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Museumsblätter Dezember 2008 13 Mitteilungen des Museumsverbandes Brandenburg > Jüdische Geschichte Rückblick, Stillstand und Aufbruch Denkmale und Open-Air-Museen Raub und Restitution Spurensuche vor Ort Museumsblätter

Dezember 2008 Museumsblätter...Arne Lindemann Museumsverband des Landes Brandenburg, Mitarbeiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Dirk Maier Historiker, Berlin Nathanael Riemer

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Museumsblätter

Dezember 2008 13

Mitteilungen des

Museumsverbandes Brandenburg

> Jüdische Geschichte

Rückblick, Stillstand und Aufbruch

Denkmale und Open-Air-Museen

Raub und Restitution

Spurensuche vor Ort

Museumsblätter

Page 2: Dezember 2008 Museumsblätter...Arne Lindemann Museumsverband des Landes Brandenburg, Mitarbeiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Dirk Maier Historiker, Berlin Nathanael Riemer

Abbildungsnachweis

Titelseite PrivatbesitzS. 8 Oderlandmuseum Bad FreienwaldeS. 9 Reinhard Schmook, Bad FreienwaldeS. 13 Harald Bethke, SchwedtS. 15 Musée des Instruments de Musique, BrüsselS. 17 – 20 PrivatbesitzS. 21 Kreisarchiv des Landkreises Oder-SpreeS. 23 – 25 Fotosammlung Miriam HoexterS. 27 – 29 Stadtmuseum CottbusS. 31 Hilde Miron, HaifaS. 33 l Georg Dornuff, LuckauS. 33 r Lorenz Kienzle, BerlinS. 35 – 37 Kurt Tucholsky Literaturmuseum, RheinsbergS. 39 – 40 Stadtarchiv Schwedt/OderS. 41 Bildzitat nach Katrin Kessler, Bauwerke der jüdischen Gemeinde in Schwedt, 2007, S. 43 – 45 Kulturzentrum Rathenow (Optik Industrie Museum)S. 46 Matthias Holfeld, BerlinS. 47 Juliane Wedemeyer, PotsdamS. 48 Lorenz Kienzle, BerlinS. 49 Stadtverwaltung Prenzlau, PressestelleS. 50 Oliver Rump, BerlinS. 51 Andrej Tchernodarov, PotsdamS. 52 Flemming Bau, ÅrhusS. 53 Detlef Sommer, WünsdorfS. 54 Sigrid Hoff, BerlinS. 55 Marcus Pilarski, Potsdam S. 56 Silke Siebrecht, BerlinS. 57 Ralf Kluttig-Altmann, LeipzigS. 58 Albrecht Herrmann, Geltow/OT BaumgartenbrückS. 59 Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, WünsdorfS. 63 Jens Ziehe, Berlin

Autorinnen und Autoren

Martin Ahrends Freier Autor, PotsdamDr. Iris Berndt Museumsverband des Landes Brandenburg, ReferentinDr. Inka Bertz Jüdisches Museum Berlin, wissenschaftliche MitarbeiterinDr. Peter Böthig Kurt Tucholsky Literaturmuseum Rheinsberg, MuseumsleiterKatrin Clever Landschaftsverband Rheinland, Archivberatung und FortbildungszentrumDr. Michael Dorrmann Freier Kurator, BerlinProf. Dr. Sybille Einholz Fachhochschule Technik und Wirtschaft Berlin, Fachbereich Gestaltung, Studiengang MuseumskundeIngrid Fischer Ehemalige Museumsleiterin, EberswaldeDr. Bettina Götze Geschäftsführerin des Kulturzentrums, RathenowKarin H. Grimme Historikerin, BerlinAnke Grodon Stadtmuseum Schwedt/Oder, MuseumsleiterinSigrid Hoff Journalistin, BerlinSteffen Krestin Stadtmuseum Cottbus, MuseumsleiterDr. Krystyna Kauffmann Heimatverein Caputh e. V., Vorstandsmitglied Ralf Kluttig-Altmann Archäologe, LeipzigDr. Uwe Koch Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Referatsleiter Denkmal- und Kulturgutschutz, MuseenSylvia Kolley Webdesignerin, Langengrassau Dr. Susanne Köstering Museumsverband des Landes Brandenburg, GeschäftsführerinAndrea Lefèvre Historikerin, BerlinArne Lindemann Museumsverband des Landes Brandenburg, Mitarbeiter Presse- und ÖffentlichkeitsarbeitDirk Maier Historiker, BerlinNathanael Riemer Historiker, BerlinDr. Reinhard Schmook Oderlandmuseum Bad Freienwalde, MuseumsleiterSilke Siebrecht Museen Reckahn, MuseumsleiterinJuliane Wedemeyer Potsdamer Neueste Nachrichten, KulturRaymond Wolff Historiker, Berlin

