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Plenarprotokoll 15/179 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 179. Sitzung Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Dr. Michael Bürsch . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Ta- gesbetreuung und zur Weiterentwick- lung der Kinder- und Jugendhilfe (Ta- gesbetreuungsausbaugesetz – TAG) (Drucksachen 15/3676, 15/3986, 15/4045, 15/5616) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachte n Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Kommu- nen im sozialen Bereich (KEG) (Drucksache 15/4532) . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch (Drucksachen 15/4158, 15/5616, 15/5617) Renate Schmidt, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Haupt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (fraktionslos) . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . Verena Butalikakis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Wachstum in Deutschland und Europa stärken – Neue Strategie für Lissa- bon-Ziele entwickeln (Drucksachen 15/5025, 15/5614) . . . . . . . . . . Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . . Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Bertl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung der Freibetragsregelun- gen für erwerbsfähige Hilfebedürftige (Freibetragsneuregelungsgesetz) (Drucksachen 15/5446 (neu), 15/5607, 15/5609) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 A 16883 A 16883 B 16883 B 16883 D 16886 A 16888 B 16890 A 16891 C 16892 A 16892 D 16894 A 16895 C 16897 D 16897 D 16899 C 16901 B 16903 A 16904 B 16905 D 16907 C 16909 B 16911 A

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Plenarprotokoll 15/179

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

179. Sitzung

Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

I n h a l t :

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord-neten Dr. Michael Bürsch . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zum qualitätsorientiertenund bedarfsgerechten Ausbau der Ta-gesbetreuung und zur Weiterentwick-lung der Kinder- und Jugendhilfe (Ta-gesbetreuungsausbaugesetz – TAG)(Drucksachen 15/3676, 15/3986, 15/4045,15/5616) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

– Zweite und dritte Beratung des vom Bun-desrat eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Entlastung der Kommu-nen im sozialen Bereich (KEG)(Drucksache 15/4532) . . . . . . . . . . . . . . . .

– Zweite und dritte Beratung des vom Bun-desrat eingebrachten Entwurfs eines …Gesetzes zur Änderung des AchtenBuches Sozialgesetzbuch(Drucksachen 15/4158, 15/5616, 15/5617)

Renate Schmidt, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Haupt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Pau (fraktionslos) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . .

169 A

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16883 B

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16883 D

16886 A

16888 B

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16892 A

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Verena Butalikakis (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirtschaft und Arbeit zu demAntrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill,Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Wachstum in Deutschland undEuropa stärken – Neue Strategie für Lissa-bon-Ziele entwickeln(Drucksachen 15/5025, 15/5614) . . . . . . . . . .

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . .

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . .

Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Hans-Werner Bertl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 22:a) Zweite und dritte Beratung des von den

Fraktionen der SPD, der CDU/CSU unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neufassung der Freibetragsregelun-gen für erwerbsfähige Hilfebedürftige(Freibetragsneuregelungsgesetz)(Drucksachen 15/5446 (neu), 15/5607,15/5609) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16894 A

16895 C

16897 D

16897 D

16899 C

16901 B

16903 A

16904 B

16905 D

16907 C

16909 B

16911 A

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II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Wirtschaft und Arbeit zudem Antrag der Abgeordneten DirkNiebel, Rainer Brüderle, AngelikaBrunkhorst, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: Hinzuverdienst-möglichkeiten zum Arbeitslosengeld IIim Interesse einer Beschäftigung im ers-ten Arbeitsmarkt verbessern(Drucksachen 15/5271, 15/5607) . . . . . . .

Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) . . . . . . . .Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . .Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . .Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . .Petra Pau (fraktionslos) . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Gerd Andres (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 23:a) Beschlussempfehlung und Bericht des In-

nenausschusses zu dem Antrag der Abge-ordneten Wolfgang Bosbach, HartmutKoschyk, Thomas Strobl (Heilbronn),weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU: Abschiebehindernissebeseitigen(Drucksachen 15/3804, 15/5193) . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht des In-nenausschusses zu dem Antrag der Abge-ordneten Wolfgang Bosbach, HartmutKoschyk, Dr. Norbert Röttgen, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konsequente Abschiebung aus-ländischer Extremisten sicherstellen(Drucksachen 15/1239, 15/5525) . . . . . . .

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD) . . . . . . .Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD) . . . .

Tagesordnungspunkt 24:Erste Beratung des von den AbgeordnetenJoachim Stünker, Olaf Scholz, Erika Simm,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der

16911 B16911 C16913 B

16915 A16916 B16917 B16919 D16921 B16921 D16921 D16922 C16923 C

16925 A

16925 A16925 B16926 D

16928 B16929 C16930 C16931 C

SPD sowie den Abgeordneten Dr. TheaDückert, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln),weiteren Abgeordneten und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes über dieOffenlegung der Vorstandsvergütungen(Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz –VorstOG)(Drucksache 15/5577) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 5:Erste Beratung des von den AbgeordnetenRainer Funke, Rainer Brüderle, Daniel Bahr(Münster), weiteren Abgeordneten und derFraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei-nes Ersten Gesetzes zur Stärkung derEigentümerrechte einer Aktiengesellschaft(1. Eigentümerrechte-Stärkungsgesetz –EigStärkG)(Drucksache 15/5582) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Brigitte Zypries, Bundesministerin

BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Rainer Funke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Hartmut Schauerte (CDU/CSU) . . . . . . . . . .Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . .

Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 25:a) Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke,

Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Deutschland für die Fußballwelt-meisterschaft 2006 fit machen – Län-gere Öffnungszeiten der Außengastro-nomie ermöglichen(Drucksache 15/5452) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten ErnstBurgbacher, Gudrun Kopp, Detlef Parr,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP: Sperrzeiten für Außengastro-nomie zur Fußballweltmeisterschaft2006 verbraucherfreundlicher gestal-ten – Freigabe der Ladenöffnungszeitenermöglichen(Drucksache 15/5581) . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

16932 D

16933 A

16933 A16934 B

16936 A16937 C16938 C16939 C16940 D16941 D16942 A16943 A

16943 C

16943 C

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005 III

Zusatztagesordnungspunkt 6:

Antrag der Abgeordneten Annette Faße,Renate Gradistanac, Bettina Hagedorn, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Undine Kurth(Quedlinburg), Werner Schulz (Berlin),Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneterund der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN: Öffnungszeiten der Außengas-tronomie während der Fußball-WM 2006flexibel handhaben(Drucksache 15/5585) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Brunhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 7:

Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Regelung des Zugangs zu In-formationen des Bundes (Informationsfrei-heitsgesetz – IFG)(Drucksachen 15/4493, 15/5606, 15/5610) . .

Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Eckart von Klaeden (CDU/CSU) . . . . . . . .

Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Pau (fraktionslos) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 27:

a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenRainer Funke, Ernst Burgbacher, GiselaPiltz, weiteren Abgeordneten und derFraktion der FDP eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung desGrundgesetzes (Art. 28, 31 und 84)(Drucksache 15/5357) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von den AbgeordnetenErnst Burgbacher, Rainer Funke, Dr.Hermann Otto Solms, weiteren Abgeord-neten und der Fraktion der FDP einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Grundgesetzes (Art. 105und 106)(Drucksache 15/5358) . . . . . . . . . . . . . . . .

16943 D

16944 A

16946 A

16948 A

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16950 A

16950 D

16951 C

16954 B

16955 A

16956 A

16957 C

16958 B

16959 B

16959 B

c) Erste Beratung des von den AbgeordnetenGudrun Kopp, Rainer Brüderle, ErnstBurgbacher, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung desGesetzes über den Ladenschluss(Drucksache 15/5370) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 28:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesSiebten Gesetzes zur Änderung des Versi-cherungsaufsichtsgesetzes(Drucksachen 15/5221, 15/5618) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 29:

Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill,Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Europäische Energiepolitik markt-wirtschaftlich gestalten – Richtlinien ent-bürokratisieren(Drucksache 15/5327) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Entwürfe:

– Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes(Art. 28, 31 und 84)

– Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes(Art. 105 und 106)

– Gesetz zur Änderung des Gesetzes überden Ladenschluss

(Tagesordnungspunkt 27)

Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur

16959 C

16959 D

16960 B

16960 C

16960 B

16961 A

16961 D

16962 D

16965 B

16965 C

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IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

Änderung des Versicherungsaufsichtsgeset-zes (Tagesordnungspunkt 28)

Horst Schild (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . .

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Europäische Energiepolitik

16966 B

16967 A

16968 C

16969 A

marktwirtschaftlich gestalten – Richtlinienentbürokratisieren (Tagesordnungspunkt 29)

Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . .

Anlage 5

Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16969 C

16970 C

16971 C

16972 D

16973 C

16974 B

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005 16883

(A) (C)

(B) (D)

179. Sitzung

Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Interfraktionell wurde vereinbart, dass am Mittwoch,dem 15. Juni 2005, keine Befragung der Bundesregie-rung stattfindet.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszum qualitätsorientierten und bedarfsgerech-ten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Wei-terentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe(Tagesbetreuungsausbaugesetz – TAG)

– Drucksachen 15/3676, 15/3986, 15/4045 –

(Erste Beratung 123. Sitzung)

Zweite Beschlussempfehlung und zweiter Berichtdes Ausschusses für Familie, Senioren, Frauenund Jugend (12. Ausschuss)

– Drucksache 15/5616 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Ingrid Fischbach Jutta Dümpe-Krüger Ina Lenke

– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent-lastung der Kommunen im sozialen Bereich(KEG)

– Drucksache 15/4532 –

(Erste Beratung 157. Sitzung)

– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Achten Buches Sozialgesetz-buch

– Drucksache 15/4158 –

(Erste Beratung 157. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend(12. Ausschuss)

– Drucksache 15/5616 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Ingrid Fischbach Jutta Dümpe-Krüger Ina Lenke

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 15/5617 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bettina Hagedorn Antje Tillmann Anna Lührmann Otto Fricke

Zum Tagesbetreuungsausbaugesetz liegen je ein Ent-schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und derFDP vor. Zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Ent-lastung der Kommunen im sozialen Bereich liegt einEntschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Renate Schmidt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend:

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebeKollegen, liebe Kolleginnen! Am 1. Januar dieses Jahresist das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das TAG, in Kraftgetreten, nachdem der Einspruch des Bundesrates mitder Mehrheit des Bundestages zurückgewiesen worden

Redetext

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16884 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

(A) (C)

(B) (D)

Bundesministerin Renate Schmidt

war. Schon nach nicht einmal fünf Monaten zeigt sich,dass dieses Gesetz greift.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Land Rheinland-Pfalz hat das Gesetz zum Beispielzum Anlass genommen, das Programm „ZukunftschanceKinder – Bildung von Anfang an“ zu initiieren und da-mit die Kinderbetreuung nachhaltig zu verbessern.Große Städte wie Düsseldorf und kleinere wie Felsbergforcieren den Ausbau von bedarfsgerechten Angebotender Tagesbetreuung für Kinder. Kommunale Spitzenver-bände wie der Städte- und Gemeindebund unterstützendas Ausbauprogramm. In mittlerweile 150 lokalen Bünd-nissen setzen Kommunalpolitiker und -politikerinnen,freie Träger und die Wirtschaft alles daran, das Betreu-ungsangebot zu verbessern und Eltern die Vereinbarkeitvon Erwerbstätigkeit und Familie zu erleichtern.

Ich nehme im Übrigen für mich nicht in Anspruch,dass nur durch das TAG der Ausbau vorangetriebenwird; aber er wird dadurch deutlich beschleunigt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele Kommunalpolitiker sagen mir, dass sie nur durchdie im TAG verankerte Pflichtaufgabe überhaupt dieMöglichkeit haben, tätig zu werden. Das TAG gibt alsodem Ausbau der Betreuung den notwendigen Kick.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um das KICK geht es heute, um den vorliegendenEntwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kin-der- und Jugendhilfe. Er enthält unter anderem weitereRegelungen, die den Ausbau der Tagesbetreuung flan-kieren. So wird mit der jetzt vorgesehenen Regelung derErlaubnispflicht zur Tagespflege der Forderung derSachverständigenkommission zum Zwölften Kinder-und Jugendbericht genauso Rechnung getragen wie denBedenken, die in der Sachverständigenanhörung geäu-ßert wurden, wo man sich einhellig für eine Erlaubnis-pflicht zur Tagespflege ausgesprochen hat. Auf deranderen Seite wird ein unverhältnismäßig hoher büro-kratischer Aufwand vermieden: Gelegentliche Betreu-ung, Nachbarschaftshilfe und Verwandtenhilfe bleibenselbstverständlich erlaubnisfrei. Die Tagespflegeerlaub-nis soll künftig für bis zu fünf Kinder gelten und nichtmehr wie bisher für jedes einzelne Kind neu beantragtwerden müssen.

(Beifall des Abg. Klaus Haupt [FDP])

Ich weiß, dass bei den Regelungen für die Tages-pflege noch Wünsche offen bleiben. Ich bin aber fest da-von überzeugt, dass wir mit den Regelungen des TAGund des KICK in der Tagespflege als qualifizierter Alter-native zur stationären Betreuung ein großes Stück voran-gekommen sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Mittelpunkt dieses Gesetzentwurfes steht jedochdie Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir

machen Schluss mit dem Selbstbedienungsladen Ju-gendhilfe. Wir sorgen dafür, dass Eltern bei stationärerUnterbringung ihrer Kinder entsprechend ihren Mög-lichkeiten an den Kosten beteiligt werden. Das Finanzie-ren teurer Internate für Kinder aus vermögenden Fami-lien, auch wenn es nur Einzelfälle waren, hat damit einEnde.

Bereits in der Anhörung zum Regierungsentwurf desTAG im letzten Jahr wurde deutlich, dass mit dem Kin-der- und Jugendhilfegesetz der Ausbau des Kinder- undJugendhilferechts zu einem modernen, auf Präventionausgerichteten Gesetz gelungen ist.

Neben dieser positiven Bewertung wurde ebenfallsmit großer Einhelligkeit der Änderungsbedarf bei fol-genden Eckpunkten angemahnt: Konkretisieren desSchutzauftrages der Jugendhilfe, Stärken der Steue-rungsverantwortung des Jugendamtes, Verbessern derWirtschaftlichkeit dadurch, dass die Kinder- und Ju-gendhilfe nachrangig eintritt und Aufgaben nicht einfachdort hingeschoben werden können, Verwaltungsverein-fachung insbesondere beim Heranziehen zu den Kosten.

Diese Ziele setzen wir jetzt um. Wir verbessern zumErsten den Schutz von Kindern und Jugendlichen vorGefahren für ihr Wohl. Belastungen wie Arbeitslosig-keit, Trennung und Scheidung, finanzielle Probleme undandere stellen große Herausforderungen an die Familiendar, denen sie sich oftmals nicht mehr gewachsen sehen.Dies erhöht das Risiko von Vernachlässigung und Miss-handlung. Die Jugendhilfe ist hier in besonderer Weisegefordert.

Zum Zweiten verbessern wir die fachliche und wirt-schaftliche Steuerungskompetenz des Jugendamtes,damit vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassendie Leistungen gezielt den Jugendlichen zugute kom-men, die der Unterstützung bedürfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dies geschieht durch das Eindämmen der Selbstbeschaf-fung und durch striktere Leistungsvoraussetzungen beider Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinderund Jugendliche.

Zum Dritten wird deutlich gemacht, dass die Jugend-hilfe nicht länger der Reparaturbetrieb für die Versäum-nisse anderer ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Insbesondere Schulen – da waren wir uns alle hier imHohen Hause einig – müssen ihrem Erziehungs- undBildungsauftrag überall nachkommen und dürfen ihreVerantwortung zum Beispiel bei Lese- und Recht-schreibschwächen nicht einfach an die Jugendhilfe abge-ben. Damit muss endlich Schluss sein.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg.Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zum Vierten schließlich wollen wir den Verwaltungs-aufwand in den Jugendämtern durch eine Neuregelung

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Bundesministerin Renate Schmidt

der Kostenbeteiligung deutlich mindern, gleichzeitigaber auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass El-tern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Kos-ten beteiligt werden.

Zwischen dem KICK und dem vom Bundesrat vorge-legten KEG, dem Gesetz zur Entlastung der Kommunen,gibt es große Schnittmengen; das gestehe ich hier ein-deutig zu. Es gibt aber auch einen wesentlichen Unter-schied: Im KICK wird von der notwendigen Weiterent-wicklung der Jugendhilfe ausgegangen, die dann auchpositive Auswirkungen auf die kommunalen Finanzenhat.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg.Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das KEG, das Gesetz zur Entlastung der Kommunen, hatdie Entlastung der Kommunen als Erstes und nahezuEinziges im Auge, und zwar leider zum Teil ohne ausrei-chende Rücksichtnahme auf die fachliche Diskussion imBereich der Kinder- und Jugendhilfe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So wird im KEG gefordert, die Eingliederungshilfe fürseelisch behinderte Kinder und Jugendliche, § 35 aSGB VIII, wieder der Sozialhilfe zuzuweisen. Damitwären wir wieder in den Zustand vor der Einführung des§ 35 a zurückversetzt, was ein dauerndes Hin- und Her-schieben zwischen der Sozial- und der Jugendhilfe zurFolge hätte. Eine Streichung des § 35 a würde aber nichtnur die Abgrenzungsprobleme verschärfen – das habeich gerade geschildert –, sondern zudem zu Minderein-nahmen in einem Großteil der Kommunen führen, dabesser verdienende Eltern dann nach den maßgeblichenVorschriften des SGB XII nicht entsprechend ihrer Leis-tungsfähigkeit zu den Kosten herangezogen würden.

Ich habe bei diesem Gesetzentwurf der unionsgeführ-ten Länder manchmal den Eindruck, dass man dort derirrigen Auffassung ist, durch das Streichen eines Para-graphen verschwänden auch die Menschen, die bisherdavon profitiert haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt übrigens auch für die im KEG vorgesehenenLeistungseinschnitte bei der Hilfe für junge Volljäh-rige. Kurzfristig – das gestehe ich Ihnen zu – würde da-durch sicherlich gespart; mittel- und langfristig aberwürde das Geld zum Fenster hinausgeschmissen werden,weil diese Maßnahmen, angefangen bei den Eingliede-rungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit bis hinzum Strafvollzug – das muss man hier einmal in allerDeutlichkeit sagen –, allemal teurer sind als ein rechtzei-tiges Eingreifen der Jugendhilfe, wie wir es mit diesemGesetz vorsehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als großer Block bleibt noch die Forderung nach ei-ner Kostenbeteiligung bei ambulanten Leistungen üb-

rig. Diese Forderung lehnen wir deshalb ab, weil zum ei-nen die zu erzielenden Einnahmen kaum die Bürokratieund den Verwaltungsaufwand bei einer einkommensab-hängigen Kostenbeteiligung rechtfertigen könnten.Wenn hier aber einkommensunabhängige Kostenbei-träge erhoben würden, würde diese Zugangsmöglichkeitzu frühzeitigen Hilfen und Interventionen zulasten desKindeswohls, aber auch des Elternrechts zunichte ge-macht. Dies würde wiederum zu späteren intensiverenund kostenträchtigeren Maßnahmen der Kinder- und Ju-gendhilfe führen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum anderen würde die niedrigschwellige Inan-spruchnahme von ambulanten Angeboten unmittelbarerschwert. Gerade im Zusammenhang mit einer Gefähr-dung des Kindeswohls lassen sich Eltern auf eine frei-willige Beratung in der Regel nur höchst zögerlich ein.Wir alle miteinander beklagen doch, dass die Hemm-schwelle, zu einer Erziehungs- oder Familienberatung zugehen, gerade für die Familien besonders hoch ist, diesie eigentlich am meisten brauchen. Eine Kostenbeteili-gung würde dieses Problem nur noch verschärfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die so genannte Finanzkraftklausel, also Jugend-hilfe nach Kassenlage, lehnen wir ab.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich freue mich daher aufrichtig – ich war ja bei den Be-ratungen im Ausschuss dabei –, dass das Gesetz zur Ent-lastung der Kommunen gleich im gesamten Hohen Hausabgelehnt wird.

(Beifall bei der SPD)

Es genügt den Ansprüchen einer modernen Jugendhilfe-politik genauso wenig wie dem Ziel, den Staat und vorallem die Kommunen zu entlasten. Leider habe ich vonder letzten Jugendminister- und Jugendministerinnen-konferenz nicht den Eindruck mitnehmen können, dassdort die Einsicht herrscht, sich mit dem KEG gründlichvergaloppiert zu haben. Dies hat einen Kompromiss, denich für möglich gehalten hätte, vereitelt.

Das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsge-setz dagegen enthält überzeugende Antworten auf dieaktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen.Es wird der staatlichen Mitverantwortung für das Auf-wachsen junger Menschen gerecht. Es macht keine Ab-striche im Leistungsrecht der Kinder- und Jugendhilfe.Junge Menschen und ihre Familien können weiterhin aufdas Leistungsangebot vertrauen. Das Instrumentariumder Kinder- und Jugendhilfe wird verbessert, vor allembei der Risikoabschätzung in Fällen der Kindeswohl-gefährdung. Jugendämter werden von überflüssigenVerwaltungsaufgaben entlastet und Eltern entsprechendihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligt.

Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe wartet aufdieses Gesetz und die Kommunen brauchen es. Deshalb

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bitte ich Sie: Stimmen Sie zu! Tragen Sie vor allen Din-gen mit dazu bei, dass dieses Gesetz noch in dieser Le-gislaturperiode auch im Bundesrat eine Mehrheit findet.Wir alle miteinander brauchen es.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Maria Eichhorn, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-

nisterin, zur Klarstellung: Der Ausbau der nachhaltigenKinderbetreuung hat mit dem Rechtsanspruch auf einenKindergartenplatz im Jahre 1996 begonnen. Die Länderwaren hier schon aktiv, lange bevor das Tagesbetreu-ungsausbaugesetz verabschiedet wurde. Heute geht esum den zweiten Teil des Tagesbetreuungsausbaugeset-zes, nämlich um die Kinder- und Jugendhilfe.

CDU und CSU wollen eine Kinder- und Jugendhilfe,die den wirklich Hilfebedürftigen auch in Zukunft einezielgenaue und qualitativ hochwertige Hilfe nachhaltigsichern kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Entscheidend sind für uns folgende Prinzipien: Subsidia-rität, Stärkung der Eigenverantwortung, Vermeidung vonMissbrauch.

Das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Kinder- undJugendhilfegesetz hat sich in seiner Zielsetzung bewährtund zu einer Qualifizierung der Angebote im Interesseder Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien beigetra-gen. 14 Jahre Praxiserfahrung zeigen aber auch die Not-wendigkeit, einzelne Bereiche dieses Sozialgesetzes, de-ren Wirksamkeit und Kosten-Nutzen-Relation auf denPrüfstand zu stellen. Ziel der Prüfungen ist es, die Hand-lungsfähigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe, das heißt:eine qualitativ hochwertige und kostenbewusste Hilfe,auch in Zukunft zu sichern. Wir beobachten mit großerSorge, dass die Ausgaben der Jugendhilfe von rund14,3 Milliarden Euro im Jahre 1992 auf rund 20,6 Mil-liarden Euro im Jahre 2003 angestiegen sind.

Wir wollen gemäß der ursprünglichen Intention desKinder- und Jugendhilfegesetzes die Prävention undErziehung in den Familien wieder stärker fordern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dafür müssen wir aber auch die Mittel gezielt einsetzen.Dabei steht die soziale Verantwortung für die Hilfebe-dürftigen, die besonders auf die Solidarität der Gesell-schaft angewiesen sind, im Mittelpunkt. Allerdings müs-sen wir bei der Gewährung von Sozialleistungen auchdie Rahmenbedingungen beachten. Sozialpolitik kannnur funktionieren, wenn die wirtschaftliche Leistungsfä-higkeit des Staates und seiner Leistungsträger sicherge-stellt ist. Deshalb können finanzpolitische und ökonomi-

sche Gesichtspunkte nicht völlig außer Acht gelassenwerden.

Es besteht dringender Handlungsbedarf. Dieser wirdseitens der Länder und der Kommunen bereits seit lan-gem angemahnt. So wurde in einer gemeinsamen Ent-schließung, initiiert von den Ländern Bayern und Nord-rhein-Westfalen, im Mai 2004 im Bundesrat beschlos-sen, die Bundesregierung und den Bundestag aufzufor-dern, eine substantiierte Änderung des SGB VIII vor al-lem mit dem Ziel der Entlastung der Kommunen undLänder auf den Weg zu bringen. Nordrhein-Westfalenwar damals bekanntlich SPD-regiert.

Die Unionsfraktion hatte dazu bereits im Rahmen desTagesbetreuungsausbaugesetzes zahlreiche Vorschlägegemacht. Offensichtlich hat der Druck auch Ihrer Kom-munalpolitiker bei Ihnen endlich Wirkung gezeigt. Wirbegrüßen, dass Sie zahlreiche Vorschläge von uns imKinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz auf-genommen haben.

(Nicolette Kressl [SPD]: Dann können Sie ja zustimmen!)

– Schauen Sie unsere Änderungsanträge vom letztenJahr an; dann sehen Sie genau, was Sie übernommen ha-ben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu gehört der grundsätzliche Nachrang der Kinder-und Jugendhilfe gegenüber anderen Sozialleistungssys-temen,

(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das war schon immer drin!)

die stärkere Steuerungs- und Finanzverantwortung derJugendämter sowie der verbesserte Schutzauftrag beiKindeswohlgefährdung. Besonders wichtig ist uns diestärkere Kostenbeteiligung von Eltern, jungen Volljähri-gen und Lebenspartnern, insbesondere die Möglichkeitder Kindergeldanrechnung bei Unterbringung von Kin-dern außerhalb des Elternhauses.

Eine nachhaltige Sicherung der Versorgungsstruk-turen kann nur durch einen effizienten Mitteleinsatz er-reicht werden. Die Jugendämter wissen am besten, wiedie Prioritäten zu setzen sind, und brauchen entspre-chende Entscheidungsfreiheit. Kinder- und Jugendhilfedient grundsätzlich der Erziehung, Bildung und Betreu-ung junger Menschen. Dies ist ihre zentrale Aufgabe.Auf die Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe müs-sen wir uns endlich wieder besinnen. Diese sind dieFörderung von Kindern und Jugendlichen in ihrer Ent-wicklung zu eigenverantwortlichen Menschen, die Un-terstützung von Eltern in schwierigen Erziehungssitua-tionen und die nachhaltige Förderung der Erziehung inFamilien. Dazu sind ziel- und zweckgerichtete Leistun-gen notwendig. Vor allem müssen Mitnahmeeffekte undfalsche Anreize beseitigt werden, die eine wesentlicheUrsache für den Kostenanstieg in der Kinder- und Ju-gendhilfe sind.

(Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Das

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Maria Eichhorn

haben Sie in zwei Anhörungen gehört, FrauEichhorn!)

Fälle, in denen der Besuch einer teuren Eliteprivatschuleim Ausland über die Eingliederungshilfe nach demSGB VIII finanziert wird, zeigen die Mitnahmeeffekteund die falschen Anreizwirkungen des § 35 a SGB VIII.Das müssen wir ändern.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Praxis zeigt auch, dass diese Vorschrift von Inte-ressengruppen aufgrund des ausufernden Tatbestandeszunehmend als freier Markt verstanden wird. Folge ist,dass zu viele Leistungen, zum Beispiel die Behebungvon Lernschwächen und schulischen Defiziten, aufdie kommunale Jugendhilfe abgewälzt werden. Jugend-amtsleiter, mit denen ich in Verbindung stehe, insbeson-dere aus meinem Wahlkreis, berichten mir, dass es be-sonders im Bereich von seelisch behinderten jungenMenschen immer schwieriger wird, zielgerichtete Hilfenanzubieten. So gibt es nach wie vor erhebliche Vollzugs-probleme in der Praxis. Sowohl die Bedarfsermittlungals auch die Entscheidung über notwendige und geeig-nete Hilfeangebote konnten bis heute nicht zufriedenstellend gelöst werden. Auch Sie, Frau Ministerin, habenin der abschließenden Ausschussberatung am Mittwochfestgestellt, dass die Kinder- und Jugendhilfe nicht wei-terhin Aufgaben wahrnehmen dürfe, für die sie nicht ge-dacht sei. Deshalb wollen wir mit einer Neufassung des§ 35 a SGB VIII ein einheitliches Recht für alle jungenMenschen mit Behinderungen schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP])

Handlungsbedarf besteht aus unserer Sicht auch beider Hilfegewährung für junge Volljährige. Bisher kön-nen junge Volljährige auch nach Vollendung des18. Lebensjahres, in Einzelfällen sogar bis zur Vollen-dung des 27. Lebensjahres, erstmals Jugendhilfeleistun-gen in Anspruch nehmen. Fachleute haben jedoch erheb-liche Zweifel, ob diese Regelung die beabsichtigteWirkung erzielt. Jugendhilfeleistungen für über 21-Jäh-rige sollten daher nach dem Willen des Gesetzgebersauch nach derzeit geltender Gesetzeslage die Ausnahmesein. In der Praxis hat sich dies jedoch zum Regelfallentwickelt. Die Folgen sind massive Abgrenzungspro-bleme zwischen Jugend- und Sozialhilfe sowie Zustän-digkeitsstreitigkeiten.

Durch die Neufassung, wie wir sie wollen, würde er-reicht, dass bei jungen Volljährigen nur begonnene Ju-gendhilfeleistungen fortgesetzt werden und Leistungender Jugendhilfe spätestens mit Vollendung des 21. Le-bensjahres beendet sind. Das lehnen Sie jedoch ab.

Die gesellschaftliche Integration junger Menschen so-wie die Entfaltung ihrer Persönlichkeit erfolgt vor allemim Rahmen schulischer oder beruflicher Ausbildung.Wir wollen die Hilfegewährung gemäß dem Grundsatz„Fördern und fordern“ an eine schulische oder berufli-che Ausbildung koppeln. Damit wird eine Grundlagegeschaffen, die jungen Menschen ein eigenständiges Le-

ben ermöglicht. Leider haben Sie auch dieses abgelehnt.Das ist völlig unverständlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP])

Die von uns geforderte Öffnungsklausel ist aus Sichtder Länder notwendig. Einziges Ziel dieser Änderungenist, Länder und Kommunen bei einem weiteren qualitati-ven Ausbau der Kinderbetreuung zu unterstützen. Derqualitätsorientierte und bedarfsgerechte Ausbau der Kin-dertagesbetreuung hat für Länder und Kommunen be-reits seit Jahren höchste Priorität. Die Länder waren ak-tiv, lange bevor das Tagesbetreuungsausbaugesetz vonIhnen vorgelegt wurde.

Um einen nachhaltigen Ausbau der Kinderbetreu-ung voranzutreiben, erarbeiten viele Länder derzeit ei-gene Gesetze – und das ist gut so. Dazu sind aber struk-turelle Rahmenbedingungen notwendig, die der Bundschaffen muss. Sie haben in der abschließenden Aus-schussberatung unseren Änderungsantrag hierzu abge-lehnt. Damit wird der gesellschaftlich notwendige Aus-bau der Kinderbetreuung wesentlich erschwert.

Die kommunalen Haushalte brauchen dringend mehrEntlastung. Vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl hattenwir uns mit Ihnen zusammengesetzt, um im Interesse derKommunen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wirhielten und halten das auch nach wie vor für richtig. Lei-der haben Sie nach der Wahl diese gemeinsamenGespräche aufgekündigt und unsere Änderungsanträgeabgelehnt, obwohl Sie unsere Vorschläge vorher durch-aus als berechtigt und richtig angesehen hatten. Das be-dauern wir sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks[SPD]: Das ist so was von falsch, was Sie dabehaupten! Ich glaub das ja nicht!)

Damit ist leider deutlich geworden, dass es Ihnen nichtum die Sache, sondern nur um Taktik vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl ging.

(Christel Humme [SPD]: So ein Unsinn!)

Meine Damen und Herren, Ihre Behauptung, mit demGesetz zur Entlastung der Kommunen würde ein Kahl-schlag in der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen,

(Caren Marks [SPD]: So ist es!)

geht völlig ins Leere. Die Einsparungen daraus sind mit250 Millionen Euro berechnet. Die Einsparungen bei Ih-rem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzliegen bei 200 Millionen Euro. 50 Millionen Euro mehran Einsparungen können keinen Kahlschlag bewirken.

(Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ach! – Marlene Rupprecht [Tuchen-bach] [SPD]: Doch, wenn man Strukturen ver-ändert!)

Das KEG ist jedoch zielgenauer, um Missbrauch besserverhindern zu können.

Die im Gesetz zur Entlastung der Kommunen formu-lierte Finanzkraftklausel gibt immer wieder Anlass zuDiskussionen. In diesem Zusammenhang darf ich jedoch

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Maria Eichhorn

darauf hinweisen, dass Sie in Ihrem Entwurf des Geset-zes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialge-setzbuch in § 70 selbst gefordert haben, die Finanzkraftder öffentlichen Haushalte angemessen zu berücksichti-gen. Wir haben dies damals abgelehnt, weil wir notwen-dige Leistungen nicht infrage stellen wollten.

Zur Finanzkraftklausel, die jetzt im KEG formuliertist, hätten wir gerne durch einen Änderungsantrag eineKlarstellung erreicht. Doch alle Versuche zur Klarstel-lung sind an Ihnen gescheitert. Daher haben wir nun inunserem Entschließungsantrag unsere Haltung zur Fi-nanzkraftklausel dargestellt. Wir wollen vermeiden – ichdenke, darin sind wir uns einig –, dass diese Klausel zuuneinheitlichen Lebensbedingungen führt.

(Zuruf von der SPD: Ist das mit Ihrem Minis-terpräsidenten in Bayern abgesprochen?)

Um dies deutlich zu machen und Ihnen keine Gelegen-heit zur Missdeutung zu geben, werden wir den Gesetz-entwurf in der vorliegenden Fassung ablehnen.

(Christel Humme [SPD]: Das ist aber schade! Da ärgern sich die Kommunen aber sehr!)

Es wird wohl niemand in Abrede stellen, dass diekommunalen Haushalte mehr Entlastung brauchen. IhreVorschläge gehen nicht weit genug. Deswegen lehnenwir sie ab. Wir haben unsere umfassenden Forderungen,die ziel- und zweckgerichtet sind und wesentlich mehrzur Entlastung der Kommunen beitragen als Ihr Vor-schlag, im vorliegenden Entschließungsantrag formu-liert.

Mit einer neuen Politik in Deutschland wird es unsmöglich sein, den Kommunen die notwendige Entlas-tung zu gewähren, dabei aber eine qualitativ hochwer-tige, zielgenaue und nachhaltige Kinder- und Jugend-hilfe zu gewährleisten. Wir wollen mit unserenVorschlägen erreichen, dass die präventiven Aufgabender Kinder- und Jugendhilfe und die Förderung vonKindern und Jugendlichen wieder stärker im Vorder-grund stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das werden wir nach einer erfolgreichen Bundestags-wahl in Angriff nehmen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauEichhorn, Ihre Vorschläge gehen wirklich zu weit. Des-wegen lehnen wir sie ab. Ich glaube, dass es auch keinen

Sinn macht, wenn Sie hier immer wieder ausuferndeLeistungen, Mitnahmeeffekte und Missbrauchsfälle be-schreiben, die es in dieser Art und Weise nicht gibt, wieauch in zwei Anhörungen deutlich wurde.

(Ina Lenke [FDP]: Die Ministerin hat auch vonEinzelfällen gesprochen! Das ist ja merkwür-dig!)

Wir alle wissen – und zwar nicht nur aus den Anhörun-gen –, dass die Jugendhilfe schon seit Jahren keine Lu-xusleistungen mehr erbringt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Finanzkraftklausel, Einsparungen auf dem Rückenvon jungen Menschen mit seelischen Behinderungen,Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts, Kostenbe-teiligung bei ambulanten Leistungen, Sparen auf Kostenvon jungen Volljährigen, Lockerung des Datenschutzes,Jugendhilfe nur noch unter deutschen Eichen – das istdie schwarze Horrorliste des Gesetzes zur Entlastung derKommunen, kurz: KEG. Seine einzige Botschaft war:Die Kommunen müssen entlastet werden. Im Unter-schied dazu ist das Ziel des rot-grünen KICK die Weiter-entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir sind ausfachpolitischer Sicht an die Frage herangegangen, wonoch Einsparungen möglich sind. Sie sind nach demMotto vorgegangen: Wir sparen alles ein und dann gu-cken wir einmal, was passiert. Das unterscheidet unsvoneinander.

Kurzum: Das KICK hat vor allem den fachlichenBlick auf die Weiterentwicklung der Kinder- und Ju-gendhilfe gerichtet. Es entlastet die Kommunen zusätz-lich, aber nicht durch Leistungskürzungen. Das ist derUnterschied.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum KEG hat Ihnen die Caritas ins Stammbuch ge-schrieben:

Der Gesetzentwurf beschränkt sich weitgehend aufdie Einführung fragwürdiger Instrumente zurschlichten Kostenheranziehung, anstatt innovativeLösungen sozialer Probleme zu ermöglichen und soeinen wirtschaftlichen Ressourceneinsatz zu för-dern, Selbsthilfekräfte zu stärken und damit die so-ziale Hilfe auch wirtschaftlich-effektiver zu gestal-ten.

So weit, so schlecht.

Vor zwei Tagen im Ausschuss haben Sie dann einevermeintliche Kehrtwende hingelegt und gegen dasKEG gestimmt,

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Ich habe nichts ge-hört, wenn wir darüber gesprochen haben!)

nachdem Sie zwei Jahre lang eine Attacke nach der an-deren – immer nach dem Motto: „Hau alles weg, was so-zial ist“ – gegen die Kinder- und Jugendhilfe gefahrenhaben.

Nachdem Sie die gesamte Fachwelt auf die Barrika-den gebracht und die Praktiker das Fürchten gelehrt ha-

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ben, könnte man nun mit ein bisschen gutem Willen mei-nen, Sie seien lernfähig. Man könnte sogar auf die Ideekommen, Sie hätten verstanden, dass man Kinder undJugendliche nicht nur in schönen Sonntagsreden spazie-ren führen darf und montags dann fordern kann, esmüsse nun Jugendhilfe nach Kassenlage geben und aufKosten und zulasten unserer Kinder und Jugendlichenmüssten die kommunalen Haushalte saniert werden.Man muss leider feststellen: Sie haben zwar einmal kurzin die richtige Richtung geblinkt, als Sie das KEG ver-senkt haben. Aber dann sind Sie zügig geradeaus in diefalsche Richtung gefahren.

Sie haben einen Entschließungsantrag und etliche Än-derungsanträge zum KICK eingebracht, mit dem Sie un-ser KICK verschlimmbessern wollen, und zwar indemSie mit dem Griff in die Mottenkiste ziemlich alles wie-der hineinschreiben, was schon vorher im KEG stand,mit Ausnahme der Finanzkraftklausel. Schauen wir unsdas anhand von drei Beispielen einmal an.

§ 35 a, Eingliederungshilfe für junge Menschenmit seelischen Behinderungen: Im KEG wollten Sie§ 35 a komplett streichen, und zwar angeblich aus Grün-den der Gleichbehandlung und zur Vermeidung von Ab-grenzungs- und Zuständigkeitsproblemen. In Ihrem Än-derungsantrag fassen Sie ihn so, dass es faktisch einerStreichung gleichkommt. Eingliederungsleistungen wol-len Sie gewähren,

… wenn und solange nach der Besonderheit desEinzelfalles, vor allem nach Art und Schwere derBehinderung Aussicht besteht, dass die Aufgabeder Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Kin-dern und Jugendlichen mit einer anderen seelischenBehinderung kann Eingliederungshilfe gewährtwerden.

Ich habe es Ihnen schon im Ausschuss gesagt: WelchesTatbestandsmonster wollen Sie damit eigentlich schaf-fen? Der einzige Grund ist: Sie wollen die Jugendhilfezur behindertenfreien Zone machen, weil Sie Kostensparen wollen. Sie sorgen gleichzeitig mit solchen For-mulierungen dafür, dass Eltern klagen müssten, umüberhaupt noch Hilfen für ihre Kinder zu bekommen.Dazu bedürfte es eines riesigen Verwaltungsaufwandesund mindestens zwei Gutachten, nämlich zu Prognoseund Krankenstand.

Zu den niedrigschwelligen Angeboten: Schon dasKEG sah eine Eintrittsgebühr für Erziehungsberatungvor. Städte und Gemeinden sollten die Möglichkeit be-kommen, bei ambulanten Hilfen zur Erziehung und Er-ziehungsberatung eine Kostenbeteiligung vorzusehen.Gleiches Spiel in Ihrem Änderungsantrag: Sie stellendenjenigen, die am dringendsten Hilfe brauchen und fürdie man versucht hat, niedrigschwellige Angebote– diese haben ihren Namen nicht umsonst – zu schaffen,Hürden in den Weg. Damit schließen Sie die Betroffenenvon Beratung und Hilfe aus.

§ 41, Hilfen für junge Volljährige: Hier haben Sieebenfalls nicht dazugelernt. Sie schreiben in Ihrem Än-derungsantrag, dass Sie bei jungen Volljährigen nur be-gonnene Jugendhilfeleistungen fortsetzen wollen, dass

die Ersthilfe für junge Volljährige komplett wegfallensoll und dass die Leistungen ab dem 21. Lebensjahr aufjeden Fall beendet sein sollen. Besonders bösartig ist dieFormulierung, dass eine Maßnahme über den Zeitpunktder Volljährigkeit fortgesetzt werden kann, wenn

… der junge Volljährige bereit ist, an der Maß-nahme mitzuwirken, und diese Maßnahme für diePersönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenver-antwortlichen Lebensführung aufgrund der indivi-duellen Situation des jungen Volljährigen notwen-dig ist.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das ist doch gut!)

Dies gilt nur, wenn der junge Volljährige an einerschulischen oder beruflichen Bildungs- oder Ein-gliederungsmaßnahme teilnimmt.

In Ihrem Entschließungsantrag setzen Sie dann noch einsoben drauf, indem Sie feststellen:

Im Sinne eines echten „Förderns und Forderns“ solldie Gewährung von Leistungen an die schulischeoder berufliche Ausbildung der jungen Menschengekoppelt werden.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Dagegen kön-nen Sie doch nichts haben! Das ist die Grund-lage für die Entwicklung eines jungen Men-schen!)

Jede Hilfe zur Erziehung macht nur Sinn, wenn derBetroffene mitarbeitet; das ist aber heute schon so. Dassollten Sie eigentlich wissen. Es wäre ehrlicher, wennSie zugäben, dass Sie jungen Menschen, die in zuneh-mendem Maße als junge Erwachsene Hilfen für denschwierigen Ablösungsprozess und den Übergang in dieSelbstständigkeit brauchen, von Hilfen ausschließenwollen. Dass Sie genau das vorhaben, kann jeder nachle-sen. Sie sind ja der Meinung, dass jungen Volljährigen„notwendige Hilfe zur Selbsthilfe … durch die Leistun-gen zur Eingliederung aus dem SGB II angeboten wer-den“ soll.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn?)

Wenn man aber weiß, dass das SGB II ausschließlich aufschnelle Vermittlung junger Menschen ausgerichtet istund dass gerade die unter § 41 SGB VIII fallenden jun-gen Menschen nicht zu denjenigen gehören, die schnellvermittelt werden können, dann verschlägt Ihr Motto„Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“ einem wirklich dieSprache.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das ist doch völlig verdreht!)

Kindern und Jugendlichen in Notlagen muss geholfenwerden. Dazu brauchen die Fachkräfte vor Ort Hand-lungssicherheit und auch klare gesetzliche Regelungen.Diesem Anspruch wird unser KICK gerecht: Es setzt dieNot von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in denMittelpunkt und nicht die Finanzen. Wir haben die

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Jugendhilfe mit unserem Gesetzentwurf weiterentwi-ckelt, um sie zukunftstauglich zu machen.

Ich sage aber auch: Wir können uns auf diesen Lor-beeren nicht ausruhen. Dazu sind die Problemlagen zuvielfältig. Wir müssen unseren Blick weiter verstärkt aufdie Probleme junger Menschen in prekären Lebenslagenrichten und aus dieser Perspektive neue Maßnahmen ent-wickeln und erproben. Dazu gehören mehr Investitio-nen in die Jugendförderung und in die Prävention.Fachliche Standards müssen gesichert werden.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Dazu gehört fürmich auch, dass alle Kinderregelungen – unabhängigvon der Art der Behinderung eines Kindes – insSGB VIII gehören. Es geht nicht an, dass wir die Rege-lungen, die Kinder und Jugendliche mit seelischen Be-hinderungen betreffen, ins SGB XII abschieben. In die-sem Fall könnte ihnen nicht so gut geholfen werden wiebei einer Verankerung im SGB VIII.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Haupt, FDP-

Fraktion.

Klaus Haupt (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

SGB VIII hat sich seit seiner Einführung 1991 grund-sätzlich bewährt; dennoch hat sich in der PraxisReformbedarf gezeigt, der über die bisherigen Ände-rungen hinausgeht. Sowohl mit dem Gesetzentwurf desBundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozialenBereich, KEG, als auch mit dem Koalitionsentwurf einesGesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Ju-gendhilfe, KICK – auch ich möchte diese Abkürzungeneinmal benutzen –, will man eine höhere Effektivität inder Kinder- und Jugendhilfe.

Angesichts der angespannten Finanzlage der Kom-munen müssen auch einzelne Leistungen der Kinder-und Jugendhilfe kritisch überprüft werden. Wer jedochin der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen:Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen sind In-vestitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Falsches Sparen an dieser Stelle kann schlimme Folgenhaben. Auf steigende Fallzahlen bei einzelnen Hilfeartenkann die Politik nicht einfach mit der Abschaffung derbetreffenden Leistungen reagieren.

(Beifall bei der FDP)

Wenn Kinder und Eltern immer mehr tatsächlichenUnterstützungsbedarf haben, müssen wir viel mehr nachden Ursachen und nach besseren Lösungen fragen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Wenn Jugendarbeit den heutzutage sehr großen Anforde-rungen nicht gerecht werden kann, dann trägt die ganzeGesellschaft die negativen – auch die finanziellen – Fol-gen.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat am Sozialbudget un-seres Landes keinen entscheidenden Anteil. Der Anteilder Kinder- und Jugendhilfe an den Ausgaben der Kom-munalhaushalte ist für die insgesamt schwierige Finanz-situation nicht hauptsächlich verantwortlich. Doch dieHaushaltslage gebietet es, dass alle kinder- und jugend-politisch verantwortbaren Einsparpotenziale aktiviertwerden. Hierbei dürfen wir die Kommunen nicht alleinlassen.

Der Bund muss durch die Einführung des striktenKonnexitätsprinzips, wie es die FDP in einem Gesetz-entwurf vorgeschlagen hat, in die Pflicht genommenwerden, die Finanzierungsverantwortung für die vonihm erlassenen Gesetze im Kinder- und Jugendhilfebe-reich zu übernehmen. Die Länder sind in der Pflicht, dievom Bund an die Kommunen gezahlten Mittel zur Be-wältigung der Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfewirklich bereitzustellen. Gleichzeitig sind aber auch dieKommunen aufgefordert, noch stärker voneinander zulernen, um Maßnahmen effizienter zu steuern.

Das KEG enthält weit reichende Änderungsvor-schläge, nicht nur im Bereich der Kinder- und Jugend-hilfe, sondern auch in Bezug auf SGB I, SGB XI undSGB XII. Die FDP sieht zwar die gute Einsparabsicht,kann das KEG insgesamt aber nicht mittragen. Der Ge-setzentwurf enthält im Bereich des SGB XII und desSGB I Regelungen, die in der vorgesehenen Fassung so-zialpolitisch bedenklich und daher abzulehnen sind.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu zählt vor allem die geplante Übertragung weit-gehender Kompetenzen auf die Länder bei der Festle-gung der Regelsätze in der Sozialhilfe. Im Bereich desSGB XII kann eine solche Freigabe der Regelsätze zuunzumutbaren Härten führen, wenn gerade finanzschwa-che Länder von ihren Regelsatzkompetenzen Gebrauchmachen.

Aber auch hinsichtlich der Kinder- und Jugendhilfesind im KEG Änderungen geplant, die mit der FDPschlicht und einfach nicht zu machen sind.

(Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Eine Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechtsdurch die vorgeschlagene Änderung des § 5 auf absolutkostengleiche oder kostengünstigere Maßnahmen würdedas Pluralismusgebot in der Kinder- und Jugendhilfe imKern treffen und ist daher abzulehnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Praxis hat die Notwendigkeit verdeutlicht, inten-sivpädagogische Maßnahmen im Ausland besser zusteuern und die Qualitätssicherung zu gewährleisten. Al-

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Klaus Haupt

lerdings sollten solche Maßnahmen als Ausnahmefalleine Option für die Kinder- und Jugendhilfe bleiben.

Die vorgesehene Einschränkung der Hilfen für see-lisch behinderte Kinder und Jugendliche und die Verla-gerung dieser Leistungen in die Sozialhilfe können vonuns nicht mitgetragen werden. Es ist zu bezweifeln, dassaus der Sozialhilfe heraus mit gleicher Qualität wie bis-her durch die Kinder- und Jugendhilfe Hilfen für die be-troffenen Kinder und Jugendlichen erbracht werden kön-nen. Außerdem ist es schlicht ein Verschiebebahnhof.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Einschränkung der Jugendhilfemaßnahmen fürjunge Volljährige kann ich ebenfalls nicht zustimmen.Diese Leistungen sollen auch künftig in Ausnahmefällenüber die Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus mög-lich sein. Denken Sie an Haftentlassene, denken Sie anFrauen, die zur Zwangsheirat verdammt waren.

Dagegen kann die FDP dem KICK zustimmen, nach-dem die Koalition FDP-Forderungen entgegengekom-men ist – wofür ich mich bedanke – und von einemgenerellen Erlaubnisvorbehalt für jedes einzelne Tages-pflegeverhältnis Abstand genommen hat. Eine solcheRegelung wäre realitätsfremd gewesen und hätte ver-mutlich noch mehr Tagesmütter in die Schwarzarbeit ge-trieben.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr wahr!)

Das KICK enthält sinnvolle Weiterentwicklungen derKinder- und Jugendhilfe. Zum Beispiel werden durcheine Stärkung der Steuerungskompetenzen derJugendämter, insbesondere durch Einschränkung beider Selbstbeschaffung von Leistungen und bei intensiv-pädagogischen Maßnahmen im Ausland, Einsparmög-lichkeiten für die Kommunen eröffnet.

Ich begrüße auch ausdrücklich die angemessene Kos-tenbeteiligung von Eltern und die Berücksichtigung desKindergeldvorteils bei Leistungen, die den Unterhalt desKindes aus öffentlichen Kassen sichern. Auch die Kon-kretisierung des Schutzauftrages des Jugendamtes unddie Klarstellung der Befugnisse bei Inobhutnahme sindein Fortschritt. Eine scharfe Prüfung von Personen mitbestimmten Vorstrafen im Hinblick auf ihren Einsatz inder Kinder- und Jugendhilfe sollte eigentlich schonheute selbstverständlich sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit KICK und KEGstand die Wertigkeit der Kinder- und Jugendpolitik aufdem Prüfstand. Wir Liberalen haben uns kritisch, sach-orientiert und konstruktiv – auch mit zwei Anträgen –bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen eingebrachtund sind dabei auch über parteipolitische Schatten ge-sprungen. Das ist in dieser Zeit nicht selbstverständlich.Ich kann Ihnen sagen: So werden wir es auch weiterhintun, wenn es um die Zukunft unserer Gesellschaft, wennes um Kinder und Jugendliche geht.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

reden über das TAG, was auf Amtsdeutsch Tagesbetreu-ungsausbaugesetz heißt. Noch einmal übersetzt: Es gehtum Kinder und es geht um ihre Betreuung in Kinderta-gesstätten. Der PDS geht es außerdem um eine garan-tierte und um eine qualifizierte Betreuung.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

Rein statistisch ist Deutschland bei der Kinder-betreuung Schlusslicht in Europa. Hinzu kommt eingroßes Ost-West-Gefälle. 37 Prozent aller Kinder bisdrei Jahre können in den neuen Bundesländern betreutwerden, was wesentlich an der Mitgift aus DDR-Zeitenliegt. In den alten Bundesländern liegt die Betreuungs-quote im Durchschnitt bei peinlichen 2,7 Prozent. Dasumschreibt die ganze Misere.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

Nun soll die Tagesbetreuung ausgebaut werden. Dasist der Sinn des Gesetzes. Die PDS begrüßt das aus-drücklich.

(Nicolette Kressl [SPD]: Sie halten die falsche Rede!)

CDU/CSU haben das Gesetz bislang angefochten. IhrArgument: Die Kinderbetreuung falle nicht in die Kom-petenzen des Bundes, sondern sei Sache der Länder. Ichmerke an: Den Kindern und Eltern hilft das wenig, zu-mal die unionsregierten Länder bei der Kinderbetreuungam schlechtesten dastehen.

Außerdem – so argumentieren Kritiker des Gesetzes –würden die Kommunen damit finanziell überlastet. Siewollen Kinderbetreuung bestenfalls nach Kassenlage.Ich merke an: Damit würde alles so bleiben, wie es ist,und zwar zulasten der Kinder und zulasten der Eltern.

Rot-Grün veranschlagt summa summarum vier Mil-liarden Euro, davon 1,5 Milliarden Euro, die den Kom-munen, wie gesagt wird, dank Hartz IV erspart würden.Dazu kann ich nur anmerken: Das sind, wenn überhaupt,Peanuts im Vergleich zu den Steuergeschenken, die Rot-Grün an Wohlhabende und Unternehmen verteilt hat

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

und die der Opposition zur Rechten noch nicht weit ge-nug gehen.

(Klaus Haupt [FDP]: Wir reden aber heute über KICK und KEG!)

Nun komme ich zu den inhaltlichen Tücken des Ge-setzentwurfs. Wenn es um eine bessere Kinderbetreu-ung geht, dann muss ausgeschlossen werden, dass es Be-treuung guter und Betreuung niedriger Qualität gibt.Darauf macht die GEW mit Blick auf Ihren Gesetzent-wurf aufmerksam. Die Gefahr ist auch nicht gebannt,

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wenn wir heute zustimmen, und sie wächst, wenn so ge-nannte Ein-Euro-Jobber befristet zur Kinderbetreuungeingesetzt werden. Das lehnt die PDS ab.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

Wir brauchen zudem einen individuellen Rechts-anspruch auf Kinderbetreuung, so wie das im rot-grünenKoalitionsvertrag einst vorgesehen war. Innerhalb einerÜbergangsfrist muss er mindestens für Kinder von Er-werbstätigen, von Arbeitsuchenden und von Eltern inAus- und Fortbildung sowie für Kinder mit besonderemErziehungsbedarf gelten und danach generell.

Die PDS fordert übrigens ähnliche Regeln für Schul-kinder, insbesondere dort, wo es keine Ganztagsschulengibt, allemal in sozialen Brennpunkten.

Schließlich: Wer eine gute Kinderbetreuung will, undzwar für alle, der sollte in einem ersten Schritt alle vonHartz IV betroffenen Familien von den üblichen Gebüh-ren befreien.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak-tionslos])

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Frak-

tion, das Wort.

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte für die Zuhörerinnen und Zuhörer einfach ein-mal klarstellen bzw. richtig stellen: Was wir eben gehörthaben, war eigentlich ein Beitrag zu einem Gesetz, dasbereits seit Januar in Kraft ist. Wir reden heute über denzweiten Teil der Reform und dabei geht es um die Kin-der- und Jugendhilfe. Dazu haben die Ministerin undviele Kolleginnen und Kollegen Stellung genommen.

Die Diskussion führen wir seit Jahren. Sie wird nichtimmer so geführt, wie ich sie mir wünsche, nämlichsachlich und an den Kindern und Jugendlichen orien-tiert. Sie wird dominiert von den Kameralisten und vondenen, die gern Stimmung machen. Es gibt Schlagzeilenwie „Internatsaufenthalte in Schottland für Millionärs-kinder“, so erst vor kurzem bei mir in einem ländlichenWahlkreis. Daraufhin habe ich den Jugendamtsleiter an-gerufen und gesagt: Herr Schmidt, erklären Sie mir docheinmal, warum der CSU-Kollege in der Zeitung heutevon ausuferndem Missbrauch spricht! Wie viele habenSie denn schon nach Schottland oder ins sonstige Aus-land geschickt? Darauf hat er geantwortet: FrauRupprecht, das haben wir noch nie gemacht. Dann habeich gefragt: Wie kommt der Kollege denn dazu, so etwasin die Zeitung zu setzen und zu verbreiten, das sei dieRegel?

Eine andere Schlagzeile ist: Luxusnachhilfe für Kin-der von Reichen. – Klar, da erhitzen sich die Gemüter.Auch mich würde es furchtbar nerven, wenn ich denKindern eines Millionärs auch noch die Nachhilfe zahlensollte. Dass damit Stimmung gemacht wird und der Ein-druck hervorgerufen wird, hier finde maßlos Missbrauch

statt, ist nicht von der Hand zu weisen. Wer dies macht,hat natürlich eine Absicht. Er will bezwecken, dass wirdie Kinder- und Jugendhilfe nur noch mit dem Blick aufmöglichen Missbrauch anschauen.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit gern auf die Kinder-und Jugendhilfe lenken. Was ist denn Kinder- und Ju-gendhilfe? Worum geht es da? Worum geht es in unse-rem Entwurf? Ich will dazu noch einmal auf den§ 35 SGB VIII – heute schon mehrfach zitiert und mehr-fach vorgetragen – hinweisen. In diesem Bereich gehtman unterschwellig immer davon aus, dass Missbrauchstattfindet, dass Leute öffentliche Leistungen bekom-men, die ihnen nicht zustehen. Wenn das so wäre, danngibt es dafür Ursachen. Entweder ist das Gesetz ungenauoder der, der die Leistung bewilligt, weiß nicht, was erbewilligt. Wenn das Gesetz die Ursache ist, muss dasGesetz geändert werden. Wenn derjenige, der die Leis-tung bewilligt, einen Fehler macht, muss der Landratoder Oberbürgermeister ihm kräftig auf die Finger klop-fen.

Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Rupprecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Dörflinger?

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Wunderbar. Herr Dörflinger, Sie geben mir Zeit, um

das dann vielleicht noch etwas deutlicher auszuführen.

Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Frau Kollegin Rupprecht, ich brauche nur ein biss-

chen Aufklärung.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das wissen wir!)

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Dazu bin ich da.

Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Sie haben eben dargestellt, dass es keinen Missbrauch

gebe bzw. die Darstellungen über Missbräuche im Zu-sammenhang mit dem KJHG weit übertrieben seien.Können Sie mir erklären, warum die Ministerin in ihremBeitrag davon gesprochen hat, dass man den Selbstbe-dienungsladen beseitigen müsse?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Dörflinger, es geht nicht um Missbräuche, son-

dern darum, dass Eltern, die Probleme mit ihren Kindernhaben, Leistungen in Anspruch nehmen, ohne das Ju-gendamt vorher zu konsultieren und dort die Leistungengenehmigen zu lassen. Dieses Vorgehen haben wir unter-bunden. Selbstbeschaffte Leistungen werden nicht mehrersetzt. Dabei ging es aber nicht um Missbrauch, son-dern schlicht und ergreifend darum, dass Eltern in ihrerNot zum Arzt gegangen sind und dieser nach der Unter-suchung gleich mit der Therapie angefangen hat. Hierhaben wir präzisiert, was bisher schon im Gesetz stand,

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Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

indem wir denjenigen, die Texte nicht gründlich lesenkönnen, Nachhilfe gegeben haben.

(Zurufe von der CDU/CSU)

So gilt nun, dass jemand, der ein Gutachten erstellt, nichtsofort eine Therapie durchführen darf. Vielmehr musserst das Jugendamt darüber entscheiden. Das, was schonbisher im Gesetz stand und nun von uns noch einmalklargestellt wurde, ist höchstrichterlich mehrmals so be-stätigt worden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und derSPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]:Nun wissen Sie Bescheid, Herr Dörflinger! –Weiterer Zuruf von der SPD: Nun ist der HerrDörflinger aufgeklärt!)

– Bei manchen dauert die Aufklärung halt etwas länger.

Schauen wir uns einmal die Praxis an. Ich kann jetztnur für Bayern sprechen, weil ich von dort komme; dasist meine Heimat, dort fühle ich mich wohl. Ich habe20 Jahre Schuldienst in Bayern hinter mir, daher weißich, was war. Damals habe ich noch eine Ausbildung fürlese- und rechtschreibschwache Schüler bekommen. InBayern passierte nun Folgendes: Man hat den Umgangmit diesem Problem aus der Schule in Privatpraxen ver-lagert; die Schulen haben sich also dieses Problems ent-ledigt. Wir haben das nun klar geregelt: Die Behebungvon Lernschwierigkeiten gehört in die Schulen. Erstwenn die Lernschwierigkeiten zu seelischer Behinde-rung führen, ist das Jugendamt zuständig. Damit das klarist, haben wir es noch einmal unter dem Stichwort„Nachrang der Jugendhilfe“ in das Gesetz geschrieben.Ein Kind mit Lernschwierigkeiten ist nämlich an sichnicht seelisch behindert. Sie können jetzt natürlich fra-gen, ob man „seelische Behinderung“ überhaupt klar de-finieren könne. Darauf antworte ich Ihnen, dass es hierganz klare internationale Klassifizierungen gibt. Diesekönnen Sie nachlesen.

Ich glaube, dass jetzt mit unseren Regelungen zu§ 35 a eindeutig und klar geregelt ist, wie das Verfahrenabläuft und wer wofür zuständig ist. Dass wir insgesamteinen Aufwuchs verzeichnen, liegt daran, dass esschlicht und ergreifend mehr Fälle gibt.

(Beifall der Abg. Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn Sie die Zahl der Fälle verringern wollen, müssenSie die Strukturen vor Ort so verändern, dass Familienrechtzeitig Hilfe bekommen. Wenn man sich dagegen dieSituation in Bayern anschaut, fragt man sich, was derCSU die Familie noch wert ist. So steht in einem Artikelaus Regensburg – das ist Ihr Wahlkreis, Frau Eichhorn –vom 1. Juni: „Freistaat spart bei der Erziehungsberatung“.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Typisch!)

Die Staatsregierung fährt die Beiträge für die Erzie-hungsberatung brutal herunter und erwartet, dass die El-tern zur Selbsthilfe greifen, wenn sie Hilfe brauchen. Sostellen wir uns strukturelle Jugendhilfe nicht vor.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was wir wirklich nicht brauchen können, ist die Strei-chung von Hilfen.

Ich muss Ihnen auch noch etwas anderes vorhalten,was Bayern mit dem kommunalen Entlastungsgesetzvorhatte. Laut KEG ist die Fortgeltung abgelaufenerVereinbarungen rigoros auf sechs Monate beschränkt.Danach lassen Sie es frei floaten. Das bedeutet für alleHeimbewohner: Die Kostensätze sind frei, jeder kannverhandeln, wie er mag, und die Angestellten, die Pfle-ger und Betreuer, die dort arbeiten, müssen die neu aus-gehandelten Tarife akzeptieren oder werden entlassen.Das haben Sie Gott sei Dank, weil auch Sie es mies fan-den, abgelehnt. Aber der Verdacht liegt nahe, dass esnach der Bundestagswahl, die ja nun bald bevorsteht,wieder eingebracht wird.

