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90 Wolfgang Dissmann, Hans-Joachim Philipp, Norbert Schaub Die Alkoholkrankheit - kein medizinisches Randproblem 1. Größenordnung des Problems Die Alkoholkrankheit mit all ihren Folgeerscheinungen ist heute ein all- tägliches Problem für Ärzte und alle anderen im medizinischen und sozia- len Bereich Tätigen. In den Vereinigten Staaten wurde die Zahl chronisch Alkoholkranker schon 1978 mit über 10 Millionen angegeben. Alkoholismus ist dort das drittgrößte Gesundheitsproblem, das das Leben von über 40 Millionen Fa- milienmitgliedern berührt.' In Großstädten westlicher Industriestaaten stellt heute die Lebercirrhose die dritthäufigste Todesursache bei Men- schen zwischen 25 und 65 Jahren dar) Von Brescard wurde mitgeteilt, daß in Frankreich die Hälfte aller Krankenhausbetten zur Versorgung aI- koholkranker Patienten gebraucht wird und daß 40% der Gesamtausga- ben für Gesundheit hierfür aufgewendet werden müssen.ê Untersuchun- gen in Manchester- und Edinburgh+ ergaben, daß 300/0 der Patienten nor- maler internistischer Stationen an Krankheiten leiden, die durch Alkohol verursacht, wesentlich mitverursacht bzw. verschlimmert worden sind. Für die Bundesrepublik Deutschland hat sich ergeben, daß wahrscheinlich 1,8 Millionen Konsumenten bereits behandlungsbedürftig alkoholkrank sind.> Im Städtischen Krankenhaus Am Urban in Berlin-Kreuzberg lag der Anteil alkoholkranker Patienten und solcher Patienten, deren Leiden durch Alkohol erheblich mitverursacht worden ist, auf der internistischen Intensivstation in den letzten Jahren bei 10% mit deutlichem Trend einer kontinuierlichen Zunahme.s 2. Alkoholismus - Eine Krankheit? Jährlich suchen Tausende von Menschen in der Bundesrepublik Deutsch- land einen Arzt, ein Krankenhaus oder eine andere medizinische Institu- tion auf, weil sie durch Alkohol »krank« geworden snd. Menschen fühlen sich schlecht, beobachten eine Anormalität ihres Körpers, sehen sich nicht in der Lage, ihre täglichen Aufgaben zu erfüllen, zur Arbeit zu gehen, zu essen und zu trinken, zu schlafen, morgens aufzustehen, die Wohnung zu verlassen und begeben sich deshalb in die Rolle des Patienten. Wenn je- mand Blut erbricht, wenn ein anderer eine Gelbsucht entwickelt, sich vor Bauchschmerzen krümmt, weiße Mäuse über die Bettdecke huschen sieht, wenn ihm wegen Herzjagens schwindlig wird, zweifelt niemand daran, daß hier eine »Krankheit« vorliegt, die ärztlicher Hilfe bedarf. Wenn aber ein anderer sich ganz wohl fühlt, jeden Abnd in seiner Stammkneipe fünf ARGUMENT·SONDERBAND AS 86 ©

Die Alkoholkrankheit - kein medizinisches … 3Jahren dreimal stationär wegenTraumata behandelt (Comotio, Rippen-frakturen, Oberarmfraktur). Im Verlauf der jetzigen stationären Behandlung

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Wolfgang Dissmann, Hans-Joachim Philipp, Norbert Schaub

Die Alkoholkrankheit- kein medizinisches Randproblem1. Größenordnung des ProblemsDie Alkoholkrankheit mit all ihren Folgeerscheinungen ist heute ein all-tägliches Problem für Ärzte und alle anderen im medizinischen und sozia-len Bereich Tätigen.