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5Inhalt

Inhalt

Forum

Jüdische Geschichte in Brandenburg

Forschung im Überblick

6 Rückblick, Stillstand und Aufbruch

Erforschung jüdischer Geschichte in Brandenburg Reinhard Schmook

12 Denkmale und Open-Air-Museen

Onlinedokumentation jüdischer Friedhöfe in Brandenburg Nathanael Riemer

14 Raub und Restitution

Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute Inka Bertz und Michael Dorrmann

Spurensuche vor Ort

16 Vom Spurenlesen, Sammeln und Zusammenführen von Verstreutem

Jüdisches Leben im Altkreis Beeskow-Storkow Andrea Lefèvre und Raymond Wolff

22 Symbol für Integration

Das Familienhaus in Calau Karin H. Grimme

26 Historische Orte

Synagoge und Friedhöfe in Cottbus Steffen Krestin

30 Gegen das Vergessen

Eberswalder Gedenkbuch für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus Ingrid Fischer

32 David Tasselkraut

Ein jüdischer Arbeiter aus Luckau Sylvia Kolley

34 Den Opfern ein Gesicht geben

Neue Dokumente zu Juden in Rheinsberg Peter Böthig

38 Mikwe - lebendiges Wasser

Das jüdische Badehaus in Schwedt Anke Grodon

42 Hoffnung auf das gelobte Land

Das Hachschara-Lager in Steckelsdorf Bettina Götze

Fundus

46 Porträt52 Schon gesehen?55 Arena58 Schatztruhe60 Lesestoff

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34 Forum

Den Opfern ein Gesicht geben

Neue Dokumente zu Juden in RheinsbergPeter Böthig

Rheinsberg und die Juden vom

18. zum 20. Jahrhundert

Nach dem „Edikt wegen aufgenommenen 50 Familien Schutzjuden, jedoch daß sie keine Synagoge halten“ des Großen Kurfürsten vom 21. Mai 1671 erhielten nach über 100 Jahren wieder Juden das Recht, sich in der Mark Brandenburg niederzulassen. 1718 machte der Hofrat Benjamin Chevenix de Beville, dem Rheins-berg damals gehörte, beim König eine Eingabe, um „etliche Juden in Rheinsberg“ anzusetzen.1 Offenbar kam es jedoch nicht zu einer Ansiedlung, wie ein Bericht des königlichen Inspizienten vom Oktober 1720 über die Anzahl der Juden im „Ruppinischen Kreys“ darlegt.2 Die wenigen Bleiberechtsgesuche, die sich aus dem 18. Jahrhundert erhalten haben, wurden allesamt negativ beschieden. Eine Übersicht über die jüdischen Familien in der Kur-mark aus dem Jahr 1765 verzeichnet in Rheinsberg dennoch eine erste Familie.3 Eine erste namentliche Erwähnung haben wir aus dem Jahr 1819. Damals kaufte die jüdische Familie Cohn außerhalb der Stadt-begrenzung ein Stück Land als Begräbnisplatz für jüdische Einwohner.4 Ob an diesem Ort jemals Juden beerdigt wurden, ist ungewiss, da der Friedhof bereits 1847 verfiel.5 Aus einer „Statistik der Juden in Preu-ßen“ von 1884 wissen wir, dass sich 1871 – im Jahr der bürgerlichen Gleichstellung der Juden – in Rheins-berg bereits acht Juden niedergelassen hatten6, im Jahr 1910 waren es zehn.7 Aus der Zeit zwischen 1900 und 1933 haben wir relativ wenige Informationen über jüdische Bürger in Rheinsberg. Genauere Kenntnis über die