mentiert doch mal! – Gegenruf des Abg. JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Hören Sie doch mal zu, was sie zu sa-gen hat! Wie unhöflich! Sie hat doch völligRecht!)

– Ich habe da wohl einen wunden Punkt getroffen.

Herr Burgbacher, Sie führen an – Sie haben es heutewieder getan –, dass sich das Freizeitverhalten der Ju-gendlichen verändert hat. Das Argument, das da immerwieder kommt, lautet: Wer nachts in die Disko gehenkann, kann in dieser Zeit auch arbeiten. – In meiner Frei-zeit entscheide ich, wie lange ich ausgehe oder wie langeich aufbleibe. Wenn die Arbeitszeit bis 24 Uhr geht,kann ich mich dem nicht entziehen.

Wir haben der Branche geholfen, indem wir dieTrinkgeldbesteuerung abgeschafft und Minijobs ermög-licht haben. Übrigens, späte Arbeitszeiten sind natürlichauch mit Minijobs sehr gut auszufüllen. Anstatt dem Fe-tisch der Flexibilisierung beim Jugendarbeitsschutzge-setz anzuhängen, könnte ich mir vorstellen, dass man dieZusammenarbeit bei der Bekämpfung der Schwarzar-beit, deren Umfang gerade im Hotel- und Gaststättenge-werbe beschämend groß ist, fördert.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit überschritten.

Renate Gradistanac (SPD):

Die bundesweite Schwerpunktaktion von Zoll und Bun-desanstalt für Arbeit Ende August 2003 hat ergeben,dass bei jeder vierten beschäftigten Person Anhalts-punkte für das Vorhandensein von Unregelmäßigkeitenbestehen. Sie hätten einmal mithelfen sollen, dagegenvorzugehen.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von derFraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zurÄnderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, Druck-sache 15/756. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeitempfiehlt auf Drucksache 15/1593, den Gesetzentwurf

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU und gegen dieStimmen der FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unsererGeschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, ThomasStrobl (Heilbronn), weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU

Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweite-rung tauglich machen

– Drucksache 15/1328 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeGünter Baumann, CDU/CSU-Fraktion.

Günter Baumann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Unionzehn neue Mitglieder aufnehmen. Deutschland wird da-mit ins geographische Zentrum des vereinten Europasrücken.

Dieser Prozess erfüllt uns angesichts der Vergangen-heit Europas, von Kriegszeiten und von Vertreibungengekennzeichnet, mit großer Freude und natürlich auchmit Hoffnungen. Das vereinte Europa bietet für alle be-teiligten Länder, auch für die gegenwärtig wirtschaftlichrecht schwachen Regionen Ostdeutschlands, großeChancen.

Es birgt aber auch Risiken. Diesen Risiken könnenund müssen wir durch gezielte Maßnahmen frühzeitigbegegnen, zum Beispiel durch eine Verbesserung der Ar-beit des Bundesgrenzschutzes. Das ist der Kerngedankedes Antrages „Bundesgrenzschutz für die EU-Osterwei-terung tauglich machen“, den die CDU/CSU-Fraktiondem Deutschen Bundestag heute vorlegt.

Die Grenzsicherheit ist – ich denke, da stimmen wirüberein – ein unverzichtbarer Faktor der inneren Sicher-heit. Das haben die Fahndungsergebnisse des BGS ge-rade in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen;aber der Grenzschutz steht heute angesichts der EU-Er-weiterung vor neuen großen Herausforderungen, auf dieer aus unserer Sicht noch nicht ausreichend vorbereitetist. Ich erinnere an die gegenwärtigen Probleme der or-

ganisierten internationalen Kriminalität: Schleusungen,Menschenhandel und Schmuggel gefährlicher Güter. Dieentsprechenden Zahlen brauche ich nicht zu wiederho-len, da wir sie hier bereits letzte Woche diskutiert haben.

Da die Beitrittsstaaten den Schengenstandard nochnicht sofort umsetzen können, darf es in den kommen-den Jahren beim Bundesgrenzschutz keinen Abbau ge-ben; vielmehr müssen wir ihn technisch wie personellauf das notwendige Niveau bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dabei sind wir – das möchte ich eindeutig feststel-len – in den vergangenen Jahren ein großes Stück voran-gekommen. An dieser Stelle möchte ich den Chef der Ge-werkschaft der Polizei des Bundes, Knut Paul, zitieren:

Der BGS ist eine spezialisierte Fahndungspolizeigeworden mit Erfahrungen bei der Identitätsfest-stellung, der Bekämpfung illegaler Einwanderungund bei Abschiebemaßnahmen. Diese Fähigkeitenwollen wir ausbauen.

Die Erfolge des BGS bei der verdachtsunabhängigenPersonenkontrolle haben wir hier bereits letzte Wochediskutiert und, wie ich finde, auch parteiübergreifend ge-würdigt. Wer noch einmal das Plenarprotokoll vom ver-gangenen Donnerstag zur Hand nimmt, der kann erken-nen, dass es eine breite parlamentarische Mehrheit fürdie Erweiterung dieser Befugnisse gab.

Das Protokoll dokumentiert aber auch die sicherheits-politische Selbstblockade innerhalb der Regierung. DerBundesinnenminister sprach sich nämlich ausdrücklichdafür aus – Zitat –, „dass wir das Gesetz unbefristet gel-ten lassen sollten“.

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eineBefristung von dreieinhalb Jahren vorgesehen. Wir vonder CDU/CSU fordern fünf Jahre.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: In Ihrem Antrag steht das abernicht! – Hans-Peter Kemper [SPD]: Sie wollenentfristen! Lesen Sie Ihren Antrag!)

Diese Diskrepanz zwischen Rot-Grün bzw. der Regie-rung und uns sollte geklärt werden. Ich denke, wir soll-ten uns hier auf eine Frist einigen.

(Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär: Genau!)

Wenn der Bundesinnenminister eine sicherheitspoliti-sche Koalition der Vernunft in einzelnen Punkten wirk-lich will – ich denke, Herr Staatssekretär Körper, da sindwir uns einig –, steht die CDU/CSU mit ihrem sachlichfundierten Antrag für eine solche Übereinkunft zur Ver-fügung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser Antrag geht auch auf die Notwendigkeit ein,die Bekämpfung der organisierten Kriminalität besser zuvernetzen. Eine technische Voraussetzung dafür ist undbleibt der Digitalfunk. Ich möchte, Herr Staatssekretär,den Disput der vergangenen Woche nicht fortsetzen,aber es ist absolut erfreulich – das haben wir diese

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Günter Baumann

Woche im Innenausschuss diskutiert –, dass das Bundes-innenministerium 2004 mit der Ausschreibung begin-nen will und dafür 5 Millionen Euro einstellt. Dies ent-spricht der Aufgabe des Bundesinnenministers: Er mussunserer Meinung nach bei der Verbesserung der sicher-heitspolitischen Infrastruktur das Tempo vorgeben. Ge-wiss haben dann auch die Länder hierbei einen wichti-gen Teil der Verantwortung mitzutragen. HerrStaatssekretär, Sie können aus dieser Debatte mitneh-men, dass wir mit den von uns regierten Ländern spre-chen werden, um dieses Vorhaben anzuschieben.

Deutschland muss in diesen zentralen Bereichen dermodernen Sicherheitstechnik endlich vorwärts kom-men. Der viele Hickhack der letzten Jahre hat uns über-haupt nichts gebracht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wäre auch ein wichtiges Signal für die noch im Auf-bau befindliche EU-Grenzschutzagentur, wenn man sol-che Voraussetzungen schaffte. Es muss jetzt darumgehen, durch gezielte Investitionen in unsere Bundes-polizei BGS Maßstäbe für einen europäischen Grenz-schutz zu setzen, der den Gefahren von Morgen effektivbegegnen kann. Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekre-

tär Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-desminister des Innern:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Ein-führung von lagebildorientierten Kontrollen des Bundes-grenzschutzes liegen in der Tat zwei Gesetzentwürfe vor,die jeweils eine Befristung vorsehen: der Koalitionsan-trag dreieinhalb Jahre mit einer entsprechenden Evaluie-rungsmöglichkeit und der Antrag der CDU/CSU fünfJahre. Ich bin der Meinung, dass diese Differenz von an-derthalb Jahren hinsichtlich der Befristung sich nichtdazu eignet, zu streiten.

(Beifall bei der SPD – Silke Stokar vonNeuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Nein! Wir nehmen unseren!)

Bevor man auf die Frage der Einstellung und sachli-chen Orientierung des Bundesgrenzschutzes auf die Er-weiterung der EU eingeht, sollte man – das ist ganzwichtig – das Verfahren kennen. Eine Mitgliedschaft inder EU bedeutet noch lange nicht, dass man auch Mit-glied des Schengenverbundes ist. Hier ist für die neuenEU-Mitgliedstaaten ein von der Ratsgruppe entwickeltesPrüfungsverfahren vorgesehen. Dies dient insbesondereder Sicherheit in Europa. Von daher ist es gut, dass esdieses Verfahren gibt.

(Beifall bei der SPD)

Es geht bei dem Verfahren darum, festzustellen, obdas Schengenniveau erreicht ist und ob ein ordnungs-gemäßer Betrieb des Schengener Informationssystems

gewährleistet ist. Es ist aber auch zu prüfen, ob die sogenannten gemeinsamen Schengenvisa ordnungsgemäßerteilt werden und ob grenzübergreifende Observationund Nacheile möglich sind. Es geht also darum, dieseKriterien einzuhalten. Wir werden dafür Sorge tragen,dass bei den EU-Beitrittsstaaten diese Kriterien auch zu-künftig eingehalten werden.

(Beifall bei der SPD)Ich finde, dass wir auf diesen Prozess stolz sein kön-

nen. Es ist ja nicht so, dass wir das Rad neu erfinden müs-sen. Diesen Prozess haben wir an den Westgrenzenunseres Landes schon vollzogen. So muss der Bundes-grenzschutz eben auch an den anderen Grenzen seine Ar-beit neu einrichten, wenn weitere Grenzkontrollen derVergangenheit angehören werden. Es gibt beispielsweisenach § 23 Abs. 1 Nr. 3 des Bundesgrenzschutzgesetzesdie Möglichkeit der verstärkten Kontrollen im grenzna-hen Raum, in der so genannten 30-km-Zone. Wir habenauch deswegen diesen Gesetzentwurf vorgelegt, weil wirdie Möglichkeit für lagebildorientierte Kontrollen in Zü-gen und auf Bahnanlagen in der Zukunft schaffen wollen.

Wenn man ein Resümee zieht, dann braucht mankeine Befürchtungen zu haben, dass dieses Verfahrennicht der Sache dient. Wir sind hier auf einem gutenWeg, insbesondere was die Arbeitsmöglichkeiten desBundesgrenzschutzes anbelangt.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was ist mit dem Digitalfunk?)

Angesichts der heutigen technischen und personellenAusstattung des Bundesgrenzschutzes kann man dank-bar sein, dass wir diese Möglichkeiten geschaffen haben.

(Beifall bei der SPD)Ich bin sehr froh, dass der Bundesgrenzschutz tech-

nisch hochwertiges Gerät einsetzen kann, ob das im Be-reich der Hubschrauber oder der Wärmebildtechnik derFall ist. Wir haben es erreicht, dass fast alle Angehörigendes Bundesgrenzschutzes, die im operativen Bereich tä-tig sind, mit Schutzwesten ausgestattet sind. Mit Blickauf die Ausstattungsquote in den Länderpolizeien sageich: Auch darauf können wir stolz sein.

(Beifall bei der SPD)Auch was die personelle Vorsorge anbelangt, können

wir uns sehen lassen. Wir haben nicht umsonst ein He-bungsprogramm im Bereich des Bundesgrenzschutzesinitiiert. Auch auf die Möglichkeit, diese Hebungen imPersonalbereich vorzunehmen – die Beamtinnen und Be-amten des Bundesgrenzschutzes leisten eine hervorra-gende Arbeit –, sind wir stolz.

(Beifall des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD])

Ich bin sicher, dass der Bundesgrenzschutz die inno-vative Fähigkeit hat, sich auf neue Gegebenheiten einzu-stellen. Wir haben Sorge dafür getragen, dass er dies er-folgreich tun kann.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. SilkeStokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,

FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Bundesgrenzschutz arbeitet gut und erfolg-reich.

(Martin Hohmann [CDU/CSU]: Das ist wahr!)Damit dies auch in Zukunft so bleibt – auch nach derEU-Osterweiterung –, gilt das, was die FDP ansonstenim Bereich der inneren Sicherheit als Maxime vertritt.Wir brauchen die drei Säulen: eine optimale technische,finanzielle und personelle Ausstattung des Bundesgrenz-schutzes.

(Beifall bei der FDP)Dann kommt lange nichts. Erst danach kommt die Frage,ob denn neue gesetzliche Bestimmungen notwendigsind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,leider zeigen Sie immer die Tendenz, diese letzte, inWahrheit nachrangige Frage überzubetonen. Wenn manIhre Anträge liest, dann erkennt man, dass Sie dauerndGesetzesänderungen fordern, die man nur zum Teilbraucht und die daher manchmal entbehrlich sind.

(Beifall bei der FDP)Ich komme zurück zur Ausstattung.Erstens die technische Ausstattung. Herr Staatsse-

kretär, heute vertreten Sie die Bundesregierung. Sie sindvon einem etwas duldsameren Naturell als der Minister,

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU –Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was soll denndas heißen, Herr Stadler?)

sodass ich wage, folgenden Punkt anzusprechen: Wir brau-chen so schnell wie möglich eine optimale Ausstattung desBundesgrenzschutzes im Bereich des Digitalfunks.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)Das ist kein Vorwurf an die Bundesregierung, sonderneine Willenserklärung von uns allen, dass Sie im Bundund wir in den Ländern, in denen wir Mitverantwortungtragen, dafür sorgen, dass diese Technik endlich einge-führt und der versprochene Zeitpunkt – nämlich zur Fuß-ballweltmeisterschaft 2006 – auch eingehalten wird.