Das Allerschlimmste ist aber der Halbsatz, dass nurnach der Finanzkraft der Kommunen gehandelt wird.Gestern hat die Kollegin Fischbach, heute hat die Kolle-gin Eichhorn ausgeführt, dass die CDU/CSU verhinderthätte, dass die entsprechende Formulierung in den Ent-wurf des SGB XII kommt. So ist das halt, wenn mannicht genau liest. Das ist wirklich ein Drama.

(Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Vorsicht!)

In diesem Entwurf und bei dem, was Sie zitierten,geht es darum – so ist das in allen Sozialgesetzen –, dassHaushaltspolitiker die Leistungsfähigkeit, Wirtschaft-lichkeit und Sparsamkeit immer präzise berücksichtigenmüssen, wenn sie Geld ausgeben. Es darf nicht so seinwie bei Ihnen, dass nur noch bezahlt wird, wenn Geld daist. Das ist eine Veränderung des Staates weg vom So-zialstaat hin zum Almosenstaat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt: Mit uns nicht!Ich denke, die Menschen draußen werden das auch nichtwollen. Die, die keinen Staat brauchen, können gut da-rauf verzichten; die Mehrheit der Bevölkerung aberkommt irgendwann im Leben an einen Punkt, an dem siedie Hilfe der Gemeinschaft braucht. Da brauchen wir dieUnterstützung und die Solidarität der anderen.

Sie sagen – das ist der gravierende Unterschied –: Esmuss an die Sätze für Sozialhilfeempfänger herangegan-gen werden; sie müssen verändert und angepasst wer-den. Das ist Originaltext aus Bayern. Sie wollen hier to-tale Änderungen vornehmen und das Sozialhilfeniveauabsenken. Wir dagegen sagen: Menschen brauchen einbestimmtes Einkommen, damit sie leben können. IhrMenschenbild möchte ich nicht unterstützen. Ich glaube,das KEG, das Sie jetzt ganz mutig abgelehnt haben,kommt – nach der Wahl – wieder im Rollback zurück.Ich hoffe und wünsche es der Bevölkerung, dass Siekeine Gelegenheit zur erneuten Ablehnung bekommen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort der Kollegin Verena Butalikakis,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Verena Butalikakis (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Rupprecht, wir sprechen hier natürlichnicht nur über die Kinder- und Jugendhilfe, sondern wirsprechen beim heutigen Tagesordnungspunkt auch überdas Sozialhilferecht. Dazu kann ich nur wiederholen:Wir sprechen auch über die Finanzierbarkeit von Leis-tungen.

Die finanzielle Situation der Kommunen ist äußerstangespannt – deutlicher gesagt: die Lage ist katastro-phal –, und das seit Jahren.

(Nicolette Kressl [SPD]: Deswegen wollen Sie ja auch die Gewerbesteuer streichen!)

Das Gesamtdefizit war im Jahre 2003 auf der Rekord-höhe von 8,5 Milliarden Euro. Nach einem kurzfristigenAbsinken im Jahre 2004 – weil die Kommunen so beiden Investitionskosten gespart haben – wird von denkommunalen Spitzenverbänden für dieses Jahr wiederein Anstieg auf ungefähr 7 Milliarden Euro prognosti-ziert, das heißt Schulden in Höhe von 7 Milliarden Euro.

Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Was hat denndie Bundesregierung oder die Regierungskoalition getanangesichts dieser dramatischen Lage? Ich will nur nocheinmal darauf hinweisen: Die den Kommunen im Rah-men der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe undSozialhilfe versprochene Entlastung

(Caren Marks [SPD]: Ist stärker eingetreten, als Sie geglaubt haben!)

in Höhe von 2,5 Milliarden Euro findet, wenn überhaupt,nur in geringerem Maße statt

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die istfast doppelt so hoch! Sie haben keine Ah-nung!)

– die Zahlen liegen noch gar nicht vor –; denn wir allewissen, dass natürlich genau von diesen 2,5 MilliardenEuro – –

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum stellen Sie dann so eine Behauptung auf?)

– Ich finde es schön, dass Sie so aufgeregt sind. Ich habedie Umfragen in der ARD heute auch gehört. Merkelliegt mit riesigem Abstand vor Schröder, das macht Sienatürlich nervös. Aber vielleicht hören Sie trotzdemnoch einmal zu.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Also, wir alle wissen, dass von diesen versprochenen2,5 Milliarden Euro natürlich mehr als die bisher ange-gebenen 1,5 Milliarden Euro für die Kindertagesbetreu-ung ausgegeben werden müssen.

Als Hauptursache der Verschuldung der Kommu-nen sind die ständig steigenden Sozialausgaben anzuse-hen. In den Jahren 2000 bis 2004 haben wir hier einenAnstieg um 6 Milliarden Euro zu verzeichnen, bei einemGesamtvolumen in 2004 von über 32 Milliarden Euro.Deshalb ist es angesichts der finanziellen Not der Kom-munen richtig und notwendig, finanzielle Entlastungs-vorschläge zu machen. Genau dies erfolgt mit dem vomBundesrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Ent-lastung der Kommunen im sozialen Bereich.

Im Kinder- und Jugendhilfebereich und im Bereichdes Sozialhilferechts werden hier konkrete Änderungs-vorschläge vorgelegt, die zu Einsparungen führen; fürden Sozialhilfebereich, auf den ich mich beziehe, inHöhe von 300 Millionen Euro.

Dass es richtig ist, Entlastungsvorschläge zu machen,ist das eine. Die im Art. 3 vorgesehene Finanzkraft-klausel, die ja heute schon mehrfach angesprochen wor-den ist und offensichtlich nicht von allen verstandenwird, bezieht sich auf alle Sozialgesetzbücher.

(Christel Humme [SPD]: Das ist ja das Drama!)

Meine Kollegin Eichhorn hat dazu schon Näheres ge-sagt.

Ich will einmal eines ganz deutlich festhalten: Die un-terschiedliche Finanzkraft der öffentlichen Träger darfnicht zu unterschiedlichen Lebensverhältnissen in die-sem Lande führen. Ich glaube, darüber besteht Einigkeithier im Haus. Ich will aber an dieser Stelle daran erin-nern, weil das immer ein bisschen durcheinander geht.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das Einzige, was durcheinander geht, ist Ihre Rede!)

Ich war in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschus-ses Ende 2003, die sich mit dem Sozialgesetzbuch XIIbeschäftigt hat. In dem Entwurf der rot-grünen Bundes-regierung, von Sozialministerin Ulla Schmidt eingetra-gen, stand die Finanzkraftklausel.

(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: So ist es!)

Das ist auch nie bestritten worden, im Gegenteil. Manhat das daran gemerkt, dass die kommunalen Spitzenver-bände gejubelt und gesagt haben: Wunderbar, da ist dieFinanzkraftklausel! Es war die CDU/CSU in dieser Ar-beitsgruppe, die genau diese Finanzkraftklausel hat strei-chen lassen, aber in dem Einvernehmen, dass – so stehtes auch im Protokoll des Vermittlungsausschusses – eineArbeitsgruppe eingerichtet werden soll, die sich mit denmöglichen Einsparungen, die die Kommunen gerade imsozialhilferechtlichen Bereich erreichen könnten, be-schäftigen soll.

Präsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Humme?

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Sie ist doch die nächste Rednerin!)

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Verena Butalikakis (CDU/CSU): Nein, ich möchte das gerne zu Ende bringen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das fällt Ihnen ohnehin schwer!)

– Das fällt mir nicht schwer. – Diese Arbeitsgruppe, wiesie im Protokoll vermerkt ist, ist nie eingesetzt worden;das heißt, wir haben keine Entlastungsmöglichkeiten fürdie Kommunen.

Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktionsteht dafür ein. Um den Menschen und den Kommunenwirklich zu helfen, brauchen wir eine Gesamtkonzep-tion. Wir brauchen eine vernünftige Gemeindefinanz-reform

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ach!Alles nur Sprechblasen! – Nicolette Kressl[SPD]: Streichen der Gewerbesteuer!)

und wir brauchen grundlegende Änderungen im sozialenBereich.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Sozialhilfebereich weist die Eingliederungshilfefür behinderte Menschen eine dynamisch wachsendeKostenentwicklung auf. In einem Zeitraum von nur zehnJahren, von 1993 bis 2003, haben sich die Ausgaben fastverdoppelt

Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Was ist denn die Ursache? Missbrauch, oder was?)

und alle Fachleute sind sich einig, dass die Kostensteige-rungen anhalten werden.

Um die kommunalen Finanzen von diesem Risiko zuentlasten und vor allem um die Versorgung behinderterMenschen auch in Zukunft sicherzustellen, muss dieEingliederungshilfe auf eine neue Grundlage gestelltwerden. In diesem Zusammenhang wird auch die Einbe-ziehung des Kindergeldes bei volljährigen Behindertenzu klären sein.

Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits im Oktober2003 bei der ersten Beratung zum SGB XII – das istjederzeit nachzulesen, weil der Entschließungsantragvorliegt – die Bundesregierung aufgefordert, mit derErarbeitung eines eigenständigen, von der Sozialhilfeunabhängigen Leistungsgesetzes zu beginnen. Die rot-grüne Bundesregierung lehnt dies bisher ab.

(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ohne uns hätte es kein SGB IX gegeben!)

– Wir reden über ein Leistungsgesetz, Frau KolleginRupprecht. Ich glaube, Sie wissen jetzt nicht so richtigdie Unterscheidung zu treffen.

(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]:Aber natürlich! An dem Gesetz war ich betei-ligt!)

Ich will einen weiteren Punkt in dem vorliegendenGesetzentwurf ansprechen, den auch der Kollege vonder FDP aufgegriffen hat und der thematisch eigentlichauch schon im Rahmen der Föderalismuskommissionbesprochen worden ist. Dazu will ich festhalten: Wie-

derum im Sinne von einheitlichen Lebensbedingungenin Deutschland halten wir die Regelungskompetenz desBundes, bezogen auf die Bemessungskriterien für dieBestimmung der Regelsätze und bezogen auf die Zustän-digkeit der Träger der Sozialhilfe, nach wie vor für not-wendig.

Meine Damen und Herren, der vom Bundesrat vorge-legte Gesetzentwurf belegt ein weiteres Mal, wie großder Handlungsbedarf im Hinblick auf die Finanzsitua-tion der Kommunen ist.

Mehrere Punkte – ich betone: mehrere Punkte – ausdem Gesetzentwurf sind wichtig und richtig. Aber nurein Gesamtkonzept kann den Leistungsbedarf der Hilfe-bedürftigen sichern und gleichzeitig die Kommunenwieder handlungsfähig machen.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Deshalb schaffen Sie die Gewerbesteuer ab! Wunderbar!)

Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzent-wurf ab.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Christel Humme, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Seit zwei Jahren diskutieren wir nun Lösungen zum Kin-der- und Jugendhilfegesetz. In den zwei Jahren – dieRede vorher hat mich in meiner Auffassung bestätigt –hatte ich immer den Eindruck, dass der Fachausschuss– das ist der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauenund Jugend – eigentlich zum Finanzausschuss degradiertwurde.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein, nein! Fi-nanzausschuss ist Finanzausschuss!)

Denn die Interessen von Kindern und Jugendlichen stan-den bei Ihnen von der Union meiner Ansicht nach zu sel-ten im Vordergrund.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage an dieser Stelle Folgendes sehr deutlich. Füruns rot-grüne Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitikerwar von Anfang an klar: Leistungskürzungen für Kinderund Jugendliche, die unserer Hilfe bedürfen, wird es mituns nicht geben. Darauf können sich die Kinder und Ju-gendlichen auch in Zukunft verlassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In zwei Anhörungen 2003 und 2004 haben uns die ju-gendpolitischen Fachleute mit großer Mehrheit Rechtgegeben. Die von Bayern 2003 eingebrachte Initiativezur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes unddas ebenfalls von Bayern – wir haben es heute oft genuggehört – vorgelegte Kommunale Entlastungsgesetz, das

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Christel Humme

so genannte KEG, wurden nahezu von allen Sachver-ständigen abgelehnt.

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, er-staunlicherweise lehnen Sie heute das bayerische KEGab. Dazu beglückwünsche ich Sie. Aber zu glauben, Siehätten aus der Anhörung die richtigen Lehren gezogen,wäre falsch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie lehnen zwar heute den Gesetzentwurf Ihrer eigenenLänder ab, führen aber das KEG mit Ihrem Entschlie-ßungsantrag durch die Hintertür sozusagen als „KEGlight“ wieder ein. Das ist Tricksen und Täuschen; daslassen wir Ihnen nicht durchgehen.

(Beifall der Abg. Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn man im Wahlkampf bestehen will, dann gehörtEhrlichkeit dazu.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An Frau Butalikakis und an Frau Eichhorn gerichtetmöchte ich sagen: Sie beziehen sich immer auf unserenGesetzentwurf zum SGB XII und behaupten steif undfest, wir hätten die Finanzkraftklausel in § 70 gefor-dert.

(Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Ja!)

Erstens steht in § 70, dass die Finanzkraft der öffentli-chen Haushalte angemessen zu berücksichtigen ist. Esist nichts also von einem Kahlschlag zu lesen, den Siewollen. Zweitens bezog sich dieser § 70 nur auf einekleine Vereinbarung mit den Trägern. Sie fordern aber,die Leistungen im gesamten Sozialgesetzbuch für alleBereiche zu kürzen. Das geht zu weit; das lehnen wirstrikt ab.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Ehrlichkeit gehört auch, die ganze Wahrheit undnicht nur einen Teil der Wahrheit zu sagen.

Wir wollen das Kinder- und Jugendhilfegesetz weiter-entwickeln. Damit entlasten wir auch die Kommunen,aber eben nicht auf dem Rücken der Schwächsten unse-rer Gesellschaft, nämlich der Kinder und Jugendlichen,die unserer Hilfe bedürfen. Gerade bei Ihren Forderun-gen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz legen Sie offen,was konkrete Politik bei Ihnen tatsächlich heißt. IhreVorschläge, meine Herren und Damen von der Union,sind sozial ungerecht und gehen zulasten der Menschenmit niedrigem und mittlerem Einkommen.

Mittlerweile zieht sich das wie ein „schwarzer“ Fadendurch all Ihre Maßnahmen in den unterschiedlichstenPolitikfeldern: Wer wird belastet, wenn Sie die Steuer-freiheit auf Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschlägeabschaffen? – Die Krankenschwester, die Nachtschich-ten macht, und der Arbeiter bei VW, der im Dreischicht-system arbeitet.

(Ina Lenke [FDP]: Die in den Gaststätten krie-gen auch keine Zuschläge und die arbeitenauch nachts!)

Wer wird durch die Kopfpauschale, die Sie vorschlagen,belastet? – Die Sekretärin, die für ihre Krankenversiche-rung ebenso viel zahlen müsste wie ihr Chef. Wer wirdbelastet, wenn Sie die Leistungen in der Kinder- und Ju-gendhilfe kürzen? – Die Schwächsten unserer Gesell-schaft, nämlich die Kinder und Jugendlichen.

Meine Herren und Damen von der Union, dasSchlimmste ist: Sie verschlechtern die Chancen der jun-gen Menschen und sparen noch nicht einmal Kosten ein,sondern verschieben sie bloß. Sie lösen damit kein einzi-ges Problem.

Sie wollen die Hilfen für junge Volljährige massiveinschränken; um das als Beispiel zu nennen. Wir habenes vorhin sowohl von der Frau Ministerin als auch vonmeinen Vorrednerinnen gehört. Ihre vermeintliche Spar-politik wird die Kommunen teuer zu stehen kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn wenn wir diesen jungen Menschen jetzt keineHilfe geben, ist nicht selten ein späteres Abrutschen inDrogensucht, Straffälligkeit oder Obdachlosigkeit dieFolge.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das stimmtdoch gar nicht, dass ihnen keine Hilfe gegebenwird! Sie bekommen es anderswoher!)

– Das ist so. – Präventive Maßnahmen sind besser als einnachträgliches Kurieren; das ist ganz klar. An dieserStelle haben wir die richtige Politik, indem wir die Prä-vention in den Vordergrund stellen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb gehen wir mit unserem Entwurf eines Geset-zes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe,dem KICK, einen anderen Weg als Sie, einen Weg, dernachhaltiger und gerechter ist. In unserem KICK gibt esweiterhin zielgenaue Hilfen für Kinder und Jugendliche.Zudem entlasten wir die Kommunen. Darum ist es mirvöllig unbegreiflich, dass Sie heute, wie es vorhin in ei-ner Rede der Fall war, die Belastung der Kommunen be-jammern und unserem Gesetzentwurf nicht zustimmenkönnen. Denn mit unserem Gesetzentwurf erhalten dieKommunen eine Entlastung von rund 200 MillionenEuro.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Bei 7 Mil-liarden Verschuldung 200 Millionen!)

Das sind Entlastungen, die sie zusätzlich für den Ausbauder Betreuung von unter Dreijährigen dringend brau-chen. Denn wir wollen die Chancen der Kinder auf Bil-dung und Betreuung verbessern und nicht verbauen, wieSie das wollen.

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Christel Humme

Unsere Politik ist – das zeigt KICK ganz deutlich –sozial gerecht. Ich weiß, dass die Jugendverbände, diedie Interessen der Kinder und Jugendlichen wahrneh-men, Ihre Vorschläge schon seit Monaten kritisieren. Ichsage Ihnen an dieser Stelle: Wir stellen uns an die Seiteder Jugendverbände, an die Seite der Kinder und Ju-gendlichen und kämpfen mit ihnen für die Durchsetzungihrer Interessen. Wir sagen „Stopp!“ zu Ihrer ungerech-ten Politik.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Tagesbetreu-ungsausbaugesetzes, das sind die Drucksachen 15/3676,15/3986 und 15/4045. Der Ausschuss für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 15/5616, den bislangnoch nicht abschließend beratenen Teil des Gesetzent-wurfes auf den Drucksachen 15/3676 und 15/3986 alsGesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugend-hilfe in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassungzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegendie Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-len, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion an-genommen worden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit-ter] [SPD]: Ziemlich störrisch!)

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantragder Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5622? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, desBündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stim-men der CDU/CSU abgelehnt.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion der FDP auf Drucksache 15/5623? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag istmit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und desBündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDPabgelehnt.

Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachtenEntwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen

im sozialen Bereich; das ist Drucksache 15/4532. DerAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendempfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 15/5616, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungmit den Stimmen des ganzen Hauses bei einer Enthal-tung und einer Zustimmung abgelehnt. Damit entfälltnach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion der FDP auf Drucksache 15/5624. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist ge-gen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der übrigenFraktionen abgelehnt worden.

Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachtenEntwurf eines Gesetzes zur Änderung des Achten Bu-ches Sozialgesetzbuch auf Drucksache 15/4158. DerAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendempfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, denGesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stim-men der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfälltnach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit(9. Ausschuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenKurt-Dieter Grill, Karl-Josef Laumann, DagmarWöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU

Wachstum in Deutschland und Europa stär-ken – Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwi-ckeln

– Drucksachen 15/5025, 15/5614 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gudrun Kopp

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile KolleginDagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kenneth

Rogoff, der ehemalige Chefökonom des Internationa-len Währungsfonds, hat gesagt: Wenn die Europäer innaher Zukunft mehr Wachstum sehen wollen, müssensie den Fernseher anschalten. Das sind harte Worte,aber Recht hat er. Wenn man die neuen Wachstumspro-gnosen der EU-Kommission ansieht, stellt man fest,dass zwar die Weltwirtschaft robust ist – China, Indien,

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Dagmar Wöhrl

die Schwellenländer wachsen –, aber der Euroraum indiesem Jahr nur auf bescheidene 1,4 Prozent Wachstumkommt. Letztes Jahr hatten die USA 4,4 ProzentWachstum, der Euroraum mickrige 2,1 Prozent. DasPro-Kopf-Inlandsprodukt liegt in Europa bei 72 Prozentvon dem der USA. Die USA haben eine Beschäfti-gungsquote, die 10 Prozent höher liegt als die der EU.

Was sagt uns das? Es sagt uns, dass das ehrgeizigeZiel, das wir uns vor fünf Jahren in Lissabon gesetzt ha-ben – Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, wis-sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen –, inweite Ferne gerückt ist. Das Ziel war ehrgeizig, es waraber auch richtig. Die Zwischenbilanz, die jetzt, nachfünf Jahren, gezogen worden ist, ist ernüchternd. MeineDamen und Herren von Rot-Grün, an dieser Ernüchte-rung haben Sie einen ganz großen Anteil.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Klaus Brandner [SPD]: Wir sindalle nüchtern!)

Wenn man den Kok-Bericht ansieht, stellt man vor al-lem fest: Es mangelt an dem politischen Willen in denMitgliedstaaten. Schöne Worte und Ankündigungen, dieimmer wieder gemacht werden – vor allem von IhrerSeite –, tragen nicht dazu bei, dass wir zu mehr Wirt-schaftswachstum kommen. Der Kommissionspräsidenthat hier klare und mutige Worte gefunden, als er gesagthat: So wie in den letzten fünf Jahren kann es hier nichtweitergehen. Es ist richtig, wenn mit den neuen Vor-schlägen, die jetzt auf dem Tisch liegen, Wachstum undBeschäftigung in den Mittelpunkt rücken. Das ent-spricht genau der Aussage der Union: Wachstum undBeschäftigung sind das A und O und müssen für uns zu-kunftsweisend sein.

Das Ziel, das gesetzt worden ist, ist ehrgeizig und esist auch wichtig, die Abstimmung der EU-Länder effi-zienter zu gestalten. Aber Wirtschaftspolitik und Be-schäftigungspolitik sind in erster Linie nationale Aufga-ben. Wir selbst sind gefordert, unsere Hausaufgaben zumachen. Wir selbst sind gefordert, aus eigener Kraft un-sere Wirtschaft wieder aufzurichten. Es geht in erster Li-nie um uns, um unser Land und um unsere Menschen. Esgeht um unsere Verantwortung, die Verantwortung, diewir in Deutschland haben: für das Ganze und auch fürEuropa. Wir haben Pflichten, die sich auch aus der Lis-sabon-Strategie ergeben.

Die deutsche Wirtschaft ist bei weitem die größte inEuropa. Wir erwirtschaften ein Fünftel des Bruttoin-landsprodukts der EU der 25. Wenn wir unser Wachs-tumspotenzial betrachten, dann erkennen wir, dass wirnicht entsprechend diesem Potenzial wachsen. UnserWachstum stagniert leider. Das Zugpferd, das wir vorvielen Jahren gewesen sind – wir als Deutsche warenstolz darauf, wir sind mit unserem Wachstum nach vornegegangen und haben Europa gezogen –, sind wir heutenicht mehr, wir sind im Zug nach hinten abgedriftet.2005 und 2006 werden wir wieder die Allerletzten desWachstumszugs in Europa sein. Das heißt, wir Deutschetragen durch Ihre Politik die Verantwortung dafür, dassEuropa und seine Zahlen derart nach unten gezogen wer-den.

Seit Rot-Grün an der Regierung ist, hatten die Wachs-tumszahlen bis auf ein einziges Mal immer eine Null vordem Komma. Auch dieses Jahr wird das Wachstum vo-raussichtlich nicht höher als 0,7 Prozent liegen. Wir sindalso meilenweit von den 2 Prozent der Beschäftigungs-schwelle entfernt. Ein so hohes Wachstum brauchen wir,wenn wir zu mehr sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigten kommen wollen. Auch die Zahlen, die unsjetzt vorliegen, sind nicht positiv. Die inländische Nach-frage schrumpfte im ersten Quartal wiederum um0,6 Prozent. Besonders enttäuschend war die Entwick-lung des privaten Verbrauchs. Das jüngste Bild, das unsdurch die Zahlen vermittelt wird, zeigt, dass sich bei unsleider nichts ändert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben immer noch das alte, bekannte Bild: Die Bin-nenkonjunktur liegt flach und das Einzige, das uns nocheinigermaßen aufrechterhält, ist die Außenwirtschaft.

Selbst außenwirtschaftlich gute Rahmendaten, die wirdurch die Weltwirtschaft haben, reißen uns aufgrund Ih-rer verkorksten Politik, die uns inzwischen auf das öko-nomische Abstellgleis geführt hat, nicht heraus. Es isttraurig, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonRot-Grün, es geschafft haben, unser Land bis auf dieSubstanz herunterzuwirtschaften.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es nützt auch nichts, wenn immer wieder versuchtwird, irgendeinen Sündenbock zu finden. Sie finden jaimmer irgendeinen Sündenbock, nur an Ihre eigene Nasefassen Sie sich nie. Der neueste Sündenbock sind jetztEuropa bzw. die Euroeinführung, die für die anhaltendeWachstumsschwäche verantwortlich sein soll. Ein ande-res Mal war es der Stabilitätspakt. Ich sage: Deutschlandhat seinen wirtschaftlichen Vorteil weniger durch dieEinführung des Euro als durch die Amtseinführung die-ser Regierung verloren.

Sie haben inzwischen offensichtlich jegliche Art vonHemmung verloren. Man braucht sich nur Ihren Haus-halt anzuschauen. Das vierte Mal in Folge verstoßen Siegegen den Stabilitätspakt. Das ist jetzt schon ganz nor-mal; das ist Usus, das ist Tradition. Das ist offensichtlichnichts Schlimmes. Das war schon immer so und das wirdauch weiter so sein. Das regt Sie überhaupt nicht mehrauf.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Zurück zur Normalität!)

Wir wissen doch eines: Das Wichtigste für Wachstumund Beschäftigung sind eine solide Haushaltspolitik undeine solide Finanzpolitik.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!)

Wenn Sie diese nicht betreiben, dann können Sie alleHoffnungen vergessen, das Land nach vorne zu bringenund für mehr Wachstum zu sorgen, das mehr Menschenin Arbeit bringt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Dagmar Wöhrl

Deswegen kann ich nur sagen: Es ist ein Segen, dass SieIhre Regierung nun selbst abwickeln, auch wenn Sienoch nicht genau wissen, wie.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Genau: Ab-wicklung! Insolvenzverfahren!)

Wir werden sehen, was Sie uns hier am 1. Juli 2005 vor-legen werden.

Wir als Union werden ehrlich sein und den Menschennicht versprechen, dass wir sofort, von heute auf mor-gen, ein anderes Wachstum haben werden. Wir werdenZeit brauchen, um aus dieser Misere, die Sie zu verant-worten haben, wieder nach oben zu kommen. Wir wer-den es probieren und unsere Kräfte einsetzen, um wachs-tumsfördernde Maßnahmen auf den Weg zu bringen,sodass wir wieder stolz auf unser Land sein können undsagen können: Wir Deutsche wollen im Zug in Europawieder vorne sein und nicht vom Ausland bemitleidetwerden, weil wir ganz hinten vor uns hindümpeln.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden die Sache in die Hand nehmen. Wir wer-den Bürokratie abbauen. Wir werden – Sie können dasgerne im Protokoll nachlesen und es mir dann irgend-wann vorhalten – kiloweise Gesetze entrümpeln, umauch denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen, demMittelstand, den Sie in dieser Legislaturperiode mit IhrerÜberbürokratisierung zusätzlich belastet haben.

Eines werden wir bestimmt nicht machen: Wir wer-den bestimmt nicht wie Sie unsere Aufgabe darin sehen,auf Richtlinien aus Europa etwas draufzusatteln. DieseÜbererfüllung von europäischen Richtlinien ist wachs-tumshemmend. Das bürokratische Monster namens An-tidiskriminierungsgesetz ist das abschreckendste Bei-spiel für den Übereifer, den Sie von Rot-Grün immer anden Tag legen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Europa braucht nicht nur einen neuen Wachstumsim-puls aus Deutschland. Vor allem gilt jetzt nach den Votenin Frankreich und den Niederlanden: Europa brauchtauch einen Begeisterungsschub. Wir haben die Ver-pflichtung, die Menschen mitzunehmen. Die Abstim-mungen in Frankreich und den Niederlanden müssen unsaufrütteln. Wir müssen uns fragen, warum die Menschenso entschieden haben. Wir haben die Verpflichtung, dieMenschen an Europa heranzuführen. Wir müssen auchdafür sorgen, die Zwangsbeglückung, die zum großenTeil aus Europa kommt, in Maßen zu halten. Auch dasist unsere Verpflichtung als Deutsche und als Europäer.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum Abschluss möchte ich noch eines sagen: Wirmüssen die Begeisterung für Europa wecken. Wir wer-den sie aber nicht wecken, wenn wir es wie diese Regie-rung machen und die Schuld für die Wachstumsschwä-che in unserem Lande immer in Brüssel abladen. IhrMotto lautet ja: Einmal ist der Euro schuld, ein anderesMal ist der Stabilitätspakt schuld, aber die Regierung istnie schuld.

Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Machen Sie wirklichIhre Hausaufgaben! Dafür sind Sie gewählt worden. Su-

chen Sie Lösungen für die Probleme und schieben Siedie Schuld nicht immer auf andere! Sie sind noch immerdie Regierung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Günter Gloser, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Günter Gloser (SPD): Guten Morgen, Herr Präsident! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Die Ergebnisse der Abstimmun-gen in Frankreich und den Niederlanden erfordern in derTat, dass wir Antworten auf die Fragen der Globalisie-rung finden. Die Globalisierung wird von den Bürgerin-nen und Bürgern in vielen Bereichen wahrgenommenund sie fragen: Wer gibt uns Antworten? Kann das dienationale Ebene machen oder muss das eher auf europäi-scher Ebene geleistet werden? Ich bin ganz klar der Auf-fassung, dass vieles in den Nationalstaaten erledigt wer-den muss, dass es aber ebenso erforderlich ist, dass dieEuropäische Union als Ganzes handelt und Antwortenauf die Fragen der Globalisierung findet.

Sehr geehrte Frau Kollegin Wöhrl, wo haben Sie inIhrer Rede Antworten auf die vor uns liegenden Heraus-forderungen gegeben?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Manchmal habe ich gedacht: Das ist wie bei einem unzu-reichend ausgebildeten Arzt, der seinem Patienten nichtsanderes zu bieten hat als die Aussage: Weil Sie jetztkrank sind, müssen Sie schneller wieder gesund werden.Das ist mein Rezept. – Das ist aber gar kein Rezept.

(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie müssen aufräumen!)

Was muss konkret gemacht werden? Da Sie wieder ein-mal einem fröhlichen Marktradikalismus frönen, frageich mich, ob das die Antwort auf die Ängste und Nöteder Bürgerinnen und Bürger ist.

(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie regieren doch, Herr Gloser!)

Ich sage klipp und klar: Unsere Vorstellung von einerEuropäischen Union und die Lissabon-Strategie – da-rüber werden wir heute noch sprechen – sehen vor, dasses eine Balance zwischen Europa als Wirtschaftsraumund Europa als einer sozialen Union geben muss. Dakann man nicht einfach sagen, dass einen eine Seite da-von nicht interessiert. Sie und Ihr Ministerpräsident inBayern geben schon zu erkennen, dass Sie einen sozial-politischen Kahlschlag veranstalten wollen. Das aber istkeine Antwort auf die Ängste und Nöte der Bürgerinnenund Bürger. Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Günter Gloser

Sie stimmen immer wieder Ihre Klagelieder an. FrauWöhrl, ich frage mich immer: Wo waren Sie und dieCDU/CSU, als Sie in Ihrer Regierungszeit den Sozial-systemen, die in der Tat einer Reform bedürfen, diefinanziellen Lasten der deutschen Einheit aufgebürdethaben?

(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das ist schon ein bisschen her!)

Wie sähen denn die Sozialversicherungsbeiträge aus,wenn das nicht geschehen wäre?

(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Ihr wolltet doch noch mehr Geld ausgeben!)

– Herr Grill, Sie haben – das muss immer wieder deut-lich gemacht werden – durch die falsche Finanzierungder deutschen Einheit die Sozialversicherungssystemebelastet. Wir haben jetzt diese Hypothek. Die Bürger unddie Arbeitgeber haben sie heute noch zu tragen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen Sie an der Frage messen, was in Europaund was auf der nationalen Ebene geleistet werden muss.

(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Was hat die deutsche Einheit mit Lissabon zu tun?)

In Ihrem Antrag steht:

Bildung, Forschung und Entwicklung haben immernoch einen zu geringen Stellenwert.

Oder:

Die Belastung für Unternehmen durch Steuern undadministrative Hemmnisse ist im internationalenVergleich zu hoch. (...) Die Ausgaben für Bildungund Forschung bleiben hinter den vereinbarten Zie-len zurück und haben eine zu geringe Ausstrahlungauf die Wirtschaft.

(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sagt Herr Clement!)

Wie hat doch Frau Merkel so pathetisch gesagt? Ich willdem Land dienen. –

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das gilt doch nicht nur für die Regierung, das gilt auchfür die Opposition. Was machen Sie denn im Bereich derForschung? Wir sind es doch gewesen, die die Ausgabenfür Bildung und Forschung nach Ihren Kürzungen inden Jahren bis 1998 erhöht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir haben diesen Bereich ausgebaut.

(Zuruf von der CDU/CSU)

– Daran ändert auch nichts Ihr Hinweis auf Ihre Elder-statesmen. – Wo sind denn beispielsweise die Initiativender Kollegen Koch und Wulff? Das Exzellenzprogrammdieser Bundesregierung wird doch blockiert.

(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Reden wirüber Lissabon und Europa oder über Innen-politik?)

Alle Fachleute – auch konservative Ökonomen – sa-gen: Es hat gar keinen Sinn, einen Wettlauf beim Lohn-und Sozialdumping mitzumachen. Wenn wir in einerWettbewerbsgesellschaft bestehen wollen, dann müssenunsere Produkte besser werden und dann müssen wir beiBildung und Wissenschaft besser werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen][CDU/CSU]: Wer will denn Dumping ma-chen?)

Aber was machen Sie? Seit Monaten wird dieses Pro-gramm blockiert. Warum denn eigentlich? Sie solltennicht immer alle Aufgaben der Regierung überlassen.Sie könnten ganz klar sagen: Ja, Deutschland setzt einZeichen im Bereich der Bildung und Forschung und wirblockieren dieses Programm nicht.

Wenn Sie die Kongresse der Rektoren und Präsiden-ten von Universitäten verfolgen, dann wird Ihnen dochklar, woher der Wind weht. Die warten darauf, dass sieGeld bekommen. Sie aber verhindern dieses Projekt, nurweil Sie eine Blockadestrategie verfolgen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kommen wir zu der schönen Mär von Bürokratie.Wir hatten an diesem Mittwoch eine Anhörung zu derRichtlinie über Dienstleistungsfreiheit. Es ging zwar inerster Linie um juristische Aspekte, aber erfreulicher-weise wurden auch wirtschaftliche Aspekte angespro-chen. Da sagte ein Vertreter, der wirklich nicht derSozialdemokratie nahe steht, sondern die Kammern inBrüssel vertritt, auf die Frage, warum sich so viele Aus-länder als Selbstständige in Deutschland niederließen:Das liegt einfach daran, dass in vielen Mitgliedsländernder Europäischen Union ein viel größerer Verwaltungs-aufwand als in Deutschland herrscht. Man braucht zahl-reiche Bescheinigungen, aber in Deutschland ist dasnicht der Fall. – Sehen Sie!

(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Herr Gloser!)

Sie sollten nicht immer diese Mär verbreiten, wir hätteneinen überregulierten Staat. Es gibt Leute, auch in derIndustrie, die sagen, dass es nicht so ist, wie Sie es im-mer beschreiben. Im Übrigen sind auch wir dabei, in be-stimmten Bereichen Bürokratie abzubauen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme noch einmal zurück

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:Das entscheidet der Wähler, ob Sie noch malzurückkommen!)

auf die Lissabon-Strategie. Wir geben Herrn Kok Recht,was die Prüfung der Lissabon-Strategie betrifft. Wirmüssen uns auf Ziele konzentrieren. Ich sage ganz be-wusst: Mit Papierbergen kann man keine Probleme lö-

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Günter Gloser

sen. Ich sage aber auch: Wenn wir die Lissabon-Strategiezum Erfolg bringen wollen, dann müssen wir auf diesenFeldern unsere Akzente setzen. Frau Wöhrl, von Ihnenhabe ich keinen einzigen solchen Aspekt gehört, nur einlaues Sommerliedchen, das übliche Wehklagen derUnion, aber keine konkreten Vorschläge. Das könnenwir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich möchte wissen,wo Sie etwas ändern. Wollen Sie an die Sonntags- undFeiertagszuschläge herangehen? Hat es etwas mit derLissabon-Strategie zu tun, ein soziales Ungleichgewichtherbeizuführen? Was wollen Sie mit dem Flächentarif-vertrag machen?

Gerade in einer Zeit, in der die Bürgerinnen und Bür-ger unsicher sind, müssen wir Politiker den MenschenSicherheit geben. Das heißt nicht, dass wir nicht reform-bereit wären. Diese Regierung hat in den letzten Jahrenständig Reformen durchgeführt. Wenn Sie die OECD-Berichte lesen, dann stellen Sie fest, dass dort deutlichzum Ausdruck gebracht wird, was Deutschland in denletzten Jahren

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Falsch gemacht hat!)

im Bereich der Sozialversicherungssysteme angepackthat. Das betrifft auch den Bereich, der beim vorherge-henden Tagesordnungspunkt diskutiert wurde, nämlichdie Bildungspolitik und die Ganztagesbetreuung. Sie ha-ben die Maßnahmen doch immer verhindert. Wir habendas Thema aufgegriffen. Sie sollten nicht so tun, als obSie diejenigen gewesen seien, die die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf entdeckt hätten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind erst nach zeitlicher Verzögerung dorthin gekom-men.

Die Gestaltung der Lissabon-Strategie ist bei dieserBundesregierung und dieser Koalition in guten Händen.Wer sich – wie Sie in den letzten Jahren – nur darauf be-schränkt, zu blockieren, ist nicht tauglich, eine Regie-rung zu übernehmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]:Sagen Sie es noch öfter, dann glauben Sie esvielleicht auch! – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Schade, das hätte eine gute Debattewerden können!)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDP-

Fraktion.

Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

in dieser Woche tektonische Verschiebungen in Europaerlebt. Die Volksabstimmungen in Frankreich und denNiederlanden haben ein politisches Erdbeben ausgelöst.Das Epizentrum ist sicherlich nicht Berlin, aber dieNoch-Regierung Schröder/Fischer trägt ein großes Maß

an Mitverantwortung für das Auseinanderdriften inEuropa.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Grün-Rot hat aus Deutschland eine Wachstums-bremse gemacht. Deutschland zieht Europa runter.Deutschland stagniert mit einem Wirtschaftswachstumirgendwo zwischen 0,7 und maximal 1 Prozent. In Eng-land liegt das Wachstum bei 2,8 Prozent, in Spanien bei2,6 Prozent und in Frankreich immerhin noch bei1,9 Prozent. Wir streiten uns seit Jahren mit Italien, werdie rote Laterne in Europa trägt.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!)

Im letzten Jahr hatten wir durch Kalendereffekte leichteVerbesserungen.

Entscheidender Punkt ist, dass das Wachstumspoten-zial der deutschen Volkswirtschaft mit etwa 1 Prozent zugering ist.

(Beifall bei der FDP)

Das sagt Ihnen die Bundesbank, das sagen Ihnen dieWirtschaftsforschungsinstitute und das sagen alle Sach-verständigen. Die Amerikaner haben ein Potenzial vongut 3 Prozent. Hier liegt der entscheidende Unterschiedund das ist der Grund für die Schwäche unserer Volks-wirtschaft. Dieser Unterschied ist jedoch nicht gottgege-ben. Man kann auf Regierungsgipfeln wie im Jahre 2000in Lissabon tolle Wachstumsziele beschließen, zu Papierbringen. Papier ist geduldig. Damit hat man aber in derSache noch lange nichts erreicht, wenn man sich zuHause nicht auf den Hosenboden setzt, seine Hausaufga-ben erledigt und die Politik so gestaltet, dass man eineneigenen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigungeinbringen kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Grün-Rot hat genau das Gegenteil gemacht. Beson-ders die Grünen missbrauchen die EU-Vorlagen für ihreLuxusagenda, siehe Gentechnikverhinderungsgesetz, sieheAntidiskriminierungsgesetz, siehe Chemikalienpolitik.Überall wird draufgesattelt. Zu Hause werden Luxusthe-men wie Dosenpfand und Windrädchen befördert. Dasfällt jetzt auf einmal selbst der SPD auf.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)

Herr Gabriel, Herr Müntefering lassen grüßen. MancheSPD-Kollegen haben sieben Jahre gebraucht, um zumerken, dass die Grünen Jobs verhindern. Sie werden alsSiebenschläfer in die stolze Geschichte der deutschenSozialdemokratie eingehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die neue EU-Kommission hat die Lissabon-Strategieauf Wachstum und Beschäftigung fokussiert. Das istrichtig. Aber wie reagiert Deutschland? Herr Eichelmöchte Europa am liebsten den Steuerwettbewerb perEU-Beschluss verbieten. Dahinter steht der eigenartigeSatz: Statt selbst besser zu werden, müssen andereschlechter werden.

(Klaus Brandner [SPD]: Quatsch!)

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Rainer Brüderle

Heute lesen wir in der „Süddeutschen Zeitung“ – eineIhnen sehr gewogene Zeitung –: Clement muss mitRücktritt drohen, damit das Thema Unternehmensteuerin der Koalition überhaupt noch weiter angepackt wird.

(Gudrun Kopp [FDP]: Traurig, traurig!)

Nur aufgrund der Rücktrittsdrohung von Herrn Clementwird es offenbar noch behandelt.

Statt selbst ein einfaches, niedliches, gerechtes Steuer-system einzuführen, will man lieber Estland und Slowe-nien die Flat Tax verbieten. Mit einem solchen Ansatzwird Europa nie zum dynamischsten Wirtschaftsraumder Welt werden. Der nächste Beschlussvorschlag dergrün-roten Bundesregierung wird wahrscheinlich lauten:Wir beschließen, dass China, Indien, Japan und die USAnicht mehr so stark wachsen dürfen, wie sie es bishertun. – Das ist natürlich eine geniale Politik, um die eige-nen Probleme zu lösen.

(Kurt Bodewig [SPD]: Das ist Kindergartenni-veau!)

Es geht jetzt um die Brot- und Butterthemen. Wirmüssen die Wachstumsbremsen in Deutschland lösen. Esgeht darum, die Staatsquote zurückzuführen. Sie mussbei 40 Prozent und nicht in der Nähe von 50 Prozent lie-gen.

Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit,damit man in den Betrieben eigene Entscheidungen– ohne Genehmigungspflicht der Kartellbrüder – treffenkann.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen sagen wir erneut: Wenn 75 Prozent der Mitar-beiter eines Betriebs bei freier und geheimer Abstim-mung die alte Regelung haben wollen, müssen sie dasRecht haben, zugunsten der Erhaltung ihrer Arbeits-plätze und der Schaffung neuer Arbeitsplätze einen eige-nen Weg gehen zu können. Wir wollen Steuersenkungen,keine Steuererhöhungen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)

Das darf ich auch den Freunden von der CDU/CSU sa-gen.

Eines muss klar sein: Man kann durchaus über eineUmstrukturierung des Steuersystems diskutieren,

(Günter Gloser [SPD]: Sie wissen doch gar nicht, was Sie machen wollen!)

aber per Saldo müssen die Menschen in Deutschland unddie Unternehmen entlastet werden,

(Zuruf von der SPD: Wir haben sie doch ent-lastet!)

indem ihnen bei einer Umstrukturierung hin zu mehr Ei-genverantwortung in der Rentenvorsorge und im Ge-sundheitswesen auch die Möglichkeit geboten wird, dasverfügbare Einkommen zu erhöhen. Diesen Weg müssenwir konsequent weiterverfolgen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Unternehmensverfassung muss modernisiert wer-den. Daran ändern auch die Ausflüchte zu Karl Marxund der Kapitalismusdiskussion nichts. Karl Marx ge-hört ins Trierer Museum, aber nicht in die aktuelle politi-sche Diskussion.

Rot-Grün versucht, FDP und CDU/CSU quasi alsneoliberale Klabautermänner zu brandmarken.

(Günter Gloser [SPD]: Richtig! – RainderSteenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Über den Klabautermann können wir noch re-den!)

Sie versuchen, das Erbe Ludwig Erhards zu erschlei-chen. Aber Ihnen fehlt jegliche geschichtliche Kenntnis.Ludwig Erhard hat sich selbst als Neoliberaler bezeich-net. Es war die Antwort auf die Nazizeit und der Einflussder Freiburger Schule, dass kein Manchester-Kapitalis-mus betrieben wurde, sondern durch eine Ordnungspoli-tik eine Rahmensetzung vorgenommen wurde. Das istsoziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft istneoliberale Politik. Sie wollen offenbar keine sozialeMarktwirtschaft, sonst würden Sie nicht immer wiedereinen solchen Unsinn propagieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Soziale Marktwirtschaft ist sozial, weil sie die Chancebietet, dass jemand durch harte Arbeit, Tüchtigkeit undEngagement Erfolg hat, durch Leistung Geld verdienenund einen Arbeitsplatz finden kann. Sie betreiben eineMonopolisierungspolitik. Eon Ruhrgas lässt herzlichgrüßen. Das Unternehmen hat mittlerweile einen Markt-anteil von 87 Prozent und jetzt beklagt der Kanzler, dassdie Gaspreise in Deutschland steigen. Wer einen solchenMonopolisierungsgrad zulässt, darf sich nicht über Fehl-steuerungen in der deutschen Volkswirtschaft wundern.

Das sind falsche Denkansätze. In Ihrer Politik stim-men die Grundachsen nicht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ihre Wirtschaftspolitik hat keinen Charakter, weil sieorientierungs- und prinzipienlos ist, weil sie nach Guts-herrenart gemacht wird, weil sie opportunistischen undpublizistischen Gesichtspunkten folgt.

(Günter Gloser [SPD]: Die FDP hat mehr dazu getan als wir!)

Herr Clement war ein guter Journalist, aber er hat sichnicht an den Grundachsen einer guten Wirtschaftspolitikausgerichtet, die den Menschen bessere Chancen bietet.Deshalb muss die soziale Marktwirtschaft erneuert wer-den. Die Prinzipien müssen umgesetzt werden und diePolitik der Beliebigkeit und der tagespolitischen Orien-tierung muss endlich ein Ende haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegen Rainder Steenblock, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirführen zwar vorrangig eine innenpolitische Debatte, abergestatten Sie mir zunächst einmal eine Anmerkung zuEuropa und den sicherlich für uns alle durchausschmerzlichen Ereignissen in Frankreich und in den Nie-derlanden. Sie sind ein Signal, das wir wahrnehmenmüssen – das steht außer Frage –, weil es neben den in-nenpolitischen Themen in diesen Ländern darauf hin-deutet, dass viele Menschen nicht mehr das Vertrauenhaben, dass die Europäische Union die bestehenden Pro-bleme lösen kann.

Wir wissen aber genau, dass es keine Alternative zureuropäischen Integration gibt. Ein Zurück zu den Natio-nalstaaten wäre ein Zurück ins gesellschaftliche undökonomische Abseits. Deshalb sollten wir – wie wir esauch in der Verfassungsdiskussion in Deutschland getanhaben – uns dieser Debatte sehr intensiv annehmen. Wirhaben in Deutschland mit großer Mehrheit für diese Ver-fassung gestimmt, weil wir wissen, dass es keine Alter-native gibt.

Ich betone aber, dass wir uns davor hüten sollten,Europa für all das zum Sündenbock zu machen, was wirauf nationaler Ebene nicht hinbekommen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU])

Diese große Gefahr sollte in der Diskussion beachtetwerden.

Ich glaube, dass die europäische Integration ein sehrhohes Gut ist. Sie hat uns 60 Jahre lang Frieden undAufschwung in Europa beschert. Diese Phase der Stabi-lität und des Glücks in Europa kann nicht hoch genuggeschätzt werden.

Deshalb ist alle billige Häme, die derzeit im Hinblickauf die Abstimmungen in Frankreich und Holland ausge-gossen wird, zu verurteilen. Lassen Sie uns in dieserFrage zusammenstehen und Europa nicht für innenpoliti-sche Debatten missbrauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Was den Lissabon-Prozess angeht, hat Frau Wöhrl zuRecht gesagt, dass es auch um uns gehe. Es geht in derTat um den deutschen Beitrag innerhalb der Lissabon-Strategie. Leider sind Sie, liebe Kollegin Wöhrl – derKollege Gloser hat zu Recht darauf hingewiesen –, in Ih-ren Ausführungen dazu, welchen Weg wir verfolgenmüssen und wie er konkret ausgestaltet werden kann,sehr allgemein geblieben.

Ich verstehe, dass es heute für Sie vor dem Hinter-grund der diffusen Debatten in der CDU/CSU darüber,wie denn eigentlich ein ökonomisch sinnvoller Kurs aus-

sehen soll, schwierig ist, überhaupt etwas Konkretes zusagen. Aber ich meine, dass Sie damit nicht durchkom-men dürfen.

Wir haben in der Frage, wie unser Steuersystem ge-staltet werden soll, sicherlich Handlungsbedarf. Das istvon uns auch nie bestritten worden. Wenn man aber wieSie herangeht und die Mehrwertsteuer nur erhöhen will,um eine Senkung der Einkommensteuer insbesonderefür die Reichen zu finanzieren – darüber wird zurzeit inder CDU/CSU diskutiert –, dann ist das gerade vor demHintergrund der Referenden in Europa und der Stim-mung in der Bevölkerung genau die falsche Antwort.Wir können es uns nicht leisten, die Probleme unsererSozialsysteme so zu lösen und die Fragen nach sozialerGerechtigkeit, sozialen Standards und der Innovations-fähigkeit unseres Gesellschaftsmodells so zu beantwor-ten, dass man die öffentlichen Ressourcen noch mehr zu-gunsten der Reichen verschiebt. Vielmehr brauchen wireine Stabilisierung der Sozialsysteme in diesem Lande.Dafür gilt es das Steuersystem umzubauen.

Wir, die Grünen, sagen sehr deutlich: Eine Mehrwert-steuererhöhung kann es nur geben, wenn es darum geht– das ist die zentrale Frage in Deutschland –, mehr Ar-beitsplätze zu schaffen, das heißt, die Lohnnebenkostenzu senken. Das muss das Ziel sein. Um Arbeit inDeutschland gerade im Bereich geringfügiger Einkom-men attraktiver zu machen und um das Steuersystemumzubauen, brauchen wir eine Senkung der Lohnneben-kosten. Das wäre die große Jobmaschine. Aber Sie ha-ben in den letzten Jahren ständig im Bremserhäuschengesessen, wenn es galt, unser Steuersystem in dieseRichtung umzubauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Bei der Lissabon-Strategie geht es auch um den Um-bau unserer gesellschaftlichen Systeme, insbesondereder Sozialsysteme. Wir wollen als eine der zentralenAntworten eine Bürgerversicherung. Wie sieht IhreAntwort aus, wenn es um den Umbau der sozialen Si-cherungssysteme geht? Sie wollen die Menschen pau-schal, also unabhängig von Einkommen und sozialemStatus, mit den Kosten des Gesundheitswesens belasten.Das halten wir für einen fatalen Fehler. Das hat nichtsmit der Stabilisierung der Sozialsysteme zu tun, sonderndas verankert zunehmend Ungerechtigkeit in dieser Ge-sellschaft. Das lehnen wir ab. Wir wollen ein sozial ge-rechtes System, die Bürgerversicherung, einführen.Auch darum wird es in dem nun bevorstehenden Wahl-kampf gehen. Die Bürgerinnen und Bürger wissensicherlich genau, in welche Richtung sie zu votieren ha-ben.

Zum Bereich der Subventionen: Wir haben mit gro-ßem Erstaunen festgestellt, dass plötzlich auch in derCDU/CSU eine Debatte über die Eigenheimzulage unddie Pendlerpauschale entbrannt ist. Wir begrüßen, dassSie beginnen, sich zu bewegen. Aber wo haben Sie inden letzten Jahren gestanden? Wir haben so häufig ver-sucht, die Eigenheimzulage abzuschaffen und die Pend-lerpauschale zu senken. Aber Sie von der CDU/CSU ha-ben das alles ständig blockiert. Dadurch sind uns

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Rainder Steenblock

Milliardenbeträge verloren gegangen, die wir in diesemLand für die Schaffung neuer Arbeitsplätze hätten sinn-voll einsetzen können. Sie haben nur im Bremserhäus-chen gesessen und sind Ihrer Verantwortung nicht ge-recht geworden.

(Beifall bei der SPD)

Zum letzten Bereich: Wir wollen Europa – die Lissa-bon-Strategie ist dafür ein geeignetes Instrument – zu ei-nem wissensbasierten, innovativen und dynamischenStandort machen. Wenn man sich anschaut, welche inno-vativen Vorschläge Sie in der Bildungspolitik gemachthaben bzw. bei welchen unserer innovativen VorschlägeSie gebremst haben, dann muss man deutlich sagen: Wir,die rot-grüne Bundesregierung, haben den Bundeslän-dern in den Bereichen Forschung und Bildung – auchwenn es nicht nur unsere Aufgabe ist – mit Milliarden-summen unter die Arme gegriffen und versucht, hier vie-les anzuschieben, und zwar gegen Widerstand aus IhrenReihen. Es ist beschämend, dass in Deutschland nochimmer die Herkunft und das Einkommen der Eltern da-rüber bestimmen, ob Kinder das Abitur machen und spä-ter eine Hochschulausbildung absolvieren.

Wenn es uns nicht gelingt, den Zugang zu unserenBildungsabschlüssen sozial gerechter zu gestalten, dannwerden wir unsere Aufgaben nicht erfüllen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese rot-grüne Koalition steht für eine sozial orientierteBildungspolitik. Sie ist effizient und öffnet allen den Zu-gang zu den Bildungseinrichtungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die zentralen Elemente einer Lissabon-Agenda sind:die Schaffung von zukunftsfähigen, auf Innovation aus-gerichteten Arbeitsplätzen, die Schaffung von Arbeits-plätzen im Dienstleistungsbereich – dort gibt es riesigePotenziale, die wir ausschöpfen können – und die Schaf-fung von Arbeitsplätzen im Bereich der regenerativenEnergien. Dabei geht es um viel mehr als um Windener-gie; das Feld der regenerativen Energien ist viel größer.Auf diesen Gebieten sollten wir unsere Anstrengungenverstärken. Wir werden dort zukunftsfähige Arbeits-plätze schaffen. Ich glaube, wir sind auf einem gutenWeg, dieses Ziel zu erreichen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Riesenhuber,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Herr

Steenblock, Sie haben hier über Ihre großartigen Leis-tungen in der Bildungspolitik gesprochen. Lassen Sie

uns einmal die Ergebnisse der PISA-Länderstudie imDetail anschauen: Dort, wo SPD und Grüne regierten– mittlerweile gibt es keine rot-grünen Landesregierun-gen mehr, aber es gab einige –, sind diese Ergebnisse ineiner bemitleidenswerten Weise schlechter. Wir spre-chen hier über die Qualität von Bildungssystemen: Wirhaben exzellente Arbeit geleistet. Sie sollten sich daranorientieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Sie haben mit Dankbarkeit festgestellt, dass wir überEigenheimzulage und Pendlerpauschale sprechen. Wirhatten hierzu immer eine eindeutige Position: Wir wer-den frei werdende Mittel nicht verwenden, um Haus-haltslöcher zu stopfen. Wir haben in der gestrigen De-batte wieder erlebt, dass Herr Eichel feststellen musste,dass sein Haushalt eigentlich nur noch aus Löchern be-steht, und dass er nicht mehr weiß, wie er damit umge-hen soll. Deshalb fordern Sie das deutsche Volk auf, Sieabzuwählen. Das ist ein ehrenwertes Vorgehen. Aber esist in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig,dass eine Bundesregierung erklärt, sie sei nicht mehr fä-hig, irgendein Problem zu lösen, und das deutsche Volkbittet, sie abzuwählen. Wir werden sehen, wie sich dasdeutsche Volk verhält.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Steenblock, ich habe mich gefreut, dass Sie mitdem Hinweis auf unsere grundsätzliche Frage angefan-gen haben. Der Verfassungsvertrag hat keine Zukunft.Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist von grund-sätzlicher und übergeordneter Bedeutung. Ich glaubenicht, dass es sehr viel Sinn macht, noch feinsinnigereVerhandlungen zu führen und noch großartigere Ge-bäude an Regularien und Vereinbarungen aufzubauen.Zu einem neuen Aufbruch kann es nur kommen, wennwieder übergeordnete Ziele – Visionen – erkennbar sindund Personen, die sie verwirklichen.

Die Lissabon-Agenda, die ihren Niederschlag im ers-ten Verfassungsentwurf fand, war eine großartige Arbeitvon tüchtigen Bürokraten. Sie enthielt eine unglaublicheVielfalt an Vorschlägen, 28 Hauptziele, 120 Nebenziele,Ausführungen zu E-Europe, zu Chancen für Frauen undzu Dienstleistungen, Märkten und Finanzen. Oder freinach Clausewitz: Wer alles deckt, deckt nichts. – Inso-fern ist das, was jetzt angelegt ist, klüger; denn es istkonzentriert auf Ziel: Wirtschaftswachstum und Arbeits-plätze sind entscheidend.

Herr Gloser, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,wie wichtig das Soziale und die Umwelt sind. Richtig!Wir müssen erreichen, dass die Wirtschaft wächst unddass mehr Arbeitsplätze entstehen, und zwar, ohne un-sere Errungenschaften zu beschädigen. Alles zugleichweiterzuentwickeln führt aber zu einem unbeherrschba-ren System, in dem sich gar nichts mehr bewegt. DieseErfahrung haben wir in den ersten fünf Jahren nach Lis-sabon gemacht. Angesichts dessen ist die Konzentrationauf diese Ziele richtig: Wir bekommen Arbeitsplätze nurmit Wirtschaftswachstum. Wir bekommen Wirtschafts-wachstum nur über Innovationen. Und Innovationen be-

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Dr. Heinz Riesenhuber

kommen wir nur dann, wenn jeder Einzelne und wir allegemeinsam die richtigen strategischen Ziele verfolgen.So sehen die Prioritäten aus.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die in Lissabon entwickelte Strategie konvergiert mitdem, was wir hier sagen. Angela Merkel sagt, dass einSchwerpunkt ihrer Regierungspolitik Innovationen seinwerden. Edmund Stoiber sagt, wir müssten 3 Prozentvom Bruttosozialprodukt in die Forschung investieren.Angela Merkel sagt: Wir wissen, dass wir nur einenSchuss frei haben. Das heißt, dass wir in der Situationvon heute in sehr kurzer Zeit das tun müssen, was Sie ei-gentlich 1998 wollten. Nur, Sie haben inzwischen dasZiel aus den Augen verloren. Seit Sie das Ziel aus denAugen verloren haben, sind Sie viel schneller vorange-kommen. Aber das war nicht hilfreich für Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der Forschung haben Sie die gesamten Mittel nochnicht einmal um 10 Prozent nominal erhöht, wenn mandas Soll 2005 mit 1998 vergleicht. Sie wollten sie ei-gentlich verdoppeln! Hier müssen wir etwas tun. Nur ausdem Grund, dass wir in diesem Bereich wieder klotzenkönnen, haben wir gesagt: Die verschiedenen Möglich-keiten, die der Haushalt bietet, wollen wir nicht verplem-pern, indem wir die Löcher einer misslungenen Finanz-politik stopfen, sondern wir wollen sie nutzen, um auseiner ganz schwierigen Situation – sie ist schwieriger alsvor sechseinhalb Jahren, als Sie angefangen haben – ei-nen neuen Start in die Zukunft zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In den Lissabon-Zielen sind jetzt in der Tat genau dieThemen genannt, um die es hier geht: Attraktivität fürArbeitsplätze und Investitionen, Infrastruktur, offene,wettbewerbsorientierte Märkte, Bildung, Qualifikation,Wissen und Innovation. Der Stifterverband, der gesterngetagt hat, sagt: Das Megathema ist Innovation. Ihrmüssen wir alles unterordnen. Wir brauchen keine Repa-raturen am Haus Deutschland, sondern ein neues Funda-ment aus Bildung, Forschung und Innovation. – Diesesneue Fundament brauchen wir, weil Sie das Fundamentin den letzten Jahren systematisch haben zerbröckelnlassen. Sie sind nicht vorangekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter][SPD]: Quatsch!)

Selbst da, wo Sie vorangekommen sind, sind andere– das zeigt der Bericht – schneller vorangekommen alswir. Wir sind zurückgefallen. Weil wir zurückgefallensind, ist Europa zurückgefallen. Wenn die stärkste Machtin Europa keine Linie aufbringt, dann fällt ganz Europazurück. Wenn es in Europa früher haarig wurde – zuKohls Zeiten, an die Sie sich so ungern erinnern –, hatman auf einen Staatsmann, hat man auf ein Land, aufDeutschland, geblickt.

(Günter Gloser [SPD]: Dann hat er einen Scheck hingereicht!)

Heute läuft die Sache auseinander, weil Sie eine Politikangelegt haben, die die Menschen nicht zusammen-geführt, sondern auseinander gebracht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind in einer Situation, die offenkundig schwieri-ger ist als vor sechs, sieben Jahren. Aber wir haben nachwie vor ein starkes Land. Reden Sie einmal mit den jun-gen Technologieunternehmen. Die wollen etwas und diekönnen etwas.

(Klaus Brandner [SPD]: So ist es!)

Reden Sie mit den Wissenschaftlern in der TechnischenUniversität Darmstadt. Die sind froh, dass sie jetzt ihreigenes Schicksal unbehindert von irgendwelchen über-geordneten, hoch intelligenten Beamtenentscheidungengestalten können, dass sie selber Professoren berufenkönnen, dass sie über ihre Immobilien verfügen könnenund dass sie Prüfungsordnungen einführen können. Ge-ben Sie Freiraum!

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Geben Sie Frei-heit!)

Sie sagen, die bestehende Bürokratie sei gar nicht soschlimm. Ich kann Ihnen respektvoll sagen, dass inDeutschland sieben bis acht Wochen vergehen, bis einUnternehmen gegründet werden kann; in England sindes sieben Tage. Dass wir auf diesem Gebiet nichts zu tunhätten, ist eine tollkühne Annahme. Unser Steuersystemist so kompliziert, dass ein Mittelständler sich über meh-rere Wochen des Jahres mehr mit seinen Steuerberaternund den möglichen Steuerlücken befassen muss als mitseinen Kunden und Lieferanten; das ist eine krankeSituation.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wir brauchen, ist der Raum, in dem wir uns aufdie Tüchtigkeit der Einzelnen verlassen, aus dem Dyna-mik und Unternehmungsgeist entstehen. Dann wirdDeutschland wieder seine Rolle in Europa spielen, diedie Europäer zu Recht von uns erwarten. Mit Zuversicht,Gestaltungskraft und Mut muss in einer schwierigenLage – diesen Umstand räumen wir alle ein – jeder sei-nen Beitrag leisten. Wir brauchen ein zuversichtlichesEuropa und eine wissensbasierte Gesellschaft, die mitder Tüchtigkeit ihrer Menschen, mit Unternehmungs-geist und Freiraum Arbeit schafft und ihre Rolle als Part-ner in der Welt spielt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staats-

sekretär Gerd Andres.

