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Die Anfdnge der Funktionalanalysis und ihr Platz im Umwiilzungsprozefl der Mathematik um 1900 REINHARD SIEGMUND-SCHULTZE Vorgelegt yon M. KLINE Inhaltsiibersicht Kap. I: DieFunktionalanalysis und der Strukturwandel der Mathematik um 1900. -- Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kap. II: Unterschiedliche Oberg/inge vom Endlichen zum Unendlichen (VoLTERRA, LgvY-HILBERT-FR~CHET) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Kap. III: Die Priorit/it der topologischen Gesichtspunkte (AscoLi, VOLTERRA, PIN- CHERLE, ARZEL~k) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kap. IV: Die Entstehung der Fr6chetschen Theorie des metrischen Raums in der franz/Ssischen Schule der Theorie der reellen Funktionen ............ 49 Kap. V: Der Satz von RIESZ und FISCHER. -- SchlufSbemerkungen ....... 63 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Kapitel I Die Funktionalanalysis im Strukturwandel der Mathematik - EinIeitung und Aufgabenstellung Diese Arbeit I will zun~chst einen Beitrag zur weiteren Aufhellung von Vor- und Frtihgeschichte der Funktionalanalysis leisten. Bekanntlich entstand die Funktionalanalysis aus mathematischen Problemen, in denen Funktionen als (verallgemeinerte) Unbekannte aufgefaBt werden konnten; die beiden haupt- sfichlichen mathematischen Quellen waren die Variationsrechnung und die Theorie der linearen Integralgleichungen. Die aus der Integralgleichungstheorie und der damit zusammenh/ingenden Behandlung verallgemeinerter Problemstellungen der linearen Algebra stammenden hnpulse sind bereits sehr umfassend vor allem in den Arbeiten von BERNKOPF [1] und [2], sowie HELLINGER[1] untersucht wor- den. Dies ist jedoch nicht der Fall ftir die in der Tradition der Variationsrechnung 1 Stark gekfirzte und iiberarbeitete Fassung der Inauguraldissertation des Verfas- sers (Halle 1978, 226 S.), die von Prof. H. WUSSINa (Leipzig) betreut wurde. Vgl. auch das zugeh6rige Autorreferat SIEGMUND-SC~ubTZE[2].

Die Anfänge der Funktionalanalysis und ihr Platz im Umwälzungsprozeß der Mathematik um 1900

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Die Anfdnge der Funktionalanalysis und ihr Platz im Umwiilzungsprozefl der Mathematik um 1900

REINHARD SIEGMUND-SCHULTZE

Vorgelegt yon M. KLINE

Inhaltsiibersicht

Kap. I: DieFunktionalanalysis und der Strukturwandel der Mathematik um 1900. -- Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kap. II: Unterschiedliche Oberg/inge vom Endlichen zum Unendlichen (VoLTERRA, LgvY-HILBERT-FR~CHET) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Kap. III: Die Priorit/it der topologischen Gesichtspunkte (AscoLi, VOLTERRA, PIN- CHERLE, ARZEL~k) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kap. IV: Die Entstehung der Fr6chetschen Theorie des metrischen Raums in der franz/Ssischen Schule der Theorie der reellen Funktionen . . . . . . . . . . . . 49 Kap. V: Der Satz von RIESZ und FISCHER. -- SchlufSbemerkungen . . . . . . . 63 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Kapitel I Die Funktionalanalysis im Strukturwandel der Mathematik -

EinIeitung und Aufgabenstellung

Diese Arbeit I will zun~chst einen Beitrag zur weiteren Aufhellung von Vor- und Frtihgeschichte der Funktionalanalysis leisten. Bekanntlich entstand die Funktionalanalysis aus mathematischen Problemen, in denen Funktionen als (verallgemeinerte) Unbekannte aufgefaBt werden konnten; die beiden haupt- sfichlichen mathematischen Quellen waren die Variationsrechnung und die Theorie der linearen Integralgleichungen. Die aus der Integralgleichungstheorie und der damit zusammenh/ingenden Behandlung verallgemeinerter Problemstellungen der linearen Algebra stammenden hnpulse sind bereits sehr umfassend vor allem in den Arbeiten von BERNKOPF [1] und [2], sowie HELLINGER [1] untersucht wor- den. Dies ist jedoch nicht der Fall ftir die in der Tradition der Variationsrechnung

1 Stark gekfirzte und iiberarbeitete Fassung der Inauguraldissertation des Verfas- sers (Halle 1978, 226 S.), die von Prof. H. WUSSINa (Leipzig) betreut wurde. Vgl. auch das zugeh6rige Autorreferat SIEGMUND-SC~ubTZE [2].

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stehenden Ansgtze, die nur in vereinzelten und speziellen Beitr~gen gewfirdigt worden sind, darunter allerdings auch in einigen heute wenig bekannten Auf- s/itzen yon Mathematikern, die selbst unmittelbar an den Entwicklungen beteiligt waren. 2 Wenn im folgenden die aus der Variationsrechnung stammende Tradi- tionslinie im Vordergrund der Betrachtung stehen soll, so geschieht das nicht zuletzt in der (ira Verlauf der Arbeit weiter zu begfiindenden) l~berzeugung, dab diese Entwicklungen die wesentlichen im EntstehungsprozeB der Funktional- analysis erreichten Neuerungen gegeniiber der Analysis des 19. Jahrhunderts in sehr unmittelbarer und deutlicher Weise widerspiegeln. Insbesondere vermoeh- ten die vor allem bei FRI~CHET erreichten neuen Konzeptionen (u. a. fiber F. RIESZ) 3 im Laufe der Zeit den Charakter und die Form der aus der linearen Integral- gleichungstheorie stammenden Begriffsbildungen der Funktionalanalysis im we- sentlichen Mage mitzubestimmen. Dies beruhte auch darauf, dab die Variations- rechnung seit Jahrhunderten in der Analysis verankert war, 4 wghrend die lineare Integralgleichungstheorie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrbundert eine ver- gleichsweise junge Disziplin darstellte. So ist in der HILBERTSChen Schule der In- tegralgleichungstheorie die L6sung aktueller und dringender mathematischer Probleme eng verwoben mit der Herausbildung yon Keimen einer verallgemeinerten Analysis, wiihrend die Impulse aus der Variationsrechnung eher in die Richtung einer. Umformulierung und logischen Kliirung 5 alter Probleme gingen. Da bei dieser Umformulierung und Klarung die Notwendigkeit des Studiums der topo- logischen Aspekte der Analysis offenbar wurde, war die aus der Variationsrech- nung stammende Traditionslinie der Funktionalanalysis yon nun an eng mit der Theorie der reellen Funktionen und den Anfgngen einer allgemeinen Punktmen- gentopologie verbunden. In der vorliegenden Arbeit sollen nun insbesondere die Beziehungen zwischen der italienischen Schule der verallgemeinerten Analysis (ASCOLI, VOLTERRA, ARZEL~, PINCHERLE) und der sich auf sie griindenden fran- z6sischen Schule (HADAMARD, FR~CHET, LI~vY, G~TEAUX) untersucht werden. Da hierbei Anfiinge der Funktionalanalysis zur Sprache kommen, mul3 notwen- digerweise auch fiber Fehlschl~ige und gewisse Nebenlinien (PINCHERLE, LI~VY) berichtet werden, die nicht unmittelbar in die sich in den 20er Jahren etablierende abstrakte Funktionalanalysis einmfindeten. Insbesondere eine Diskussion der Leistungen FR~CHETS, des Sch6pfers des ,,metrischen Raums", wird abet zeigen, dab die Entwicklung yon FRI~CHETS Begriffsbildungen gar nicht voll verstanden werden kann, wenn man nicht berficksichtigt, dab FRI~CHET seine Konzeptionen st/indig an denen anderer, letztlich weniger erfolgreicher Mathematiker kontrol- lierte und sich yon diesen in bestimmten Beziehungen bewul3t distanzierte.

Es wird im folgenden davon ausgegangen, dab der Entstehungsprozef3 der Funktionalanalysis, dieser abstrakten, weitreichenden und fiir das Bild der too-

2 Vgl. FR~CHET [7], [9], HADAMARD [61, [7], L~VY [1], [2]. MEDVEDEV [2], SANGER [l], TATON [1] sowie WINTER [1].

3 Besondere Bedeutung hatte der ,,Satz yon RIEsz-FISCHER". Vgl. Kap. V. 4 HA~AMARD [6], S. 11, sah die Variationsrechnung als den ~iltestenTeil des ,,calcul

fonctionnel" an. s Die Bemiihungen um die Rettung des sogenannten ,,DIRICHLETschen Prinzips"

der Variationsrechnung waren ein besonders starker Stimulus fiir die Neuorientierungen in der Analysis um 1900. Vgl. Kap. III sowie BROWDER [1], S, 582.

Anf~inge der Funktionalanalysis 15

dernen Mathematik charakteristischen Disziplin, wesentliche Merkmale des all- gemeinen Umw~ilzungsprozesses der Mathematik zwischen 1870 und 1930 auf- weist. Dieser tiefgreifende Stmkturwandel ~iuBerte sich in drei grundlegenden Tendenzen der Mathematikentwicklung, die nur in engstem Zusammenhang be- trachtet werden k6nnen:

1. Die Entstehung der CANTORschen Mengenlehre zwischen 1874 und 18846 und die Durchdringung der Mathematik mit der Mengenlehre, die etwa seit dem Jahre 1897 (zumindest in wesentlichen Teilen) anerkannt ist.

2. Die Anf~inge der Entstehung abstrakter, axiomatischer Strukturen 7, die Her- ausarbeitung der ,,Axiomatischen Methode" (D. HILBERT, G. PEANO u.a.) und ihre Verwendung in den mathematischen Grundlagenuntersuchungen.