Zweitens die finanzielle und personelle Ausstat-tung. Das ist schon ein kritischer Punkt in Zeiten, in de-nen die öffentliche Hand sparen muss. Die FDP ist derMeinung, dass die Motivation, auch beim Bundesgrenz-schutz, durch einseitige Sparmaßnahmen wie etwa dieAbschaffung oder Einschränkung von Urlaubs- undWeihnachtsgeld nicht gefördert wird. Das heißt nicht,dass man bei den Personalausgaben nicht sparsam seinsollte. Aber der Kollege Burgbacher hat vor wenigenWochen an dieser Stelle ein neues Konzept für eine mo-derne Beamtenbesoldung vorgestellt, das mehr auf Fle-xibilität und Leistungsanreize setzt. Auch im Zusam-menhang mit der Zukunft des Bundesgrenzschutzes istes notwendig, dass wir endlich darüber diskutieren und

dass endlich die Anhörung dazu durchgeführt wird, diewir schon lange verlangen.

(Beifall bei der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wir bereiten sie doch vor!)

Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhanggehört übrigens auch die Modernisierung der Beförde-rungsrichtlinien, die vom Bundesgrenzschutz-Verbandzu Recht angemahnt wird.

Dagegen haben wir wenig Bedarf an neuen Gesetzen.Es ist richtig: Wenn die Kontrollen an der Grenze zwi-schen Tschechien und Polen wegfallen, wird eine Schlei-erfahndung im 30-Kilometer-Grenzraum erforderlichwerden. Das sehen auch wir so. Aber die Fortführungder verdachtsunabhängigen Kontrollen, die die CDU/CSU in ihrem Antrag von letzter Woche befristet, in demheute vorliegenden Antrag unbefristet fordert – da ist dieKoordinierung nicht ganz geglückt –,

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ein bisschen widersprüchlich!)

muss mit einer kritischen Diskussion darüber verbundenwerden, dass die verdachtsunabhängigen KontrollenGrenzkontrollen ersetzen sollen und es deshalb einenBezug dazu geben muss.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er spricht mir aus der Seele!)

Da scheint uns das momentan geltende Recht verbesse-rungsbedürftig. Dazu werden wir im Ausschuss Ausfüh-rungen machen.

(Beifall bei der FDP)Mein letzter Punkt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nein, Herr Kollege Stadler, Ihre Redezeit ist schon

überschritten.

Dr. Max Stadler (FDP): Ich komme zum Schluss. – In Richtung CDU/CSU

sage ich: Ihren pauschalen Vorschlägen, dass zum Bei-spiel die Kompetenzen des Bundesgrenzschutzes anBahnhöfen und Flughäfen ausgeweitet werden sollten,werden wir sicher nicht zustimmen. Da müssen Sieschon sagen, wie, was und warum.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bünd-

nis 90/Die Grünen.(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Frau Stokar,

wir freuen uns auf Ihre Rede!)

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Ich bin nicht hier, um Ihnen Vergnügen zu bereiten.(Lilo Friedrich [Mettmann] [SPD]: Ach, Frau

Stokar!)Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am

Mittwoch hat das italienische Parlament mit einer

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Silke Stokar von Neuforn

Schweigeminute der 13 Flüchtlinge gedacht, die tot ineinem Fischerboot vor der Insel Lampedusa aufgefundenwurden. Die Flüchtlinge, die auf dem Fischerboot ver-hungerten und verdursteten, stammten vermutlich ausSomalia. Sie waren auf dem Weg nach Europa. In deranschließenden Debatte im italienischen Parlamentsprach Innenminister Pisanu zu Recht von einer Tragö-die, die tonnenschwer auf dem Gewissen Europas laste.

Ich wähle diesen Einstieg, um deutlich zu machen,dass wir auch im Deutschen Bundestag über die Dimen-sion der europäischen Grenzpolitik und Grenzsiche-rung diskutieren müssen und den Begriff des Schengen-raums nicht auf die nationale Sicherheit Deutschlandsreduzieren dürfen, sondern den Schengenraum im euro-päischen Kontext als Garant von Freiheit, Sicherheit undRecht sehen müssen.

Mir fehlt bei dem CDU/CSU-Antrag der Bezug aufdie europäische Vereinbarung der vergangenen Jahreund der Gedanke, dass es unsere Aufgabe ist – was Rot-Grün durchaus so sieht –, die auf EU-Ebene getroffenenVereinbarungen zum Grenzschutzmanagement in Euro-pa auf den deutschen BGS, die deutsche Bundespolizei,zu übertragen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Grindel?

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Ich möchte heute keine Zwischenfragen beantworten.Die letzten Zwischenfragen von Herrn Grindel habennicht zur Erhellung des Themas beigetragen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Lachenbei der CDU/CSU – Dr. Dieter Wiefelspütz[SPD]: Wo sie Recht hat, hat sie Recht!)

Heute möchte ich meine Gedanken im Zusammenhangvortragen. Herr Grindel, wenn Sie sich die Zeit nehmen,zuzuhören, dann führt das vielleicht dazu, dass wir vonder CDU/CSU in Zukunft Anträge vorgelegt bekommen,die nicht eine Klein-klein-Gesetzesveränderung für denBGS darstellen, sondern das aufnehmen, was auf euro-päischer Ebene beschlossen worden ist.

Ich beziehe mich auf den Beschluss des Rates derEuropäischen Union vom Juni 2002 hinsichtlich desPlans für den Grenzschutz an den Außengrenzen derMitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich kann hiernur anreißen, welche Herausforderung dies für den deut-schen BGS bedeutet. Natürlich ist der Reformprozessdes BGS nicht abgeschlossen. Wir haben vielmehr nocheinige Punkte, zum Beispiel gemeinsame Standards inder Ausbildung und den Aufbau der europäischenGrenzpolizei, umzusetzen sowie die deutsche Beteili-gung an der Finanzierung eines europäischen Grenzma-nagements zu klären. Zumindest in den anderen nationa-len Parlamenten wird über diese Punkte im Rahmen derGrenzsicherung diskutiert. Auch bei uns sollte diese Dis-kussion geführt werden.

Eine weitere Vereinbarung auf der letzten Justiz- undInnenministerkonferenz in Brüssel betraf die Einführungeiner europäischen Grenzschutzagentur, die wir hierumsetzen müssen. Es würde sich lohnen, wenn wir unsim Innenausschuss einmal vom Innenministerium erläu-tern lassen würden – deswegen unterstütze ich IhrenVorschlag einer Anhörung –, wie der Plan vom Juni2002, der rund 40 Seiten umfasst, sehr viele interessanteMaßnahmen enthält und von einem integrierten Konzeptausgeht, umgesetzt werden soll. Damit könnten wir demBGS mehr Sicherheit und mehr Perspektive vermitteln.

Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung zu§ 22 des BGS-Gesetzes machen: Wir tun uns wirklichkeinen Gefallen, wenn wir dies weiter öffentlich im Ple-num erörtern. Die CDU/CSU hat letzte Woche einen Ge-fälligkeitsantrag eingebracht – ich habe schon daraufhingewiesen –, in dem sie gesagt hat: Wir wollen eineBefristung. In Ihrem heutigen Antrag schreiben Sie zumselben Paragraphen, dass sie ihn ohne weitere Diskus-sion entfristen wollen.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Peinlich!)Wir gehen an dieses Thema sachlich heran und sagen:

Wir führen eine Evaluierung durch. Dafür brauchen wirnur wenig Zeit. Nach der Evaluierung sollte zeitnah eineBefristung erfolgen. Das ist sachgerecht. Es kann dochbei der Regelung solcher Befugnisnormen nicht darumgehen, wer dem Vorschlag des Innenministers parteipoli-tisch am nächsten kommt. Sie machen sich mit diesemVorgehen lächerlich. Lassen Sie uns darüber sachlich imInnenausschuss diskutieren! Dann werden wir zu der Re-gelung kommen, dass zunächst eine erneute Evaluie-rung, dann eine kurze Befristung und schließlich eineEntscheidung erfolgen sollte.

Danke schön.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Ralf Göbel, CDU/

CSU-Fraktion.

Ralf Göbel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Im nächsten Jahr wird die Europäische Unionum zehn weitere Länder erweitert. Es wird aber noch et-liche Jahre dauern, bis die Beitrittsländer im Osten dieVoraussetzungen, die im Schengen-Abkommen festge-legt sind, erfüllen werden. Auch wenn dies der Fall seinwird, wird die Sicherung der Binnengrenzen noch immereine wichtige und bedeutende Aufgabe sein.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Bis jetzt war alles richtig!)

Dass dies so sein wird, sehen wir schon heute. Denn dieMigrationsströme nach Deutschland kommen nicht nuraus dem Osten, sondern auch aus dem Westen. Sie kom-men zunehmend aus dem Schengen-internen Flugverkehrim Rahmen der Billigflüge. Deshalb ist es wichtig, unsereSicherheitsbehörden in die Lage zu versetzen, auch in Zu-kunft im europäischen Raum der Sicherheit, der Freiheitund des Rechts ihrer Aufgabe nachzukommen. Das ist Ziel

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Ralf Göbel

des vorliegenden Antrags. Wir sollten die rechtlichen Re-geln und Befugnisse überprüfen und die technischen, orga-nisatorischen und personellen Vorbereitungen treffen.

Auf den offenen Dissens zwischen Minister Schilyund den Regierungsfraktionen, was die Befristung be-trifft, will ich nicht weiter eingehen. Ich will nur sagen:Ich finde es nicht lächerlich, wenn die CDU/CSU-Frak-tion und der Bundesinnenminister der gleichen Auffas-sung sind. Ich denke, auch das darf einmal vorkommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)Zum Digitalfunk – Herr Baumann hat es schon ange-

sprochen; ich will es hier nicht vertiefen – muss eines,Herr Körper, auch gesagt werden: Das Schengen-Ab-kommen betrifft auch den Digitalfunk.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Leisten Sie Ih-ren Beitrag!)

Es ist doch ein etwas seltsamer Zustand, wenn wir zwardarauf achten, ob die neuen Beitrittsländer die Schengen-Voraussetzungen erfüllen, wir selber aber bei einer zen-tralen Voraussetzung, bei der technischen Verfügbarkeitdes Kommunikationssystems, die Letzten in Europa sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]:Herr Göbel, leisten Sie Ihren Beitrag!)

Der Wegfall der Außengrenzen wird mit einer erheb-lichen Reduzierung der Zahl der Zollbeamten an derGrenze verbunden sein. Damit wird natürlich auch einTeil des bisherigen Sicherheitsgefüges an der Grenzewegbrechen. Die Bundesregierung hat im März diesesJahres in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage verspro-chen, dass ein Konzept vorgelegt werden wird, aus demersichtlich wird, wie die Kompensation stattfinden soll.Es ist nun höchste Zeit, diese Konzeptphase endlich zuEnde zu bringen und uns ein Konzept vorzulegen, wiekünftig die Sicherheit an der Grenze nach Wegfall desZolls gewährleistet sein wird.

Auf europäischer Ebene wird über die Schaffungeiner operativen Gemeinschaftsstruktur verhandelt; FrauStokar hat es erwähnt. Auch ich wäre sehr dankbar,wenn die Bundesregierung von sich aus hier eine Kon-zeption vorlegte und es im Deutschen Bundestag zueiner Debatte über dieses Thema käme. Es geht dabeium eine neue Organisation der Sicherheitsstruktur anden Grenzen, aber auch um die Einführung weiterertechnischer Systeme.

In diesem Zusammenhang greife ich die heutige Tages-presse auf und gehe auf die Einführung biometrischerIdentifikatoren in Visa und Aufenthaltstitel ein. Wir ha-ben auch hierüber im Bundestag mehrfach gestritten. Beider Einbringung des Haushalts wurde uns erklärt, dass hiernoch Untersuchungsbedarf dahin gehend bestehe, welcheMethode zu wählen sei; deshalb seien nur Mittel für Mo-dellprojekte in den Haushalt eingestellt worden. Unterdes-sen schlägt die EU-Kommission in einem Verordnungsent-wurf vom 24. September 2003 mit ausführlicherBegründung und unter Bezug auf mehrere Studien vor, dieGesichtsfelderkennung europaweit als zweites Merkmalnach dem Fingerabdruck vorzusehen. Ich frage mich, obdie Bundesregierung überhaupt davon wusste und, wennja, warum wir immer noch Gelder bereitstellen, um die

Iriserkennung zu erforschen. Wir haben beim Digitalfunkschon genug europäischen Flickenteppich erlebt; diesbrauchen wir bei der Biometrie nicht zu wiederholen.

(Beifall bei der CDU/CSU)Auf Bundesebene müssen die Kompetenzen gebün-

delt und die Zusammenarbeit unter den Bundesbehördenverbessert werden. Hierzu gibt es etliche ernst zu neh-mende Vorschläge, die einer vertieften Diskussion wür-dig sind. Auf eine entsprechende Frage der CDU/CSU-Fraktion antwortete die Bundesregierung – Bundestags-drucksache 15/722 – Folgendes:

Die Zusammenarbeit zwischen dem BGS und demBKA besteht auf enger partnerschaftlicher Grund-lage innerhalb der gesetzlich zugewiesenen Zustän-digkeiten.

Das, meine Damen und Herren, ist ein Satz, der einemnur dann einfallen kann, wenn wirkliche Zukunftsper-spektiven fehlen.