Zahl und das Leben von Juden in Rheinsberg erlangen wir erst wieder, als mit der Machtübernahme der Nationalso-zialisten ihre Diskriminierung einsetzt. Bereits Anfang April 1933, im Zusammenhang mit dem so genann-ten „Judenboykott“, wurden auch in Rheinsberg die Geschäfte und Praxen der als Juden bekannten Einwohner mit gelben Zetteln markiert.8 In Folge der Pogromnacht, am 10. November 1938, wurden alle Rheinsberger Juden in „Schutzhaft“ genommen und für ein oder mehrere Tage im Sitzungssaal der Stadt-verordnetenversammlung im Rathaus interniert. An den drei Ausgängen des Ortes wurden Tafeln aufge-stellt, die die Aufschrift trugen „Juden unerwünscht“.9

Die Familie Hirschfeld

Nach allen Dokumenten ist die Familie Hirschfeld als die erste jüdische Familie anzusehen, die über mehrere Generationen in Rheinsberg ansässig wurde. Das älteste Dokument, das die Niederlassung eines Kaufmanns Hirschfeld in Rheinsberg belegt,10 stammt aus dem Jahr 1835. Lewin, auch Ludwig oder Louis genannt, Hirschfeld war 1809 geboren worden. Seine Frau Rika (Friederike) Hirschfeld, geborene Simon-son, war Jahrgang 1818. Ludwig Hirschfeld blieb ein aktives Mitglied der Lindower Synagogengemeinde11 – bis zu seinem Tode 1877. Seine Frau Rika war ein Jahr vor ihm, 1876, in Rheinsberg gestorben – sie liegt auf dem jüdischen Friedhof in Lindow begraben. Einer der beiden Söhne, Julius Hirschfeld, übernahm das Geschäft in Rheinsberg. Er war 1850 in Fürsten-berg geboren worden.12 1879 heiratete er die 1856 geborene Ida Gimpel. Wie sein Vater war auch er im gesellschaftlichen Leben der Stadt aktiv. Erstmals ist seine Mitgliedschaft in der Stadtverordnetenversamm-lung im Jahr 1898 dokumentiert.13 Schließlich wurde Julius Hirschfeld im Juni 1915 sogar zum Beigeord-neten (stellvertretenden Bürgermeister) der Stadt Rheinsberg gewählt.14 Im März 1918 verstarb er, seine Witwe Ida Hirschfeld blieb in Rheinsberg. Im Februar 1943 erhielt die mittlerweile 86-Jährige ihren Deportationsbefehl. Kurz darauf wurde sie auf Anordnung der Staatspolizei aus Rheinsberg depor-tiert und in das Sammellager in der Großen Hambur-ger Straße 26 in Berlin eingeliefert. Am 18. März 1943 wurde sie mit dem Transport Nr. I/ 90 nach There-sienstadt deportiert – eine Tortur, die die alte Dame nicht überlebte: Zehn Tage nach dem Abtransport, am 28. März 1943, war sie tot.15 Das kinderlose Ehepaar Julius und Ida Hirschfeld hatte zwei seiner Nichten im Haushalt aufgenommen: Rosa und Grete Hirschfeld.16 Über Grete sind leider keinerlei Daten überliefert. Von Rosa Hirschfeld wis-sen wir, dass sie 1867 in Altwarp / Pommern geboren wurde und seit 1908 in Rheinsberg lebte. 1939 wohnte sie in der Schlossstraße 5.17 Ein Todesdatum von Rosa Hirschfeld kennen wir nicht – wahrscheinlich ist sie jedoch noch vor oder bei der Deportation 1943 gestor-ben. Das würde erklären, warum ihre „Kennkarte“ mit dem Vermerk „verstorben“ in einer Akte der Rheins-berger Verwaltung liegt.