3. VerS.nderungen im Verhfiltnis von Mathematik und Logik, insbesondere die Begrtindung der mathematischen, formalen Logik u.a. in den Arbeiten von G. BOOLE (1854) und G. FREGE (1879) und der Beginn der eigentlichen mathe- matischen Grundlagenforschungen, die auf Beziehungen zwischen formaler Logik und Mathematik beruhen, wobei letztere jedoch nach Entstehung ver- schiedener Positionen der Begrtindung der Mathematik (urn 1900) von sehr unterschiedlicher Art sind. s

Die drei Tendenzen des Strukturwandels sind eng miteinander verkniipft und bedingen sich gegenseitig. So ftihrte die Herausarbeitung des Programms der Axiomatik unmittelbar auf Probleme der Logik, der Aufbau der axiomatischen Analysis erforderte die Methoden der Mengenlehre. 9 Die mit der allm/ihlichen Herausbildung der Axiomatischen Methode aufkommende Tendenz zur Benut- zung indirekter Beweise und nicht konstruktiver Existenzs/itze (ein besonders aufsehenerregendes Beispiel gab HILBERT in der Invariantentheorie (1890)) ftihrte z.B. auf seiten der Logik zu Diskussionen fiber den Geltungsbereich des ,,Satzes yore ausgeschlossenen Dritten". In besonders augenf/illiger Weise sind aber alle drei obigen Tendenzen mit der Neufassung des Unendlichkeitsbegriffs *° in der Mathematik verbunden; diese Neufassung fand ihren unverhiillten Ausdruck in der Schaffung der Mengenlehre. So waren es auch in erster Linie die Antinomien der Mengenlehre (B. RUSSELL U.a.), die um 1900 die rnoderne ,,Grundlagenkrise" der Mathematik ausl6sten und zugleich die bis dahin relativ ungebrochen und ein- heitlich wirkenden drei Grundtendenzen einer verstiirkten Diskussion unterwar- fen. Dies ftihrte zur Entwicklung verschiedener Positionen der Begrtindung der

6 Es ist ein for die Einsch~itzung des Durchsetzungsprozesses der CANTORscherl Mengenlehre recht bedeutsamer Fakt, dab diese bereits 1884 in ihren wesentlichen Teilen bestand und dab die sptiteren ,,Beitr~ige zur Begrtindung der transfiniten Mengenlehre" (1895-1897, CANTOR [1], S. 282-351) weitgehend nur eine systematische, zusammen- fassende Darstellung jener Ergebnisse bringen.

7 Zum Beispiel Herausarbeitung des abstrakten Gruppenbegriffs (1882/83), des me- trischen Raums (1906) und die Axiomatisierung des K6rperbegriffs (19!0).

8 Grundlagenprobleme der Mathematik sollen bier weniger im Vordergrund stehen. Vgl. dazu z.B. BIRJUKOV [1].

9 Dies wird auch durch vorliegende Arbeit belegt. so Die Auffassung, dab eine unendliche Menge nur als ,,potentiell" unendlich, d.h.

in ihrem Werden, begriffen werden diJrfe, wurde durch den Standpunkt der Mengenlehre, die vonder ,,aktualen" Existenz unendlicher Mengen ausgeht, abgel6st.

16 R. SIEGMUND-SCHULTZI~

Mathematik (Logizismus, Intuitionismus, Formalismus), die nicht zuletzt durch philosophisch-weltanschauliche Motivationen bestimmt wurden. Der Grundlagen- streit der Mathematik flaute erst um 1930 ab, als der Strukturwandel in der Ma- thematik weitgehend (unter Benutzung der umstrittenen mathematischen Hilfs- mittel) vollzogen war und historische Argumente, die Fruchtbarkeit der neuen Methoden, zugunsten der u. a. yon CANTOR und HILBERT entwickelten Ideen sprachen.

Es lassen sich nun leicht viele historische Fakten zusammentragen, die deutlich auf den direkten Zusammenhang zwischen dem EntstehungsprozeB der Funktio- nalanalysis und jenen allgemeinen Tendenzen des Strukturwandels in der Mathe- matik hinweisen :11 So waren die Pioniere der Funktionalanalysis durchweg An- hfmger der Mengenlehre und zumindest zum Teil der Axiomatischen Denkweise. Wichtige Anwendungsgebiete der abstrakten Analysis wurden in den 20er Jahren sichtbar, insbesondere in der Quantenmechanik. Bis zum Jahre 1928 gab es nach meiner Kenntnis nur vier speziell der Verallgemeinerung der Analysis gewidmete 12 Monographien (PINCHERLE [2], VOLTERRA [5], LI~vY [1], FR~CHET [8]), von denen wiederum nur das Buch yon FRI~CHET in Form und Inhalt in etwa der modernen Funktionalanalysis entsprach. In der fiihrenden Referatezeitschrift ,,Jahrbuch tiber Fortschritte der Mathematik" erschien die Bezeichnung ,,Funktionalanalysis erstmals im Jahrgang 51 (1925), im Jahre 1934 wird der Funktionalanalysis ein eigenes Kapitel einger~iumt. 1927 erschien der erste deutschsprachige Artikel zur Geschichte der Funktionalanalysis (DoETSCH [1]), der allerdings vorwiegend der LAVLAcE-Transformation gewidmet war. Noch auf dem sechsten Internationalen Mathematikerkongreg (Bologna 1928) gab es drei verschiedene resiimierende Vortr/ige tiber verallgemeinerte Analysis (VOLTERRA [6], FRI~CHET [9], HADAMARD [7]), wobei jeder Referent eine andere Art (s.u.) der verallgemeinerten Analysis im Auge hatte. Offenbar hatte sich zu diesem Zeitpunkt der abstrakte Zugang zur verallgemeinerten Analysis noch nicht endgiiltig durchgesetzt. Nach dem ziemlich einhelligen Urteil der Historiker ist die Funktionalanalysis zu Beginn der 30er Jahre, etwa mit BANACHS Buch [2] yon 1932 und der LERAY-SCHAUDER-Theorie yon 1934, eine selbst~indige mathematische Disziplin geworden. Tatsftchlich waren zu diesem Zeitpunkt wichtige Grundprinzipien der linearen (z. B. HAHN-BANACH- Theorem) und nichtlinearen (z.B. der BANACHsche Fixpunktsatz) Funktional- analysis gewonnen, auf die die spS.tere Analysis st~indig zuriickgegriffen hat.

Das zweite Hauptziel dieser Arbeit ist es nun, den Platz des Entstehungs- prozesses der FunktionaIanalysis in jenem allgemeinen Strukturwandel der Ma- thematik etwas nfther zu bestimmen, insbesondere die bei den Bemtihungen um eine Verallgemeinerung der Analysis des 19. Jahrhunderts sich ergebenden Ten- denzen zur Einbeziehung mengentheoretischer und axiomatischer Denkweisen am konkreten historischen Material nachzuweisen. Es kann bei dieser Unter- suchung keineswegs darum gehen, den Entstehungsprozel3 der Funktionalanalysis vom entwickelten Niveau der modernen Mathematik aus ,,riickw~irts zu lesen" und aus der Selbstversffmdlchkeit der Verwendung mengentheoretischer und axio-

~1 NRheres vgl. Dissertation des Verfassers, Fugnote 1. a2 Die einfluBreichen Arbeiten von HILB~RT [3] und HAUSDORFF [1] sahen in der

Verallgemeinerung tier Analysis nicht ihr Hauptziel.

Anf/inge der Funktionalanalysis 17

matischer Methoden in der Gegenwart deren notwendiges Eindringen in die Ana- lysis urn 1900 zu schluBfolgern. Mag aus dieser Sicht die Einfiihrung jener neuen Denkweisen in die Analysis als eine Trivialit~t erscheinen (ebenso wie FR~CHETS Begriindung der Theorie des metrischen Raums (1906) heute vielfach als trivial angesehen wird) 13, so kann andererseits der mathematische Intuitionismus die Entwicklungen um 1900 m6glicherweise als verfehlt oder unn6tig betrachten. Die vorliegende Arbeit wird es aus diesen Grfinden vermeiden, yon einer logischen Notwendigkeit der Einbeziehung der neuen mengentheoretischen und axiomati- schen Konzeptionen im Interesse der Bewahrung der Fruchtbarkeit der Mathe- matik zu sprechen. Diese These w~re angesichts verschiedener konstruktivistischer Begrfindungsversuche der Mathematik und beispielsweise der Tatsache, dab die Analysis ,,bei den weitaus interessantesten Anwendungen nur metrisierbare und separable R~iume ''14 ben6tigt (so dab hier die mathematische Unendlichkeit nur in abgeschwfichter Form gehandhabt werden mul3), ohnehin zweifelhaft. Vielmehr wird im folgenden an verschiedenen Beispielen gezeigt werden, dab die Mengen- lehre historisch notwendig war ftir die Weiterentwicklung der Analysis um 1900. (Insbesondere werden Argumente daftir geliefert, dab die CANTORsche Mengen- lehre erst in ihrem vollen Umfang existieren muBte (1884), ehe Versuche zum Auf- bau einer verallgemeinerten Analysis wirklich erfolgversprechend sein konnten.) Es wird dabei auch deutlicher gemacht werden, dab Mengenlehre und Axiomatische Methode zwar zwei in ihrer Denkweise eng verwandte ideeliche Faktoren sind 15, dab sie aber beide spezifische Anteile an dem Strukturwandel der Mathematik um 1900 haben. Die Entwicklung der Axiomatischen Methode wird dabei im fol- genden in den weiteren Entwicklungszusammenhang der Entstehung der ,,struk- turellen mathematischen Denkweise" (s.u.) eingebettet, wodurch der historische Bezug zur CAUCHY-WEIERSTRASSschen Begrfindung der Analysis im 19. Jahrhundert gewahrt wird. Wie aus diesen Bemerkungen schon ersichtlich ist, werden inner- mathematische Entwicklungen in dieserArbeit yon vordringlichem Interesse sein. Das entspricht der historischen Tatsache, dab sich in der Mathematik seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (vor allem in Zusammenhang mit der Schaf- fung der CANTORSchen Mengenlehre) eine verstfirkte Bedeutung der ,,eigen- gesetzlichen", innerlogischen Entwicklungstendenzen durchzusetzen beginnt. In unmittelbarer Bezugnahme auf das Ph/inomen der Entstehung mathematischer Disziplinen ohne unmittelbare Beziehungen zu Anwendungsproblemen schrieb J. HADAMARD [8], S. 129:

,,But hardly any more typical instance in that line can be set forth than modern functional calculus ... Why was the great Italian geometer (i.e. VOLTERRA; R. S.) led to operate on functions as infinitesimal calculus had operated on numbers ... ? Only because he realized that this was a harmonious way of completing the archi- tecture of the mathematical building .. ."

Aus dieser Bedeutung der Eigengesetzlichkeit mathematischer Entwicklungs- tendenzen ergibt es sich nm so zwingender, den Entstehungsprozel3 der Funktio-

13 BERNKOPF [1], S. 41. 2,* D1EUDONN~ [2], Bd. 2, S. 6. 15 Da diese Verwandtschaft auf der Bindung an den neuen Unendlicbkeitsbegriff

beruhte, wurden auch beide Faktoren in der Grundlagenkrise kritisiert.