Erfolgreiche Polizeiarbeit bedeutet aber nicht nur gutetechnische Ausstattung und ausreichende rechtliche Kom-petenzen. Der Erfolg hängt auch von der Motivation derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. In diesem Zu-sammenhang lobe ich ausdrücklich die Arbeit der Beam-tinnen und Beamten des Bundesgrenzschutzes und der an-deren Sicherheitsbehörden an der Grenze. Ich weise aberauch darauf hin, dass es vielfältige Verstimmungen unterden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, die nach Aus-sage der Personalvertretungen darauf zurückzuführensind, dass Entscheidungsprozesse nicht transparent sindund die interne Kommunikation verbesserungsbedürftigist. Auch aus eigenen Gesprächen mit Angehörigen desBGS ist mir bekannt, dass viele nicht wissen, wie ihre per-sönliche Zukunft vor allem hinsichtlich ihrer weiterendienstlichen Verwendung in den künftigen Strukturen desBundesgrenzschutzes aussehen wird.

Transparenz fördert Akzeptanz. Diesem alten Grund-satz der Personalführung muss in diesem Zusammen-hang mehr Geltung verschafft werden. Die Sorgen derBeschäftigten müssen ernster genommen werden.

Vielen Dank.(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hans-Peter Kemper (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich teile die Freude meines Staatssekretärs Fritz RudolfKörper über den guten Ausbildungs- und Ausrüstungs-stand des Bundesgrenzschutzes. Ich teile ebenso dieFreude meines Kollegen Günter Baumann über die künf-tige Osterweiterung. Damit enden unsere Gemeinsam-keiten, Kollege Baumann;

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Zu wenig!)

denn die CDU/CSU versucht mit ihren Anträgen undWortbeiträgen, ein weiteres Mal den Eindruck zu

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Hans-Peter Kemper

erwecken, als ob es schlecht um die innere Sicherheitder Bundesrepublik und damit auch um die Sicherheitder Menschen in der Bundesrepublik stehe.

Die Fakten sind andere. Es gibt keine Sicherheits-lecks. Die innere Sicherheit ist bei dieser Regierung unddieser Koalition in guten Händen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihre Redebeiträge und Ihr Antrag dienen ausschließlichdem Ziel, Unsicherheit zu verbreiten. Sie jagen denMenschen Angst ein und veranlassen sie, ein Stück per-sönlicher Freiheit aufzugeben. Angst ist ein schlechterRatgeber. Die Menschen geben mit der Einschränkungder persönlichen Freiheit ein Stück Lebensqualität auf.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt aber nicht!)

Sie scheuen sich nicht einmal, diese Angstgefühle inRichtung Osterweiterung zu lenken. Das ist einer Partei,die sich einmal ihrer Europafreundlichkeit gerühmt hat,ziemlich unwürdig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da Sie wiederholt die Aussage des Innenministers zurEntfristung angesprochen haben, will ich auf diesenPunkt eingehen. Das Bundesgrenzschutzgesetz ist geän-dert worden. Der Bundesgrenzschutz hat die Möglich-keit, auf Verkehrsflughäfen, Bahnanlagen und im grenz-nahen Raum verdachtsunabhängig zu kontrollieren. Siehaben zwei Anträge gestellt und ich möchte jetzt auf dieDiskrepanz hinweisen. In der letzten Woche haben Sieeinen Antrag gestellt – wir haben auch darüber disku-tiert –, in dem Sie die Änderungen des Bundesgrenz-schutzgesetzes auf fünf Jahre befristen wollten.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

In dieser Woche diskutieren wir über einen inhaltlich ähnli-chen Antrag. Nun wollen Sie die Veränderungen des Bun-desgrenzschutzgesetzes entfristen. Sie müssten sich zumin-dest in der eigenen Fraktion einmal darüber klar werden,was Sie wirklich bei der inneren Sicherheit wollen.

(Beifall bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Der Innenminister hat uns überzeugt,Sie nicht!)

Es gibt überhaupt keinen Streit darüber, dass die Verän-derungen des Bundesgrenzschutzgesetzes richtig waren.Die Erfolge liegen auf der Hand.

Sie fordern weiterhin mobile und flexible Einsatzein-heiten im Grenzraum. Lesen Sie doch bitte nach, wasSozialdemokraten und Gewerkschaft der Polizei bei derBundesgrenzschutzreform II, die von Ihrem Innenministerzusammen mit Ihnen auf den Weg gebracht worden ist,gefordert haben. Sie haben die Installierung flexibler undmobiler Grenzschutzeinheiten gefordert. Dieser Forde-rung sind Sie nicht gefolgt. Bei der Bundesgrenzschutzre-form II haben Sie eine andere Variante gewählt und heutebeklagen Sie die Folgen Ihrer eigenen Fehlentscheidung.

(Ralf Göbel [CDU/CSU]: Das ist fünf Jahre her! Die Welt ändert sich!)

Die heutigen Gesetze reichen aus. Der Bundesgrenz-schutz kann an den wichtigen Schnittstellen verdachts-unabhängige Kontrollen durchführen. Ich bin sicher,dass er das mit großem Einsatz und Erfolg tun wird. Wirhaben eine engagierte und motivierte Bundespolizei undder Bundesgrenzschutz hat mein volles Vertrauen. Ichbin sicher, dass er mit Rückendeckung der Politik – ersollte sich auch auf Ihre Rückendeckung verlassen kön-nen – gute Arbeit leistet und den Aufgaben gerecht wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen will ich darauf verweisen, dass mit derEU-Osterweiterung im nächsten Jahr keinesfalls eineVeränderung der Grenzkontrollen einhergeht. Ganz imGegenteil: Ein Wegfall der Grenzkontrollen zu den Bei-trittsstaaten ist frühestens im Jahr 2006 zu erwarten,nämlich erst dann, wenn sie den Schengen-Standard er-füllen. Das Theater, das Sie hier veranstalten, ist völligüberflüssig.

(Ralf Göbel [CDU/CSU]: Haben wirnicht gesagt!)

Zur Vermeidung von Sicherheitsdefiziten und Sicher-heitslecks kann der Bundesgrenzschutz gemäß § 22 desBundesgrenzschutzgesetzes Personen anhalten und siegemäß § 23 kontrollieren. Lagebildabhängig kann erauch Kontrollen in Zügen und auf Flughäfen vorneh-men. Das ist gut und richtig. Diese Instrumente sind ef-fektiv und reichen aus.

Ich will Ihnen das erklären, damit Sie es richtig ver-stehen.

(Lachen bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Zuhören!)

Wenn Sie einen Fisch in einem Fluss fangen wollen,dann tun Sie das normalerweise an den Engstellen desFlusses, spätestens aber an der Flussmündung. Sie war-ten nicht, bis der Fisch das offene Meer erreicht hat, undfangen dann erst an, ihn zu suchen. Genau diese Instru-mente hat der Bundesgrenzschutz

(Ralf Göbel [CDU/CSU]: Zum Angeln!)zur Kontrolle oder – wenn Sie es so ausdrücken möch-ten – zum Angeln von Straftätern

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt fischen Sie im Trüben!)

an die Hand bekommen. Sie werden wirken und sie sindgut.

Zum Ausbildungsstand möchte ich Ihnen eines sa-gen. In der Regierungszeit der rot-grünen Bundesregie-rung hat es ein großes Stellenhebungsprogramm miteiner Vielzahl von Beförderungen gegeben.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ein Hering im Karpfenteich!)

– Herr Grindel, stellen Sie eine Zwischenfrage, dannwerde ich Ihnen diese beantworten, damit Sie daraus ler-nen. Aber hören Sie auf, dazwischenzuschreien.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie gesagt, es hat eine Vielzahl von Stellenhebungenmit riesigen Beförderungsmöglichkeiten gegeben. Das

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Hans-Peter Kemper

hat zu einem engagierten und zufriedenen Bundesgrenz-schutz geführt. Sie sollten sich einmal mit den Leutenunterhalten.

(Ralf Göbel [CDU/CSU]: Das tun wir!)Das Attraktivitätsprogramm des Bundesinnenministersträgt zusätzlich dazu bei.

Ausbildung und Ausrüstung sind stark verbessertworden. Schauen Sie sich einmal die GSG 9 an. Dortgibt es gute Hubschrauber, moderne Wasserfahrzeugeund anderes hochwertiges Einsatzgerät.

(Ralf Göbel [CDU/CSU]: Und offene Stellen!)Der BGS See hat hervorragende Schiffe. Die Grenzein-satzkräfte haben hervorragende Fahrzeuge und Wärme-bildgeräte.

Im Übrigen möchte ich noch ein Wort zum BOS-Funk sagen, weil das Thema wiederholt angesprochenworden ist.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, das eine Wort muss aber kurz und

knapp sein, bitte.

Hans-Peter Kemper (SPD): Ich werde nur ein kurzes Wort sagen, Frau Präsiden-

tin.(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sagen Sie

doch einfach 50 Prozent!)Es ist so, dass die Bundesregierung sich bemüht, auch

den Bundesgrenzschutz mit dem BOS-Funk auszustat-ten. Allerdings bejammern Sie die Blockade Ihrer eige-nen Bundesländer. Sprechen wir mit den Bundesländern,damit es hier keine Probleme mehr gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)Wir sind auf einem guten Weg. Leisten Sie einen Bei-

trag dazu. Das können Sie am besten, indem Sie Ihrenüberflüssigen Antrag mit einem Ausdruck des Bedau-erns zurückziehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu-rufe von der CDU/CSU: Oh!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/1328 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Michael Meister, Heinz Seiffert, LeoDautzenberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU

Neue EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie

– Drucksache 15/1564 –

Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeLeo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen zehnJahren haben sowohl die internationalen als auch dieeuropäischen Finanzmärkte eine rasante Entwicklungdurchgemacht. In Europa ist das Geschehen nicht zuletztdurch das Bemühen geprägt worden, den rechtlichenRahmen für einen echten europäischen Finanzmarkt zuschaffen. Maßgeblich für die angestrebte Finanzmarkt-integration sind und waren dabei – neben unseren natio-nalen Aktivitäten – die Aktivitäten der EuropäischenKommission. Mit dem Financial Services Action Plan,FSAP, hat die Kommission 1999 eine offene Agenda fürihre weiteren Aktivitäten im Bereich der Finanzmarkt-integration vorgestellt.

Jenseits des heute diskutierten Antrages will ich fest-halten, dass wir als Deutscher Bundestag noch immernicht optimal auf die Europäisierung der Finanzmarktge-setzgebung reagiert haben. Angesichts der Tatsache,dass heute zwei Drittel der deutschen Kapitalmarktge-setzgebung auf europäischem Recht beruhen, ist klar,dass wir als nationaler Gesetzgeber nur dann eineChance haben, nachhaltigen Einfluss auf die Entwick-lung unserer Finanzmärkte zu nehmen, wenn wir dieProzesse auf europäischer Ebene frühzeitig begleiten.

(Beifall bei der CDU/CSU)Trotz großer Fortschritte in diesem Bereich – ich darf sa-gen: insbesondere auf unserer Seite des Hauses – bleibthier noch viel Verbesserungspotenzial, wenn wir den Fi-nanzplatz Deutschland in Europa optimal positionierenwollen.

Die geplante EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinieals Bestandteil des Financial Services Action Plan stelltinsgesamt ein sehr gutes Beispiel für das eben Gesagtedar. Dies beginnt leider damit, dass unser heute formaleingebrachter Antrag aufgrund der neuesten europäi-schen Entwicklungen – inzwischen gibt es im Rat einenKompromiss, der sich weit gehend an den Vorschlägendes Europäischen Parlamentes orientiert – nicht mehr inallen Punkten auf dem aktuellsten Stand ist.

Dadurch ändert sich aber nichts an unserer inhalt-lichen Positionierung. Wir werden durch Änderungs-anträge, die wir den beratenden Ausschüssen in Kürzevorlegen werden, lediglich einige Aktualisierungen vor-nehmen.

Diese Tatsache zeigt deutlich, wie sich der Sach-verhalt durch die Vorschläge der Europäischen Union

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Leo Dautzenberg

innerhalb von wenigen Monaten ändern kann, was wirwiederum berücksichtigen müssen. Der Bundestag mussangesichts der Entwicklung auf der europäischen Ebenenoch schneller agieren als bisher.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Beispielhaft für die eingangs beschriebene Entwick-lung ist die geplante Wertpapierdienstleistungsrichtlinieselbst. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Motivation fürdiese Richtlinie. Die Vorgängerrichtlinie von 1993 istangesichts des besagten Wandels nicht mehr zeitgemäß.Neue Produkte und Dienstleistungen, neue Handelsfor-men und weitere Veränderungen haben in der Zwischen-zeit eine Neufassung der Richtlinie unumgänglich ge-macht.

Die Ziele der neuen EU-Wertpapierdienstleistungs-richtlinie, mit der die Kommission eine weitere Stärkungder europäischen Finanzmarktintegration erreichen will,lassen sich dabei in drei Gruppen aufteilen. Als erstesZiel ist die Erweiterung des Anwendungsbereiches derRichtlinie zu nennen. Als zweites Ziel ist die Stärkungdes Anlegerschutzes durch eine Garantie der bestmögli-chen Orderausführung vorgesehen. Drittens hat dieRichtlinie zum Ziel, die Markteffizienz durch eine Har-monisierung der Anforderungen an unterschiedlicheHandelssysteme zu sichern.

Vor welchem Hintergrund ist das dritte Ziel, Sicherungder Markteffizienz, zu sehen? In den letzten Jahrenkonnten wir eine zunehmende Fragmentierung der Wert-papiermärkte beobachten. Diese ist vor allem darauf zu-rückzuführen, dass Banken und Wertpapierdienstleis-tungsunternehmen verstärkt Wertpapieraufträge vonKunden nicht an Börsen weiterleiten, sondern auf insti-tutsinternen bilateralen Systemen gegen eigenen Handels-bestand bzw. gegen andere Kundenaufträge ausführen.

Diese so genannte Internalisierung ist für Anbieterund Kunden zunächst attraktiv. Die Bank kann mit einererhöhten Kundenbindung, höheren Erträgen aus derAusnutzung des Spreads sowie der Einsparung von Bör-sengebühren rechnen. Der Kunde kann seinerseits miteiner Preisstellung rechnen, die mindestens so gut ist wieder Referenzpreis an der Börse. Gleichzeitig kann er sichüber niedrigere Transaktionskosten freuen.