In den Vereinigten Staaten wurde die Zahl chronisch Alkoholkrankerschon 1978 mit über 10 Millionen angegeben. Alkoholismus ist dort dasdrittgrößte Gesundheitsproblem, das das Leben von über 40 Millionen Fa-milienmitgliedern berührt.' In Großstädten westlicher Industriestaatenstellt heute die Lebercirrhose die dritthäufigste Todesursache bei Men-schen zwischen 25 und 65 Jahren dar) Von Brescard wurde mitgeteilt,daß in Frankreich die Hälfte aller Krankenhausbetten zur Versorgung aI-koholkranker Patienten gebraucht wird und daß 40% der Gesamtausga-ben für Gesundheit hierfür aufgewendet werden müssen.ê Untersuchun-gen in Manchester- und Edinburgh+ ergaben, daß 300/0 der Patienten nor-maler internistischer Stationen an Krankheiten leiden, die durch Alkoholverursacht, wesentlich mitverursacht bzw. verschlimmert worden sind.Für die Bundesrepublik Deutschland hat sich ergeben, daß wahrscheinlich1,8 Millionen Konsumenten bereits behandlungsbedürftig alkoholkranksind.>

Im Städtischen Krankenhaus Am Urban in Berlin-Kreuzberg lag derAnteil alkoholkranker Patienten und solcher Patienten, deren Leidendurch Alkohol erheblich mitverursacht worden ist, auf der internistischenIntensivstation in den letzten Jahren bei 10% mit deutlichem Trend einerkontinuierlichen Zunahme.s

2. Alkoholismus - Eine Krankheit?Jährlich suchen Tausende von Menschen in der Bundesrepublik Deutsch-land einen Arzt, ein Krankenhaus oder eine andere medizinische Institu-tion auf, weil sie durch Alkohol »krank« geworden snd. Menschen fühlensich schlecht, beobachten eine Anormalität ihres Körpers, sehen sich nichtin der Lage, ihre täglichen Aufgaben zu erfüllen, zur Arbeit zu gehen, zuessen und zu trinken, zu schlafen, morgens aufzustehen, die Wohnung zuverlassen und begeben sich deshalb in die Rolle des Patienten. Wenn je-mand Blut erbricht, wenn ein anderer eine Gelbsucht entwickelt, sich vorBauchschmerzen krümmt, weiße Mäuse über die Bettdecke huschen sieht,wenn ihm wegen Herzjagens schwindlig wird, zweifelt niemand daran,daß hier eine »Krankheit« vorliegt, die ärztlicher Hilfe bedarf. Wenn aberein anderer sich ganz wohl fühlt, jeden Abnd in seiner Stammkneipe fünf

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Bier und fünf Schnäpse trinkt, dann trinkt man höchstens mit oder zucktvielleicht verächtlich mit den Schultern, einen Arzt ruft man jedenfallsnicht herbei.

In unserer Gesellschaft, die Alkohol als Droge seit langem akzeptiert,ihn offen zum Verkauf anbietet, in der nicht wenige Menschen in Zusam-menhang mit der Produktion, Verteilung und dem Konsum von Alkoholihren Lebensunterhalt verdienen, gibt es ein Kontinuum von Menschenmit unterschiedlichen Trinkgewohnheiten, die von der totalen Abstinenzüber gelegentlichen Konsum bis zum exzessiven »Spiegeltrinken« vondrei, vier oder mehr Flaschen Schnaps täglich reichen. Als fundamentale»Läsion« durch Alkoholismus gilt ein wiederholter, inkonstanter, nichtimmer vorhersehbarer Kontrollverlust beim Trinken, der ernste Störungenorganischer, psychischer und sozialer Funktionen verursachen kann.