18 R. BIEGMUND-ScHULTZE

nalanalysis in Beziehung zu den konzeptionellen VerRnderungen zu setzen, die sich schon in der klassischen, vor allein von A. L. CAUCHY (1789-1857) und K. WEIERSTRASS (1815--1897) bis etwa zum Jahre 1870 begriindeten Analysis anbahnten. Im SchluBkapitel werden einige zusainmenfassende Bemerkungen dariiber geinacht, dab insbesondere die Entstehungsprozesse yon Funktional- analysis und (franz6sischer) Theorie der reellen Funktionen einerseits als Fort- setzung jener konzeptionellen Vefiinderungen, andererseits als Mittel zur Beseiti- gung einiger in der klassischen Analysis auftretender Unstiinmigkeiten angesehen werden k6nnen. Tatsiichlich gerieten in der klassischen Analysis gewisse Inetho- dische (weitgehende Bindung an den ,,potentiell unendlichen" Grenztibergang) und gegenstgndliche (Bindung an das Intervall und ,,klassische" Funktionen) Beschr~nkungen im Laufe der Zeit in zunehinenden Gegensatz zu den in der klassischen Analysis schon vorhandenen AnsStzen allgeineineren strukturellen Denkens (das sich u.a. in der Entwicklung des Begriffs der gleichin~.Bigen Konver- genz iiugert). Gewisse Probleine (z. B. in der FOURiER-Analysis), deren Auftauchen in unmittelbarein Zusainmenhang mit der Einffihrung der CAUCHY-WEIERSTRASS- schen Konzeptionen stand, waren innerhalb der klassischen Analysis zwar noch formulierbar, abet nicht mehr 16sbar. 16 Dariiber hinaus war in der klassisehen Analysis generell (implizit) die Verwendung einiger Schluf3weisen verankert (z. B. das Auswahlaxioin) 17, die mit der Bindung der Analysis an die ,,potentielle Un- endlichkeit" nicht in Einklang standen. Diese Arbeit kann die hier angedeuteten Ursachen ftir die Entstehung der Funktionalanalysis, die sich aus dem Zustand der konkreten Analysis uin 1870 ergaben, nicht niiher untersuchen, da sie sich den eigentlichen, zeitlich sp~ter liegenden Ans/itzen einer verallgemeinerten Ana- lysis widinen will. IInmerhin soll aber stets der enge Zusaininenhang zwischen konkreter und verallgeineinerter Analysis iin Auge behalten werden, da ja die Tragf/ihigkeit der abstrakten Funktionalanalysis weitgehend yon ihren m6glichen konkreten Realisierungen bestiinmt wird. Insbesondere soll im folgenden stets die Parallelitfit ~s der Entstehungsprozesse yon (inengentheoretischer) reeller Funktionentheorie und abstrakter Funktionalanalysis beachtet werden. (Die in der Arbeit behandelte spezifische Form der Einbettung der FR~CHETSchen Arbei- ten in die franz6sische Funktionentheorie zeigt, dab diese nicht nur Realisierung, sondern auch Inethodisches Vorbild der abstrakten Analysis war.) Zuin Abschlul3 dieser Vorbeinerkungen seien einige weitere Beschr~inkungen, denen die Arbeit unterworfen wird, sowie einige Begriffserlguterungen angezeigt:

Die subjektiven Aspekte des behandelten Strukturwandels in der Analysis, z.B. die fiir das Verst~indnis des konkreten Ablaufs jener Ver~nderungen auBer- ordenflich wichtigen Prozesse der Gew6hnung der Mathematikerschaff an neue

16 Bekanntlich wurde CANTOR durch seine Arbeiten in der FOURIgR-Analysis zU seinen ersten Inengentheoretischen Begriffsbildungen (z.B. ,,Ableitung" einer linearen Punktmenge) angeregt.

17 Dieses wurde z.B. ftir den Beweis des zentralen ,,H~ufungsstellensatzes yon BOL- ZANO-WEI~RSTRASS" (implizit) benbtigt. Vgl. auch GRATTAN-GUINNESS [1] und M~D- vrDrv [61.

is Diese Parallelit~t bestand aueh ,,geographisch" bei der Verlagerung des Schwer- punktes in diesen Forschungen yon Italien nach Frankreich. Vgl. SIr~MUND-ScHuLTZr [2].

Anf/inge der Funktionalanalysis 19

Denkweisen ~9, der Durchsetzung neuer Bezeichnungen bleiben ebenso wie beglei- tende biographische Informationen weitgehend aul3erhalb des Rahmens dieser Arbeit. Vielmehr stehen die objektive SeRe jenes Strukturwandels, die sich aus der Natur der mathematischen Objekte ergebenden neuen Anforderungen im Mittelpunkt. Aus diesem Grund wird z.B. auch auf die ffir die Weiterentwicklung der Funktionalanalysis so fruchtbare Einftihrung der geometrischen Sprache in den (noch nicht explizit existierenden) HILBERTraum U. a. durch E. SCHMmT (ab 1905) 20 nicht nochmals ausftihrlich eingegangen. Erleichterte diese Leistung einerseits das geometrische Vorstellungsverm6gen auf h6herer Ebene und trug dadurch zu einer bereitwilligeren Akzeptierung der neuen Begriffe unter der Mathematikerschaft bei, so war die geometrische Sprache andererseits in objektiver Hinsicht ein Mittel zur besseren Handhabung der in der verallgemeinerten Analysis allm/ihlich auf- tretenden unendlichdimensionalen Rgume.

Die geometrische Sprache kann so zusammengenommen als spezieller Aus- druck der allgemeinen strukturellen mathematischen Denkweise betrachtet werden. Darunter wird im folgenden (wie bereits angedeutet) eine schon in der ersten HNfte des 19. Jahrhunderts aufkommende Betrachtungsweise verstanden, die von beson- deren, vor allem anschaulichen Eigenschaften mathematischer Objekte abstrahierte, in zunehmendem Mal3e das Studium der Relationen zwischen mathematischen Objekten in den Vordergrund stellte und damit zur direkten Vorbereiterin der Axiomatisehen Methode wurde. Klassische (,,WEIERSTRASSsehe") Analysis ist die vor allem von WEIERSTRASS fest begrtindete Analysis, die durch einige, weiter oben schon genannte Beschrfinkungen, insbesondere die Bindung an den Begriff des ,,potentiell Unendlichen" gekennzeichnet ist. Moderne (konkrete und abstrakte) Analysis ist mengentheoretisch begriindete Analysis. (Sie ist also nicht notwendig abstrakt. Vielmehr wird in Abgrenzung vom Sprachgebrauch des Intuitionismus einerseits und derjenigen Mathernatiker andererseits, die das Wesen der ,,modernen Mathematik" in der Verwendung der axiomatischen Strukturbegriffe sehen, die Mengenlehre als der entscheidende neue ideeliche Faktor der modernen Analysis betrachtet, w~ihrend deren konkrete und abstrakte Aspekte eine nur auf die Gefahr der Sterilisierung der Funktionalanalysis hin zerst6rbare 21, dialekfische Einheit bilden. Diese Auffassung wird noch zu begriinden sein.) Konkrete und abstrakte Analysis werden im allgemeinen nut in Relation zueinander so genannt. Sie bezeich- nen aber auch die Extremf/ille der (m6glicherweise aufmengentheoretischer Grund- lage umgestalteten) Teildisziplinen der ,,klassischen Analysis" (Funktionen- theorie, Differentialgleichungstheorie u.a.) einerseits und der Funktionalana- lysis andererseits. Verallgemeinerte Analysis werden die Ans~itze zur fQberwindung der ,,gegenstfindlichen Beschr/inkungen" (s. o.) der klassischen Analysis (Defini- tionsbereiche, Funktionsbegriffe) genannt, die in der Tendenz zur abstrakten Analysis ffihrten. (Damit soll nicht negiert werden, dab die ,,verallgemeinerte Analysis" auch neue Methoden, z.B. die der Mengenlehre, ben6tigte. Jedoch brachte z.B. die franz6sisehe Theorie der reellen Funktionen vorrangig (!) metho- dische Verfinderungen und soll deshalb im obigen Sinne nicht als ,,verallgemeinerte

19 Hierzu vgl. SIEGMUND-SCHULTZE [1]. 2o Vgl. BERNKOPF [1], S. 46ff. 21 Vgl. BROWDER [1]. Vgl. auch Ful3note 121.

20 R. SIEGMUND-SCHULTZE

Analysis" bezeichnet werden.) Lineare Punktmengenlehre (oder lineare Punkt- mengentopologie) ist die konkrete CANTORsche Mengenlehre, die wegen der Linea- ritSt des R n ,,linear" genannt wird.

Kapitel H Unterschiedliche ~berg~inge vom Endlichen zum Unendlichen,

unter besonderer Beriicksichtigung der Definitionen des verallgemeinerten ,,Differentials" in ,,Analyse fonctionnelle"

mid ,,Analyse g6n6rale"

Mit dem schrittweisen Aufbau einer verallgemeinerten Analysis wurde nattir- lich die methodische Beherrschung der neuen mathematischen Begriffe, insbeson- dere der Grenzprozesse in allgemeineren, in der Tendenz,,unendlichdimensionalen" Mengen yon ,,Variablen" zu einer dringenden Notwendigkeit. Die franz6sische Schule der verallgemeinerten Analysis, die um 1897 yon J. HADAMARD (1865- 1963) begriindet wurde, 22 war dabei in ihrer Vorgehensweise keineswegs homogen. Sie war aus dem italienischen ,,calcolo funzionale ''23 des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts entstanden, in dem unterschiedliche Zug~,nge bereits vorgepfiigt sind. Im wesentlichen lgBt sich der calcolo funzionale in drei Unterstr6mungen unterteilen. In der heutigen Terminologie gesprochen, untersuchte die erste dieser Unterstr6mungen vor aUem Funktionale (VOLTERRA), die zweite allgemeine Fragen der Punktmengentopologie (ASCOLI, ARZELA), die dritte dagegen allge- meine Operatoren (PINCHERLE, BOURLET). Die letzte, urspriinglich zentrale Str6- mung des calcolo funzionale kam etwa um die Jahrhundertwende fast zum Er- liegen und istjedenfalls kein Schwerpunkt des franz6sischen ,,calcul fonctionnel". Sie ist in der modernen Funktionalanalysis in einem h6heren Sinne enthalten und hat Anteile an der Entstehung der ,,Operatorenrechnung" (u.a. in der Theorie der LAt'LgcE-Transformation). 2~

Im calcul fonctionnel werden die beiden erstgenannten Str6mungen des cal- colo funzionale als ,,Analyse fonctionnelle" und als ,,Analyse g6n6rale ''25 fort- gesetzt. Jeweils typische Vertreter sind P. L~vv 0886-1971) und M. FRt~CHET (1878-1973). Ein Vergleich dieser beiden Begrtindungsversuche einer verallge- meinerten Analysis mit dem HILBERTSChen Ansatz, sowie eine Untersuchung der zwischen diesen drei Ans~itzen stattfindenden Wechseiwirkungen sind auBeror- dentlich aufschluBreich, da es sich hierbei um die Analyse der realen Dynamik des historischen Prozesses handelt, an dessen Endpunkt die moderne Funktional- analysis stehen sollte. Es wird deutlich werden, dab es sich bei diesen drei Ansiit- zen um Reprfisentanten dreier verschiedener historischer Entwicklungsstufen auf dem Wege zur modernen Analysis handelt. Auch der HILBERTsche Beitrag erhglt erst durch einen Vergleich mit den L~vvschen und FR~CI-IETSChen Ans~itzen seine

22 Vgl. Kap. IV und Ful3note 41. 23 Die Bezeichnung ,,calcolo funzionale" stammt offenbar yon PINCHERLE und wird

yon diesem sp~itestens 1895 eingeffihrt. Vgl. MEDVEDEV [3], S. 77. 24 Vgl. DOETSCH [1] sowie auch FuBnote 76. 25 Die Bezeichnung iibernahm FR~CHET Yon E. H. MOOR~ (,,general analysis" um

1904).