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Wirtschaft und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Dr. Riesenhuber, ich bin Ihnen sehr dank-bar dafür, dass Ihnen aufgefallen ist, dass die Lissa-bon-Strategie verändert wurde. Die Veränderung der

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Parl. Staatssekretär Gerd Andres

Lissabon-Strategie hat diese rot-grüne Bundesregierungbewirkt.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie das feststel-len. Das macht nämlich deutlich, dass Ihr Antrag, dervom 8. März datiert, überflüssig ist. Er ist deswegenüberflüssig, weil ein ganzer Teil der Forderungen, diedarin formuliert worden sind, schon längst erfüllt ist.

(Klaus Brandner [SPD]: Die CDU ist eine Schlafwagenabteilung!)

Sie haben völlig Recht, Herr Professor Riesenhuber– ich sage das ganz ausdrücklich –: Wachstum undÖkonomie gehören in den Mittelpunkt dieser Strategie,in den Mittelpunkt des politischen Handelns von Europa.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Weil Sie gesagt haben, man rede im Rückblick immernur schlecht über die Regierung Kohl, der Sie angehör-ten, empfehle ich Ihnen, einmal nachzulesen – vielleichtkönnen Sie das freundlicherweise auch an Frau Wöhrlweitergeben –, wie im europäischen Kontext Ihre Plat-zierung beim Wachstum in den 90er-Jahren war, alsHelmut Kohl noch Regierungschef war. In den gesamten90er-Jahren haben Sie immer den vorletzten Platz belegt.Vielleicht können Sie das auch Frau Wöhrl sagen.

(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ich bin doch da!)

Damit bin ich bei einem zweiten Thema; ich bin Ih-nen sehr dankbar, dass Sie das angesprochen haben. DieSchelte unserer nationalen Politik ist hinlänglich be-kannt. Dass Sie das alles jetzt benutzen, um hier Wahl-kampf zu machen, kann der interessierte Bürger ja auchverstehen. Ihr Antrag ist aber schädlich. Er ist schädlich,weil es gerade jetzt nach den Referenden in Frankreichund in den Niederlanden ganz wichtig ist, den Bürge-rinnen und Bürgern Europa wieder näher zu bringen undVertrauen in Europa zu pflanzen. Ich glaube auch nicht,dass die Verfassung gescheitert ist, wie Sie das formu-liert haben. Ich will festhalten: Es hat zwei Referendengegeben. Die Ratifizierung in den europäischen Län-dern muss weiterlaufen. Wir haben im Bundestag und imBundesrat mit überwältigender Mehrheit ratifiziert unddas ist gut so.

(Beifall bei der SPD)

Man braucht aus dieser Vertragskrise keine europäi-sche Krise zu machen. Deswegen ist es ganz wichtig, dieFinanzverhandlungen in Europa in den nächsten14 Tagen erfolgreich abzuschließen. Dazu ist Beweg-lichkeit von allen gefordert. Auch wir werden da beweg-lich sein.

Der dritte Punkt, den man festhalten muss, lautet: Ge-schlossene Verträge dürfen jetzt nicht infrage gestelltwerden. Deswegen ist es Unsinn, beispielsweise über dievertraglich schon beschlossenen Erweiterungen umBulgarien und Rumänien zu diskutieren und sie öffent-lich infrage zu stellen. Ich habe heute Morgen ein Inter-view des Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschus-ses, Herrn Rühe, dazu gehört, das mir sehr gut gefallen

hat. Er hat gesagt: Es gibt Verträge. Diese Verträge mussman einhalten. Es ist eine vernünftige Position, auf derGrundlage dieser Verträge weiter europäische Politik zugestalten.

Zu Ihren europapolitischen Forderungen: Der Euro-päische Rat hat am 22. und 23. März die Lissabon-Stra-tegie neu ausgerichtet. Nach jahrelangen Bemühungen,insbesondere auch der Bundesregierung, liegt derSchwerpunkt jetzt auf Wachstum und Beschäftigung.Diese Weiterentwicklung ist sinnvoll und richtig. Abersie bedeutet nicht, dass alles zuvor Dagewesene falschwar. Insbesondere Ihre Vorwürfe, die Bundesregierunghabe sich nicht entschieden genug für die Wettbewerbs-fähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums eingesetzt,laufen völlig ins Leere. Wir haben uns seit demJahr 2000, als die Lissabon-Strategie geboren wurde,wie kaum ein anderer Mitgliedstaat für die Fokussierungauf Wachstum und Beschäftigung eingesetzt.

(Beifall bei der SPD – Kurt-Dieter Grill[CDU/CSU]: Das muss aber so schwach ge-wesen sein, dass wir es nicht gemerkt haben!)

Wir haben dafür gekämpft, dass die Belange der Wirt-schaft auf europäischer Ebene wieder stärker Berück-sichtigung finden und die Bereiche „Förderung desGeschäftsklimas“, „Forschungsförderung“ und „Wis-sensgesellschaft“ wesentliche Bestandteile einer Neu-ausrichtung werden. Es war diese Bundesregierung, diedarauf gedrungen hat, die Industriepolitik zu erneuernund der Wirtschaft durch vorbeugende Verfahren aufEU-Ebene Freiräume zu schaffen und zu erhalten.

In den beiden zurückliegenden Jahren stand insbeson-dere die Neuordnung des europäischen Chemikalien-rechts, REACH, im Mittelpunkt. Dass jetzt noch einmalAnstrengungen unternommen werden und dass nach ei-ner industrieverträglicheren Lösung gesucht wird, istnicht zuletzt das Verdienst gemeinsamer Anstrengungenund Interventionen von Bundesregierung, VCI undIG BCE in Brüssel.

Ich verweise auch auf das gemeinsame Eintreten vonBundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac für„europäische Champions“ oder die im Frühjahr 2004gestartete Innovationsoffensive von BundeskanzlerSchröder, Staatspräsident Chirac und PremierministerBlair. Dazu, dass Sie jetzt endlich die Innovation ent-deckt haben, Herr Riesenhuber, gratulieren wir Ihnenherzlich.

(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das ist eine Frechheit!)

Das können Sie hier ganz oft vortragen. Aber ich kannIhnen sagen: Das haben wir im europäischen Kontextlängst vorangetrieben.

(Beifall bei der SPD)

Ich werde Ihnen gleich noch ein paar Ergebnisse nennen.

Inzwischen hat Industriepolitik in Brüssel wiedereinen ganz anderen Stellenwert. Noch einmal: Die Er-folge gehen eindeutig auf die Bemühungen dieser Bun-

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Parl. Staatssekretär Gerd Andres

desregierung und insbesondere des Bundeskanzlers zu-rück.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der intel-lektuelle Höhepunkt Ihres Antrags besteht in der Forde-rung, die europäische Wachstumsstrategie durch natio-nale Maßnahmen zu flankieren, die – keiner hat dasbisher je für möglich gehalten – eine Reform der Sozial-systeme, eine Reform des Steuersystems, den Abbau vonÜberregulierung nebst Bürokratie und die Erhöhung derAusgaben für Forschung und Entwicklung beinhaltensollen. Toll, was in Ihrem Antrag steht! Ich empfehle denBundesbürgern, die Zugang dazu haben, einmal die Seitewww.bundestag.de aufzurufen und sich diesen Antragherunterzuladen. Es ist wirklich ein Genuss, ihn sich an-zuschauen.

(Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])

Da weiß man wenigstens, was hier diskutiert wird.

Ich finde es beinahe ein bisschen peinlich, darauf eineReplik zu geben. Ich möchte vielmehr die Frage stellen:Wo waren die Autoren dieses Antrags die letzten Jahre?Die Bundesregierung hat ihre nationale Verantwortunggerade in den Kernbereichen Wirtschaft und Sozialessehr ernst genommen. Mit der Agenda 2010 haben wirgroße, wichtige Reformen angestoßen, die notwendigwaren und erste Erfolge zeitigen. Dass sie schwierigsind, wissen wir selbst. Dass der so genannte Kok-I-Bericht der Bundesregierung gerade hierfür gute Arbeitbescheinigt, wird von Ihnen natürlich wohlweislich un-terschlagen. Diese Bundesregierung hat die umfang-reichste Steuerreform in Kraft gesetzt, die es je inDeutschland gab. Ich erinnere nur daran, dass wir denEingangsteuersatz von 26 auf 15 und den Spitzensteuer-satz von 53 auf 42 Prozent gesenkt haben.

Es gibt in der Tat weiteren Handlungsbedarf. Wie eraussehen kann, wissen Sie ja selbst. Sie diskutieren jagerade öffentlich über Mehrwert- und Unternehmen-steuern, die Streichung der Absenkung der steuerlichenFreibeträge für Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeitund sogar über die Abschaffung der Eigenheimzulage.Diese Möglichkeit entdecken Sie offensichtlich nun,nachdem Sie sie mehrere Jahre blockiert haben. Das istschon erstaunlich.

Am besten gefällt mir Ihre Forderung, unverzüglichden Anstieg der Förderung von Forschung und Ent-wicklung auf 3 Prozent umzusetzen. Um das 3-Prozent-Ziel zu erreichen, sollen bei uns die öffentliche Hand1 Prozent, die Privatwirtschaft 2 Prozent beisteuern.Beide Werte sind so gut wie erreicht. Die öffentlicheHand liegt bei 0,77 Prozent, die Privatwirtschaft bei1,78 Prozent. Deutschland steht im Vergleich der 25 EU-Länder – ich erwähne das der Vollständigkeit halber undum hier auch einmal Erfolge mitzuteilen – hinter Schwe-den und Finnland auf Platz drei.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die im Antrag geäußerte Kritik hinsichtlich derUmsetzung der Binnenmarktrichtlinien in Deutsch-

land ist schlicht überholt. Nach offiziell bestätigten An-gaben der Kommission vom März betrug das deutscheUmsetzungsdefizit 1,6 Prozent, mittlerweile sogar nurnoch 1,5 Prozent. Damit liegt Deutschland auf Platz fünfunter den 25 Mitgliedstaaten. Nur einmal zur Erinnerungfür die interessierte Öffentlichkeit: Wir haben von Ihnenein Defizit in der Größenordnung von 4 Prozent über-nommen. Dieses Defizit haben wir systematisch zurück-geführt.

Meine Damen und Herren von der Opposition, ichrate Ihnen, Ihre Zeit künftig sinnvoller zu verwenden.Solche Anträge helfen uns inhaltlich nicht weiter.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hochmut kommt vor dem Fall!)

Sie haben nur ein Gutes: Die Auseinandersetzung damitzeigt, dass wir bisher auf einem guten Weg waren. Wirsind auch entschlossen, diesen Weg entsprechend fortzu-setzen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.

Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Herr Staatssekretär Andres, nachdem ich IhreRede gehört habe, kann ich mich des Eindrucks nicht er-wehren, dass Sie eine selektive Wahrnehmung haben, daSie in Ihrer Rede mindestens 50 Prozent der deutschenund der europäischen Wirklichkeit verdrängt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn man sich die Analysen des Kok-Berichtes,nicht die der CDU/CSU, anschaut, dann findet man dortstichwortartig aufgeführt: überfrachtete Agenda, man-gelnde Koordinierung und Konsequenz, Konflikte inBezug auf unterschiedliche Ziele, die nicht aufgelöstsind – REACH und anderes – und mangelnder politi-scher Wille in den Nationalstaaten – das wird als Haupt-ursache angeführt –, sich wirklich aktiv der Lissabon-Strategie zuzuwenden. Herr Kollege Riesenhuber hathier deutlich gemacht, dass ein Teil des Scheiterns derStrategie darauf beruht, dass versucht worden ist, in einPapier alle Ziele hineinzuschreiben, die man überhauptpostulieren konnte. Wer zu viel aufschreibt, erreicht abernichts.

Nachdem Sie meinten, sich über das Datum unseresAntrages aufzuregen, will ich dazu nur eine kleine An-merkung machen: Schauen Sie einmal auf den Antragvon Rot-Grün; der wurde eine Woche später geschrie-ben. Daran wird eines deutlich: Wir diskutieren in Eu-ropa über die Frage einer Neuausrichtung der Lissa-bon-Strategie. Wir beklagen uns im DeutschenBundestag über die mangelnde Mitsprache bei europäi-schen Entscheidungen. Es wird keiner hier bestreiten,dass wir darüber eine tiefgehende Diskussion haben und

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haben müssen, wenn das überhaupt in Zukunft funktio-nieren soll.

Wenn unser Antrag am 8. März nicht eingereicht wor-den wäre, gäbe es den vom 16. März von Rot-Grün über-haupt nicht. Das heißt, ohne unseren Antrag würde sichder Deutsche Bundestag mit der Frage, was die europäi-sche Neuausrichtung der Lissabon-Strategie für unserLand bedeutet, überhaupt nicht beschäftigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist das entscheidende Moment: dass wir unseren An-spruch, uns in die europäische Politik einzumischen,auch wirklich ernst nehmen.

Ich will jetzt gar nicht darüber streiten, in welchemMaße die Bundesregierung das, was jetzt neu auf demTisch liegt, mitgestaltet hat. Ich will nur einmal anhandder im Eckpunktepapier für die Grundzüge der Wirt-schaftspolitik 2005 fett markierten Ziele, die ausgerich-tet sind auf die Lissabon-Strategie – das haben Sie allesmit verabschiedet –, deutlich machen, wo Sie im Ver-hältnis zu dem stehen, was Sie in Europa mitentschiedenhaben. Da heißt es:

Die Steigerung von Wachstum und Beschäftigungmuss im Zentrum der Grundzüge der Wirtschafts-politik 2005 stehen.

So weit ist das vielleicht noch in Ordnung. Dann stehthier: „solide makroökonomische Politik“. Da fängt dasProblem in diesem Lande schon an.

Ich möchte Ihnen noch drei Punkte vorlesen. Dannkönnen Sie die Situation in Deutschland an dem messen,was Europa von uns fordert.

Erstens:

Die Mitgliedstaaten sollten über den Konjunktur-zyklus hinweg einen nahezu ausgeglichenen odereinen Überschuss aufweisenden Haushalt errei-chen …

Meine Damen und Herren, davon sind Sie nach der Dis-kussion über den Haushalt Megawelten entfernt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Zweite:

… die Solidität der öffentlichen Finanzen auf langeSicht zu stärken.

Fehlanzeige in diesem Lande!

Das Dritte:

Die Mitgliedstaaten sollten sich verstärkt für denproduktiven Einsatz der öffentlichen Mittel einset-zen und dafür sorgen, dass diese zunehmend inwachstumsfördernde Maßnahmen im Sinne derSchwerpunktziele von Lissabon fließen.

Wenn ich mir die Investitionskraft des Bundeshaushalteseinmal anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass Sieauch hier nicht auf einem positiven, sondern auf einemnegativen Wege sind.

Insofern können wir doch nur festhalten: Sie sind weitvon den Zielen der Neuausrichtung der Lissabon-Strate-gie, die Sie selber in Europa mit verabschiedet haben,entfernt. Darum geht es in dieser Debatte, nicht nur umeinzelne Forderungen.

Herr Kollege Steenblock, Sie haben sich bemüßigtgefühlt – in diesen Tagen wird ja sichtbar, dass nur nochüber die nächste Regierung diskutiert wird, nicht mehrüber das Versagen der jetzigen Regierung –, vom Ansatzher den Versuch zu machen, die europäische Debatteauch in diesem Haus zu führen. Dann sind Sie aber ge-nau wie wir in der Innenpolitik gelandet. Das will ichauch gar nicht negativ bewerten, das gehört dazu; dennaus beidem wird das Ganze. Ich kann aber nur sagen: Siesind es doch gewesen, die 2002 drei Monate vor derBundestagswahl mit Herrn Hartz die Verringerung derArbeitslosigkeit auf die Hälfte versprochen haben. Siesind heute bei mehr und nicht bei der Hälfte. Von derHälfte sind Sie meilenweit entfernt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich aus dem Forschungsbereich nur ei-nen Punkt herausgreifen. Nach sieben Jahren haben wirzum ersten Mal ein Energieforschungsprogramm. DieEnergieforschung ist die strategische Variante der Ener-giepolitik. In dieser Frage der strategischen Variante ha-ben Sie eklatant versagt.

Zu der Rede des Herrn Kollegen Gloser sage ich nur:Er hat ganz gut damit angefangen, dass wir über die EUals Ganzes reden müssen, ist dann aber auch auf die na-tionale Ebene geschwenkt. Das finde ich bedauerlich.Der Lissabon-Antrag der Union koppelt sich mit demAntrag der CDU/CSU zum Pakt für Deutschland. Siemüssen beides zusammen lesen, dann kommen Sie aufdie richtigen Antworten.

Ich denke, dass wir über die Frage der nationalen Ver-antwortung im Sinne auch der innenpolitischen Gestal-tung mehr diskutieren müssen. Ich will allerdings aucheine Bemerkung zur Frage der Glaubwürdigkeit der EUmachen. Das, was passiert ist – ich bin mit den For-mulierungen von Herrn Steenblock durchaus einverstan-den –, ist nicht zuletzt auch auf mangelnden Erfolg inder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zurück-zuführen.

Wenn Europa und damit wir alle – nicht nur eine so-zusagen anonyme Kommission – an dieser Stelle versagthaben, dann müssen wir uns zur Überwindung der jetzi-gen Krise unter anderem – das ist nicht das Einzige –auch damit auseinander setzen, wie wir in der Wachs-tums- und Beschäftigungspolitik neue Kräfte mobilisie-ren, damit die Menschen in diesem Europa, die Friedenund Freiheit als etwas Großes und Selbstverständlichesmit auf den Weg bekommen haben, auch erfahren, dassdieses Europa Perspektiven in der Wirtschafts-, Sozial-und Umweltpolitik bietet.

Deswegen glaube ich, dass wir über die Frage redenmüssen, ob Europa nicht zu sehr nach innen diskutiert.Ich will an dieser Stelle bewusst nicht nach innen, nichtüber die Frage der nationalen Verantwortung diskutie-ren, sondern auf etwas anderes hinweisen, was in der Eu-

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ropäischen Union Gegenstand der Erörterungen ist. Ichrate uns dringend, uns mit dieser Frage zu beschäftigen;es hängt mit dem Kapitalmarkt und vielen anderen Din-gen zusammen. Europa steht in einem massiven Wettbe-werb mit den anderen Kontinenten. Wenn wir – damitist auch Deutschland gemeint – nicht die Herausforde-rung annehmen, uns auf den Wettbewerb mit den ande-ren Kontinenten einzustellen, dann werden wir beim Zu-gang zu Kapital, Menschen und Rohstoffen schlicht undeinfach versagen, weil die anderen auf uns keine Rück-sicht nehmen werden. Wir werden uns dieser Herausfor-derung stellen müssen.

Auch vor dem Hintergrund einer Veröffentlichungvon Herrn Tremonti in der „FAZ“ vom 1. Juni stelle ichdeswegen fest: Die Selbstverständlichkeit des Wohlstan-des ist vorbei. Wohlstand ist nicht mehr so selbstver-ständlich wie vor 1990. Es gibt neue Herausforderungen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Sie sagen gerade gute und wichtige

Dinge; aber Sie müssen doch zum Schluss kommen.

Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Ich glaube, dass wir im Zusammenhang mit demThema Bürokratie eines aufnehmen sollten – ich zitierehier noch einmal Herrn Tremonti, weil mir das, was ergeschrieben hat, ausgesprochen gut gefallen hat –:

Europa muss auf das Modell einer perfekten Gesell-schaft und eines perfekten Marktes verzichten.

Das wäre der erste Schritt, um weniger Bürokratie undmehr Wachstumskräfte zu erreichen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Werner

Bertl.

(Beifall bei der SPD)

Hans-Werner Bertl (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich finde es gut, dass wir heute über einen Antrag derCDU/CSU sprechen, der die Bundesregierung auffor-dert, sich mit den Ende März im Europäischen Rat undauch im Kok-1-Bericht aufgezeigten Problemen des Lis-sabon-Prozesses zu beschäftigen. Aber viel entscheiden-der finde ich, dass wir daran heute festmachen können,dass genau dieser Weg durch die Bundesregierung be-schritten wurde und wir entscheidend dazu beigetragenhaben, dass die Konzentration des Lissabon-Prozessesüberhaupt vorankommt.

Ich glaube, die Menschen wissen kaum, was mit die-sem Lissabon-Prozess gemeint ist. Es ist ein sehr ehrgei-ziges Programm, welches im März 2000 aufgelegtwurde, um Europa zum – was sagen diese Begriffe? –

wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasiertenWirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Es geht um Be-schäftigung, Wirtschaftsreformen und – dieses Worthabe ich jetzt hier noch nicht gehört, aber davon habenwir damals im Lissabon-Prozess gesprochen – densozialen Zusammenhalt Europas. Gerade das, was wirin den letzten Tagen in Frankreich und den Niederlandenerlebt haben, zeigt vielleicht auch, wie wichtig für dieMenschen in Europa die Frage des sozialen Zusammen-haltes ist,

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

wie wichtig es ist, Europa nicht als etwas Angstbesetzteszu erleben. Europa ängstigt sie möglicherweise, was dieglobalisierten Wettbewerbssysteme angeht; es ängstigtsie aber sicherlich, was ihre eigene Zukunft und die Zu-kunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme betrifft.Ich glaube, die Herausforderung für uns liegt darin, denWeg des Lissabon-Prozesses entsprechend zu gestalten.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber derGerhard Schröder hat doch in Frankreich mitverloren!)

Insgesamt lässt sich an diesen ehrgeizigen Zielen undmeiner Meinung nach auch an der Kritik, die notwendigist, festmachen, was die Bundesregierung getan hat. Fürmich ist auch entscheidend, mit welchen Instrumentenwir die Ziele von Lissabon auf nationaler Ebene verfol-gen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang eben-falls, auch in der Bewertung Ihres Antrages, wie sich dieOpposition dabei verhalten oder enthalten hat. In weitenBereichen haben Sie verhindert, dass die Ziele, insbe-sondere im Bereich Bildung und Forschung, erreichtwerden konnten. Von meinem Kollegen sind schon dieschwierigen Prozesse, sei es im Bundesrat oder im Ver-mittlungsverfahren, angesprochen worden, die stattge-funden haben, um finanzielle Ressourcen genau für die-sen Weg, der meines Erachtens im Lissabon-Prozessrichtig beschrieben ist, zu erschließen.

Man muss deutlich machen, dass zwar im Bereich derArbeitsmarktpolitik ein Teil des Prozesses im Zusam-menhang mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV von derOpposition mitgestaltet wurde. Auf der anderen Seitehaben Sie sich aber immer wieder ganz schnell in dieBüsche geschlagen. Der Erfolg zeigt dennoch, dass derWeg zur Verwirklichung der Lissabon-Ziele richtig ist.

Unser Ziel ist ein Europa, das für die Bürgerinnen undBürger ein Raum der Freiheit und der sozialen Sicher-heit sowie ein Raum von Wachstum und Beschäf-tigung ist. Ich glaube, der Aspekt Freiheit und sozialeSicherheit muss genauso beachtet werden wie der As-pekt Wirtschaft und Beschäftigung. Beide Aspekte sindwichtig. Wir müssen den Menschen in den 25 Staatender EU die von ihnen gewünschte Sicherheit geben. Siewerden Europa nämlich nur dann akzeptieren, wenn die-ser Prozess in der EU nicht von Ängsten um Arbeits-plätze, um die Sicherung sozialer Standards und um dieZukunft der sozialen Sicherungssysteme geprägt wird.Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Diskus-sionen über die Dienstleistungsrichtlinie und über die

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Wettbewerbsfähigkeit, die wir sicherlich führen müssen.Gerade angesichts der aktuellen Entwicklung könnenwir erkennen, dass es notwendiger denn je ist, das Be-dürfnis der Menschen nach Sicherheit zu beachten.

Im Bericht von Wim Kok – ich muss das einmaldeutlich sagen – sind wir für den gesamten Prozess derAgenda 2010 und dafür, wie wir versucht haben, denWeg der Arbeitsmarktreformen erfolgreich zu gestalten,ausdrücklich gelobt worden. Es gibt deutliche Hinweisedarauf, dass dieser Weg für die Bundesrepublik richtigist. Wir brauchen ein nachhaltiges Wachstum, wir müs-sen Forschung und Entwicklung fördern sowie die Be-schäftigungsrate steigern.

Die Bundesregierung und die Regierungskoalition ha-ben enorme Vorleistungen in diesem Bereich erbracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben Bürokratie abgebaut und wir haben mit derAgenda 2010 ein Umsteuern bis in den Bereich der so-zialen Sicherungssysteme hinein vorgenommen. Wirmüssen leider feststellen, dass weite Teile der Wirt-schaft nur wenig Bemühen gezeigt haben, diesen Wegkonstruktiv und fördernd mitzugehen. Ich finde es hoch-interessant, dass man in dieser Woche erstmals inDeutschland in führenden Wirtschaftszeitungen lesenkonnte, dass plötzlich auch Chefvolkswirte und Vor-stände renommierter Banken den Zeigefinger heben unddie fahrlässige Vernichtung von Kapital kritisieren. Siefordern, dass Unternehmen und Management Verant-wortung übernehmen. Das ist übrigens eine Position,die aus diesem Bereich der Wirtschaft jahrelang imRausch der New Economy nie gehört werden konnte.Ich finde es, wie gesagt, hochinteressant, dass diesePunkte jetzt plötzlich zur Sprache kommen. Das zeigt,dass unser Weg, den wir durch enorme Vorleistungen inder Sozialpolitik, in der Steuerpolitik und in der Arbeits-marktpolitik gestaltet haben, von den Verantwortlichender Wirtschaft langsam als richtig erkannt wird und vonihnen vielleicht auch mitgegangen wird. Ihnen ist deut-lich geworden, dass sie damit große Spielräume erlan-gen, die Lissabon-Ziele zu erreichen.

Ich habe schon gesagt, dass auch Forschung undEntwicklung wichtige Ziele sind. Dazu gehört der na-tionale Aktionsplan. Wir sind der Meinung, dass Arbeitfür junge Menschen und für ältere Menschen ein ganzentscheidender Punkt ist. Wir haben mit der Novellie-rung des Berufsbildungsgesetzes eine Vorleistung imBereich der Bildung und Ausbildung junger Men-schen erbracht, die uns die große Möglichkeit bietet, dasProblem der Jugendarbeitslosigkeit bei uns erfolgreichzu bekämpfen. Im Rahmen der SGB-II-Reformen wur-den fast 7 Milliarden Euro für aktive Arbeitsmarkt-politik zur Verfügung gestellt. Auch das muss man unterder Überschrift „Vorleistungen“ zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Frage derAusbildung junger Menschen ernst nehmen. Wir wollenallen Menschen unter 25 Jahren konkrete Angebote ma-chen. All das gehört zur Lissabon-Strategie. Ich will an

dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Die Lissa-bon-Strategie ist eingebettet in den europäischen Ge-samtkontext. Die damit verbundene Aufgabe ist, sozialeGegensätze in Europa zu verringern. Das bedeutet, dasses Investitionen in die Bildung der jungen Generationund in das lebenslange Lernen für alle als bestes Mittelgegen Ausgrenzung geben muss. Wenn wir den Lissa-bon-Prozess so verstehen und ihn entsprechend gestal-ten, werden wir erfolgreich sein.

Zu Ihrem Antrag, den wir heute auf Empfehlung desAusschusses für Wirtschaft und Arbeit ablehnen werden,sage ich Ihnen: Wenn Sie sich in den letzten Monatenund Jahren im Kontext Ihres eigenen Antrages bewegthätten, dann wären wir in Deutschland ein Stück weiter.Wir hätten mit Ihrer Hilfe deutlich größere finanzielleRessourcen freisetzen können. Sie hatten nämlich dieMöglichkeit, uns im Bundesrat zu unterstützen. Mit IhrerHilfe wären wir in weiten Bereichen bezüglich derFrage, wie der zukünftige Prozess gesteuert werden soll,ein Stück weiter. Sie haben hier große Versäumnisse beisich festzumachen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nicht wir, ihr!)

Sie sollten ein Stück schuldbewusst mit sich ins Gerichtgehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU:Und deswegen haut der Schröder ab, oderwie?)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe damit die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck-sache 15/5614 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wachstum in Deutschland undEuropa stärken – Neue Strategie für Lissabon-Ziele ent-wickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? –

(Etliche Abgeordnete der CDU/CSU stimmender Beschlussempfehlung durch Handzeichenzu)

Gegenstimmen? –

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie habenes nicht richtig formuliert! – Weitere Zurufe –Lachen bei Abgeordneten der SPD)

– Herr Ramsauer, Sie wissen: Wenn man die Macht hat,muss man bei so etwas sehr aufpassen.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben nach Ablehnung gefragt!)

Also noch einmal: Der Ausschuss empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? –

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Jetzt habenSie richtig gefragt! – Widerspruch bei der

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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

SPD – Zuruf von der SPD: TypischRamsauer!)

Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist in einer zweiten Abstimmung mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Opposition angenommen worden.

Herr Ramsauer, ich hatte richtig gefragt. Sie habendas erste Mal falsch abgestimmt. So war es.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ich stelle fest: Sie haben falsch gefragt!Das ist schon einmal vorgekommen! Da habeich auch Recht gehabt!)

– Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, aber indiesem Fall nicht.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Neufassung der Freibe-tragsregelungen für erwerbsfähige Hilfe-bedürftige (Freibetragsneuregelungsgesetz)

– Drucksache 15/5446 (neu) –

(Erste Beratung 176. Sitzung)

aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Aus-schuss)

– Drucksache 15/5607 –

Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Brandner

bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 15/5609 –

Berichterstattung:Abgeordnete Otto Fricke Volker Kröning Hans-Joachim FuchtelAnja Hajduk

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit(9. Ausschuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenDirk Niebel, Rainer Brüderle, AngelikaBrunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Hinzuverdienstmöglichkeiten zum Arbeitslo-sengeld II im Interesse einer Beschäftigung imersten Arbeitsmarkt verbessern

– Drucksachen 15/5271, 15/5607 –

Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Brandner

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Abgeordnete Klaus Brandner.

Klaus Brandner (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Wir beschließen heute das Freibe-tragsneuregelungsgesetz. Es ist erfreulich – das möchteich zu Beginn sagen –, dass wir uns auch in der heutigenZeit auf eine sinnvolle Regelung verständigen können.Denn das Freibetragsneuregelungsgesetz ist kein faulerKompromiss. Es ist eine sinnvolle Lösung. Es reiht sichin unsere Arbeitsmarktpolitik mit der klaren Losung„Fördern und fordern“ ein. Es ist ein weiterer Bausteinim Rahmen unserer Arbeitsmarktgesetzgebung. Wirwollen damit Anreize schaffen. Wir wollen aktivieren.Wir wollen fördern. Wir wollen Chancen nutzen.

Die Anreize zur Arbeitsaufnahme und zur Weiter-führung einer Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeits-markt werden gestärkt. Wenn ich zum Beispiel 100 Eurohinzuverdiene, kann ich diese 100 Euro zukünftig fürmich behalten. Darin besteht ein klarer Anreiz. Wenn ich600 Euro hinzuverdiene, kann ich 200 Euro behalten.Wenn ich 1 200 Euro verdiene, kann ich 280 Euro behal-ten. Wenn ich 1 500 Euro verdiene, kann ich davon310 Euro behalten.

Ich will damit deutlich sagen: Die neue Regelung isteinfach. Sie ist nachvollziehbar und sie ist transparent.Sie ist – das ist ganz wesentlich für Sozialdemokraten –auch familienfreundlich.

Wir beschließen heute mit der abschließenden Zu-stimmung zu diesem Gesetzentwurf weiterhin, dass esendlich Rechtssicherheit für Frauen in Frauenhäu-sern gibt. Frauen in prekären Situationen sollen nichthin und her geschoben werden. Wir wollen, dass sie voneiner gesicherten Rechtsgrundlage aus ihre prekäreSituation verbessern können. Deshalb haben wir jetztverbindlich geregelt, dass die bisherige Wohnortkom-mune nicht aus der Verantwortung entlassen werdendarf, wenn sich eine Frau zum Beispiel aus ihrem Wohn-bereich in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt begebenmuss.

Insofern schaffen wir Rechtssicherheit und Klarheit.Das war absolut notwendig. Die Städte und Gemeinden,die sich aus der Verantwortung stehlen wollten, habenwir damit nicht durchkommen lassen. Wir sagen: Unso-lidarisches Verhalten darf sich in diesem Land nicht loh-nen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Unionist endlich zur Einsicht gekommen. Ehrlicherweise mussman in diesem Zusammenhang auch sagen, dass vieleMonate ins Land gegangen sind – verlorene Monate –;denn wir hätten eine der jetzigen Regelung vergleichbarebereits im Herbst 2003 haben können.

(Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Ihr Vor-schlag sah damals anders aus!)

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Klaus Brandner

Für diese verlorene Zeit tragen Sie die Verantwortung.Das alles ist schade. Sie haben eine Chance vertan, Men-schen in prekären Situationen zu helfen; auch das mussheute ganz deutlich gesagt werden.

(Beifall bei der SPD)

Seien wir einmal ganz ehrlich: Die Union ist spät auf-gewacht; wir haben es gerade an diesem Beispiel gese-hen. Wir haben aber auch eine ganze Reihe anderer Si-tuationen, mit denen wir uns zurzeit auseinander setzenmüssen. Frau Merkel hat gerade nach ihrer Nominierungzur Kanzlerkandidatin ein Wahlprogramm mit „Mut zurEhrlichkeit“ versprochen. Das sind große Worte.Schauen wir, was davon übrig bleibt.

Konkret fordern Sie zum Beispiel mehr Beitragsge-rechtigkeit. Tatsächlich wollen Sie das Arbeitslosengeldfür alle kürzen. Für jeden Arbeitslosen wollen Sie dasArbeitslosengeld im ersten Monat um 25 Prozent redu-zieren. Da frage ich Sie ganz konkret: Was hat das ei-gentlich mit Beitragsgerechtigkeit zu tun?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Heute muss man zwei Jahre gearbeitet haben, um12 Monate lang Arbeitslosengeld zu erhalten. Nach Ih-ren Vorstellungen muss man hierfür zukünftig zehnJahre gearbeitet haben. Was hat das mit Gerechtigkeit zutun?

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Un-glaublich!)

Heute muss ein 45-Jähriger drei Jahre gearbeitet haben,um 18 Monate Arbeitslosengeld zu bekommen. Nach Ih-ren Vorstellungen muss er dafür zukünftig 25 Jahre gear-beitet haben, fast ein ganzes Berufsleben – um 18 Mo-nate Arbeitslosigkeit finanziert zu bekommen! Was hatdas mit Gerechtigkeit zu tun?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Beispiele decken Ihre ganze Scheinheiligkeitauf. Sie fordern mehr Flexibilität, Sie fordern mehr Zeit-arbeit, Sie fordern, dass unstete Erwerbsbiografien ak-zeptiert werden. Wenn sie akzeptiert werden sollen,wenn mehr Flexibilität akzeptiert werden soll, dannbraucht man auf der anderen Seite aber auch mehr Si-cherheit. Genau diese nehmen Sie mit einem solchenGesetz. Nach außen geben Sie vor, den Zeitraum für denBezug von Arbeitslosengeld zu verlängern – tatsächlichverkürzen Sie ihn. Das ist eine Mogelpackung und dasmuss hier entlarvt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will klar sagen: Die Arbeitslosenversicherungist keine Kapitalansparversicherung. Sie muss Risikenabdecken. Ihre Regelung ist aus meiner Sicht ganz klareine Regelung, die erstens die Leistungshöhe reduziertund zweitens die Bezugsdauer kürzt. Sie mag für Sie ge-recht sein – für uns ist das ungerecht. Es ist familien-feindlich, weil gerade Eltern in ihrer Erziehungsphasegenau diese unterbrochenen Erwerbsbiografien haben.

Es ist unsolidarisch und ungerecht. Deswegen werdenwir diesen Weg so nicht mitgehen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Union ist arbeitsmarktpolitisch auf Abwegen. Sietäuscht ein weiteres Mal, indem sie die Senkung desBeitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 5 Prozentfordert. 1,5 Prozentpunkte weniger Beitrag – ich fragemich immer, inwiefern das eigentlich Mut erfordert?Beitragssenkungen, das ist leicht gesagt. Nur, was stecktdenn dahinter, meine Damen und Herren? Wer den Bei-trag in diesem Ausmaß senkt, nimmt genau das kom-plette Volumen für die aktivierenden Maßnahmen imKampf gegen die Arbeitslosigkeit. Er nimmt genau das,was im Kern an Förderung für diejenigen zur Verfügungsteht, denen man Hilfen organisieren muss, damit sie inden ersten Arbeitsmarkt eintreten können: zum BeispielJugendlichen für den Eintritt ins Berufsleben oder Exis-tenzgründern, die sich selbstständig machen wollen. Ge-nau denen nimmt man die Chance. Ist das Ihr Mut zurmehr Ehrlichkeit, meine Damen und Herren? Dann hö-ren Sie aber bitte schön auch mit Ihren Wallfahrten zuden Berufsbildungswerken, zu den Behinderteneinrich-tungen auf: Nach außen loben Sie deren Arbeit, postie-ren sich für Pressefotos und sagen, wie wichtig all dasist, was sie machen. Durch die Hintertür aber entziehenSie ihnen die Finanzierungsgrundlage. Solche Schein-heiligkeit lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das musshier deutlich angesprochen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich ein Weiteres ganz klar sagen: Sie sa-gen, Sie wollen die Steuern senken – oder auch nicht.Auf jeden Fall wollen Sie bei den Arbeitnehmern tieferin die Tasche greifen. Ich nenne nur die Streichung derSonn- und Feiertagszuschläge und die Pendlerpauschale.Das sind Beispiele dafür, dass Sie nach außen vorgeben,wie Sie Belastungen nehmen wollen, gleichzeitig aberdie Belastungen tatsächlich bei den Arbeitnehmern abla-den. Denen, die sich ihrer besonderen Situation stellen,die am Wochenende und unter besonderen Bedingungenihre Arbeit leisten und lange Wege in Kauf nehmen, umzur Arbeit zu kommen, wollen Sie ihre Chancen rauben.Das muss so deutlich und klar gesagt werden, wenn manIhre Steuersenkungspläne prüft, durch die deutlich wird,wo Sie wirklich sparen wollen. Sie wollen dies zulastender kleinen Leute und nicht, wenn man so will, zulastenderjenigen tun, die auf breiteren Schultern wirklich mehrtragen können.

(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Was hat denn das mit der Tagesord-nung zu tun, Herr Brandner? Das ist Wahl-kampf! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]:Ausschließlich Wahlkampf!)

Sie sprechen von der Vorfahrt für die Arbeit. Das istein toller Slogan. Vorfahrt für die Arbeit heißt für dieUnion: Arbeitnehmerschutzrechte abbauen, den Kündi-gungsschutz schleifen, die Tarifautonomie knicken, dasBetriebsverfassungsgesetz in wesentlichen Teilen zu-rücknehmen und die untertarifliche Entlohnung für

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Klaus Brandner

Langzeitarbeitslose gesetzlich durchsetzen. Genau hier-mit verschärfen Sie die Situation bei den prekären Be-schäftigungsverhältnissen. Das, was Sie hier betreiben,ist keine Vorfahrt für die soziale Marktwirtschaft, das istdie Vorfahrt für den Sozialabbau.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Sie sollten mit dem Wahlkampf warten, bis derBundeskanzler die Vertrauensfrage gestellthat!)

Ich sage Ihnen: Die Situation im Land bessert sichmehr und mehr.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In welchem Land, Herr Brandner?)

Wenn man ehrlich ist, dann muss man bekennen, dass sogrundlegende Reformen, wie wir sie machen mussten,Zeit brauchen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deshalb wollenSie die Wahlen vorziehen! Das ist sehr lo-gisch!)

Sie bringen auch Verunsicherungen mit sich. Wer aberdie Verunsicherungen nutzt, um eine viel tiefere sozialeUngerechtigkeit zu organisieren, der verhält sich nichtehrlich. Es ist ehrlich, den Leuten zu sagen, wohin manwill. Wir als Sozialdemokraten haben das getan. Was Siegemacht haben, ist scheinheilig.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum trittdann eure Regierung zurück? Weil wir schein-heilig sind, tritt sie zurück? – Ernst Hinsken[CDU/CSU]: Was? – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Das nehmen Sie jetzt zurück!)

Das lassen wir nicht durchgehen. Wir werden daslandauf, landab im Land deutlich brandmarken, damit je-der weiß, wohin die Reise mit Ihnen und wohin dieReise mit uns geht.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Wir haben gemerkt, wo die Reise mitIhnen hingeht!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang

Meckelburg.

(Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lieber Kollege Brandner, die Rede, die Sie hiergerade gehalten haben,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie war verfehlt! In der Schule gab es dafür eine Fünf!)

hörte sich wirklich so an, als ob Sie entweder auf dieWiedereingliederung in den DGB nach einer verlorenen

Bundestagswahl mit vollen Dienstbezügen oder zumin-dest auf erhöhte Tantiemen hinarbeiten, falls Sie diesezurzeit noch bekommen. Jedenfalls ging das an dem,über das wir heute hier debattieren, ziemlich vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Klaus Brandner [SPD]: Können Sie mit derWahrheit nicht umgehen?)

Sie haben hier zu Punkten Stellung genommen, dieSie irgendwoher gezogen haben.

(Klaus Brandner [SPD]: Was heißt denn „ir-gendwoher gezogen“, Herr Meckelburg?)

Ich bitte Sie einfach, zur Kenntnis zu nehmen, dass esdas Wort der Kanzlerkandidatin Angela Merkel gibt,dass das Programm am 11. Juli 2005 in den gesamtenZusammenhängen vorhanden sein wird.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und bis dahin wissen Sie nicht, was Siewollen! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L.Kolb [FDP]: Ihr habt noch nicht einmal ge-zeigt, dass ihr Neuwahlen herbeiführenkönnt!)

Warten Sie bitte einmal ab, was darin steht. Ich habenicht den Eindruck, dass Deutschland Angst vor diesemProgramm hat. Deutschland hat Angst vor den Ergebnis-sen Ihrer Politik der letzten sieben Jahre. Das ist das Pro-blem.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lüften Siedoch mal den schwarzen Schleier, HerrMeckelburg! Sagen Sie, was Sie wollen!)

Ich komme auf die Hartz-Gesetzgebung insgesamtund auf die Präsentation der Ergebnisse im August 2002zurück.

(Klaus Brandner [SPD]: Ihr habt euch perma-nent in die Büsche geschlagen!)

Man möchte fast von einer Zelebration im FranzösischenDom sprechen. Peter Hartz hat gesagt: Ziel des Master-plans ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um2 Millionen zu verringern, sie also zu halbieren.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat nichtganz funktioniert! – Ute Kumpf [SPD]: Zielezu haben ist doch nichts Verkehrtes!)

Das hat nicht ganz funktioniert. Damals, im Au-gust 2002, hatten wir 4 Millionen Arbeitslose, heute sindes 5 Millionen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Fast um die Hälfte erhöht!)

Damals hatten wir 27,6 Millionen sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigte, heute sind es nur noch 26,1 Mil-lionen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört! –Klaus Brandner [SPD]: Sagen Sie auch was zuden Erwerbspersonen, deren Zahl gestiegenist?)

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Wolfgang Meckelburg

– Sofort. – Das Problem ist, dass genau in dem Bereich,in dem ordentlich Steuern und auch Beiträge gezahltwerden, 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangensind.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist die trau-rige Wahrheit!)

Diese fehlen beim Steuereinkommen und bei den Versi-cherungen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.

(Klaus Brandner [SPD]: Sagen Sie was zu denErwerbstätigenzahlen! – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Die sind doch getürkt: Ich-AGs, Mini-jobs!)

– Zu den Erwerbstätigenzahlen sage ich Ihnen sehrgerne, dass Sie sie im Moment gerne zitieren. Aber manmuss wissen, dass es bei diesen Zahlen nicht um die so-zialversicherungspflichtig Beschäftigen geht, sondern esgeht um eine Gesamtschau der Erwerbstätigen. Darunterfallen unter anderem Menschen mit einer staatlich geför-derten Ich-AG und auch die Minijobber. Das sind alsonicht die Zahlen, wie wir sie normalerweise verstehen.Deswegen können Sie diese Zahlen zelebrieren. Ent-scheidend ist aber die Zahl der sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gerhard Schröder hat damals im Rahmen dieses Zele-brierens im Französischen Dom bei der Vorstellung desHartz-Konzeptes erklärt: Wir müssen aus dem großenWurf – das war das Hartz-Konzept – eine neue Wirklich-keit für Deutschland machen. – Die neue Wirklichkeitfür Deutschland sieht wie folgt aus: höhere Arbeitslosen-zahlen und weniger Arbeitsplätze. Der große Wurf istzum Bumerang geworden. Er wird zum großen Raus-wurf von Gerhard Schröder aus dem Kanzleramt führen.Nach der NRW-Wahl wissen wir, dass er nicht draußenam Tor rüttelt und ruft: Ich will da rein. Vielmehr steht ernun innen und bittet dringend darum: Ich will hierraus. – Wir werden alles dafür tun, dies bis zum Septem-ber zu erreichen.

Lassen Sie mich zu dem Gesetzentwurf kurz etwassagen. Es ist uns im Anschluss an den Jobgipfel, den wirangestoßen haben, gelungen, doch noch ein paar Dingegemeinschaftlich auf den Weg zu bringen.

(Klaus Brandner [SPD]: Spät, das wissen Sie!)

– Sie müssen immer angetrieben werden. Sie könnenzwar „spät“ rufen, aber Sie sind vorher viel zu spät ge-wesen.

(Klaus Brandner [SPD]: Ehrlich bleiben – das ist das Wort der Vorsitzenden!)

Lassen Sie mich etwas zu dem Ergebnis sagen. Wirhaben bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten für Lang-zeitarbeitslose einen Kompromiss erzielt. Es ist gut, dassdies auch in solchen Zeiten möglich ist. Auf die Ergeb-nisse hat der Kollege Brandner hingewiesen; ich will sienicht im Detail wiederholen. Die Regelungen führendazu, dass das Ganze für die Betroffenen transparenterwird, dass die Berechnungen unkomplizierter und einfa-

cher werden und dass am Ende von dem hinzuverdientenGeld mehr in den Taschen der Arbeitslosengeld-II-Be-zieher verbleibt.

Es gibt noch ein Problem, auf das ich hier auch öf-fentlich hinweisen möchte und das wir in dieser Wocheim Ausschuss beraten haben. Es geht um die Frage,wann diese Regelungen in Kraft treten. Wir wollten im-mer, dass sie so schnell wie möglich in Kraft treten.

(Klaus Brandner [SPD]: Das hätten wir am1. Januar 2004 haben können, wenn Sie da-mals zugestimmt hätten!)

Unsere Vorschläge waren der 1. August oder der 1. Sep-tember 2004. Im Entwurf des Gesetzes stand der 1. Ok-tober 2004. Es gab im Ausschuss Hinweise von derBundesagentur und auch von der Bundesregierung, dassdies EDV-technisch zu einem so frühen Zeitpunkt nichtmöglich ist. Das führt zu Umgehungslösungen, weil dasin die EDV nicht direkt eingegeben werden kann. Würdedann ein Bescheid herausgehen, wäre er für den Emp-fänger nicht nachvollziehbar.

Ich habe gesagt, das scheint darauf hinauszulaufen,dass es nach dem Oktober 2005 zu einem ziemlichenKuddelmuddel kommen wird. Ich habe dann angeboten– das ist auch am Vortag diskutiert worden –, uns ge-meinschaftlich darauf zu einigen, die Regelungen dannumzusetzen – auch wenn dies später sein sollte –, wennes für die Probleme eine Lösung gibt. Sollten nämlichEinsprüche eingehen, so würden diese zu mehr Arbeitund mehr Bürokratie führen.

Ganz offensichtlich war es so, dass die SPD bereitwar, sich im Sinne der Bundesagentur zu bewegen. DieGrünen haben darauf gedrängt, es bei dem Termin am1. Oktober 2005 zu belassen. Das war spürbar. Jetzt ha-ben wir die Situation, dass Bundesregierung und Bun-desagentur vor einem Durcheinander warnen, aber dieKoalition wegen des Koalitionsfriedens – mal sehen, wiesie sich in zwei Wochen verhalten wird – beim 1. Okto-ber 2005 bleibt. Wir haben erklärt, dass wir an dem ge-fundenen Kompromiss festhalten und nicht aussteigenwerden. Ich sage nur deutlich, dass wir es nicht hinneh-men werden, dass uns ein mögliches Durcheinander, dasdurch den heutigen Beschluss entsteht, nach einem Re-gierungswechsel angelastet wird.

(Ute Kumpf [SPD]: Sie müssen sich keineSorgen machen! Das werden wir schon schaf-fen!)

Es kommt in den kommenden Wochen darauf an, inder Auseinandersetzung deutlich zu machen, was wirbrauchen. Hierzu möchte ich nur zwei Stichworte nen-nen: Agenda Arbeit und Vorfahrt für Arbeit. Das werdenwir jedenfalls den Bürgern anbieten. Ich gehe davon aus,dass dies dazu beitragen wird, Deutschland nach dem18. September in eine bessere Zukunft zu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Die Men-schen wollen es aber nicht so, wie Sie es habenwollen!)

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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute wird ein schwarzes Loch geschlossen, eines vonden schwarzen Löchern in der Hartz-Gesetzgebung.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gucken Sie, dass Sie da nicht reinfallen!)

Ich muss Ihnen sagen: Ich bin sehr froh darüber. HerrMeckelburg, ich hätte mir von Ihnen schon gewünscht,hier so viel Ehrlichkeit aufzubringen, dass Sie den Men-schen an den Bildschirmen und hier im Saal sagen, dassIhre Blockade und nicht Ihr Antrieb dazu geführt hat,dass wir nicht seit dem 1. Januar 2005 eine bessere Lö-sung für den Zuverdienst haben, sondern eine schlechte,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Wolfgang Meckelburg[CDU/CSU]: Wir haben einen Kompromissgeschlossen, nichts blockiert!)

die wir jetzt ändern können, weil Sie gelernt und eineWende vollzogen haben. Wir begrüßen Lernfähigkeitdurchaus. Sie sollten aber nicht für sich in Anspruchnehmen, gedrängt zu haben. Sie waren die Blockierer.

(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wir habeneinen Kompromiss mit Ihnen gemacht! Wiekann man denn da blockieren? – VeronikaBellmann [CDU/CSU]: Sie waren genauso da-bei wie wir!)

– Wir haben einen Kompromiss geschlossen, das istrichtig.

Ich bin froh über die Lösung, aber wir müssen so vielEhrlichkeit haben, den Menschen zu sagen, was dasGanze in diesem Jahr für sie bedeutet hat. Es gibt keinegenauen Zahlen über die Zuverdienste, aber es sind – sowird geschätzt – ungefähr 500 000 Menschen, die dazu-verdienen. Es werden jetzt nicht alle von dieser Verände-rung betroffen sein, aber es ist schon so, dass ein großerTeil dieser Menschen in diesem Jahr schlechtere Zuver-dienstmöglichkeiten hatte, als er hätte haben können,meine Damen und Herren von der Union. Deswegenhabe ich im Ausschuss darauf gedrängt – Sie sprachendas an –, dass die Änderung so früh wie möglich erfolgt.So früh wie möglich heißt zum 1. Oktober dieses Jah-res. Wir wissen, das geht nur mit einer Umgehungslö-sung, weil die Technik umgestellt werden muss, da wireben nicht seit dem 1. Januar 2005 diese Regelung ha-ben. Ich sage aber auch: Ich finde es wichtig, dass dieseLösung nicht eine pflegeleichte Lösung für die Softwareist, sondern eine hilfreiche Lösung für die Menschen.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die sienicht verstehen und dann machen sie Einsprü-che!)

Deswegen haben wir darauf bestanden, diese Zuver-dienstmöglichkeiten so früh wie möglich zu verbessern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es gab ein schwarzes Loch und es fehlte die Balancezwischen Fordern und Fördern an einigen Stellen. Wirstellen sie jetzt an dieser Stelle her.

Herr Brandner hat auf einen anderen Punkt hingewie-sen, der mir auch sehr wichtig ist: Die Finanzierung derFrauenhäuser ist jetzt sichergestellt, auch dann, wennFrauen vom Landkreis in die Städte ziehen. Das ist si-cher ein Fortschritt für die Frauen und die Frauenhäuser.

Wir haben mit der gesamten Hartz-Gesetzgebung aneinem großen Rad gedreht. Das ist wohl wahr. Einegroße Reform führt, auch weil die Bundesagentur fürArbeit eine große Institution ist, bei der wir viele Regelnverändert haben, in der Umsetzung zum Knirschen. Anvielen Punkten hakt es. Wir haben deswegen denOmbudsrat eingesetzt und hatten eine Hauptsteue-rungsgruppe; denn wir wollten sehr genau beobachten,wo es hakt und wo es knirscht. Der Ombudsrat hat jetzteinzelne Punkte in die Debatte gebracht, bei denen erÄnderungsbedarf sieht. Das sind Punkte, die wir vonAnfang an thematisiert haben.

Ein Punkt ist die Altersvorsorge. Natürlich legen dieMenschen etwas für die Altersvorsorge zur Seite. Diesmüssen sie auch dann behalten können, wenn sie arbeits-los werden. Es wäre geradezu unsinnig, ihnen das wiederwegzunehmen. Die Grünen haben dazu einen Vorschlaggemacht und ein Altersvorsorgekonto entwickelt, wel-ches das Ansparen für das Alter und die Situation in derArbeitslosigkeit erleichtert. Wir werfen das wieder in dieDebatte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Ombudsrat hat darauf hingewiesen, dass vieleEinsprüche im Zusammenhang mit der Anrechung desPartnereinkommens kamen. Das ist nahe liegend unddas ist etwas, das wir von Anfang an thematisiert haben.Sie von der Union wollten ja bei der Anrechnung nochweiter gehen. Sie wollten verhindern, dass wir die Ver-antwortlichkeit von Eltern gegenüber Kindern und vonKindern gegenüber Eltern bei Hartz IV auflösen. Wir ha-ben jetzt eine rigide Anrechnung des Partnereinkom-mens. Wir sollten auch dies auf den Prüfstand stellen,wie es der Ombudsrat fordert, und eine weniger starkeAnrechnung des Partnereinkommens anstreben. Es gibtzum Beispiel in Dänemark Regelungen, die das vorse-hen, und zwar ohne große Verwerfungen.

Ein weiterer Punkt betrifft Probleme der Kinder. Wirhaben in der Praxis gesehen, dass Kinder, die beispiels-weise in Bedarfsgemeinschaften leben, Schwierigkeitenbeispielsweise bezüglich der Teilhabe an Schulausflü-gen, kulturellen Angeboten und Ähnlichem haben. DieseProblematik müssen wir aufgreifen.

Vonseiten der Grünen haben wir bei der Hartz-Ge-setzgebung unser Modell der Kindergrundsicherung vor-geschlagen. Ich bin sehr froh, dass es teilweise, aber si-cherlich noch nicht weit genug – auch hier gibt esVerwerfungen – in die Gesetze eingeflossen ist. Der Om-budsrat macht auch darauf aufmerksam. Ich finde es gut,von dieser Seite her Unterstützung für grüne Vorschlägeund grüne Politik zu haben.

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Dr. Thea Dückert

Ein letzter Punkt, der auch in den letzten Tagen vomOmbudsrat thematisiert worden ist, betrifft das ThemaZentralismus bzw. Dezentralismus bei der Verwaltungvon Arbeitslosigkeit. In sämtlichen Arbeitsmarktgeset-zen lautet die ganz klare Linie Dezentralisierung. Das,was vor Ort passiert, muss ernst genommen werden. Inder Umsetzung – das wissen Sie auch – gibt es Pro-bleme. Es gibt Kommunen und Städte, in denen dasGanze wunderbar funktioniert, beispielsweise in Kölnoder Freiburg.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die ha-ben lange Erfahrung! Vorher schon!)

In Köln hat übrigens jetzt jeder Jugendliche ein Ange-bot; das finde ich sehr gut. Es gibt aber auch Landkreise,in denen immer noch die Idee des Zentralismus in denKöpfen vorherrscht. Diese müssen sich auf die Hinter-beine stellen, um nicht von der Bundesagentur für Arbeitoder den Institutionen gedeckelt zu werden.

Ich glaube, dass wir zukünftig sehr viel dafür tunmüssen, um vor Ort eine Zusammenarbeit auf Augen-höhe zu erreichen. Die Eingriffsmöglichkeiten der Bun-desagentur für Arbeit müssen zurückgefahren werden.Ich sage aber auch: Es ist keine Lösung, wenn entwederder eine oder der andere alleine arbeitet. Wir müsseneine vernünftige Kooperation vor Ort erreichen, in diedie regionalen Regelungen, die für die Langzeitarbeits-losen gut sind, aufgenommen werden, die damit eineChance auf Durchsetzung bekommen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Brandner, der Grund für Ihre Misserfolgebei den letzten Wahlen und für die aktuellen Schwierig-keiten, in denen Sie sich befinden, ist, dass es Ihnennicht gelungen ist, am Arbeitsmarkt nachhaltige Erfolgezu erzielen,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

von größeren und offeneren Märkten zu profitieren;denn dazu hätte es ein größeres Maß an Flexibilität amArbeitsmarkt gebraucht. Dazu waren Sie nicht bereit.Denn zu einem funktionierenden Arbeitsmarkt gehörtunter anderem auch ein funktionierender Niedriglohn-sektor, in dem Anreize zur Aufnahme einer Beschäfti-gung im ersten Arbeitsmarkt gesetzt werden. Das heißt,die Aufnahme, Herr Kollege Brandner, einer noch so ge-ring bezahlten Beschäftigung muss attraktiv gemachtwerden. Das war – zumindest hatte ich das damals soverstanden – auch das ursprüngliche Ziel der Zusam-menführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. DasALG II sollte einen stärkeren Anreiz zur Arbeitsauf-nahme setzen.

Das ist – wie man bei nüchterner Betrachtung feststel-len muss – bisher nicht gelungen. Zum einen, weil dieBundesagentur für Arbeit ihre Vermittlungstätigkeit fastgänzlich eingestellt hat. Anders kann ich das jedenfallsnicht nennen, wenn wir 2004 einen Durchschnitt von1,4 Vermittlungen pro Monat und Arbeitsvermittler hat-ten. Zum anderen sind die Hinzuverdienstgrenzen imgeltenden Recht zu kompliziert und vor allem unattrak-tiv. Derzeit werden ALG-II-Empfängern bei einem Ver-dienst bis 400 Euro 85 Prozent angerechnet.

(Klaus Brandner [SPD]: Wir haben im Ver-mittlungsausschuss nicht gemerkt, dass dieFDP das anders machen wollte!)

Das heißt, von 400 Euro verbleiben gerade einmal60 Euro, während, Herr Kollege Brandner, das Entgeltfür die 1-Euro-Jobs anrechnungsfrei bleibt. Das ist einenicht länger hinnehmbare Verzerrung zugunsten deszweiten und zulasten des ersten Arbeitsmarktes.

(Beifall bei der FDP)

Dass bei der jetzigen und aktuell geltenden Hartz-IV-Gesetzgebung Nachbesserungen erforderlich würden,war schon im letzten Jahr absehbar.

(Klaus Brandner [SPD]: Das hätten wir im Vermittlungsausschuss haben können!)

– Ja, die FDP hat schon im Vermittlungsverfahren, HerrKollege Brandner, höhere Freibeträge für Hinzuver-dienste gefordert.

(Klaus Brandner [SPD]: Sie waren nicht er-folgreich bei der Opposition! Sie haben dieUnion nicht überzeugt!)

Die rot-grüne Bundesregierung und die Union habensich nun geeinigt, die Hinzuverdienstgrenzen zu verän-dern.

(Klaus Brandner [SPD]: Die CDU hat Sie ab-gesägt, das wissen Sie doch!)

Für meine Fraktion will ich hier aber deutlich sagen:Auch die geplanten Änderungen werden künftig nichtausreichen. Beim konkurrierenden Instrument 1-Euro-Job wird nämlich die Mehraufwandsentschädigung im-mer noch nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet.Für jemanden, der einen 2-Euro-Job hat und 30 Stundenpro Woche arbeitet, sind monatlich 240 Euro zusätzlichzum Arbeitslosengeld II anrechnungsfrei.

Um nach den von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol-legen von Union, SPD und Grünen, vorgeschlagenenneuen Hinzuverdienstgrenzen auf denselben Betrag zukommen, muss man im ersten Arbeitsmarkt 850 Euroverdienen. Deswegen wiederhole ich: Die Anreize zurAufnahme einer Tätigkeit sind im Modell von SPD,Union und Grünen mit Freibeträgen von 20 Prozent imEinkommensbereich von 100 bis 800 Euro – übrigensauch nach Auffassung externer Experten; ich stehe mitdieser Meinung nicht alleine – immer noch zu gering.

(Beifall bei der FDP)

Ihr Vorschlag veranlasst die Menschen auch künftig, aufniedrigen Einkommensstufen zu verharren.

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Dr. Heinrich L. Kolb

Nach unserer Auffassung kann nur mit einem durch-gängig hohen Freibetrag ein wirksamer Anreiz für eineBeschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gesetzt werden.Nur mit hohen Freibeträgen kann auch Schwarzarbeitunattraktiv gemacht werden.

(Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie gesehen,wie die Schwarzarbeit von uns bekämpft wor-den ist? Das wissen Sie doch!)

Für die FDP-Bundestagsfraktion will ich an dieser Stelledeutlich sagen, Herr Brandner: Derjenige, der arbeitet,muss mehr Geld zur Verfügung haben, als der, der nichtarbeitet.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU])

Auch für den Niedriglohnsektor gilt: Wer mehr arbei-tet, muss mehr behalten können als derjenige, der weni-ger arbeitet. Das ist eine Schwäche Ihres Vorschlags,Herr Kollege Meckelburg; ich muss das hier so deutlichsagen.

Es gilt der alte Slogan: Arbeit muss sich lohnen. DieFDP hat einen einfachen und, wie ich meine, vernünfti-gen Vorschlage vorgelegt. Für Empfänger von Arbeits-losengeld II soll der Freibetrag bei einem Hinzuverdienstvon bis zu 600 Euro im Monat auf 40 Prozent angehobenwerden. Mit dem Bürgergeld der FDP, das wir auf unse-rem letzten Parteitag in Köln beschlossen haben, erhöhtsich bei einem Einkommen von 600 Euro das verfügbareEinkommen um 285 Euro. Von jedem verdienten Eurobleibt also gut das Doppelte als bisher. Das ist eine echteBelohnung für denjenigen, der sich um eine Wiederein-gliederung in den ersten Arbeitsmarkt bemüht. Mit die-ser Einschätzung stehen wir übrigens nicht allein: Nacheiner Auswertung des Instituts für Weltwirtschaft ver-bessert unser Bürgergeldmodell die Motivation von Ar-beitslosengeld-II-Empfängern bei geringem Einkommendeutlich stärker als das von Rot-Grün und Union verein-barte Modell.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von Schwarz, Rot und Grün, sich nicht mit demKompromiss aufhalten, zu dem sich erstaunlicherweiseniemand so recht bekennen will; Sie sollten vielmehr mitder Zustimmung zum FDP-Vorschlag den Weg für einenachhaltige und echte Reform des Niedriglohnsektorsfreimachen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär

Gerd Andres.