Für die Effizienz des Gesamtmarktes kann eine über-mäßige Ausweitung der so genannten Internalisierungjedoch dann negative Folgen haben, wenn den Börsendadurch zu viel Liquidität entzogen wird. Dieses Absin-ken der Markteffizienz würde sich dann in Form einerQualitätsverschlechterung der Referenzpreise, die an derBörse erzielt werden, widerspiegeln. Eine solche Ver-schlechterung würde wiederum auch die Anbieter, vorallem aber die Kunden von Internalisierungssystementreffen. Die Anleger im Internalisierungssystem wärenam Ende trotz der geschilderten Vorteile dieses Verfah-rens insgesamt schlechter gestellt als bei üblicher Bör-senabwicklung.

Da nicht nur Anleger, sondern auch emittierende Un-ternehmen in Form höherer Kapitalkosten von einemübermäßigen Liquiditätsentzug der Börsen betroffen wä-ren, gilt es, Vorkehrungen zu treffen und zu einem ange-

messenen Interessenausgleich zwischen Wertpapier-dienstleistungsunternehmen und Kunden zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)Der dritte Punkt, den ich gerade angesprochen habe,

ist in der Diskussion um die Wertpapierdienstleistungs-richtlinie mit der wichtigste Punkt. Wir wollen diesenwichtigen Interessen Rechnung tragen. Das EuropäischeParlament hat sich gemeinsam mit dem Rat auf den Wegbegeben, diese Frage zu klären. Auch wir sollten, wiewir es in solchen Fragen häufig tun, interfraktionelleinen Weg suchen. Deshalb bitte ich Sie, unseren Antragzu unterstützen.

Vielen Dank.(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-

neten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Florian Pronold,

SPD-Fraktion.

Florian Pronold (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und

Herren! Der Antrag der Union ist ein gutes Beispiel dafür,dass in unserem Haus nicht immer vernetztes Denken Ein-zug hält. Heute haben wir den Waldzustandsbericht behan-delt. Mit diesem Antrag haben Sie, liebe Kollegen von derUnion, unsinnigerweise einen Baum geopfert.

(Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN – Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])

Sie haben schon selber eingestanden, dass Ihr Antragein wenig hinterherhinkt. Denn bereits am 7. Oktoberhat der Ecofin-Rat alle wesentlichen Dinge, die Sie inIhrem Entschließungsantrag fordern, beschlossen.Eigentlich müssten wir diesen Antrag mit dem Vermerk„Erledigung durch Zeitablauf“ zu den Akten legen.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: 43,4 Milliar-den Euro neue Schulden!)

Es ist doch schön, zu sehen, dass die Bundesregierungdie Neugestaltung der EU-Wertpapierdienstleistungs-richtlinie, über die wir heute reden, ernster als die Unionnimmt, weil sie nämlich rechtzeitig handelt und die Wei-chen richtig stellt.

(Horst Schild [SPD]: Wie immer!)Zur Zufriedenheit der Börsen- und Bankenwelt in

Deutschland hat sie am 7. Oktober übrigens etwas er-reicht, das breite Zustimmung findet und das, wie Sie si-cherlich wissen, nicht besonders leicht war, weil es imEcofin-Rat – das war ein seltener Moment – nur einequalifizierte Mehrheit dafür gegeben hat. Bei der Ab-stimmung haben sich also nicht alle Länder einheitlichverhalten. Umso besser war es, dass die Bundesregie-rung dort eine vermittelnde Position einnehmen konnteund einen Kompromiss zustande gebracht hat, der jetztnicht nur von allen Seiten begrüßt wird, sondern derauch dazu führt, dass Börsen und Banken auf dem EU-Markt zukünftig gleichberechtigt behandelt werden.

Ich will jetzt gerne noch zu den einzelnen Punkten Ih-rer Forderung Stellung nehmen. Zu den Punkten 1 bis 5

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kann ich sagen: Im Großen und Ganzen wurden diese– übrigens in Unkenntnis der Bundesregierung über Ih-ren Entschließungsantrag – durch den Beschluss desEcofin-Rates bereits erfüllt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das wird vom ganzen Haus und natürlich auch von unse-rer Seite geteilt.

Punkt 6 überrascht mich ein wenig, weil die Regulie-rung der öffentlich-rechtlichen Börsenstruktur schon Ge-genstand der Beratungen in diesem Hause war. Dies hatmit der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie überhauptnichts zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – LeoDautzenberg [CDU/CSU]: Dann haben Sie esnicht verstanden, Herr Kollege!)

– Nein, das hat gar nichts damit zu tun.

Über das Thema „Stärkung des Finanzplatzes Deutsch-land“ hat der Bundestag bereits einvernehmlich disku-tiert. Ich weiß wirklich nicht, was das hier verloren hat.

Über die Anforderungen, die in den Punkten 8 bis 10stehen, können wir im Finanzausschuss vielleicht nochreden.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!)

Unter Punkt 9, schreiben Sie, die Bundesregierungmöge sich dafür einsetzen,

dass über den vorliegenden Richtlinienvorschlaghinaus gemeinsam mit den Verbänden der freien Fi-nanzdienstleister Wohlverhaltensrichtlinien sowieAus- und Fortbildungsordnungen erarbeitet werden,die weitgehend ohne staatliche Aufsicht ein Maxi-mum an kostengünstigem Schutz bei privaten Anla-geentscheidungen sicherstellen …

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)

Dieses Antragsdeutsch ist wirklich schön. Das brauchenwir hier; denn das führt zu einer breiten Verständlichkeitin der Öffentlichkeit.

Dies wirft hier eine entscheidende Frage auf, die Sieoffensichtlich sehr einseitig beantworten. Wir sehen esanders. Wenn man die freien Finanzdienstleister näm-lich etwas näher unter die Lupe nimmt, dann sieht man,dass es dort nicht nur weiße Schafe, sondern auch vielegraue und schwarze Schafe gibt und dass es dort sehrwohl einer sehr genauen Regelung bedarf. Die Richtlinielässt uns die Möglichkeit offen, diese auf nationalerEbene auch zu treffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ich habe die Frage doch an die Regie-rung gerichtet!)

Zusammenfassend kann man sagen: Die Forderun-gen, die Sie hier eingebracht haben – ich weiß ja nicht,ob Sie den Antrag selbst geschrieben haben –,

(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Im Gegensatz zu anderen blickt er da durch!)

sind von der Bundesregierung zum großen Teil bereitserfüllt worden. Wir können die Bundesregierung jetztnicht mehr mit einem Antrag auffordern, etwas zu tun,weil sie schon gehandelt hat. Wir könnten allenfalls dasEuropäische Parlament, welches das in zweiter Lesungberaten wird, auffordern. Ich glaube allerdings, dass dasunüblich wäre.

(Ute Kumpf [SPD]: Genau!)Wir werden den Antrag an den Finanzausschuss über-

weisen. Dort werden wir uns vielleicht auch den Anle-gerschutz und die grauen und schwarzen Schafe auf demFinanzdienstleistungsmarkt genauer anschauen. Ichdenke, das wäre sinnvoll.

(Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Schwarze Schafe haben wir hier ge-nug!)

Alle anderen Dinge sind bereits zur Zufriedenheit erfülltworden.

Ich glaube, Sie sollten Ihren Antrag umformulieren.Die Sätze, in denen Sie die Bundesregierung auffordern,Folgendes durchzusetzen, zu streichen und zu ersetzen,sollten Sie ändern in: Wir danken der Bundesregierung,dass sie das alles schon umgesetzt hat.

Vielen Dank.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Professor

Dr. Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion.

Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion gibt meinerAnsicht nach einen sehr wichtigen Impuls dafür, dasswir uns im Plenum und im Ausschuss mit dieser wich-tigen Richtlinie über Wertpapierdienstleistungen aus-einandersetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Kollege Pronold, Ihre Arroganz ziert Sie nichtunbedingt; denn Sie hätten Ihre Regierung ermunternkönnen, mit diesen Informationen in die Beratungen desFinanzausschusses zu gehen. Dann wären Sie tatsächlichproaktiv tätig geworden. Sie sind uns in Ihrem zeitlichsehr umfangreichen Beitrag allerdings eine Aussagedazu schuldig geblieben, was denn im Einzelnen bei denPunkten erreicht worden ist, die seitens der CDU/CSU-Fraktion vorgetragen worden sind. Es bestünde ja auchGelegenheit, an dieser Stelle einmal auf die Punkte ein-zugehen, die Gegenstand dieses Antrages sind.

Zielsetzung der Dienstleistungsrichtlinie ist es, denAnlegerschutz zu verbessern und eine EU-weite Tätigkeitder Wertpapierhäuser sicherzustellen. Es soll also durcheine Harmonisierung ein Beitrag für mehr Wettbewerbund für mehr Effizienz auf diesem wichtigen Wachs-tumssektor in Europa geleistet werden. Diese Ziele un-terstützen wir nachdrücklich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Man muss sich natürlich auch fragen, nach welchenPrinzipien wir zu mehr Wettbewerb und für mehr Effi-

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Dr. Andreas Pinkwart

zienz auf den Märkten beitragen können. Voraussetzungdafür sind Transparenz, Offenheit der Märkte und Rechts-sicherheit. Letztere soll hier geschaffen werden.

In dem Antrag klingt an, dass neue Handelssysteme,die sich im Intrabankenmarkt abspielen, zugelassen wer-den sollen. Ich bin gespannt darauf, was uns die Bundes-regierung im Finanzausschuss dazu sagen wird. Ichfrage mich, ob wir das tatsächlich tun werden oder obwir – ich sage das aus meiner Sicht – durch überhöhteAnforderungen an die Transparenz, wie sie in dem An-trag zum Teil vorgeschlagen werden, einen Markt, dersich zumindest für private Anleger bislang noch garnicht so stark herausgebildet hat, möglicherweise bereitsin seinem Entstehen unterminieren. Ich möchte dieseFrage jedenfalls einmal in den Raum stellen. Deswegenhabe ich einige Vorbehalte, was die Transparenz imVorhandel anbetrifft. Es ist nicht etwa so, dass sie ausSicht des Anlegers nicht wünschenswert wäre, soweit essich um eine Marktinformation handelt. Marktinforma-tionen, die von Anbietern kostenlos zur Verfügung ge-stellt werden, mindern immer die Transaktionskostenund steigern damit die Effizienz. Das begrüßen wir na-türlich außerordentlich.

Wenn allerdings mit dieser Vorhandelstransparenzauch eine Art Kontrahierungszwang für die preissetzen-den Banken verbunden sein sollte, so könnte sie, geradewas die privaten Anleger, aber auch was den Handel mitgroßen Paketen anbetrifft, dazu führen, dass der europäi-sche Markt für Finanzdienstleistungen im internationalenWettbewerb seine Standortvorteile verliert. Letztereswollen wir auf keinen Fall. Deswegen werden wir hier imHinblick auf die Internalisierung sehr kritisch im Finanz-ausschuss nachfragen, Herr Pronold, was Ihre Regierungauf diesem Gebiet in Brüssel so erfolgreich erarbeitet hat.

(Florian Pronold [SPD]: Das könnenSie nachlesen!)

Wir haben unterschiedliche Signale dazu vernommen,ob das tatsächlich gelungen ist. Wir werden jedenfalls inden Beratungen Wert darauf legen, dass neue Handels-systeme im Wettbewerb auch mit den Börsenmärktenzugelassen werden, damit die Transaktionskosten füralle Anleger gesenkt werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Dautzenberg, Sie haben mit Ihrem Antragden Eindruck zu erwecken versucht, die Bundesregie-rung bräuchte in dieser Frage ein wenig Nachhilfe vonder Opposition,

(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Die braucht auf vielen Gebieten Nachhilfe!)

so als wären Dinge, die dringend gemacht werden müs-sen, nicht gemacht worden. Diesen Eindruck hat schon

der Kollege Pronold zu Recht zurückgewiesen. Ichweise ihn nochmals zurück.

Ich denke, gerade wenn es um den FinanzplatzDeutschland und um den Finanzmarkt insgesamt geht,hat sich diese rot-grüne Bundesregierung nichts vorzu-werfen.

(Beifall bei der SPD)

Diese rot-grüne Bundesregierung hat den Finanzmarkt inden letzten Jahren enorm nach vorne gebracht. Ob es dasVierte Finanzmarktförderungsgesetz, ob es die Schaffungder BaFin war, ob es – um ein aktuelles Beispiel zu nen-nen, das wir gestern im Ausschuss beraten haben – das In-vestmentmodernisierungsgesetz war, mit dessen Hilfe wirjetzt sogar Finanzmarktinstrumente wie Hedgefonds inDeutschland zulassen, um den Produktions- und Ver-triebsstandort Deutschland zu stärken – all diese Dingesind von dieser Bundesregierung auf den Weg gebrachtworden. Dies wurde im Wesentlichen – das muss manebenfalls sagen; Herr Dautzenberg, Sie haben es schonangedeutet – zusammen mit der Opposition zustande ge-bracht. In diesen Punkten wurden immer sinnvolle Ab-sprachen getroffen und es wurde immer vernünftig mit-einander umgegangen. Ich denke, das sollte so bleiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie könnenja zustimmen!)

Das Thema Finanzmarkt gebietet es, dass man im Parla-ment relativ einig agiert.

(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Richtig!)Man darf aber auch nicht vergessen, wie wichtig ge-

rade der Finanzmarkt für den WirtschaftsstandortDeutschland ist. Man muss sich einmal die nüchternenZahlen vergegenwärtigen, die den meisten nicht bekanntsein dürften: In der Automobilbranche in Deutschlandarbeiten 1 Million Menschen. In der Finanzbranchesind 1,5 Millionen Menschen tätig. 4,6 Prozent des Brut-toinlandsprodukts werden von der Finanzbranche erar-beitet, nur 3 Prozent von der Automobilbranche. Unab-hängig von der Tatsache, dass wir den Finanzmarktdringend brauchen, um unsere Unternehmen, insbeson-dere die Mittelständler, durch die Finanzmärkte ordent-lich zu kapitalisieren, egal ob durch Versicherungen,Banken oder Finanzdienstleister, werden eine ganzeMenge Arbeitsplätze geschaffen.