AnfKnge der Funktionalanalysis 21

richtige historische Einordnung; sein Platz im Vorfeld der Funktionalanalysis, seine N~ihe zur modernen Mathematik und seine Distanz zu ihr (vor allem wegen des fehlenden axiomatischen Aufbaus der HILBERTschen Theorie) werden so klarer bestimmbar. Die beiden grundlegend voneinander verschiedenen Herangehens- weisen an die Verallgemeinerung der Analysis, die yon ,,Analyse fonctionnelle" und ,,Analyse g6n~rale" gew~ihlt werden, beschreibt FRI~CHET, der letztere vertritt, im Jahre 1938 folgendermaBen ([12], S. 69):

,,Mais c'est un autre esprit qui anime l'Analyse g6n4rale. Alors que l'Analyse fonc- tionnelle se place ~t c6t4 de l'Analyse classique et cherche h r4duire ses probI6mes ceux de l'Analyse classique, l'Analyse g6n4rale se r6clame des principes qui ont engendr6 le Calcul vectoriel et la th4orie des groupes abstraits. Au lieu de proc4der par analogie, elle prochde par unification. Au lieu de ramener la solution d'un prob- lhme nouveau/t celle d'un probl6me d4j~t r6solu, elle cherche ~t d6gager dans la solu- tion d'un probl6me r4solu ce qui n'est pas sp6cial ~t ce probl6me. Elle s'efforce d'61i- miner les restrictions qui ne sont pas essentielles et d'obtenir ainsi directement et d'un seul coup la solution du probl6me ancien comme du probl6me nouveau."

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird diese Aussage best/itigt und es wird etwas genauer untersucht werden, welche Auswirkungen jene unterschiedlichen Heran- gehensweisen auf die konkrete Gestalt des jeweiligen Ansatzes einer Verallgemei- nerung der Analysis hatten. Bei diesen Bemfihungen einte die frfihen ,,Funktio- nalanalytiker" zwar zun/ichst die gemeinsame Oberzeugung, dab die neue Analysis eine direkte Fortsetzung, Erweiterung und Verallgemeinerung der klassischen Analysis sein mfisse, in deren Mittelpunkt der Funktionsbegriff gestanden hatte. (HADAMARD beispielsweise beginnt seine Abhandlungen fiber die Geschichte des ,,calcul fonctionnel" stets mit einem AbriB der Evolution des Funktionsbegriffs seit Beginn der Analysis. FR~CHET sieht in seinem Buch [8] (1928) nut eine Vor- bereitung auf die eigentlichen Probleme der ,,Analyse g6n4rale" und stellt weitere Arbeiten in Aussicht, die sich vorrangig mit der Theorie der Operatoren besch~ifti- gen sollten. 26 VOLTERRA und PINCHERLE strebten (vgl. Kap. III) nach einer Ver- allgemeinerung der Theorie der komplexen Funktionen.) Es ist jedoch aus dem Btickwinkel allgemeinerer historiologischer Fragestellungen gerade auBerordentlich interessant, zu beobachten, wie die ursprfinglichen, mit den Anforderungen kon- kreter analytischer Probleme einhergehenden Intentionen der friihen Funktional- analytiker bezfiglich einer Ausdehnung und Verallgemeinerung der Analysis im Verlauf des historischen Prozesses schrittweise ver~indert, dutch neue Konzeptio- nen erg~inzt wurden, wie das urspriingliche Ziel einer Untersuchung verallgemeiner- ter Funktionen zun/ichst hintangestellt werden muBte und historisch-logische Notwendigkeiten das Vordr~ingen struktureller, vor allem topologischer Unter- suchungen an den verallgemeinerten Definitionsmengen jener Funktionen be- wirkten.

1. Analyse fonctionnelle

Die ersten verallgemeinerten Funktionen, die mit den Funktionen der moder- nen Funktionalanalysis unmittelbar verwandt sind, waren die ,,funzioni di linee" -- ,,Linienfunktionen" -- des Italieners V. VOLTERRA (1860-1940), die er im Jahre

26 FRI~CHET [8], S. 21.

22 R. SIEGMUND-SCHULTZE

1887 definierte. 2~ Es handelt sich hierbei um eine Vorform des heutigen abstrakten (nichtlinearen) Funktionals. Die Linienfunktionen waren auf Mengen von steti- gen Kurven oder Funktiol~en (also Mengen von ,,Linien") erklftrt, die in Italien schon seit etwa 1884 (AScOLI u.a.) untersucht worden waren. VOLTERRA hatte bei seinen Untersuchungen Probleme der Variationsrechnung und der linearen Inte- gralgleichungstheorie im Auge 2s und entsprechend interpretierte er auch seine Linienfunktionen ([5], S. 14/15):

,,Or, si l'on 6tudie le probl6me des isop6rim~tres et si l'on regarde une aire plane comme d6pendant de la courbe qui la renferme, on a une quantit6 qui d6pend de la forme d'une courbe, ou ce qu'on appelle aujourd'hui une fonetion d'une ligne. 29 Puisqu'une ligne peut 6tre repr6sent6e par une fonction ordinaire, l'aire peut 6tre regard6e comme une quantit6 qui d6pend de routes les valeurs d'une fonction. Elle est 6videmment une fonction d'une infinit6 de variables. En effet, on peut l'envisager eomme un cas limite d'une fonction de plusieurs variables en supposant que leur hombre croisse ind6finiment, de la marne mani~re qu'une courbe peut fitre regard6e comme le cas limite d'un polygone dont le hombre des c6t6s augmente ~t l'infini."

'VOLTERRA betrachtete also seine Linienfunktion als Grenzfall einer Funktion yon endlich vielen Variablen. Mit seiner Definition der Linienfunktion aus dem Jahre 1887 kann VOLTERRA als der eigentliche Begrfinder der Funktionalanalysis an- gesehen werden, 3° denn er untersuchte erstmals nicht mehr die konkret repr~isen- fierten , ,Funktionale" der Variationsrechnung, sondern stellte den (DIRICHLET- schen) Funktionsbegriff ausdrficklich a 1 in den Vordergrund. Mit Hilfe des WEIER- STRASSschen Begriffs der e-Nachbarschaft yon stetigen Funktionen (1879) konnte VOLTERRA die Stetigkeit seiner Linienfunktionen definieren ([1], S. 99). a2 Mit dieser Stetigkeitsdefinition (letzflich auf Grundlage der Maximumnorm in C[a, b]), die (in konkreter Form) v611ig dem Stetigkeitsbegriff der modernen Funktional- analysis entspricht, wurde VOLTERRAS Theorie sowohl Anknfipfungspunkt ffir FR~CHETS ,,Analyse g6n6rale" (fiber ARZEL~k) als auch ffir L~vvs ,,Analyse fonc- tionnelle" (s. u.). Jedoch war jene Stetigkeitsdefinition natfirlich nur der Ausgangs- punkt der Linienfunktionentheorie. In bezug auf ihre weitere Bedeutung ffir die Funktionalanalysis v611ig anders, ja geradezu gegensatzlich liegen die Dinge mit VOLTERRAS Definition der ,,Variation" einer Linienfunktion:

27 VOLTERRA [1], S. 97. VOLTERRA w/ihlte zun~ichst andere Bezeichnungen ftir diesen Begriff, die den Titeln von [1] und [2] zu entnehmen sind. Erst 1889 ffihrte er die einfachere Bezeichnung ,,fonction des lignes" ein, der die italienische ,,funzicne di linee" (vgl. ARZELk [1]) entspricht.

28 VOLTERRA verband damit unmittelbar Vorstellungen tiber physikalische Sach- verhalte. Vgl. z.B. VOLTERRA [4], S. 233.

29 Hervorhebungen stammen im folgenden stets vom jeweiligen Autor des Zitats. 3o VOLTERRAS wesentliche Leistungen sind offenbar der tiber ARZELA, Ztl FRI~CHET

reicbende EinfluB, die Definition der ,,Variation", die tiber HADAMARD in die moderne Analysis gelangte, sowie seine Arbeiten in der IntegralgleichungstheorJe, die etwas vermittelter (tiber FREDHOLM, I-IILBERT) wirkten (vgl. z.B. MONNA [1]).

al Vgl. VOLTERRA Ill , S. 97 und [4], S. 233. a2 Vgl. auch BERNKOPF [1], S. 34.

Anf/inge der Funktionalanalysis 23

VOLTERRA gab 1887 folgende Formel far die ,,erste Variation" seiner Linien- funktionen an der festen ,,Stelle" (das ist hier eine stetige Funktion) ~v(x) an ([1], S. 102) :

B

(1) ~y I I -- f y'] [qJ(x), t] 1 • 0q~(t) dt. A

Dabei ist y'] [q~(x), t] I die vorher definierte ([1], S. 99, unter Zuhilfenahme verall- gemeinerter Differenzenquotienten, in deren Nenner Integrale der der Funktion q~(x) in einer gewissen Umgebung von t erteilten stetigen Variationsfunktionen stehen, wobei an y' bestimmte zus~itzliche Regularit/itsforderungen gestellt wur- den) ,,erste Ableitung" (,,derivata prima") der Linienfunktion y] [q0(x)]] an der Stelle t aus [A, B] bei festem ~v(x) -- ein Begriff, der (multipliziert mit dt) die par- tielle Ableitung nach einer Variablen t i m Fall yon Funktionen endlieh vieler Variabler ersetzt? a Die Integraloperation in (1) entspricht der Aufsummation der einzelnen Terme im herk6mmlichen ,,vollst~indigen Differential". Besonders wichtig ffir das Verstfindnis von VOLTERRAS Ansatz einer verallgemeinerten Ana- lysis ist nun der konkrete Weg, fiber den er die Darstellung (1) der ,,ersten Varia- tion" erhfilt.