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Wirtschaft und Arbeit:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen,ist eine sinnvolle Weiterentwicklung der Arbeitsmarktre-

form der Bundesregierung. Die bisherige Zuverdienst-regelung war kompliziert und unlogisch. Sie geht aufdas segensreiche Wirken der Union – namentlich vonHerrn Ministerpräsident Koch – im Vermittlungsaus-schuss zurück. CDU und CSU haben aber jetzt mitgehol-fen, diesen Unsinn zu bereinigen, und ich begrüße es au-ßerordentlich, dass wir uns zusammengefunden haben,um die Zuverdienstregelung zu reformieren.

Ich will zunächst eine Bemerkung zu Herrn Kolb ma-chen. Ich habe bereits in der ersten Beratung gesagt, dassder Vorschlag der FDP völlig untauglich ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann haben Sie ihn nicht richtig gelesen!)

– Ich habe ihn richtig gelesen und auch verstanden. Ichweiß aber nicht, ob Sie ihn verstanden haben. – Denn IhrVorschlag würde nicht zur Vereinfachung des Verfahrensführen. Insofern ist unser Vorschlag deutlich besser. Wirsehen einen Freibetrag von 100 Euro vor. Für den Teildes monatlichen Einkommens, der diesen Betrag bis zueiner bestimmten Grenze übersteigt, gilt, dass 20 Prozentbehalten werden können. Das entspricht beispielsweiseeinem Zuverdienst von 160 Euro bei 400-Euro-Jobs.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So kompliziert ist § 11 Abs. 2 SGB II nicht!)

Der Freibetrag von 100 Euro gilt durchgängig. Wir voll-ziehen damit auch hinsichtlich der Arbeitsverhältnissemit Mehrbedarfsaufwand eine Anpassung, wie Sie zuRecht bemerkt haben.

(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

– Sie können zwar immer wieder dazwischenreden, aberes kann Sie sowieso keiner verstehen.

Das zweite Problem besteht darin, dass Sie keine De-ckelung vorsehen. Deswegen ist Ihr Vorschlag untaug-lich. Vielleicht weisen Sie auch Ihren arbeitsmarktpoliti-schen Spezialisten Niebel darauf hin,

(Klaus Brandner [SPD]: Der hat wohl heute keine Lust!)

dass schriftliche Vorlagen Hand und Fuß haben müssen.Ihr Vorschlag hat das auf alle Fälle nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will ausdrücklich sagen, dass es gut ist, dass wireine Regelung für die Frauenhäuser gefunden haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derCDU/CSU)

Wir regeln das nun gesetzlich – ich sage das mit ein biss-chen Bedauern –, weil sich ein Teil der Kommunen, die jaTräger der Leistungen sind, geweigert hat, eine Regelunganzuwenden, die ihnen der Deutsche Verein empfohlenhat und die wir bei den Arbeitsgemeinschaften längst um-gesetzt haben. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, inGesprächen auch mit der Union – das sage ich ausdrück-lich – zu einer schnellen und unkomplizierten Regelungzu kommen. Diese Neuregelung wird unmittelbar im

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Parl. Staatssekretär Gerd Andres

Monat nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten.Wir wollen, dass das Gesetz am 1. Oktober in Kraft tritt.Darüber hat es im Ausschuss Debatten gegeben; das willich gar nicht verschweigen. Die Koalitionsfraktionen ha-ben sich darauf verständigt, an diesem Termin festzuhal-ten. Ob man es umsetzen kann, bleibt abzuwarten.

Wenn ich hier für eine vernünftige Weiterentwicklungunserer Arbeitsmarktreform mit Augenmaß plädiere,dann ist das gleichzeitig eine Absage an viele, die mit ih-ren konzeptionslosen Forderungen dieser Arbeits-marktreform irgendeine neue Richtung geben wollen,weil sie angeblich keine Wirkung zeigt. Ein paar Vor-schläge, die seit der NRW-Wahl am vorletzten Sonntagdurch die Presse geistern, zeugen von derartiger Kon-zeptionslosigkeit. So will zum Beispiel Herr Pofalla eineverlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in Ab-hängigkeit von der Beschäftigungsdauer einführen.Abgesehen davon, dass das inhaltlich in die falscheRichtung führt, will ich Ihnen nur sagen: Die Arbeitsver-waltung registriert bislang nicht die Beschäftigungsdau-ern. Wir haben doch gerade Beschäftigungsdauern alsVoraussetzung mit Hartz III beseitigt und die Rahmen-frist von drei auf zwei Monate reduziert. Wir haben deut-lich entschlackt.

Die Umsetzung des Vorschlags von Herrn Pofallaführte dazu, dass künftig die Erwerbsbiografien der Ver-sicherten bei der Bundesagentur für Arbeit geführt wer-den müssen. Das hat mit weniger Aufwand überhauptnichts zu tun und führt im Übrigen zu Benachteiligungenvon Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiographien.Wenn man weiß, dass die Zahl solcher Beschäftigungs-verhältnisse in Zukunft zunehmen wird – es gibt nuneinmal nicht mehr das Dauerbeschäftigungsverhältnis,das sich dadurch auszeichnet, dass man mit 16 Jahreneingestellt wird und mit 65 Jahren ausscheidet; vielmehrmuss man heutzutage wechseln –, dann sollte man vor-her genau darüber nachdenken, welche Vorschläge manunterbreitet.

Wenn ich sehe, dass Herr Pofalla in einem Antrag mitdem Titel „Pakt für Arbeit“ vom Februar dieses Jahresnoch eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversi-cherung von derzeit 6,5 auf 5,5 Prozent vorschlägt – ersagt, es sei überhaupt kein Problem, dies zu finanzie-ren –, dann frage ich mich, wie er das alles in einer Stra-tegie zusammenfassen will.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Während der eine Vorschlag zu gewaltigen Mehrausga-ben führt – wenn Sie genau rechnen, werden Sie feststel-len, dass man ganz schnell bei 10 Milliarden Euro ist –,führt der andere Vorschlag betreffend die Senkung desBeitrags zur Arbeitslosenversicherung dazu, dass die Ar-beitslosenversicherung sehen muss, wo sie 11 MilliardenEuro herbekommt. So viel macht nämlich die Senkungdes Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um einen Pro-zentpunkt aus. Es wäre sinnvoll, wenn Sie das noch vorder Wahl erklären könnten; denn dann wüssten die deut-schen Wählerinnen und Wähler noch vor ihrer Wahlent-scheidung, was Sie so alles auf der Pfanne haben.

Dann hat Frau Lautenschläger, die hessische Sozial-ministerin, letzte Woche verkündet – auch das dient nurdazu, für Unklarheit zu sorgen und die Menschen zuverwirren –, dass jede Kommune, wenn die Union ge-winnen sollte, künftig das Recht bekommen solle, Lang-zeitarbeitslose in eigener Regie zu betreuen. Was giltdenn nun? Vielleicht können Sie von der Unionsfraktiondas einmal beantworten. Gilt nun das, was Sie im Ver-mittlungsausschuss mit breiter Zustimmung mit be-schlossen haben, oder gilt „rein in die Kartoffeln, rausaus den Kartoffeln“ nach dem Motto „Wenn wir gewähltwerden, ist alles völlig egal; wir hauen dann die Syste-matik kurz und klein“? So geht es nicht. Ich glaube, dasswir für unsere Reformen Zeit brauchen. Sie müssen um-gesetzt werden und wirken können. Im Hinblick daraufist Ihr Vorschlag kontraproduktiv.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Klaus Brandner hat völlig zu Recht darauf hingewie-sen, dass Hartz IV – das muss man sich einmal vorstel-len – gerade erst einmal seit fünf Monaten umgesetztwird. In Großbritannien hat man sich – ich habe gerademeinen britischen Amtskollegen besucht – für die Um-setzung des vergleichbaren Konzepts „Jobcenter plus“fünf Jahre gegeben. Der britische Staatssekretär im Ar-beitsministerium sagte: Wir gehen an die Angelegenheitsystematisch heran und stellen eine Region nach der an-deren um. In Deutschland denkt man folgendermaßen:Am 31. Dezember gilt noch das eine System und am1. Januar – siehe da, wir klatschen alle in die Hände! –gilt schon das andere System.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Theoretisch!)

Dass man Zeit braucht und dass es notwendig ist, dieUmsetzung dieser Reformanstrengungen voranzutrei-ben, halte ich für selbstverständlich. Man muss es derBevölkerung sagen. Wir sehen, dass sich in der Zwi-schenzeit Erfolge eingestellt haben. Um das zu erken-nen, muss man nur genauer hinschauen: Im Mai waren161 000 Menschen weniger als im April arbeitslos. Dasist ein saisonal bedingter Rückgang; aber er war vielstärker als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Von2000 bis jetzt hat der Rückgang von April zu Mai imDurchschnitt immer nur bei rund 140 000 gelegen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie sieht es denn im Jahresvergleich aus?)

– Ich werde gerade nach dem Jahresvergleich gefragt.Sie bekommen eine Antwort darauf. – Dabei muss manberücksichtigen, dass seit Dezember letzten Jahres fast400 000 ehemalige Sozialhilfeempfänger zusätzlich indie Arbeitslosenstatistik aufgenommen worden sind.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das reicht abernoch nicht! Die Zunahme der Arbeitslosigkeitist aber höher im Jahresvergleich!)

Das zeigt, dass dieser Entwicklung nicht nur saisonaleEinflüsse zugrunde liegen, sondern dass die Reformenschon ein wenig wirken.

Die Zahl der Erwerbstätigen steigt weiter. Zu dem,was Sie hier eben erzählt haben, möchte ich sagen: Man

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Parl. Staatssekretär Gerd Andres

muss sich wirklich an den Kopf fassen. Sie sagen: Es giltnur die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das istein entscheidender Punkt! Das sollten Sie alsGewerkschafter wissen!)

Was gilt denn nun? Sie tönen doch an jeder Straßenecke,dass wir mehr Selbstständige brauchen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

dass wir also mehr Menschen brauchen, die sich selbst-ständig machen und damit erwerbstätig sind, und dassdie Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnisse auf Dauer nicht so bleiben wird wiebisher.

Wenn das stimmt, dann ist die Erwerbstätigenstatistikeine ganz wichtige Größenordnung. Die Zahl der Er-werbstätigen steigt weiter. Mit rund 39 Millionen Men-schen waren im Mai 138 000 Personen mehr als im Maides Vorjahres erwerbstätig. Wir erreichen mit der Er-werbstätigenzahl von Monat zu Monat Rekorde in derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das mussman verfolgen; daran muss man arbeiten. Wir alle müs-sen ein Interesse daran haben, dass die Erwerbstätigkeitin unserem Lande weiter und zügig zunimmt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Ihr seid so erfolgreich, dass ihr abgewählt wer-det!)

Das erste Ziel unserer Arbeitsmarktreform bleibt,junge Menschen in Arbeit zu bringen. Mit aktuell568 000 jungen Menschen unter 25 in Arbeitslosigkeitliegen wir im Mai um fast 100 000 unter der Zahl vonApril. Ich sage Ihnen – diese Botschaft muss klar sein –:Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um zu er-reichen, dass am Ende dieses Jahres unter 25-Jährigemaximal drei Monate arbeitslos sind. Wir werden allesdaransetzen, den Rechtsanspruch umzusetzen und jungeMenschen mit einer Beschäftigung, mit einer Qualifika-tion, mit einer Ausbildung zu versorgen. Hier sind wirauf einem guten Weg. Auch in diesem Zusammenhangwirkt die Arbeitsmarktreform, die wir auf den Weg ge-bracht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Franz Müntefering [SPD]:Das ist besonders wichtig!)

– „Das ist besonders wichtig“, das sehe ich genauso.

Wir werden in unmittelbarer Zukunft ein Modellpro-jekt auf den Weg bringen – der Kanzler hat es schon an-gekündigt; das ist unsere letzte Maßnahme in diesemBereich in dieser Legislaturperiode –; dafür stehen250 Millionen Euro zur Verfügung. Wir wollen für50 Modellprojekte zur Beschäftigung Älterer sorgen.Das Verfahren sieht so aus, dass wir die Regionen auf-fordern, Vorschläge zu unterbreiten. Wir werden unsdiese Vorschläge anschauen. Die kreativsten, die bestenwerden entsprechend gefördert und das ganze Programmwird umgehend umgesetzt.

Wer genau hinschaut, der wird merken, dass dieHartz-Reformen wirken.

(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das werde ich Ihnen gleich mal vorrechnen!)

Ich empfehle insbesondere, einmal einen Blick auf dieArbeitslosenzahlen in Ostdeutschland zu werfen: DieZahl der Langzeitarbeitslosen dort entspricht fast wiederder im vergangenen Jahr. Das heißt, die Zusammenfas-sung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist dort weit-gehend so vorangeschritten, dass der durch die Umstel-lung der Berechnung entstandene Berg ein ganzes Stückeingeebnet ist. Ich bin ganz optimistisch, dass wir in dennächsten Monaten schrittweise vorankommen werden.

Freuen Sie sich nicht zu früh! Freude kann erst entste-hen, wenn der Wahltag abgelaufen ist. Wir werden mitallen Mitteln kämpfen und der deutschen Bevölkerungdeutlich machen, dass unsere Reformen sinnvoll, wich-tig und richtig sind.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Veronika

Bellmann.

Veronika Bellmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Staatssekretär Andres, wenn man Sie hört,dann kann man denken, die Hartz-Reform sei eine ein-zige Erfolgsgeschichte. Erzählen Sie das einmal den Be-troffenen. Die sehen das ganz anders

(Klaus Brandner [SPD]: Frau Bellmann, Sie haben doch zugestimmt!)

– Moment, Herr Brandner. Ihr Kollege Wendt hat sichim Ausschuss zu Recht des Satzes von Alexander Klugebefleißigt: In Gefahr und großer Not ist der Mittelwegder Tod.

Wenn man Kompromisse fasst, dann muss man auchdazu stehen. Sie haben gerade heute das beste Beispieldafür gegeben, wie politisch schlecht miteinander umge-gangen wird.

(Ute Kumpf [SPD]: So ein Quatsch, FrauBellmann! Wo haben Sie das Argumentierengelernt?)

Fortwährend haben Sie uns unsere Argumente vorgehal-ten. Wenn auch wir das machen würden, dann könntenwir zum Beispiel einmal über die Vermögensbehaltesprechen, die Sie runtergesetzt hatten und wir durch un-sere politische Argumentation wieder hoch gesetzt ha-ben. Lassen Sie uns nicht weiter darüber reden.

(Abg. Klaus Brandner [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Ich lasse keine Zwischenfragen zu.

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Veronika Bellmann

Ich bin sehr erfreut darüber, was die Kollegin Dückertgesagt hat. Noch vor Jahresfrist, als wir über Änderungs-bedarf bei Hartz IV gesprochen hatten, weil wir, bevores in Kraft getreten ist, schon einige Sachen gesehen hat-ten, die nicht in Ordnung waren, war bei Ihnen über-haupt kein Änderungswille vorhanden. Plötzlich ist erda. Das kann man als positiv betrachten; das machen wirauch. Denn in vielem ist Hartz IV nun einmal eine Fehl-konstruktion. Das einzige wirklich Gute daran sind derGrundsatz, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenle-gen, weil beides steuerfinanzierte Systeme sind, und derGrundsatz „Fordern und Fördern“.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Brandner?

Veronika Bellmann (CDU/CSU): Nein.

(Klaus Brandner [SPD]: Dann behaupten Sie aber auch keine Unwahrheiten!)

Dem Vorwurf an die Union, den günstigeren Regelun-gen zum Zuverdienst nicht zugestimmt zu haben bzw.nicht rechtzeitig zugestimmt zu haben, liegt etwas ande-res zugrunde. Wir hatten früher die Regelung, dass man165 Euro hinzuverdienen konnte. Deswegen ging derVerdienst auch nur bis 165 Euro und nicht weiter. Daswar kein Anreiz – weder für Arbeitnehmer noch für Ar-beitgeber –, etwas in diesem Bereich zu schaffen. DasFachleutevotum war daher auch, prozentuale Anrech-nungslösungen und einen Freibetrag zu schaffen. DieLösung, die im Anschluss daran gefunden wurde – dashaben Sie selbst gesagt –, war weder transparent genugnoch war sie unbürokratisch und einen Arbeitsanreiz ansich hat sie auch nicht geschaffen.

Deswegen ist es die richtige Entscheidung, die wirjetzt gemeinsam getroffen haben – vielleicht auch nochgerade rechtzeitig –, den Freibetrag pauschal auf100 Euro festzulegen und höhere prozentuale Anrech-nungen zu schaffen. Allerdings hätte ich mir bei dieserSache auch noch eine einfachere Lösung vorstellen kön-nen.

Die Kinderkomponente ist noch als positiv zu nennenund auch die Klarstellung der Regelung der Finanzie-rung bei der Problematik der Frauenhäuser.

Alle bisherigen Modellrechnungen zeigen uns, dassden betroffenen Hilfeempfängern tatsächlich mehr Zu-verdienst in der Tasche bleibt. Wir werden sehen, ob dieerhofften Vorteile eintreten, nämlich ein besserer Anreizfür Langzeitarbeitslose bei gering bezahlten Beschäfti-gungen, eine Senkung der Schwarzarbeit, Unterstützungder Familien und Bürokratieabbau.

Große Bedenken habe ich allerdings bei der Umset-zung. Das wurde schon bei der Diskussion im Ausschussdeutlich. Ich meine, normalerweise ist die Rechnung re-lativ einfach: 100 Euro Freibetrag, bis 800 Euro 20 Pro-zent Selbstbehalt und bis 1 200 Euro bzw. 1 500 Euro10 Prozent. Das klingt alles sehr einfach. Manche wür-den sagen, man könne es auch mit einer russischen Re-

chenmaschine durchrechnen. Aber allein die Softwaremacht uns einen Strich durch die Rechnung. Ich hoffenur, dass es die Betroffenen nicht so sehr trifft, dass siedann sagen: Das ist wieder das Gegenteil von gut ge-meint. Die neue Regelung ist zwar da, aber für uns nichtpraktikabel.

Wenn ich das alles so betrachte – gerade die Schwie-rigkeiten, die es noch mit der Software gibt –, dannkomme ich zu dem Schluss, dass die Optionsgemein-den das gesamte Thema Arbeitsmarktverwaltung besseranpacken als die Bundesagentur für Arbeit. Deswegenmöchten wir nach wie vor, dass es keine Begrenzung beiden Optionen gibt. Das heißt, wer sich als Kommunedazu willens und in der Lage fühlt, der soll diese Auf-gabe übernehmen dürfen.

Wir hatten in der letzten Woche ein Gespräch mit ei-nem Landrat aus Thüringen, der uns sehr anschaulichgezeigt hat, wie er damit umgeht. Ich glaube, in denKommunen ist man einfach näher dran.

Das gilt auch bei dem Thema der Zuverdienstregelun-gen. Er hat uns zum Beispiel gesagt, dass er bei sich alsLandrat einen Wirtschaftsbeirat hat. In diesem Wirt-schaftsbeirat sind auch Unternehmer tätig, die sich jetzt,nach Thematisierung der Zuverdienstregelungen, sicher-lich sehr viel mehr bemühen werden, auch solche Ar-beitsplätze zu schaffen, auf denen Arbeitnehmer und be-troffene Hilfeempfänger neue Zuverdienste erzielenkönnen.

Gleichzeitig hat er deutlich gemacht, dass schon inder Begrifflichkeit ein großer Unterschied zwischen derArbeitsverwaltung und den Kommunen besteht. Bei ihmheißt es zum Beispiel eben nicht „Kunde“ oder „Agen-tur“, sondern es heißt „Grundsicherungsamt“, weil es ei-gentlich um nichts weiter geht als darum, wirklich dieGrundsicherung zu gewährleisten.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Von Arbeitsvermittlung verstehen dienämlich nichts! Das ist das Problem!)

Bei ihm geht es um den Dienst am Hilfebedürftigen.

Die Antworten, die die Bundesagentur für Arbeit in-haltlich und methodisch gefunden hat, sind nicht mehrausreichend. Das wissen wir. Wir brauchen einfach Mit-arbeiter, die sich viel intensiver um die Vermittlungkümmern können und die den Leuten das Gefühl geben:Da ist jemand. Er nimmt mich an die Hand. Er verstehtmeine Situation. Er rechnet nicht nur nach Fallzahlen ab.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Von Arbeitsvermittlung verstehen dienichts!)

Ein Zitat vom Landrat Dr. Henning fand ich ganz in-teressant, in dem er beim Thema Vermittlung auch seineBürgermeister in die Pflicht nimmt.

(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind im Bundestag! Auch ist Ihre Zeit eigentlich schon um!)

Wir wissen, dass die so genannten 1-Euro-Jobs oder Ar-beitsgelegenheiten eine wichtige Möglichkeit sind, docheine Beschäftigung oder sinnvolle Betätigung zu finden,

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Veronika Bellmann

wenn auch sicherlich immer im Konflikt mit der gewerb-lichen Wirtschaft; aber es ist ein erster Ansatz.

Er sagte also: Ich sehe den Bürgermeister als Haupt-fürsorger in seiner Gemeinde. Ich erwarte von ihm, dasser in voller Verantwortung für die betroffenen Familienin seinem Umkreis handelt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ja. Danke schön für den Hinweis.

Er sagte weiter,

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass bei ihm im Grundsicherungsamt eine betriebsameAtmosphäre ist, aber doch ein sensibler und respektvol-ler Umgang der Mitarbeiter mit den Betroffenen gepflegtwird.

(Ute Kumpf [SPD]: Frau Bellmann, werden Sie Landrätin!)

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle noch etwas zu über-legen geben.

(Ute Kumpf [SPD]: Ihre Zeit ist um! Frau Bellmann, seien Sie ein bisschen kollegial!)

Wenn Sie schon so einen großen Änderungswillen ge-zeigt haben, dann sollten Sie vielleicht auch noch einmaldarüber nachdenken, beim Thema Optionsmodell eben-falls neu zu befinden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege

Brandner das Wort. – Frau Kollegin, Sie dürfen darauferwidern.

(Ute Kumpf [SPD]: Dann kann sie noch ein-mal vom Landrat erzählen!)

Dabei kann man immer noch einiges unterbringen.

Bitte.

Klaus Brandner (SPD): Frau Präsidentin, die Abgeordnete Bellmann hat in ih-

rer Rede gerade sinngemäß behauptet, dass Anträge derCDU/CSU auf höhere Altersfreibeträge für Langzeitar-beitslose als Schonvermögen abgelehnt worden sind.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein, das hat sie nicht gesagt!)

Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Koali-tion eine weitaus umfangreichere Freibetragsregelungbeschlossen hat, als im Existenzeingliederungsgesetz je-mals vorgesehen war. Ich will noch einmal deutlich sa-gen, dass in Ihrem Entwurf bis zu einem Alter von

45 Jahren überhaupt keine Freibeträge vorgesehen wa-ren, dass bis zu einem Alter von 50 Jahren 13 000 Eurovorgesehen waren und dass bis zu einem Alter von55 Jahren 15 500 Euro vorgesehen waren.

Ich will Ihnen jetzt sagen, welche Freibeträge von derKoalition beschlossen worden sind. Wir haben pro Per-son pro Lebensjahr einen Betrag von 200 Euro und einenGrundfreibetrag von 4 100 Euro vorgesehen. Das machtbei einem Alter von 45 Jahren einen Altersfreibetrag von18 000 Euro aus, bei einem Alter von 50 Jahren einenFreibetrag von 20 000 Euro und bei einem Alter von55 Jahren einen Freibetrag von 22 000 Euro. Hinzukommt die selbst genutzte Wohnung bzw. ein entspre-chender PKW.

Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass zumindestim Deutschen Bundestag nicht bekannt geworden ist,dass Sie sich per Gesetz für höhere Freibeträge einge-setzt haben.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Beim Kompromiss, Herr Kollege!)

Wir haben diese Regelung durchgesetzt. Von daherbitte ich Sie um Stellungnahme, wie Sie zu dieser Äuße-rung kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:Sie dürfen sich setzen, Herr Brandner! Daswar keine Zwischenfrage!)

Veronika Bellmann (CDU/CSU): Herr Kollege Brandner, ich habe mich nicht auf das

Gesetzgebungsverfahren

(Zurufe von der SPD: Ah!)

oder auf die vorliegenden Gesetzentwürfe, sondern aufunser Kompromissverfahren bezogen. Im Kompromiss-verfahren haben wir mit unserer Argumentation erreicht,dass die Grenzen nach oben geschoben wurden.

(Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD:Wovon träumen Sie nachts? – VeronikaBellmann [CDU/CSU]: Von Ihnen bestimmtnicht! Da würde mir schlecht!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es geht heute um Hartz IV. Es geht darum, dass Lang-zeitarbeitslose, also Empfängerinnen und Empfängervon Arbeitslosengeld II, mehr hinzuverdienen könnenals bislang zugelassen. Die PDS im Bundestag wird demzustimmen. Natürlich werden wir nicht Nein sagen,wenn es um Erleichterungen für Hartz-IV-Betroffenegeht. Ich sage Ihnen aber zugleich, die Erleichterungen,um die es heute geht, beseitigen bei Hartz IV nicht ein-mal die unsoziale Spitze, geschweige denn die unge-rechte Philosophie.

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Petra Pau

Nun soll es ja bekanntlich Neuwahlen geben. Wennich den Bundeskanzler und den KapitalismuskritikerMüntefering richtig verstanden habe, geht es ihnen dabeium eine Volksabstimmung über ihre Agenda 2010 nebstHartz IV. Ich finde das gut und demokratisch. Sie kön-nen sicher sein, wir werden so viele Bürgerinnen undBürger wie möglich ermutigen, an dieser Volksabstim-mung teilzunehmen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und Oskar erst!)

Natürlich läuten längst die Wahlkampfglocken. Soverspricht Thüringens Ministerpräsident Althaus zumBeispiel Nachbesserungen bei Hartz IV, vorausgesetzt,die CDU/CSU gewinnt die Bundestagswahl. Nun habeich von Frau Merkel dazu noch nichts gehört, jedenfallsnichts Gutes. Ich weiß nur aus dreijähriger Erfahrung,dass der gesamte rot-grüne Sozialabbau einschließlichHartz IV der CDU/CSU bislang stets zu lasch war. Wennvon daher CDU-Minister meinen, sie würden wollen,wenn sie denn gewännen, dann kann ich sie nur auffor-dern: Wollen Sie doch jetzt! Vielleicht gewinnen Siedann auch die Bundestagswahl. Das wäre zumindestglaubwürdig. Aber genau das tun Sie nicht.

Anders verhält sich übrigens das Berliner Abgeord-netenhaus. Es hat sich gestern erneut mit Hartz IV be-fasst. Beide Regierungsparteien, die SPD und die PDS,haben dem rot-roten Senat ein klares Mandat für eineBundesratsinitiative erteilt:

Die Zuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeits-lose sollen deutlich erhöht werden, und zwar stärker, alsRot-Grün und die Union es heute zugestehen.

Der Arbeitslosengeld-II-Regelsatz soll bundesweiteinheitlich gestaltet und angehoben werden, also ohnedie soziale Mauer, die die Bundespolitik bestimmt.

Auch Ausgegrenzte, die kein Arbeitslosengeld II er-halten, sollen durch beschäftigungspolitische Maßnah-men gefördert werden.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist ungerecht!)

Die private Altersvorsorge soll bei der Anrechnungzum Arbeitslosengeld II besser geschützt werden, damitHartz IV nicht Altersarmut potenziert.

Schließlich sollen die Kompetenzen und Zuständig-keiten zwischen der Agentur für Arbeit und den Kom-munen eindeutiger geregelt werden.

Die Bundesregierung will das bislang nicht und dieOpposition zur Rechten lehnt das grundsätzlich ab. Siehaben offensichtlich andere Pläne.

Die PDS im Bundestag befürwortet die rot-rotenPläne aus Berlin. Wir kennen nämlich aus unserer tägli-chen Arbeit und aus unseren Sprechstunden die Sorgenund Nöte der Hartz-Betroffenen, im Übrigen nicht nurdiese, sondern auch die von manchen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern der Arbeitsgemeinschaften und Arbeits-agenturen, die sich trotz des schlechten Gesetzes mühen,eine gute Arbeit zu machen. Deshalb werden wir auchnicht müde, auf unsere Alternativen, auf unsere „Agendasozial“ zu verweisen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Fuchs.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als icheben Herrn Andres zugehört habe, habe ich den Ein-druck gewonnen, dass er bar jeder Realität lebt. Er sagtebeispielsweise, dass für Jugendliche bis zum Jahresendeein Rechtsanspruch auf Arbeit durchgesetzt werdensollte, scheint dabei aber die Zahlen völlig vergessen zuhaben. Zurzeit gibt es 568 000 Jugendliche, die keinenArbeitsplatz haben und auf einen solchen warten. Dassind, nebenbei bemerkt, 111 000 mehr als letztes Jahr.Das zeigt, wohin Ihre Politik geführt hat.

Wir haben ein weiteres Problem: Die gesamte Situa-tion der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten istso miserabel, dass keine Hoffnung auf Besserung derLage am Arbeitsmarkt in Sicht ist. Daran ist Ihre Politikschuld. Sie sollten einsehen, dass Sie niemand anderendafür verantwortlich machen können.

Ich habe auch kein Verständnis dafür, Herr Andres,wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, der KollegePofalla würde ja sogar noch bei der Verlängerung desBezugs von Arbeitslosengeld drauflegen. Jawohl, derKollege Pofalla hat Recht. Ich sage Ihnen: Das ent-spricht auch meinem Menschenbild und dem christli-chen Menschenbild meiner Partei.

(Zuruf von der SPD: Pharisäer!)

Es für mich nicht gerecht, jemanden, der mehr als40 Jahre lang gearbeitet hat, auf die gleiche Stufe zu stel-len wie jemanden, der 25 Jahre alt ist und gerade daserste Mal arbeitslos geworden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf[SPD]: Was sagen Sie dann den Frauen, HerrKollege?)

Er muss auch etwas von den vielen Jahren, die er indiese Versicherung eingezahlt hat, haben. Ich halte dasfür notwendig und richtig.

(Ute Kumpf [SPD]: Ganz schön frauenfeind-lich!)

Wenn Sie dann sagen, das könne man nicht organisie-ren, dann tun Sie mir Leid. Wissen Sie nicht, dass es eineRentenversicherung gibt, in der all diese Zeiten aufge-führt sind? Das ist sehr einfach zu organisieren. Die Zah-len sind vorhanden, man kann sie abgreifen. Das wäreüberhaupt kein Problem. Herr Andres, Sie sollten da-rüber einmal nachdenken. Das zeigt aber, wie praxisfernGewerkschaftssekretäre denken. Sie kennen die Arbeits-plätze nicht mehr und wissen auch gar nicht, was aufdem Arbeitsmarkt passiert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mich macht es betroffen, wenn ein Mann, der 35 Jahrelang geschafft hat, mit 50 Jahren arbeitslos wird. Dem

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Dr. Michael Fuchs

sollten wir bitte etwas mehr helfen als dem jungenMann, der mit 25 gerade das erste Mal arbeitslos wird.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Der vielleicht Kinder und gerade des-halb Probleme hat!)

Aber zurück zu dem uns heute hier vorliegenden Ge-setzentwurf zu den verbesserten Hinzuverdienstmög-lichkeiten: Ich halte das für gut. Es muss aber trotzdemimmer wieder gelten, dass wir erstens das Lohnabstands-gebot beachten und zweitens dafür sorgen, dass die Ar-beit auf dem ersten Arbeitsmarkt immer im Vordergrundsteht. Wir müssen sehr genau aufpassen, dass hier nichtgenau das Gegenteil passiert, nämlich dass die Arbeitauf dem zweiten Arbeitsmarkt mehr gefördert wird alsdie auf dem ersten.

Es ist auch dringend notwendig, dass wir bei den1-Euro-Jobs aufpassen. Die 1-Euro-Jobs, Herr KollegeBrandner, die wir eingeführt haben, führen in vielen Be-reichen schon dazu, dass Arbeit in die falsche Richtunggelenkt wird.

(Klaus Brandner [SPD]: Da werden sie miss-braucht!)

Wenn es obendrein auch noch so ist, dass derjenige, dereinen 1-Euro-Job hat, besser dasteht als jemand, der überALG II und Zuverdienst arbeitet, dann ist das mit Si-cherheit eine Fehllenkung.

(Klaus Brandner [SPD]: Das ist dann Miss-brauch, das wissen Sie!)

Leider ist mir aufgefallen, dass das, was wir gemeinsamgemacht haben – ich sage durchaus, dass wir das ge-meinsam gemacht haben –, ein Fehler geworden ist;denn in vielen Kommunen wird wegen der klammenLage, die Sie allerdings auch zu verantworten haben, der1-Euro-Job missbraucht. Das führt dazu, dass Arbeits-plätze im regulären Arbeitsmarkt gefährdet sind. Die Be-gründung dafür ist natürlich darin zu sehen, dass Sie dieHaushaltslage dahin gesteuert haben, wo sie jetzt ist.

Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Jahrannähernd 60 Milliarden Euro strukturelles Defizit zuerwarten. Dieses Defizit werden Sie uns am 18. Sep-tember als Mitgift übergeben. Ich sage Ihnen voraus:Wir werden Sie aus dieser Verantwortung nicht entlas-sen.

(Jörg Tauss [SPD]: Brauchen Sie auch nicht!)

Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern in diesemWahlkampf sehr genau beweisen, wer die Situation soverfahren hat, wie sie verfahren ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Verehrter Herr Andres, Sie sprachen eben davon, dassHartz IV eine solche Erfolgsgeschichte sei und Wunderin diesem Lande bewirkt hätte. Ich darf zur AuffrischungIhrer Erinnerung das eine oder andere dazu sagen undwäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir folgen könnten.

Erstens. Jährlich 350 000 neue sozialversicherungs-pflichtige Jobs über die Personal-Service-Agenturenwurden uns versprochen. Das wären 1 Million Jobs in

drei Jahren. Wie viele sind es geworden, Herr Andres?Ganze 26 000.

Zweitens. Sie haben uns die Ich-AGs als Wunder-waffe versprochen. Herr Hartz hat gesagt – der Bundes-kanzler hat das begeistert angenommen –, es gäbe proJahr 500 000 neue Selbstständige. 500 000 mal drei wä-ren 1,5 Millionen. Wie viele sind es? Im Mai 2005 – umIhnen die genaue Zahl zu nennen – waren es 235 000.Versprochen, gebrochen: 1,5 Millionen zu 235 000. Sogehen Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern um. Sie be-lügen die Bürgerinnen und Bürger von vorne bis hinten.Sie erzählen große Stücke und haben kurz vor der Wahldiese 1,5 Millionen angekündigt. Was ist dabei heraus-gekommen? 235 000.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein weiterer Beweis. Kapital für Arbeit, der be-rühmte Jobfloater: 360 000 neue Jobs sollten geschaffenwerden.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Abgeordneten Andres?

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Aber gerne doch, das verlängert meine Redezeit.

Gerd Andres (SPD): Herr Dr. Fuchs, da Sie mich hier persönlich der Lüge

bezichtigt haben,

(Dr. Rainer Wend [SPD]: Das entspricht dem christlichen Menschenbild der Union!)

wollte ich Sie Folgendes fragen. Als gelernter Apothekerund langjähriges Vorstandsmitglied der Bundesvereini-gung der Deutschen Arbeitgeberverbände sind Sie dochsicherlich in der Lage, zu unterscheiden, wer wo was zu-gesagt hat. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dassich diese Zahlen so nicht gebraucht habe und dass ichbeispielsweise die Ich-AG für eine außerordentliche ar-beitsmarktpolitische Erfolgsgeschichte halte? Sie rech-nen sich irgendwelche Zahlen zusammen, die Sie mirnicht in die Schuhe schieben können. Würden Sie daszur Kenntnis nehmen und bestätigen?

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Ich kann gerne zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege

Andres, dass Sie diese Zahlen nicht selbst gemacht ha-ben, sondern Ihr Herr Hartz sie zusammen mit IhrerBundesregierung gemacht hat. Aber Sie sind, soweit ichinformiert bin, bis jetzt noch Mitglied dieser Bundesre-gierung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb sind Sie für Zahlen verantwortlich, die HerrHartz gemacht hat

(Lachen bei der SPD)

und die Sie den Bürgerinnen und Bürgern als Faktenvorgestellt haben. Der Bundeskanzler hat doch im Fran-zösischen Dom, unweit von hier, gestanden, zum

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Dr. Michael Fuchs

Himmel geschaut und geglaubt, er könne mit diesenZahlen irgendetwas bewirken. Sie können doch nicht sa-gen, es sei eine Erfolgsgeschichte, wenn von den ange-kündigten 1,5 Millionen 235 000 tatsächlich eine Ich-AG gegründet haben. Das können Sie doch nicht ernst-haft meinen. Sie haben schließlich gesagt, es würden1,5 Millionen Ich-AGs gegründet. Das ist doch ein Un-terschied.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kolle-

gen Andres?

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Aber gerne.

Gerd Andres (SPD): Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass der

Bundeskanzler bei der Veranstaltung im FranzösischenDom überhaupt nicht zugegen war?

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Aber er hat doch – –

Gerd Andres (SPD): Darf ich wenigstens meine Frage zu Ende stellen,

Herr Dr. Fuchs? Das wäre nett von Ihnen; ich lasse michja von Ihnen hier auch laufend als Lügner beschimpfen.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Das habe ich nicht getan.

Gerd Andres (SPD): Doch. Lesen Sie Ihre Rede nach! Sie haben gesagt,

ich hätte gelogen. Deswegen frage ich Sie, ob ich dieseZahlen irgendwo benutzt habe.

Ich sage Ihnen noch einmal: Ich glaube, dass die Ich-AG als arbeitsmarktpolitisches Instrument eine außeror-dentliche Erfolgsgeschichte ist. Wir fördern rund500 000 Menschen, die sich selbstständig machen, ausder Arbeitslosenversicherung. Das zeigt, dass das eineaußerordentliche Erfolgsgeschichte ist. Ich wollte Sieeinfach nur fragen, ob Sie das verstehen oder nicht.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Nein. Ich bleibe bei meiner Aussage, Herr Andres: In

Ihrem Programm zur letzten Wahl ist von 1,5 MillionenIch-AGs die Rede. Erreicht haben Sie 235 000. BleibenSie doch bei der Wahrheit! Genau das ist doch keine Er-folgsgeschichte, wenn Sie vorher den Wähler habenglauben machen wollen, dass er auf diese Art das Pro-blem der Arbeitslosigkeit gelöst bekommt. Sie haben da-mals im Französischen Dom versprochen – wieder ver-sprochen und gebrochen –, dass mit den Hartz-Reformendie Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren um2 Millionen verringert würde. Lesen Sie dazu bitte HerrnHartz und Herrn Bundeskanzler nach. Als Mitglied derBundesregierung sollte Ihnen das bekannt sein. Die Ar-

beitslosigkeit ist um 1 Million gestiegen. Das bedeutetein Saldo von 3 Millionen. Das können Sie doch hiernicht wegdiskutieren. Glauben Sie doch nicht, dass dieBürgerinnen und Bürger so dumm sind, dass sie dasnicht merken!

(Beifall bei der CDU/CSU – Zustimmung des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

Fest steht eins: Wir müssen Arbeitsplätze im erstenArbeitsmarkt schaffen. Es gibt noch 26,13 Millionen so-zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im ersten Ar-beitsmarkt. Nebenbei gesagt ist das der Stand März;wahrscheinlich sind die Zahlen heute schon wiederschlechter. Mit diesen Arbeitsplätzen sollen 70 Millio-nen Versicherte finanziert werden. Erklären Sie mir ein-mal, wie das in der Zukunft funktionieren soll!

Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Gott sei Dankwerden wir in Bälde die Möglichkeit dazu haben und dasGanze dann in eine andere Richtung bewegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – MichaelHartmann [Wackernheim] [SPD]: Haben Sieauch Vorschläge?)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe damit die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnis-ses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zurNeufassung der Freibetragsregelungen für erwerbsfähigeHilfebedürftige auf Drucksache 15/5446 (neu). Der Aus-schuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 15/5607, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSUund der Abgeordneten Pau bei Enthaltung der FDP ange-nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in dritter Lesung mit dem eben festgestelltenStimmenverhältnis angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaftund Arbeit auf Drucksache 15/5607 zu dem Antrag derFraktion der FDP mit dem Titel „Hinzuverdienstmög-lichkeiten zum Arbeitslosengeld II im Interesse einerBeschäftigung im ersten Arbeitsmarkt verbessern“. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/5271abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlungdes Ausschusses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gegen die

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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Stimmen der FDP bei Enthaltung der Abgeordneten Pauangenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten WolfgangBosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl(Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU

Abschiebehindernisse beseitigen

– Drucksachen 15/3804, 15/5193 –

Berichterstattung:Abgeordnete Rüdiger Veit Reinhard Grindel Josef Philip Winkler Dr. Max Stadler

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten WolfgangBosbach, Hartmut Koschyk, Dr. Norbert Röttgen,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU

Konsequente Abschiebung ausländischer Ex-tremisten sicherstellen

– Drucksachen 15/1239, 15/5525 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Reinhard Grindel Josef Philip Winkler Dr. Max Stadler

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Abgeordnete Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zugegeben: Es ist ja ein bisschen schwer, der Bundes-regierung und der sie tragenden rot-grünen Koalition inFragen der Sicherheits- und Migrationspolitik am Zeugzu flicken. Die meisten Gesetze aus diesem Bereich ha-ben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus derUnion, mit beschlossen. Also probieren Sie es einmalmit der Methode, irgendwie die Schraube noch ein Stückweiterzudrehen – übrigens mit geringen Erfolgsaussich-ten.

Die beiden Anträge, über die wir heute Mittag befin-den, sind allerdings besonders untaugliche Versuche. Ichmöchte kurz erklären, warum. Teils fordern Sie Dinge,die schon getan sind; teils schießen Sie übers Ziel hi-naus; teils nehmen Sie längst bewältigte Probleme wieden Fall Metin Kaplan nur noch als Vorwand für Ihrenleider aktuell geplanten Feldzug gegen die bevorstehen-den Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei.

Ich weiß, dass der Antrag vom Juni 2003 veraltet ist.Aber warum bequemen Sie sich dann nicht dazu, ihn derMottenkiste anzuvertrauen? Sie tun dies nicht, weil Sieihn heute und in den kommenden Wochen offenbar zurStimmungsmache nutzen wollen. Zum Glück stehen Siedamit isoliert da. Nicht nur SPD und Grüne, sondernauch die Freien Demokraten werden beide Anträge ab-lehnen. Und das ist auch gut so.

Der Fall Kaplan – dies nur zur Erinnerung – hat biszur Abschiebung – kein Zweifel – mühselige und ärger-liche Auseinandersetzungen wegen vielfacher Gerichts-urteile gekostet. Aber auch ein Kaplan, so widerwärtiguns sein Denken und sein Handeln sein mögen, hat einenAnspruch auf menschenwürdige und rechtsstaatliche Be-handlung. Außerdem haben wir eine unabhängige Justiz,deren Entscheidungen man zwar kritisieren kann, dieman aber respektieren muss.

Nun zu Ihrem neueren Antrag unter der Überschrift„Abschiebehindernisse beseitigen“. Natürlich brauchtman überhaupt nicht darum herumzureden, dass mancheAusländer es darauf anlegen, ihre Ausreise zu verzögernoder zu verhindern. Deshalb haben wir ja im Zuwande-rungsgesetz festgelegt, dass zwischen denen, die nichtausreisen wollen, und denen, die ohne eigenes Verschul-den nicht ausreisen können, deutlich unterschieden wer-den muss.

Was ist im neuen Gesetz alles vorgesehen bzw. waswurde auf europäischer Ebene in Angriff genommen?Ich nenne die wesentlichen Maßnahmen: Mithilfe einerFundpapierdatenbank sollen aufgefundene Papiere pass-losen Ausländern leichter zugeordnet werden.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die hätte es ohne uns nicht gegeben!)

– Herr Kollege Grindel, das stimmt nicht. – „Ausreise-zentren“ sollen die Rückkehrbereitschaft fördern. Fal-sche Angaben zur Identität oder Staatsangehörigkeitwerden unter Strafe gestellt. Wer seine Aufenthaltsdauermit Tricks zu verlängern versucht, erhält nach dem Asyl-bewerberleistungsgesetz nur abgesenkte Leistungen. Inskünftige EU-Visum-Informationssystem werden biomet-rische Daten aufgenommen, um Personen sicherer zuidentifizieren. Zudem gibt es zahlreiche Rückübernah-meabkommen, bilateral und auf Ebene der EU.

Sie merken: Der Katalog gesetzlicher Handhabe istumfassend. So ganz leugnen können Sie dies nicht. Des-halb ist in Ihrem Antrag von „intensiveren“ oder „ein-dringlicheren“ Bemühungen die Rede. Die Formulie-rung im Komparativ zeigt, dass Sie zugestehen: Esgeschieht allerhand.

Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Länderdie gesetzlichen Regelungen nutzen – unter Wahrung ei-nes rechtlich einwandfreien und humanitär verantwor-tungsvollen Vollzugs, versteht sich. Dazu lieferte nunleider der Hamburger Innensenator Udo Nagel ein trauri-ges Beispiel. Wie er erst vollmundig verkündete, Ham-burg beginne jetzt als erstes Land mit der Rückführungvon Afghanen

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja, Gott sei Dank!)

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Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast

– ich sage gleich, wie das abgelaufen ist, falls Sie diesnicht gelesen haben sollten –, wie dann die einen Asyl-anträge stellten, ein anderer eine Deutsche heiratete undwieder ein anderer länger als sechs Jahre in der Bundes-republik lebte, also nicht unter den Personenkreis dererfiel, die abgeschoben werden sollen, oder wie das Manö-ver einfach an einer ausgebuchten Maschine nach Kabulscheiterte! Das alles zeigt, wie man es nicht machen soll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich nutze den Anlass unserer heutigen Debatte zudem Appell an die Länderinnenminister, dass sie auf ih-rer Konferenz am 23. und 24. Juni für lange hier le-bende, sozial integrierte afghanische Familien dauer-hafte Bleibemöglichkeiten und beim Pro und Kontra derRückkehr ethnischer Minderheiten in das Kosovo behut-same, humanitär geprägte Lösungen finden mögen. Dasist mein herzlicher Appell.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. MaxStadler [FDP])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand redet einerblauäugigen Großzügigkeit das Wort. Vor Extremistenmüssen wir uns schützen. Das Zuwanderungsgesetz, dasdie Lehren aus dem 11. September 2001 durchaus nach-zeichnet, sieht tragfähige Lösungen vor. Bei Unterstüt-zung des Terrorismus, Aufruf zu oder Androhung vonpolitisch motivierter Gewalt wird ein Aufenthaltstitelversagt. Das Verbot der Abschiebung von politisch Ver-folgten, die die Sicherheit der Bundesrepublik gefähr-den, wird eingeschränkt. Das Staatsangehörigkeitsgesetzsieht nun vor einer Einbürgerung die Regelanfrage beimVerfassungsschutz vor. Wir brauchen daran nichts zuverschärfen. Das ist noch ein Grund mehr, Ihre Anträgeabzulehnen.

Ein anderer Aspekt in Ihrem Forderungskatalog alar-miert mich allerdings mehr. Sie sprechen davon – ich zi-tiere –, „die Abschiebungsschutzvorschriften der aktuel-len Herausforderung anzupassen“. Sie wollen überprüftwissen, ob die Schutzpflichten, die sich aus der europäi-schen Menschenrechtskonvention ergeben, in Über-einstimmung mit den Sicherheitserfordernissen Deutsch-lands gebracht werden können. Ich finde das ganz schönverbrämt ausgedrückt. Im Klartext stellen Sie nämlichoffenbar die Grundprinzipien der europäischen Men-schenrechtskonvention infrage. Das sollten Sie dannaber auch deutlich sagen. Von mir hören Sie ebensodeutlich, dass wir gar nicht daran denken, internationalevölkerrechtliche Verpflichtungen auf den Prüfstand zustellen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und beider FDP)

Wir sind uns doch hoffentlich darin einig: Die Stärkeder Demokratie erweist sich darin, dass sie angesichtsterroristischer Bedrohung das Notwendige für Schutzund Sicherheit tut, ohne aber die Prinzipien des freiheit-lichen Rechtsstaates aufzuweichen.

Vielleicht ist dies eine der letzten ausländerpoliti-schen Debatten, die wir in der laufenden Legislaturpe-riode führen. Für mich ist es höchstwahrscheinlich dieletzte, weil ich nicht wieder kandidiere. Ich wünsche mirfür die Zukunft, dass dieses Thema nicht mehr oder zu-mindest nicht zu sehr polarisiert. Es muss doch möglichsein, die Probleme, aber auch die Chancen der Migrationbeim Namen zu nennen. Jawohl, es gibt Missbrauchbeim Aufenthaltsrecht; aber wir tun doch viel dagegen.Jawohl, es gibt Ausländerkriminalität; aber es gibt kei-nen statistischen Beleg dafür, dass ausreisepflichtigeAusländer besonders häufig straffällig werden. Jawohl,Ausreisepflichtige müssen unser Land verlassen, wennes rechtsstaatlich zu verantworten ist.

Es muss doch möglich sein, dass man sich darauf ver-ständigt, sachlich aufzuklären,

(Jörg Tauss [SPD]: „Sachlich“ ist bei denen nicht drin!)

statt zu polemisieren. Die Menschen brauchen auch undgerade in der Ausländerpolitik Information statt Agita-tion. Es geht immer um Menschen, um das Zusammenle-ben, das friedliche Zusammensein, um Toleranz und da-rum, sich aufeinander zuzubewegen. Weder die sogenannten Gutmenschen noch die Scharfmacher sind dabesonders hilfreich. Sehen wir doch zu – ich hoffe es im-mer noch für die Zukunft –, dass wir endlich aus diesemLagerverhalten, aus diesen beiden Gräben herauskom-men!

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und desAbg. Dr. Max Stadler [FDP])

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wenn es denn

stimmt, dass das Ihre letzte Rede war, dann will ich Ih-nen im Namen des Hauses sehr herzlich für Ihre vielfäl-tige Tätigkeit danken und Ihnen alles Gute wünschen.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ole Schröder.

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich schließe mich selbstverständlich dem Dankund den guten Wünschen für unsere Ausschussvorsit-zende Frau Sonntag-Wolgast an.

Zu unseren beiden Anträgen. Deutschland galt bisher– das ist allen bekannt – in erster Linie als Vorberei-tungs- und Rückzugsraum für Terroristen. Das alleine istschon schlimm genug. Doch die bisher aufgedeckten is-lamistischen Strukturen und deren Vernetzung mit denTerrororganisationen machen deutlich, dass Deutschlandauch das Ziel von zukünftigen Anschlägen geworden ist.Im jüngsten Verfassungsschutzbericht wird darauf hin-gewiesen, dass auch Deutschland im Zielkreuz des Ter-rornetzwerkes al-Qaida steht.

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Dr. Ole Schröder

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ein mögliches Ziel! Das ist eineBinsenweisheit!)

Das Gefährdungspotenzial ist enorm: Etwa30 000 islamistische Extremisten leben in der Bundes-republik Deutschland, von denen ein erheblicher Teil alsgewaltbereit einzustufen ist. Der internationale Terroris-mus ist eine epochale Bedrohung; darüber sind wir unsim Klaren. Auf absehbare Zeit wird die Verhinderungvon Anschlägen die ganz große Herausforderung der Re-gierung und unserer Behörden darstellen. Die Schluss-folgerungen hieraus sind klar: Wir müssen den Glau-bensterrorismus noch entschiedener bekämpfen, als esvon Rot-Grün bisher getan wurde.

(Jörg Tauss [SPD]: Wer hat denn Kaplan abge-schoben? Bei Ihnen ist er willkommen gewe-sen! Wir haben ihn abgeschoben!)

Die von CDU und CSU unterstützten Sicherheits-pakete I und II und auch das Aufenthaltsgesetz habenVerbesserungen gebracht; auch das muss deutlich gesagtwerden.

(Jörg Tauss [SPD]: Erst möglich gemacht!)

Aber die wesentlichen Verbesserungen gehen auf dieInitiative der CDU/CSU-Fraktion und der unionsgeführ-ten Länder zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)

Doch wir konnten uns nicht mit allen Forderungendurchsetzen. Es bestehen weiterhin Sicherheitslücken,für die der Bundesinnenminister und vor allen Dingendie grüne Koalition verantwortlich sind.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Oh, die „grüne Koalition“? –Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Finde ich gut, dass Sie erkannt ha-ben, dass es eine grüne Koalition ist!)

Meine Damen und Herren, anhand von vier Fragenmüssen wir prüfen, ob wir unseren Bürgern wirklich dengrößtmöglichen Schutz vor dem Terrorismus bieten:

Erstens. Wie können wir die Einreise von Terroristenverhindern?

(Jörg Tauss [SPD]: Durch Verbot! Wir sagen einfach, sie dürfen nicht kommen!)

Zweitens. Wie schaffen wir es, Terroristen, die sich inDeutschland befinden, schneller abzuschieben?

Drittens. Was machen wir mit Extremisten, die sich inDeutschland aufhalten, die wir aus Gründen der Rechts-staatlichkeit aber nicht abschieben können, beispiels-weise weil ihnen im Zielland Folter droht?

Viertens. Wie erhalten wir Informationen über die ter-roristischen Netzwerke, wie erhalten wir Informationenüber deren gefährliche Pläne?

Zur ersten ganz konkreten Frage: Verhindern wirwirksam die Einreise von Extremisten?

(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)

Hier macht Rot-Grün genau das Gegenteil mit seinerVisapolitik. Ich denke, der Visa-Ausschuss hat eindeu-tig gezeigt,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Zurufe von der SPD: Oh! – Josef PhilipWinkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dasmüssen Sie erst einmal in Ihren Bericht rein-schreiben! Erstellen Sie erst einmal Ihren Be-richt! – Silke Stokar von Neuforn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Eindeutig waren nurIhre Unterstellungen!)

welches Sicherheitsrisiko der grüne Außenminister fürunser Land darstellt. Das ist mittlerweile Allgemeinwis-sen. Der rechtswidrige Fischer/Volmer-Erlass hat dafürgesorgt,

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zur Sa-che!)

dass Tausende Kriminelle und auch Extremisten insLand gekommen sind.

Noch vor knapp einem Jahr hat BundesinnenministerOtto Schily hier an dieser Stelle zu diesem Antrag in ers-ter Lesung behauptet – ich zitiere –:

Die Visaerteilung ist unsere freie Entscheidung.

Da hat er noch Recht. Und weiter:

Intern findet eine sehr sorgfältige Prüfung statt.

Ob der Bundesinnenminister über die Missstände Be-scheid wusste – was ja schon schlimm genug wäre –oder ob der Bundesinnenminister hier an dieser Stelledas Plenum angelogen hat, wird der Visa-Untersu-chungsausschuss hoffentlich noch klären können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Jetzt wissen wir, warum Sie denAntrag nicht zurückgezogen haben: Wahl-kampfmunition soll das sein! Es geht gar nichtum die Sache!)

Damit nicht genug, meine Damen und Herren: Zei-tungsmeldungen konnten wir entnehmen, dass die Bun-desregierung nun auch noch die Sicherheitsprüfung beider Vergabe von Visa an Reisende aus den Staaten derGolfregion lockert. Gerade die Golfregion stellt dasDrehkreuz für den internationalen Terrorismus, für al-Qaida-Mitglieder, dar. Auch hier werden wir für Aufklä-rung sorgen. Wir sind gespannt, was die Bundesregie-rung uns auf unsere schriftlichen Fragen hierzu antwor-ten wird.

Zur zweiten konkreten Frage: Wie schaffen wir es,extremistische Ausländer schneller abzuschieben? Hier-für haben wir Vorschläge gemacht. Der Kollege Grindelwird darauf eingehen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Haben wir im Zuwanderungs-gesetz geregelt!)

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Dr. Ole Schröder

Drittens. Ich frage ganz konkret: Was machen wir mitislamistischen Extremisten, die wir nach geltendemRecht nicht abschieben können, zum Beispiel weil ihnenim Zielland Folter droht? Wie wollen Sie den Bürgernbei einem in Deutschland verübten Anschlag erklären,warum sich diese Extremisten immer noch relativ frei inDeutschland bewegen können? Es ist selbstverständlich,dass die Sicherungshaft nur das letzte Mittel darstellenkann. Wenn eine Abschiebung von gefährlichen Extre-misten nicht möglich ist, so muss die Sicherungshaftaber eine Option sein. Das hat auch der Bundesinnen-minister zu Recht gefordert. Er konnte sich innerhalbseiner Koalition aber wieder einmal nicht durchsetzen.

Die vierte und vielleicht wichtigste Frage lautet: Wieschaffen wir es, an Informationen heranzukommen? Je-der weiß, dass wir in die geschlossenen Täterkreise, diegeschlossenen Netzwerke der islamistischen Terrororga-nisationen nicht mit V-Leuten eindringen können. Des-halb ist die Kronzeugenregelung von entscheidenderBedeutung. Ich bitte Sie, sich dieser wirkungsvollen Re-gelung nicht weiter zu verschließen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein weiterer Punkt ist die Schaffung einer umfassen-den Antiterrordatei. Der Bundesrat hat hierfür einenentsprechenden Entwurf eingebracht. Sie von Rot-Grünhaben dagegengestimmt. Sie, Frau Stokar von Neuforn,haben hier vollmundig gesagt: Bis Ostern 2005 wird dieBundesregierung einen entsprechenden Antrag einbrin-gen. Ostern 2005 ist vorbei und ein effizienter und effek-tiver Informationsaustausch zwischen den Behörden istimmer noch nicht gegeben.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, achten Sie auf die Zeit.

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Rot-Grün sollte auch hier endlich einmal seine Haus-

aufgaben machen, wenn es Ihnen mit der Sicherheit fürunsere Bürger ernst ist.

Wenn wir in Deutschland das Risiko einer Katastro-phe eingrenzen wollen,

(Jörg Tauss [SPD]: Um Gottes willen!)

dann müssen wir jetzt schnell handeln. Ich bitte Sie, sichdem nicht zu widersetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der Abgeordnete Josef Winkler.

(Jörg Tauss [SPD]: Schildern Sie die Lage mal rea-listisch, Herr Winkler! Das wäre ganz nett!)

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Ja, Herr Tauss, den Auftrag nehme ich an.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Kollege Schröder, ich dachte, Sie wärenschon beim Schreiben Ihres Berichts für den Untersu-

chungsausschuss. Wenn alle Ergebnisse so klar sind, wieSie das gerade geschildert haben, dann weiß ich garnicht, warum Sie sich so darüber aufgeregt haben, dassdie Beweisaufnahme bis zur möglichen Neuwahl unter-brochen wird.

(Beifall der Abg. Silke Stokar von Neuforn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie bei derSPD – Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Fischerhat gesagt, dass wir in den Bericht schreibensollen: Fischer ist schuld! – Reinhard Grindel[CDU/CSU]: Lesen Sie mal die Zeitung vonheute!)

– Ich habe hier überwiegend das Wort.

Die CDU/CSU gibt in ihren Anträgen, über die wirheute hier zum wiederholten Male sprechen, vor, sichmit der Beseitigung von Abschiebungshindernissen zubefassen. Herr Kollege Grindel, dass das Wahlkampfmu-nition sein soll, haben Sie schon gesagt; es ist ein wenigGetöse. In Wirklichkeit zielen Sie darauf ab, eine rigo-rose und meiner Meinung nach fast schon menschenver-achtende Abschiebungspolitik durchzusetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Niebel von der FDP hat gesagt, Frau Merkel seiauch die Kanzlerkandidatin der FDP. Herr Burgbacherund Herr Dr. Stadler, vielleicht können Sie gleich daraufeingehen, wie die Tatsache, dass Ihre Kanzlerkandidatinsolche Anträge ins Parlament einbringt, mit Ihren An-sichten kompatibel gemacht werden kann.

(Beifall bei der SPD – Silke Stokar vonNeuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Siewerden von Schwarz-Gelb unterstützt!)

Wie soll ich diese Anträge sonst werten, wenn zum Bei-spiel die Nutzung der zulässigen Rechtsmittel oder psy-chische Erkrankungen generell unter einen Missbrauchs-verdacht gestellt werden?

(Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich!)

Die Kollegin Sonntag-Wolgast hat bereits gesagt,dass Sie die Bundesregierung dazu auffordern, sich füreine Aufweichung der menschenrechtlichen Schutzstan-dards der europäischen Menschenrechtskonvention zubemühen. Die europäische Menschenrechtskonventionverbietet zu Recht Abschiebungen, auch solche von un-liebsamen Straftätern und Extremisten, wenn ihnen Fol-ter droht. Daran wird nicht gerüttelt. Wer das ändernwill, der muss eben die europäische Menschenrechts-konvention ändern. Das werden wir nicht mitmachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie des Abg. Dr. MaxStadler [FDP])

Der von Personen wie dem erwähnten Metin Kaplanoder von ähnlich gelagerten Fällen ausgehenden Gefahrfür die Bundesrepublik kann mit den Mitteln der Straf-verfolgungsbehörden und des Zuwanderungsgesetzes– unseres Kompromisses –, wie zum Beispiel neuenMeldeauflagen und Einschränkungen der Freizügigkeit,begegnet werden. Wer diesem Personenkreis gegenüber

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Josef Philip Winkler

nach einer Sicherungshaft oder einem kurzen Prozessruft, der streut der Öffentlichkeit Sand in die Augen.

Wir haben hierzu schon gemeinsam einen Kompro-miss erarbeitet, dem wir unter Schmerzen zugestimmthaben. Dass Sie sich daran nicht mehr erinnern wollen,ist mir inzwischen auch klar geworden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel[CDU/CSU]: Ein bisschen dünne!)

Die Voraussetzungen für eine Abschiebung ausländi-scher Extremisten in deren Herkunftsländer müssendiese Staaten demnach primär selbst schaffen. Wenn indiesen Ländern zum Beispiel Folter für ein minderschweres Delikt gehalten oder es zugelassen wird, Aus-sagen vor Gericht zu nutzen, die unter der Folter erpresstwurden, soll es meiner Meinung nach nicht möglich sein– es ist auch nicht möglich –, dass Menschen aus einemRechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland in sol-che Länder abgeschoben werden.