Seit E. Jellinek im Jahre 1960 sein Buch »The Disease Concept of Alco-holism« schrieb, gibt es eine anhaltende Diskussion über dieses Krank-heitskonzept. Es wird dagegen v.a. angeführt, die Anerkennung des Alko-holismus als Krankheit verführe den Alkoholiker dazu, sein Trinkverhal-ten zu entschuldigen und deshalb fortzusetzen, auf Kosten der Solidarge-meinschaft seinem Laster zu frönen und die Verantwortung für seinschlechtes Leben anderen aufzubürden. Formen sekundären Krankheits-gewinns, die eine Lösung des individuellen Problems erschweren oder un-möglich machen, werden aufgelistet: Krankengeld, Rente, Vermeidungvon Streßsituationen z.B. bei der Arbeit, Erfüllung von Abhängigkeits-wünschen, Sucht nach Gesundheitsversorgung, Manipulation sozialer Be-ziehungen usw., eine Schwächung der Selbstheilungskräfte wird postu-liert. Auf der anderen Seite wird gesagt, die medizinischen Institutionenseien überfordert, gesellschaftliche Fehlentwicklungen wie den steigendenAlkoholkonsum bei uns zu korrigieren bzw. reparieren, ja, die »Medikali-sierung«, die Überantwortung des Problems an die Medizin, verhinderegeradezu eine gesellschaftliche, politische Anstrengung zur Überwindungdes Problems. Sicher ist, daß Investitionen im medizinischen Bereich, An-strengungen von Ärzten, Pt1egepersonal, Sozialarbeitern und Psycholo-gen allein das Problem nicht lösen.können, Nicht umsonst verbreitet sichbei den genannten Berufsgruppen im Umgang mit Alkoholikern häufigein Gefühl der Hilflosigkeit, eine Atmosphäre der Aggression, Entmuti-gung, Demoralisierung. Obwohl auf der anderen Seite viele Alkoholikertrotz ihrer Leiden den Weg zum Arzt, zu einer medizinischen oder sozia-len Institution scheuen und bis zum »es geht nicht mehr« aufschieben, istgenauso sicher, daß ein erheblicher Teil der in medizinischen Institutionengeleisteten Arbeit heute bereits für Alkoholiker verwandt wird. Insofernist die theoretische Diskussion, ob Alkoholismus eine Krankheit sei odernicht, sicher von grundsätzlicher Bedeutung und in mancher Hinsicht klä-rend für die Aufgabenstellung medizinischer Institutionen im Rahmen ge-

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sellschaftlicher Arbeitsteilung, an den praktischen Problemen geht sie j~doch vorbei.

Die meisten Alkoholkranken suchen Hilfe beim Arzt, ohne ihren Alko-holkonsum als das wesentliche Problem anzusprechen, nicht wenige sogarin Unkenntnis der Zusammenhange zwischen ihrem Leiden und ihrenTrinkgewohnheiten. Praktisch sinnvoll erscheint, jedem Alkoholiker, dermedizinische Hilfe in Anspruch nimmt, so zu begegnen, als ob er kranksei. Dieses Konzept erlaubt dem Arzt, vertraute, diagnostische und thera-peutische Techniken anzuwenden und ermöglicht erst eine fruchtbare B~ziehung zwischen Arzt und Patient. Nur auf dieser Ebene lassen sich dieoft erheblichen diagnostischen Probleme überwinden, nur so können ef-fektive Therapieansätze jenseits von Moralisieren und therapeutischemNihilismus verwirklicht werden.

Aus der Sicht des Patienten legitimiert ihn dieses Konzept, ärztliche Hil-fe zu suchen und in Anspruch zu nehmen.

Aus der Sicht der Gesellschaft legitimiert es die Bereitstellung von fi-nanziellen und personellen Mitteln für hilfesuchende Patienten, bevor eineLebercirrhose oder ein Delirium tremens oder ähnliches auftreten, ebensodie Bereitstellung von Mitteln zur Prävention.

3. Alkoholkranke in klinischer PraxisDie derzeitige Problematik im Umgang mit alkoholkranken Patienten sollim Folgenden anhand von einigen Beispielen dargestellt werden.

1. Der noch beruflich erfolgreiche 48jährige Herr A. wird infolge einer Lungen-entzündung stationär aufgenommen. Am 2. oder 3. Tage entwickelt der PatientAlkoholentzugssymptome, die den Krankheitsverlauf vorübergehend erheblichkomplizieren. Gespräche mit Angehörigen oder dem behandelnden Hausarzt (so-fern diese vom Krankenhausarzt überhaupt geführt werden) kommen zu dem Er-gebnis, daß Herr A. kein richtiger Alkoholiker sei. Er sei außerordentlich kon-taktfreudig und unterhaltsam. Spezifische Gespräche über die Älkoholproblema-tik werden abgelehnt.