Spurensuche vor Ort

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Kennkarte von Ida Hirschfeld

Margot Pohrt, geb. Wiener

Der Rechtsanwalt Dr. Hermann Pohrt und seine Frau Margot, geb. Wiener, waren 1919 aus Berlin nach Rheinsberg gezogen. Hier wurden zwei Töchter gebo-ren. Am 10. November 1938 wurde Margot Pohrt – von der Nazi-Bürokratie mit vier jüdischen Großeltern als „Volljüdin“ eingestuft – verhaftet, nach energischem Protest ihres Mannes beim Kreisleiter der NSDAP in Neuruppin einen Tag später jedoch wieder freigelas-sen. Bis zum Ende des NS-Regimes wurde sie nur durch ihre Ehe mit einem so genannten „arischen“

Mann vor der Deportation in ein Vernichtungslager bewahrt. Pohrt, im Ersten Weltkrieg ein hoch deko-rierter Kampfflieger, nutzte offenbar seine persönliche Bekanntschaft mit Hermann Göring, um seine Frau und seine beiden Töchter zu schützen.Nach dem Kriegsende wurde er deshalb, obwohl er als Anwalt nachweis-lich zur Rettung mehrerer jüdischer Frauen beige-tragen hatte (darunter die Ehefrau des Fabrik-besitzers Ernst Carstens aus Rheinsberg), von der Ortsgruppe der SED als „aktiver Faschist“ bezeich-net. Jahrelang verhinderte die SED seine Wieder-zulassung als Anwalt.18 Obwohl der Landesverband der Jüdischen Gemeinden in der DDR ihr Anliegen unterstützte, wurde Margot Pohrt im März 1953 von der VdN-Landesdienststelle die Anerkennung als Verfolgte des Nazi-Regimes ver-weigert. Bald nach dieser Entscheidung zog Margot Pohrt zu einer ihrer Töchter nach Niedersachsen. Dort starb sie 1958 im Alter von 64 Jahren.

Siegfried Hoffmann

und die Villa

Miralonda

Im Jahr 1923 erwarben die Brüder Hoffmann, zwei vermögende Berliner Textilunternehmer, die Villa Miralonda in Rheinsberg als Wochenend- und Ferien-domizil. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, setzten sofort Sanktionen gegen die Firma und Fami-lie Hoffmann ein. Im September 1938 mussten die beiden Eigentümer ihre Geschäftsanteile verkaufen – der Preis entsprach nicht im entfernten dem tatsäch-lichen Wert ihrer Firma. Im September 1939 kaufte der Bürgermeister große Teile des Rheinsberger Besitzes von Siegfried und Ernst Hoffmann für die Stadt. Von den erzielten Erlö-

Spurensuche vor Ort

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sen hat die im November 1940 ausgebürgerte19 Fami-lie Hoffmann nichts erhalten. Im März 193920 hatte sich Siegfried Hoffmann gemeinsam mit seiner Frau Lucie, geb. Heller,21 in den Niederlanden in Sicherheit gebracht. Gesundheitlich war er den Strapazen von Verfolgung und Emigration jedoch nicht mehr gewach-sen, im September 1941 starb er an Herzversagen. Seine Frau wurde nach dem Überfall auf die Nie-derlande im Februar 1942 ins Konzentrationslager Westerbork verschleppt und im September 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie drei Tage nach ihrer Ankunft ermordet wurde.22 Als ihr damals 35-jähriger Sohn Hans Herrmann im Juli 1942 ebenfalls den Deportationsbefehl nach Westerbork erhielt, tauchte er mit seiner Ehefrau Rosa und ihrem neu gebore-nen Sohn Theo mit gefälschten Ausweisen in der Gemeinde Assen unter. Nach der Befreiung durch die Alliierten 1945 blieb die Familie in den Niederlanden.