Zusammengefasst: Sachgerechte und rechtsstaatlicheMaßnahmen gegen Personen wie Metin Kaplan, aberauch Extremisten und potenzielle Terroristen finden un-sere Unterstützung. Für eine reine Symbolpolitik undden Abbau von Grundrechten zu Wahlkampfzweckenstehen Bündnis 90/Die Grünen und große Teile der SPD

(Jörg Tauss [SPD]: Alle!)

– sogar alle – nicht zur Verfügung.

(Jörg Tauss [SPD]: Keine Spaltung!)

– Der Kanzler hat mein volles Vertrauen. Ich glaube, dashört er gar nicht so gerne.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das ist aber gefährlich.

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Ich möchte jetzt Ihre Aufmerksamkeit auf eine andereGruppe von ausreisepflichtigen Menschen richten – dieKollegin Sonntag-Wolgast hat das schon getan; ich willdas, was sie gesagt hat, noch einmal unterstreichen –: Esgeht um Flüchtlinge aus Afghanistan, die hier seit lan-gen Jahren immer mit kurzfristig verlängerten Duldun-gen leben und dementsprechend bisher keine Integra-tionsperspektive hatten und auch noch keine haben. Siekennen die Geschichte mit den Entscheidungsstoppsbeim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dieFlucht und die verschiedenen Gerichtsverfahren. Zwarwurde die Abschiebung für immer wieder ausgesetzt.Aber ihnen wurde keine Integrationsperspektive eröff-net. Dabei sind wir uns bei Flüchtlingen aus Afghanistansicher einig, dass diese Menschen, die vor dem finsterenBürgerkrieg und dem schlimmen Regime, das dort ge-herrscht hat, hierher geflohen sind, ihre jahrelange An-wesenheit in unserem Land nicht selbst verursacht ha-ben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Kettenduldungspraxis – damit komme ich zumSchluss –, die wir als Gesetzgeber überwinden wollten,wird leider auch nach In-Kraft-Treten des Zuwande-rungsgesetzes fortgeführt. Ich möchte an dieser Stellevor allem an Sie, meine Damen und meine Herren vonder Unionsfraktionen, aber auch an die Bundesregierung– die, wie gesagt, mein volles Vertrauen hat – appellie-ren, Ihren Einfluss auf der demnächst anstehenden In-nenministerkonferenz dahin gehend geltend zu machen,dass jahrelang geduldete afghanische Flüchtlinge imRahmen einer Altfallregelung endlich ein Aufenthalts-recht in Deutschland erhalten. Eine solche positive Ent-scheidung ist unserer Meinung nach überfällig.

Herzlichen Dank.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.

(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt setzt euch mal von den Schwarzen ab!)

Dr. Max Stadler (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt – undwird das auch in Zukunft tun – humanitäre Verpflichtun-gen, etwa durch Gewährung des Asylgrundrechts. Wirhaben den Zugang in unser Land mit dem Zuwande-rungsgesetz vorsichtig und in vernünftiger Weise gere-gelt. Deswegen ist es auf der anderen Seite völlig konse-quent, wenn diejenigen, die kein Recht und keineDuldung mehr haben, in Deutschland zu bleiben, ent-schlossen abgeschoben werden.

(Beifall des Abg. Dr. Ole Schröder [CDU/CSU])

Insofern teilen wir das Anliegen der Union. Wenn Ab-schiebungen, die vom Gesetz her geboten sind, durchRechtsmissbrauch oder Tricksereien verhindert werden,so muss dem entgegengetreten werden. Auch dieses An-liegen aus Ihrem Antrag teilen wir als FDP selbstver-ständlich.

Aber es gibt auch einige Aspekte, die in den Anträgender CDU/CSU nicht enthalten sind. Das größte Abschie-bungshindernis ist in Wahrheit doch meistens die unsi-chere Lage im Herkunftsland von Flüchtlingen. Wirhaben das kürzlich in der Unterrichtung einiger Mitglie-der des Innenausschusses durch den renommiertenExperten Victor Pfaff aus Frankfurt erfahren, der dieschwierige Lage in Afghanistan geschildert hat.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da wäre ich vorsichtig: „renommiert“!)

– Herr Grindel, ich weiß, dass Sie behaupten, andere In-formationen zu haben.

(Jörg Tauss [SPD]: Grindel weiß alles!)Ich kann nur aufgrund der Delegation von renommiertenExperten, die mit Herrn Pfaff gerade dort gewesen ist,

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Dr. Max Stadler

sagen: Vorsicht bei Abschiebungen in Gebiete, in denenLeib und Leben der Flüchtlinge gefährdet sind.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt ein weiteres Abschiebungshindernis, und zwarnicht rechtlicher, sondern praktischer Art. Viele Men-schen, die lange in Deutschland sind und hier ihre Kin-der geboren haben, die schon zur Schule gehen, sind hierverwurzelt und integriert. Jeder von uns wird doch inseinem Wahlkreis von Kirche und Schule, von Handwer-kern und Vereinen angesprochen,

(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)

weil niemand versteht, dass sich viele in Deutschlandaufhalten, bei denen die Integration Probleme macht,aber auf der anderen Seite solche, die bestens integriertsind,

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

plötzlich abgeschoben werden sollen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da muss es doch vernünftige Altfallregelungen geben.

Ich sage Ihnen am Ende noch eines ganz klar: Mit derFDP gibt es kein Rütteln an der Europäischen Men-schenrechtskonvention und an der Antifolterkonven-tion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD – Jörg Tauss [SPD]: Nicht wie damalsbei Schmidt-Jortzig!)

Ich sage: Hände weg von diesen internationalen Ver-pflichtungen, die wir zu Recht eingegangen sind! In ei-ner Formulierung einer der Anträge der Union sah es soaus, als ob Sie das nicht mehr gelten lassen wollten.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Zwei Stellen!)

Ich habe das schon von dieser Stelle aus gerügt und Siehaben klargestellt, dass es nicht so gemeint gewesen sei.Das ist eine Basis. Aber wir können natürlich nicht ei-nem Antrag zustimmen, in dem eine Formulierung steht,die den Eindruck erweckt, als wollten Sie die Europäi-sche Menschenrechtskonvention zur Disposition stellen.

(Beifall bei der FDP)

Ganz zum Schluss, Herr Kollege Schröder: Sie kom-men aus dem schönen Norden unseres Landes.

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])

Daher ist Ihnen der Landkreis Passau verständlicher-weise nicht bekannt. Ich will Ihnen berichten: In Hau-zenberg im Landkreis Passau gibt es den ersten Fall, denSie angesprochen haben. Bei jemandem, der aufgrundbestimmter Umstände des Terrorismus verdächtigt wirdund den man im Moment noch nicht abschieben kann– das wird noch kommen –, werden die neuen Möglich-keiten des Zuwanderungsgesetzes, nämlich ihn völlig zuisolieren und total zu überwachen, in einer solchen

Weise angewandt, dass alle Ihre Bedenken berücksich-tigt sind. Hier haben wir also beim Zuwanderungskom-promiss gemeinsam Regelungen geschaffen.

(Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse)

Die FDP greift berechtigte Anliegen auf; aber wir hal-ten uns an die humanitäre Tradition des Grundgesetzesund an internationale Verpflichtungen, die aus der Anti-folterkonvention und der Europäischen Menschenrechts-konvention resultieren. Das ist in diesem Bundestag sound das wird im nächsten Bundestag so bleiben.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür werden wir sorgen!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel,

CDU/CSU-Fraktion.

(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt kommt der öffentlich-rechtliche Kollateralschaden!)

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will gerne die Worte meines Kollegen Thomas Stroblwiederholen: Wir müssen uns einmal über das Aufent-haltsrecht des Kollegen Tauss hier im Deutschen Bun-destag unterhalten. Er ist manchmal in der Tat schwer zuertragen.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da hat er Recht! – Zurufe von der SPD: Na, na!)

Die Menschen fragen oft, wo eigentlich die Unter-schiede zwischen CDU/CSU und Rot-Grün sind. An die-sem Punkt kann man das klar und deutlich herausarbei-ten: Ob es Bleiberechtsregelungen für Illegale sind, obes die Visaaffäre ist oder Ihre mangelnde Bereitschaft zueiner konsequenten Abschiebung von ausreisepflichti-gen Ausländern –

(Jörg Tauss [SPD]: Kaplan!)

Ihnen geht es in Wahrheit um massenhafte Zuwande-rung, auch auf Kosten der Integration der hier lebendenAusländer.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Jetzt wird hier wieder polarisiert!)

Uns geht es um weniger Zuwanderung und mehr Inte-gration der ausländischen Mitbürger, die hier leben. Dasist der zentrale Unterschied.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will etwas zu dem sagen, was Sie, Frau Sonntag-Wolgast, angesprochen haben, zu den EU-Rückfüh-rungsabkommen. Hier hat die EU versagt. Es gibtRückführungsabkommen mit Hongkong und Macao,aber nicht mit den Hauptherkunftsländern der Ausländer,über die wir uns unterhalten. Es gibt Rückführungsab-kommen, die funktionieren, und zwar mit Ungarn, mit

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Reinhard Grindel

Polen und mit Rumänien; die hat Innenminister RudolfSeiters gemacht. Davon leben wir noch heute. Das ist dieFaktenlage bei der Frage der Rückführungsabkommen.

Sie waren ein bisschen unvorsichtig, als Sie hier dieAbschiebung von afghanischen Flüchtlingen und dieDiskussion in Hamburg thematisiert haben. Die prakti-schen Probleme, die es in der Tat gibt, hat die Ausländer-behörde in Hamburg zu verantworten. Es wäre schonfair gewesen, den Kollegen hier mitzuteilen, dass derLeiter der Ausländerbehörde in Hamburg, RalphBornhöft, ein ehemaliger SPD-Bürgerschaftsabgeordne-ter ist.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Er ist der Verantwortliche.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll denn das heißen?)

Vielleicht sollten Sie bei Ihren eigenen Genossen aufräu-men, bevor Sie den Senat der Freien Hansestadt Ham-burg angreifen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was heißt denn „aufräumen“? –Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])

– Ich weiß, dass es für Sie schwer erträglich ist, dassman sich über die Verhältnisse etwas schlauer gemachthat.

(Jörg Tauss [SPD]: Ablenkung, mein Lieber! Nichts als Ablenkung!)

– Das ist keine Ablenkung. Es wäre nett, wenn ich bei allIhren Zwischenrufen kurz die Gelegenheit hätte, einSachargument einzubringen.

(Jörg Tauss [SPD]: Dann bringen Sie mal eins!)

– Ja, ich bringe es gerne ein.

Bundesinnenminister Otto Schily hat uns am Mitt-woch – die Vorsitzende des Ausschusses wird daswissen – einen schriftlichen Bericht über die Lage in Af-ghanistan und über die Frage der Rückführung von af-ghanischen Flüchtlingen und Kosovo-Albanern bzw.Flüchtlingen, die in das Kosovo zurückgeführt werdensollen, vorgetragen. In diesem Bericht steht, dass es umdie Ausreise von 16 000 afghanischen Flüchtlingen voninsgesamt 60 000 Afghanen, die bei uns sind, geht. Manmuss der Öffentlichkeit sagen, um was für Personen essich handelt. Es handelt sich nur um allein stehendemännliche Volljährige zwischen 18 und 60 Jahren undvor allen Dingen um Straftäter, die ein erhebliches Straf-maß bekommen haben, die wir zurückführen wollen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: In Hessen wollen sie auch Frauenabschieben, steht im Erlass!)

In dem Bericht von Otto Schily steht auch, dass andereEU-Staaten selbstverständlich abschieben, etwa Groß-britannien, die Niederlande und Dänemark. Großbritan-nien hat im letzten Jahr fast 600 Afghanen abgeschoben.

Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Dass man nochnicht einmal Straftäter abschieben können soll, obwohlmittlerweile Tausende von pakistanischen und iranischenGastarbeitern in Afghanistan arbeiten, hat mit dem Schutzvon Flüchtlingen nichts mehr zu tun, aber sehr wohl mithemmungsloser Zuwanderung durch die Hintertür.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Grindel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Sonntag-Wolgast?

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ja.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Kollege Grindel, ist Ihnen bei Ihrem etwas auf-

geregten und polemisierenden Beitrag entgangen

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein, ichhabe Innenminister Schily zitiert! Das wirdman ja wohl noch dürfen!)

– darf ich meine Frage stellen? –, dass ich in meinemPlädoyer für einen humanitären Umgang mit afghani-schen Flüchtlingen von schon lange hier lebenden Fa-milien, von sozial integrierten Menschen gesprochenhabe?

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie nicht überhören

können, dass ich gesagt habe, dass sowohl der Bundesin-nenminister in seinem schriftlichen Bericht an unserenAusschuss als auch wir immer von der Rückführung von16 000 afghanischen Flüchtlingen sprechen, wie es auchauf der Innenministerkonferenz vereinbart wurde. Zudiesen 16 000 afghanischen Flüchtlingen gehört der Per-sonenkreis, den Sie erwähnt haben, überhaupt nicht.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Gibt es nicht auch Frauen, die ge-flohen sind?)

Ich will Ihnen noch etwas vorhalten, damit siegenauer erkennen können, worum es geht. Diese Bun-desregierung macht auch in diesen Tagen durch dasBundesamt für Migration und Flüchtlinge Rückfüh-rungswerbeaktionen für Afghaner unter der Überschrift:

Heimat in AfghanistanZurückkehren? –Wir beraten Sie gern!

Damit das Ganze auch verstanden wird, gibt es dies auchin afghanischer Sprache. So viel zu der Frage, ob es un-moralisch, ob es unverantwortlich ist, diese afghani-schen Flüchtlinge zurückzuführen. Die eigene Bundesre-gierung macht solche Werbekampagnen. Vielleichträumen Sie erst einmal in Ihrem eigenen Laden auf, be-vor Sie solche polemischen Angriffe gegen uns starten.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. CornelieSonntag-Wolgast [SPD]: Das habe ich garnicht gesagt! Drehen Sie mir doch nicht dasWort im Munde herum!)

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Reinhard Grindel

Innenminister Schily hat uns auch etwas zur Rück-führung von Roma und Serben geschrieben. Erschreibt:

Bleiberechtsregelungen

– wie Sie und auch die Ausländerbeauftragte sie verlangthaben –

würden der mit UNMIK vereinbarten Weiterent-wicklung der Rückführungsprozesse für Minderhei-ten aus dem Kosovo, die sich voraussichtlich auchpositiv auf die freiwillige Rückkehr auswirkendürfte, zuwiderlaufen.

Auf der Regierungsbank ist leider kein Vertreter desBundesinnenministeriums.

(Lilo Friedrich [Mettmann] [SPD]: Er hat sichordnungsgemäß verabschiedet! Er hat sich ent-schuldigt!)

Es wäre ganz schön, wenn Sie Ihre Position einmal mitder vom Bundesinnenministerium koordinieren würden.Ich kann nur sagen: Wo der Bundesinnenminister undsein Ministerium Recht haben, haben sie Recht. Wir un-terstützen diese Politik.

Es geht darum, dass wir keine zusätzlichen Abschie-behindernisse schaffen wollen. Sie hingegen haben diesversucht, indem Sie sich im Vermittlungsausschuss da-für eingesetzt haben, dass eine Überprüfung von Flücht-lingen durch das Bundesamt für Migration und Flücht-linge in Zukunft unterbleibt und diese sofort eineNiederlassungserlaubnis bekommen. Wir haben das zu-rückgewiesen und damit erreicht, dass zum Beispiel die-jenigen, die als mutmaßliche Straftäter des geplanten At-tentats auf Alawi verhaftet wurden – auf dieseVerhaftung ist der Bundesinnenminister ja sehr stolz –,nicht unter diese Regelung fallen. Die hätten nämlicheine Niederlassungserlaubnis bekommen, wenn Sie sichdurchgesetzt hätten. Damit hätten wir große Schwierig-keiten gehabt, sie abzuschieben.

Noch ein Wort zu Kettenduldungen. Ich will ganzklar hervorheben – daran werden wir auch nach einemRegierungswechsel nicht rütteln –, dass wir die Ketten-duldungen für diejenigen, die ihre dauerhafte Anwesen-heit hier nicht selbst verschuldet haben, abschaffen. Dashaben wir im Zuwanderungsgesetz vereinbart; wir habenauch eine Härtfallregelung vereinbart. Eines aber ist völ-lig eindeutig: Wer seine Papiere vernichtet hat und sei-nen Reiseweg verschleiert – das trifft für den überwie-genden Anteil der ausreisepflichtigen Ausländer zu –,der kann doch nicht noch mit einem Bleiberecht fürseine Rechtsverstöße belohnt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. CornelieSonntag-Wolgast [SPD]: Das verlangt dochniemand, Herr Kollege!)

Die Anwesenheit von mehreren Hunderttausend aus-reisepflichtigen Ausländern sorgt für Probleme; ich habeschon in der ersten Beratung darauf hingewiesen. Siewirkt sich auf die Kriminalität aus und verursacht hoheKosten für Länder und Kommunen. Es geht nicht an,

dass wir auf der einen Seite in den Kommunen keineKindergärten bauen und Schulen und Straßen nicht sa-nieren können, sodass vor allem im Baugewerbe Ar-beitsplätze wegen mangelnder Investitionen verloren ge-hen, aber auf der anderen Seite Hunderte von Millionenfür ausreisepflichtige Ausländer ausgeben, weil wir ihreAbschiebung nicht hinbekommen. Das verstehen dieMenschen in unseren Wahlkreisen nicht. Das verstehenübrigens gerade auch die Wähler Ihrer Partei, der SPD,nicht. Deswegen kann und darf das nicht so bleiben.Spätestens nach dem 18. September – sofern der Bun-despräsident den Bundestag auflöst – werden wir dafürsorgen, dass sich das ändert und dass die Menschen inihre Heimat zurückgeführt werden, wie es das Gesetzvorschreibt.

(Jörg Tauss [SPD]: Wie Kaplan damals!)

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-schusses auf Drucksache 15/5193 zu dem Antrag derFraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Abschiebehin-dernisse beseitigen“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 15/3804 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?– Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ge-gen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.

Wir kommen zur nächsten Beschlussempfehlung desInnenausschusses auf Drucksache 15/5525 zu dem An-trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Konse-quente Abschiebung ausländischer Extremisten sicher-stellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 15/1239 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit der glei-chen Mehrheit wie soeben angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatz-punkt 5 auf:

24. Erste Beratung des von den AbgeordnetenJoachim Stünker, Olaf Scholz, Erika Simm, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD so-wie den Abgeordneten Dr. Thea Dückert, JerzyMontag, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeord-neten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes über die Offenlegung der Vorstands-vergütungen (Vorstandsvergütungs-Offenle-gungsgesetz – VorstOG)

– Drucksache 15/5577 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

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Präsident Wolfgang Thierse

ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten RainerFunke, Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster),weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDPeingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzeszur Stärkung der Eigentümerrechte einer Ak-tiengesellschaft (1. Eigentümerrechte-Stär-kungsgesetz – EigStärkG)

– Drucksache 15/5582 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Zypries.

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Anfang März haben wir uns mit der SPD-Fraktiondarauf verständigt, dass die individuelle Offenlegung derVorstandsbezüge bei börsennotierten Aktiengesellschaf-ten gesetzlich geregelt werden soll.

(Peter Dreßen [SPD]: Sehr gut!)

Das Kabinett hat daraufhin auf meinen Vorschlag am18. Mai das so genannte Vorstandsvergütungs-Offenle-gungsgesetz verabschiedet. Heute führt der Bundestagdie erste Beratung des gleich lautenden Entwurfs derFraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen durch.

Warum legen wir diesen Gesetzentwurf vor? SeineGeschichte beginnt im Jahr 2001, als die Bundesregie-rung die Regierungskommission Corporate GovernanceKodex eingesetzt hat. Unter Leitung des renommiertenThyssen-Krupp-Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. GerhardCromme erarbeitete sie 70 Empfehlungen für eine guteUnternehmensführung der börsennotierten Unterneh-men. Der so genannte Corporate Governance Kodex,der Unternehmen Leitlinien für gute Unternehmensfüh-rung bieten soll, orientiert sich vor allem an einemGrundsatz, nämlich dem der Transparenz. Denn für dieAktionäre als Eigentümer der börsennotierten Unterneh-men ist es wichtig, zu wissen, welche Entscheidungen inder Unternehmensführung in Vorbereitung sind und obdiese nachvollziehbar sind. Nur dann ist auch Kontrollemöglich und nur dann, wenn Kontrollmöglichkeiten be-stehen, können Fehlentwicklungen verhindert werden.

Der Kodex enthält das, was Herr Cromme als „Ver-haltensweisen eines ehrbaren Kaufmanns“ umschreibt.Er ist auch im Ganzen gesehen eine echte Erfolgsge-schichte. Im Jahr 2005 werden allein im DAX-Segmentdurchschnittlich 70 der 72 Empfehlungen befolgt. Insge-samt beträgt die Umsetzungsquote mehr als 97 Prozent.

Insofern wird deutlich, dass die Idee der Selbstregu-lierung funktioniert, in diesem Fall allerdings mit einereinzigen Ausnahme. Diese betrifft die Offenlegung derVorstandsgehälter. Der Kodex empfiehlt, dass die Vor-

standsgehälter individualisiert offen gelegt werden sol-len. Wir haben immer sehr dafür geworben. Wir habendie Frist noch einmal verlängert und den Unternehmengesagt: Bitte tut es selbst, sonst muss der Gesetzgeberhandeln. – Die Offenlegung setzt sicherlich einen Kul-turwandel in den Unternehmen voraus, zumindest inDeutschland, nicht aber in Großbritannien, Frankreich,Italien, den USA oder Kanada; denn überall dort ist eineindividualisierte Offenlegung längst vorgeschrieben.Trotz der verlängerten Frist waren es gleichwohl nuretwa 70 Prozent der DAX-30-Unternehmen, die sich zueiner Offenlegung bereit erklärt haben. Bei den M- undS-DAX-Unternehmen ist die Quote noch deutlich niedri-ger.

Ziel unseres Gesetzes ist die Stärkung der Kontroll-rechte der Aktionäre. Es geht nicht darum, einen allge-meinen Informationswunsch der Öffentlichkeit zu erfül-len oder sogar Neid und Neugier zu befriedigen. Das istnicht unser Ziel. Wir wollen vielmehr, dass die Ak-tionäre, die Eigentümer der Unternehmen, darüber infor-miert werden, ob der Aufsichtsrat die Vergütung für denVorstand angemessen festgesetzt hat. Das Aktiengesetzverlangt schon heute, dass die Bezüge in einem ange-messenen Verhältnis zu den Aufgaben und zur Lage derGesellschaft stehen. Das sollen Aktionäre künftig nach-vollziehen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor, dass künftig diegesamten Bezüge jedes einzelnen Vorstandsmitgliedsunter Namensnennung anzugeben sind. Wir verlangendie Aufschlüsselung in erfolgsunabhängige und erfolgs-bezogene Komponenten sowie Komponenten mit lang-fristiger Anreizwirkung wie Aktienoptionen. Wir wollenauch, dass die Ruhestandsgehälter sowie die Versor-gungs- und Abfindungszusagen erfasst werden; denn ge-rade das ist einer der Punkte, bei denen es in der Vergan-genheit immer wieder zu erheblichen Problemengekommen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ganz wichtig: Es geht um eine Stärkung der Ak-tionärsrechte. Deshalb sollen es letztlich die Aktionäresein, die darüber entscheiden. Wir ermöglichen es jedemeinzelnen Unternehmen, zu sagen: Wir wollen das nichtwissen. – Das können die Aktionäre in der Hauptver-sammlung mit Dreiviertelmehrheit entscheiden. Ein sol-cher Beschluss gilt jeweils für fünf Jahre.

Um es klar zu sagen: Wir wollen mit dieser Regelungden Kodex, also die freiwillige Selbstverpflichtung zuguter Unternehmensführung, nicht infrage stellen. Dasist nicht das Ziel; denn der Kodex funktioniert, wie ge-sagt, im Großen und Ganzen sehr gut. Er wird ständigweiterentwickelt. Wenn Sie heute die Zeitung gelesenhaben, wissen Sie, dass man sich derzeit mit der Fragebeschäftigt, wie die Aufsichtsräte zusammengesetzt seinsollen. Auch das ist ein ganz wichtiges Thema, auf dasder Gesetzgeber ein Auge haben wird.

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Bundesministerin Brigitte Zypries

An die Kollegen der FDP sage ich – ich muss monie-ren, dass die Opposition in der Debatte über diesesThema nicht sehr stark vertreten ist -:

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Qualität, nicht Quantität zählt!)

Unser Vorschlag ist besser, weil er klarstellt, dass zu-nächst einmal offen gelegt werden muss. Erst dann kanndavon abgewichen werden. Wenn ich Sie richtig verstan-den habe, argumentieren Sie: Die Hauptversammlungkann ja entscheiden, ob offen gelegt werden soll. Ichmeine, dass das ein Schritt zu wenig ist; denn dieseMöglichkeit besteht schon jetzt und wird nicht wahrge-nommen. Damit wird die Logik umgedreht. Es hilft unsdeshalb nicht weiter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich appelliere an Sie: Ermöglichen Sie es uns, unserenGesetzentwurf in der jetzigen Fassung durchzubringen!Es ist nicht unser Anliegen, sondern auch das der Bevöl-kerung, die bei der Altersvorsorge verstärkt zu Aktiengreift und deshalb wissen will, was in den Unternehmengeschieht. Lassen Sie uns den Gesetzentwurf noch indieser Legislaturperiode durchbringen! Sehen Sie voneiner anderen Form der Offenlegung ab! Sonst würdedas Verfahren verzögert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Günter Krings,

CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Heute, in der wahrscheinlich drittletzten Sit-zungswoche des Deutschen Bundestages der 15. Wahl-periode, diskutieren wir über die individualisierte Offen-legung der Vergütung der Mitglieder des Vorstandesbörsennotierter Aktiengesellschaften. Die Bundesregie-rung hat sich entschieden, dieses Thema in den zeitli-chen Kontext der Kapitalismuskritik des Vorsitzendender SPD und der SPD-Bundestagsfraktion zu stellen,und Frau Zypries hat sich entschieden, den Regierungs-entwurf vier Tage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Kabinett verabschieden zu lassen. Das istnicht unbedingt Ausweis einer soliden und nachhaltigenWirtschafts- und Rechtspolitik, sondern offensichtlichTeil eines parteitaktischen Manövers. Das zeigt auch,dass diese Bundesregierung nach jedem Strohhalmgreift, um ihr unaufhaltsames Abrutschen in der Wähler-gunst zumindest ein wenig zu verlangsamen.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ist esjetzt richtig oder falsch? – Olaf Scholz [SPD]:Zur Sache!)

Angesichts der verzweifelten Suche nach Kampfthe-men hat man wohl keinerlei Überlegung darauf verwen-det, wann der richtige Zeitpunkt ist, ein solches Gesetzeinzubringen. Frau Zypries, Sie selbst haben im letzten

Jahr mehrfach betont, man solle erst einmal abwarten,wie sich die Sache entwickelt. Mit anderen Worten: Siehaben davon gesprochen, dass man diese Entwicklungbeobachten muss. Sie haben eben gesagt, dass zwei Drit-tel der DAX-Unternehmen inzwischen entsprechendvorgehen, Anfang 2004 war es noch ein Drittel. Dasheißt, die Entwicklung ist nicht so schlecht, wie Sie esdargestellt haben. Wir erwarten, dass das eine oder an-dere Unternehmen in der kommenden Hauptversamm-lungssaison doch noch die richtige Entscheidung, alsodie zur Offenlegung, trifft.

Parteitaktik Ihrerseits hin oder her – wir werden unsheute und in den folgenden Debatten im Rechtsaus-schuss mit dieser Frage vertieft beschäftigen. Wir begrü-ßen ausdrücklich den Ansatz dieses Gesetzentwurfs.Was börsennotierte Aktiengesellschaften angeht, strebenauch wir ein hohes Maß an Transparenz im Hinblickauf die relevanten Unternehmensdaten an. Das erfordertschon der internationale, globalisierte Aktienanlage-markt.

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist einmal eine ver-nünftige Einstellung!)

Die Höhe der Bezüge der einzelnen Vorstandsmitglie-der gehört zu den wichtigen Informationen, die Aktio-näre zu Recht interessieren. Zwar ist richtig – ich glaube,Sie haben das nicht ausdrücklich erwähnt –, dass nichtdie Hauptversammlung, sondern der Aufsichtsrat dieBezüge festlegt und darauf achten muss, dass diese in ei-nem angemessenen Verhältnis zur Aufgabe des jeweili-gen Vorstandes und zur Lage der Gesellschaft im Sinnevon § 87 des Aktiengesetzes stehen. Richtig ist aller-dings auch, dass die Hauptversammlung den Aufsichts-rat auch dabei kontrolliert. Die Offenlegung befriedigtdabei nicht nur die Neugier der Aktionäre, sondern sieist auch ein berechtigtes Anliegen.

Ich begrüße, dass die Bundesregierung in SachenTransparenz den Vorbildern USA und Großbritannienfolgt. Ich erspare mir den Hinweis, dass in der Wirt-schaftspolitik der letzten sieben Jahre vieles besser ge-laufen wäre, wenn man auch in anderen Bereichen dievielleicht etwas antiquierte deutsche Tradition verlassenund sich an den genannten Ländern orientiert hätte.

Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen– diese Auffassung teilen übrigens auch viele Unterneh-mer –, dass die Höhe der Gehälter der Manager unddie Höhe der Gehälter der Mitarbeiter in den letztenJahren auffällig auseinander klaffen. Die entscheidendeFrage ist: Wie reagieren wir auf dieses Auseinanderklaf-fen? Nach einigen Äußerungen der letzten Wochen undMonate von der linken Seite dieses Hauses kann ich mirschon vorstellen, dass viele den Impuls nur schwer un-terdrücken können, dass man die Gehälter am besten perGesetz deckelt

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was für ein Quatsch!)

und weitere gesetzliche Regulierungen vornimmt. Ichfinde es begrüßenswert, dass man diesen falschen Wegnicht gegangen ist.

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Dr. Günter Krings

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Märchenstunde! – Wilhelm Schmidt[Salzgitter] [SPD]: Für wen haben Sie denndas jetzt wieder verbreitet?)

Wir müssen festhalten, dass es keine objektiven Kri-terien für die Höhe von Managergehältern gibt. Wenn essolche Kriterien nicht gibt, dann bleibt als einziges Mit-tel die Transparenz, um diesem Auseinanderklaffen ent-gegenzuwirken. In Bezug auf das US-amerikanischeAktienrecht heißt es treffend: Sonnenlicht ist das besteReinigungsmittel. Wenn ein großer Teil der etwa1 000 börsennotierten Aktiengesellschaften in Deutsch-land diese Offenlegung dennoch nicht will, dann ist derGesetzgeber in der Tat aufgefordert, darauf zu reagieren.

Im Kern geht es – da stimmen wir mit allen Fraktio-nen überein – um die Stärkung von Eigentümerrechten.Lieber Kollege Funke, der FDP-Gesetzentwurf liest sicherst einmal ganz gut. Mit seinem suggestiv-programma-tischen Titel „Eigentümerrechte-Stärkungsgesetz“ stehter meines Erachtens aber in der Tradition einiger Geset-zestitel der noch amtierenden Bundesregierung. Ich erin-nere nur an das Steuervergünstigungsabbaugesetz

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das haben Sie blockiert!)

oder andere.

Der Ansatz der FDP, die stets auf die Mehrheit in derHauptversammlung der Aktiengesellschaft abstellt, ver-kennt indes, dass nicht nur die Gesamtheit oder dieMehrheit der Aktionäre, sondern jeder Aktionär Eigen-tümer ist, egal ob er eine Aktie oder Tausende von Ak-tien hält. Deswegen hat Eigentümerschutz immer auchetwas mit Minderheitenschutz in einer Aktiengesell-schaft zu tun. Zwischen dem Interesse der Mehrheit unddem des einzelnen Aktionärs muss daher ein gerechterund vernünftiger Ausgleich gefunden werden. Der liegtsicherlich eher bei einem Quorum von einem Viertel desKapitals als bei einem von 50 Prozent.

Umgekehrt bedeutet Eigentümerschutz aber auch,dass es keinen Sinn macht, Eigentümer zwangszubeglü-cken. Es erscheint daher zumindest überlegenswert, eineInitiative aus der Mitte der Hauptversammlung heraus zuerwarten, und zwar mit einem nicht zu hohen Quorum,damit die Offenlegung Platz greift.

Einige Fragen allerdings werden durch beide Gesetz-entwürfe nicht hinreichend beantwortet. Ich erwähne nurdie erfolgsabhängigen Vergütungskomponenten; das istja eine ganz spannende Frage. Wenn man diese, wie Siees vorsehen, in absoluten Zahlen ausweist, ist das einewenig hilfreiche Information, weil sie vergangenheitsbe-zogen ist. Wichtig ist, das Vergütungssystem, das da-hintersteckt, kennen zu lernen, weil es dem Aktionäreben nur dann möglich ist, es gegebenenfalls auf derHauptversammlung zur Grundlage von Entscheidungenzu machen.

Doch gerade die Informationen über das Vergütungs-system können tief in sensible Bereiche und Geschäfts-geheimnisse des Unternehmens hineinreichen; denn ihreVeröffentlichung für die Allgemeinheit kann den Wett-

bewerbern leicht aufschlussreiche Einblicke in die Un-ternehmenspolitik geben. Sie schlagen nun vor, zumin-dest im Rahmen einer Soll-Vorschrift die Grundzüge desVergütungssystems offen zu legen. Das ist ein Versuch,dieses Problem zu lösen. Allerdings sage ich: Immerdann, wenn der Gesetzgeber Begriffe wie „Grundzüge“benutzt, verrät das die Hilflosigkeit des Gesetzgebersund lässt den Gesetzesanwender zumeist relativ ratloszurück. Der eine oder andere von Ihnen mag sich an daseigene juristische Staatsexamen erinnern, wenn es voreiner bestimmten Examensklausur hieß, man müsse nurdie Grundzüge des Erbrechts oder die Grundzüge des In-solvenzrechts lernen. In einem solchen Fall waren wirals Studenten relativ ratlos, wie weit und tief das gehensollte.

(Jörg Tauss [SPD]: Sie sind heute noch relativ ratlos, Herr Krings! Das ist das Problem!)

Das ist also ein Begriff, der noch der Diskussion und derKlärung im Ausschuss bedarf.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die Kunst besteht darin, es trotzdem zu schaffen!)

Ferner verwundert mich schon sehr – das muss ich andieser Stelle kurz erwähnen –, dass wir in der Begrün-dung des Gesetzentwurfs leider nur ganz wenig zurFrage der Verfassungsmäßigkeit der Offenlegung fin-den. Ich erinnere daran, dass 1994, als über eine globaleOffenlegungspflicht für den Vorstand diskutiert wurde,sehr wohl verfassungsrechtliche Bedenken erhoben wor-den sind und einschränkend gesagt wurde, dass keineRückschlüsse auf einzelne Vorstandsmitglieder gezogenwerden dürfen.

Ich glaube, dass dieser Vorschlag im Ergebnis verfas-sungsrechtlich haltbar ist. Allerdings hätte ich dazu nocheinige Ausführungen erwartet. Das müssen wir im wei-teren Gesetzgebungsverfahren nachholen. Das mussnicht lange dauern. Aber über dieses Thema müssen wirdurchaus ernsthaft diskutieren.

Die Union ist zu vernünftigen Lösungen bereit.

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist aber neu!)

Wir sind auch durchaus bereit, zu prüfen, ob wir dasnoch in dieser Legislaturperiode erreichen können.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wäre bei diesem Gesetz das erste Mal!)

Ich glaube, dass wir noch einige Fragen klären müssen.Das könnte im Rahmen einer Expertenanhörung oder ei-nes Berichterstattergesprächs geschehen. Jedenfalls sindwir für konstruktive Vorschläge offen. An uns soll esnicht scheitern. Wir sollten über diesen Gesetzentwurfnoch in dieser Legislaturperiode vernünftig beraten. Al-lerdings darf das nicht auf Kosten der Qualität gehen.Die von mir angesprochenen Fragen und einige anderemüssen vernünftig und solide geklärt werden.

Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkungmachen, die vielleicht von der Bundesregierung als Auf-forderung angesehen werden kann, um in ihren letztenWochen in diesem Bereich noch einmal tätig zu werden.Es wäre nicht schlecht, wenn Sie zeitgleich zu diesem

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Dr. Günter Krings

Gesetzgebungsverfahren dafür sorgten, dass der Staatmit gutem Beispiel vorangeht und nicht nur Ankündi-gungen macht. Er sollte dafür sorgen – dafür brauchtman kein Gesetz –, dass die Bezüge von Vorstandsmit-gliedern in Gesellschaften, die dem Bund gehören,durchgängig offen gelegt werden.

Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass der ge-plagte Bahnkunde und Steuerzahler ein Interesse daranhat, die Bezüge etwa von Herrn Mehdorn zu erfahren. Sowie der Aktionär als Privateigentümer ein berechtigtesInteresse an der Offenlegung hat, so hat es auch der Bür-ger als Steuerzahler. Der Staat wirkt allemal glaubhafter,wenn er in seinem unmittelbaren unternehmerischenVerantwortungsbereich nicht anders handelt, als er esvon der Privatwirtschaft erwartet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Thea Dückert, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist manchmal schon erstaunlich – ich will ja nichts gegenJuristen sagen –, wie Juristen es immer wieder schaffen,einfache Sachen ganz kompliziert darzustellen. HerrKollege Krings, was wir wollen, ist ganz einfach; Siebrauchen gar nicht zu spekulieren. Wir wollen das, wasinternational längst Standard ist, nämlich eine Offenle-gungspflicht auch in Deutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dann sind wir uns ja einig! Sie müssenes nur richtig machen!)

In der Schweiz, in Frankreich, in Skandinavien, in Groß-britannien und in den USA ist das Standard. In den USAist das schon seit 1932 so.

(Rainer Funke [FDP]: Die haben auch ein ganz anderes Rechtssystem!)

Dort hat man in der jüngsten Zeit die Regelungen nocheinmal verschärft.

Es ist also Standard. Wir wollen das auch hier, weil esselbstverständlich ist, Transparenz herzustellen. Wennman auf die Erfahrungen im Ausland blickt, stellt manfest, dass das weder zum Zusammenbruch von Großkon-zernen noch zur Verarmung von Spitzenmanagern ge-führt hat.

Die Offenlegung von Managergehältern bei uns sollteselbstverständlich sein. Da muss sich allerdings in denKöpfen zum Teil schon noch eine ganz andere Denk-weise einstellen; das ist richtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich denke übrigens auch, dass es für Unternehmen, andenen der Bund maßgeblich beteiligt ist, ebenfallsselbstverständlich sein sollte.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die deutsche Heimlichkeit verursacht im AuslandKopfschütteln. Die Bundesregierung und die rot-grüneKoalition wollten zunächst auf Selbstverpflichtung set-zen. Aber es hat sich nun gezeigt, dass beispielsweiseBMW, BASF, Porsche, Daimler-Chrysler nicht bereitsind mitzugehen.

(Jörg Tauss [SPD]:Schade!)

Deswegen ist es absolut notwendig, dass wir handeln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich möchte mich bei der Justizministerin ausdrücklichdafür bedanken, dass so schnell gehandelt worden ist.

(Rainer Funke [FDP]: Nach einem Jahr!)

– Sie haben doch gerade beklagt, dass es zu schnell geht.

(Rainer Funke [FDP]: Nein! Ich habe noch kein Wort gesagt!)

Vielleicht entscheiden Sie sich einmal, was Sie eigent-lich meinen.

Die Kontrolle darüber, ob ein Manager sein Millio-nengehalt auch wert ist, wird in Deutschland offenbarimmer noch gescheut. Manager vergleichen sonst gerninternational, mit Konzernen in den USA oder anderswo,aber den persönlichen Leistungsvergleich wollen sie of-fenbar nicht antreten. Das ist wirklich ein Armutszeug-nis für die deutschen Unternehmen. Es ist ein Bären-dienst, der von BMW, BASF, Daimler-Chrysler undPorsche den Managern anderer deutscher Unternehmenerwiesen wird. Deswegen ist es gut, dass wir jetzt han-deln.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass hohe Be-züge in irgendeiner Weise bekämpft, gedeckelt oder in-frage gestellt werden; es geht wirklich schlichtweg da-rum, ob sie leistungsadäquat sind. Ich denke, dass essowohl gegenüber den Aktionären als auch gegenüberder Öffentlichkeit eine Rechtfertigungspflicht gibt in derFrage, ob dem Gehalt auch eine entsprechende Leistunggegenübersteht.

Dass da im öffentlichen Diskurs immer wieder Frage-zeichen gemacht werden, ist völlig klar angesichts des-sen, dass auf der einen Seite Millionenbezüge und aufder anderen Seite Arbeitsplatzverluste, Kurseinbrücheund Ähnliches stehen. Wenn das so ist, muss Transpa-renz hergestellt werden und müssen die Manager ge-zwungen werden, sich einer Kontrolle zu stellen und ei-ner Rechtfertigung zu unterziehen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

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Dr. Thea Dückert

Wir wollten das schon lange. Ich bin froh darüber,dass es jetzt von der Justizministerin so umfassend aufden Weg gebracht worden ist, dass auch Erfolgsprämien,Pensionszahlungen, Aktienoptionen dargestellt werdenmüssen, aber auch Abfindungszahlungen und finanzielleVereinbarungen, beispielsweise bei Übernahmen. Manbraucht nur an die Übernahme von Mannesmann zu den-ken. Wir haben in Deutschland schlechte Erfahrungengemacht.

Allerdings denke ich, dass die Opting-out-Regelungin der jetzigen Fassung zu großzügig ausgefallen ist. Ichhabe große Sorge, dass die Ausübung des Stimmrechtsdurch Kreditinstitute und Großaktionäre zu einer sehreinfachen und schnellen Umgehung der Offenlegungs-pflicht führt. In den einschlägigen Fachzeitschriften gibtes schon Spekulationen darüber, welches Unternehmendas erste sein wird, in dem ein Freibrief für die Managerausgestellt wird. Es wird Porsche sein, so wird speku-liert; vielleicht wird es aber auch ein anderes Unterneh-men sein. Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Opting-out-Regelung zu verschärfen und nicht noch zu erleich-tern ist, wie das die CDU/CSU vorschlägt. Wir wollenkein Gentlemen’s Agreement auf den Chefetagen. Wirwollen, dass auch die Kleinaktionäre die Möglichkeitzur Beurteilung bekommen.

Die Kultur der Heimlichkeit ist in Deutschland al-lerdings noch stark verankert, vor allem – wen wundertes? – bei den Kolleginnen und Kollegen von der FDP,die hierzu einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt haben.Ich denke, dieser eigene Gesetzentwurf zeigt, dass es imGrunde genommen darum geht, durch Verfahrenstricksdie Beschlussfassung hinauszuzögern bzw. zu verhin-dern.

Dieses Eintreten für Heimlichkeit hat mit sozialer undliberaler Politik überhaupt nichts zu tun,

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie war das noch im Untersuchungsausschuss?)

sondern ist Klientelpolitik und nichts anderes. Das ken-nen wir schon. Deswegen wundert uns das nicht. Immerda, wo über mehr Wettbewerb diskutiert wird und Ihreeigene Lobby betroffen ist – ich denke an das Gesund-heitsreformgesetz und die Apotheker –, stehen Sie in derersten Reihe und versuchen, Ihre eigene Klientel zu ver-teidigen. Ich hoffe, dass Sie damit nicht durchkommenund wir vielmehr in Deutschland das nachvollziehen,was im Ausland längst Alltag ist, nämlich Transparenz.Das beinhaltet eine Rechtfertigung vor den Aktionärenund vor der Öffentlichkeit, wie es um die Managergehäl-ter steht. Dann kann gemessen werden, ob ihr Verdienstihren Leistungen entspricht oder nicht. Darüber solltewirklich debattiert werden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Rainer Funke, FDP-Frak-

tion.

Rainer Funke (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Of-

fenlegung von Vorstandsbezügen beschäftigt uns ja seitüber einem Jahr, wobei unterschiedliche Meinungen ver-treten wurden.

(Beifall bei der FDP)

Mit dieser Diskussion wurde die Neiddebatte vonseitender Regierung und der Koalitionsfraktionen immer wie-der populistisch angeheizt.

(Jörg Tauss [SPD]: Na, na!)

Das muss man hinnehmen.

Die FDP bringt deswegen heute einen Gesetzentwurfein, der sich mit den eigentlichen Fakten auseinandersetzt. Wir als Gesetzgeber sollten uns nicht an der Neid-debatte beteiligen. Ziel ist vielmehr die einzig logischeund richtige Regelung,

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Alles beim Alten zu lassen!)

nämlich die Rechte der Aktionäre zu stärken. In dieserHinsicht sind wir mit der Ministerin einer Meinung.

(Beifall bei der FDP)

Die Aktionäre sollen als Eigentümer der Gesellschaftenentscheiden, ob die Vorstandsgehälter offen gelegt wer-den oder nicht.

Die These, die hier mehrfach in den Raum gestelltworden ist, dass eine gesetzliche Offenlegung aufgrunddes internationalen Vergleichs notwendig sei, stimmt sonicht. In den Ländern, in denen eine gesetzliche Offen-legungspflicht besteht, sind die Gesellschaften anderskonzipiert als die deutsche Aktiengesellschaft. In diesenLändern – es sind zumeist Common-Law-Länder – ha-ben die Gesellschaften nur ein Organ, nämlich dasBoard. Dieses bestimmt sich selbst sein Gehalt. Des-wegen ist ein Zwang zur Offenlegung in diesen Rechts-ordnungen gerechtfertigt, um In-sich-Geschäften undSelbstbedienungsmentalität vorzubeugen. Diese Begrün-dung ist aber auf deutsche Gesellschaften nicht zu über-tragen; denn hier entscheiden die Aufsichtsräte – in derRegel von Gewerkschaften mitbestimmte Aufsichts-räte – über ein angemessenes Gehalt der Vorstände.

Zur Förderung der Transparenz der Vorstandsgehältersehen wir in unserem Gesetzentwurf eine Stärkung derAktionärsrechte vor.

(Beifall bei der FDP)

Diese sind die Anteilseigner des Unternehmens. Die Ak-tionäre sollen selbst entscheiden können, und zwar miteinfacher Mehrheit in der Hauptversammlung, ob sieeine Offenlegung wünschen. Wir können in der Tat, HerrDr. Krings, darüber diskutieren, ob wir zum Zwecke desMinderheitenschutzes ein anderes Quorum wählen. Dabin ich bei den anstehenden Beratungen im Rechtsaus-schuss ganz offen.

(Jörg Tauss [SPD]: Mit Minderheiten kennt ihreuch ja aus bei der FDP! – Gegenruf des Abg.Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ihr baldauch!)

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Rainer Funke

– Ich fürchte, auch Sie werden bald dahin kommen, HerrTauss.

Die Aktionäre können ferner festlegen, ob die Offen-legung für jedes Vorstandsmitglied ausgewiesen werdensoll. Es obliegt ihnen darüber hinaus, den Auftrag zu er-teilen, die Gesamtbezüge des Vorstands nach den einzel-nen Positionen aufzuschlüsseln. Nach unserem Vor-schlag soll der Beschluss einer Hauptversammlung dasUnternehmen für drei Jahre und nicht wie bei Ihnen fürfünf Jahre binden. Den Anteilseignern haben wir damiteinen maximalen Entscheidungsspielraum gegeben; dasist auch demokratisch.

(Beifall bei der FDP)

Dagegen ist ein gesetzlicher Zwang ein Eingriff in dieRechte der Aktionäre und damit eine Entmündigung.Das können wir nicht mittragen. Deswegen lehnen wirden Entwurf der Koalitionsfraktionen ab.

(Beifall bei der FDP)

Wir erwarten nun von Ihnen, verehrte Kollegen, einordentliches parlamentarisches Verfahren,

(Jörg Tauss [SPD]: Aber selbstverständlich!)

so wie bei jedem Gesetzentwurf. Sie kommen in aller-letzter Sekunde und bringen diesen Gesetzentwurf ein.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Davon kann keine Rede sein!)

Wir wollen aber ordnungsgemäß beraten. Herr Scholz,Sie lächeln mich so an, das ist sehr nett. So wie wir esbeim KapMuG und beim UMAG gemacht haben, somöchten wir auch diesen Gesetzentwurf ordnungsgemäßmit Ihnen beraten. Das ist auch in dieser Legislaturpe-riode noch möglich. Wer das Gerücht aufgebracht hat,dass wir den Gesetzentwurf verzögern wollten, weiß ichnicht. Wir wollen ihn nicht verzögern, wir werden kon-struktiv daran mitarbeiten.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stand aber in allen Zeitungen!)

– Es stimmt nicht alles, was in den Zeitungen steht, dasmüssten Sie, Herr Kollege, wissen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JörgTauss [SPD]: Sehr gut! – Wilhelm Schmidt[Salzgitter] [SPD]: Das ist richtig, Herr Funke!Das sollten wir mal in Stein meißeln! –Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das hät-ten Sie dementieren können!)

– Ich bin heute gefragt worden und habe das mehrfachdementiert.

Meine Damen und Herren, wir werden hier also nichtin Wahlkampf ausbrechen,

(Zurufe von der SPD: Was?)

sondern werden das ordnungsgemäß beraten – wenigs-tens bei diesem Gesetz. Ich hoffe auf Ihre Mithilfe.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Olaf Scholz, SPD-

Fraktion.

Olaf Scholz (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku-

tieren hier ein sehr wichtiges Gesetz, das die Öffentlich-keit, aber auch die Wirtschaft in unserem Lande schonlange verlangt hat. Es geht darum, dass wir eine der ganzwichtigen Voraussetzungen marktwirtschaftlicher Ge-sellschaften gewährleisten, nämlich Transparenz undOffenheit. Märkte, bei denen man nicht weiß, wereigentlich was macht, funktionieren nicht.

Natürlich gehört es zur Wirklichkeit unserer Republikund zu den Erfahrungen, die wir in der Wirtschaft ge-wonnen haben, dass manches in den Vorständen undAufsichtsräten fast wie in einer Gruppe von Leuten, diesich schon lange kennen, ausgemacht wird. Das ist abermehr Feudalismus als Marktwirtschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern brauchen wir dringend eine Veränderung in die-sem Bereich. Das soll dieses Gesetz zustande bringen.

Das Gesetz hat einen zweiten Vorzug, den man unbe-dingt erwähnen muss: Es ist weise. Es ist ein weises Ge-setz, weil wir vorschreiben, dass Vorstandsgehälter offengelegt werden müssen, sodass jeder Bescheid weiß, wasdie Vorstände verdienen, und zwar in den Details, die da-für notwendig sind. Aber weil es um die Rechte von Ak-tionären und Eigentümern geht und nicht um Voyeuris-mus, sagen wir: Wenn die das partout nicht wissenwollen, dann brauchen sie es auch nicht zu wissen. Mitdieser weisen Lösung, die sich aufdrängt, mit diesemOpting-out, ist auch verbunden, dass jeder Einwandüberflüssig ist, dass es sich bei dem Gesetz um ein ver-fassungsrechtlich bedenkliches Gesetz handele.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Niemandes Recht ist betroffen, die Aktionäre und dieEigentümer können machen, was sie wollen – allerdingsschreiben wir einen Regelfall vor.

Das ist – das will ich ausdrücklich sagen – auch drin-gend notwendig; denn eines sollten wir, wenn wir unsalle hier versichern, eigentlich das Gleiche zu wollen,aber unterschiedliche Vorschläge zu haben, an dieserStelle nicht machen: Das ist aus meiner Sicht dasjenige,was ich gerne als den Stoiber-Sozialismus bezeichne.Der Stoiber-Sozialismus geht so: Man kündigt in der„Bild“-Zeitung etwas an – alle sind begeistert –, machtes dann aber hinterher nicht wahr oder macht Vor-schläge, die so wenig mit der Ankündigung zu tun ha-ben, dass das „Handelsblatt“, die „Wirtschaftswoche“und die „Financial Times Deutschland“ berichten kön-nen: Herr Stoiber ist doch nicht so schlimm.

Deshalb müssen wir dieses Gesetz so gestalten, dasses wirklich zur Veröffentlichung von Vorstandsgehälternführt – es sei denn, die Aktionäre wollen das nicht. Der

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Olaf Scholz

Vorschlag, den wir hier von der Union gehört haben, istinsofern schön, als er Konstruktivität zumindest zeigt

(Jörg Tauss [SPD]: Andeutet!)

– „andeutet“, ja; man soll das nicht schlecht finden,wenn jemand Konstruktivität andeutet –, er hat aber ei-nen Nachteil: Es käme dann gar nicht zur Veröffent-lichung von Vorstandsgehältern. Das ist eine Variantedes Stoiber-Sozialismus. Man erweckt den Eindruck,man sei auch dafür, kann aber den beteiligten Spendenfördernden Wirtschaftskreisen vermitteln: Es kommtdoch nicht. Das, glaube ich, ist etwas, was in seiner Un-ehrlichkeit nicht hilfreich ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wo ist denn der Genosse der Bosse?)

Deshalb werden wir den Vorschlag natürlich nicht mit-machen, wir werden nicht sagen: Es kommt nur dann zueiner solchen Regelung, wenn eine Minderheit – ichglaube, von 25 Prozent – der Aktionäre das verlangt;denn dann würde es nie dazu kommen. Im Übrigen istdas Argument auch nicht logisch. Muss sich jemand25 Prozent des Aktienkapitals kaufen, um herauszufin-den, ob die Vorstandsvergütungen so hoch sind, dass essich nicht gelohnt hat, die Aktien zu kaufen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist doch die Konsequenz, die dabei herauskommt.Wir wollen auf dem Kapitalmarkt nicht nur eine Infor-mation für diejenigen bieten, die schon Aktionäre sind,sondern es geht auch um diejenigen, die sich überlegen– diese brauchen wir, wenn unsere Marktwirtschaftfunktionieren soll –, ob sie sich eine solche Beteiligungkaufen,

(Rainer Funke [FDP]: Das steht doch heute schon in der Bilanz!)

seien es 100 Aktien oder eine Aktie oder wirklich eineBeteiligung von 25 Prozent. Aber dass es immer gleichso viel sein muss, um herauszufinden, ob das Investmentrichtig ist, ist falsch und macht die Unehrlichkeit IhrerPosition deutlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, bei aller Diskussion überdie Unterschiede geht es mir hier nur darum, deutlich zumachen, auf welche Weise wir miteinander klarkommenkönnen und auf welche Weise nicht. Wir können uns ei-nigen, wenn Sie wirklich ein Gesetz wollen, das zur Ver-öffentlichung von Vorstandsbezügen beiträgt. Dann wer-den wir auch über Details reden können. Aber wirwerden uns nicht einigen, wenn es nur danach aussehensoll. Das ist der Unterschied zwischen den Vorschlägen,die ich bisher von der FDP und von Ihnen gehört habe,und dem ehrlichen, gut ausgewogenen Gesetzentwurf,den die Bundesregierung hier vorgelegt hat.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Nun hat Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.

Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Es ist vernünftig – darüber brauchen wir uns auch gar

nicht künstlich zu streiten –, mehr Transparenz zu schaf-fen. Was die Cromme-Kommission vorgeschlagen hat,ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Frage ist: Wiesetzt man das möglichst vernünftig und zielführend um?

Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Die erste ist,öffentlichen Druck zu erzeugen und auf freiwillige Lö-sungen zu setzen. Man kann sich darüber unterhalten,wie lange man das probieren will. Wenn man dann er-kennt, dass das Ziel nicht erreicht wird, kann man ge-setzgeberisch handeln. Auch das ist völlig unstreitig.Wir können eine kleine Differenz darüber haben, ob dasHandeln gerade jetzt richtig ist. Der geplante Zeitpunkthat ein bisschen ein Geschmäckle. Ihr Müntefering hatdie Kapitalismuskritik angefangen. Er hat keine Maß-nahmen dagegen und da kommt das gerade zupass. Dasist der Müntefering-Sozialismus:

(Jörg Tauss [SPD]: Der ist mir aber lieber als der Stoiber-Sozialismus!)

Er beklagt die Heuschrecken, hat keine Lösung dafür,lässt dann schnell einen Gesetzentwurf, wie wir ihn hiervorliegen haben, auf die Schiene bringen und sagt: Es istdoch alles gar nicht so schlimm; aber es hilft in demSinne, den ich gemeint habe. Dieser Müntefering-Sozia-lismus hilft uns aber auch nicht weiter. Die erste Mög-lichkeit ist also Freiwilligkeit und öffentlicher Druck.

Die zweite Möglichkeit ist: Wir schreiben vor, dass esberaten werden muss,

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist der Schauersozia-lismus!)

lassen den Aktionären aber die Freiheit, zu entscheiden,ob sie das mit einem Quorum von 25 Prozent beschlie-ßen wollen oder nicht. Ihr Gesetzentwurf aber sieht vor,das per Gesetz zu beschließen, es sei denn, 75 Prozententscheiden sich dagegen. Interessanterweise, HerrScholz, haben wir in beiden Fällen die 25 Prozent: Sievon unten, wir von oben.

(Olaf Scholz [SPD]: Das ist das gute Wahler-gebnis bei der Bundestagswahl!)

In jedem Falle entmündigen wir den Teil, der sich nichtdurchsetzen kann, und zwingen den anderen Teil. Das istein Stück weit ein Streit um des Kaisers Bart.

Nur damit das zwischen uns klar ist: Wir wollen, dassTransparenz hergestellt wird. Wir möchten vermeiden,dass das damit verbunden wird, dass man das schon im-mer wissen wollte und dass alles ungerecht sei, was dageschehe. Wir betrachten das als einen Beitrag, dieNeidkultur, die wir in Deutschland leider haben, besserbekämpfen zu können. Wir glauben, dass man, wenn

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16940 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

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Hartmut Schauerte

man offen zeigt, was Sache ist, weniger Neid produziert,als wenn man heimlich handelt. Deswegen ist das ein ge-meinsames Ziel. Wenn Sie nicht einen Fehler beim Zeit-punkt gemacht hätten, hätten wir überhaupt kein Pro-blem damit, jetzt gemeinsam den richtigen Weg zudefinieren, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen.Dass der Gesetzentwurf jetzt in einer solchen Hektikverabschiedet werden soll, dass wir vorher kaum nochdurch einen Sachverständigen ein paar Rechtsfragen, diees immer noch gibt und die man vernünftig einkreisenkönnte, klären lassen können, ist ärgerlich. Sie wissenselber, dass das auch dem Gesetz nicht gut tut. Es tätedem Gesetz gut, wenn wir es einvernehmlich beschlie-ßen könnten. Dann hätte es die höchste Akzeptanz undauch die beste erwünschte Wirkung. Ich bedaure, dassdas Gesetz jetzt in diesen Clinch gekommen ist. Aberwir konnten das nicht steuern; Sie hätten es steuern kön-nen.

Wir empfehlen, in einem Berichterstattergesprächnoch einmal ernsthaft zu versuchen, den Gesetzentwurf,so hektisch die Zeiten auch sind, einvernehmlich zu for-mulieren. Dann wird er eines Verdachts enthoben, in dener nicht kommen darf. Ob nicht der eine oder andere dasvielleicht geregelt haben möchte, um es hinterher imWahlkampf zu instrumentalisieren, ist eine andere Frage.

Es wäre für die Aktienkultur in unserem Land wich-tig, wenn sich dieser Verdacht ausräumen ließe. Wir bie-ten unsere Bereitschaft an, daran mitzuwirken.

Wir legen großen Wert auf Praktikabilität; KollegeKrings hat dies schon angesprochen. In dem einen oderanderen Fall ist eine Veröffentlichung praktikabel. Denentsprechenden Katalog würde ich mir aber gerne nochgenauer anschauen. Wir sind daran interessiert, ein büro-kratisches Monstrum zu vermeiden. Denn wenn die Um-setzung scheitern würde, wären wir es, die Änderungendurchführen müssten, nachdem wir den Regierungsauf-trag erhalten haben.

Damit Sie glauben, dass wir wirklich redlich an die-sem Thema interessiert sind, möchte ich Ihnen Folgen-des versichern: Wenn – aus welchen Gründen auch im-mer – dieser Gesetzentwurf jetzt nicht verabschiedetwird, werden wir später ein entsprechendes Gesetz ver-abschieden, das in der von mir beschriebenen Weisewirkt. Wir wollen, dass die offenen Fragen geklärt wer-den; denn wir brauchen Transparenz. Wenn sich unsereGesellschaft in diesem Punkt schwer tut, dann müssenwir an der einen oder anderen Stelle für einen Anschub-impuls sorgen, damit es in dieser Frage zu Veränderun-gen kommt. Ich denke, wir liegen inhaltlich nicht sehrweit auseinander.

Dass es bei dieser Sache ein Geschmäckle gibt, hängtmit Fehlern zusammen, die in den Fällen Ron Sommerund Klaus Esser gemacht wurden. Da sind sozusagenRaketen losgegangen, die uns alle wach gemacht haben.

(Jörg Tauss [SPD]: Wir haben noch nie ge-schlafen!)

– Das weiß ich. Guten Morgen, Herr Tauss!

(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])

– Da sind wir ja wach geworden.

Es ist interessant, diese Fälle einmal zu rekapitulie-ren. Ron Sommer stand quasi einem Staatsunternehmenvor.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Herr Overhaus!)

Da hätten Sie oder wir – also diejenigen, die gerade denMinister und die Verwaltungsräte stellten – alles klärenkönnen. Herr Esser stand einem in vollem Umfang pari-tätisch mitbestimmten Unternehmen vor.

(Jörg Tauss [SPD]: Na, na!)

Von Gewerkschaftsseite hätte enorm viel getan werdenkönnen. Aber die Gewerkschaft hat verschwiegen, dasssie an der Abfindungsregelung für Herrn Esser mitge-wirkt hat. Es war schon eine interessante Konstellation.

Wir wollen – ich bleibe bei meiner Aussage –, dass esein solches Gesetz gibt.

Ich habe schon die Praktikabilität und die öffentlichenUnternehmen – dies ist mein letzter Gedanke – ange-sprochen.

(Jörg Tauss [SPD]: Sprechen Sie doch einmalden öffentlich-rechtlichen Rundfunk an! Derwar auch dafür!)

– Wir haben damit überhaupt kein Problem, Herr Tauss. –Wir haben einen ganz klaren Kurs: Wir glauben – das istunser Kerngedanke –, dass es durch mehr Transparenzzu weniger Neid in unserer Gesellschaft kommt. Aberdiese Transparenz muss richtig eingestielt werden unddarf nicht an den falschen Punkten hochgezogen werden.Insofern haben Sie dieser Sache mit dem vorliegendenGesetzentwurf zu diesem Zeitpunkt einen Bärendiensterwiesen. Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, mit Ih-nen gemeinsam eine Lösung zu suchen.

Meine Schlussbemerkung. Die falschen Motive beidem einen oder anderen, der diesen Gesetzentwurf un-terstützt, können uns nicht daran hindern, an dem mitzu-wirken, was wir für richtig halten. Ich bin gespannt, obSie dieses ernsthafte Angebot annehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Nina Hauer, SPD-Frak-

tion.