2. Der 3ljährige Herr B. leidet seit einigen Tagen unter zunehmenden Ober-bauch beschwerden, die mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen. Eine Nah-rungs- und Flüssigkeitsaufnahme war in den letzten 24 Stunden fast unmöglichgeworden. Aus der Anamnese geht vor, daß Herr B. wegen entsprechenderSymptome in den letzten Jahren bereits mehrfach stationär behandelt wurde. Inden Arztbriefen der verschiedenen Krankenhäuser werden folgende Diagnosenaufgeführt: Magengeschwürsleiden, erosive Gastritis, Leberparenchymschaden,Hepatopathie, Verdacht auf Pankreatitis. Darüber hinaus wurde Herr B. in denletzten 3 Jahren dreimal stationär wegen Traumata behandelt (Comotio, Rippen-frakturen, Oberarmfraktur). Im Verlauf der jetzigen stationären Behandlungfällt eine Polyneurophatie auf, die erstmals den Verdacht auf eine Alkoholkrank-heil lenkt. Nach etwa 3 Wochen hat sich der Zustand des Pat. deutlich gebessert:er fühlt sich so wohl wie seit Monaten nicht mehr. Die Entlassung erfolgt mit der

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ernsten Ermahnung, keinen Alkohol mehr zu trinken oder wenigstens den Kon-sum stark einzuschränken. Der Vorschlag, das Suchtproblem auf einer entspre-chenden psychiatrischen Station behandeln zu lassen, wird von Herrn B. mit denWorten abgelehnt, er kenne jetzt sein Problem und würde damit allein fertig.Schon 4 Wochen später wird dieser Patient als akuter Notfall mit einer hä-morrhagisch-nekrotisierenden Pankreatitis erneut stationär aufgenommen. HerrB. wird noch am gleichen Tag operiert. Komplizierend kommt es in den nächstenTagen zu einer ausgeprägten Pneumonie und zu akutem Nierenversagen. Trotzaufwendiger Intensivmaßnahmen (Beatmung, Hämodialyse) verstirbt Herr B. JOTage später. Gespräche mit der Ehefrau - während der akuten Phase zum erstenMal geführt - ergeben, daß Herr B. seit über JO Jahren einen erheblichen Alko-holabusus betreibt und bereits eine Woche nach der letzten Entlassung seine altenTrinkgewohnheiten wieder aufgenommen hat.3. Der 50jährige Herr C. wird wegen einer bedrohlichen gastrointestinalen Blu-tung aufgenommen, als deren Ursache sich eine Oesophagusvarizenblutung her-ausstellt. Nachdem das akute Krankheitsbild beherrscht werden konnte, ergebenweiterführende Untersuchungen folgendes Bild: Herr C. leidet an einer Leber-cirrhose mit ausgeprägter portaler Hypertension, die zu einer Varizenbildung desStadiums 3/4 geführt hat. Unter sehr sorgfältiger und kritischer Berücksichti-gung aller Befunde, die selbstverständlich Untersuchungen wie Laparaskopie,Oesophagogastroskopie, Spleneportographie und eine detaillierte Laboratori-umsdiagnostik einschließen, wird mit dem Patienten und seiner Ehefrau über diezugrundeliegende Erkrankung und die Schwere der Komplikationen ausführlichgesprochen. Therapeutisch wird die Durchführung einer sogenannten portocava-len Shunt-Operation dringend empfohlen, der der Patient zustimmt. Das Pro-blem »Alkohol« wird nicht einmal angesprochen. (Im Jahre 1979 wurde auf demdeutsch-österreichischen Kongreß für Intensivrnedizin das Thema Oesophagus-varizenblutung in Vorträgen und Diskussionen etwa I 1/2 Stunden behandelt.Das Wort »Alkohol« wurde nicht einmal erwähnt. Der Anteil von Varizenblu-tungen auf dem Boden einer alkoholtoxischen Lebercirrhose beträgt heute inwestlichen Industrienationen über 900/0.)

4. Frau D., eine 3Sjährige Hausfrau, konsultiert ihren Hausarzt wegen Unruhe-zuständen, Angstgefühlen und Schlafstörungen. Sie sei beunruhigt über den zu-nehmenden Alkoholmißbrauch, der ihr diese Zustände erleichtere. Der Hausarztverordnet ihr Valium und weist eindringlich darauf hin, den Alkoholabusus ein-zuschränken.5. Rettungsstelle - 1. Hilfe an einem Sonnabend 23 Uhr: Mit Herrn E., der alsAngestellter beim Senator für Inneres beschäftigt ist und seit 3 Stunden unter hef-tigen Nierenkoliken leidet, wird etwa gleichzeitig mit der Feuerwehr Herr F. in al-koholischem Rauschzustand aufgenommen. Es ist der IS. Patient an diesemSonnabend, der mit entsprechendem Krankheitsbild aufgenommen werden muß,und für Herrn F. ist es die 4. stationäre Aufnahme in diesem Monat. Er wirkt wiefast alle anderen äußerlich völlig verwahrlost, mit von Erbrochenem stark ver-schmutzter Kleidung, eingenäßt und eingekotet. Es gelingt nur mühsam, denlautstark schimpfenden, aggressiven Herrn F. zu versorgen. Gegen 3 Uhr wirdHerr E., der nach schmerzlindernder Injektion zur Ruhe gekommen war, durchHerrn F. aufgeweckt, der polternd in sein Zimmer eingedrungen ist und unge-