Die Familie von Dr. Wilhelm Leo

Der Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Leo, 1886 geboren, lebte seit 1926 mit seiner Frau Frieda und zwei Kin-dern in einer Villa in der Strelitzer Straße (heute Mar-tin-Henning-Straße). Wilhelm Leo stammte aus einer jüdischen Familie, die ihre Wurzeln bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen kann. Er hatte in Jena, Genf, London und Mailand Jura studiert und 1909 promoviert.Bereits in der Nacht nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 wurde Dr. Leo von SA-Leuten verhaftet und ins Konzentrationslager Oranienburg verschleppt. 1927 hatte er einen Beleidigungsprozess gegen Joseph Goebbels gewonnen und sich damit dessen besonderen Hass zugezogen. Nur durch Intervention des Schriftstellers Ernst Wiechert, mit dem Familie Leo bekannt war und der zunächst von den National-sozialisten umworben wurde, kam Wilhelm Leo frei. Anfang September 1933 flüchtete die Familie Leo bei Nacht und Nebel aus Rheinsberg. Mit Hilfe eines Schleusers gelangten sie über die belgische Grenze, von dort schließlich nach Paris. 1941 gelang dem knapp 16-jährigen Sohn Gerhard Leo die Flucht nach Südfrankreich, wo er sich der französischen Wider-standsbewegung, der Résistance, anschloss.23 Nach Deutschland kehrte Wilhelm Leo nicht mehr zurück, obwohl er sich nach dem Krieg gerne beim Wiederaufbau eines deutschen Rechtsstaats enga-giert hätte. Er starb entkräftet nur 59jährig im Novem-ber 1945 in Paris.

Felix und Ida Weinstock

Ida und Felix Weinstock lebten seit 1931 in Rheins-berg. Felix Weinstock war 1872, Ida Weinstock 1878 in Berlin geboren. Bereits im März 1933 wurde Felix

Weinstock von Angehörigen der NSDAP überfallen und ausgeplündert.24 Im November 1938 wurden beide Weinstocks im Sitzungssaal der Stadtverordneten im Rathaus in „Schutzhaft“ genommen. Ab September 1941 mussten Felix Israel und Ida Sara Weinstock den gelben Stern tragen.25 Im September 1942 erhielten sie schließlich ihren Deportationsbefehl.26 Am 28. Oktober 1942 wurden der 70-jährige Felix und die 64-jährige Ida Weinstock mit dem Transport Nr. I/72 aus dem Sammellager in der Großen Hamburger Straße in Berlin nach Theresienstadt deportiert.27

Felix und Ida Weinstock überlebten das KZ.28 Ende September 1945 kehrten sie nach Rheinsberg zurück.29 Ida Weinstock starb 1951 mit 73 Jahren an den Folgen der KZ-Haft, Felix Weinstock starb 1961.30 Seine Lebensdaten fehlten auf dem Rheinsberger Grabmal – sie waren in Vergessenheit geraten. Im Sommer 2008, fast 47 Jahre nach seinem Tod, ermöglichte eine Berlinerin, aufmerksam geworden durch unsere Recherchen, mit einer Spende die Restaurierung und die Ergänzung der Daten auf dem Grabstein von Felix Weinstock.