(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: So ist es!)Aber der Antrag, den Sie heute gestellt haben, geht

ins Leere; das wissen Sie auch. So gut wie alles vondem, was Sie in diesem Antrag formuliert haben, hat dieBundesregierung auf EU-Ebene bereits ausgehandelt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nurnicht endgültig!)

All diese Punkte sind bereits im Ecofin-Rat eingebrachtworden. Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist ein weißerSchimmel. Sie rennen mit Ihrem Antrag offene Türenein. Sie wissen: Nichts ist so alt wie die Zeitung von ges-tern. Nichts ist so alt wie der Antrag vom letzten Monat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD –Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Nichts siehtso alt aus wie die heutige Regierung!)

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Hubert Ulrich

Übertroffen werden kann das nur noch von der Tran-funzeligkeit der FDP, die in den meisten Fragen völligabgetaucht ist. Herr Dr. Pinkwart, Sie könnten – das ha-ben Sie eben vergessen – dem Running Gag des Deut-schen Bundestages, Herrn Westerwelle, einen Aufbau-lehrgang in Sachen Finanzmarkt sponsern. Wenn er beimnächsten Mal in einem Container sitzt, kann er etwasNeues erzählen. Das wäre vielleicht ganz hilfreich.

(Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie haben keineinziges Argument mehr zur Hand! So weitsind Sie schon! Das ist sehr traurig! – WeitererZuruf von der FDP: Peinlich, so etwas!)

Doch nun zur Sache.

(Zuruf von der CDU/CSU: Endlich!)

Wie es der Kollege Pronold schon angedeutet hat,halten wir es für sinnvoll, diesen Antrag nicht strittig zubehandeln, sondern ihn im Finanzausschuss ernsthaft zuberaten.

(Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ernsthaft!)

Vielleicht können wir mit einem unterstützenden Antragdas, was die Bundesregierung auf diesem Feld an Erfol-gen erzielt hat, deutlich machen. Ich muss es noch ein-mal erwähnen: Diese gesamte Debatte wird auf europäi-scher Ebene sehr strittig geführt. Es gibt die Südschieneund die angelsächsische Schiene. Von dieser Seite wurdemit aller Kraft versucht, das zu verhindern, was ansons-ten auf EU-Ebene mittlerweile Konsens ist. Angesichtsdessen kann es sinnvoll sein, dass das Parlament erklärt:Die Bundesregierung hat in diesem Bereich richtige undgute Arbeit geleistet; wir unterstützen sie in diesem oderjenem Punkt. – Insofern macht es Sinn, darüber im Aus-schuss zu reden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Lieber Herr Kollege Pronold, wenn Ihnen zudiesem Thema nichts Besseres als der Vergleich mit demWaldschadensbericht einfällt, werden Sie beiden The-men aus zwei Gründen nicht gerecht: Erstens. Der Wald-zustandsbericht ist nicht so überzeugend, dass man da-mit gute Witze machen kann. Zweitens – das müsstenSie gerade als Vertreter der jungen Generation eigentlichanerkennen –: Mit der Fragestellung, wie wir Wertpa-pierdienstleistungen und damit Investment- und Anlage-kultur in Deutschland behandeln, debattieren wir einenwesentlichen Punkt, der für die junge Generation hin-sichtlich der Sicherung ihrer Altersbezüge von wesentli-cher Bedeutung ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dabei kommt dem Zusammenspiel zwischen Börseneinerseits und Banken andererseits große Bedeutung zu.

Ich will deutlich machen – der Kollege Dautzenbergist dabei schon in Vorlage gegangen –, dass es uns alsdem Deutschen Bundestag darum geht, wie wir mit denEntwicklungen auf der europäischen Ebene umgehen,wie wir uns in einem der wesentlichen Bereiche für diedeutsche Volkswirtschaft – Herr Kollege Ulrich, Sie ha-ben die Zahlen genannt – positionieren und ob wir zulas-sen, dass Entwicklungen, die den deutschen Finanzmarktin wesentlichen Teilen betreffen, ohne das Votum desdeutschen Parlaments geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch Ihr Vorwurf, wir wären zu spät dran, geht insLeere, denn Sie wissen genau, dass wir momentan in derSituation sind, dass einerseits das Europäische Parla-ment, also der dafür zuständige Wirtschafts- und Wäh-rungsausschuss, einen Richtlinienvorschlag erarbeitethat und andererseits der Ecofin, also die Vertretung derRegierungen auf europäischer Ebene, einen gegensätzli-chen Antrag erarbeitet hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eben!)

Die Stellungnahme des Europäischen Parlaments unter-scheidet sich in wesentlichen Punkten von der Stellung-nahme der Regierungen. Unsere Aufgabe ist es, uns damitauseinander zu setzen, welchen Weg wir eher gehen wol-len, und der Bundesregierung an der einen Stelle den Rü-cken zu stärken, ihr aber vielleicht auch an anderer Stelledurch Beschlüsse Aufgaben mit auf den Weg zu gebenund zu prüfen, ob sie sie durchsetzen kann oder nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-ruf des Abg. Florian Pronold [SPD])

Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. WennSie die Zeit gehabt hätten, was offensichtlich nicht derFall war, hätten Sie sich mit der Beschlusslage auseinan-der setzen können. So fordert zum Beispiel das Europäi-sche Parlament, dass systematische Internalisierer, alsodiejenigen Banken, die eigene Systeme aufbauen, umBörsenhandel und börsenähnlichen Handel zu treiben,für Transaktionen in standardmäßigen Marktgrößeneinen verbindlichen Geld- und Briefkurs offen legen.Die Vorstellung des Ecofin geht aber nur dahin, dass die-selben Eigenhändler nur Kursofferten, also nur Quotes,zu veröffentlichen haben. Man muss genau lesen undsich mit der Sache auseinander setzen. Dann kommt manzu dem Ergebnis, dass das Europäische Parlament ver-bindliche Handelspreise fordert, der Ecofin aber nur un-verbindliche Angebote fordern will.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Das ist ein wesentlicher Unterschied. Damit müssen wiruns auseinander setzen und müssen möglicherweise derBundesregierung zum Schutz der Anleger und der Inves-toren mit auf den Weg geben: Wenn schon Transparenz,dann verbindliche Handelspreise.

(Beifall bei der CDU/CSU)Sie haben den Antrag und die weitere Debatte falsch

verstanden, wenn Sie glauben, wir wollten in diesemTeilbereich einfach nur auf die Regierung schimpfen.Nein, wir wollen so wie in vielen anderen Bereichen, die

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Georg Fahrenschon

den Finanzplatz angehen, zusammenarbeiten. Ich nennedas Vierte Finanzmarktfördergesetz, das wir im Übrigengemeinsam hier im Hause in der letzten Legislaturpe-riode beschlossen haben und das nicht strittig war,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr konstruktiv!)ich nenne das Investmentmodernisierungsgesetz, das unsmomentan im Finanzausschuss beschäftigt und das wirebenfalls, soweit es sich momentan abzeichnet, gemein-sam nach vorne bringen und verabschieden werden, undich nenne Basel II, das uns gemeinsam beschäftigt undworan wir gemeinsam arbeiten wollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Alles, was sinnvoll ist, machen wir mit!)

Nur weil Sie nicht vorbereitet sind, zu sagen, wir wärenzu spät dran, ist zu kurz gesprungen und wird demThema nicht gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU)Wir müssen uns schon damit auseinander setzen, waswir in diesem Bereich noch Gutes tun können, und müs-sen uns fragen, ob wir an der einen oder anderen Stellenacharbeiten müssen.

Ich will Ihnen ein weiteres konkretes Beispiel nennen,das uns beschäftigt. Die aktuelle Beschlusslage des Eco-fin-Rates geht auf eine Initiative Hollands zurück, diezum Ziel hat, dass den Internalisierern die Möglichkeitgegeben wird, quasi einen Mengenrabatt auf Handelsge-schäfte zu geben. Das führt dazu, dass jemand, der einenPreis annimmt, gegenüber seinem Händler einen Men-genrabatt vereinbaren kann, bevor er abschließt. Esklingt im normalen Wirtschaftsleben ganz interessant,wenn man für einen großen Kauf einen Mengenrabatthaben will. Gerade in Bezug auf Börsenpreise und Bör-senpreisfeststellungen ist aber die Tatsache, dass nachdem Abschluss noch ein Mengenrabatt gegeben wird,eine Preisverfehlung, die der anderen Öffentlichkeitnicht mitgeteilt wird und deshalb den Preis verzerrt. Das,lieber Herr Kollege Pronold, können wir meines Erach-tens nicht durchgehen lassen. Es ist unsere Aufgabe alsdeutsches Parlament, einzuschreiten und die Bundesre-gierung mit einer anderen Position auszurüsten, um denBörsenplatz Deutschland zu stärken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich möchte Ihnen zum Schluss noch ein Wort des„Börsenpapstes“ André Kostolany mit auf den Weg ge-ben. Er hat gesagt, dass in den 20er-Jahren in New Yorkan jeder Straßenecke aus Kaffeehäusern Banken ge-macht wurden. Normale Finanzmarktarbeit sei erst dannwieder zu machen, wenn aus den Banken, die vorherKaffeehäuser gewesen seien, wieder Kaffeehäuser wür-den.

Vor diesem Hintergrund freuen wir uns auf die De-batte mit Ihnen und wollen erneut zum Ausdruck brin-gen, dass wir durchaus in der Lage sind, unseren Antragden Entwicklungen auf europäischer Ebene anzuglei-chen und gemeinsam auf eine gute Wertpapierdienstleis-tungsrichtlinie in Europa hinzuarbeiten.

Herzlichen Dank.(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/1564 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderungdes Hochschulrahmengesetzes (7. HRG ÄndG)

– Drucksache 15/1498 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ministerfür Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Ba-den-Württemberg, Professor Dr. Peter Frankenberg.

Dr. Peter Frankenberg, Minister (Baden-Württem-berg):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerBundesrat hat am 11. Juli 2003 den Entwurf eines Sieb-ten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengeset-zes beschlossen und dem Bundestag zugeleitet. Dabeihandelt es sich um eine Initiative aller 16 Bundeslän-der.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)Das Ziel ist die Verstärkung der Auswahl der Studie-

renden durch die Hochschulen – primär die Universi-täten – in Studiengängen mit bundesweitem Bewerber-überhang, bei denen bisher die Zuweisung derStudierenden an die Hochschulen über die ZVS erfolgte.

Warum sind wir – also alle 16 Bundesländer – füreine verstärkte Auswahl der Studierenden durch dieHochschulen? In der Lehre – gerade in der universitärenLehre – muss die Verantwortlichkeit der Hochschulenfür die Studierenden gestärkt werden. Notwendig istauch eine bessere Betreuung bzw. eine bessere Betreu-ungsmentalität. Dies beginnt für die Hochschulen mitder Auswahl ihrer Studierenden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christoph Hartmann [Homburg] [FDP])

Gerade in unseren Universitäten sind die Abbrecher-quoten viel zu hoch. Diese Quoten zeigen, dass es zuviele Studierende gibt, die entweder für die entsprechen-den Studiengänge nicht motiviert oder nicht dafür geeig-net sind. Es zeigt sich, dass das Abitur als alleiniges Pro-gnoseinstrument für ein erfolgreiches Studium nichtausreicht.

(Zuruf von der SPD: Sogar das baden-württem-bergische und bayrische nicht!)

Die Unterschiedlichkeit der schulischen Qualifika-tionen und die immer stärkere Ausdifferenzierung der

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Minister Dr. Peter Frankenberg (Baden-Württemberg)

Studiengänge machen es notwendig, die Passgenauigkeitzwischen der Befähigung der Studierenden und dem An-gebot der Hochschulen zu verbessern. Das Abitur bleibtin unserem Gesetzentwurf ein wesentliches Kriterium.Es geht aber nicht nur um die Studierfähigkeit, sondernauch um die Berufsfähigkeit.

Durch den Numerus clausus ist eine Mentalität derpermanenten Notenverbesserung an unseren Schulenentstanden. Aber man muss sich doch fragen, ob einAbiturient, der das Abitur mit 1,0 bestanden hat, schondamit für das Medizinstudium geeignet ist. Es mag zwarsein, dass er das Studium gut bewältigt, aber wird erdann auch ein guter Arzt? Das kann eben nicht alleinüber das Abitur festgestellt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christoph Hartmann [Homburg] [FDP])

Für die Studierenden bedeutet die verstärkte Selbst-auswahl der Hochschulen, dass sie sich in ihrem Stu-dienwunsch und in ihrer Qualifikation noch einmal sel-ber überprüfen können. Wir, die Länder, legen zweiModelle vor. Wir haben sie aufeinander abgestimmt; siesind zeitlich getaktet. Den Studierenden wird kein Nach-teil daraus entstehen, dass es zwei Modelle gibt.

Das eine Modell ist mit dem Namen Baden-Württem-berg verbunden: Vorab vergeben die Hochschulen50 Prozent der Studienplätze an Studierende, die sieselbst auswählen. Weitere 25 Prozent der Studienplätzewerden an die Abiturbesten vergeben. Die übrigen25 Prozent werden nach den bisherigen ZVS-Kriterienvergeben.

Das so genannte Nordrhein-Westfalen-Modell be-ginnt mit 25 Prozent der Studienplätze, die an die Abi-turbesten vergeben werden. Dann folgt die 25-prozentigeSelbstauswahl durch die Hochschulen. Die übrigen50 Prozent werden durch die ZVS vergeben.