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schickt seine Kleidung durchwühlt, auf der Suche nach Zigaretten. Der über die-ses Vorkommnis verständlicherweise empörte Herr E. ruft nach Schwestern unddiensthabendem Arzt und kündigt Konsequenzen durch eine massive Beschwerdebei ärztlichem Direktor und der Ärztekammer an. Am Sonntag um 8 Uhr habenalle 18 chronisch Alkoholkranken vom Samstag die Rettungsstelle verlassen, nur5, die während der späten Nacht- und frühen Morgenstunden eingeliefert wur-den, müssen noch überwacht werden.Diese Beispiele sollen die tägliche Praxis im Umgang mit chronisch Alko-holkranken veranschaulichen und auch die üblichen Fehler aufzeigen, diedurch die behandelnden Ärzte gemacht werden. Von Clark? wurden meh-rere Gründe angegeben, die für das Fehlverhalten verantwortlich gemachtwerden:

1. An erster Stelle steht eine Unkenntnis über die vielschichtige Sympto-matologie, die durch einen chronischen Alkoholismus hervorgerufenwird. Medizinische Erfahrungen insbesondere der letzten Jahre lassen denSchluß zu, daß es kaum ein internistisches Krankheitsbild gibt, bei demAlkohol nicht eine wesentliche Rolle als ätiologischer Faktor spielen kann.Alkoholfolgekrankheiten werden in der Praxis den im wesentlichen natur-wissenschaftlich fundierten Konzepten der heutigen Medizin gemäß dia-gnostiziert und behandelt. Die medikamentöse oder operative Behandlungist ausgerichtet auf das aktuelle Leiden; das Suchtverhalten selbst als we-sentlich krankmachender Faktor ist in der Regel kein Gegenstand ärztli-cher Intervention.

2. Der zweite Grund liegt in einer resignierenden Einstellung des Arztesgegenüber Patienten mit Alkoholproblemen, die seiner Meinung nach wil-lentlich Selbstzerstörungstendenzen zeigen. Dies führt zu einer ärztlichenHaltung, die in Hoffnungslosigkeit und Frustration besteht.

3. Der dritte Grund ergibt sich aus Kontaktproblemen zwischen Arztund Patient. Alkoholkranke wirken häufig ängstlich, labil, verantwor-tungslos, unzuverlässig; reizbar, aggressiv - Eigenschaften, die bei vielenbehandelnden Ärzten zu wenig Hilfsbereitschaft führen. Es entwickeltsich im Gespräch Arzt/Patient oft eine negative, emotionsgeladene Atmo-sphäre, die es selbst dem engagierten Arzt unmöglich macht, eine vertrau-ensvolle, wirksame Kommunikation aufzubauen.

4. Schwierigk~itenbei der DiagnosesteUungHausärzte (Allgemeinmediziner/Internisten) und Krankenhausärzte ver-schiedenster Fachrlchtungen sehen sich heute einer Vielzahl von Proble-men bei der DiagnosesteIlung der Alkoholkrankheit gegenüber. Der ätio-logische Zusammenhang wird häufig nicht erkannt, da die überwiegendeMehrzahl der Patienten nicht wegen ihres Alkoholmißbrauchs, sondernwegen ihrer zahlreichen psychischen, psychosozialen und somatischen Be-schwerden den Hausarzt aufsuchen bzw. in einem Krankenhaus aufge-

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nommen werden. Die Diagnose »offensichtlicher« Fälle wird dabei kaumSchwierigkeiten bieten: ein Patient mit Entzugssymptomen bis hin zumDelirium tremens trinkt unkontrolliert und ist alkoholkrank. Ein Patient,der nüchtern wirkt, aber einen hohen Blutalkoholspiegel hat, ist alkohol-tolerant und somit alkoholkrank. Weiterer Beweise der Alkoholkrankheitbedarf es bei derartigen Konstellationen nicht mehr.