Widerstand

Die Deportationen des Ehepaars Weinstock im September 1942 und der alten Ida Hirschfeld im Februar 1943 vollzogen sich – wie überall – auch in Rheinsberg „vor aller Augen“. Wir stießen bei unseren Nachforschungen jedoch auch auf Zeugnisse von Widerstand und Solidarität: Rechtsanwalt Pohrt, selbst mit einer Jüdin verheiratet, hat sich wiederholt für Verfolgte eingesetzt, Max Goldlust konnte in Rheins-berg bei seiner Schwiegermutter untertauchen, und in Kagar half die Familie Steffen über Jahre hinweg politisch und rassisch Verfolgten mit Verstecken. Auch im benachbarten Gut Zernikow hat der letzte dortige Patron, Friedmund von Arnim, verfolgte Juden ver-steckt und gerettet.31

Nachbemerkung

Wie schwierig die Recherchen auf dem hier benann-ten Gebiet sind, weiß jeder, der einmal damit begon-nen hat. Insbesondere für das 19. Jahrhundert findet man selbst in amtlichen Dokumenten teilweise widersprüchliche Angaben. Und vielfach lassen sich die Schicksale jüdischer Mitbürger nur aus den lücken-haften Zeugnissen der Verfolgungsbürokratie rekon-struieren. Dennoch lohnt sich die Arbeit. Nicht nur, weil wir uns damit einem Teil unserer Verantwortung für unsere Geschichte stellen, sondern auch ganz prag-matisch: Ist erst einmal ein Archiv angelegt und eine Öffentlichkeit hergestellt, wächst unser Wissen aus bis dahin nicht erschließbaren Quellen weiter an. Immer wieder einmal taucht ein neues Mosaiksteinchen auf.

Spurensuche vor Ort

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Bürgerbrief 1824

Neue Dokumente

Drei Jahre nach dem (vorläufigen) Abschluss unserer Recherchen erhielten wir neue Dokumente. Die Nichte der Else Weil (der „Claire“ aus Tucholskys Buch „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“), die heute in London lebt, übergab uns Dokumente zur Geschichte der Familie Weil, unter anderem originale „Bürgerbriefe“ aus Prenzlau aus den Jahren 1824 und 1846 – in einem Erhaltungszustand, der selten ist.Und im Sommer 2008 tauchte im Keller des Rheins-berger Rathauses eine 19-seitige Akte von 1938/39 auf. Sie enthält die Anträge, die die ortsansässigen Juden zum Erhalt der sogenannten „Kennkarte“, also des Ausweises mit dem aufgedruckten „J“ stellen mussten. Es sind alle zum damaligen Zeitpunkt noch in Rheinsberg lebenden, von den Nationalsozialisten erfassten Juden mit Passbild und Fingerabdrücken enthalten. Die Daten der Akte bestätigen alle unsere Recherchen. Aber was noch wichtiger ist: Endlich haben wir auch Bilder der Verfolgten: Ida Hirschfeld, Rosa Hirschfeld, Margot Pohrt, Felix Weinstock und Ida Weinstock.

Die hier vorstellten Beispiele basieren auf Recherchen eines ABM-Projekts,

geleitet von Stefanie Oswalt und mir. Sie wurden zusammengefasst in der Publikation Peter Böthig, Stefanie Oswalt, Juden in Rheinsberg. Eine lokale Spurensuche, 186 Seiten, Edition Rieger 2005, ISBN 3-935231-71-71 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Berlin, 1. HA Rep 21 Nr. 212r, Fasz. 5

2 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Berlin, 1. HA Rep. 21, Nr. 203a, Fasz. 7

3 Vgl. Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden, Teil 3, 2. Abt.,

1. Halbband, Tübingen 1971, S. 4224 Karl Hoppe, Chronik von Rheinsberg, 1847 (Reprint Edition Rieger 2001),

S.197. Die Notwendigkeit eines eigenen Friedhofes ergab sich aus einer Regierungsverordnung vom 20. Mai 1814, die aus hygienischen Gründen den Leichentransport über mehr als eine preußische Meile (das entsprach 7,5 Kilometer) verbot. Seither mussten Juden innerhalb dieses Radius beerdigt werden und das Land dafür kaufen. Lindow, wo zu dieser Zeit bereits Juden lebten, war mehr als diese eine Meile entfernt.5 Vgl. Karl Hoppe, S. 197. Der „Jahresbericht über den Zustand der Verwaltung des

gesamten städtischen Lebens in der Stadt Rheinsberg“ für 1844 verzeichnet keine jüdischen Einwohner. KA Nrp. Akte 2666 S. Neumann, Zur Statistik der Juden in Preußen von 1816 bis 1880. Zweiter