Getreu dem Vorgehen der klassischen Variationsrechnung (LAGRANGE n.a.) erteilt VOLTERRA der stetigen Funktion q)(x) eine stetige Variation dq)(x) = e • ~0(x), wobei e ein variabler Parameter, ~0(x) eine feste stetige Funktion in [A, B] ist, und so gelingt es ihm schlieBlich, die Variation aus einem klassischen (!) Differential-

dy quotienten-~e durch Differentiation nach dem Parameter e zu berechnen ([1],

S. 100-102). Dabei sind

dy limAY limY I [q~(x) -}- e , ~0(x)] I -- y] [~(x)] l (2) d e - - ~ o ~ =~-,o e '

dy ay = e . ~

dy wobei ffir-~e ein Integralausdruck gewonnen wurde, der (1) entspricht (wenn

dort ~v : ~v gesetzt wird). Dies ist ein offensichtliches Analogon zum klassischen ,,Hinfiberspielen" des jeweiligen Problems der Variationsrechnung auf eine so- genannte ,EuL~R-LA~RANGEsche-Differentialgleichung". Der wichtige Unter- schied besteht bei VOLTERRA nur darin, dab seine Linienfunktionen y im Gegensatz zu den Verh/~ltnissen in der Variationsrechnung nicht konkret reprdsentiert sind, d.h. nicht durch vorgegebene analytische Operationen, insbesondere Integrale, dargestellt. (Hieraus entsprangen auch die eigentlichen inhaltlichen Probleme der Linienfunktionentheorie. Insbesondere zeigte es sich bei der Suche nach einer

dy (s.o.), dab analytische. konkreten Darstellung ffir den Differentialquotienten ~-e

Fragestellungen entstehen konnten, die neuartige methodische Hilfsmittel, z.B.

3a Vgl. BERNKO~'F [1], S. 34 Formel (2).

24 R. SIEGMUND-ScHuLTZE

die der Mengenlehre, erforderten.) a* Es ist jedoch deutlich geworden, dab VOLTERRA an der Stelle, wo er den Ableitungsbegriff auf seine Linienfunktionen tibertragen will, yon seinem urspriinglichen Weg, Funktionen als selbst~indige Elemente in ,,Funktionenr~iumen" zu betrachten, wie er ihn noch bei seiner Definition der (verallgemeinerten) ,,Stetigkeit" eingeschlagen hatte, abweicht, und danach strebt, die Aufgaben der verallgemeinerten Analysis auf Aufgaben der klassischen Analysis zuriickzufiihren. Dies ist aber das typische methodische Vorgehen der ,,Analyse fonctionnelle".

Das ist wohl auch der Hintergrund fiir L~vYs Ansicht (1971), dab mit VOL- TERRAS Definition der Funktionalableitung die Funktionalanalysis geboren wurde ([2], S. 17). P. Lt~vY hat VOLTERRAS Untersuchungen etwa seit dem Jahre 1910 fortgesetzt, bevor er sich seit den 20er Jahren verst~irkt der Wahrscheinlichkeits- theorie zuwandte, durch die er haupts/ichlich bekannt geworden ist. (Er gilt nach DmUDONNf~ [3], S. 140, gemeinsam mit A. N. KOLMO6OROV (geb. 1903) als Be- grtinder der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie.) Im Zentrum seiner funktio- nentheoretischen Untersuchungen standen L~vYs Bemiihungen um eine ,,Funktio- nalanalysis" -- dieses Wort leitet sich yon L~vYs 1922 erschienenem Buch [1] ,,Lemons d'Analyse fonctionnelle" (im folgenden zitiert als ,,Lemons") her. Lt~vy untersuchte in erster Linie sogenannte ,,Differentialgleichungen in Funktionalab- leitungen"; dies war ein vor allem an der Variationsrechnung orientiertes Unter- nehmen, das jedoch, wie L£vY selbst eingestand as, zumindest zur damaligen Zeit (urn 1920) wenig Aussichten auf baldige Anwendungen bot.

Das Grundprinzip der L~vYschen ,,Analyse fonctionnelle" ist wieder (wie bei VOLTERRA), dab jede grundlegende Aussage und jeder Grundbegriff seiner Theo- rie yon Funktionen unendlichvieler Variabler direkt durch Grenztibergang (n-+ ~ ) aus entsprechenden Aussagen und Begriffen ftir Funktionen yon n Ver~inderlichen gewonnen wird; dies gilt tibrigens nicht nur ftir L~vYs Unter- suchung yon verallgemeinerten ,,Differentialgleichungen", sondern auch ftir seine Ubertragung (ab 1918) der Begriffe ,,Integral" und ,,MaB" auf die verallgemeiner- ten Funktionen bzw. ihre Definitionsmengen (vgl. J. DIEUDONNt~ [3], S. 139/40). Die zentrale Stellung, die jener ,,passage du fini/~ l'infini" in L~vYs Theorie hat, wird yon diesem mit folgendem Zitat beschrieben (Lemons, S. 5):

,,Des progr6s si rapides que Font 6t6 ceux du calcul fonctionnel n'auraient sans doute pas 6t6 possibles si l'6tude de chaque chapitre du calcul fonctionnel n'6tait facilit6e par la connaissance du chapitre correspondant de l'analyse ordinaire, et si le proc6d6 qui permet de passer de celui-ci ~t celui-1/t n'6tait pas toujours le m~me: le passage du fini dl l'infini. C'est encore M. Volterra qui a mis en 6vidence le parti ~t tirer de l'utilisation syst6matique de ce proc6d6."

In jedem neuen Kapitel yon L~vYs Buch [1] wird diese strenge Parallelit~it ge- wahrt und jener LJbergang erneut vollzogen (Legons, S. 8). Ein recht typisches

a, Um die konkrete Form (1) der Variation (unter gewissen Regularit~tsvorausset- zungen) zu erhalten, ben6tigte VOLTERRA in [1] einen nichttrivialen Satz fiber den ,,CAN- TORsChen Inhalt" der Menge der Nullstellen einer nur punktweise im Intervall zu Null werdenden stetigen Funktion (S. 100), also eine typische Aussage der CANTORSChen linearen Punktmengenlehre.

as Lt~vY [1], S. 5.

Anffinge der Funktionalanalysis 25

Beispiel fiir diesen L~vYschen ,,Grenztibergang zum Unendlichen" findet sich auf Seite 85 der ,,Legons". Hier bemtiht sich Lf~vY, die allgemeine Form gewisser (spezieller) stetiger Funktionale (,,fonctionnelles du second degr6") auf dem Raum L2[0, 1] als Grenzwert ihrer Darstellung ffir die in L z dicht liegende Menge der ,,Stufenfunktionen" zu erhalten (die Funktionale entarten auf der Menge der Stufenfunktionen zu Funktionen von n Variablen). Es ist jedoch hier, wie an anderen Stellen der L~vYschen Arbeit, nicht zu tibersehen, dab keine fibersicht- lichen und exakten Kriterien daffir vorliegen, wie sich die ,,Ann~herung" der Funktionen im Definitionsbereich der Funktionale (hier die Ann~therung der Stu- fenfunktionen an beliebige ,,quadratisch summierbare" Funktionen) im Kon- vergenzverhalten der Werte der Funktionale niederschlfigt, wie dort also der ,,passage du fini h l'infini" aus dem mathematischen Ausdruck ffir Funktionen von n Variablen die allgemeine Form des Funktionals entstehen l/~13t. So r/iumt auch L~vY selbst ein, dab es sich bei seinem ,,passage du fini ~t l'infini" noch weit- gehend um ein heuristisches, intuitives Verfahren handelt, dal3 dessen Resultate noch nachtrfiglich ,,auf anderem Wege" verifiziert werden mtil3ten, wenn er schreibt (Lemons, S. 6):

,,... si souvent le proc6d6 employ6 ne conduit pas ~t d6montrer l'exactitude de la solution, qu'il faut v6rifier autrement, il n'en construe pas moins un proc6d6 de d6couverte d'une f6condit6 remarquable."

Diese M~ingel liegen nattirlich in einer gewissen Vernachlfissigung des Studiums der topologischen und algebraischen Eigenschaften der Funktionenmengen be- griindet, die auch bei VOLTERRA feststellbar ist. So spricht z.B.S. MANDELBROJT ([1], S. 74) in seinem Nekrolog auf FR~CHET davon, dab in dessen abstrakter Theo- rie der ,,nicht immer exakte" Obergang vom Endlichen zum Unendlichen VOL- TERRAS bewahrt und streng begriindet worden sei. (Die Ansfitze yon VOLTERRA und LI~VY mtissen jedoch differenziert bewertet werden. Dies vor allem deshalb, weil VOLTERRA einer fr/iheren Generation angeh6rt und dadurch die Entwicklung der verallgemeinerten Analysis noch mal3geblich beeinflussen konnte. LI~VYS Arbeiten kommen dagegen ,,post festum", d.h. nach dem Beginn abstrakterer Untersuchungen (FR~CHET) und wirken deshalb ,,reaktion/ir". Vgl. auch Ful3note 56.) Der Verzicht auf solche allgemeinen strukturellen Untersuchungen wird am Aufbau von Ll~vYs ,,Legons" ganz deutlich sichtbar. So stellt er zwar seinen Aus- fiihrungen eine Aufz/ihlung verschiedener Abstands- und Stetigkeitsbegriffe in Funktionalr/iumen (u. a. die gleichmM3ige Konvergenz und die Konvergenz im p-ten Mittel nach F. RIESZ) voran (S. 13-15) und betrachtet zun/ichst formal seine Funktionale als Funktionen auf gewissen abstrakten Punktmengen (espaces fonctionnels, S. 12); er schrfinkt abet im folgenden seine Betrachtungen auf Funktionale ein, die auf gewissen ,,champs fonctionnels" definiert sind, d.h. auf Mengen von Funktionen, die besondere, im allgemeinen sehr starke Regularitfits- bedingungen erffillen (S. 17).

LI~VY griffjedoch nicht nur VOLTERRAS Methode auf, er entwickelte auch dessen Theorie, insbesondere den Begriff der Variation weiter. Lt~vY hatte, wie iibrigens auch VOLTERRA selbst und viele andere Analytiker (s. u.) erkannt, dab die VOLTERRA- sche Definition ,,nicht allgemein" ist, d.h. gemessen an den Bediirfnissen der Variationsrechnung zu starke Regularit/itsforderungen an die Funktionenmen-

26 R. SIEGMUND-SCHULTZE

gen und die partiellen Ableitungen y ' steUte. Diese letzteren sollten beispielsweise in jedem Punkt t aus [A, B] definiert und stetig in ~0 und t sein 36.