Nina Hauer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

FDP legt einen Gesetzentwurf mit dem Titel „Eigentü-merrechte-Stärkungsgesetz“ vor. Wenn Sie die Rechteder Eigentümer von Aktien und damit von Unternehmenstärken wollen, dann müssten Sie eigentlich unseremGesetzentwurf zustimmen, Herr Funke.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Dass Sie nicht verstanden haben, um was es uns ei-gentlich geht, sieht man an der Problembeschreibung inIhrem Gesetzentwurf. Dort steht, dass es um die Kon-

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Nina Hauer

trolle der Angemessenheit der Bezüge ginge. Aber da-rum geht es doch gar nicht.

(Rainer Funke [FDP]: Uns geht es darum! –Jürgen Koppelin [FDP]: Sie haben es nicht ka-piert!)

Es geht am allerwenigsten um die Höhe der Bezüge. Esgeht vielmehr darum, wie sie sich zusammensetzen. Ein-fach gesagt, geht es darum, festzustellen, nach welchenRegeln der Manager tickt. Sie können das gerne mit derDebatte über die Offenlegung von Nebeneinkünften derPolitiker, die Sie ja – vielleicht aus denselben Gründen –auch nicht wollen, vergleichen.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)

Es geht also darum, aufzulisten, nach welchen Krite-rien jemand bezahlt wird: Wird er dafür bezahlt, dass erdas Unternehmen nach vorne bringt? Wird er für dasSterben von Beteiligungsgesellschaften bezahlt, wo-durch Arbeitsplätze verloren gehen? Wird er dafür be-zahlt, dass der Aktienkurs nach oben geht, oder wird erdafür bezahlt, neue Märkte zu erobern?

(Rainer Funke [FDP]: Vielleicht nach dem Ge-winn!)

Diese Fragen kann man beantworten, wenn man die Ver-gütungen von Vorständen offen legt. Es geht also über-haupt nicht um die Höhe und um eine Neiddebatte.

(Rainer Funke [FDP]: Doch!)

Im Gegenteil: Es geht um die Stärkung der Aktienkul-tur in Deutschland.

Sie sind bei jeder Gelegenheit dabei, wenn es darumgeht, große Unternehmen zu verteidigen.

(Rainer Funke [FDP]: Was? Ich komme aus ei-nem mittelständischen Unternehmen!)

Unterstützen Sie doch einmal die Aktienkultur!

Wir fordern die Menschen auf, ihr für die Altersver-sorgung vorgesehenes Geld in Aktien anzulegen. Wirwollen erreichen, dass Leute, die Aktien kaufen, mehrEigentümerrechte haben; Herr Funke, da können Siegleich mitmachen. Wir müssen ihnen dann aber auch dieMöglichkeit geben, zu beurteilen, wie sich das Unter-nehmen, an dem sie beteiligt sind und dem sie vielleichteinen Teil ihres für die Altersversorgung vorgesehenenGeldes anvertrauen, entwickeln und nach welchen Re-geln es aufgestellt sein wird. Dabei geht es nicht darum,zu sagen: Die Vergütung, die gezahlt wird, ist zu hoch.Es geht darum, zu sagen: Die Entwicklung geht in diefalsche Richtung.

Die Sixt AG hat jetzt angekündigt, auf ihrer Haupt-versammlung einen Vorratsbeschluss zu fassen und dieOpting-out-Regel zu nutzen, bevor sie überhaupt gesetz-lich vorgesehen ist, um festzustellen, dass sie ihre Vor-standsvergütung nicht offen legen wird – mit derBegründung, das Gehalt sei Privatsache. Wer Eigentü-merrechte stärken will, darf nicht sagen, dass das Gehaltder Vorstände von Aktiengesellschaften Privatsache sei.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist Sache der Eigentümer.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dann taugt Ihr Gesetz ja gar nichts!)

Herr Krings, Ihr Vorschlag, der von Herrn Schauerteunterstützt wurde, hört sich so an, als ob Ihnen nichts an-deres eingefallen wäre. Aber wenn man sich genau be-trachtet, was Sie da wollen, stellt man fest, dass dasnatürlich eine perfide Strategie ist. Eine Hauptver-sammlung ist bei allen demokratischen Regeln, die dagelten mögen, kein Parlament. Aus der Mitte der Haupt-versammlung wird es keinen Vorschlag geben. Aberselbst wenn ein solcher gemacht wird und er dann fürdrei oder fünf Jahre gelten soll, wird es der Hauptver-sammlung nicht möglich sein, mit der Offenlegung derBezüge zu hantieren. Denn eine solche wird zwar be-schlossen werden können; aber dann wird man die Of-fenlegung erst über die nächsten Jahre hinweg verfolgenkönnen.

Es geht aber darum, dass die Vergütungen schon aufder Hauptversammlung selber offen gelegt sind. DieHauptversammlung kann sich dann mit einer Dreivier-telmehrheit dazu entscheiden, den Opting-out-Weg zuwählen. Der Gesetzentwurf ist ja in dieser Hinsicht of-fen.

Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Hauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Koppelin?

Nina Hauer (SPD): Ja.

Jürgen Koppelin (FDP): Frau Kollegin, ich möchte Sie gern fragen, wie Ihre

Haltung zu Unternehmen ist, an denen der Bund zu100 Prozent beteiligt ist. Mir fällt spontan die KfW unddie GTZ – ich könnte noch mehr aufführen – ein, in de-nen nach meiner Erkenntnis einige Leute höhere Gehäl-ter als zum Beispiel ein deutscher Ministerpräsident be-kommen. Sind Sie dafür, diese Gehälter offen zu legen?

Nina Hauer (SPD): Ich habe nichts dagegen, dass man das auch bei Betei-

ligungsgesellschaften des Bundes macht. Ich finde, daswird die Beteiligungskultur eher stärken als schwächen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Jürgen Koppelin [FDP]: Warum machen Sie esdann nicht? – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]:Das haben Sie in der Eile vergessen!)

– Herr Koppelin, wir bringen erst einmal den vorliegen-den Gesetzentwurf ein.

Die Frage, welches Thema die Hauptversammlungbeherrscht, darf aus meiner Sicht nicht lauten: Wollenwir in den nächsten Jahren wissen, was die Vorstände

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Nina Hauer

verdienen? Ich muss vielmehr anhand der Vorstandsver-gütungen sehen können, wohin sich das Unternehmen,auf dessen Hauptversammlung ich bin, entwickelt.

(Rainer Funke [FDP]: Das steht doch alles in der Bilanz!)

Dazu darf ich dann auch etwas sagen.

Die Entscheidungen, die da getroffen werden, sindnicht von der Alternative hopp oder top geprägt. Es gehtalso nicht gegen oder für eine Offenlegung. Die Ent-scheidung ist vielmehr, ob ich aus der zunächst gesetz-lich festgelegten Offenlegung aussteigen will. Aber be-vor ich aussteige, kann ich dazu etwas sagen.

Das hat mit einer Stärkung der Aktienkultur weitausmehr zu tun als Ihr Vorschlag, der dazu führen wird, dasssich dieses Thema auf der Hauptversammlung gar nichtin dieser Form stellen wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPD-

Fraktion.

Christian Lange (Backnang) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Am 19. Januar dieses Jahres hat eine Gruppe von40 Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion eineneigenen Entwurf eines Gesetzes zur Transparenz vonVorstandsbezügen aufgelegt. Ich will Ihnen, Frau Minis-terin, und der Bundesregierung an dieser Stelle Dank da-für sagen, dass Sie diesen Gesetzentwurf aufgegriffenund damit Sorge dafür getragen haben, dass wir, dieFraktionen wie die Bundesregierung, heute diesen Ent-wurf eines Gesetzes zur Offenlegung von Vorstandsver-gütungen beraten können.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Warum haben wir dies getan? Wir haben diesen Ge-setzentwurf zum Ersten nicht als Gegensatz zumCromme-Kodex verstanden. Ganz im Gegenteil habenwir immer gesagt: Dies geschieht zusätzlich, weil einGroßteil der im Cromme-Kodex festgelegten Maßnah-men umgesetzt wird und sie kein Gegensatz zu unseremGesetzentwurf sind, sondern sich ergänzen.

Wir haben uns zum Zweiten an die Skandale der ver-gangenen Jahre erinnert. Einer davon war die Mannes-mann-Übernahme. Wir haben uns ganz genau ange-schaut, wie die Anklage lautete. Klaus Esser sowieweitere Manager dieses Konzerns mussten sich des Vor-wurfs der gemeinschaftlichen Untreue in einem beson-ders schweren Fall bzw. der Beihilfe verantworten. Siehatten, so die Anklage, die 180 Milliarden Euro teureÜbernahme von Mannesmann durch den Mobilfunkrie-sen Vodafone Anfang 2000 genutzt, um Managern undExvorständen des Unternehmens ungerechtfertigteAbfindungen in Höhe von fast 60 Millionen Euro zuzu-

schieben. Wir haben gedacht: Dies muss uns als Gesetz-geber in der Tat beunruhigen; es besteht Handlungsbe-darf.

Was ist uns dabei ganz besonders wichtig? ZweiPunkte sind bereits erwähnt worden. Der eine ist der An-legerschutz. Es in der Tat wichtig, dass auch Kleinaktio-näre die Chance haben, Einsicht zu nehmen, und nichtnur die großen, die vielleicht besser informiert sind. ZumZweiten wollen wir die Aktienkultur in Deutschlandstärken, indem wir dafür Sorge tragen, dass nicht nur die30 DAX-Unternehmen, die den Cromme-Kodex unter-zeichnet haben, sondern alle börsennotierten Unterneh-men davon erfasst werden – wie es der ursprünglicheGesetzentwurf vorgesehen hatte. Genau das ist jetzt imGesetzentwurf enthalten und das finden wir ganz we-sentlich. Deshalb fiel es uns leicht, unseren eigenenGesetzentwurf zugunsten eines gemeinsamen Gesetzent-wurfs der Koalition und der Bundesregierung zurückzu-ziehen.

Ich will einen Kritikpunkt aufgreifen, der vonseitender FDP eingebracht wurde: die Absenkung der Mehr-heitsregelung beim Opt-out. Ich will Ihnen ganz deutlichsagen: Ich bin in der Tat der Auffassung, dass dies derfalsche Weg ist. Das zeigen übrigens auch die Reaktio-nen. Ich habe mich gewundert, dass ausgerechnet derVorstandsvorsitzende der Firma Porsche AG, HerrWiedeking, diesen Gesetzentwurf als „Sozialismus aufVorstandsebene“ bezeichnete. Wenn es richtig ist, wasdie Kollegen der CDU/CSU gesagt haben – dass Trans-parenz nicht nur die Aktienkultur stärkt, sondern auchgegen Neid und Missgunst hilft –, dann ist dies genaudie falsche Antwort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dies bestärkt uns darin, in der Frage des Dreiviertel-quorums auf gar keinen Fall herunterzugehen.

Lassen Sie mich noch einen Punkt aufgreifen, denKollege Schauerte erwähnt hat: die Frage der Büro-kratie. Wir haben uns in der Tat umgeschaut, wie es inanderen Ländern ist. In Großbritannien gibt es eine Vor-schrift, die unserer ähnlich ist; die Offenlegungspflichtenwerden in einer 27-seitigen Verwaltungsvorschrift imDetail dargestellt. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf da-mit vergleichen, werden Sie feststellen, dass wir denGrundgedanken der Offenlegung aus Großbritannienaufgegriffen haben, dass es uns aber gelungen ist, dasauf 4 Seiten darzustellen. Das ist das beste Beispiel da-für, wie man einen schlanken und, wie ich meine, intelli-genten Gesetzentwurf auf den Weg bringen kann.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er muss kurz und gut sein, nicht nur kurz!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Lange, gestatten Sie kurz vor Ende Ihrer

Redezeit noch eine Zwischenfrage der Kollegin Hauer?

Christian Lange (Backnang) (SPD): Die kommt mir wunderbar gelegen. Gerne.

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Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wie bestellt. – Bitte schön.

Christian Lange (Backnang) (SPD): Schauen wir einmal, was sie fragt.

Nina Hauer (SPD): Herr Lange, ist der Vorwurf gerechtfertigt, das sei

wieder so eine rot-grüne Sonderidee, in anderen Ländernwerde das ganz anders gemacht?

Christian Lange (Backnang) (SPD): Frau Kollegin, ich bin Ihnen dankbar für die Frage.

Insbesondere von Herrn Funke wurde ja darauf hinge-wiesen, wir würden einen nationalen Sonderweg gehen,

(Rainer Funke [FDP]: Das habe ich nicht getan!)

weil die unterschiedlichen Formen der Vorstände unddie Organisation der Aktiengesellschaften – die Sie inden Mittelpunkt gestellt haben – nicht zu vergleichenseien: Boardsystem auf der einen Seite und Aufsichts-rat/Vorstand auf der anderen. Deshalb ist es wichtig, mitunserer Regelung in Deutschland internationale Stan-dards einzuführen, die in großen Ländern wie den USA,Kanada, Großbritannien, Irland, Frankreich, den Nie-derlanden, Österreich, der Schweiz und Schwedenschon gelten.

(Jörg Tauss [SPD]: Wo nicht?)

– Die Frage ist in der Tat, Herr Kollege Tauss: Wo nicht?

Wenn unser Gesetzentwurf jetzt mit Ihrer Hilfe – sohabe ich die Diskussion zumindest verstanden – einebreite Mehrheit im Hause findet, werden wir auch inDeutschland diese internationalen Standards zum Wohlealler Aktionärinnen und Aktionäre einführen.

Dafür herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war eineintelligente Redezeitverlängerung!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 15/5582 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. DerGesetzentwurf auf Drucksache 15/5577 – Tagesord-nungspunkt 24 – soll an dieselben Ausschüsse überwie-sen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge?

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ichstelle meine Bedenken zurück, Herr Präsi-dent!)

Mit dem freundlichen Entgegenkommen des KollegenSchmidt bezüglich seiner frei erfundenen Bedenken kön-nen wir diese Überweisungen einvernehmlich so be-schließen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b so-wie Zusatzpunkt 6 auf:

25 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenKlimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Deutschland für die Fußballweltmeisterschaft2006 fit machen – Längere Öffnungszeiten derAußengastronomie ermöglichen

– Drucksache 15/5452 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ErnstBurgbacher, Gudrun Kopp, Detlef Parr, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Sperrzeiten für Außengastronomie zur Fuß-ballweltmeisterschaft 2006 verbraucher-freundlicher gestalten – Freigabe der Laden-öffnungszeiten ermöglichen

– Drucksache 15/5581 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteFaße, Renate Gradistanac, Bettina Hagedorn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlin-burg), Werner Schulz (Berlin), Volker Beck(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Öffnungszeiten der Außengastronomie wäh-rend der Fußball-WM 2006 flexibel handha-ben

– Drucksache 15/5585 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus (f)Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

Ich weise darauf hin, dass hier nicht das voraussichtli-che Ergebnis der Fußballweltmeisterschaft verhandeltund verkündet wird, sondern dass es sich um die Gestal-tung nicht ganz unbedeutender äußerer Rahmenbedin-gungen handelt.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.

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Vizepräsident Dr. Norbert Lammert

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Kollege Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion.

(Jörg Tauss [SPD]: Es sind wirklich nur nochRedner bei denen anwesend! Keine Basismehr!)

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als Noch-Oppositions-politiker

(Jörg Tauss [SPD]: Das bleibt so!)

hat man ja selten Grund zur Freude. Kleine und GroßeAnfragen an die Regierung werden mehr schlecht alsrecht beantwortet. Für die eigenen Anträge erhält man,wenn man Glück hat, inoffiziell Lob von der Konkur-renz, sie werden aber abgelehnt.

Kleine Freuden hat man dadurch, dass man die ande-ren Fraktionen, so wie heute, mit eigenen Initiativen et-was zum Rotieren bringt. Den Kollegen Burgbachernehme ich hier ausdrücklich aus; denn wir haben in Sa-chen Sperrzeiten ja die gleiche verbraucherfreundlicheHaltung. Herr Kollege Burgbacher, in der Frage der La-denöffnungszeiten unterscheiden wir uns etwas. Deswe-gen stimmen wir Ihrem Antrag in diesem Punkt nicht zu.Wir enthalten uns bei der Abstimmung darüber. Uns gehtes primär um die Außengastronomie und eine Verbesse-rung der Situation dort.

Als wir unsere beiden Anträge eingereicht haben– wir als CDU/CSU und Sie als FDP –, habe ich mit In-teresse darauf gewartet, was Rot-Grün macht und obüberhaupt etwas kommt. Ich habe mich insgeheim ge-fragt, ob die Sozialdemokraten und die Grünen ihrespaßfreie Haltung korrigieren und ob sie unserem Antragzustimmen, weil sie momentan sowieso nicht so vielzum Lachen haben. Haben Sie vielleicht sogar selbst dieFreude entdeckt, länger als bis 22 Uhr im Freien eineApfelschorle oder meinetwegen auch eine Gerstenkalt-schale zu trinken?

(Brunhilde Irber [SPD]: Ich trinke Weißbier!)

Nein, weit gefehlt, Frau Irber. Sie können die Enttäu-schung, die ich hatte, als ich den rot-grünen Antrag sah,gar nicht nachvollziehen. Er war nicht nur offensichtlichmit der heißen Nadel gestrickt, er ist einfach schlecht

(Florian Pronold [SPD]: Wir wollen über Sielachen! Dafür brauchen wir keine längerenÖffnungszeiten!)

und er geht am Kern der Sache vorbei.

Sie gönnen uns, den Deutschen, und unseren Gästenzum Confederations Cup und zur WM wirklich nicht denHauch von Spaß.

(Brunhilde Irber [SPD]: Spaßpartei!)

Ich habe es in meiner letzten Rede hierzu ja schon ein-mal gesagt: Sie wollen Multikulti, aber zu deutschen La-denschlusszeiten. Das funktioniert nicht.

Weil ich den Eindruck habe, dass Sie die Grundlagenimmer noch nicht richtig verstanden haben, darf ich Ih-nen noch einmal deutlich machen, worum es wirklichgeht:

Die allgemeine Sperrzeit, die grundsätzlich auch fürdie Außengastronomie gilt, beginnt je nach Bundeslandzwischen 1 Uhr und 5 Uhr morgens. Die Sperrzeitenre-gelungen für die Außengastronomie werden durch dieLänder bzw. durch kommunale Bestimmungen in Ver-bindung mit immissionsschutzrechtlichen Vorschrifteneingeschränkt und daher eben auf 22 Uhr festgelegt.

(Jörg Tauss [SPD]: Dann endet der Spaß!)

– Dann endet der Spaß, genau. – Das Hauptproblem derAußengastronomie ist also der Lärmschutz. Deshalb ge-nügt für die Außengastronomie die alleinige Änderungdes § 18 Gaststättengesetz nicht, da für die Festlegungder Sperrzeiten immer die von der Freiluftgaststätte aus-gehende Geräuscheinwirkung berücksichtigt werdenmuss.

(Florian Pronold [SPD]: Kann man den Lärm-schutz nicht auch dadurch verstärken, dassman den Redner abkürzt?)

In der Regel führt das eben zum Schließen der Biergär-ten nach 22 Uhr.

Hier liegt der Kern des Problems. Freiluftgaststättenwerden nach der TA Lärm, der Technischen AnleitungLärm, beurteilt. Um es einfach zu formulieren: Weil dieAußengastronomie nicht in dieser TA Lärm aufgeführtist, gibt es zurzeit keine gesetzlichen Vorschriften, die dieImmissionen bzw. die Geräuscheinwirkung von Freiluft-gaststätten beurteilen und bewerten können. Trotzdemziehen Gemeinden und Gerichte bei Rechtsstreitigkeitendie TA Lärm zur Beurteilung der Geräuschimmissionenvon Biergärten als Richtschnur heran. So ist das leider.

Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Geräuschevon Freischankflächen – das sind hauptsächlichemenschliche Kommunikationsgeräusche; manchmal klirrtvielleicht ein Glas – wie technischer Lärm gemessen undnach der Technischen Anleitung Lärm bewertet werden.

(Brunhilde Irber [SPD]: Tische auch? –Florian Pronold [SPD]: Freischankflächen ge-ben menschliche Geräusche von sich?)

Diese kompromisslose Anwendung der auf die Bewer-tung von Industrielärm zugeschnittenen TA Lärm führtzu einer Überbewertung des individuellen Nachbar-schutzes und zu unsozialen und unverträglichen Ergeb-nissen.

(Florian Pronold [SPD]: Da müssen Sie aber gut ablesen!)

Menschliche Kommunikationsgeräusche, das Reden, dasLachen, die Unterhaltung, vielleicht auch einmal dasSingen, sollten eben nicht wie technische Geräusche,zum Beispiel Bohren, Hämmern oder Sägen, bewertetwerden. Deshalb sind ein gesondertes Messverfahrenund höhere Grenzwerte für Geräuschimmissionen unterBerücksichtigung von kurzfristig höheren Geräuschspit-

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zen für die Außengastronomie nicht nur sinnvoll, son-dern auch erforderlich.

Um dieses Kernproblem geht es. Hier ist das Parla-ment als Gesetzgeber gefragt. Hier müssen wir agieren.Das ist auch die Hauptforderung des Antrages der Libe-ralen und unseres Antrages. Wenn Sie das alles richtigverstanden haben, liebe Kollegin, dann müssen Sie IhrenAntrag zurückziehen und unserem Antrag zustimmen.Das, was Sie uns als Forderung präsentieren, ist eigent-lich nur traurig.

(Jörg Tauss [SPD]: Wir sind ja keine Spaß-partei!)

Sie beziehen sich als Kronzeugen für Ihre Haltung aufzwei Bundesländer. Ich weiß gar nicht, ob Sie gemerkthaben, dass dies CDU-regierte Länder sind,

(Brunhilde Irber [SPD]: Gerade deshalb! –Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dassollte Ihnen zu denken geben!)

nämlich Hamburg und Niedersachsen, die mit einer Aus-nahmeregelung besonders verbraucherfreundlich sind.Diese kommen den Wünschen der Gäste und der Bran-che durch ein zweijähriges Pilotprojekt nach. In Nieder-sachsen geschah dies durch einen Ministererlass. Das istauch gut so. Es ändert aber, liebe Kollegin Irber, nichtsan der Tatsache, dass es einer bundeseinheitlichen end-gültigen, alles klärenden Regelung bedarf; denn in bei-den Ländern handelt es sich nur um eine zeitlich be-grenzte Ausnahme.

(Brunhilde Irber [SPD]: Noch nie was von Subsidiarität gehört?)

Das, was im Norden im Moment diskutiert und auchumgesetzt wird, soll offensichtlich auch bald im Südenerfolgen. Der Ministerpräsident von Baden-Württem-berg hat angekündigt, die Sperrzeiten in Baden-Württemberg ganz aufzuheben.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Auf Betreiben der FDP!)

Das Bundesland der Biergärten, Bayern, hat sich in die-ser Hinsicht offensichtlich noch nicht gerührt. DieseForderung geht vor allen Dingen auf die Landesver-bände des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandesund der Tourismusindustrie zurück. Das CDU-regierteNordrhein-Westfalen wird sich dieser Forderung an-schließen.

Wir müssen uns während der WM und auch schon inden nächsten Wochen beim Confederations Cup als mo-dernes, gastfreundliches, attraktives und offenes Landpräsentieren. Darauf weisen Sie in Ihrem Antrag zuRecht hin. Aber Sie tun es nicht, sondern kündigen esnur an und erklären, dass das ganz schön sei. Das, wo-rauf es ankommt, nämlich unter die bisherigen Regelun-gen einen Schlussstrich zu ziehen und ein neues Gesetzzu machen, ist nicht Ihre Sache. Das machen Sie nicht,sondern Sie reden nur darüber hinweg. Es gibt lauschigeAppelle an die Bundesregierung und an die Länder, denTourismusstandort Deutschland zu verbessern.

(Brunhilde Irber [SPD]: Machen wir doch auch! Lesen Sie mal die letzten Statistiken!)

Aber da, wo Sie in der Verantwortung sind, kneifen Sie.Das geht nicht.

Lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt hin-weisen. Dieses Problem ist nicht neu. Bereits im Jahre2001 hat der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband ei-nen Brandbrief an den Wirtschaftsminister Müller ge-schrieben. Dieser Brief vom Juni 2001 ist nun vier Jahrealt. Dort heißt es – ich darf daraus zitieren –:

Alljährlich strömen Millionen von Gästen in dieBiergärten, Straßencafés, Restaurants und sonstigeBetriebe mit Außengastronomie. Bedauerlicher-weise erleben wir aber auch Jahr für Jahr, dass dieBiergärten an warmen Sommerabenden bereits um22 Uhr schließen und die Gäste nach Hause ge-schickt werden müssen. … Der Bundesgesetzgeberkann den unbefriedigenden Zustand durch Erlasseiner eigenen Bundesimmissionsschutzverordnung„Außengastronomie“ beseitigen.

Geschehen ist nichts. So schrieb der entsprechende Ver-band vor vier Jahren.

Gestern erklärte der Verbandspräsident Ernst Fischer– ich darf wieder zitieren –:

Eine Verschiebung des Freiluft-Zapfenstreichs auf24.00 Uhr ist in Deutschland längst überfällig. Esist ein unhaltbarer Zustand, dass Wirte ihre Gästean den wenigen schönen Tagen im Jahr trotz Som-merzeit noch bei Helligkeit nach Hause schickenmüssen. Eine Ausweitung der Öffnungszeiten wäreein wichtiger Impuls, der endlich wieder einen Um-satzschub für Deutschlands Gastronomen und mehrLebensqualität für die Bürger bringen würde …Diese Regelung passt nicht mehr in das Jahr 2005und nicht in ein Land, das Weltoffenheit, Lebens-freude und Gastfreundlichkeit zu seinem Marken-zeichen machen möchte …

Es heißt weiter:

Nichts wäre leichter, als solch eine Verordnung amFreitag

(Florian Pronold [SPD]: Eine neue Verord-nung! Und das ist Deregulierung?)

– also hier und heute –

im Bundestag zu verabschieden. Das wäre ein ech-tes Deregulierungsprogramm, das den Staat keinenCent kosten würde, den Unternehmen aber dieMöglichkeit gäbe, dann Geschäfte zu machen,wenn sie wirklich nachgefragt würden …

Ich kann mich dem zum Abschluss nur voll und ganzanschließen. Stimmen Sie unserem Antrag, stimmen Siedem FDP-Antrag zu! Das ist der sehnlichste Wunsch derganzen Branche.

(Jörg Tauss [SPD]: Der ganzen Nation! –Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das istunsere patriotische Pflicht!)

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Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Florian Pronold [SPD]: Wir stellen auf Bier-deckel nur Bier und machen keine Steuererklä-rung drauf!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Brunhilde Irber, SPD-

Fraktion.

(Brunhilde Irber [SPD]: Wenn ich wenigstens hier ein Weißbier bekäme statt Wasser!)

– Verehrte Frau Kollegin, die Geschäftsordnung schlössedas nicht aus. Ob wir das aber ernsthaft zur Beförderungder Debatten empfehlen sollten, sollten wir noch einmalin Ruhe bedenken. Bitte schön.

(Florian Pronold [SPD]: Bei dem Thema wäre es doch angemessen!)

Brunhilde Irber (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland freut sich auf die Fußballweltmeisterschaft2006 und natürlich auch auf den Confederations Cup indiesem Monat. Die ganze Welt wird bei uns im nächstenJahr zu Gast sein. Die Tourismusbranche wird ihreChance nutzen. Ich bin davon überzeugt, dass sie bestenspräpariert ist. Ich möchte mich bei der Bundesregierung,beim Bundesinnenminister und beim Wirtschaftsminis-ter bedanken,

(Ernst Burgbacher [FDP]: Wofür?)

die die Rahmenbedingungen hierfür geschaffen und dieDeutsche Zentrale für Tourismus mit den entsprechen-den finanziellen Mitteln ausgestattet haben.

(Beifall bei der SPD)

Die Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichenund sportlichen Erfolg sind gegeben. Das wissen auchdie meisten und sie handeln danach. Allerdings werdenzwei Fraktionen des Deutschen Bundestages nicht müde,das Gegenteil zu behaupten. Herr Kollege Klimke, Siehaben das eben wieder vorgetragen. Allerdings wider-spricht das jeder Vernunft. Ich weiß nicht, warum wiruns wieder mit diesen Anträgen beschäftigen müssen,nämlich mit dem Antrag der CDU/CSU „Deutschlandfür die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 fit machen –Längere Öffnungszeiten der Außengastronomie ermögli-chen“ und dem der FDP.

Erstens ist es unbestritten, dass die Bundesregierungenorme Anstrengungen unternimmt, die Fußball-WM zueinem absoluten Highlight zu machen, und zweitens sindlängere Öffnungszeiten in der Außengastronomie für dieWM möglich. Wozu also dieser Antrag der CDU/CSU?Er ist überflüssig und geht inhaltlich an den Tatsachenvorbei. Mit dem FDP-Antrag „Sperrzeiten für Außen-gastronomie zur Fußballweltmeisterschaft 2006 verbrau-cherfreundlicher gestalten – Freigabe der Ladenöff-nungszeiten ermöglichen“ verhält es sich genauso. DieSperrzeiten für die Außengastronomie sind verbraucher-

freundlich und die Flexibilität der Ladenöffnungszeitenzur WM ist bereits vorhanden.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das muss jeder selbst beurteilen!)

Wozu also dieser Antrag der FDP? Er ist ebenfalls über-flüssig und geht an den Tatsachen vorbei.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Also spinnt der Dehoga!)

– Nein, der Dehoga spinnt nicht, aber ich nehme an, erist nicht gut informiert und Sie offensichtlich auch nicht.Aber dazu komme ich noch.

Wenn es die WM im nächsten Jahr nicht gäbe, dannmüsste man sie erfinden; denn sonst, liebe Kolleginnenund Kollegen, hätten Sie keine Gelegenheit, im Deut-schen Bundestag zum dritten Mal mit diesem Thema zukommen und uns damit zu beschäftigen. Es ist wie jedesJahr: viel Wirbel um nichts.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wir kommen auch noch ein viertes Mal!)

Das, was Sie veranstalten, ist der blanke Populismus.Das wissen Sie auch genau. Deshalb stellen Sie Ihre An-träge. Im Grunde genommen ist das Zeitverschwendung.

Einmal mehr bemühen Sie den Lärmschutz alsHauptproblem der Außengastronomie. Freiluftgaststät-ten sind aus dem Anwendungsbereich der TA Lärm aus-genommen. So soll es auch bleiben. Alles andere bedeu-tet mehr Bürokratie und dürfte darüber hinaus wenigeffizient sein. Man stelle sich nur einmal vor, wie vor Ortein gesondertes Messverfahren für menschlichen Kom-munikationslärm aussehen würde. Ich habe das Ganzeeinmal als Arbeitsbeschaffungsprogramm für Lärmmes-sungsingenieure bezeichnet. Das erinnert mich wirklichan die Schildbürger.

(Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgit-ter] [SPD])

Wenn jemand lärmt und ein Anwohner die Polizei ruft,dann muss die Polizei anrücken und den Lärm messen.Womit bitte? Da steht noch ein Fragezeichen. Dann gehtes in ein bürokratisches Verfahren.

(Ernst Burgbacher [FDP]: So wie heute auch schon!)

Es gibt wahrscheinlich eine Gerichtsverhandlung. Wenndas Ihr Beitrag zum Bürokratieabbau ist, dann guteNacht Deutschland.

Aber Spaß beiseite. Kollege Klimke hat sich kürzlichin einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage von FrauStaatssekretärin Wolf informieren lassen. Heute war ernicht so charmant zu ihr.

Ich zitiere:

Für Freiluftgaststätten gelten lediglich die Grund-pflichten des § 22 des Bundes-Immissionsschutzge-setzes für sonstige nichtgenehmigungsbedürftigeAnlagen. Bei der Anwendung des § 22 Bundes-Immissionsschutzgesetz ist auf eine einzelfallbezo-gene Berücksichtigung aller Umstände abzustellen,

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sodass flexible Lösungen für die zeitlich begrenztenGroßereignisse des Confederations Cup und derFußballweltmeisterschaft aus der Sicht des Bundesmöglich sind.

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Bewährt hat sich Folgendes: Die Bundesländer befin-den über die Regelung der Sperrzeiten. Wo die Länderdie Kompetenzen auf die Kommunen übertragen haben,sind die Kommunen die Entscheidungsträger. Das istauch gut so.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Völlig einig!)

Die Kommunen sind am ehesten in der Lage, sowohl dasberechtigte Ruhebedürfnis der Anwohner als auch diesozialen Bedürfnisse der Gaststättenbesucher, aber auchdie wirtschaftlichen Interessen der Außengastronomie-betreiber in angemessener Weise zu berücksichtigen.Dies gilt in besonderer Weise für die Fußballweltmeis-terschaft, die ein herausragendes Ereignis ist.

Die Länder können – und wollen es im Übrigenauch – die Sperrzeiten eigenverantwortlich regeln. Allesandere ist auch Unsinn. Es gibt keinen Vorschlag zurÄnderung des Bundes-Immissionsschutzrechtes, der un-bürokratisch, verbraucherfreundlich und gleichzeitigpraxistauglich wäre. Gerade Sie von der FDP predigen jagebetsmühlenartig den Bürokratieabbau.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Ja, machen wir auch!)

Hier aber würden Sie eine Monsterbürokratie aufbauen.

Auch Ihre Jahr für Jahr wiederkehrende Argumenta-tion zum gewandelten Konsumentenverhalten und zurSommerzeitregelung ändert nichts an der bewährten Pra-xis.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Auch die Sommer-zeit wurde eingeführt!)

Ihre Argumentation wird auch nicht dadurch schlüssiger,dass Sie die entsprechenden Passagen wechselseitig– zum Teil wortgleich – voneinander abschreiben. Dasist der einzige Beitrag zum Bürokratieabbau, den ich inIhren Anträgen erkennen kann.

Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, dass sich dieLänder in eigener Kompetenz anstrengen, ihre touristi-schen Metropolen für die Besucher von nah und fern soattraktiv wie möglich zu machen.

(Jörg Tauss [SPD]: Die sind auch zuständig!)

Das liegt in deren eigenem Interesse – sie sind auch zu-ständig – und alles andere ist abwegig. Beleg dafür, dassdie Länder das auch tun, sind die neuesten statistischenZahlen zum Inlandstourismus. So stieg die Anzahl derÜbernachtungen im ersten Quartal 2004 zum Beispiel inBerlin um 17 Prozent, in Hamburg um 5 Prozent. DieserTrend zeichnet sich auch in München, Köln, Leipzig undvielen anderen Städten ab.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Könnte aber alles noch viel mehr sein!)

Also sind die vorgelegten Konzepte richtig.

Übrigens: Baden-Württemberg, Hamburg und Nie-dersachsen machen es uns bereits vor. Die CDU-MännerOettinger, Wulff und von Beust nutzen den gegebenenRahmen zur Verlängerung der Sperrzeiten aus. Die dreihaben am wenigsten auf Ihre Initiativen hier aus demDeutschen Bundestag gewartet.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist allerdings falsch!)

Nun kommen wir zu den Ladenöffnungszeiten. Esist verständlich, dass sich die FDP gerne als Liberalisie-rungspartei profilieren will. Das kennen wir und das istauch in Ordnung.

(Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär: Stich-wort Apotheken!)

– Ja. – Aber mit dem Confederations Cup und der Fuß-ball-WM führt die politische Debatte ins Nirwana. Manbraucht nämlich nicht zu fordern, was ohnehin schonumgesetzt wird.

Am 2. März 2005 – jetzt hören Sie gut zu – hat derLänderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstech-nik einen Beschluss gefasst, um für die beiden Fußball-großereignisse die Voraussetzungen für längere Laden-öffnungszeiten zu schaffen. Der beschlossene Rahmensieht vor, dass die Länder Allgemeinverfügungen erlas-sen. Bei einer Allgemeinverfügung handelt es sich umeine Einzelfallregelung, die sich an viele Adressaten, indiesem Fall an die Einzelhändler, richtet. Die Öffnungs-zeiten könnten dann jeweils am Spielort und in dessenEinzugsbereich zum Beispiel wie folgt aussehen: vonMontag bis Samstag von 6 bis 24 Uhr und am Sonntagvon 14 bis 20 Uhr. Ich denke, das ist genug.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Bürokratieabbau! –Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wir braucheneine Kontrollbehörde, um das zu kontrollie-ren!)

– Nein, dazu brauchen wir keine Kontrollbehörde. Dasist eine einfache Regelung, die auch mit dem Laden-schlussgesetz konform geht.

Diese Ausnahmeregelungen stehen – das habe ich ge-rade gesagt – in Einklang mit § 23 Abs. 1 Ladenschluss-gesetz. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Ar-beit ist nicht zwingend gefordert, festzulegen, in welcherWeise die beiden Großereignisse im öffentlichen Inte-resse stehen. Denn solange keine weitere Regelung er-folgt, legen die Länder das selber fest. Das ist die ein-fachste Lösung.

Was wollen Sie denn eigentlich? Es ist alles im Lot.Die Gäste können kommen. Deutschland ist gut vorbe-reitet. Hotellerie und Gastronomie werden zu den Ge-winnern zählen.

Damit ist klar: Bei den Sperrzeiten in der Außen-gastronomie und den Ladenöffnungszeiten ist es am ef-fektivsten, wenn die vorhandenen Möglichkeiten zurFlexibilität sinnvoll umgesetzt werden. Genau das ge-schieht derzeit.

Deshalb hätten Sie sich – das muss ich an dieserStelle wiederholen – Ihre Anträge sparen können. Wir

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Brunhilde Irber

haben derzeit in Deutschland wahrlich Wichtigeres zutun, als im Deutschen Bundestag die Abseitsfalle zuüben.

Kurzum: Schließen Sie sich unserem Antrag an!Dann steht es 2:0 für Deutschland.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zur Verbesserung des Spielergebnisses erhält jetzt der

Kollege Burgbacher für die FDP-Fraktion das Wort.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er ver-sucht doch wieder nur das Unentschieden zuerzwingen! – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sienehmen das Ganze nicht ernst, Herr Präsi-dent!)

– Im Gegenteil.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Aber reden Sieheute nicht über das Plebiszit, HerrBurgbacher!)

Ernst Burgbacher (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob

alles im Lot ist, wie die Frau Kollegin festgestellt hat,entscheidet nicht die SPD-Bundestagsfraktion, sondernniemand anders als die Verbraucher und die vor Ort täti-gen Gastronomen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kollegin Irber, es ist schon richtig, dass wir inder 14. und 15. Legislaturperiode entsprechende Gesetz-entwürfe eingebracht haben. Dass die Union unsere Ge-setzentwürfe, selbst in der Begründung, weitgehend ab-geschrieben hat, ehrt uns und erleichtert uns dieZustimmung. Die Begründung ist weitgehend wort-gleich, teilweise stimmt der Text sogar mit meiner Redeüberein.

(Brunhilde Irber [SPD]: Keine eigene Initia-tive! – Florian Pronold [SPD]: Die Union hatüberhaupt keine eigene Begabung mehr! Nichteinmal das können sie! Nicht einmal opposi-tionsfähig! – Gegenruf des Abg. Eckart vonKlaeden [CDU/CSU]: Das sind die letztenZuckungen!)

Das freut mich und bestätigt mich darin, dass wir eini-germaßen richtig liegen.

(Beifall bei der FDP)

Es gibt doch ein Problem. Es ist zwar richtig, dass indrei Ländern Pilotversuche – in Baden-Württemberg üb-rigens auf massiven Druck der FDP; auch das hat unserGesetzentwurf bewirkt – durchgeführt werden, Tatsachebleibt aber, dass die Länder und Gemeinden, die Sperr-zeiten festlegen wollen, Probleme haben. Wir sind unsdoch völlig einig – das sollten wir auch nicht wegdisku-tieren –, dass die Entscheidungen über Sperrzeiten von

den Gemeinden vor Ort getroffen werden sollen, weildiese es am besten können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wie wir wissen, gilt die TA Lärm nicht für die Au-ßengastronomie. Aber die Rechtspraxis zeigt: Sobald ge-klagt wird, greifen Städte und Gemeinden wie auch dieGerichte auf die TA Lärm zurück. Wenn sich aber dieRechtspraxis völlig von dem entfernt, was wir ursprüng-lich wollten, dann ist der Gesetzgeber gefragt, der ent-sprechende Gesetzesänderungen vornehmen muss, da-mit die Rechtspraxis in die von uns beabsichtigteRichtung geht.

Deshalb halten wir die Änderung der TA Lärm fürrichtig. Menschlicher Lärm ist anders zu behandeln alsSägen, Hämmern und Bohren.

(Brunhilde Irber [SPD]: Lautes Türen-schlagen!)

Das ist doch selbstverständlich.

Das Ausgehverhalten hat sich völlig verändert, seitdie Sommerzeit eingeführt wurde. Das können Sie nichtbestreiten. Deshalb müssen wir eine andere Lösung fin-den. Erinnern Sie sich an den vergangenen Sommer. Esist doch ein Ärgernis: Die Menschen sitzen froh draußenund genießen das, bis sie um 22 Uhr zum Gehen aufge-fordert werden. Das verärgert beide Seiten und hat denEffekt, dass die Gäste, statt sich in das Lokal hineinzu-setzen, nach Hause gehen. Das bedeutet einen erhebli-chen Umsatzausfall für die Gastronomie. Wer davor dieAugen verschließt, sieht die Realität in Deutschlandnicht.

(Brunhilde Irber [SPD]: Herr Kollege, Sie igno-rieren, dass die Länder und Kommunen verlän-gern können!)

Ich komme jetzt zu dem Argument, hier werde Büro-kratie geschaffen. Man sollte mit seinen Argumentenschon auf dem Teppich bleiben. An dem bisherigen Ver-fahren wird nichts geändert. Die einzige Ausnahme ist,dass andere Grenzwerte gelten sollen. Ob sie in jedemFall gemessen werden müssen, ist nicht unser Problem.Es geht allein um die Festlegung anderer Grenzwerte.

Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung zum Laden-schluss. Auf der Tagesordnung steht auch die Beratungunseres Gesetzentwurfs, in dem wir mit der Forderung,die Zuständigkeit für die Festlegung der Ladenöffnungs-zeiten den Ländern zu übertragen, den Vorgaben desBundesverfassungsgerichts folgen. Leider haben Sie inder Föderalismuskommission nicht mitgemacht. Des-halb ist es noch nicht dazu gekommen.

Wir fordern: Setzt den Ladenschluss für die Fußball-weltmeisterschaft aus! „Die Welt zu Gast bei Freun-den“ – wir wollen alles tun, dass die Fußballweltmeister-schaft zu dem Werbeevent für Deutschland wird. Dafürmüssen wir jetzt die Voraussetzungen schaffen. WennSie heute nicht dazu bereit sind, dann werden wir es imkommenden Herbst tun. Das sage ich Ihnen fest zu.

Herzlichen Dank.

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Ernst Burgbacher

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf den Tribünen, Sie alle haben sicherlichmitbekommen, dass wir heute im Deutschen Bundestagüber das politisch wichtige Thema der Öffnungszeitenvon Biergärten reden, also darüber, wie lange sie geöff-net haben dürfen. Nicht, dass ich meinen würde, dass daskein wichtiges Thema ist! Ganz im Gegenteil: Das kannüber vieles an einem Abend entscheiden. Trotz allemglaube ich, dass es schon reichlich Anträge zu diesemThema gegeben hat. Die Argumente sind auf vielfältigeWeise ausgetauscht worden. Vor allem wissen wir alle,dass die derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelunggar nicht so unflexibel ist, wie es immer dargestellt wird.

Herr Klimke, wenn Sie schon nicht wissen, wie fröh-lich es auf Veranstaltung der Grünen zugehen kann, undmeinen, dass wir immer nur Müsli picken,

(Jörg Tauss [SPD]: Das dachte ich aber auch!)

dann sollten Sie zumindest wissen, dass die in Deutsch-land geltenden Sperrfristen vor Ort individuell angepasstwerden können. Darüber entscheiden die Länder. Diesegeben ihre Kompetenz oft – wie ich finde: zu Recht – andie Kommunen ab, da diese in der Regel am besten wis-sen, was vor Ort verträglich ist oder nicht.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Darin sind wir uns ja einig!)

– Sogar Herr Burgbacher sagt, dass wir uns darin einigsind. – Das verwundert mich nun wieder sehr, wenn ichan die zurückliegende Debatte über eine Föderalismusre-form denke. Dort wurde ständig herausgestellt, dass sichder Bund bei Regelungen betreffend den Sport- undFreizeitlärm völlig herauszuhalten habe, weil das aus-schließlich in der Zuständigkeit der Länder verbleibensolle. Nun sind wir der Meinung, das dort zu belassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ausnahmen sind bereits getroffen worden. Die Freieund Hansestadt Hamburg, die sich auch entsprechendfrei benimmt, hat rechtzeitig zur Sommersaison 2005 alserste Metropole Öffnungszeiten im gastronomischenAußenbereich bis 24 Uhr erlaubt, und zwar ganz ohneZutun des Bundes. Die anderen Beispiele sind bereitsgenannt worden. Wie gesagt, all das ist im Einklang mitden geltenden Gesetzen möglich.

Dass wir kein gastfreundliches Land seien, ist, glaubeich, eine etwas abenteuerliche Behauptung. Sonst hätteder Tourismus in Deutschland nicht so gute Ergebnisseund Wachstumsraten zu verzeichnen. Ich glaube daher,dass Sie es völlig falsch anpacken. Wo Wettkämpfe statt-finden, wird es natürlich Sieger und Verlierer geben.Diejenigen, die sich über einen Sieg freuen, werden sich

vor Glück im Biergarten aufhalten, diejenigen, die eineNiederlage zu beklagen haben, vielleicht aus Trauer. Essei allen gegönnt. Ich glaube nicht, dass wir erlebenmüssen, dass die Feierfreudigen zum Schluss an derTankstelle enden. Seien Sie also ganz unbesorgt. Es gibterste gute Anzeichen.

Eines darf man bei der Debatte aber auch nicht ver-gessen: Es gibt nicht nur diejenigen, die ihr Spaßbedürf-nis befriedigen wollen, sondern auch Menschen, dienicht ausschlafen können, weil sie arbeiten müssen. De-ren Bedürfnisse müssen bei Entscheidungen mit berück-sichtigt werden, wer wie lange öffnen darf. Deshalb istes richtig, dass vor Ort alle Beteiligten sorgfältig darübernachdenken, was möglich ist, und dann entscheiden.

Wir sind mit den bestehenden Regelungen sehr gutbedient; denn sie führen zu vernünftigen Ergebnissen.Ich möchte alle ermutigen, weiterhin vernünftige Ab-sprachen zu treffen. Sie können sich sicherlich vorstel-len, dass wir Ihre Anträge nicht ganz so großartig findenund eher der Meinung sind, dass der Koalitionsantrag,wenn schon ein Antrag notwendig ist, richtig ist.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/5452 – Tagesordnungpunkt 25 a –,15/5581 – Tagesordnungspunkt 25 b – und 15/5585 –Zusatzpunkt 6 – an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Ichstelle Einvernehmen fest. Dann sind die Überweisungenso beschlossen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Regelung des Zugangs zu Informatio-nen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz –IFG)

– Drucksache 15/4493 –

(Erste Beratung 149. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/5606 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Beatrix Philipp Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 15/5610 –

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Vizepräsident Dr. Norbert Lammert

Berichterstattung:Abgeordnete Susanne Jaffke Klaus Hagemann Alexander Bonde Otto Fricke

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Frak-tion vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist hierzueine halbstündige Debatte vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Michael Bürsch (SPD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Große Ereignisse finden manchmal am 3. Juni statt. AlsMitglied der CDU/CSU-Fraktion würde ich wahrschein-lich sagen: Dies ist ein guter Tag für Deutschland. AlsBerliner würde ich sagen: Europäer, schaut auf diesesLand! Als bescheidener Schleswig-Holsteiner sage ichpersönlich nur: Ich freue mich, dass der Bundestag diezweite und dritte Lesung des Informationsfreiheitsgeset-zes auf meinen Geburtstag gelegt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der FDP)

Das ist für mich ein besonderes Zeichen.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Herzlichen Glückwunsch!)

– Nicht dafür, Herr Kollege.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Doch, auch dafür!)

Das heute beratene Informationsfreiheitsgesetz orien-tiert sich an der Leitidee „Demokratie braucht Transpa-renz“. Unsere Demokratie lebt davon, dass Bürgerinnenund Bürger die Entscheidungen in Politik und Verwal-tung verstehen und nachvollziehen können. Das ist einPostulat der Bürgergesellschaft. Unsere Demokratie istnur dann lebendig, wenn die Bürgerinnen und Bürger in-formiert sind, wenn sie einen Einblick haben, was in derVerwaltung geschieht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nachvollziehbar, dass sich viele von der Politikabwenden. Sie beklagen Bürokratie und wieherndeAmtsschimmel zu Recht, wenn sie außen vor gelassenwerden, wenn sie den Eindruck haben, dass sie nicht Be-scheid wissen und dass das auch so sein soll.

Bei uns in Deutschland herrscht im Grunde genom-men noch immer die eherne Überzeugung vor: Es giltdas Prinzip der Amtsverschwiegenheit; die Wahrung desAmtsgeheimnisses ist so hoch zu halten, dass daran auchin 100 Jahren keiner rüttelt. Ich glaube, dass das kein Pa-

radigma für das 21. Jahrhundert ist. Viele Industrielän-der haben uns vorgemacht, dass es auch anders geht. Be-kanntlich gibt es nur noch drei sehr kleine Länder– eines davon ist Malta –, die kein Informationsfreiheits-gesetz haben. Wenn nun endlich auch wir ein solchesGesetz verabschieden, dann schlagen wir den Weg derModernisierung ein.

Das neue Bürgerrecht auf Information wird auch dazubeitragen, dass die öffentliche Verwaltung weniger kor-ruptionsanfällig ist. Wenn sich die Bürger zu jeder Zeitüber alle Vorgänge in der Verwaltung informieren kön-nen, wenn es also zu mehr Transparenz kommt, dannwird das zu weniger Kungelei und zu weniger Korrup-tion führen. Davon bin ich überzeugt.

Auch wenn wir heute dieses Gesetz verabschieden,das das neue Bürgerrecht auf Information regelt, handelnwir verantwortungsbewusst; wir stellen natürlich sicher,dass wichtige Geheimnisse der öffentlichen Verwaltungnicht preisgegeben werden. Manche Kritiker befürchten,der Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverant-wortung sei nicht mehr sichergestellt. Andere habenschon das Schreckensbild des Zusammenbruchs der öf-fentlichen Verwaltung an die Wand gemalt. Ich kann al-len Zweiflern, Skeptikern und Kritikern versichern: Indiesem Gesetz sind genug Sicherheit gewährleistendeRegelungen enthalten; wir haben in diesem Gesetz genü-gend vertrauensbildende Maßnahmen verankert, damitauch in Zukunft sichergestellt sein wird, dass Amtsge-heimnisse, die nicht verraten werden dürfen oder überdie nicht informiert werden soll, der Öffentlichkeit nichtzugänglich sind.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Klaeden möchte Ihre knappe Redezeit

durch eine Zwischenfrage verlängern.

Dr. Michael Bürsch (SPD): Herr Kollege, ich nehme natürlich jede Gelegenheit

wahr, auf Fragen zu diesem Gesetz jede Antwort zu ge-ben, die Sie brauchen.

Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Herr Kollege Bürsch, zunächst einmal herzlichen

Glückwunsch zum Geburtstag!

(Beifall im ganzen Hause)

Nachdem Sie hier im Plenum so sehr für Informa-tionsfreiheit eingetreten sind, frage ich Sie: Warumhaben eigentlich die Mitglieder der Koalition im Unter-suchungsausschuss sogar Presseartikel als „Verschluss-sache – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft?

Dr. Michael Bürsch (SPD): Ich kann mir die Antwort leicht machen: weil es das

Informationsfreiheitsgesetz noch nicht gab.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hei-terkeit im ganzen Hause)

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Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sonst hätten wir das Datum Ihres Geburtstags wahr-

scheinlich nie erfahren, Herr Kollege Bürsch.

Dr. Michael Bürsch (SPD): Ich merke schon: Es wird eine eher fröhliche Sitzung;

der Anlass unserer heutigen Beratung ist aber ernst.

Jeder hat an seinem Geburtstag einen Wunsch frei.Der Wunsch geht in folgende Richtung: Das Informa-tionsfreiheitsgesetz hat im Gesetzgebungsverfahren Kri-tik aus zwei Richtungen erfahren. Die einen haben sichdarüber beschwert, dass das Informationsfreiheitsgesetzviel zu kurz greife. Die Einschränkungen des Informa-tionsanspruches in bestimmten Bereichen, zum Beispielin § 3, seien inakzeptabel. Von der ganz anderen Seitewurde uns dagegen vorgeworfen, wir würden dasAbendland und die traditionelle deutsche Verwaltungs-kultur abschaffen, zu der nun einmal das Amtsgeheimnisals zentraler Glaubenssatz auch für die nächsten100 Jahre gehöre.

Die Kritik von beiden Seiten ist – ganz ohne Emotio-nen und leidenschaftslos gesagt – noch nicht von Erfah-rung geprägt. Denn wir stehen mit dem Informationsfrei-heitsgesetz noch am Anfang. Allerdings gibt es in vielenanderen Ländern Erfahrungen. Es gibt auch in vier Bun-desländern Erfahrungen. Diese sprechen genau dafür,dass die Verwaltungen nicht lahm gelegt werden, dass eskeine Prozessfluten gibt und dass Amtsgeheimnissenicht ohne Not verraten werden. Dieses Informations-freiheitsgesetz ist ein erster Versuch, ein Bürgerrechtauf Information einzuführen, damit dem Bürgerengage-ment und der Bürgergesellschaft in Deutschland eineGasse zu schaffen

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und dadurch die öffentliche Verwaltung auf diesem Ge-biet zu modernisieren und eine Verwaltungskultur einzu-führen.

Wir werden die Erfolge und die Nachteile, die Risi-ken und die Nebenwirkungen nach fünf Jahren ganz ge-nau analysieren. Aus dieser Bewertung werden wir dienötigen Konsequenzen ziehen und entscheiden, ob dasGesetz geändert werden muss und, wenn ja, an welcherStelle.

Nun wende ich mich ganz persönlich an die verehrteKollegin Philipp. Wir haben über das Gesetz schon sie-ben Jahre beraten, verehrte Frau Kollegin. Alles, was zudiesem Gesetz gesagt und geschrieben werden musste,ist getan worden. Ich selbst habe an einer Stelle ironischgesagt: Der Grundsatz „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ist hier nun wirklich unterlegt worden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Philipp, wenn Sie nun nach sieben Jahren – ein-schließlich der Beratung im Plenum und in den Aus-schüssen des Bundestages – immer noch sagen, Sie hät-ten nicht genug Zeit gehabt, um dieses Gesetz zu lesen,dann frage ich mich: Wie haben Sie es eigentlich be-

werkstelligt, die Gesetze zur Gesundheitsreform oderzur Rentenreform mit zu tragen, die von Ihrer Fraktionunterstützt wurden? Wie sind Sie mit diesen Gesetzenumgegangen, wenn Sie innerhalb eines halben Jahresnicht in der Lage sind, zu verinnerlichen, was in diesemkurzen Gesetz von 15 Paragraphen steht?

(Jörg Tauss [SPD]: Die Kollegen von Frau Philipp sind schneller!)

Lesen Sie einfach. Sie haben jetzt noch eine halbeStunde Zeit und können anschließend zustimmen.

Ich bitte um breite Zustimmung im Hause.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Kollegin Beatrix Philipp,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Beatrix Philipp (CDU/CSU): Herr Vorsitzender! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Herr Dr. Bürsch, selbstverständlich und gerngratuliere auch ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag. Ich ma-che aber sogleich zwei Bemerkungen außerhalb meinerAusführungen zu Ihrem Beitrag:

Wie ernst Sie das Informationsfreiheitsgesetz wirk-lich nehmen, macht nicht nur die Antwort auf die Fragevon Herrn von Klaeden deutlich, so witzig sie auch for-muliert war. Auch der Ausnahmekatalog, den Sie im Ge-setzentwurf festschreiben mussten – ich habe das schonin der ersten Lesung gesagt –, und die Beratungsdauergeben zu denken. Wenn Sie hier schon dem staunendenoder auch nicht staunenden Publikum erklären, dass Siesechseinhalb Jahre gebraucht haben, dann sollten Sie da-zusagen, dass dies Ihre interne Beratungszeit war. Solange haben Sie gegackert, bis Sie das Ei gelegt haben.Von uns können Sie dann nicht ernsthaft erwarten, dasswir das im Hauruckverfahren machen.

Zum Schluss Ihrer Rede hin haben Sie, HerrDr. Bürsch, von Nachteilen und Risiken gesprochen undgesagt: Dann müssen wir in fünf Jahren einmal nachse-hen, wie es bis dann gelaufen ist. Wissen Sie, eigentlichist die Bevölkerung – das kann man an den letzten Wahl-ergebnissen sehen – diese Probeläufe Ihrer Gesetzesvor-haben, wie auch immer Sie sie zu Mehrheiten gebrachthaben, leid. Dieses hier vorliegende Gesetz ist wiedereinmal ein solcher Probelauf. Deswegen werde ichgleich ausführen, warum wir diesem Gesetz nicht zu-stimmen können.

Wir haben Ihnen angeboten – ich habe das ernst ge-meint; Sie kennen mich lange genug: wenn ich etwasnicht ernst meine, dann würde ich es nicht so sagen –,diesen Gesetzentwurf ergebnisoffen zu prüfen und unsernsthaft damit auseinander zu setzen.

Ich habe immer erklärt, dass es erheblichen Bera-tungsbedarf gibt. Von Ihrem innenpolitischen Sprecher,

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Beatrix Philipp

Herrn Wiefelspütz, ist mir auch zugesagt worden, dassmeine Fraktion die dafür notwendige Zeit bekommt.

Dass es sich um eine äußerst schwierige Materie han-delt, macht nicht zuletzt die Tatsache deutlich, dass Sie,wie ich eben schon gesagt habe, sechs Jahre gebrauchthaben, um diesen Entwurf auf den Tisch zu legen. Ichwill der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass wir ge-sagt haben: Es gibt einen Entwurf der CDU Nordrhein-Westfalen, auf dessen Basis wir möglicherweise zu ei-nem Kompromiss finden können, der als Basis für Ge-spräche dienen kann. Aber Sie haben uns die notwendigeZeit nicht eingeräumt.

Die Krönung der nicht eingehaltenen Zusagen, HerrDr. Bürsch, und auch des künstlich aufgebauten Zeit-drucks ist die Tatsache, dass erst am Dienstag, zum Teilerst am Mittwoch mitgeteilt wurde, dass heute die ab-schließende Beratung stattfindet. Das entspricht jedochdem Verfahren, in dem Sie den Gesetzentwurf einge-bracht haben. Sie haben erst zwei Tage vorher gesagt,dass es so weit ist. Hier so zu tun, als ob reichlich Zeitgewesen ist, ist einfach nicht in Ordnung. Das sollten Sienicht tun. Das entspricht eigentlich auch nicht unseremVerhältnis.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir teilen die angestrebten Ziele, HerrDr. Bürsch. – Ich weiß nicht, ob es Sie überhaupt inte-ressiert, was wir dazu sagen.

(Jörg Tauss [SPD]: Doch, doch!)

Vielleicht sagen Sie sich: „Wir haben eine Mehrheit; unsdas jetzt noch die letzten Monate von der Opposition an-zuhören, haben wir nicht nötig“ oder so.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst mal abwarten!)

Ich meine schon, dass es sich um eine ganz ernste Sachehandelt. Deshalb wäre es nett, wenn Sie wenigstens zu-hören, wenn ich darlege, warum wir dem Gesetzentwurfnicht zustimmen können und wo wir zweifellos Gemein-samkeiten haben.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ich bin ganz Ohr!)

Dazu gehört, dass wir die angestrebten Ziele unter-stützen. Ich weiß auch nicht, wer gegen Transparenzstimmen kann, wer gegen Korruptionsbekämpfung seinwill.

(Jörg Tauss [SPD]: Dann stimmen Sie doch zu!)

– Herr Tauss, wenn Sie meine letzten Reden hier im Pro-tokoll nachgelesen haben,

(Jörg Tauss [SPD]: Mehrfach!)

werden Sie wissen, dass ich großes Verständnis für Zwi-schenrufe habe. Am besten ist es, wenn sie witzig sind.Aber was Sie seinerzeit während meiner Rede veranstal-tet haben, hatte mit Zwischenrufen nichts zu tun; es wa-ren ungeheuerliche Störungen. Ich bitte Sie jetzt am An-fang wirklich, damit nicht schon wieder zu beginnen. Es

stört einfach. Gegen Zwischenrufe habe ich nichts – da-rauf könnte ich auch eingehen –, aber solche ständigenStörungen von ein und derselben Seite finde ich nicht inOrdnung.

(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt mal zur Sache!)

Ich meine das ganz ernst.

Also: Wer kann etwas gegen Transparenz und Kor-ruptionsbekämpfung haben? Wer kann etwas gegenmehr Teilhabe der Menschen an politischen Prozessenhaben? Aber es gibt grundsätzliche und rechtliche Be-denken und ganz massive Bedenken gegen die Umset-zung des Gesetzes in der Praxis.

Dass Sie sich nicht an interne Vereinbarungen halten,Herr Dr. Bürsch, mag Ihre Sache oder Sache der SPDsein – daran haben wir uns schließlich schon gewöhnenmüssen –, aber dass Sie dann auch noch einen soschlechten Entwurf vorlegen, ist nicht mehr nur Ihre Sa-che. So versuchen Sie unter der Überschrift Informa-tionsfreiheitsgesetz den Eindruck zu erwecken, es geheum ein bisschen mehr Freiheit, um einen offenen Um-gang mit Informationen. Aber gerade dann, wenn einGesetzentwurf, wie in diesem Fall, weit reichende Fol-gen für unser Rechtssystem und damit eigentlich für unsalle hat, gehört es sich, den Menschen das auch zu sagenund darüber ausgiebig und intensiv zu beraten. Es hilftauch nicht, darauf hinzuweisen, dass andere Staatenpositive Erfahrungen mit einem solchen Gesetz gemachthaben, wenn sich deren Verwaltungsaufbau und auch de-ren Rechtssystem dezidiert von unserem unterscheiden.

Die wesentlichen Gründe für unsere Ablehnung sindfolgende:

Erstens: zur angeblichen Verbesserung der Aufsichtüber den Staat durch das Informationsfreiheitsgesetz.Die Behauptung, dass Informationszugangsrechte dieKontrolle staatlichen Handelns wesentlich verbessern,gehört eigentlich in den Bereich der Volksverdummung.Wir leben in einem Rechtsstaat, dessen Struktur, demo-kratische Legitimation und Kontrolle über jeden Zweifelerhaben sind. Die Rechtssicherheit in Deutschland wirdvon vielen ausländischen Experten immer wieder als po-sitiver Standortvorteil aufgeführt. Diese zusätzlichepunktuelle willkürliche Kontrolle der Verwaltungstätig-keit durch irgendwen – durch irgendwen! –, wie das Ge-setz es vorsieht, verbessert weder die gleichmäßige nochdie kontinuierliche Aufsicht über den Staat. Diese Um-kehr des Rechts, Herr Dr. Bürsch, haben Sie in der An-hörung als einen Kulturwandel bezeichnet.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] –Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja! – Dr. CornelieSonntag-Wolgast [SPD]: Das war positiv ge-meint!)