Beitrag. Aus den amtlichen Veröffentlichungen. Berlin 18847 Michael Brocke, Eckehard Ruthenberg, Kai Uwe Schulenburg: Stein und Name.

Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland. Berlin 19948 BLHA, Rep. 401, VdN – 1361

9 Rheinsberger Zeitung, 11. November 1938

10 In einem Schreiben der Königlichen Regierung in Potsdam an den Herrn Landrat

von Schenckendorff wird für den Synagogen-Bezirk Lindow der „Kaufmann Hirschfeld zu Rheinsberg“ als Vorstandsmitglied bestätigt. BLHA, Rep 6B, Ruppin, Nr. 190111

In einem Schreiben an den Landrat von Schenckendorff teilt die Polizei- verwaltung von Lindow im Juli 1860 erneut mit, dass Kaufmann Levin (Ludwig) Hirschfeld zu Rheinsberg in den Vorstand der Synagogengemeinde, und Kaufmann Roth zu Rheinsberg als Repräsentant gewählt wurden.12

Archiv KTL, Heiratsurkunde (beglaubigte Abschrift des Standesamtes Rostock vom 5. Januar 1939)13

Archiv KTL, Stadtgeschichtliche Sammlung, Alt A 2214

BLHA Potsdam. Rep. 36 A OFP, 454315

Vgl. Theresienstädter Gedenkbuch, Die Opfer der Judentransporte aus Deutsch- land nach Theresienstadt 1942-1945. Institut Theresienstädter Initiative Academia 200016

Vgl. Gossmann: Von den Juden in Rheinsberg, Typoskript, 1973, Archiv KTL17

Akten der Volkszählung 1939, Bundesarchiv Berlin, Film 7442418

Dr. Pohrt starb 1950 im Alter von 72 Jahren.19

Rückübertragungsbescheid des Landesamtes zur Regelung offener Vermögens- fragen vom 6. Juni 2002 (im Besitz von Frau RA Erdmann).20

Berliner Gedenkbuch unter dem Eintrag Lucie Hoffmann, geborene Heller, S. 52721

Lucie Heller entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Halberstadt, die ebenfalls erfolgreich in der Textilbranche tätig war. Zeitzeugengespräch mit

dem Enkel, Prof. Hans Feilchenfeld, 16. Juni 200422

Landesamt für offene Vermögensfragen vom 16. Januar 2002 23

Vgl. Gerhard Leo, Frühzug nach Toulouse, Berlin 198824

Die „Rheinsberger Zeitung“ vom 16. März 1933 spricht nur von einem „jüdischen Kaufmann“.25

BLHA, Rep 333, SED-Landesvorstand Brandenburg, Nr. 1181 26

BLHA, Rep. 204 A, Nr. 2742 27

Theresienstädter Gedenkbuch. Die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt 1942-1945. Institut Theresienstädter Initiative Academia 2000. Vgl. S. 58; S. 26728

BLHA, Rep 333 SED-Landesvorstand Brandenburg Nr. 1181 29

Leserbrief von Felix Weinstock an die „Berliner Zeitung“ vom September 195630

Aktenvermerk vom 11.1.1962, BLHA, Rep. 401, VdN-189831

Vgl. Peter-Anton Friedmund von Arnim, Spurensuche. Kindheitserinnerungen an Friedmund Ernst Freiherr von Arnim, Selbstverlag, 1997

Spurensuche vor Ort