L~vY nannte solche nach VOLTERRA differenzierbaren Funktionale ,,normal ''aT und bemerkte (Legons, S. 49):

,,La formule (1) n'6tant pas g6n6rale, une 6tude plus compl6te s'impose. Elle peut ~tre faite h deux points de rue. Le premier, que nous appellerons le point de rue logique, consiste 5- supposer la fonctionnelle U d6finie dans un champ fonctionnel, et, en faisant des hypoth6ses aussi peu restrictives que possible sur cette fonctionnelle, chercber une expression analytique capable de repr6senter sa variation. Le deuxi6me, que nous appellerons le point de rue pratique, consiste 5. mettre en 6vidence les formes de variations qui ont des chances de se rencontrer dans les applications, et non seulement clans des exemples artificiellement form6s. Le second point de vue nous sera 6videmment le plus utile pour le d6veloppement de la th6orie. Le premier est d'une nature plus philosophique, et c'est une cons6quenee remarquable du d6ve- loppement ~t notre 6poque, de 1'esprit philosophique qui porte les savants 5. ana- lyser les fondements de la Science, qu'il ait 6t6 considdr6 d6s la naissance du calcul fonctionnel et plus rapidement que ne semblait le comporter le d6veloppement de cette science."

Zu diesen Vertretern des ,,logischen Standpunktes" z~ihlt LI~vY, wie er noch aus- ffihrt (S. 50ff.), unter anderem J. HADAMARD, M. FRt~CHET und F. RIESZ (1880- 1956). Im folgenden soll zun~ichst der logische Standpunkt bei der Definition und Untersuchung yon Funktionalableitungen diskutiert werden.

Der Begriinder des franz6sischen ,,calcul fonctionnel", J. HADAMARD, hatte VOLTERRAS Begriff der Funktionalableitung kritisiert (1902) und, ankniipfend an Untersuchungen yon S. PINCHERLE und C. BOURLET (1866-1913) vorgeschla- gen,

,,... de remplacer utilement ces hypotheses, 6videmment particuli6res, par d'autres plus g6n6rales. ''aS

Er forderte deshalb, dab die obige Variation Oy(~o) eine ,,lineare Funkt ion" (,,une fonction lin6aire") 39 des Differentials dq)(x) an der ,,Stelle" ~0(x) sei. HADA- MARD hatte dabei natiirlich die Analogien zur klassischen Analysis im Auge. Als wichtigstes Resultat der klassischen Theorie der Funktionen yon n Vafiablen s a h e r den Satz an, dab das vollst~indige Differential einer Funktion (an einer festen Stelle des n-dimensionalen Definitionsbereiches) eine lineare Funktion der Differentiale der Variablen ist ~°. (Mit der Einbringung dieser Eigenschaft der klassischen Funktionentheorie in die Variationsrechnung geht HADAMARD im Vergleich zu VOLTERRA einen weiteren Schritt vorw~irts zu einer selbsffmdigen verallgemeinerten Analysis und weg yon der eigentlichen Variationsrechnung. Die-

36 VOLTERRA [1], S. 99. 37 L~vY [1], S. 67. 38 HADAMARD [2], S. 402. a9 Ebenda. Vgl. auch FuBnote 41. 4o Nach Aussage yon FR~CHET [6], S. 182.

Anf~inge der Funktionalanalysis 27

ses Streben nach einer selbstgndigen verallgemeinerten Analysis wird auch an anderen Leistungen HADAMARDS offenbar.) 41

Den Wert der ersten Variation denkt sich HADAMARD ~ihnlich wie VOLTERRA nach dem Vorbild der klassischen Variationsrechnung ermittelt, indem er die Funktion 9(x) um eine yon einem Parameter e abhS.ngige Funkt ionf (x , e) variie-

dy ren 1/iBt und den ,,klassischen" Differentialquotienten ~-e bildet42" Auf diese

Weise differenzierbare Funktionale mit linearer Variation (an der Stelle ~o) be- trachtet HADAMARD als diejenigen, auf die man die Methoden der klassischen Infinitesimalrechnung fibertragen k6nne. 4a

L~vY gibt in seinem Buch [1] eine eigene Differentialdefinition an, wobei er sich zungchst ebenfalls (vortibergehend) auf den ,,logischen Standpunkt" stellt, d.h. allgemeine Differenzierbarkeitsbedingungen sucht. Er nimmt dabei auf eine abstrakte Differentialdefinition von FR~CHET Bezug (s. u.) und betont, dab seine eigene Definition im Gegensatz zu jener unabh~ingig von Distanz- und Stetigkeits- begriff ist 44. Es handelt sich bei L~vYs Definition um eine Modifikation des be- kannten ,,schwachen" (,,GXTEAUXschen") Differentials

l I (3) 3 U -= ~ U / Ix + 2" bx] [ (6x beliebig, abet lest), ~,=0

wobei nur noch gefordert wird, dab c~U linear in dx ist (Legons, S. 51/52) 45. (L~vY war tibrigens zu diesem Begriff unabh/ingig yon dem jungen, vielverspre- chenden franz6sischen Mathematiker R. G~TEAUX (?--1914) gelangt, der das Er- gebnis schon 1914besal3, kurz bevor er im 1. Weltkrieg an der Front sein Leben verlor. L~vY beteiligte sich nach dem Kriege auf Vorschlag yon HADAMARD an der Publizierung verschiedener G~,TEAUXscher Arbeiten und liel3 sich von ihnen zu weiteren Forschungen anregen.) 46 Es ist offensichtlich, dab die Differential-

,1 Ein besonders wichtiges Ereignis war die Arbeit HADAMARD [3] aus dem Jahre 1903. Hier ftihrt HADAMARD den Begriff des ,,linearen Funktionals" (op6ration fonction- nelle lin6aire, S. 351) ein und schaftt die ersten Ans/itze der Theorie der topologischen Dua]itfit, indem er das lineare und stetige Funktional in C[a, b] als Grenzwert einer Integralfolge darstellt (S. 353). Das Verdienst HADAMARDS bei der Einffihrung des Funk- tionalbegriffs scheint darin zu bestehen, dab er den VOLTERRAschen Begriff des Funk- tionals (als ,,Linienfunktion") mit der PINCH~RL~schen Bezeichnung yon Operatoren(!) ( ~ operazione funzionale) kombiniert. Es ist zu beachten, dab die LinearitS.t der verallgemeinerten Funktionen eine Linearstruktur in den ,,R~umen" voraussetzt. Diese sind bei HADAMARD jedoch v611ig konkret, was sich nattidich aus den Notwendigkeiten jenes Darstellungssatzes (s. o.) ergab, wobei HADAMARD aber im Gegensatz zu den An- s/itzen yon VOLTERRA, PINCHERLE, und C. BOURLET (1866--1913) vollkommen yon der Analytizitfit der Funktionen f(x) absah. HADAMARD verwies in [3], S. 353, kritisch auf diese Ansfitze.

,2 Nach FRt~CHET [!1], S. 143. *3 Nach FR~¢HET [6], S. 182. 44 L~vY [1], S. 51. Vgl. ein entsprechendes Zitat von PINCHERLE in Kap. III. 45 In der modernen Literatur wird das ,,G3,T~Aox-Differential" manchmal (often-

bar korrekt) als nichtlinear, manchmal als linear vorausgesetzt. 46 Vgl. DI~UDONN~ [3], S. 139/40.

28 R. SIEGMUND-ScHULTZE

definition (3) wieder unmittelbar an die VOLTERRASChe, an der klassischen Varia- tionsrechnung orientierte, Herleitung der ,,ersten Variation" tiber die Formeln (2) ankniipft. (Es ist nur ~0(x) = dx zu setzen, dann folgt unter Voraussetzung der

1 Linearit~it --@(e.~o) = @(~x).)

Die Definitionen der ,,ersten Variation" yon HADAMARD und LI~VY zeigen, dab die Beitfiige der ,,Analyse fonctionnelle" trotz ihrer offensichtlichen metho- dischen Gebundenheit an die klassische Analysis und insbesondere die klassische Variationsrechnung durchaus eine gewisse Mittelstellung auf dem Wege zur mo- dernen Analysis einnahmen, soweit sie vom allgemeineren Standpunkt des ,,point de rue logique" erfolgten. In der Tat wurde hier abstrakt die Linearit~it der ,,Funk- tionalableitung" (aus heutiger Sicht verstanden !) gefordert, dartiber hinaus wurde (im Gegensatz zu VOLTERRA) auf die Angabe einer konkreten Darstellung ftir die ,,erste Variation" (etwa als Integral) verzichtet. Rtickblicken l~il3t sich feststellen, dab der ,,point de rue logique", und dabei insbesondere die noch zu diskufierende ,,deskriptive" Art der Definition in der Analyse g6n6rale, sich als dem Wesen der verallgemeinerten Funktionen, der groBen VariabilitM ihrer m6glichen Formen angemessener und als tragfiihiger erwies. Dabei mugte jedoch als Grundprinzip das stgndige Zusammengehen yon konkreten und abstrakten Untersuchungen beachtet werden, d.h. es mul3ten beispielsweise die m6glichen und ftir die Analysis relevanten konkreten Funktionenmengen und ihre Eigenschaften stets im Auge behalten werden. Nur auf diese Weise liel3en sich z.B. bei HADAMARD [3] (1903) und RIESZ (1909) aus dem allgemeinen Ansatz der Linearit~it und Stetigkeit mit der schrittweisen Erkenntnis der allgemeinen Bedeutung der Integraloperationen und der Herausarbeitung des Prinzips der topologischen Dualitiit Darstellungss/itze fiir Funktionale gewinnen, die sich sp~iter auch auf abstrakte Rfmme tibertragen lieBen. Jene Mittelstellung der Analyse fonctionnelle geht aber bei L~vv an der Stelle gewissermagen wieder verloren, an der er seinen ,,point de rue pratique" zur Geltung bringt und schreibt (Lemons, S. 67):

,,I1 y a donc int6rat, si l'on veut 6tudier les 6quations aux d6riv6es fonctionneUes, ~t ne pas s'attacher ~t mettre en 6vidence les formes des fonctionnelles les plus g6n6rales, mais ~t prendre pour objet de notre 6tude celles qui peuvent se rencontrer dans le applications."