Damit das völlig klar ist: Genau diesen Kulturwandelwollen wir nicht.

(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU])

Zweitens: Angriff auf den Datenschutz. Man glaubtes kaum. Meine Fraktion hat im Bereich der Kriminali-

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tätsbekämpfung immer wieder Schwierigkeiten, die be-rechtigten Interessen von Ermittlern und Sicherheitsbe-hörden gegen überzogene Datenschutzbedenkendurchzusetzen. Der Datenschutz wird in vielen dieserFälle – da gibt es einige Beispiele, die nachzulesen sind –fast wie eine Monstranz durch den Deutschen Bundestaggetragen. Damit scheint es jetzt vorbei zu sein.

(Jörg Tauss [SPD]: Welche Fälle?)

– Fluggastdaten beispielsweise oder großer Lauschan-griff.

Ich habe schon beim Stasi-Unterlagen-Gesetz – ichdarf das noch einmal in Erinnerung rufen – erfahrenmüssen, dass die Mehrheit dieses Hauses, für mich völ-lig unverständlich, vom Grundrecht auf informationelleSelbstbestimmung zugunsten des öffentlichen InteressesAbschied genommen hat. Nun soll im vorliegenden Ge-setzentwurf auch noch die verfassungsrechtlich geboteneZweckbindung der Datenfreigabe selbst bei Daten Drit-ter wegfallen. Damit ist der bisherige quasi automatischeSchutz von Daten nicht mehr gegeben. Vielmehr hat nunder zuständige Bearbeiter in der jeweiligen Behörde dieDaten aktiv zu schützen. Dieser Beamte, sofern es nocheiner ist, muss darüber entscheiden, ob er die gewünsch-ten Informationen dem Antragsteller zugänglich machtoder nicht. Er muss bei Ablehnung des Antrags nachwei-sen und begründen, warum er dies tut. Da wundert michschon sehr das Schweigen unseres Datenschutzbeauf-tragten; das ist fast beängstigend.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Bei Ihnen schweigt man auch! Esist ja keiner mehr da!)

Drittens: der völlig voraussetzungslose Zugang zurInformation. Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz istüber mehrere Prüfungsinstanzen gestaffelt und bietetdem Bürger einen Rechtsschutz, wie er im internationa-len Vergleich kaum erreicht wird. Der Prüfungsaufwand,der damit verbunden ist, ist im Interesse der Bürgerenorm, aber er ist durchschaubar und kalkulierbar. Damitdieser Aufwand nicht ins Uferlose wächst, ist Grundvo-raussetzung der Klagebefugnis, dass die Verletzungeines subjektiven öffentlichen Rechts geltend gemachtwird. Mit anderen Worten: Es kann eben nicht jeder ge-gen alles klagen, sondern er muss schon konkret in sei-nen eigenen Rechten betroffen sein. Dieser Filter hatsich bewährt und sichert auch die Arbeitsfähigkeit derVerwaltungsgerichte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn nun das IFG keinerlei berechtigtes Interesse für ei-nen Informationsanspruch mehr verlangt, wird dies Aus-wirkungen auf unser Verwaltungsrechtsschutzsystem ha-ben, deren Folgen noch gar nicht absehbar sind. MeineFraktion hat eigentlich keine Lust, erst in fünf Jahren zuüberprüfen, wie es nun gelaufen ist. Das kann man vor-her absehen. Das Bemühen, nach einer differenziertenLösung für dieses Problem zu suchen, haben wir sehrvermisst.

(Jörg Tauss [SPD]: Die Lösung ist wohl gelungen!)

Viertens: der Informationsanspruch für jeder-mann. Kern der Gesetzesbegründung ist, dass das Ver-waltungshandeln transparenter werden soll. So steht inder Begründung:

Das Informationsfreiheitsgesetz dient damit vor al-lem der demokratischen Meinungs- und Willensbil-dung.

Bisher konnte mir niemand erklären – vielleicht könnenSie das ja, Herr Tauss –, wieso alle Menschen nach die-sem Gesetz einen Informationsanspruch haben sollen. Esgibt auf dieser Erde – das lehrt die Lebenserfahrung –nicht nur wohlmeinende Staaten und Menschen. Deshalbgeht es einen großen Teil der Menschheit überhauptnichts an, was in deutschen Verwaltungsakten steht. Ge-rade unter Zugrundelegung der oben zitierten Begrün-dung sollte sich das Informationsfreiheitsgesetz unsererMeinung nach an die Mitglieder unseres demokratischenGemeinwesens richten, also an alle deutschen Staatsbür-gerinnen und Staatsbürger. Im Rahmen der europäischenVereinigung spricht natürlich einiges dafür, dieses Rechtauf alle EU-Bürger auszuweiten, aber eben nicht auf je-dermann, egal, in welchem Teil unserer Erde er lebt.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Mit dieser Mei-nung stehen Sie ganz alleine!)

Meine Damen und Herren, über diese grundsätzlichenBedenken hinaus gibt es zahlreiche offene Fragen be-züglich der praktischen Umsetzung des Gesetzes, die ichnur anreißen kann:

Die Vermutung, demnächst gebe es eine doppelte Ak-tenführung, ist nicht von der Hand zu weisen.

(Widerspruch bei der SPD)

– Das wissen Sie doch genauso gut wie ich.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. MichaelBürsch [SPD]: Bauen Sie doch keinen Popanzauf!)

Die Frage, wie mit auf Bundesebene vorhandenenLandesakten zu verfahren ist, ist ungeklärt. Den Kon-flikt, Herr Dr. Bürsch, wenn, wie vorgesehen, eine Per-son gleichzeitig für den Datenschutz und für die Infor-mationsfreiheit zuständig ist,

(Jörg Tauss [SPD]: Gerade haben Sie es noch bejammert!)

müssen Sie auflösen. Herr Dr. Eigen hat nach der Anhö-rung, als ich ihn darauf angesprochen habe – währendder Anhörung ging es nicht, weil meine Fragezeit be-grenzt war –, gesagt, damit habe er auch ein Problem.Als Vorsitzender von Transparency International ist er jaeigentlich ein Befürworter des Gesetzes.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der redet so manches!)

Und last but not least, meine Damen und Herren: dervöllig unzureichende Schutz von Betriebs- und Ge-schäftsgeheimnissen. Da eine klare Definition fehlt, wasdarunter zu verstehen ist, werden die Gerichte zukünftigklären müssen, was ein Betriebs- und Geschäftsgeheim-nis ist. Dass dies von erheblicher Bedeutung für die

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Beatrix Philipp

Betriebe ist, brauche ich sicherlich nicht besonders zubetonen.

Offen ist auch die Frage, wie es mit Informationenaus Genehmigungs- oder Überwachungsmaßnahmenaussieht. Auch hier wird alles in das Ermessen der Be-hörde gestellt. Hier bahnt sich eine Arbeitsbeschaffungs-maßnahme für Anwälte und für Gerichte an; wer denZeitfaktor für Gerichtsverfahren kennt, dürfte als betrof-fener Unternehmer schnell einen weiteren Standortnach-teil ausgemacht haben.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Horrorszenario, oder was?)

Davor können Sie doch nicht einfach die Augen ver-schließen. Gerade im Bereich hochsensibler Daten soll-ten wir keine Experimente auf dem Rücken derer ma-chen, die eigentlich Arbeitsplätze hier in Deutschlandschaffen und sich hier ansiedeln sollten. Es gibt keineMissbrauchsklausel.

Und schließlich: Inhalt und Verfahren erinnernzwangsläufig an das Antidiskriminierungsgesetz; ichmeine, Sie hätten daraus lernen können. Uns drängt sichdie Vermutung auf, dass mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf der Bevölkerung unter dem populären Titel „In-formationsfreiheitsgesetz“ ein ähnliches Schicksal insHaus steht wie mit dem Antidiskriminierungsgesetz.Beide Gesetze – auch das können Sie nicht von der Handweisen – bringen einen ungeheuren Bürokratiezuwachsmit sich.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es bleibt keine Schablone aus!)

Das Gebot aber ist Bürokratieabbau. Daran sollten Siearbeiten.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. MichaelBürsch [SPD]: Wir grüßen das 19. Jahrhun-dert, Frau Philipp! – Gegenruf der Abg.Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Wie originell,Herr Bürsch!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Silke Stokar von

Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein zen-trales Reformvorhaben von Rot-Grün wird heute imBundestag zum Abschluss gebracht. Nach sechs, fastsieben Jahren Diskussionen und Verhandlungen

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Interner Diskussionen!)

ist es gelungen, die Widerstände zu überwinden.Deutschland bekommt ein Informationsfreiheitsgesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, gemeinsam mit meinerKollegin Grietje Bettin habe ich für die grüne Fraktiondieses Gesetz in unendlicher Geduld verhandelt. Weildas ein Erfolg im Team ist, teilen wir uns die kurze Re-dezeit von fünf Minuten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Geben ist seliger denn Nehmen!)

Ich bitte deswegen die Opposition um Verständnis, dassich auf die vielen einzelnen Bedenken und Einwändejetzt nicht mehr eingehen kann.

Nur so viel zur CDU: Sie hatten nicht nur eine langeDiskussionsphase, Sie hatten hier auch eine lange Rede-zeit. Ihre Einwände gegen das Informationsfreiheitsge-setz und Ihre Position dazu sind hier trotzdem nicht deut-lich geworden. Das ist Ihr Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich sage auch etwas zur FDP, weil ich Ihre Einwändekenne: Ja, dieses Gesetz ist ein Kompromiss. Grüne Po-litik geht weiter als rot-grüne Kompromisse. Auch wirhaben uns mehr gewünscht, aber wir stehen hier heute zudem gemeinsam errungenen Kompromiss. Sie haben inIhrer Zeit der Regierungsbeteiligung in diesem Bereichüberhaupt nichts zustande gebracht. Wir müssen nurnach Niedersachsen sehen: Der Datenschutzbeauftragtetritt resigniert zurück, weil er die schwarz-gelbe Politiknicht mehr ertragen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das Informationsfreiheitsgesetz ist ein Beispiel fürdie erfolgreiche und auch vertrauensvolle Zusammenar-beit der rot-grünen Koalitionsfraktionen – ich würde siegerne mit Ihnen fortsetzen. Das Ergebnis ist mehrTransparenz für die Bürgerinnen und Bürger und eineModernisierung der öffentlichen Verwaltung. Es liegtjetzt am Bundesrat, dieses tolle Gesetz nicht zu blockie-ren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich möchte mich ausdrücklich bei der SPD-Fraktion,aber auch bei all den Verbänden, die unser Vorhabenkonstruktiv unterstützt haben, bedanken. Ermunternmöchte ich die Verwaltung, Informationsfreiheit alsChance zu begreifen. Machen Sie von den Ausnahmere-gelungen des Gesetzes zurückhaltend und bürgerfreund-lich Gebrauch! Übernehmen Sie den Grundsatz derTransparenz als Leitbild für eine moderne Verwaltung!

Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wirdas hier zum Abschluss gebracht haben. Ich denke, wirfeiern nachher auch noch ein bisschen. Ich richte nocheinen Dank an die Arbeitsebene; die Beteiligten sitzenhier irgendwo auf der Tribüne. Ich bedanke mich bei al-len, die zu diesem Erfolg beigetragen haben. Es ist gutfür die Bürgerrechte in Deutschland, dass wir jetzt einInformationsfreiheitsgesetz bekommen.

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Silke Stokar von Neuforn

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,

FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Nach diesem Plädoyer der Kollegin Stokar für einInformationsfreiheitsgesetz

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Können Sie sich dem nicht entziehen?)

möchte ich Sie fragen, ob wir denn die internen Proto-kolle der von Ihnen geduldig geführten Verhandlungenüber das Zustandekommen einmal nachlesen dürfen;denn dann bekämen wir vielleicht Aufschluss darüber,warum Sie bis heute gebraucht haben, Ihr Versprechenaus der Zeit der Regierungsbildung 1998 endlich zu er-füllen.

(Beifall bei der FDP – Silke Stokar vonNeuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: HerrStadler, ich lade Sie in mein Büro ein! MeineAkten sind für Sie offen!)

Wir haben ja gesehen, wo die Diskussionsfronten ver-laufen sind: auf der einen Seite die Parlamentarier, aufder anderen Seite die natürlichen Feinde jeder Transpa-renz von Behördenhandeln, die Ministerien.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Nein!Das sind doch keine Feinde! – Jörg Tauss[SPD]: Die haben wir überzeugt!)

Die Bundesgesundheitsministerin, Ulla Schmidt, hat dieVerabschiedung dieses Gesetzes noch vor wenigen Wo-chen persönlich blockiert, wie wir lesen konnten,

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das war ein Miss-verständnis! – Gegenruf der Abg. BeatrixPhilipp [CDU/CSU]: Nein, kein Missverständ-nis!)

weil sie Bedenken von Krankenkassen aufgegriffen hat.Diese sind vom Bundesdatenschutzbeauftragten, vonHerrn Bürsch und von Frau Stokar als unberechtigt zu-rückgewiesen worden.

(Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!)

Aber das war die Problematik in Ihren Reihen.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Und sie ist im-mer noch nicht sauber gelöst!)

In der Sache sagen wir als FDP: Wir unterstützen einInformationsfreiheitsgesetz. Dies ist eine alte bürger-rechtliche Forderung, die zu einem Zugewinn anDemokratie führt.

(Beifall bei der FDP, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss[SPD]: Jetzt hat er Recht!)

Frau Kollegin Philipp von der CDU/CSU-Fraktion,die Einwände, die Sie heute vorgetragen haben, könnten

sich hören lassen, wenn dies das erste Gesetz dieser Artauf der ganzen Welt wäre.

(Jörg Tauss [SPD]: Richtig!)

Aber es gibt längst eine praktische Erprobung. Die Bun-desrepublik Deutschland ist hier Schlusslicht in der in-ternationalen Entwicklung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt eine Tradition im angelsächsischen Raum. Dieamerikanische Bürgerrechtsbewegung hat ein solchesGesetz erkämpft.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Schwe-den 1766!)

Auch die Regelungen in Kanada hätten wir uns zum Vor-bild nehmen können usw.

(Beifall bei der FDP)

Die praktische Erfahrung zeigt, dass das funktioniert.

Sie haben einen bedenkenswerten prinzipiellen Ein-wand erhoben. Sie haben gesagt: Wer vor einem Verwal-tungsgericht klagen will, muss nach unserem Systemvon dem Verwaltungshandeln, gegen das er vorgeht, sel-ber betroffen sein. Das ist aber etwas anderes als die In-formation über Verwaltungshandeln allgemein.

(Zuruf von der SPD: Exakt!)

Diese steht in einer Demokratie jedermann zu. Das istder Unterschied. Deswegen teilen wir als Liberale IhrenEinwand nicht.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Allerdings hätten wir uns ein großzügigeres und bür-gerfreundlicheres Gesetz gewünscht. Die Debatte inDeutschland ist nach jahrelangem Stillstand doch über-haupt nur vom Fleck gekommen, weil

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wir Druck gemacht haben!)

die Humanistische Union und andere Bürgerrechtsorga-nisationen einen eigenen Entwurf vorgelegt haben,

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das ist wahr! – Widerspruch bei der SPD)

nachdem Sie nicht zu einer Einigung gekommen sind.Dieser Entwurf, den Sie natürlich kennen, war großzügi-ger und hätte mehr an wirklicher Information geboten alsder Minimalkompromiss, auf den Sie sich bei SPD undGrünen geeinigt haben.

(Beifall bei der FDP)

Der Ausnahmetatbestand in § 3 ist viel zu weit gefasst.Ungünstig ist auch, dass es bereichsspezifische Rege-lungen in anderen Gesetzen und daneben jetzt ein Infor-mationsfreiheitsgesetz gibt. Das führt nur zu Unklarheitund Verwirrung. Die Regelung eines einheitlichen An-spruches auf Information wäre richtig gewesen.

(Beifall bei der FDP)

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Dr. Max Stadler

Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, sa-gen wir: Sie gehen einen Schritt in die richtige Richtung.Was Sie machen, ist aber nicht liberal und bürgerfreund-lich genug. Wir wollen den Gesetzentwurf nicht ableh-nen, weil das Grundanliegen von uns geteilt wird; aberwir können auch nicht zustimmen, weil es wirklich nureine Minimalregelung ist.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist mehr als minimal, Herr Kollege!)

Daher enthalten wir als FDP uns hier im Bundestagheute der Stimme.

(Beifall bei der FDP – Silke Stokar vonNeuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wobleibt die Informationsfreiheit in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz? Da gibt esdas nicht!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg Tauss für die

SPD-Fraktion.

Jörg Tauss (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Meine lie-

ben Kollegen! Auch von meiner Seite natürlich herzli-chen Glückwunsch. Dass mit Ausnahme des zwangsver-pflichteten Geschäftsführers der Unionsfraktion, HerrnKlaeden, niemand den Ausführungen von Frau Philippzuhören wollte, ist im Nachhinein verständlich; ich kannes nachvollziehen. Denn, liebe Frau Kollegin Philipp,durch Ihre Rede hat sich deutlich gezeigt, dass das Ver-ständnis der Union von einem modernen Staat hinterdas Schwedens im Jahr 1766 zurückfällt, als sich dieschwedische Gesellschaft bereits ein Informationsfrei-heitsgesetz gegeben hat. Lieber Herr Stadler, ich würdemir mit Blick auf den nächsten Herbst gut überlegen, obSie mit der Union koalieren wollen. Allein der heutigeTag hat gezeigt: Mit diesem Verständnis eines modernenStaates ist die Union nicht regierungsfähig. Man sollte esihr ersparen.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kollegin Philipp, eine herzliche Bitte hätte ich,nämlich dass Sie in den Argumentationen ein bisschenehrlicher sind. Es gab mehrere Angebote von Kollegin-nen und Kollegen – mich können Sie nicht leiden, dassei dahingestellt; aber es gab auch Angebote von ande-ren, zum Beispiel vom Kollegen Bürsch –, mit Ihnen insGespräch zu kommen. Ich habe also an Sie die herzlicheBitte, hier keinen Popanz aufzubauen.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Das ist doch Quatsch!)

Sie hätten die Chance gehabt. Aber Sie haben sie nichtgenutzt.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Sie sind dochgar nicht im Ausschuss! Sie haben doch keineAhnung!)

Das hängt damit zusammen, dass in Ihren Reihen keineEinigung über ein Informationsfreiheitsgesetz erzielbar

war. Die Widersprüche bei Ihnen sind viel zu groß.Diese Tatsache wollen Sie mit Ihrem Verhalten übertün-chen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Frau Philipp, es wurde siebeneinhalb Jahre langdiskutiert, und da reden Sie von internen Diskussionen.Offensichtlich gehen an Ihnen alle gesellschaftspoliti-schen Debatten vorbei. Lesen Sie es einfach einmalnach! Dazu bedarf es keiner Informationsfreiheit, son-dern eines kurzen Besuchs etwa in der Bibliothek desDeutschen Bundestages.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Wie originell!)

Es gab die Debatten der Bertelsmann-Stiftung, es gabKonferenzen, es gab Anhörungen und Podiumsdiskus-sionen. Richtig ist allerdings: An all diesen Veranstaltun-gen haben Sie nicht teilgenommen. Das muss einmalfestgestellt werden.

Ihre Kritik beruht im Wesentlichen auf der Ablehnungeines vernünftigen und modernen Informationsfreiheits-gesetzes. Was Sie hier zum Datenschutz gesagt haben,ist völlig falsch. Der Datenschutz ist mit diesem Infor-mationsfreiheitsgesetz nicht aufgehoben. Ganz im Ge-genteil: Datenschutz und Informationsfreiheit sind zweiSeiten einer Medaille. Im Grunde ist auch der Bundesbe-auftragte für den Datenschutz, wie dies in den Ländernder Fall ist, gleichzeitig zuständig für das Recht auf Zu-gang zu Akten und Informationen. Die vernünftige undgute Lösung, die wir gefunden haben, trägt dem Daten-schutz und gleichzeitig dem Anspruch der Bürgerinnenund Bürger auf Informationsfreiheit insgesamt Rech-nung.

Liebe Kollegin Philipp, angesichts einer globalisier-ten Welt zu sagen, man solle den Informationszugangbitte schön auf irgendwelche deutschtümelnden Men-schen reduzieren,

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Deutsch-tümelnd? Deutsche Staatsbürger!)

zeugt nicht von einem großen Verständnis für eine glo-balisierte und moderne Welt, sondern von einer veralte-ten Auffassung, der Ihre Politik entspricht.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

In den USA gehört die deutsche Wirtschaft zu denen, dieam intensivsten den Rechtsanspruch im US-amerikani-schen Informationsfreiheitsgesetz in Anspruch nehmen.Man muss sich das einmal vorstellen: In den USA neh-men die Deutschen diesen Anspruch wahr, aber die CDUwill, dass in Deutschland ein Amerikaner das entspre-chende Recht nicht in Anspruch nehmen darf. Absurdergeht es nicht mehr. Sie haben damit deutlich gezeigt, wieweltfremd Sie sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lieber Kollege Stadler, ich freue mich, dass nach25 Jahren die FDP entdeckt hat, dass sie einmal eine

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Jörg Tauss

Rechtsstaatspartei war. Ich würde mich freuen, wenn Siean diese Tradition eines Karl-Hermann Flach und ande-rer anknüpfen könnten. Darüber würden wir uns allefreuen. Aber eines ist auch klar: Schwarz-gelbe Ländersind bis jetzt nicht aufgefallen, als es um die Informa-tionsfreiheit ging.

(Dr. Max Stadler [FDP]: Viele SPD-Länder auch nicht!)

In Baden-Württemberg würde für Sie eine gute Gelegen-heit bestehen, aktiv zu werden.

Sie haben heute in der Presse optimistisch dargestellt– das finde ich gut –, dass Sie, die FDP, die Union dazubewegen wollen, im Bundesrat die Dauerblockade derschwarz-gelben Länder an dieser Stelle zu durchbre-chen. Das wird Ihnen positive Überschriften in den mor-gen erscheinenden Zeitungen einbringen. Sie haben al-lerdings ein bisschen zurückhaltender gesagt – das gehtnicht so deutlich aus der Pressemeldung hervor –, dassSie versuchen wollen, Ihre fünf Länder zu einer Enthal-tung zu bewegen. Angesichts der Tatsache, dass Sieheute hier sagen, Sie hätten sich viel Weitergehendesvorgestellt, habe ich die herzliche Bitte an Sie: Tun Siealles, damit das Gesetz, das wir großartig finden, durchdie fünf Länder im Bundesrat, in denen Sie politischeVerantwortung mittragen, nicht blockiert wird. Das istIhre persönliche Verantwortung. Wir werden die Neuent-deckung des Rechtsstaats und der Bürgerrechte durchdie FDP an Ihrem Verhalten in diesem Punkt messen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Max Stadler [FDP]:Dann stimmen Sie heute unserem Antrag zu!)

– Wir haben sogar einige Ihrer Punkte aufgenommen.Nicht alles, was Sie vorschlagen, ist schlecht. – Sie ha-ben die Chance an dieser Stelle, sich aus der babyloni-schen Gefangenschaft Ihrer schwarz-gelben Opposi-tionszeit zu befreien. Wir werden Sie daran messen, obIhnen das gelingt.

Ich will die letzten Sekunden meiner Redezeit nutzen– mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident –, den beteilig-ten Büros recht herzlich zu danken. Es ist ein Gesetz ausder Mitte des Parlaments. Die Beamtinnen und Beamtenhaben entgegen der Legende durchaus positiv mitge-wirkt. Wir sind stolz darauf, dass Abgeordnete des Deut-schen Bundestages in einer entscheidenden Situation solange bereit waren, sich jeden Morgen um 7 Uhr für eineStunde zu einer Sitzung zu treffen, bis der Gesetzentwurffertig war. Das haben wir getan; die Beamten haben da-bei mitgeholfen. Unsere Büros haben Tag und Nacht ge-arbeitet. Ich denke, diese Arbeit ziert das Parlament.Dazu gehört auch der neue Ansatz, liebe Frau KolleginStokar, dass dieses Parlament ein Gesetz, das es sichselbst gegeben hat, auch selbst evaluiert. Wo man hierkritische Ansatzpunkte sehen will, wird Ihr Geheimnisbleiben.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Tauss, Sie hatten vorhin den Schluss Ih-

rer Rede in Aussicht gestellt.

Jörg Tauss (SPD): Ich komme zum Schluss.

Lieber Kollege Wiefelspütz, lieber Kollege Bürsch,liebe Kollegin Stokar und liebe Kollegin Bettin – ichhabe fast alle Namen erwähnt, die ich erwähnen wollte,wenn es auch nicht die korrekte Reihenfolge war, wasdie Höflichkeit gegenüber Damen angeht –: Es ist eingutes Gesetz, es ist ein guter Tag für Deutschland. LiebeKolleginnen und Kollegen, lassen Sie sich von der Mies-macherei der Union nicht irritieren. Das gilt vor allemfür die FDP, lieber Herr Stadler.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

beraten abschließend das Informationsfreiheitsgesetz.Die Bürgerinnen und Bürger sollen ein grundsätzlichesRecht auf Information durch die Verwaltung und weitereEinrichtungen erhalten. Die Informationen werden alsonicht mehr von Amts wegen zugeteilt. Es geht also umnicht mehr und nicht weniger als einen Paradigmen-wechsel.

In Europa gibt es zurzeit – Kollege Stadler hat esschon gesagt – nur noch vier Staaten, die kein Informa-tionsrecht für alle Bürgerinnen und Bürger haben. Auchin der Bundesrepublik haben wir schon Erfahrungen mitInformationsfreiheitsgesetzen. Die vier BundesländerBerlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Schles-wig-Holstein haben längst solche Gesetze.

Deshalb hatte die PDS im Bundestag die rot-grüneInitiative bereits im Dezember letzten Jahres als längstüberfällig begrüßt. Wir haben sie begrüßt, weil mehr In-formationen immer auch ein Mehr an Demokratie er-möglichen. Wir haben sie begrüßt, weil mehr Transpa-renz Korruption erschweren kann. Wir haben dieseInitiative begrüßt, weil das neue Recht die Bürgerinnenund Bürger als Souverän stärkt.

In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ichaber auch prophezeit, dass sich SPD und Grüne werdenentscheiden müssen: entweder ein schlechtes Gesetz mitBundesinnenminister Schily oder ein gutes Gesetz trotzSchily. Herausgekommen ist offenbar ein Gesetz mitOtto Schily.

Nun haben wir wieder einmal ein Problem. Denn un-term Strich steht: vorne gut gedacht, aber hintenschlecht. Deshalb wird sich die PDS bei der Abstim-mung enthalten.

(Dr. Max Stadler [FDP]: Das ist auch richtig!)Natürlich hat sich längst herumgesprochen: Nahezu alleMinisterien der rot-grünen Bundesregierung haben aufdie Bremse getreten und ein besseres Gesetz verhindert.

(Jörg Tauss [SPD]: Legende! Konstruktiv mit-gewirkt! – Silke Stokar von Neuforn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die PDS sollte ein-mal ihre Parteiakten offen legen!)

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Petra Pau

Das zeigt: Der angestrebte Mentalitätswechsel im Ver-hältnis zwischen Behörden und Bürgern, zwischen Staatund Demokratie, zwischen Geheimniskrämerei undTransparenz hat sicherlich noch einen langen Weg vorsich.

Damit wäre ich dann bei unseren drei Hauptkritik-punkten. Das Gesetz räumt den Bürgerinnen und Bür-gern zwar grundsätzlich ein Recht auf alle sie interessie-renden Informationen ein.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist doch schon mal etwas! Das ist der Fortschritt!)

Aber die lange und auch auslegbare Liste der Ausnah-men stellt genau diesen Grundsatz wieder infrage.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Warten wir doch mal die Praxis ab!)

Ausgenommen werden fast alle Vorgänge, die mit Geldzu tun haben. Nun sagt ein Sprichwort: „Beim Geld hörtdie Freundschaft auf.“ Aber wir wissen auch: Beim Geldkann Korruption zugreifen.

Schließlich: Informationen haben ihre Zeit und dievergeht bekanntlich schnell. Das Gesetz indes hält dieBürgerinnen und Bürger ein bis zwei Monate hin, bis sieihre Informationen erhalten.

(Jörg Tauss [SPD]: Aber nur bei Dritten!)

Auch das widerspricht dem neuen Geist.

Es gab im März eine parlamentarische Anhörung. DerMehrheit der angehörten Experten ging der Gesetzent-wurf nicht weit genug.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wie haben Siedenn gezählt? Diese Mehrheit haben wir nichtgesehen!)

Durchgesetzt haben sich allerdings die Bedenken derMinderheit.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist aber eine komische Wahrnehmung!)

Fazit: Wir hätten dem Gesetzentwurf gern zuge-stimmt, weil wir ein solches Gesetz für wichtig und un-verzichtbar für einen modernen Bürgerrechtsstaat halten.Aber der Gesetzentwurf greift zu kurz. Deshalb werdenwir uns jetzt enthalten.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die

Kollegin Grietje Bettin das Wort für Bündnis 90/DieGrünen.

Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir verankern heute hier im Deutschen Bundestagein elementares Bürgerrecht:

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Jeder und jede Interessierte soll zukünftig freien Zugangzu Informationen bekommen, die sonst hinter Aktende-ckeln verschlossen geblieben wären. Damit wird das

Prinzip des Amtsgeheimnisses in das Prinzip einer offe-nen und bürgerfreundlichen Verwaltung umgewan-delt. Wir Grüne haben dafür schon sehr lange gekämpftund nun zusammen mit den Sozialdemokraten im Bunddurchgesetzt, was sich in vielen Ländern, zum Beispielin Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen usw., schonsehr lange bewährt hat.

Endlich befinden wir uns auf Augenhöhe mit unsereneuropäischen Nachbarn. Dort ist der Informations- undAktenzugang schon längst eine Selbstverständlichkeit.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Nun ein paar Worte zur Bürgerfreundlichkeit in Kom-bination mit dem Bürokratievorwurf, der im Zusammen-hang mit diesem Gesetzentwurf häufiger erhoben wor-den ist.

Unser Ziel ist: Bürger und Amtsstuben sollen zu Part-nern werden, sie sollen zukünftig zusammenarbeiten undsich nicht sozusagen gegenseitig kritisch auf die Fingerschauen. Wir haben hier nichts zu verbergen. Das solltendie Bürgerinnen und Bürger auch so deutlich zu spürenbekommen.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das können sie jetzt auch!)

Dabei sparen wir Aufwand durch die Internetklausel, diewir in diesem Gesetzentwurf verankert haben; sie ver-hindert eine unnötige Antragsflut.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die Bürgerinnen und Bürger sollen von sich ausschauen, was im Internet an Informationen preisgegebenwird.

Noch ein paar Worte dazu, warum die Vorlage diesesGesetzentwurfes so lange gedauert hat. Es ist klar: Hiersoll eine wirkliche Philosophieumkehr in deutschenAmtsstuben stattfinden. Viele Bedenken – teilweise zuRecht, teilweise auch unbegründet – mussten aus demWeg geräumt werden.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das ist aber nicht gelungen!)

Wir haben einige Kompromisse eingehen müssen, dieuns auch schwer gefallen sind. Gerne hätten wir bei-spielsweise eine Abwägungsklausel bei den Betriebs-und Geschäftsgeheimnissen gehabt. Aber, liebe Kolle-ginnen und Kollegen – gerade auch von der FDP –, las-sen Sie uns die Chance auf einen einfachen Informati-onszugang für die Menschen nutzen. So weit, wie wirheute hier sind, sind Sie nicht gekommen – nicht inBaden-Württemberg, nicht in Rheinland-Pfalz, nicht inSachsen-Anhalt.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und nicht in Niedersachsen!)

Ab dem 1. Januar 2006 sollen die Bürgerinnen und Bür-ger in Deutschland die Chance bekommen, ein neuesRecht in Anspruch zu nehmen.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Alle!)

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Grietje Bettin

Dafür sollten wir gemeinsam die letzte Kraftanstrengungim Bundesrat und die letzte Hürde hier nehmen.

Abschließend möchte auch ich allen Kolleginnen undKollegen danken, die so konstruktiv an diesem Gesetz-entwurf mitgewirkt haben. Dank von meiner Seite insbe-sondere auch noch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter! Ich danke allen und wünsche diesem Gesetz vielErfolg.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nach diesen geballten guten Wünschen schließen wir

nun die Aussprache und kommen zu den Abstimmun-gen.

Abstimmung über den von den Fraktionen der SPDund des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent-wurf eines Informationsfreiheitsgesetzes auf Druck-sache 15/4493. Der Innenausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 15/5606, den Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Da-mit ist Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großerMehrheit angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Da-mit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung derFDP und einer fraktionslosen Kollegin angenommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der FDP-Fraktion auf Druck-sache 15/5625. Wer stimmt für diesen Entschließungs-antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich derStimme? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten RainerFunke, Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, weiterenAbgeordneten und der Fraktion der FDP einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Grundgesetzes (Art. 28, 31 und 84)– Drucksache 15/5357 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussFinanzausschussHaushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten ErnstBurgbacher, Rainer Funke, Dr. Hermann OttoSolms, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes

zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 105und 106)

– Drucksache 15/5358 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Innenausschuss RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenHaushaltsausschuss

c) Erste Beratung des von den AbgeordnetenGudrun Kopp, Rainer Brüderle, ErnstBurgbacher, weiteren Abgeordneten und derFraktion der FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Gesetzes über denLadenschluss

– Drucksache 15/5370 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussRechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war fürdiese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Diewerden wir nicht benötigen, da die Kollegen KlausHagemann, Dr. Günter Krings, Rainder Steenblock undErnst Burgbacher ihre Reden zu Protokoll gegeben ha-ben.1)

Wir können dann gleich die notwendigen Überwei-sungsbeschlüsse fassen. Interfraktionell wird Überwei-sung der Gesetzentwürfe auf den genannten Drucksa-chen an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines SiebtenGesetzes zur Änderung des Versicherungsauf-sichtsgesetzes

– Drucksache 15/5221 –

(Erste Beratung 169. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/5618 –

Berichterstattung:Abgeordnete Horst Schild Klaus-Peter Flosbach Kerstin Andreae Carl-Ludwig Thiele

1) Anlage 2

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16960 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert

Auch hierzu sollte eine halbstündige Debatte stattfin-den. Die dazu gemeldeten Redner Horst Schild, Klaus-Peter Flosbach, Kerstin Andreae und Carl-LudwigThiele haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, sodasswir auch hier gleich zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf kommen können.1)

Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Versiche-rungsaufsichtsgesetzes auf Drucksache 15/5221. DerFinanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 15/5618, den Gesetzentwurf in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diediesem Beschlussvorschlag zustimmen wollen, dem Ge-setz also in der Ausschussfassung zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-tung einstimmig angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-ben. – Möchte jemand dagegen stimmen oder sich derStimme enthalten? – Das ist nicht der Fall. Dann ist derGesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenom-men.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 29:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dagmar Wöhrl, Karl-JosefLaumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU

1) Anlage 3

Europäische Energiepolitik marktwirtschaft-lich gestalten – Richtlinien entbürokratisieren

– Drucksache 15/5327 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

Die hierzu von den Fraktionen benannten Redner undRednerinnen Rolf Hempelmann, Kurt-Dieter Grill,Michaele Hustedt und Gudrun Kopp sowie der Rednerfür die Bundesregierung, der Parlamentarische Staatsse-kretär Gerd Andres, geben ihre Reden zu Protokoll.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/5327 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sinddamit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages aufMittwoch, den 15. Juni 2005, 13 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen, soweit Ihre sonstigen Verpflich-tungen es zulassen, ein schönes Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 15.22 Uhr)

2) Anlage 4

Berichtigung178. Sitzung, Seite 16761 (B), erster Absatz, der

dritte Satz ist wie folgt zu lesen: „1957 ist in Sellafieldder erste Störfall aufgetreten.“

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005 16961

(A) (C)

(B)

Anlagen zum Stenografischen Bericht

Anlage 1Liste der entschuldigten Abgeordneten

(D)

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Borchert, Jochen CDU/CSU 03.06.2005

Bülow, Marco SPD 03.06.2005

Bulmahn, Edelgard SPD 03.06.2005

Daub, Helga FDP 03.06.2005

Dieckmann, Roland CDU/CSU 03.06.2005

Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 03.06.2005

Freitag, Dagmar SPD 03.06.2005

Göppel, Josef CDU/CSU 03.06.2005

Granold, Ute CDU/CSU 03.06.2005

Groneberg, Gabriele SPD 03.06.2005

Haibach, Holger CDU/CSU 03.06.2005

Hochbaum, Robert CDU/CSU 03.06.2005

Hofmann (Volkach), Frank

SPD 03.06.2005

Künast, Renate BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

03.06.2005

Laumann, Karl-Josef CDU/CSU 03.06.2005

Dr. Lippold (Offenbach), Klaus W.

CDU/CSU 03.06.2005

Merz, Friedrich CDU/CSU 03.06.2005

Multhaupt, Gesine SPD 03.06.2005

Pieper, Cornelia FDP 03.06.2005

Piltz, Gisela FDP 03.06.2005

Dr. Pinkwart, Andreas FDP 03.06.2005

Dr. Scheer, Hermann SPD 03.06.2005

Scheffler, Siegfried SPD 03.06.2005

Schily, Otto SPD 03.06.2005

Dr. Schwanholz, Martin

SPD 03.06.2005

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Entwürfe:

– Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes(Art. 28, 31 und 84)

– Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes(Art. 105 und 106)

– Gesetz zur Änderung des Gesetzes über denLadenschluss

(Tagesordnungspunkt 27)

Klaus Hagemann (SPD): Am Freitagnachmittag hatdie FDP eine Debatte über eine veritable Grundgesetzän-derung angestoßen, eine Grundgesetzänderung, die sichmit der Frage der Staatsorganisation zwischen Bund,Ländern und Gemeinden beschäftigt. Und das soll in30 Minuten Debattenzeit abgehandelt werden. Und da-bei soll auch gleich die Frage der Finanzsituation derGemeinden so „en passant“ mitgelöst werden. Nein!Diese Frage wurde schon vor längerer Zeit richtiger-weise intensiv in der so genannten Föderalismuskom-mission diskutiert. Für den Bereich Finanzbeziehungenzwischen Bund, Ländern und Gemeinden hatten dieFachleute um Franz Müntefering und Edmund Stoiberschon Kompromisse formuliert, die aber wegen der Ma-ximalforderungen der schwarz-gelb geführten Länder inanderen Politikbereichen nicht zu einem Erfolg geführthaben.

Diese Diskussion und die Gesetzgebung dürfen nachder Meinung der SPD nicht isoliert werden, wie dies dieFDP heute beantragt, sondern müssen im Gesamtzusam-menhang der Föderalismusreform gesehen werden. Des-halb lehnen wir jetzt eine Befassung über den FDP-An-trag ab, weil die Entscheidungsreife noch nicht vorliegt.

Lassen sie mich jetzt noch einige Gedanken zurschwierigen Finanzsituation der Gemeinden vortragen.

Seehofer, Horst CDU/CSU 03.06.2005

Vogt (Pforzheim), Ute SPD 03.06.2005

Wächter, Gerhard CDU/CSU 03.06.2005

Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 03.06.2005

Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 03.06.2005

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

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16962 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

(A) (C)

(B) (D)

Seit vielen Jahren, insbesondere seit den 90er-Jahren,haben die Gemeinden zu Recht darüber geklagt, dass siedie Kosten für die Finanzierung der Langzeitarbeitslo-sigkeit aus ihren Kassen zu erheblichem Teil mitfinan-zieren müssen. Wie oft war bei kommunalen Haushalts-beratungen zu hören, dass die Sozialhilfekosten denSpielraum der Gemeinden auffressen. Seit dem 1. Januar2005, seitdem die Sozialhilfe für arbeitsfähige Sozialhil-feempfänger und die Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslo-sengeld II zusammengelegt worden sind und die Finan-zierung gänzlich in den Bundeshaushalt übernommenworden ist, sind die Gemeinden von der Finanzierungder Langzeitarbeitslosigkeit völlig freigestellt. Hier gehtes um circa 370 000 ehemalige Sozialhilfeempfänger.Die frei gewordenen Mittel können sie anderweitig ver-wenden. Die positive Entwicklung kann man beziffern.Es gibt nämlich einen Rückgang der Zahl der Sozialhil-feempfänger um sage und schreibe 90 bis 95 Prozent.Union und FDP wollten die Aufgabe der Betreuung derLangzeitarbeitslosen eigentlich den Kommunen übertra-gen.

Es müsste Schwarz-Gelb schon zu denken geben,wenn die Frankfurter CDU-Oberbürgermeisterin PetraRoth vorgestern vor dem Städtetag sagt, dass es „ein Er-folg sei, die Kommunalisierung der Langzeitarbeitslo-sigkeit bisher verhindert zu haben“. Aber CDU/CSU ha-ben ja nicht nur in dieser Frage unterschiedlicheMeinungen, auch, wenn ich an die Debatte um eineMehrwertsteuererhöhung erinnern darf, in der Steuer-politik ganz allgemein.

Auch auf einem anderen Sektor, nämlich der Finan-zierung des Wohngeldes, haben die Gemeinden bishervom Bund profitiert. Laut Gesetz haben wir 29,1 Prozentder Kosten der Unterkunft zu finanzieren, obwohl derspitz gerechnete Anteil zurzeit bei circa 7 Prozent liegt.

Wenn zahlreiche CDU/CSU-geführte Bundesländerihre Einsparungen im Bereich Wohngeld nicht an ihreGemeinden weitergeben, so ist das schlecht, aber derBund hat das nicht zu verantworten. Offenbar hat hierlaut Pressebericht der „Frankfurter Allgemeinen“ vongestern die Frankfurter CDU-Oberbürgermeisterin ihreErfahrungen mit der CDU-geführten hessischen Landes-regierung unter Ministerpräsident Koch wiedergegeben;in dem Bericht heißt es: „[…] sie forderte die Länderauf, ihre Einsparungen beim Wohngeld an die Kommu-nen weiterzugeben. Wer die klebrigen Hände der Länderkennt, wird daran seine Zweifel haben.“ Sie wird dasVerhalten ihres Parteifreundes LandesfinanzministerWeimar kennen.

Wenn über die Finanzausstattung der Gemeinden ge-redet wird, dann muss auch die Gewerbesteuer ange-sprochen werden. Schwarz-Gelb will bekanntlich dieseGemeindesteuer abschaffen; FDP geschlossen, bei derUnion ist ein Teil dafür, ein Teil dagegen. Das Abschaf-fen hätte zur Folge, dass auf einen Schlag 28 MilliardenEuro in den kommunalen Kassen fehlen würden. Das istGeld, das für die Investitionen in Schulen, Kindergärten,Gemeindestraßen oder kulturelle und Jugendeinrichtun-gen fehlen und Arbeitsplätze kosten würde. Und CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth sagte dazu vor dem

Städtetag: „Solange niemand die Frage nach einem ad-äquaten Ersatz beantworten kann, darf die Gewerbe-steuer nicht zur Disposition gestellt werden.“ Recht hatFrau Roth! Wer wie ich aus der kommunalen Praxiskommt, kann ihr nur voll zustimmen.

Nun wissen wir, dass die FDP vorschlägt, den Ge-meinden einen Zuschlag auf die Umsatzsteuer als Ersatzzu geben. Auch dazu hatte sich Frau Roth vor dem Städ-tetag geäußert. Die „FAZ“ berichtet darüber: „Städte undGemeinden könnten es nicht dulden, mit Zuschlagsrech-ten abgespeist zu werden. Das Band zwischen der Wirt-schaft und den Städten müsse erhalten bleiben.“ Erneutmuss ich sagen: Frau Roth hat völlig Recht. Sie musssich nur in ihrer eigenen Partei durchsetzen!

Die Koalition hat in der Zwischenzeit gehandelt unddie Gewerbesteuerumlage gesenkt. Dadurch bleibt mehrGeld in den Gemeindenkassen. Wir haben darüber hi-naus ein Bundesprogramm von 4 Milliarden Euro für dieSchaffung von mehr Ganztagsschulen aufgelegt, dasauch hauptsächlich den Gemeinden zugute kommt undvon dem Kinder und Eltern profitieren. Die SPD-ge-führte Landesregierung von Rheinland-Pfalz beispiels-weise ruft diese Mittel kontinuierlich ab, die Gemeindeninvestieren in die Schulen. In meinem Wahlkreis zumBeispiel profitieren davon zahlreiche Gemeinden, dieGanztagsschulen schaffen. Aber andere Länder wollendies aus ideologischen Gründen nicht umsetzen; selbstschuld.

Und lassen sie mich abschließend noch einen Punktder Finanzpolitik aussprechen. Die Bundesregierung unddie Koalitionsfraktionen hatten zu Beginn der Legislatureinen Gesetzentwurf zum Abbau von ungerechtfertigtenSteuersubventionen vorgelegt; 42 Vorschläge waren da-rin enthalten. Leider haben die schwarz-gelb geführtenLänder dieses Gesetz im Bundesrat blockiert und damitverhindert. Die Einnahmen für Bund, Länder und Ge-meinden hätten 17 Milliarden Euro zusätzlich betragen.Wenn dies Gesetz geworden wäre, hätten alle drei Ebe-nen viele Finanzsorgen weniger und insbesondere dieGemeinden könnten wieder stärker investieren. Aber ausparteipolitischen Gründen hat man sie im Bundesrat blo-ckiert.

Wohlgesetzte Worte für eine Grundgesetzänderung,für einen Teilbereich aus einem Gesamtpaket Föderalis-musreform, sind jetzt nicht die Lösung. Deshalb ist ausunserer Sicht der Vorschlag der FDP heute nicht ent-scheidungsreif. Wir können dem Vorschlag nicht folgen.Lassen sie uns lieber den für die Gemeinden vorteilhaf-ten Weg weitergehen.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Wir diskutierenheute an dieser Stelle drei Gesetzentwürfe der FDP –und das sind eigentlich schon mindestens zwei zu viel.Die Gesetzentwürfe betreffen alle das Verhältnis zwi-schen Bund und Ländern. Teilweise nehmen sie sogar di-rekten Bezug auf die Beratungen der Bundesstaatskom-mission.

Ziel der Bundesstaatskommission ist es indes, zu ei-ner umfassenden Neuregelung der Zuständigkeiten

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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005 16963

(A) (C)

(B) (D)

zwischen Bund und Ländern zu kommen. Die FDP prä-sentiert uns heute dagegen nur einen Flickenteppich, derdieser Zielsetzung der Bundesstaatskommission nichtgerecht wird.

Es ist schon einigermaßen verwunderlich, dass dieFraktion dieses Hauses, die von einer Zweidrittelmehr-heit am weitesten entfernt ist, meint, in wohl einer derletzten Sitzungswochen dieser Legislaturperiode nochrasch eine Föderalismusreform ins Werk setzen zu kön-nen. Durch das Vorpreschen auf zwei oder drei begrenz-ten Themenfeldern mag die FDP ihren Reformeifer nocheinmal unterstreichen. Dem Ziel, unseren Bundesstaatendlich rundzuerneuern, zu modernisieren, kommen wirmit solchen Aktionen aber keinen Zentimeter näher.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hält auch weiter-hin an einer umfassenden Föderalismusreform fest. DieBundesstaatskommission hat während ihrer etwas mehrals einjährigen Dauer gute Arbeit geleistet und standkurz vor dem Abschluss. Leider hat die SPD nicht mehrden Mut gefunden, den Knoten durchzuschlagen, son-dern hat sich lieber hinter formellen Gesichtspunkten zu-rückgezogen.

So erklärte der Regierende Bürgermeister von BerlinKlaus Wowereit in der „Welt“ vom 27. Mai 2005, esgebe keine Chance mehr, die Ergebnisse im Bundestagdurchzusetzen, um dann noch hinzuzufügen – Zitat –:„Ich finde das schade.“ Wir als CDU/CSU finden dasauch „schade“, aber bei Vorhandensein eines entspre-chenden Willen seitens der SPD hätte man die Möglich-keit gehabt, die Änderungsvorschläge bis Mitte Juni inden Bundestag einzubringen und sie bis Anfang Juli vomBundesrat verabschieden zu lassen.

Nun hatte die SPD es wohl mit der Angst bekom-men, ein derartig großes Projekt mit der Union zusam-men noch vor der Bundestagswahl durchzuziehen. Dashätte schließlich auch schlecht zum ebenso oft wieder-holten wie falschen Vorwurf des SPD-VorsitzendenMüntefering an die Union gepasst, die Union würde„nur blockieren“. Da blockiert der SPD-Vorsitzendedoch lieber selber. Und die SPD erweist sich hier alsWiederholungstäter, nachdem sie bereits ein positivesErgebnis am Ende des letzten Jahres an der starren Hal-tung zur Bildungskompetenz hatte scheitern lassen, ob-wohl die Länder dem Bund sehr entgegengekommenwaren.

Die Koalitionsfraktionen beherrschen schon jetzt, inden letzten Monaten ihrer Regierungszeit, das starre Op-ponieren besser, als wir das je gekonnt hätten. Wir wer-den ihnen daher gerne dabei helfen, möglichst schnell indie Rolle zu kommen, die ihnen offenbar auf den Leibgeschrieben ist, und zwar die Rolle der Bundestagsoppo-sition.

Die Föderalismusreform ist damit leider das ersteWahlkampfopfer der SPD geworden. Dennoch habe ichdie Hoffnung, dass nach der Bundestagswahl an die Ver-handlungsergebnisse der Bundesstaatskommission ange-knüpft werden kann und es zu einer grundlegenden Re-form der bundesstaatlichen Ordnung kommt. Wir

werden jedenfalls konsequent auf dieses Ziel hinarbei-ten.

Die Vorschläge der FDP, die sich in den drei Gesetz-entwürfen wiederfinden, gehen teilweise in die richtigeRichtung, schweigen aber in einem zentralen Punkt: Beider Föderalismusreform geht es gerade darum, eineklare Abgrenzung inhaltlicher Zuständigkeiten zwi-schen Bund und Länder zu erhalten, die den Bürgernklar vor Augen führt, welche Ebene für welchen Be-reich zuständig ist. Diesem Ziel kommt man aber nichtnäher, wenn man den Ländern lediglich ein Zugriffs-recht bei der Ausführung von Bundesgesetzen als ei-gene Angelegenheit gibt.

Bei der Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzzwischen Bund und Ländern dürfen wir nicht kleinteiligvorgehen. Es bringt niemandem etwas, wenn man ein-zelne Zuständigkeiten von der einen Seite zur anderenverschiebt. Vielmehr müssen die verschiedenen Zustän-digkeiten in komplexe, in sich geschlossene Bereichezusammengefasst werden, um eine klare Abgrenzungherzustellen, Schnittstellen zu reduzieren und Kompe-tenzstreitigkeiten erst gar nicht entstehen zu lassen.

Die zusätzlichen Aufgaben für die Länder würden in-nerhalb der Länder dort ankommen, wo sie auch hinge-hören: in die Landtage. Somit müssen die eigentlichenVerlierer der bisherigen Entwicklung – die Landtage –zu den Gewinnern der Reform werden. Die Landesregie-rungen konnten bislang den Verlust von Zuständigkeitenan den Bund immerhin durch die Zunahmen an zustim-mungspflichtigen Gesetzen kompensieren und damit ih-ren politischen Einfluss weitgehend sicherstellen.

Eine in sich geschlossene Föderalismusreform, eineReform aus einem Guss, so wie die Union sie sich vor-stellt, wird den Vorteil bringen, dass die Menschen denUnterschied zwischen den einzelnen politischen Ebenenwieder wahrnehmen. Nur wenn die Bürger klar erken-nen, wer für was zuständig ist, wissen sie auch, wen siefür welche Entscheidungen wählen oder abwählen müs-sen.

Der FDP-Vorschlag bleibt in der dafür entscheiden-den Frage, der Verteilung der Gesetzgebungskompeten-zen, zu unscharf; es wird lediglich an den Symptomenkuriert, eine Heilung unterbleibt.

Neben der Transparenz ist das zweite Problem, daswir mit der Föderalismuskommission lösen wollen, dieDauer von Gesetzgebungsverfahren infolge der aus-ufernden Zustimmungspflicht von Bundesgesetzen. Wirwissen alle, dass die Regelung des Art. 84 Abs. l GGeine Hauptursache für die Vielzahl von zustimmungs-pflichtigen Gesetzen ist. Mehr als die Hälfte aller Zu-stimmungsgesetze lässt sich auf diese grundgesetzlicheRegelung zurückführen. Allerdings ist auch das nur diehalbe Wahrheit, denn eigentlich problematisch ist dieVielzahl von Verfahrensbestimmungen, die der Bundes-gesetzgeber mit den materiellen Regelungen verbindetund somit die Zustimmungspflicht des Bundesrates erstauslöst.

Die „Einheitstheorie“ des Bundesverfassungsgerichtsmacht eine einschränkende Neuformulierung des

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16964 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005

(A) (C)

(B) (D)

Art. 84 GG unbedingt notwendig. Die Formulierung derFDP orientiert sich dabei an den Ergebnissen der Bun-desstaatskommission und bietet grundsätzlich die Mög-lichkeit, eine Entflechtung zu erreichen. Nur: Isoliertfunktioniert so etwas natürlich nicht. Wenn Sie den Län-dern bei Art. 84 GG etwas wegnehmen wollen, müssenSie ihnen umgekehrt auch deutlich machen, wo sie imGegenzug eigene Zuständigkeiten gewinnen. Dazu fin-det man in den Gesetzentwürfen der FDP aber – außer-halb der Finanzverfassung – nichts.

Selbstverständlich bedürfen nicht nur die materiellenGesetzgebungskompetenzen einer Entflechtung. Viel-mehr ergeben auch die Finanzbeziehungen zwischenBund und Ländern heute ein chaotisches Bild, das drin-gend geordnet werden muss. So liegt beispielsweise dieRegelungskompetenz für die Erbschaftsteuer beimBund, während die Länder für den Vollzug zuständigsind und ihnen auch der Ertrag zusteht. Die gleiche Pro-blematik wiederholt sich bei der Kfz-Steuer.

Anders hingegen stellt sich die Situation bei der Ver-sicherungsteuer dar. Der Vollzug liegt zwar auch hier inden Händen der Länder, aber die Regelungskompetenzund der Ertrag stehen dem Bund zu. Bei der Versiche-rungsteuer ergibt sich obendrein auch noch ein Abgren-zungsproblem zur Feuerschutzsteuer. Deren Ertrag ge-bührt nämlich den Ländern. Bei kombiniertenVersicherungsverträgen, die den Feuerschutz mit umfas-sen, haben die Länder damit Anspruch auf einen entspre-chenden Anteil am Aufkommen.

Dieses Durcheinander muss beendet werden.

Der Gesetzentwurf der Freien Demokraten geht auchhier in die richtige Richtung. Kfz- und Versicherung-steuer weisen in etwa dasselbe Ertragsaufkommen aus.Daher ist es in der Tat sinnvoll, die Regelungskompetenzund den Ertrag der Kfz-Steuer beim Bund anzusiedeln,und die Versicherungssteuer in Gänze an die Länder zugeben. Die Vorteile liegen auf der Hand: Abgrenzungs-probleme zwischen Feuerschutz- und Versicherung-steuer würden der Vergangenheit angehören. Mit derKfz-Steuer würde dem Bund auch deren Ertrag zustehenund in Verbindung mit der Mineralölsteuer könnte eineVerkehrspolitik aus einer Hand erfolgen.

Ein derartiger Austausch ist aber nur dann realistisch,wenn das Aufkommen aus beiden Steuerarten langfristiggesichert ist. Bei der Versicherungsteuer ist dies nichteindeutig zu bejahen. Ob sie dauerhaft vor dem EU-Recht bestehen kann, ist ungewiss. Die FDP ignorierthier abermals, dass eine Zweidrittelzustimmung desBundestages und des Bundesrates nur dann erreichbarist, wenn weder Bund noch Länder fürchten müssen, an-schließend als alleinige Verlierer dazustehen. Es mussdaher ein Netz gespannt werden, das den denkbarenkompletten Wegfall einer Steuerart auffängt.

Die Bundesstaatskommission hat dazu den praktika-blen Vorschlag einer Sicherungsklausel gemacht, die ineinem solchen Fall Neuverhandlungen zwischen Bundund Ländern vorsieht. – Die hätten Sie in Ihrem Antragschon mit abschreiben können!

Die Übertragung der Regelungskompetenz auf dieLänder bietet sich in erster Linie bei steuerlichen Tatbe-ständen an, die auf immobilen Sachverhalten beruhen.Daher ist eine komplette Aufgabenverlagerung derGrundsteuer auf die Länder – wie sie die FDP bean-tragt – durchaus in Betracht zu ziehen. Wenn die FDPhier so mutig bei der Grundsteuer ist, kann ich aberumso schwerer nachvollziehen, warum Sie dieser Mutbei der Grunderwerbsteuer dann plötzlich wieder ver-lässt.

Die Bundesstaatskommission hat hier den Vorschlaggemacht, die Höhe der Steuersätze in Länderverantwor-tung zu übertragen. Das würde den Ländern einen wich-tigen Gestaltungsspielraum im Hinblick auf ihre Stand-ort- und Strukturpolitik eröffnen. Wenn die FDPdagegen vorschlägt, die Grundsteuerkompetenz denLändern zu geben, aber die Gesetzgebung zur Grunder-werbsteuer beim Bund zu belassen, dann ist dieser Vor-schlag eher geeignet, die Verwirrung im Steuerrecht zuvertiefen als sie zu beseitigen.

Prinzipiellen Beifall verdient der Vorschlag, die Bun-deskompetenz für die Vermögensteuer endlich abzu-schaffen. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 zuRecht die Verfassungswidrigkeit dieser Steuer festge-stellt, da es keinen Grund gibt, Kapitalvermögen undGrundbesitz unterschiedlich zu behandeln. Die Vermö-gensteuer nimmt als Substanzsteuer keine Rücksicht aufdie wirtschaftliche Situation des Steuerzahlers. Das be-trifft insbesondere mittelständische Betriebe, die ihr Geldin die Firma investieren, aber zunächst wenig Gewinn ab-werfen. Zudem stehen Verwaltungsaufwand und Ertragdieser Steuer in keinem Verhältnis zueinander. DieseSteuer dient allenfalls noch dazu, einer bestimmten Kli-entel der SPD Sand in die Augen zu streuen und weitereArbeitsplätze in Deutschland zu gefährden. – Dann bittesollen sich doch die letzten Ministerpräsidenten der SPD– viele sind’s ja nicht mehr – mit dieser Steuer austoben.Der Bundestag sollte von solchen Possenspielen jeden-falls dauerhaft verschont bleiben.

Und lassen Sie mich noch zu dem dritten Antrag derFDP etwas feststellen: Es handelt sich um den „Entwurfeines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den La-denschluss“ und datiert vom 20. April dieses Jahres.

Dieser Antrag hat allerdings schon einen Vorgänger inder aktuellen Wahlperiode: Am 17. Juni 2004 fordertedie FDP in einem Antrag: „Konsequenzen aus der Ent-scheidung zum Ladenschluss ziehen – Regelung des La-denschlusses den Ländern überlassen“. Und wiederumdavor gab es schon am 20. November 2002 einen FDP-Gesetzentwurf zur „Aufhebung des Ladenschlussgeset-zes“.

Man könnte fast denken: Wenn der FDP sonst nichtsmehr einfällt, macht sie etwas zum Ladenschluss. Erstwollen Sie das Bundesgesetz abschaffen. Dann fordernsie die Bundesregierung auf, das Gesetz zu öffnen. Undheute legt sie selbst eine Öffnungsklausel vor.

In der Sache ist das aus meiner persönlichen Sicht eindiskutabler Gedanke. Und sie weisen in Ihrer Antragsbe-gründung vollkommen zu Recht darauf hin, dass der

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(A) (C)

(B) (D)

Schutz von Sonn- und Feiertagen auch ohne ein Bundes-gesetz bundeseinheitlich gewahrt bleibt. Dieser Sonn-und Feiertagsschutz ist schließlich in Art. 140 GG inVerbindung mit Art. 139 WRV verfassungsrechtlich ver-brieft.

Misstrauisch stimmt allerdings der Zusatz in Ihrer Be-gründung: „Auch hier können die Länder den regionalunterschiedlichen Anschauungen, Traditionen und Bräu-chen besser gerecht werden …“ Genau so ist das mitdem Art. 139 aber nicht gedacht: Die Länder könnenwohl eigene Feiertage anerkennen. Der Sonntag und zu-mindest die bundesweit anerkannten Feiertage müssenaber verbindlich und in allen Ländern auch Tage der Ar-beitsruhe bleiben. In dieser Hinsicht wollten weder dieAutoren der WRV noch des GG regionale Besonderhei-ten gelten lassen. Mit einem Antrag, der damit indirektdas Signal gibt, man müsse es mit dem Sonntag als Ru-hetag nicht so ernst nehmen, haben wir als christlicheDemokraten allerdings erhebliche Probleme.

Alles in allem enthalten die Forderungen der FDPdurchaus interessante und richtige Ansatzpunkte für eineEntflechtung der bundesstaatlichen Strukturen. Dergroße Wurf ist das aber wahrlich nicht.

Wir wollen aus der Föderalismusreform mehr machenals eine parteipolitische Profilierungsveranstaltung. Wirwollen eine Reform aus einem Guss, die dann nicht nurim Bundestag, sondern auch im Bundesrat die Chanceauf eine Zweidrittelmehrheit hat. Daran arbeiten wir –und daran wird auch die SPD mitarbeiten müssen. DieMenschen in Deutschland erwarten, dass die Politikerihnen nicht nur Reformen zumuten, sondern dass sieauch da zu Reformen bereit sind, wo es ihnen selbst viel-leicht wehtut. Daher gilt trotz der Verweigerungshaltungvon Franz Müntefering heute der Satz eines seiner Vor-gänger: Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen.Wir als CDU und CSU werden in Sachen Bundesstaats-reform auch nach dem 18. September nicht locker las-sen!

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Lieber Kollege Burgbacher, so gut wir in vielenFragen der Förderalismusreform zusammengearbeitethaben, für den heutigen Vorstoß, in einer Art Torschluss-panik noch einzelne Elemente hier heute zur Abstim-mung zu stellen, habe ich überhaupt kein Verständnis. Esist vernünftig, die Verhandlungen zu unterbrechen. Na-türlich geht es nicht darum, die Verhandlungen auf dielange Bank zu schieben. Aber wir reden schließlich überdie größte Reform des Grundgesetzes seit seiner Verab-schiedung 1949. Deshalb wollen wir aus Respekt vor derVerfassung und dem neu zu wählenden Deutschen Bun-destag die Verhandlungen unterbrechen. Wir setzen unsdafür ein, die Verfassungsreform seriös im Bundestag zubehandeln und zeitnah zu einem Ergebnis kommen.