Warum sollen in Deutschland nicht unterschiedlicheVerfahren, die aufeinander abgestimmt sind, zugelassenwerden? Nach fünf Jahren könnte evaluiert werden, wel-ches Instrument wie gewirkt hat.

Die Kultusministerkonferenz hat sich in diesem Punktals funktionsfähig erwiesen. Wir haben uns in einem ein-stimmigen Beschluss auf diese beiden Modelle geeinigt.Die Umsetzung dieses Vorhabens wäre ein großer Schrittvorwärts für die Autonomie der Hochschulen und dieVerbesserung der Lehrsituation an unseren Hochschu-len.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Jetzt ist die Bundesregierung gefordert!)

– Sie sagen es, Herr Rachel. Ich wollte gerade zu denKritikpunkten der Bundesregierung kommen. Es scheintfast, dass wir uns abgestimmt haben.

(Zuruf von der SPD: Der reine Zufall!)

– Richtig, das ist reiner Zufall.

Die Bundesregierung behauptet unter anderem, dieQuote sei zu gering. Aber eine 50-prozentige Auswahl-quote ist im Vergleich zu der bisher nicht existierenden

vorrangigen Auswahlquote ein großer Schritt nach vorne.Die Bundesregierung macht sich übrigens viele Argu-mente von Baden-Württemberg zu Eigen. Wir haben beiden Verhandlungen über den Kompromiss auf der Kul-tusministerkonferenz nicht alles erreicht. Aber wir haltenden nun vorliegenden Kompromiss für sehr vernünftig.Ein anderer war zwischen den Ländern nicht erreichbar.

Es wird des Weiteren darauf hingewiesen, die Abge-wiesenen könnten über das zweite Verfahren dennochaufgenommen werden. Das ist rechtlich kaum andersmachbar. Wenn man aber zu 50 Prozent die Bestgeeigne-ten ausgewählt hat, dann kann man vielleicht auch tole-rieren, dass der eine oder die andere, der bzw. die vorherabgewiesen worden ist, doch noch studiert.

Außerdem wird gefragt, warum nicht auch diejenigenStudiengänge in ein solches Gesetz einbezogen würden,bei denen es keinen bundesweiten Bewerberüberhanggibt. Ich mache darauf aufmerksam, dass wir es hier miteinem Rahmengesetz zu tun haben. Warum soll ein sol-ches Gesetz etwas regeln, was gar kein bundesweitesProblem ist? Für landesweiten Bewerberüberhang gibtes in den jeweiligen Ländern längst entsprechende Rege-lungen. So gibt es auch in Baden-Württemberg eine ent-sprechende Selbstauswahlgesetzgebung.

Es wird auch gefragt, warum die Detailkriterien nichtgeregelt seien. Das ist eine typische Fragestellung für einzum Teil zur Überregulierung neigendes System.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!)Wir wollen den Hochschulen doch gar keine Detailrege-lungen vorgeben. Es gibt zwar einen Grundsatzbeschluss,dessen Eckpunkte in die jeweiligen Landesgesetzgebun-gen gefasst werden müssen. Aber die Hochschulen wer-den nach eigenen Detailkriterien auswählen müssen. Einejuristische Fakultät der Universität A kann andere Pri-märkriterien festsetzen als die der Universität B. Wir wol-len damit den Wettbewerb der Hochschulen stärken. Wirwollen keine Gesetzgebung, die alles so gleichmacht,dass sich gleich nicht Professoren, sondern Computer mitder Auswahl beschäftigen könnten.

Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass man erstden Beschluss des Wissenschaftsrates abwarten müsse.Der Wissenschaftsrat ist genauso wie die HRK für eineverstärkte Selbstauswahl der Studierenden.

Manche fragen dann noch, wer das machen solle. Ichglaube, die vorlesungsfreie Zeit in unseren Universitätenist lang genug, dass sich Professorinnen und Professorenzwei Wochen lang mit der Auswahl der Studierenden be-schäftigen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)Das lohnt sich, weil man dann die besten Studierendenhat.

Machen Sie den Weg für die Initiative der16 Bundesländer frei! Das, was wir hier gemacht haben,ist ein Ausweis positiven Föderalismus. Gehen Sie mituns den Weg der Verbesserung der Lehrsituation an denHochschulen! Der jetzt vorgeschlagene erste Reform-schritt ist groß genug. Wir, das heißt Baden-Württem-berg, wären sicherlich weiter gegangen. Aber wir sind

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Minister Dr. Peter Frankenberg (Baden-Württemberg)

froh, dass die übrigen Länder wenigstens die Hälfte un-seres Weges gegangen sind. Treten Sie mit uns, den16 Ländern, für eine entscheidende Verbesserung unse-res Hochschulsystems ein!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr gute Rede!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Christoph Matschie.

Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin für Bildung und Forschung:

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Die Initiative des Bundesrates zur Ausweitung der Aus-wahlrechte der Hochschulen begrüßen wir in ihrerZielstellung.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber ihr seid dagegen!)

Ich glaube, dass das sinnvoll ist. Die Hochschulen for-dern dies übrigens schon seit Jahren. Der Bundesgesetz-geber hat schon in der vierten Novelle zum HRG von1998 erstmalig Auswahlrechte eingeräumt. Allerdingsmüssen wir uns auch mit der Frage beschäftigen, HerrKollege Frankenberg, warum die Hochschulen bishernur in Ausnahmefällen von ihren Rechten Gebrauch ma-chen. Ich werde auf diese paradoxe Situation gleich nochzurückkommen.

Welchem Zweck soll das Auswahlrecht der Hoch-schulen beim Zugang dienen? Wir sind der Meinung,dass es uns um die Steigerung der Leistungsfähigkeitdes deutschen Hochschulsystems und insbesondere umden Wettbewerb der Hochschulen gehen muss, der da-bei unverzichtbar ist. Dazu gehört die Profilbildung inder Forschung, aber auch in der Lehre. Im Bereich derLehre sind die bundesweit geltenden Rahmenprüfungs-ordnungen aufgegeben worden. Es gibt nun eine Akkre-ditierung der Studiengänge, die Profilbildung ermög-licht und die sehr viel differenzierter die Situation derjeweiligen Hochschule sowie die Zielstellungen wider-spiegeln kann. Damit – das sehen wir ganz genauso –kommt natürlich auch der Auswahl des Hochschulstand-orts eine größere Bedeutung als bisher zu.

Wettbewerb im Bereich der Lehre bedeutet aber nichtnur Profilbildung bei den Angeboten, sondern auchWettbewerb der Hochschulen um möglichst leistungs-starke Studienbewerber. Auch dieser Wettbewerb mussmöglich sein.

Die KMK hat sich im März auf Eckpunkte verstän-digt. Aus diesen Eckpunkten ist ein Gesetzentwurf ge-worden, der jetzt vorgelegt worden ist. Ich bedaure aus-drücklich, dass der Bund bei der Erarbeitung derEckpunkte und des Gesetzentwurfs nicht einbezogenworden ist.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch Länderkompetenz!)

Es wäre gut gewesen, wenn wir in dieser Frage vonvornherein zusammengearbeitet hätten.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ihr blockiert doch!)

Auch wenn wir uns im Ziel der Neugestaltung desHochschulzugangs einig sind, hat sich die Bundesregie-rung gegen den Gesetzentwurf in der vorliegenden Fas-sung ausgesprochen. Ich will Ihnen auch sagen, warum.Wir sind der Überzeugung, dass die Verfahren, die Siegewählt haben, nicht wirklich praktikabel sind. Dafürmöchte ich einige Gründe nennen:

Erstens. Sie haben die Abbrecherquoten angeführt.Wenn man das Problem der Abbrecherquoten angehenwill, dann muss man, glaube ich, die gesamte Studien-eingangsphase in den Blick nehmen. Dazu gehört dieZulassung. Dazu gehört aber mehr. Dazu gehört die Aus-gestaltung der Eingangsphase, beispielsweise mit ver-besserten Studienbedingungen und verbesserter Studien-beratung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir über eine verbesserte Eingangsphase undüber die Auswahl reden, dann sollten wir nicht nur überdie zulassungsbeschränkten Studiengänge reden. Viel-mehr – davon bin ich überzeugt – müssen wir über alleStudiengänge reden, wenn wir über den Hochschulzu-gang und die Auswahl von Studienanfängern reden.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Reines Ablenkungsmanöver!)

Der Wissenschaftsrat – das ist schon erwähnt wor-den – erarbeitet zurzeit Empfehlungen für eine umfas-sende Neuordnung des Hochschulzugangs. Ich kannbeim besten Willen nicht verstehen, warum Sie nicht be-reit sind – Sie haben es auch heute nicht erklärenkönnen –, diese Empfehlungen des Wissenschaftsrats,die Anfang kommenden Jahres vorliegen werden, abzu-warten. Warum können wir nicht gemeinsam auf der Ba-sis der Empfehlungen des Wissenschaftsrats an dieseAufgabe herangehen und eine vernünftige Eingangs-phase für das Studium gestalten?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Weil es Zeit ist, endlich zu handeln!)

– Herr Rachel, weil Sie so dazwischenrufen, sage ich Ih-nen: Die Länder sind an dieser Arbeit des Wissen-schaftsrats beteiligt. Trotzdem legen sie einen eigenenEntwurf vor, bevor der Wissenschaftsrat seine Arbeit be-endet hat.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das sollte Ih-nen zu denken geben! – Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das müsste gerade diese Regierungsehr gut verstehen!)

Ich finde das zumindest nicht logisch.

Zweitens. Die Hochschulen haben sich bei dem bishe-rigen Verfahren darüber beklagt, dass Bewerber, die vonihnen im Auswahlverfahren abgelehnt wurden, im wei-

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Parl. Staatssekretär Christoph Matschie

teren Zulassungsverfahren plötzlich doch in der Hoch-schule ankommen.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Gucken Sie mal ins Bundesverfassungsgerichtsurteil!)

Das Modell, das Sie uns präsentiert haben, hilft an dieserStelle überhaupt nicht weiter; im Gegenteil: Es wirddazu führen, dass die eine Hälfte ausgewählt und die an-dere Hälfte wieder nach dem üblichen Zulassungsver-fahren zugeordnet wird. Damit sind die, die abgelehntworden sind, in aller Regel trotzdem in der Hochschule.Dann fragt sich jede Hochschule: Warum mache ichüberhaupt ein Auswahlverfahren, wenn ich am Ende dieStudenten, die ich abgelehnt habe, doch in der Hoch-schule habe?

Drittens. Ein erleichtertes Auswahlrecht – die Hoch-schulen nehmen das Auswahlrecht bisher nicht wahr,weil es für sie zu kompliziert ist – setzt praktikableAuswahlverfahren voraus. Dazu sagt Ihr Gesetzentwurfüberhaupt nichts. Auch das bedauere ich sehr. Damitwird an dem Problem, das die Hochschulen jetzt haben,nichts geändert.

Im Übrigen ist ein Vorziehen des Bewerbungsschlus-ses zur Problemlösung allein nicht ausreichend. Diemeisten Bewerber verfügen zu dem Zeitpunkt noch nichtüber das Ergebnis der Abiturprüfung.

Viertens. Der Verzicht auf Regelung der Kriterienfür die Auswahl ist aus meiner Sicht auch verfassungs-rechtlich problematisch; denn er führt zu 16 unterschied-lichen Auswahlregelungen in den 16 Ländern, die für dieBewerber eigentlich kaum noch überschaubar sind. Wirwollen aber einen überschaubaren und klar definierbarenZugangsweg. Den können Sie mit Ihrem Modell nichtanbieten.

Ich komme zum Schluss. Die Bundesregierung wirdsich dafür einsetzen, dass wir möglichst schnell zu einerdurchdachten Neugestaltung des Hochschulzugangskommen.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Dann können wir aber lange warten!)

Für mich sind dafür drei Bedingungen ausschlaggebend:Das Auswahlverfahren muss gerecht sein. Es muss fürdie Hochschulen praktikabel und es muss für die Bewer-ber leicht durchschaubar sein.

Ich glaube, dass wir auf der Grundlage der Empfeh-lung des Wissenschaftsrates zu einem entsprechendenModell kommen können. Ich fordere Sie noch einmalauf: Versuchen Sie, ein solches Modell mit uns gemein-sam zu entwickeln! Die Hochschulen werden es uns dan-ken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Christoph Hartmann,

FDP-Fraktion.

Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir brauchen in Deutschland eine grundlegendeHochschulreform. Unser Bildungssystem ist auch imHinblick auf das Studium von Bürokratisierung undstaatlichen Eingriffen geprägt. Wir brauchen ein anderesBildungssystem, das einen wirklichen Wettbewerb zwi-schen den Bildungseinrichtungen ermöglicht, das dieVerantwortung auf die Schulen sowie auf die Hochschu-len überträgt und das es nicht bei der Kultusbürokratiebelässt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir brauchen eine autonome Verantwortung undProfilbildung der Hochschulen. Wer dazu aber Ja sagt,der muss den Hochschulen die Möglichkeit geben, sichdie Studenten selbst auszusuchen, und er muss auch denStudenten die Möglichkeit geben, sich ihre Hochschuleselbst auszusuchen. Das kann die ZVS nicht leisten. Werdazu Ja sagt, der muss den Gesetzentwurf des Bundesra-tes ebenfalls begrüßen.

Wir sind uns durchaus bewusst, dass das nicht derWeisheit letzter Schluss ist. Es reicht uns, der FDP, nicht,dass sich die Hochschulen – je nach Modell – 25 Prozentbzw. 50 Prozent der Studenten aussuchen dürfen. Wirhätten uns mehr gewünscht; aber es ist immerhin einSchritt in die richtige Richtung.