Zu diesen ftir die Anwendungen wesentlichen Funktionalen z~ihlt LI~Vy solche, deren Variation um ein gewisses lineares Glied yon der VOLTERRAschen Form (1) abweicht ([1], S. 67):

1 (4) ~ U = ~'~ a, 6x(~i) + f 9(0 6x(t) dt.

i 0

Durch diese Einschr~inkung seiner weiteren Untersuchungen stellt L~vY wieder die unmittelbare Verbindung zur klassischen Analysis her und unterstreicht erneut, dab er jedes Problem der Analyse fonctionnelle als unmittelbar durch Grenziiber- gang (passage du fini ~t l'infini) aus einem Problem der klassischen Analysis her- vorgegangen betrachtet.

AnfRnge der Funktionalanalysis 29

2. Die Bemiihungen yon D. Hilbert und seiner Schule um eine Verallgemeinerung der Analysis

LI~vY grenzt sich sogar noch im Jahre 1922 mit folgendem eindrucksvollem Zitat yon gewissen anderen Begrtindungsversuchen einer verallgemeinerten Ana- lysis ab; Ll~vY unterstreicht damit, was die bisherigen Erfr terungen schon vermuten liel3en, niimlich dab sein Zugang zur Funktionalanalysis der am meisten traditions- gebundene unter den hier zu diskutierenden ist, dab er insbesondere am wenigsten geneigt ist, Funktionen einfach als Punkte in abstrakten R~umen zu betrachten (Leqons, S. 7):

,,On peut envisager d'autres mani6res de consid6rer une fonctionnelle comme limite d'une fonction d'un grand nombre de variables. La fonction x(t) peut atre d6finie dans l'intervalle consid6r6 par la suite des coefficients de son d6veloppement en s6rie de fonctions orthogonales, ou bien si elle est analytique par les coefficients de son d6veloppement en sdrie de Taylor. Une fonction des n premiers coefficients de ces d6veloppements conduit, lorsque n augmente ind6finiment, /~ une fonctionnelle. Cette mani+re d'envisager le passage du fini ~t l'infini prdsente-t-elle le marne int6rat que celle que nous avons indiqu6e d'abord ? On ne saurait trop nettement r6pondre: non. I1 ne faut pas en effet perdre de rue que, quel que soit le proc6d6 employ6 pour repr6senter une fonction x(t), la fonction est avant tout une succession de valeurs prises par la quantit6 x lorsque t varie. C'est cette succession de valeurs qu'il faut toujours considdrer si l'on veut ne pas perdre de rue I'origine de la notion de fonction et ne pas se contenter d'6crire des relations formelles sans en pdn6trer le sens."

Es ist anzumerken, dab dieses Zitat nicht etwa primiir Ll~vYs Abgrenzung yon strukturellen, axiomatischen Untersuchungen in unendlich-dimensionalen R~umen ausdrfickt, wenngleich L~vY auch diesen ablehnend gegenfiber stand. Dieses Problem steht aber bier nicht zur Debatte, L~vY spricht bier nur yon einer gewissen anderen Art, den ,,passage du fini ~t l 'infini" durchzufiihren, die eng mit der bei ihm gefibten zusammenhgngt, aber in geringerem Mage intuitiv ist, da sie die Abh/ingigkeit des Funktionals yon der Funktion durch Zwischenschaltung einer abz/ihlbaren Menge von Parametern vermittelt. Das L~.vYsche Zitat ist folglich Ausdruck einer so extrem ,,konservativen" Position der Begrfindung der verallgemeinerten Analysis, dab hier z.B. die meisten der an HmBI~RTS Unter- suchungen in der Integralgleichungstheorie anknfipfenden Bemtihungen um die Verallgemeinerung der Analysis unter die Kritik fallen. In der HILBZRT-Schule wurde bekanntlich der ,,HILBZRTsche Folgenraum", d.h. der Raum der abz~ihl- baren, quadratischen summierbar Zahlenfolgen, mit fortschreitender Entwicklung immer deutlicher erkennbar zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Es ist jedoch zu beachten, dab sich HmBERTS Zugang zur Integralgleichungstheorie zwi- schen 1904 und 1906 grundlegend gewandelt hat, wobei HILBERT auch durch einige Beitrfige yon SCHMIDT, insbesondere durch dessen Dissertation [1] yon 1905 angeregt worden war. (Bezfiglich der HILBEP, Tschen Arbeiten beschr~inke ich mich im folgenden auf wenige Andeutungen, da grtindliche Einsch~itzungen z.B. schon bei BERNKOPF [1] gegeben worden sind.)

30 R. SIEGMUND'ScHULTZE

In seiner ersten ,,Mitteilung zur Integralgleichungstheorie" (1904) .7 entwickelt HILBERT eine Methode, die in etwa dem L~vYschen Vorgehen in der Analyse fonctionnelle entspricht. Insbesondere wird die HILBERTsche ,,Fundamental- formel ''4~, die das unmittelbare Analogon der ,,klassischen" Formel ffir die Trans- formation einer quadratischen Form in eine Quadratsumme (Hauptachsentheorem der linearen Algebra) darstellt, durch Grenztibergang (n-+ co) aus endlichen Bi- linearformen 49 hergeleitet. Letztere waren Funktionen yon n Variablen, w/ihrend das in der Fundamentalformel erscheinende Doppelintegral ein Funktional ist.

V611ig anders 16ste HILBERT bekanntlich die 1904 bereits behandelten Probleme der linearen Integralgleichungstheorie in seiner ffinften ,,Mitteilung" (1906) s°. HILBERT entwickelte die in der Integralgleichung auftretenden stetigen Funktionen in Reihen nach einem ,,orthogonalen vollst/indigen Funktionensystem"51 und iden- tifizierte sie mit den so gewonnenen unendlichen Folgen der ,,FOrORIER-Koeffi- zienten". Auf diese wendete HILBERT seine separat herausgearbeitete ,,Theorie der (beschffmkten) quadratischen Formen unendlich vieler Variabler" (vierte ,,Mitteilung", 1906) $2 an, die die unmittelbare Vorg~ingerin der modernen Spektraltheorie 53 der hermiteschen (nicht notwendig beschriinkten!) Operatoren im HIL~ERTraum darstellt. Die Darstellungss~itze fiir die quadratischen Formen, die natiirlich als Funktionale im,,Folgenraum" aufgefaBt werden k6nnen, gewinnt H~LBERT in prinzipiell /ihnlicher Weise wie 1904 durch Grenzfibergang (n-+ cx~) aus den endlichen ,,Abschnitten" jener Formen, wiederum also aus Funktionen yon n Variablen. Es ist auBerordentlich bezeichnend, dab HILBERT seine bedeutend- sten Beitr/ige zur Funktionalanalysis in einer Arbeit leistet, die keine n e u e n An- wendungen in der Integralgleichungstheorie erbrachte und erst 20Jahre spS.ter, in der Quantenmechanik, Verwendung fand. Auch die ,,vierte Mitteilung" ist deshalb ein sch6nes Beispiel ffir die im EntstehungsprozeB der Funkfionalanalysis so typische Entwicklung neuer mathematischer Begriffe ,,urn ihrer selbst willen".

L~v¥ krisitiert nun mit seinem obigen Zitat sogar diese vorsichtigen, in HIL- BERXS Arbeiten yon 1906 vorhandenen Ans~tze einer allgemeineren Darstellung, n/imlich die Betonung der Analogien zwischen linearen Integralgleichungen und (unendlichen) linearen Gleichungssystemen. Urn so mehr mul3ten ihn zweifellos E. SCrIMIDTS (1876-1959) Beitr~ige (ab 1905) 54 befremden, der nicht mehr wie sein Lehrer HILBERT Aussagen fiber Funktionen unendlichvieler Variabler (Funk- tionale) durch Grenzfibergang aus dem Endlichen gewann, sondern mit Hilfe der Einffihrung der Sprache der Geometrie in den dem Folgenraum zugrunde liegenden Raum stetiger Funktionen, die strukturellen Aspekte stark betonte und wesentliche Vorarbeiten ffir die Axiomatisierung des ,,HILBERTraums" durch J. v. NEUMANN (1929) leistete 55.

47 Vgl. B~RNICOVV [1], S. 9ft. 48 Ebenda, S. 16, Formel (29). 49 Ebenda, S. 13, Formeln (19) und (20). 5o Ebenda, S. 28-33. 51 Ebenda, S. 29. 52 Ebenda, S. 18-28. 53 j. v. N~UMANN ab 1929. 54 BERNKOI'F [1], S. 46ff. 5s Ebenda, S. 62-66.

Anf~inge der Funktionalanalysis 31

Die Gemeinsamkeiten beziiglich des mathematischen Gegenstandes und ins- besondere die Rolle, die der ,,Folgenraum" bei diesen Untersuchungen spielte, geben die Berechtigung, yon einer einheitlichen ,,HILBERTSchen Schule der verall- gemeinerten Analysis" zu sprechen, obwohl, wie gesehen wurde, das methodische Vorgehen in ihr nicht einheitlich war. Diese ,,methodische Uneinheitlichkeit" ist Ausdruck der Tatsache, dal3 die HILBERT-Schule an der Schwelle zur modernen Analysis steht. Der eingangs zitierte L~vYsche Ausspruch wendet sich gegen den oben beschriebenen ~bergang zum Folgenraum und damit auch gegen die Verwendung der in der ,,vierten Mitteilung" entwickelten (konkreten) ,,Spektral- theorie'" bei der L6sung von Problemen der Integralgleichungstheorie. Von dem Ansatz der HILB~RT-Schule weiB man, dab es in erster Linie seine vielfNtigen, analytisch-algebraischen Gesichtspunkte, u.a. die Ffille der (freilich bei HmBERT selbst noch nicht klar ,,axiomatisch" herausgearbeiteten) Eigenschaften des ,,Folgenraums" (Linearitfit, Existenz eines Skalarprodukts, Betrachtung verschie- dener Topologien auf diesem Raum) und die inhaltliche Vielfalt der Spektral- theorie waren, die seine Bedeutung ftir die moderne Funktionalanalysis, die doch in so umfangreichem Mal3e durch die gegenseitige Durchdringung algebraischer und analytischer Methoden gekennzeichnet ist, ausmachten. Natiirlich ffillt es heute, da die fundamentale Stellung der Theorie der HIL~ERTrfiume und der Spek- traltheorie in der Funktionalanalysis evident ist, leicht, zu erkennen, dal3 sich LEvY mit seinem oben angefiihrten Zitat gewissermal3en selbst von dean Strom abgrenzte und ausschlol3, der zur modernen abstrakten Analysis ftihren sollte 56. Eine deutliche historisclae Ironie liegt in dem Umstand, dal3 jene Worte gerade von demjenigen Mathematiker stammen, der die Bezeichnung ,,Funktionalanalysis" einffihrte. Andererseits ist es jedoch nicht zu tibersehen, dab sich dieses Wort eigentlich nicht zur Bezeichnung der modernen axiomatischen Analysis eignet sT, in deren Mittelpunkt doch nicht mehr, wie noch in der Frtihphase der verallge- meinerten Analysis, das Studium yon Funktionalen, sondern die Untersuchung allgemeinerer Abbildungsbegriffe und Strukturen steht.