Die Forderung von Stoiber und Merkel, doch noch einErgebnis vorzulegen, würde bedeuten, dass keine seriöseDebatte im Bundestag mehr stattfinden kann. Das ist in-akzeptabel für uns, auch und gerade in Anbetracht derTatsache, dass die Diskussion in der letzten Zeit ja be-reits ohne parlamentarische Anbindung geführt wurde.

Ich wundere mich, dass gerade KanzlerkandidatinMerkel plötzlich so auf Tempo drängt, wo sie doch imletzten Jahr nicht ein einziges Mal an der Arbeit der Fö-deralismuskommission, zumindest nicht aktiv, mitge-wirkt hat. Ich wünsche Frau Merkel auch viel Spaß inder Zusammenarbeit mit den Herren Koch und Wulff,die dem Bund im Bildungsbereich jede Kompetenz ab-schneiden wollen. Die Ernennung der Schattenbildungs-ministerin Schavan suggeriert, dass KanzlerkandidatinMerkel an einer Handlungskompetenz im Bildungs-bereich auf Bundesebene festhalten will. Diesen Wider-spruch muss die CDU auflösen.

Zu den einzelnen Anträgen nur einige Anmerkungenin der Sache: Den Tausch von Versicherungs- und Kfz-Steuer unterstütze ich. Wir hatten sogar angeboten, dassdie politische Ebene, die die Ertragshoheit hat, auch dieGesetzgebungskompetenz bekommt.

Zu Art. 84: Zugriffsrechte in der Rohform lehnen wirab, da das einen Übergang vom Bundessstaat zum Staa-tenbund bedeuten würde. Wir hätten Zugriffsrechte derLänder akzeptiert, wenn der Bund ein Rückholrecht ge-habt hätte.

Ladenschluss: Wir unterstützen eine Kompetenzver-lagerung auf die Länder. Allerdings lehnen wir es zumgegenwärtigen Zeitpunkt ab, einzelne Bestandteile ausder Gesamtlösung herauszunehmen. Uns geht es darum,ein Gesamtpaket zu schnüren.

Ernst Burgbacher (FDP): Seitdem die Vorsitzendender Kommission zur Modernisierung der bundesstaat-lichen Ordnung, kurz Föderalismuskommission,Müntefering und Stoiber, am 17. Dezember 2004 ihrScheitern im Ringen um eine Reform unseres föderalenSystems erklärt haben, hat der Bundestag sich mit die-sem eminent wichtigen Thema nur zweimal, wenn ichunsere heutigen Debatte mitzähle, befasst – jeweils aufAntrag der FDP-Bundestagsfraktion. Das Hohe Haus hatzwar eine Eröffnungsdebatte geführt, das Scheitern undden weiteren Fortgang aber nie aufgearbeitet. Die so ge-nannte „Mutter aller Reformen“ hat meines Erachtensmehr Beachtung durch das deutsche Parlament verdient!

Die von den Kommissionsvorsitzenden in ihrem„Sprechzettel“ für die letzte Kommissionssitzung zu-sammengefassten Ergebnisse blieben weit hinter den Er-wartungen zurück. Nicht nur in der Hochschulpolitik– dieser Eindruck wurde ja in der öffentlichen Berichter-stattung geweckt –, sondern auch in anderen Bereichengab es bis zuletzt unterschiedliche Positionen.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat immer deutlich ge-macht, dass grundlegende Themen wie die Reform derFinanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern odereine Länderneugliederung bei einem solchen Reform-vorhaben nicht von vorneherein ausgeklammert werdendürfen. Hier bietet sich die von der FDP von Anfang angeforderte Konventslösung an. Nur Mitglieder einesKonvents, die nicht in eigener Sache richten müssen,sind in der Lage, eine Reform zu erarbeiten, die diesenNamen auch verdient. Die FDP-Bundestagsfraktion hateinen entsprechenden Antrag zur „Einsetzung einesKonvents zur Reform des Föderalismus“ hier im Bun-destag eingebracht.

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Die im April wieder aufgenommenen Gespräche zwi-schen Herrn Müntefering und Herrn Stoiber und der Ver-such, doch noch zu einer Einigung bei den offenen Fra-gen aus der Föderalismuskommission zu gelangen,wurden nach dem SPD-Wahldebakel in NRW von HerrnMüntefering abgebrochen, das Thema Föderalismusre-form wurde kurzerhand auf die nächste Legislatur-periode „vertagt“.

Klar ist: Eine umfassende Reform des Föderalismuswird tatsächlich erst in der nächsten Legislaturperioderealisierbar sein. Allerdings wollen wir als FDP versu-chen, wenigstens einiges, was unstrittig war – und es hatja unstrittige Themen gegeben oder solche, bei denenman sich auf eine für alle Beteiligten akzeptable Lösungverständigen konnte –, noch in der verbleibenden Legis-laturperiode zu verabschieden.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat daher drei konkreteGesetzentwürfe vorgelegt, die ich Ihnen kurz erläuternmöchte: Durch eine Änderung des Art. 84 Abs. 1 GGwird eine starke Reduzierung der Zustimmungserforder-nisse des Bundesrats herbeigeführt. Damit werden Ge-setzesvorhaben beschleunigt: in der Zuordnung von Ver-antwortlichkeiten wird mehr Transparenz erreicht.Durch Verankerung des Konnexitätsprinzips im Grund-gesetz werden die Gemeinden vor unkalkulierbarenfinanziellen Risiken geschützt.

Die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz fürdie Grundsteuer auf die Bundesländer bedeutet einenEinstieg in Steuerautonomie und damit Steuerwettbe-werb. Die Mehrheit der Experten in der Föderalismus-kommission hat sich dafür ausgesprochen, weil nichtsgegen eine Steuerkompetenz der Länder auf immobileSachverhalte spricht.

Der Steuertausch zwischen Kfz-Steuer und Versiche-rungssteuer führt zu klaren Verantwortlichkeiten und er-möglicht auch eine eventuelle Umlegung auf die Mine-ralölsteuer.

Den Ländern wollen wir zudem die Kompetenz fürden Ladenschluss übertragen, so wie dies nach dem Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts nur konsequent ist.

In der Arbeit der Föderalismuskommission bestand indiesen Punkten bereits Konsens. Ich fordere daher dieKolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen zukonstruktivem Mitwirken auf. Wenn bei der Föderalis-muskommission der große Wurf nicht gelang – was fürunser Land schon schlimm genug ist –, so sollten wir unswenigstens noch in dieser Legislaturperiode einigeSchritte in die richtige Richtung bewegen.

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Siebten Geset-zes zur Änderung des Versicherungsaufsichts-gesetzes (Tagesordnungspunkt 28)

Horst Schild (SPD): Mit der heute zu verabschie-denden Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes set-

zen Bundesregierung und Koalitionsfraktionen den mitdem Altersvermögens- und dem Alterseinkünftegesetzeingeleiteten Weg zur Stärkung der betrieblichen Alters-versorgung fort.

Wir setzen mit der Novelle zunächst fristgerecht dieEU-Pensionsfondsrichtlinie in nationales Recht um. DieEU-Pensionsfondsrichtlinie hat die Ausrichtung der na-tionalen betrieblichen Altersvorsorgesysteme an Binnen-marktgrundsätze zum Ziel. Es entsteht ein einheitlichereuropäischer Markt für Leistungen der betrieblichen Al-tersvorsorge. Wir sehen uns in Deutschland auch im Be-reich der betrieblichen Altersvorsorge einem wachsen-dem europäischen Wettbewerb ausgesetzt. Dem müssenwir als Gesetzgeber Rechnung tragen. Insbesondere derdeutsche Pensionsfonds muss international konkurrenz-fähig sein. Wir müssen optimale Rahmenbedingungenschaffen, damit dieser noch junge Durchführungswegauch für den Finanzplatz Deutschland ein Erfolg wird.

Über die Umsetzung der EU-Pensionsfondsrichtliniehinaus wollen wir deshalb eine weitere Verbesserung derRahmenbedingungen für die betriebliche Altersvorsorgein Deutschland erreichen. Dazu ist eine Deregulierungder Aufsicht über die im Zuge der Rentenreform von2001 neu gegründeten circa 25 so genannten Wettbe-werbs-Pensionskassen vorgesehen. Dagegen sollen diecirca 130 traditionellen so genannten Firmen-Pensions-kassen weiterhin reguliert bleiben. Deren Produkte undTarife unterliegen weiterhin einer intensiven Prüfungund Genehmigung durch die Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht.

Die vorgenommene Abgrenzung ist sachgerecht undträgt dem Gesichtspunkt möglichst einheitlicher Wettbe-werbsbedingungen Rechnung.

Ein Schwerpunkt des Gesetzes stellt die Änderungdes § 112 VAG dar. Wir wollen damit die seit 2001 vor-gesehene Übertragungsmöglichkeit von Direktzusagen(Pensionszusagen) auf Pensionsfonds erleichtern. Ge-genwärtig müssen die übertragenen Pensionsanwart-schaften vom Pensionsfonds versicherungsförmig, alsomit einem Rechnungszins von derzeit 2,75 Prozent, fort-geführt werden. Mit diesem Kalkulationszins muss derPensionsfonds rechnen und ein dementsprechend hohesÜbertragungskapital vom Arbeitgeber fordern. Die Di-rektzusagen finden sich dagegen bei den Unternehmenin den Pensionsrückstellungen mit einem Rechnungs-zinsfuß von 6 Prozent wieder (§ 6 a EStG). Unterneh-men müssen im Übertragungszeitpunkt erheblich mehrGeld aufbringen als den Rückstellungsbetrag, damit derPensionsfonds die Direktzusage übernehmen kann. Ausdiesem Grund fanden in der Praxis kaum Übertragungenvon Pensionsanwartschaften auf Pensionsfonds statt.

Der Pensionsfonds erhält künftig die Möglichkeit,seine Kalkulationen auf Basis eines realistischeren, kapi-talmarktorientierten Rechnungszinssatzes vorzunehmen.Dies entspricht internationalen Gepflogenheiten. Zu-künftig muss der Arbeitgeber daher im Übertragungs-zeitpunkt weniger Kapital aufbringen, womit Übertra-gungen von Pensionsanwartschaften auf Pensionsfondserleichtert werden. Der Arbeitgeber muss jedoch Nach-schüsse an den Pensionsfonds leisten, falls dieser zumBeispiel nicht die erwarteten Erträge erwirtschaften

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kann. Steuerlich wird die Übertragung von Pensions-anwartschaften auf den Pensionsfonds in den §§ 4 eAbs. 3 und 3 Nr. 66 EStG flankiert. Daran ändert sichnichts.

Die angesprochenen Änderungen wurden in der Sach-verständigenanhörung einhellig begrüßt. Wir verbesserndamit die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Pensions-fonds im europäischen Vergleich.

Ich begrüße ausdrücklich, dass Union und FDP ihreZustimmung zum Gesetzentwurf erteilen. Wir sind unsdamit darin einig, dass der von uns eingeleitete Weg zurStärkung der betrieblichen Altersversorgung ohne Alter-native ist.

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Heute wird einGesetz verabschiedet, das in besonderer Weise geeignetist, die betriebliche Altersversorgung in Deutschland zustärken. Insbesondere ergeben sich neue Möglichkeiten,die betriebliche Altersvorsorge über Pensionsfonds inDeutschland zu bündeln und neu zu organisieren.

Mit dem Altersvermögensgesetz 2002 war die Erwar-tung verbunden, betriebliche Altersversorgung über Pen-sionsfonds auszugliedern. Diese Erwartung konnte bis-her nicht erfüllt werden; denn bis zum heutigen Tagewird der Pensionsfonds als fünfter Durchführungswegeiner betrieblichen Altersversorgung nahezu nicht in An-spruch genommen.

Worin liegen die Interessen der Unternehmen? DurchPensions- bzw. Direktzusagen haben heute viele Unter-nehmen hohe Pensionsrückstellungen gebildet, die dieBilanzen der Unternehmen sehr belasten. Viele Unter-nehmen versprechen sich daher durch die Ausgliederungvon Pensionsverpflichtungen eine Verbesserung ihrerEigenkapitalrelationen und damit günstigere Finanzie-rungskonditionen am internationalen Kapitalmarkt.Auch versprechen sie sich eine bessere Bewertung imUnternehmensrating.

Das Problem konzentriert sich auf einen Punkt. Miteinem Rechnungszins von 2,75 Prozent für die Bewer-tung bilanzexterner Rentenverpflichtungen bei Pensions-fonds war man zu weit gegangen. Das Problem ist, dassderzeit Pensionsrückstellungen mit 6 Prozent abgezinstwerden. Auf der anderen Seite wird aber verlangt, dassbei einer Ausgliederung von Rentenverpflichtungen derPensionsfonds eine versicherungsförmige Garantie ge-ben muss, die konkret in einem Rechnungszinssatz von2,75 Prozent ausgedrückt wird. Mit diesem Zinssatzmüssen die Rentenverpflichtungen abgezinst werden.Hierdurch ergibt sich ein derart hoher Kapitalbedarf fürdie Unternehmen, der um über 60 Prozent über dem Be-trag der Rückstellungen liegt. Da ohnehin nur circa30 Prozent der Pensionsverpflichtungen kapitalmäßigunterlegt sind, ist kaum ein Unternehmen in der Lage,die hohen Cashmittel dem Unternehmen zu entziehen,um die Rentenverpflichtungen zu decken.

Mit der Veränderung des Versicherungsaufsichtsgeset-zes wird nun vom Rechnungszins in Höhe von2,75 Prozent Abstand genommen. Zukünftig soll ein sogenannter vorsichtiger Rechnungszins gewählt werden,

der aktuell – nach den internationalen Rechnungsle-gungsstandards – zwischen 4,75 und 5,25 Prozent liegt.Auf der einen Seite wird damit von der versicherungs-förmigen Garantie abgesehen, auf der anderen Seite aberwird der Arbeitgeber zu Nachschüssen verpflichtet,wenn die Zahlung aus den Pensionsfonds nicht möglichist. Damit erhält der Arbeitnehmer die Gewissheit, dassseine Pensionen gezahlt werden können. Eine zweiteRückversicherung erhält der Arbeitnehmer durch denPensionssicherungsverein, der die Zahlung bei Insolvenzdes Arbeitgebers übernimmt.

Mit der Neuregelung wird der Gleichklang zwischeneiner internen Bilanzierung nach internationalem Stan-dard und einer entsprechenden Bewertung in den Pen-sionsfonds erreicht. Noch immer ist ein hoher Liquidi-tätsbedarf erforderlich, aber die Unternehmen erhalteneine Perspektive, Pensionsverpflichtungen in den Pen-sionsfonds auszugliedern. Endlich besteht eine nationaleleistungsfähige Durchführungsmöglichkeit für deutscheUnternehmen, hier ihre Versorgungssysteme aus demeuropäischen Ausland zu bündeln. Der deutsche Finanz-markt wird gestärkt. Dies hat auch Auswirkungen aufqualifizierte Finanzdienstleistungen. Anlageentschei-dungen werden in Deutschland getroffen. Vermögens-management und akuarielle Leistungen werden weiteraufgewertet. Die Gefahr ist damit gebannt, dass deutscheUnternehmen ausländische Pensionsfonds zu Hilfe neh-men müssen. Schon der Bundesrat hatte auf diese Gefah-ren hingewiesen und darin Nachteile für den deutschenFinanzstandort gesehen. Zudem hätten sich diese Pen-sionsfonds der deutschen Aufsicht entzogen.

Die steuerlichen Fragen in diesem Zusammenhangsind weitestgehend gelöst. § 3 Nr. 63 EStG wird nichttangiert, da dieser Paragraph mit der Nachschusspflichtnichts zu tun hat, sondern darauf abstellt, unter welchenVoraussetzungen die Prämien lohnsteuerfrei bleiben. § 3Nr. 63 EStG bezieht sich auf die laufende Beitragspflichtund wird auf 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenzegedeckelt.

Für die Übertragung von Pensionsverpflichtungen istletztlich § 3 Nr. 66 EStG relevant, da er regelt, wie manunmittelbare Versorgungszusagen oder Unterstützungs-zusagen auf einen Pensionsfonds überträgt. Die Steuer-frage bleibt unverändert; denn schon heute kann die Dif-ferenz zwischen der Pensionsrückstellung und denDeckungsmitteln für Rentenverpflichtungen im Pensions-fonds auf zehn Jahre abgeschrieben werden. DieserBetrag ist nach der neuen Rechtslage allerdings geringerals bei der bisherigen versicherungsförmigen Garantiemit einem Rechnungszinssatz von 2,75 Prozent.

Zu beachten ist an dieser Stelle besonders, dass beider internen Finanzierung der Direkt- bzw. Pensionszu-sage heute kein direkt verfügbares Kapital unterlegt wer-den muss. Dies ist bei der Ausfinanzierung völlig anders.Hier gelten jetzt die Anlagevorschriften, die bei Pen-sionsfonds zu beachten sind und die entsprechende Auf-sicht, die es bei der Direktzusage und bei der Innenfinan-zierung nicht gibt. Wie bei der Direktzusage bleibtzudem die Absicherung zusätzlich über den Pensionssi-cherungsverein.

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In dem anderen Bereich der Pensionskassen wird zu-künftig eine differenzierte Abstufung vorgenommen.Wettbewerbspensionskassen und Firmenpensionskassenmüssen jeweils nach eigenen Kriterien bewertet werden.

Bei deregulierten Pensionskassen im Wettbewerbwerden Sicherheitsreserven seitens der Finanzaufsichtüber die entsprechenden Verordnungen verlangt. Bei re-gulierten Pensionskassen ist es dann Aufgabe der BaFinin ihrer Aufsicht selbst zu prüfen, dass die Geschäfts-pläne entsprechend ausreichend sind und die Rech-nungsgrundlagen passen. Eine zusätzliche Insolvenzsi-cherung ist bei regulierten Pensionskassen nichtnotwendig, da diese einer strengen Aufsicht durch dieBaFin sowie strengen Anlagegrenzen und Anlagevor-schriften unterliegen.

Neben regelmäßigen Stresstests, die erfüllt werdenmüssen, steht in der Regel hinter jeder Pensionskasseauch ein Arbeitgeber, der seine Verpflichtungen über-nimmt. Bisher – seit 1870 – ist noch kein Insolvenzfallin einer Firmenpensionskasse zu verzeichnen. Die diffe-renzierte Abstufung bei den Pensionskassen ist damitsachgerecht.

Insgesamt hat die Beratung ergeben, dass wir in denzentralen Fragen mit dem Regierungsentwurf überein-stimmen, auch hinsichtlich der Auflösung der staatlichenVersicherung der DDR. Der bis zum Jahre 2008 verblei-bende Zeitraum ermöglicht die reguläre Abwicklung derAnstalt.

Wir haben in der Schlussberatung im Finanzaus-schuss deutlich gemacht, dass wir die von Bündnis 90/Die Grünen gewünschte Berichtspflicht über ethische,ökologische und soziale Kriterien bei Pensionsfonds fürüberflüssig halten. Diese Angaben können unseres Er-achtens im jährlichen Rechenschaftsbericht abgegebenwerden. Dass der Pensionsfonds die Versorgungsberech-tigten grundsätzlich schriftlich bei Vertragsabschluss so-wie jährlich schriftlich informieren muss, bedeutetnichts anderes als überhöhter bürokratischer Aufwand,der letztendlich den Fonds mit zusätzlichen Kosten be-lastet. Die Verbesserungen einer betrieblichen Altersver-sorgung über Pensionsfonds sind jedoch so deutlich,dass wir dem Gesetzentwurf insgesamt zustimmen wer-den.

Abschließend möchte ich aber noch auf eine Gefahrfür die betriebliche Altersversorgung hinweisen: Ab2009 sollen die laufenden Zahlungen in die betrieblicheAltersversorgung zusätzlich mit Sozialversicherungsbei-trägen in voller Höhe belegt werden. Da die Renten imAlter zusätzlich mit vollen Kranken- und Pflegever-sicherungsbeiträgen belastet werden, stellt sich für vieleArbeitnehmer die Frage, ob eine private Altersvorsorgenicht grundsätzlich besser als eine betriebliche Vorsorgeist; denn hier entfallen die Krankenversicherungs- undPflegeversicherungsbeiträge im Alter. Gutverdieneroberhalb der Beitragsbemessungsgrenze werden davonnicht tangiert, da das Ganze nur für diejenigen negativwirkt, die sozialversicherungspflichtig sind. Wenn einebetriebliche Altersversorgung langfristig attraktiv seinsoll, muss über diesen Punkt erneut verhandelt werden.

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Europäische Union hat im so genannten Finanz-dienstleistungs-Aktionsplan schon 1999 grundsätzlicheine Öffnung der Märkte für Einrichtungen der betriebli-chen Altersvorsorge vorgesehen. Es ist also möglich,dass ein Unternehmen seine „Betriebsrente“ über bei-spielsweise einen irischen oder spanischen Pensions-fonds verwaltet.

Der vorliegende Gesetzentwurf ändert das Versiche-rungsaufsichtgesetz entsprechend den zwingenden Vor-gaben der Richtlinie 2003/41/EG des Europäischen Par-laments und des Rates vom 2. Juni 2003 über dieTätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungender betrieblichen Altersversorgung. Die kapitalgedeckteAltersvorsorge wird gefördert und die Aufsichtsvor-schriften für Firmen die Altersvorsorgeprodukte anbie-ten, genauer gefasst. Das Gesetz ist überparteilich unum-stritten. Der Bundestag ist in der Pflicht, die EU-Richtlinie bis zum 23. September 2005 umzusetzen.

Die rot-grüne Koalition steht dafür ein, dass die neuenRegelungen nicht zulasten der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer gehen. Deshalb sind in den Regelungenzur betrieblichen Altersvorsorge grundsätzlich weitge-hende Sicherungsmaßnahmen verankert, die verhindern,dass ein Arbeitnehmer durch unvorhergesehene Ereig-nisse wie beispielsweise Insolvenzen um seine ehrlichverdiente Rente gebracht wird. Daran ändert dieses Ge-setz nichts. Unser darüber hinausgehendes Bestreben,bezüglich der Pflichtmitgliedschaft im Pensionssiche-rungsverein auf Gegenseitigkeit für Pensionskassen ana-loge Bedingungen wie für Pensionsfonds zu schaffen,sollte in einem anderen Gesetzentwurf geregelt werden.Denn im Versicherungsaufsichtsgesetz sind inhaltlichandere Bereiche geregelt. Nach den zurzeit avisiertenNeuwahlen werden wir hierauf nochmals zurückkom-men.

Im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens habenwir sichergestellt, dass die Berichtspflicht für Fonds be-züglich sozial-ethisch-ökologischer Kriterien eingeführtwird. Der entsprechende Antrag von Bündnis 90/DieGrünen stieß zwar auf Widerstand von Union und FDP,ist aber nun erfolgreich Bestandteil des Gesetzes.

Denn bei allem Verständnis für Renditeerwartungenist es eigentlich kritisch zu beurteilen, wenn Pensions-fonds deutscher Unternehmen ihr Kapital in Investmentsleiten, die zwar auf der Zahlenebene stimmen, hinterwelchen aber Bedingungen stehen, die wir so auch füruns selbst nicht akzeptieren würden. Ein plakatives Bei-spiel hierfür wäre etwa, wenn ein Investment, das seinehohen Margen durch Kinderarbeit erzielt, von Pensions-fonds deutscher Unternehmen mitfinanziert wird.

Ich akzeptiere aber die Kräfte des Marktes: Es kannniemandem vorgeschrieben werden, wie und wo er an-legt. Aber: Es muss transparent für die einzelnen Anle-ger von Fonds sein, wo ihr Fonds unter welchen Bedin-gungen angelegt ist. Dann kann sich der Anleger selbstentscheiden, bei welchem Fonds er anlegt und welcheZiele er damit unterstützt. Diese Transparenz war bisherunseres Erachtens nicht ausreichend gegeben. Zwar fandsich eine entsprechende Regelung im Anhang des Geset-

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zes, wir hatten aber Grund zu der Annahme, dass dieseRegelung in der Praxis bisher nicht entschieden genugumgesetzt wurde. Deshalb wir die sozial-ethisch-ökolo-gische Berichtspflicht jetzt Bestandteil des direkten Ge-setzestextes.

Es gibt mittlerweile klare fachliche Leitlinien fürnachhaltige Geldanlagen. Wir legen großen Wert darauf,dass konkrete Leitlinien zugrundegelegt werden, wennein Fonds sich entschließt, damit zu werben, dass er nachden benannten Kriterien anlegt.

Wir haben damit ein weiteres Mal bewiesen, dass diekreativen und nachhaltig wirksamen Ideen dieser Koali-tion sehr oft von uns, von Bündnis 90/Die Grünen, ka-men. Wir kämpfen für eine Fortsetzung der Koalitionmit neuer Legitimierung, denn unsere Konzepte sind undbleiben die besseren.

Carl-Ludwig Thiele (FDP): Mit dem Versicherungs-aufsichtsgesetz gehen wir einen weiteren Schritt bei derVereinheitlichung der betrieblichen Altersvorsorge auchin Europa. Angesichts der demografischen Entwicklungkann nicht häufig genug darauf hingewiesen werden,dass der Ausbau der kapitalgedeckten Altersvorsorgedringend verbessert werden muss. Das gilt sowohl fürden privaten als auch für den betrieblichen Bereich. DieFDP hat in der Vergangenheit viele positive Beiträge zudiesem Thema geleistet.

Wichtig ist, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer mög-lichst viel Spielraum bei der Ausgestaltung der Alters-vorsorge haben. Wir müssen darauf achten, dass dieRegelungen nicht zu bürokratisch werden. Scharf zu kri-tisieren ist daher, dass es den Grünen mithilfe der SPDwieder einmal gelungen ist, auch beim Versicherungs-aufsichtsgesetz unnötige Regulierungen einzuführen.Die Berichtspflicht von Pensionsfonds zur Berücksichti-gung ökologischer, ethischer und sozialer Kriterien istärgerlich und überflüssig. Sie sorgt für mehr Bürokratie,belastet die Pensionsfonds und treibt so die Kosten in dieHöhe. Für die FDP kritisiere ich diese Regelung aufsSchärfste. Trotzdem stimmen wir dem Gesetzentwurfzu, um die Umsetzung der zugrunde liegenden EU-Richtlinie nicht zu gefährden.

Nach dem Regierungswechsel im Herbst werden wirüberprüfen, ob sich die Regelungen zur betrieblichen Al-tersvorsorge nicht vereinfachen lassen. Überflüssige Re-gulierungen werden dann abgeschafft.

Die Altersvorsoge insgesamt gilt es weiter zu verbes-sern. In der nächsten Legislaturperiode werden wir da-rauf dringen, dass es zu erheblichen Vereinfachungenkommt. Ziel ist, dass der Arbeitnehmer ein einzigesKonto hat, auf das er und sein Arbeitgeber einzahlenkönnen. Es soll bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes er-halten bleiben. Auch der neue Arbeitgeber soll auf die-ses Konto einzahlen können.

Für die FDP ist es wichtig, dass die Altersvorsorgeklaren, einfachen und transparenten Regelungen unter-liegt. Überflüssige Regelungen sind abzubauen. Nur sokönnen wir erreichen, dass möglichst viele Arbeitneh-

mer die Notwendigkeit der Vorsorge verstehen und ak-zeptieren.

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Europäische Ener-giepolitik marktwirtschaftlich gestalten – Richt-linien entbürokratisieren (Tagesordnungs-punkt 29)

Rolf Hempelmann (SPD): Der Antrag der CDU/CSU Fraktion „Europäische Energiepolitik marktwirt-schaftlich gestalten – Richtlinien entbürokratisieren –berührt ein äußerst wichtiges Thema. Europa greift inder Tat immer stärker in die nationale Energiepolitik ein.

Wir dürfen den energiewirtschaftlichen Ordnungsrah-men jedoch nicht allein aus wettbewerblicher Sicht be-werten. Wichtig ist es, dass wir bei der Weiterentwick-lung der europäischen Energiepolitik den Gesamtkontextstärker berücksichtigen: Eine moderne Energiepolitikmuss gleichermaßen die Ziele Versorgungssicherheit,Effizienz, Innovation, Umweltverträglichkeit und Wett-bewerb verfolgen.

Es wird in den nächsten Jahren darauf ankommen, beider Weiterentwicklung des europäischen energierechtli-chen Rahmens, zwei Strategien miteinander zu verknüp-fen:

Zum Ersten geht es immer um eine schlanke und kon-sistente Umsetzung europäischer Richtlinienvorgaben indeutsches Recht, bei gleichzeitiger Berücksichtigung un-serer besonderen nationalen Interessen als führenderEnergieproduzent und Energiedrehscheibe Europas.

Zum Zweiten ist es Aufgabe der Bundesregierungund des Bundestages, deutsche Interessen bereits wäh-rend aktueller EU-Rechtsetzungsverfahren zu vertretenund durchzusetzen. Ein erfolgreiches Beispiel hierfür istinsbesondere der Einsatz der Bundesregierung im Zu-sammenhang mit den Brüsseler Beratungen zu den EU-Beschleunigungsrichtlinien Strom und Gas. Der sozial-demokratischen Bundesregierung ist es zu verdanken,dass spezielle Regelungen gefunden wurden, die der be-sonderen Qualität unserer pluralistisch strukturiertenEnergiewirtschaft Rechnung tragen und insbesonderezum Schutz kleiner Stadtwerke beitragen.

Grade angesichts der wachsenden Zahl der EU-Mit-gliedsländer muss der nachhaltigen Vertretung deutscherInteressen bei der Weiterentwicklung der energiewirt-schaftlichen Rahmenbedingungen durch Brüssel auchkünftig ein besonderer Stellenwert beigemessen werden.

Wie meine Kollegen aus der CDU/CSU Fraktion ver-mutlich bereits selbstkritisch erahnt haben werden, kannich ihren Antrag – obwohl er einige wichtige energiepo-litische Aspekte benennt – nicht gänzlich unkritisiert las-sen.

Sie sprechen sich als Erstes für eine an marktwirt-schaftlichen und wettbewerblichen Prinzipien orientierte

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europäische Energiepolitik aus. Hierbei vernachlässigensie jedoch vollkommen den wichtigen Bereich einer ho-hen und langfristig gesicherten Versorgungssicherheit.

In der Energiepolitik der SPD-Bundestagsfraktionkommt diesem Aspekt der Energieversorgungssicherheitein besonders hoher Stellenwert zu. Dass wir unsere Ver-antwortung zur Gewährleistung einer möglichst hohenund langfristigen Versorgungssicherheit gerecht werden,zeigt beispielhaft auch die Einigung der Koalitionsfrak-tionen vom vergangenen Sommer über die Sicherung derSteinkohlenbeihilfen für die nächsten Jahre. Geradeangesichts der hohen und weiter wachsenden Importab-hängigkeit bei Energierohstoffen stellt der Zugang zu ei-gener Steinkohle ein wichtiges Element der Versor-gungssicherheit dar. Insofern halte ich es auch fürwichtig, dass sich der Staat konstruktiv an den Plänenfür den Börsengang der RAG beteiligt und damit einenwichtigen Beitrag zur zukünftigen Versorgungssicher-heit leistet.

Ein weiterer wichtiger energie- und wirtschaftspoliti-scher Aspekt findet in dem hier zu beratenden Antragbedauerlicherweise überhaupt keine Erwähnung: Inves-titionen. Investitionen in neue Energieerzeugungsanla-gen und in die Modernisierung und den Ausbau von Net-zen sind unverzichtbare Pfeiler für eine qualitativhochwertige Energieversorgung. Daher hat die SPD-Bundestagsfraktion in den letzten Jahren erfolgreich eineInvestitionen fördernde Energiepolitik betrieben:

So hat die Verabschiedung des Emissionshandelsge-setzes die geeigneten Rahmenbedingungen dafür ge-schaffen, dass sich eine Vielzahl deutscher Energiever-sorger zu umfangreichen Investitionen in den Bau neuerKraftwerke bekannt und diese auch konkret benannt ha-ben, und zwar sowohl in den Neubau von Gas- als auchin den Neubau von Kohlekraftwerken. Auch dies ist eindeutliches Indiz für eine an den Maßstäben der Versor-gungssicherheit und der Wettbewerbsfähigkeit ausge-richteten und ausgewogenen Energiepolitik.

Auch im Zuge der Novelle des Energiewirtschaftsge-setzes wird ein Rechtsrahmen geschaffen, der zu deut-lich mehr Rechtssicherheit für alle Marktteilnehmer unddamit auch zu Investitionen seitens der Netzbetreiberführen wird.

Lassen sie mich in diesem Zusammenhang eine War-nung aussprechen. Wer ankündigt, die einmal im Einver-nehmen mit der Wirtschaft getroffene Entscheidung füreinen Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig zu ma-chen und die Laufzeiten für Kernreaktoranlagen pau-schal zu verlängern, entzieht der bisherigen Planungssi-cherheit den Boden. Die Folge wäre Verunsicherung derInvestoren und schlimmstenfalls auch ein Ausbleibender notwendigen Modernisierung unserer Energieversor-gung.

Sie fordern, dass bei der Umsetzung von EU-Richtli-nien darauf geachtet wird, dies mit so wenig bürokrati-schem Aufwand zu verbinden wie möglich. An dieserStelle stimme ich Ihnen im Grundsatz zu. Ich muss aller-dings zu bedenken geben, dass es nicht ausreicht, diesedoch sehr allgemein gehaltene Forderung zu plakatieren.

Notwendig sind vielmehr in jedem Einzelfall konkreteVorschläge, an welchen Stellen es tatsächlich möglichund sinnvoll ist, den Staat zurückzunehmen. Gerade inWirtschaftssektoren mit natürlichen Monopolen, die zu-dem von grundlegender Bedeutung für die Daseinsvor-sorge sowie die industrielle Wertschöpfung in unseremLand sind, wird man nicht ohne ein gewisses Maß anadministrativer Kontrolle auskommen können. Dieswurde auch bei den Beratungen zum Energiewirtschafts-gesetz immer wieder deutlich. Ich rate dazu, mit pau-schalen Forderungen nach Bürokratieabbau vorsichtigzu sein und vielmehr in jedem Einzelfall eine sorgfältigeAbwägung zu treffen, wo Regelungen notwendig sind.Dazu gehört es beispielsweise, der Regulierungsbehördeeine marktgerechte Aufsicht zu ermöglichen und für alleMarktteilnehmer ein ausreichendes Maß an Transparenzherzustellen. Das haben wir mit unserem Energiewirt-schaftsgesetz beispielhaft gemacht.

Ungeachtet der aktuellen Schwierigkeiten im europäi-schen Verfassungsprozess bedarf es keiner hellseheri-schen Fähigkeiten, um festzustellen, dass Europa fürDeutschlands energiepolitische Zukunft eine wichtigeRolle spielen wird. Unsere Aufgabe muss es sein, denenergiewirtschaftlichen Rahmen aktiv und in Verantwor-tung für unser Land mitzugestalten.

Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Die europäischeEnergiepolitik marktwirtschaftlich zu gestalten und imZuge dessen die mit ihr einhergehenden Richtlinien zuentbürokratisieren muss das ureigene Interesse einerdeutschen Bundesregierung sein.

Die EU-Kommission und der für die EU-Energiepoli-tik zuständige Kommissar, der Lette Andris Piebalgs, hatdie Ziele seiner Energiepolitik am Anfang dieses Jahressehr deutlich skizziert.

Von entscheidender Bedeutung ist für ihn, die Lissa-bon-Strategie in das Zentrum der Aktivitäten der neuenEuropäischen Kommission zu stellen, das heißt, die EUbis 2010 zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Weltzu entwickeln. Piebalgs will dazu einen vollständig inte-grierten Energiebinnenmarkt verwirklichen.

CDU und CSU begrüßen grundsätzlich das Vorhabenund dieses Ziel, jedoch lehnen wir allzu dirigistischeEingriffe ab. Eine Art Superregulator brauchen wirnicht.

Wir alle sind verpflichtet, die Energiepolitik zu einertragenden Säule der Wirtschaftspolitik und zum Erfolgder auf Wachstum und Arbeitsplätze angelegten Lissa-bon-Strategie zu machen. Denn Energiepolitik ist Stand-ortpolitik.

Eines von Piebalgs Schwerpunktthemen für das Jahr2005 ist die Steigerung der Energieeffizienz. Die Ener-gieeffizienz kann auf der Basis marktwirtschaftlicherPrinzipien einen ökonomisch effizienten Beitrag zur Kli-mapolitik und zur Importunabhängigkeit der Europäi-schen Union in der Rohstoffversorgung leisten. Geradeletzterer Punkt, die sichere Versorgung der Volkswirt-schaften mit Rohstoffen, ist von ganz zentraler Bedeu-tung.

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Ein Umdenken, ein Umsteuern ist notwendig, ja gera-dezu geboten. Der weltweit steigende Energiebedarfzwingt uns dazu, Alternativen zu entwickeln, um so Ab-hängigkeiten von Energieträgern und Regionen dieserWelt zu verringern.

Hier korreliert auch der Bereich der Energieversor-gungssicherheit. Die Europäische Kommission hat indem im Jahr 2000 angenommenen Grünbuch „Hin zueiner europäischen Strategie für Energieversorgungs-sicherheit“ Fragen aufgeworfen, wie ein umfassendesEnergieversorgungssicherheitskonzept aussehen könnte.

Der zunehmenden Abhängigkeit der EuropäischenUnion bei der Energieversorgung mit den möglichenFolgen, beispielsweise explodierenden Preisen bei Erd-öl, muss entgegengewirkt werden. Das sollte uns allenklar und auch der Grundtenor dieses Hauses sein. DieKommission, allen voran Kommissar Piebalgs, hat dieDringlichkeit dieser Herausforderung identifiziert.

Die Sicherung ausreichender Netz- und Erzeugungs-kapazitäten auf der einen Seite sowie die Verringerungder Nachfrage durch Steigerung der Energieeffizienz aufder anderen sollen verfolgt werden. Um eine ausrei-chende Investition in Netze und Erzeugungskapazitätenzu gewährleisten, soll der Vorschlag für eine Richtlinieüber Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherung derElektizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitio-nen dienen.

Durch die angekündigten umfangreichen Richtlinien-vorschläge der EU-Kommission sind die Mitgliedstaatenzum Handeln gezwungen, da sie die Vorgaben aus Brüs-sel umzusetzen haben. Wir laufen jedoch Gefahr, dassgenau diese hehren Vorschläge die deutschen Unterneh-men, allen voran die hiesigen Energieversorgungsunter-nehmen, stark belasten. Heimische Unternehmen dürfennicht durch gesteigerte EU-Bürokratie, erhebliche Kos-ten und wettbewerbsschädliche Auswirkungen belastetund geschwächt werden. Die CDU/CSU-Bundestags-fraktion fordert die Bundesregierung daher auf, sich füreine auf marktwirtschaftlichen und wettbewerblichenPrinzipien basierende europäische Energiepolitik einzu-setzen.

Nach den bisherigen Planungen sollen die Energie-versorger beispielsweise verpflichtet werden, allen Kun-den Energiedienstleistungen und Effizienzmaßnahmenanzubieten, um festgelegte Effizienzziele zu erreichen.Diese Produkte sollen von Behörden geprüft, akkredi-tiert und zertifiziert werden. Konkrete Einsparungenmüssen dafür prognostiziert, errechnet und evaluiertwerden. Das ist Bürokratie in Reinform und bedeutet beider Vielzahl der Marktbeteiligten und möglichen Pro-dukte ein erhebliches Maß an bürokratischem Aufwand.

Mechthild Rothe, die Berichterstatterin des Europäi-schen Parlaments, läuft mit ihrem Berichtsentwurf zurEndenergieeffizienz und zu Energiedienstleistungen Ge-fahr, den ohnehin schon fehlerhaften Ansatz des Kommis-sionsvorschlags, unter anderem verbindliche einheitlicheReduktionsziele sowie den Aufbau einer Energieeffi-zienzbürokratie, durch eine zu komplexe Messmethodik

nach dem Ansatz des Bottom-up nicht zu bereinigen,sondern noch zu verkomplizieren.

Auf europäischer Ebene muss dafür Sorge getragenwerden, dass zukünftige EU-Richtlinien für betroffeneUnternehmen unbürokratisch gestaltet und bereits beste-hende Richtlinien entbürokratisiert werden, um die Wett-bewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht zu gefährden.Dies könnte sichergestellt werden durch eine vorabdurchzuführende konkrete Abschätzung möglicherRechtsfolgen von Richtlinien.

Die Bundesregierung sollte sicherstellen, dass sichein Markt für Energiedienstleistungen, als Teil des Pak-tes zu Energieinfrastrukturen und Versorgungssicherheit,entwickeln kann. Ziel kann es nur sein, Wachstumsef-fekte durch umfangreiche Entbürokratisierung im Be-reich der europäischen Energiepolitik zu erzielen.

Dabei kommt es darauf an, Maßnahmen zu ergreifen,dass insbesondere die vier Vorschläge der EuropäischenKommission, hier beispielsweise die Richtlinie zur End-energieeffizienz und zu Energiedienstleistungen, ohneMehr an Bürokratie umgesetzt werden – im Interesse derbundesdeutschen Volkswirtschaft und der Wettbewerbs-fähigkeit der deutschen Industrie.

Ich bitte das Parlament, dem Antrag meiner Fraktionzuzustimmen.

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Es ist ja erfreulich, dass wir uns anscheinend alle einigsind, dass das Thema Energieeffizienz in Zeiten steigen-der Ölpreise und spürbarer Klimaänderungen von höchs-ter Bedeutung ist. Doch Ihre Forderungen zur Verwässe-rung der Richtlinie zeigen, dass Sie dieses Thema eherfeigenblattartig besetzen wollen.

Im Effizienzbereich ist ein noch größeres Engage-ment sowohl aus klimapolitischen als auch aus wirt-schaftlichen Gründen dringend notwendig. Die Poten-ziale zur Einsparung sind enorm und müssen genutztwerden. In diesem Zusammenhang ist die EU-Richtliniezur Endenergieeffizienz und zur Energiedienstleistungsehr zu begrüßen. Ich muss schon einmal vorweg sagen,dass ich mich aus zwei Gründen über diese Richtliniefreue. Einerseits enthält sie wichtige inhaltliche Punkte;dazu gleich mehr. Aber ebenso wichtig ist sie als Instru-ment, um Impulse zu geben. Schon beim EnWG habenwir gespürt, dass durch den Druck aus Brüssel einigesinnvolle und wichtige Neuerungen leichter umsetzbarsind.

Die Richtlinie wird einen europaweiten Wettbewerbzur Steigerung der Energieeffizienz in Gang setzen. Beieiner effektiven Umsetzung der in der Richtlinie gefor-derten Ziele werden die Gewinner vielfältig sein: DieUmwelt wird gewinnen. Um das Reduktionsziel derCO2-Emissionen um 20 Prozent bis 2020 zu erreichen,sind Effizienzsteigerungen von mindestens 1 Prozent proJahr notwendig. Durch die Richtlinie werden wir diesemZiel näher kommen.

Der Verbraucher wird gewinnen. Sinkende Strom-und Heizrechnungen durch sinkenden Verbrauch werden

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sich besonders in den Geldbeuteln von Beziehern kleinerEinkommen deutlich bemerkbar machen.

Technologieanbieter werden ebenfalls gewinnen;denn bislang hat sich noch kein Markt für energiespa-rende Produkte entwickeln können. Hier eröffnen sichalso neue Absatzchancen auf dem gesamten europäi-schen Markt für Spitzenprodukte. Das ist gerade für ei-nen Technologiestandort und eine Exportnation wieDeutschland eine große Chance.

Auch wirtschaftlich wird sich der Einsatz lohnen,denn laut Zahlen des „Wuppertal Instituts“ wird das er-reichbare Einsparungsziel von 1 Prozent zusätzlich proJahr im Laufe von zehn Jahren zu Nettoeinsparungenvon 10 Milliarden Euro für die Volkswirtschaft führen.

Wenn sie den hier entstehenden Markt annehmen undnutzen, können auch die Stromanbieter zu Gewinnerndieser Entwicklung werden. Die Situation, dass dieEnergieanbieter besonders hohe Gewinne einfahren,wenn der Verbrauch besonders hoch ist, ist in der heuti-gen Zeit sowohl klimapolitisch als auch aus Gründen derSicherung der Energieversorgung nicht mehr vertretbar.Vielmehr müssen sie zu modernen Dienstleistungsanbie-tern für effizienten Energieverbrauch werden, um anEffizienzsteigerung und sparsamen Energieverbrauchverdienen zu können. Die Erfahrungen der letzten Jahrehaben gezeigt, dass ein Markt für Energiedienstleistun-gen eben nicht einfach durch marktwirtschaftliche Pro-zesse entsteht. Nur in den wenigen Bereichen, wo ein-zelne Akteure den Markt aktiv angeschoben haben,konnte sich ein Markt entwickeln. Diese Märkte müssengestärkt bzw. an anderen Stellen überhaupt erst geschaf-fen werden. Der Widerstand gegen diese unverzichtbareWandlung der Funktion der Energieanbieter sollte alsoendlich aufgegeben werden. Ein Umdenken ist dringendnotwendig; denn nur so werden sie auch im liberalisier-ten europäischen Wettbewerb bestehen.

Verbindliche Einsparungsziele sind nötig, da nur soein stabiler Markt entstehen kann. Sie schaffen klareRahmenbedingungen, einen wettbewerbsneutralen Ord-nungsrahmen und eine verlässliche Marktsituation fürdie Anbieter. Außerdem haben sich verpflichtende Zieleauch schon in anderen Bereichen, wie zum Beispiel demEinsatz erneuerbarer Energien als sehr wirkungsvollesInstrument erwiesen. Die Forderung nach unverbindli-chen Richtwerten zeigt, dass sie es mit dem ThemaEnergieeffizienz nicht ernst meinen.

In Ländern wie Großbritannien, Dänemark und Italiengibt es bereits sehr positive Erfahrungen mit Energieein-sparverpflichtungen für Energieunternehmen. In Groß-britannien beispielsweise übertreffen die Vorteile fürVerbraucher und Unternehmen die Kosten um das Vier-fache. Doch es reicht nicht aus, wenn einzelne Länderdiesen Markt erkennen und für sich nutzen. Energie-effizienz muss zu einer europaweiten Bewegung werden.

Zudem besteht auch gar kein Grund, die in der EU-Richtlinie vorgesehenen Einsparungsziele zu fürchten.Deutschland ist im Wettbewerb um Toptechnologie imEinsparungsbereich gut platziert. Hier besteht also einegroße Chance, allerneueste Einspartechnologie in andere

Länder zu exportieren. Würde man den von der CDU/CSU und den großen Energieanbietern favorisiertenBenchmarkansatz wählen, würde dies in Deutschland zukeinerlei Anreizen zur Weiterentwicklung der Einspa-rungstechnologie führen. Hier könnte man sich noch einpaar Jahre auf seinen Lorbeeren ausruhen und würde dieVorreiterrolle in diesem wichtigen Exportmarkt verlie-ren. Bei der Automobiltechnologie – ich muss nur ein-mal die Stichworte Hybridantrieb und Dieselrußfilternennen – haben wir gesehen, wie schnell das gehenkann. Deutschland als Technologieland sollte den hierentstehenden Markt nutzen. Die Erfahrung deutscherUnternehmen wird zum Beispiel bei der energetischenSanierung osteuropäischer Plattenbauten sehr gefragtsein. Auch die leicht ambitionierteren Ziele für die öf-fentliche Hand sind gerechtfertigt, um der Vorbildfunk-tion gerecht zu werden.

Selbstverständlich ist eine Bewertung der eingesetz-ten Mittel zur Erreichung der Effizienzsteigerungszielenotwendig. Die bewährte Bottom-up-Evaluierung dereinzelnen Programme, Dienstleistungen und Instrumentekann verlässlich darstellen, welche Energieeinsparungtatsächlich erzielt wurde, da sie nicht nur einen allge-meinen Trend angibt, der ebenso von Witterung,Wirtschaftswachstum und Nutzerverhalten abhängig ist.In diesem Rahmen muss eine möglichst einfache, ver-lässliche und genaue Methode angewendet werden.

Ihre Forderung nach weniger Bürokratie ist derblanke Hohn. Wie die Verhandlungen beim EnWG ge-zeigt haben, steht an vielen Stellen ein frommer Wunschdahinter, der aber häufig ins Gegenteil verkehrt wird.Anders ist die von Ihnen geforderte Länderzuständigkeitbei der Strom- und Gasregulierung nicht zu bewerten.

Gudrun Kopp (FDP): Die Unionsfraktionen habenhier heute einen Antrag auf die Tagesordnung gesetzt,der sich mit einem ernsten Thema – nicht nur aus ener-giepolitischer Sicht – beschäftigt, das wir alle sehrgrundsätzlich und sorgfältig diskutieren sollten. Der vor-liegende Antrag beschäftigt sich zwar insbesondere mitdem Grünbuch der Kommission aus dem Jahre 2000 undden daraus hergeleiteten, nunmehr im Verfahren befind-lichen Richtlinien. Jedoch sollten wir dies meines Erach-tens durchaus zum Anlass nehmen, auch im Felde derEnergiepolitik die fundamentale Frage aufzuwerfen, wasdenn und vor allem – deshalb begrüße ich die grundsätz-liche Stoßrichtung des Unionsantrages – in welchemGeiste denn Brüssel in der Zukunft energiepolitisch re-geln soll und darf.

Um das hier einmal zu illustrieren, möchte ich nurkurz aus der „Richtlinie über Maßnahmen zur Gewähr-leistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung undvon Infrastrukturinvestitionen“ zitieren, auf die sich dervorliegende Antrag unter anderem bezieht. Da heißt eszum Beispiel in Art. 7, Abs. 1:

Die Übertragungsnetzbetreiber legen der Regulie-rungsbehörde regelmäßig eine Erklärung darübervor, welche Investitionen sie beabsichtigen, um an-gemessene grenzüberschreitende Verbindungskapa-zität bereitzustellen.

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Und weiter in Abs. 3:

Die Regulierungsbehörde erörtert die Investitions-vorschläge mit der Kommission. Die Kommissionerörtert die aggregierten Auswirkungen der vorge-schlagenen Investitionsstrategien mit der durch denBeschluss 2003/796/EG der Kommission einge-setzten Gruppe der europäischen Regulierungsbe-hörden für Elektrizität und Erdgas.

Schließlich in Abs. 4:

Die Regulierungsbehörde genehmigt den Plan desÜbertragungsnetzbetreibers oder einen Alternativ-plan, nachdem sie in Abstimmung mit dem Über-tragungsnetzbetreiber als Ergebnis des in Absatz 3genannten Verfahrens sowie angesichts der inAbsatz 2 und in Artikel 6 festgelegten Prioritätensachgerechte Änderungen daran vorgenommen hat.

Die Konsequenz des Ganzen erfährt der geneigte Le-ser dann schließlich in Abs. 6, wo es heißt:

Der Regulierungsbehörde müssen für den Fall, dassder Übertragungsnetzbetreiber bei der Umsetzungder gemäß Absatz 4 festgelegten Vorhaben Verzö-gerungen oder Fehler verschuldet, die notwendigenMittel zu Gebote stehen, um dafür zu sorgen, dassdie genehmigte Strategie zufrieden stellende Fort-schritte zeitigt; hierzu gehören insbesondere:

a) das Verhängen finanzieller Sanktionen gegendie Übertragungsnetzbetreiber, bei deren Vorha-ben der Zeitplan nicht eingehalten wird,

b) das Erteilen einer Anweisung an den ÜBN, dieArbeiten bis zu einem bestimmten Datumdurchzuführen,

c) Maßnahmen zur Vergabe der durchzuführendenArbeiten an einen Auftragnehmer im Rahmeneiner Ausschreibung.

Ich weiß ja nicht, wie das in Ihren Ohren klingt, aberich hätte – damit konfrontiert – solcherlei Text bislangeher in einer Richtlinie der Staatsregierung der DDR zurFührung volkseigener Betriebe vermutet.

Dies ist aber leider nur ein Beispiel unter vielen, dassehr deutlich macht, wie sehr zuweilen auch in Brüsselund Straßburg Planwirtschaft und Bürokratismus an derTagesordnung sind. Ich möchte hier nicht falsch verstan-den werden: Es steht außer Frage, dass viele Liberalisie-rungsvorhaben, die in Deutschland in den vergangenenJahren realisiert worden sind – erinnert sei nur an denBereich Daseinsvorsorge oder aktuell die Strom- undGasmärkte –, auf europäische Vorschriften zurückgegan-gen sind. Und wir Liberale begrüßen dies ganz außeror-dentlich, weil es oft der einzige Weg war, die von Rot-Grün in Deutschland verursachte Lähmung und denMehltau auf unserem Land zu durchbrechen.

Es muss aber klar sein, dass wir wettbewerbsfähigeMärkte in Europa auch und gerade im Energiesektor nurdann haben werden, wenn Wettbewerb, Deregulierung,Liberalisierung und Entbürokratisierung noch viel stär-ker vorangetrieben werden als bisher. Vor diesem Hin-tergrund ist deshalb die eine oder andere Richtlinie noch

einmal dringend zu überarbeiten. Insofern findet der vor-liegende Antrag mit seinem Appell für eine marktwirt-schaftliche und unbürokratische europäische Energiepo-litik auch die Unterstützung der FDP.

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Wirtschaft und Arbeit: Die Herausforderun-gen an die Energiepolitik sind nicht kleiner geworden:Energierohstoffe sind weltweit knapp – deshalb sind diePreise hoch, wovon gerade ein importabhängiges Landwie Deutschland besonders betroffen ist. Gleichzeitigsind wir in den Kioto-Prozess eingebunden, um gemein-schaftlich den Klimawandel zumindest zu verlang-samen. Und ganz essenziell ist natürlich unser Wunschnach einer zuverlässigen und wirtschaftlichen Energie-versorgung. Sie gehört zu den Grundvoraussetzungen fürmehr Wachstum und Beschäftigung und damit eine hoheLebensqualität in unserem Land.

Eine zentrale Antwort der Bundesregierung auf dieseHerausforderungen ist eine möglichst intelligente Nut-zung von Energie – sprich: mehr Energieeffizienz. Die-ses Thema steht auch auf der internationalen Agendaderzeit wieder ganz oben – zu Recht, wir unterstützendas –, gerade auch bei den aktuellen Initiativen der EU-Kommission im Bereich Energiedienstleistungen undEnergieeffizienzstrategie. Natürlich wollen wir dabei sowenig Bürokratie wie möglich. Das muss im Rat aberauch erreichbar sein.

Neben mehr Energieeffizienz brauchen wir selbstver-ständlich einen ausgewogenen Energiemix: Wir setzen:erstens auf hocheffiziente und damit klimaverträglichefossile Energien – für deren Chancen am Markt habenwir uns im Rahmen der Einführung des Emissionshan-dels in Deutschland erfolgreich eingesetzt – und zwei-tens auf technologisch weiterentwickelte und im Rah-men einer vernünftigen Gesamtstrategie eingesetzteerneuerbare Energien. Die Konsequenzen aus der Dena-Netzstudie erarbeiten wir derzeit.

Die Arbeitsteilung zwischen Politik und Wirtschaft istklar: Wir sorgen für attraktive Rahmenbedingungen, da-mit die Wirtschaft investiert – in diesem Fall in Kraft-werke und Leitungen. Denn alle Überlegungen in Rich-tung eines ausgewogenen Energiemixes sind nichts wertohne die Wirtschaft, die sie umsetzt. Und da könnten wiralle gemeinsam, wenn wir das wollen, auch in diesen be-wegten Zeiten noch ein bedeutendes Stück vorankom-men.

Die Energiewirtschaft erwartet von uns verlässlicheRahmenbedingungen – und wir sind nur noch ein paarFlügelschläge davon entfernt: Das neue Energiewirt-schaftsgesetz befindet sich auf der Zielgeraden – lassenSie uns das gemeinsam zu einem guten Abschluss brin-gen!

Die Unternehmen haben gerade begonnen, ihren „In-vestitionsstau“ aufzulösen: Bereits jetzt sind Investitio-nen in Kraftwerke und Netze in Höhe von rund 19 Mil-liarden Euro geplant. Und es müssen – und sollen jaauch – noch mehr werden.

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Die Erwartung des raschen Abschlusses der Verhand-lungen zum Energiewirtschaftsgesetz bringt erkennbarSchwung in die Modernisierung unseres Kraftwerks-parks und unserer Leitungsinfrastruktur. Lassen Sie unsdiesen Schwung nutzen!

Das neue Energiewirtschaftsgesetz ist ein gelungenerKompromiss aus dem Preissenkungsinteresse der Strom-und Gaskunden und dem legitimen Gewinninteresse derinvestierenden Wirtschaft. Und es ist auch ein gelunge-ner Kompromiss aus unserem Regierungsentwurf undden Vorstellungen der Opposition. Mehr Wettbewerb beiStrom und Gas, eine schlagkräftige Bundesnetzagentur,Anreizregulierung so schnell wie möglich, eine wirk-same Aufsicht über die Branche. Wir haben einen, wieich finde, ausreichenden Fundus an Gemeinsamkeiten,um die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss kon-struktiv und zügig zu beenden. Und mein Eindruck ist,dass die Arbeitsgruppe auch schon sehr weit vorange-kommen ist.

Es ist der Energiewirtschaft und damit auch unseremeigenen Interesse an einer wirtschaftlichen und sicherenStrom- und Gasversorgung nicht zuzumuten, mit demZiel von mehr Wettbewerb zu starten und jetzt mit demschlechtestmöglichen Ergebnis, nämlich dem Scheiterndes EnWG, zu enden. Diskontinuität beim Energiewirt-schaftsgesetz verhindert Investitionen – das will keinervon uns. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass das neue Ge-setz so schnell wie möglich in Kraft treten kann!

Anlage 5

Amtliche Mitteilungen

Der Bundesrat hat in seiner 811. Sitzung am 27. Mai2005 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-stimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2Grundgesetz nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge-mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen:

– Gesetz zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004über eine Verfassung für Europa

– Gesetz über die Ausweitung und Stärkung derRechte des Bundestages und des Bundesrates inAngelegenheiten der Europäischen Union

– Gesetz zur Einführung einer Strategischen Um-weltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie2001/42/EG (SUPG)

– Gesetz zur Umsetzung von Vorschlägen zu Büro-kratieabbau und Deregulierung aus den Regionen

– Erstes Gesetz zur Änderung des Anspruchs- undAnwartschaftsüberführungsgesetzes

– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EGdes Europäischen Parlaments und des Rates vom4. November 2003 betreffend den Prospekt, der beimöffentlichen Angebot von Wertpapieren oder beideren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist,

und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG(Prospektrichtlinie-Umsetzungsgesetz)

– Gesetz zur Änderung des Finanz- und Personal-statistikgesetzes, des Hochschulstatistikgesetzessowie des Gesetzes zum NATO-Truppenstatutund zu den Zusatzvereinbarungen

– Gesetz zur Umbenennung des Bundesgrenzschut-zes in Bundespolizei

– Neuntes Gesetz zur Änderung des Wohngeldge-setzes

– Gesetz zu dem OCCAR-Geheimschutzüberein-kommen vom 24. September 2004

Zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Sicherungvon Werkunternehmeransprüchen und zur verbes-serten Durchsetzung von Forderungen (Forderungs-sicherungsgesetz – FoSiG) hat der Bundesrat in seiner811. Sitzung am 27. Mai 2005 die folgende Entschlie-ßung gefasst:

Der Bundesrat fordert den Deutschen Bundestag auf,seine Beratungen zum Entwurf eines Gesetzes zur Siche-rung von Werkunternehmeransprüchen und zur verbes-serten Durchsetzung von Forderungen (Forderungssi-cherungsgesetz – FoSiG) unverzüglich abzuschließenund einen Gesetzesbeschluss herbeizuführen.

Begründung: Der Bundesrat hat am 11. Juni 2004 be-schlossen, den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherungvon Werkunternehmeransprüchen und zur verbessertenDurchsetzung von Forderungen (Forderungssicherungs-gesetz – FoSiG) beim Deutschen Bundestag einzubrin-gen (Bundesratsdrucksache 458/04 (Beschluss); Bundes-tagsdrucksache 15/3594). Der Gesetzentwurf verfolgtdas Ziel, die Zahlungsmoral durch ein Bündel von Maß-nahmen zu stärken. Zum einen sollen Handwerksbe-triebe in die Lage versetzt werden, ihre Werklohnforde-rung effektiv zu sichern. Zum anderen sollen dieverfahrensrechtlichen Vorschriften im Sinne einer einfa-cheren Titelerlangung geändert werden. Der DeutscheBundestag hat sich mit dem Gesetzentwurf in erster Le-sung am 22. Oktober 2004 befasst. Der Gesetzentwurfist zur weiteren Beratung in die Ausschüsse überwiesenworden. Die Ausschussberatungen sind jedoch nach wievor nicht abgeschlossen. Die in dem Gesetzentwurf vor-gesehenen Regelungen werden insbesondere die Situa-tion der Handwerksbetriebe in der Bauwirtschaft verbes-sern. Dieser ohnehin seit Jahren krisengeschüttelteWirtschaftsbereich bedarf dringend der Verbesserungen,die der Gesetzentwurf vorsieht. Weitere Verzögerungenim Gesetzgebungsverfahren können nicht hingenommenwerden.

Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit-geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 derGeschäftsordnung von einer Berichterstattung zu dernachstehenden Vorlage absieht:

Auswärtiger Ausschuss

– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Par-lamentarischen Versammlung der NATO

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Herbsttagung der Parlamentarischen Versammlung derNATO vom 12. bis 16. November 2004 in Venedig, Ita-lien

– Drucksachen 15/4918, 15/5074 Nr. 3 –

Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse habenmitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das EuropäischeParlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera-tung abgesehen hat.

Auswärtiger Ausschuss

Drucksache 15/5080 Nr. 1.3Drucksache 15/5080 Nr. 1.5Drucksache 15/5080 Nr. 2.10

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit

Drucksache 15/5297 Nr. 1.3Drucksache 15/5297 Nr. 2.8Drucksache 15/5297 Nr. 2.13Drucksache 15/5297 Nr. 2.24Drucksache 15/5297 Nr. 2.31Drucksache 15/5297 Nr. 2.37Drucksache 15/5297 Nr. 2.39

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftDrucksache 15/5297 Nr. 2.20Drucksache 15/5297 Nr. 2.21Drucksache 15/5297 Nr. 2.33Drucksache 15/5297 Nr. 2.38

Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenDrucksache 15/5080 Nr. 2.9

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitDrucksache 15/4911 Nr. 2.9Drucksache 15/4911 Nr. 2.23Drucksache 15/4969 Nr. 1.4Drucksache 15/4969 Nr. 1.16Drucksache 15/4969 Nr. 1.18Drucksache 15/4969 Nr. 1.25

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeDrucksache 15/5396 Nr. 1.13

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDrucksache 15/5080 Nr. 1.1

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ISSN 0722-7980