(Beifall bei der FDP)

Herr Staatssekretär, das ist besser als gar kein Schritt;deswegen müssen Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Alle Gegenargumente, die Sie hier vorgebracht ha-ben, überzeugen nicht; denn wenn wir uns über das Zieleinig sind, dann sollten wir heute beginnen und die Re-formen nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag oder aufdas nächste Jahr verschieben. Wenn die von Ihnen re-gierten Länder zugestimmt haben, müssen wir das, wasSie auch in diesem Haus gesagt haben, als reine Verzö-gerungstaktik entlarven.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen die Nachfragemacht der Studentinnenund Studenten und die Verantwortung der Hochschulenstärken; denn wenn Studierende wirklich entscheidenkönnen, an welcher Hochschule sie studieren, dann be-kommen wir, was wir brauchen: einen Wettbewerb derHochschulen um möglichst qualifizierte Studierende.

Nur wenn das Hochschulrahmengesetz grundsätzlichreformiert wird, können sich die Hochschulen wirklichohne bürokratische Regelungsdichte entfalten. Wir brau-chen – auch zur Finanzierung der Hochschulen – Markt-mechanismen. Wir sind für eine Verschiebung der Kom-petenz, aber nicht hin zu den Bürokratien der Länder,sondern hin zu den Hochschulen.

(Beifall bei der FDP)

Wer zu einer wettbewerbsfähigen Hochschul-landschaft wirklich Ja sagt, der muss den Schritt zur

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Christoph Hartmann (Homburg)

autonomen Verantwortung der Hochschulen gehen. Die-ser Gesetzentwurf ist ein – wenn auch nur kleiner –Schritt in die richtige Richtung; deswegen ist er zu unter-stützen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Grietje Bettin,

Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Die Lage an den Hochschulen ist wirklichschlecht: Es fehlt an Personal; es fehlt eine vernünftigeQualitätssicherung; in Deutschland herrscht ein echterAkademikermangel; auch die Studienabbrecherquote inDeutschland ist enorm hoch.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Wir müssen unsere Politik – übrigens im Bund wie imLand – daran messen lassen, ob es uns gelingt, diese zu-kunftsgefährdenden Probleme, die wir alle, wie ichdenke, gleich einschätzen, gemeinsam zu lösen. Das istauch die Messlatte, die wir an das Hochschulrahmenge-setz anlegen müssen. Das gilt insbesondere für das Rechtder Hochschulen, einen Teil ihrer Studierendenschaftselbst auszuwählen. Ein solches Recht hat viele Vorteile:Die Hochschulen können so die geeignetsten Bewerbe-rinnen und Bewerber für ein Studienfach auswählen.Das sind nicht immer jene Schülerinnen und Schüler, diedie beste Abiturnote haben.

Für ein solches Auswahlrecht müssen aus unsererSicht aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

Erstens. Das Auswahlrecht darf auf keinen Fall Men-schen von einem Studium abschrecken oder abhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei der SPD – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Dashörte sich bei Herrn Matschie ganz anders an!)

Im Gegenteil: Wir wollen, dass mehr Menschen ein Fachstudieren, das ihren jeweiligen Begabungen entspricht.

(Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Wer entscheidet das?)

So können wir die Abbrecherquote senken und das Ni-veau der Hochschulen insgesamt heben.

Zweitens. Das Auswahlverfahren verlangt einen enor-men organisatorischen, zeitlichen und finanziellen Auf-wand, vor allem aber erfordert es fachliche Sorgfalt. Dasalles aber gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn durch dasAuswahlrecht Aufgaben von der ZVS an die deutschenHochschulen verlagert werden, müssen auch die finanzi-ellen Mittel entsprechend umgelegt werden. Eine Rege-lung bezüglich der Kompensation dieser Kosten fehltaber in dem Vorschlag des Bundesrates, den wir hierheute diskutieren. Im Gegenteil: Die zusätzlichen Kos-ten werden ausdrücklich den Unis und Fachhochschulenaufgedrückt.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das kann doch nicht sein! Das ist gegen die Konnexität!)

Mit solchen unausgegorenen Konzepten führen Sie dieganze Idee des Auswahlrechts ad absurdum, gerade auchaufgrund der großen Personalkrise an den Hochschulen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Christoph Hartmann [Hom-burg] [FDP]: Eure Leute haben da zuge-stimmt! – Thomas Rachel [CDU/CSU]:Warum hat denn Rot-Grün in Nordrhein-West-falen zugestimmt?)

Sollten die Vorschläge des Bundesrates Wirklichkeitwerden, besteht die Gefahr, dass die Universitäten undFHs bei der Auswahl ihrer Studenten auf Schmalspurlö-sungen setzen, um den Aufwand möglichst gering zuhalten. Die Hochschulen würden somit gezwungen, nurauf formale Gesichtspunkte wie etwa die Abiturnote zusetzen; das wurde ja schon angesprochen.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das wäre zu einfach!)

Bei der Auswahl der Studierendenschaft sollte abernur die tatsächliche Eignung der Bewerberinnen undBewerber zählen. Die Eignung erwirbt man aber nichtnur im Schulunterricht. Gerade Aktivitäten jenseits derSchule führen häufig zu einem fundierten Berufs-wunsch. Wenn eine Abiturientin mit dem Notenschnitt2,6 schon lange begeistert als Sanitäterin beim RotenKreuz arbeitet, sollte sie eher Medizin studieren dürfenals ein Einser-Abiturient, der kein Blut sehen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – ThomasRachel [CDU/CSU]: Das ist ja eine interes-sante Theorie!)

Wenn solche Kriterien nicht Inhalt eines Auswahlverfah-rens werden, dann brauchen wir die ganze Reform mei-ner Meinung nach nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein neues Auswahl-recht für Hochschulen sehen wir Grüne als weiterenSchritt in Richtung Autonomie der BildungsinstitutionHochschule. Deshalb muss das Auswahlrecht ein Rechtbleiben. Wenn, wie in Baden-Württemberg, dieses Rechtzur Pflicht gemacht wird, dann bekommen wir Bürokra-tie statt Autonomie.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD –Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Washeißt „bekommen“? Die ZVS ist gänzlich un-bürokratisch?)

Wir Grüne wollen, dass die Fachbereiche selbst fest-legen, ob und nach welchen Kriterien die besten Studie-renden für ihre jeweiligen Studiengänge ausgewähltwerden sollen. Diese Kriterien müssen für Bewerberin-nen und Bewerber offen einsehbar und überprüfbar sein.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Herr Matschie will das aber bundesgesetzlich regeln!)

Landeskinder dürfen durch die Kriterien weder bevor-zugt noch benachteiligt werden und das Auswahlverfah-

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Grietje Bettin

ren muss für die Bewerberinnen und Bewerber kostenlossein.

Ein Auswahlrecht kann aber nicht die einzige Maß-nahme bleiben. Wir brauchen

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Eine neue Re-gierung!)

insbesondere schon in der Schule eine bessere Vorberei-tung auf die Studien- bzw. Berufswahl. Unser Bildungs-system muss auch für Begabte ohne Abitur durchlässigerwerden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Warum soll der talentierte Krankenpfleger von seinerOberärztin nicht zum Auswahlverfahren für ein Medi-zinstudium vorgeschlagen werden können?

(Zuruf von der SPD: Zum Beispiel in Bayern!)

Es geht uns dabei nicht darum, das Abitur abzuwerten.Es muss seinen Status als allgemeine Studienberechti-gung beibehalten. Es muss uns darum gehen, die Bega-bungsreserven in Deutschland zu erschließen. DieÖffnung des Studiums für beruflich Qualifizierte isthierbei ein erster sehr wichtiger Schritt;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

ein effektives Auswahlverfahren der Hochschulen einzweiter. Der Wissenschaftsrat wird hierzu Anfangnächsten Jahres ausführliche Vorschläge machen.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wo sind denn Ihre Vorschläge?)

Erst danach sollten sich Bund und Länder zusammenset-zen, um gemeinsam die beste Lösung zu finden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel,

CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Rachel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die freie Auswahl der Studenten ist die dringlichsteHochschulreform in Deutschland.

Das empfiehlt Gerhard Casper, emeritierter Präsident derStanford University. Casper wörtlich:

Universitäten sollen selbst entscheiden, wen sie fürgeeignet halten.

Doch in Deutschland herrscht bei den NC-Fächern bis-lang staatlicher Dirigismus. Nur die privaten Hochschu-len dürfen ihre Studierenden selbst aussuchen. Die öf-fentlichen Hochschulen hingegen haben einen viel zuengen Gestaltungsspielraum.

Die bestehende Praxis wird weder den Interessen derStudienbewerber noch den Interessen der Universitätengerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deshalb muss die Verteilung von Studienplätzen in denzulassungsbeschränkten Studiengängen durch die ZVSdringend reformiert werden. Die Unionsfraktion begrüßtdaher die Initiative der Kultusministerkonferenz unterFührung von Baden-Württemberg, Bayern und Nord-rhein-Westfalen, das Auswahlrecht sowohl der Hoch-schulen als auch das der bestqualifizierten Bewerberin-nen und Bewerber zu stärken. Herr Matschie, SPD-geführte Bundesländer wie Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und sogar Mecklenburg-Vorpommern sind da-für. Und Sie von der Bundesregierung? – Sie sitzen wie-der einmal im Bremserhäuschen und sind dagegen.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist dochtypisch! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]:Stimmt doch gar nicht!)

Sie lehnen diesen Vorschlag mit fadenscheinigen Ar-gumenten ab. Für Sie gilt der Satz des ehemaligen Präsi-denten der Westdeutschen Rektorenkonferenz, ProfessorRoellecke:

Jede Organisation entscheidet über die Aufnahmeihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen:die Gefängnisse und die Universitäten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ein toller Vergleich!)

Diesen Zustand wollen Sie mit Ihrer Blockadehaltungfortschreiben.

(Jörg Tauss [SPD]: Sie wollen die Unis zum Knast machen!)

Die Bundesratsinitiative schlägt zwei sinnvolle Modellevor. Nach dem ersten Modell können die Hochschulenvorab bis zu 50 Prozent der gesamten Studienplätze ver-geben. Nach dem zweiten Modell vergibt zuerst die ZVS25 Prozent der Studienplätze an die Abiturbesten. Da-nach vergeben die Hochschulen weitere 25 Prozent derStudienplätze. Ihnen geht das angeblich nicht weit ge-nug. Trotzdem machen Sie keinen eigenen Vorschlag.Sie wollen in Wirklichkeit die Veränderungen auf dielange Bank schieben. Wir wollen aber jetzt weg vomstaatlichen Dirigismus und hin zu einem individuell an-gelegten Auswahlverfahren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir wissen dabei die Hochschulrektorenkonferenz anunserer Seite; denn sie fordert, „dass die Neuregelungnicht unnötig verzögert wird“.

(Jörg Tauss [SPD]: „Unnötig“!)Da sollte es in Ihren Ohren klingeln.

Von Ihnen, Herr Tauss, kommen in diesen Tagen nurTiefschläge für den Hochschulstandort Deutschland.Erst kürzen Sie die Mittel für den Hochschulbau um135 Millionen Euro, sodass es im nächsten Jahr keinenHochschulneubau in Deutschland geben wird. Seit

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Thomas Rachel

Sonntag setzen Sie dem Ganzen noch die Krone auf, in-dem Sie die Studienzeiten nicht mehr als Beitragszeitenfür die Rente mehr anerkennen wollen. Das ist ein Skan-dal und ein Tiefschlag für die Studierenden in Deutsch-land.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Sie bestrafen gerade diejenigen, die mit persönlichemEinsatz in ihre Qualifikation investieren.

Heute haben Sie die Gelegenheit, Ihre Reformfähig-keit unter Beweis zu stellen. Nutzen Sie diese Chance!Die Initiative des Bundesrates ist ausgewogen. Sie be-rücksichtigt die Interessen der Studierenden wie die derHochschulen. Auch die SPD-geführten Länder wollendas und geben Rückenwind. Warum wollen Sie da nichtmitmachen?

Der jetzt erzielte Kompromiss ist ein wichtiger Schrittnach vorne. Denn alle Erfahrungen zeigen, dass Studen-ten besser motiviert sind, wenn sie sich ihren Studien-platz selbst aussuchen können und nicht von der ZVSgegängelt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was ist besser für Universitäten und Fachhochschulenals motivierte Studierende? Motivierte Studenten heißtauch weniger Studienabbrecher.

Die Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen isteine zentrale Voraussetzung für ein wettbewerbliches undinternational konkurrenzfähiges Hochschulsystem. Somachen wir die deutschen Hochschulen stark im Wettbe-werb um die besten Köpfe und diesen müssen wir ange-hen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Erich G. Fritz [CDU/CSU]:Da kommt Herr Tauss schon einmal nicht in-frage!)

Durch die Zuweisung an eine Hochschule durch dieZVS wird den Studenten heute eine Entscheidung überdie Einschreibung praktisch genommen. Das ist plan-wirtschaftliche Zuteilung, die wir beenden wollen. Da-für wird die ZVS ihr Profil ändern müssen. In Zukunftsollte sie sich als Serviceeinrichtung der Universitätengerade bei Mehrfachbewerbungen engagieren. Es mussdamit Schluss sein, dass überbesetzte Ministerialverwal-tungen die Hochschulen „mithilfe von Kaskaden vonVerordnungen und Verwaltungsvorschriften wie nachge-ordnete Behörden behandeln“. So Klaus Landfried beiseiner Verabschiedung als Präsident der Hochschulrekto-renkonferenz.

Geben Sie den Hochschulen deshalb die Chance zurProfilbildung und zur Qualitätssteigerung durch Wettbe-werb! Wenn Sie schon nicht selbst die Initiative ergriffenhaben, dann geben Sie den Hochschulen wenigstens mitder Initiative des Bundesrates mehr Freiheit! Machen Sieendlich Ernst mit der Stärkung des deutschen Hochschul-standortes! Stimmen Sie der Bundesratsinitiative zu!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute

Berg, SPD-Fraktion.

(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es wieder geradegerückt!)