Die Mehrzahl der Diagnosen wird sich aber nur mit Schwierigkeitenstellen lassen. Zuächst müssen erst einmal Verdachtsmomente in Gestalttypischer Laborparameter oder anarnnestischer Hinweise vorliegen, dieder behandelnde Arzt dann auch in einer bestimmten Richtung zusam-menfaßt. Er muß an das mögliche Vorliegen einer Alkoholkrankheit über-haupt erst denken. Eint: genaue Anarnneseerhebung, eine körperliche Un-tersuchung, sowie der Einsatz technischer Hilfsmittel bei der Abklärungsomatischer Leiden sind hier unumstritten.

Darüber hinaus bedarf es aber einer gezielten ärztlichen Strategie, umdie Alkholkrankheit mit ihren wiederholten Kontrollverlusten und all ih-ren Folgen für den Patienten und seine Umgebung aufzudecken.8 DerArzt muß mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen dem Patienten dasGefühl eines echten Engagements für seine Probleme geben. Nur so wirder den Zugang zu Patienten fmden, die häufig durch Tendenzen der emo-tionalen Isolation, ein reduziertes Selbstwertgefühl, eine geringe Selbstein-schätzung bis hin zum »Versager« charakterisiert sind. Häufig suchen diePatienten ihren Hausarzt erst auf, wenn ein genügend großer Leidens-druck infolge ihres somatischen Leidens besteht. Der Aufarbeitung ihresSuchtproblems werden sie Widerstand entgegensetzen. Die öffentlicheDiskriminierung der Alkoholkrankheit erschwert die Diagnosefmdung er-heblich.

5. BehandlungsproblemeTraditionell wird die Behandlung der Alkoholkrankheit heute fast aus-schließlich von psychiatrischen Kliniken durchgeführt. Bei der großenZahl Alkoholkranker bedeutet dies, daß erstens überhaupt nur eine kleineMinderheit dieser Patienten behandelt wird und daß zweitens diese Be-handlung einsetzt zu einem Zeitpunkt, wo bereits erhebliche körperliche,psychische und soziale Schäden aufgetreten sind, die zum Teil irreversibelgeworden sind. Die angebotenen Behandlungsprograrnme sind darüberhinaus langwierig und erheblich kostenintensiv. Auf Grund der heute vor-liegenden Forschungsergebnisse muß zudem bezweifelt werden, daß dieserAufwand zwangsläufig zu besseren Behandlungsergebnissen fÜhrt. Derenglische Psychiater Edwards zieht aus diesen Überlegungen den Schluß,daß die Behandlungskonzepte generell weniger intensiv und aufwendigsein sollten als bisher üblich. Es sei möglicherweise humaner und effekti-ver, mit geringerem Aufwand mehr Patienten zu behandeln. Zitate: »It

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could be considerably more humane, and cost-effective, to redeploy pre-sent services so as to offer much less intensive help to many more people... « - » ... individual patients and their families should certainly be offe-red help which is personal to their needs, but the median intensity of inter-vention should be set very much lower than has become popular.«?

Aus der beschriebenen Situation ergibt sich, daß heute zur BetreuungAlkoholkranker in verstärktem Maße praktische Ärzte, Ärzte der Allge-meinmedizin und Internisten herangezogen werden müssen. Können sieeine derartige Behandlung übernehmen? In den Studiengängen der hiesi-gen medizinischen Fakultäten taucht die Beschäftigung mit der Alkohol-krankheit, wenn überhaupt, nur ganz vereinzelt auf. Es gibt heute für denMedizinstudenten keine umfassende Wissensvermittlung auf dem Gebietdes Alkoholismus - im Gegensatz zu anderen westlichen Industrienatio-nen. Erwähnt sei z.B. das Projekt »Cork« der Kroc Foundation an derDartmouth Medical School, Hanover, N.H. in den U.S.A.s Seit 1977 gibtes für die dortigen Studenten ein studienbegleitendes Curriculum über denAlkoholismus, das mittlerweile an vielen Universitäten übernommen wor-den ist. Während des gesamten Studiums wird der Wissensstand immerwieder überprüft, wobei anfangs sogar die persönliche Einstellung desStudenten selbst zum Alkoholismus Gegenstand der Befragung ist.

»Emphasis is put on integrating the subject of alcohol into existingcourses at the medical school, because alcoholics and alcoholism have animpact on virtually all medicine's areas of concern from the kidney to thebrain to the personality.ef Der deutsche Student aber verläßt die Universi-tät ohne wesentliche Kenntnisse der vielschichtigen Probleme der Alko-holkrankheit.

Ein weiteres Problem wird sich für den behandelnden Arzt in der beste-henden Gebührenordnung ergeben. Nachdem bisher Dargestellten wird essich um eine sehr patientenorientierte und zeitaufwendige Behandlunghandeln müssen, die in den bisherigen Abrechnungsziffern keine entspre-chende Korrelation findet. In der technisch orientierten Medizin mit ihrerBetonung entsprechender Leistungen ist die Gesprächsbereitschaft und-fähigkeit verkümmert, die Zeit dazu nicht vorhanden.

Seit der Veröffentlichung der erwähnten Studie von Edwards und Mit-arbeitern im Jahre 1977 über »treatment« und »advice« alkoholkrankerPatienten wird mehr und mehr davon ausgegangen, daß die Behandlungs-konzepte für diese Patienten im allgemeinen weniger kosten- und persa-nalintensiv sein sollten als bisher. 9

Im Beobachtungszeitraum dieser Studie wurde die »treatment«-Gruppenach den herkömmlichen Strategien der Psychiatrie behandelt. In der»advicec-Gruppe wurde zunächst mit dem Patienten allein, später dannauch mit seiner Ehefrau zusammen ein Gespräch über alle Aspekte seinerKrankheit geführt. Umfassende Erhebungen zur Einschätzung des Sucht-

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Die Alkoholkrankheit :- kein medizinisches Randproblem 97problems, der Auswirkungen, seiner möglichen Verursachung und dieFestsetzung des Behandlungsplanes waren hier enthalten. Edwards undMitarbeiter sind der Meinung, daß solche ganz detaillierten Gesprächeselbst schon einen erheblichen therapeutischen Wert haben.

Zum ersten Mal seit längerer Zeit ist die Mehrzahl der Patienten ge-zwungen, sich mit ihrer Krankheit zu beschäftigen. Die aktive Beteiligungdes Patienten an der Rekonstruktion seiner Krankheit, der Folgen seinesTrinkens, konfrontieren ihn mit einem Bild, das er vorher nicht gesehenhat oder nicht sehen wollte. In einem Beobachtungszeitraum von einemJahr wurden diese Patienten dann weitgehend sich selbst überlassen. DerVergleichbeider Gruppen ergab danach anhand verschiedener Parameterkeinen Unterschied im Behandlungsergebnis.

Es bietet sich an, Behandlungsprogramme wie sie von Edwards undMitarbeitern in ihrer »advicec-Gruppe entwickelt wurden, als Basis einerallgemein-ärztlichen Behandlung von alkoholkranken Patienten zu über-nehmen. Nur mit solchen, nicht kostenintensiven Konzepten erscheint esmöglich, der großen und zunehmenden Zahl von alkoholkranken Patien-ten ein medizinisches Behandlungsangebot zu machen. Voraussetzunghierfür aber ist, daß sich die Ärzte für die Behandlung der Alkoholkrank-heit zuständig fühlen und eine entsprechende Kompetenz wie in anderenBereichen der Medizin erwerben.

AnmerkungenI Lieber, Ch.S.: Pathogenesis and early diagnosis of alcoholic liver injury.

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(1980),6385 Alkoholismus - Eine Information für Ärzte. Hrsg. Deutsche HauptsteUe ge-

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Am.J.Med. 71 (1981), 2758 Learning about alcoholism: a »rnust« for physicians. J.Am.med.Ass. 245

(1981), 10059 Edwards. G. et. ai.: Alcoholism: a controlled trial of »treatrnent« and »advi-

ce« J.Stud.Alc. 38 (1977), 1004

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