Ute Berg (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im wahren Leben habe ich häufiger einmal das letzteWort, im Parlament heute zum ersten Mal; das ist auchganz schön.

Es ist schon erstaunlich, welche Schwierigkeiten beiEntscheidungen auftreten können, bei denen doch letzt-lich alle – das unterstelle ich jetzt einmal – dieselbenZiele haben: Bund, Länder und Hochschulen wollen denHochschulstandort Deutschland voranbringen. Alle wol-len, dass die Zulassung zum Hochschulstudium neu ge-regelt wird.

(Jörg Tauss [SPD]: So ist es!)

Alle sind sich einig, dass die Hochschulen mehr Autono-mie brauchen, um institutionell gestärkt zu werden, ei-gene Profile zu entwickeln und im Wettbewerb bestehenzu können. Alle wollen – folgerichtig –, dass Hochschu-len in der Lage sind, einen Teil ihrer Studenten selbstauszusuchen. Darüber hinaus wollen alle, dass es denbestqualifizierten Bewerbern und Bewerberinnen um ei-nen Studienplatz ermöglicht wird, den gewünschten Stu-diengang und die gewünschte Hochschule auszuwählen.Über die angestrebten Ziele besteht also keineUneinigkeit – über den Weg dorthin schon.

Der Bundesrat hat nun einen Gesetzentwurf vorge-legt, mit dem die Vergaberegeln für bundesweit mit ei-nem Numerus clausus belegte Studiengänge – nur aufsolche bezieht er sich – neu geregelt werden sollen. DerMinimalkonsens, den die Länder gefunden haben, lautet:Zwei Modelle stehen zur Auswahl – das so genannteNRW-Modell und das Baden-Württemberger Modell –und jedes Land soll nun selbst entscheiden können, wel-ches Modell es einführen will.

Das ist wahrlich keine überzeugende Lösung. In einerZeit, in der unsere Bemühungen auf einen einheitlicheneuropäischen Hochschulraum abzielen – StichwortBologna-Prozess –, schaffen wir es noch nicht einmal in-nerhalb Deutschlands, in dieser Frage zu einer einheitli-chen Lösung zu kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: TypischeKleinstaaterei von denen!)

Abgesehen davon ist es das erklärte Ziel des Bundes-rates, dass über den Gesetzentwurf auch noch ganzschnell und endgültig entschieden wird, damit der Startdes neuen Zulassungssystems mit dem Wintersemester2004/2005 erfolgen kann.

Ist dieses Ziel aber realistisch zu erreichen? Wie siehtes mit der konkreten Umsetzbarkeit aus? Das Baden-Württemberger Modell – es wurde gerade schon vorge-

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Ute Berg

stellt – sieht vor, dass die Hochschulen in Fächern, diebundesweit mit einem NC belegt sind, 50 Prozent ihrerStudenten selbst aussuchen können. Zurzeit liegt dieserAnteil bei 24 Prozent.

(Jörg Tauss [SPD]: Hört! Hört!)Die Hochschulen nehmen ihr Recht bisher nicht einmalin diesem Umfang in Anspruch, weil sie vielfach nochkeine objektiven, transparenten und gerichtsfesten Kri-terien entwickelt haben und/oder den Aufwand, den dieAuswahl von Studenten bereitet, insgesamt scheuen.Von bundesweit 225 Fakultäten, die NC-Fächer wie Me-dizin, Psychologie oder Betriebswirtschaft anbieten, ma-chen bis jetzt nur 31 von ihrem Recht Gebrauch, Studie-rende auszusuchen. Davon wählen die meisten einfachnach dem Notendurchschnitt aus, weil sie – wie ebenschon erwähnt – sonst überfordert wären.

Angesichts dieser Situation sehe ich also keine Veran-lassung, jetzt einen politischen Schnellschuss abzuge-ben, der womöglich an der Zielscheibe vorbeifliegt unddabei auch noch Schaden anrichtet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Darumgeht’s! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: WiederBlockade und es bewegt sich wieder nichts inDeutschland!)

– Herr Rachel, Sie reden gerne – das weiß ich –, aber Siereden zu laut. Sie können gerne eine Zwischenfrage stel-len, wenn Sie möchten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zumBundesrat strebt die Bundesregierung transparente bun-desweite Regelungen an, die den Hochschulzugang fürsämtliche Bewerberinnen und Bewerber und in allenStudiengängen regeln.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Es gibt aber keinen Vorschlag!)

– Nein, es gibt noch keinen Vorschlag, weil wir nämlichauf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates warten.Das ist auch sehr sinnvoll.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Wissenschaftsrat wird sich voraussichtlich imJanuar 2004 umfassend zur Frage des Hochschulzugangsäußern. Er arbeitet zurzeit – wie Sie wissen – entspre-chende Empfehlungen aus, damit angehende Studentenden für sie geeigneten Studiengang wählen und – das istwohl das Hauptziel – erfolgreich absolvieren können.

Die Vorbereitung auf die Berufswahl schon durch dieSchulen, die Verbesserung der Studierfähigkeit – auchder Herr Minister hat eben darauf hingewiesen –, die Zu-lassung zum „richtigen“ Studiengang und eine verbes-serte Studieneingangsphase können eben nicht isoliertbetrachtet werden, sondern gehören in einen Gesamtzu-

sammenhang. Dieser Tatsache trägt der Wissenschaftsratbei seinen Empfehlungen für eine Neuregelung desHochschulzugangs Rechnung.

Jetzt frage ich Sie: Warum um alles in der Welt sollenwir jetzt, unmittelbar vorher, im Hauruckverfahren einGesetz durchpeitschen, das alles andere als überzeugendist?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Thomas Rachel [CDU/CSU]:Weil Sie fünf Jahre nichts auf die Beine ge-kriegt haben!)

Warum sollen wir uns über die Empfehlungen des Wis-senschaftsrates, eines wirklich hochkarätigen und all-seits anerkannten Expertengremiums, einfach ignoranthinwegsetzen?

Meine Fraktion jedenfalls plädiert dafür, dieses Gut-achten abzuwarten und zu prüfen. Dann allerdings soll-ten sich der Bund und die Länder in einem zügigen Ver-fahren zu gemeinsamen Lösungen durchringen.

(Beifall bei der SPD)Es darf keine Hängepartie geben; da bin ich mit Ihnen,Herr Rachel, einer Meinung. Denn das würde die Hoch-schulen und die Studierenden zu Recht frustrieren.

(Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Des-wegen warten wir jetzt noch!)

– Herr Hartmann, sehr richtig: Deshalb warten wir aufeine fundierte Grundlage.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)Meine Aufforderung an die Bundesregierung und an

die Länder nach der Vorlage der Empfehlungen des Wis-senschaftsrates, also mit dieser fundierten Grundlage,lautet: Es gibt viel zu tun. Packt es unverzüglich an!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-

fes auf Drucksache 15/1498 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 24. Oktober 2003,9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.(Schluss: 17.21 Uhr)

Berichtigung

67. Sitzung (neu), Seite 5797 (C): Unter „Enthalten“ist der zuletzt aufgelistete Name „Petra Pau“ zu strei-chen.

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(A) (C)

(B)

Anlagen zum Stenografischen BerichtAnlage 1

(D)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Anja Hajduk und KristaSager (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zurAbstimmung über den Entwurf eines … Geset-zes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vor-schriften (Tagesordnungspunkt 20 c)

Erstens. Der Bund hat die ausschließliche Gesetz-gebungskompetenz für den „Luftverkehr“, Art. 73 Nr. 6des Grundgesetzes. Das Recht der Enteignung auf demGebiet des Luftverkehrs unterfällt nach Art. 74 Abs. 1Nr. 14 des Grundgesetzes der konkurrierenden Gesetz-gebung.

Zweitens. In § 28 Abs. 1 LuftVG hat der Bundesge-setzgeber die Enteignung für „Zwecke der Zivilluftfahrt“für zulässig erklärt. Mit dem Begriff „zivil“ wird eineAbgrenzung zur militärischen Luftfahrt gezogen. DerBegriff der „Luftfahrt“ entspricht dem Begriff des „Luft-verkehrs“ im Grundgesetz. Die Zwecke der Zivilluftfahrt

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Bülow, Marco SPD 23.10.2003

Dümpe-Krüger, Jutta BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

23.10.2003

Feibel, Albrecht CDU/CSU 23.10.2003

Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 23.10.2003

Gleicke, Iris SPD 23.10.2003

Hartnagel, Anke SPD 23.10.2003

Lange (Backnang), Christian

SPD 23.10.2003

Raab, Daniela CDU/CSU 23.10.2003

Sauer, Thomas SPD 23.10.2003

Schmidt (Fürth), Christian

CDU/CSU 23.10.2003

Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

23.10.2003

Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

23.10.2003

Willsch, Klaus-Peter CDU/CSU 23.10.2003

umfassen alles, was – ausgehend von der Verkehrsfunk-tion des LuftVG – dem allgemeinen Verkehr der Zivil-luftfahrt dient. Im Rahmen dieser Zweckbestimmung un-terfallen insbesondere auch Flugplätze dem Begriff der„Zivilluftfahrt“. Dies gilt sowohl für Flughäfen und Lan-deplätze, die dem allgemeinen Verkehr dienen, als auchFlughäfen und Landeplätze für besondere Zwecke, sogenannte Sonderflughäfen oder Sonderlandeplätze nach§§ 38, 49 LuftVZO ).

Drittens. In § 28 Abs. 2 LuftVG hat der Bundesge-setzgeber eine Regelung für das Enteignungsverfahrennormiert, wenn Planfeststellungs-, Plangenehmigungs-oder Genehmigungsverfahren stattgefunden haben. Alleweiteren Regelungen zu Enteignungsverfahren für Zwe-cke der Zivilluftfahrt hat der Bundesgesetzgeber denLändern überlassen. Dementsprechend verweist auch§ 28 Abs. 3 LuftVG auf die Enteignungsgesetze derLänder.

Viertens. Der durch den Gesetzentwurf des Bundes-rates zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschrifteneinzufügende Satz 2 in § 28 Abs. 1 LuftVG „Die Befug-nis der Länder, Enteignungen für Sonderflugplätze vorzu-sehen, bleibt unberührt.“ bestätigt lediglich die bisherigeGesetzeslage auf Bundesebene, was auch die Bundesre-gierung in ihrer Stellungnahme vom 20. Juni 2003 fest-hält.

Die Befugnis der Länder, Regelungen für Enteignun-gen für Sonderflugplätze vorzusehen, erweitert insbeson-dere nicht die Zweckbestimmung solcher Enteignungen,die auch auf Landesebene nur für Zwecke der Zivilluft-fahrt erfolgen können. Soweit der Bundesrat in der Be-gründung seines Gesetzentwurfs davon ausgeht, dass esauch möglich sein muss, „Enteignungen für in erster Li-nie private Zwecke“ durchzuführen, wenn „hierdurch zu-gleich industrielle und wirtschaftliche Ziele gefördertwerden sollen, die dem Gemeinwohl dienen“, kann diesfortbestehen. Jedenfalls lässt sich eine solche Auswei-tung von Enteignungszwecken auf dem Gebiet des Luft-verkehrs oder der Zivilluftfahrt nicht mit der vorgeschla-genen Hinzufügung des Satzes 2 in § 28 Abs. 1 LuftVGbegründen.

Fünftens. Auch landesgesetzliche Regelungen zurEnteignung für Sonderflugplätze müssen sich an Art. 14Abs. 3 des Grundgesetzes messen lassen. Enteignungensind nur zum Wohle der Allgemeinheit und nur durchGesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig, das auchArt und Ausmaß der Entschädigung regelt. Dient eineEnteignung dem Wohl der Allgemeinheit, so ist es uner-heblich, ob sie zugunsten eines Privaten oder der öffent-lichen Hand erfolgt, ob also ein Privater oder ein Trägeröffentlicher Verwaltung als Unternehmer tätig wird. Beieinem Zusammenfallen öffentlicher mit privaten Interes-sen an der Enteignung ist eine solche grundsätzlich auchzulässig, wenn die privaten Interessen mit den öffent-lichen nur mittelbar verbunden sind, so zum Beispieldurch strukturpolitische, arbeitsmarktpolitische oderfiskalpolitische Gesichtpunkte. In einem solchen Fall

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(A) (C)

(B)

müssen aber durch den Landesgesetzgeber nach Art. 14Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes folgende vom Verfas-sungsgericht – BVerfGE 74.264 L 2, Boxbergentschei-dung – formulierten Maßstäbe erfüllt sein:

Ein Gesetz muss den nur mittelbar zu verwirklichen-den Enteignungszweck deutlich und konkret umschrei-ben. Es muss also eine genaue landesgesetzliche Be-schreibung des Enteignungszwecks vorliegen, sodass dieEntscheidung über die Zulässigkeit der Enteignung nichtin die Hand der Verwaltung gegeben wird.

Ein Gesetz muss die grundlegenden Enteignungs-voraussetzungen und das Verfahren zu ihrer Ermittlungfestlegen. Es bedarf deshalb differenzierter materiellerund verfahrensrechtlicher Regelungen, die sicherstellen,

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- uVertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20,

ISSN 07

dass den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und derGleichheit vor dem Gesetz zwischen dem Gemeinwohl-interesse, den Interessen des zu Enteignenden und desBegünstigten im Einzelfall Rechnung getragen wird undinsbesondere die Erforderlichkeit der Enteignung sorg-fältig geprüft werden kann.

In einem Gesetz müssen die Regelungen zur dauer-haften Sicherung des verfolgten Gemeinwohlziels fest-gelegt sein. Der Gemeinwohlbezug der Tätigkeit desPrivaten darf also kein bloßer Reflex auf seine privatnüt-zige Tätigkeit bleiben, sondern es muss durch eine recht-liche Bindung des Privaten eine dauerhafte Sicherungdes die Enteignung rechtfertigenden Gemeinwohls erfol-gen.

(D)

nd Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 4422-7980