3. Analyse gdndrale

M. FR~CHET kniipfte 19115 s unmittelbar an die Definition der,,ersten Variation" an, die sein Lehrer HADAMARD in Zusammenhang mit seinen Arbeiten in der Va- riationsrechnung gegeben hatte. FR~C~ET betonte jedoch noch st/irker als HADA- MARD (S. O.) die Analogien zur klassischen Analysis und sah die Funktionale als verallgemeinerte klassische Funktionen an. Bezeichnenderweise sprach er nicht mehr von ,,erster Variation", wie noch VOLTERRA, HADAMARD und L~vY, sondern vom (verallgemeinerten) ,,Differential". FR~CHET bemerkte folgerichtig, dab der bisher ermittelte Begriff der Variation nicht genfigt, um eine zweite wesentliche Eigenschaft des klassischen ,,vollst~indigen Differentials" (fiir stetig partiell

56 Dennoch hat Lt~vYs ,,Funktionalanalysis" tiber die Untersuchung des Differen- tialbegriffs hinaus z.B. offenbar noch eine gewisse Bedeutung in der Theorie der ellip- tischen Differentialgleichungen erlangt (vgl. MIRANDA [1], S. 188--194).

57 Vgl. KLINE [1], S. 1077. 58 Comptes rendus 152, S. 845-848.

32 R. SIEGMUND-ScHULTZE

differenzierbare Funktionen) auf Funktionale zu iibertragen sg. Diese Eigenschaft beriihrt das Verhgltnis des Differentials OU zum ,,Zuwachs" (,,accroissement") A U an der Stelle x. FR~CHET fordert in Analogie zur klassischen Analysis, dab die Differenz zwischen diesen beiden Gr6Ben mit der Verringerung der ,,Distanz" zwischen x und x + A x nicht nur gegen Null geht, sondern yon h6herer Ordnung gegen Null geht, als diese Distanz 6°. (Dagegen geht bei VOLTERRA und L~vY jene Differenz yon h6herer Ordnung gegen Null als der Parameter e. Dies wird von VOLTERRA [4], S. 241, ausdfiicklich als Begrfindung daffir angegeben, dab er 6U ,,variation" nennt.) FR~CnET verl~iBt hierbei den klassischen Weg der Variations- rechnung, die statt einer ,,Distanz" einen Parameter variieren liel3 (s. o.) und wendet die abstrakten Prinzipien seines 1906 definierten metrischen Raumes an. Er be- trachtet also die ,,Analyse fonctionnelle" aus dem Blickwinkel der ,,Analyse g6n6rale". Der FR~Cr~ETsche ,,~bergang vom Endlichen zum Unendlichen" ist hierbei ein prinzipiell anderer als der L~vYsche ,,passage du fini ~t l'infini": FR~- CrmT betrachtet die verallgemeinerten Funktionen direkt in Abhangigkeit einer Gesamtheit von ,,aktual" unendlich vielen Variablen. So fiel es FR~CHET auch nicht schwer, seinen Ableitungsbegriff auf den Fall abstrakter Operatoren in der ,,Analyse g6n&ale" zu iibertragen. Er tat dies 1925 (FR~CHET [6]), als er Abbil- dungen in linearen metrischen (d.h. nicht notwendig normierbaren) R~iumen betrachtete, yon denen insbesondere die ,,FR~CHErraume" bekannt geworden sind.

Die FR~CHETsche Version der Ableitung ist als ,,starkes" (,,FRI~CHETSches") Differential in die moderne Funktionalanalysis eingegangen. Ftir den Fall eines Operators F, der eine offene Untermenge 0 eines linearen, normierten Raumes X in eine Untermenge eines linearen, normierten Raumes Y abbildet, hat die FRt~- CHETsche Bedingung folgendes Aussehen:

F ist differenzierbar in x aus 0, wenn ein beschr~inkter linearer Operator Lx 61 existiert, der X in Y abbildet, so daB gilt:

II F(x q- h) - - F(x) - - Lx(h)II (5) [Ihll IIh"'~'0"

Natfirlich hatte FR~CHET bei seiner urspriJnglichen Definition der Funktional- ableitung (1911) auch die konkreten Funktionale der Variationsrechnung im Auge, die z.B. auf dem Raum der stetigen Funktionen C[a, b] definiert sein k6n- nen. Jedoch zeigte es sich, dab FR~CHET mit der obigen Definition einen sehr engen Begriff der Funktionalableitung eingeffihrt hatte, so dab diese Form keine un- mittelbare Verwendung in der Variationsrechnung finden konnte. Im allgemeinen k6nnen n~imlich die Funktionale der Variationsrechnung nicht als stetig voraus- gesetzt werden, wie das in FR~CHE'rS Definition for das Funktional F geschieht. (H~ufig ist ,,Halbstetigkeit" voraussetzbar; die Bedeutung der halbstetigen Funk- tionale in der Variationsrechnung war FRI~CHET natiirlieh klar, wie aus seiner Dissertation [2] hervorgeht.) Hier wird deutlich, dab die Einnahme des ,,abstrak- ten Standpunktes" eine Entfernung yon den konkreten Bediirfnissen der urspriing- lich als Ausgangspunkt jener i~lberlegungen dienenden mathematischen Theorie

s9 FR~CHET [11], S. 141. 60 FR~CI~ET [4], S. 126/27. 61 Lx ist die (starke) Funktionalableitung, Lx(h) ist das (starke) Differential.

Anf/inge der Funktionalanalysis 33

bewirken kann 62. Gleichzeitig wird hier einer jener Umschlagpunkte erkennbar, wo neuartige mathematische Untersuchungen zunehmend in relativer Unabh~in- gigkeit yon den Ausgangsproblemen, zun~ichst sogar ,,urn ihrer selbst willen" betrieben werden.

Offenbar hat diese Tendenz zum Abstrakten den yon L~vY in der Analyse fonctionnelle verfolgten Zielen nicht entsprochen, insbesondere gilt das fiir die damit verbundene Einschrfinkung des Differenzierbarkeitsbegriffs aufstetige Funk- tionale. Jedoch ist diese letztere keineswegs zuf/~llig mit FR~CHETS Theorie ver- bunden. FRI~CHETS Absichten bei der Obertragung der Konzeptionen der klassi- schen Analysis auf abstrakte Mengenabbildungen bestanden in einem schrittwei- sen Vorgehen bei m6glichst scharfer Charakterisierung und grfindlicher Unter- suchung der jeweils verallgemeinerten Objekte. Dies entspricht dem stufenweisen Aufbau der klassischen WEIERSTRASSschen Analysis auf Grenzwert- und Stetig- keitsbegriff und wird yon FR~CHET [2] 1906 bei der schrittweisen grfindlichen Un- tersuchung des metrischen Raums und einfachster (stetiger und halbstetiger) Funktionale nachvolIzogen. (Ein solcher schrittweiser Aufbau der ,,Analyse g6n6rale" scheint nut mit Hilfe der deskriptiven, abstrakten Einffihrung neuer Begriffe, wie in (5), m6glich gewesen zu sein. Das steht eng im Zusammenhang mit den Ver/inderungen in der Auffassung yore Begriff der ,,Existenz" mathemati- scher Objekte, die sich um 1900 durchzusetzen begannen. Die begriffliche Unter- scheidung yon ,,deskriptiven" und ,,konstruktiven" Definitionen findet sich offenbar erstmals bei LEBESGUE [1], S. 99. FRI~CHET selbst vergleicht in [2], S. 5, seine Be- griffsbildungen mit der BORELSchen deskriptiven Mai3definition. Hier liegt ein wei- terer Grund ffir die Einfiihrung der Denkweise der Mengenlehre in dieAnalysis.)

Aus der Sicht der heutigen Mathematik entsteht die Frage, ob FP,£CHET bei seiner Orientierung auf die Untersuchung der Differenzierbarkeit stetiger Funk- tionale (und Operatoren) eine Vorahnung yon der modernen nichtlinearen Funk- tionalanalysis hatte, in deren Mittelpunkt nicht die Variationsrechnung, sondern die Differential- und Integralgleichungstheorie stehen. Dort ist bekanntlich die Stetigkeit der (nichtlinearen) Operatoren irn allgemeinen voraussetzbar. Fiir stetige Operatoren stimmen aber der L~vYsche und der FR~CHETsche Differenzierbar- keitsbegriff iiberein. (Man beachte, dab die diskutierten Differentialbegriffe ffir lineare und stetige Operatoren inhaltsleer werden, da hierbei die Ableitung mit dem Operator selbst iibereinstimmt). Folglich reicht der FR~CHETsche Begriff ffir weite Gebiete der modernen nichtlinearen Funktionalanalysis aLlS 63.

62 Die VOLTERRASChen und FR~CHETSChen Definitionen wurden sp~ter (1913-1920) durch CH. A. FISCHER (1884--1922) und E. LESTOURGON (1881-1971) weiterentwickelt und den Bedi.irfnissen der Variationsrechnung angepaf3t. Systematisch yore Standpunkt der Theorie der Funktionale wurde die Variationsrechnung yon TONELLI [1] untersucht, dessen ,,direkte Methoden" eine der Teiistr6mungen der modernen Variationsrechnung bestinamen. Insgesamt gesehen ist jedoch der Erfolg der Theorie der Funktionale in der Variationsrechnung recht gefing geblieben (vgl. KLINE [1~, S. 1080/81). Dies 15Bt sich auch aus modernen Lehrbtichern der Variationsrechnung ersehen (selbst aus solchen, die direkte Methoden behandeln), wo die Begriffsbildungen von VOLTERRA, G~TEAUX, LI~VY und FRI~CHET meist keine Rolle spielen. Weitere Informationen zur Geschichte des ab- strakten Zugangs zur Variationsrechnung enth~ilt die Arbeit yon SANGER [1].

63 Vgl. z.B. RIEDRICH [1], S. 21.

34 R. SIEGMUND-SCHULTZE

Aus den eben beschriebenen Absichten, die FRI~CHET beim Aufbau einer ver- allgemeinerten Analysis hatte, wird aueh die Kritik erkl/irbar, die er seinerseits an der allgemeinen L~vvschen Differentialdefinition iibte. Von dem einfachen Fall ausgehend, dab als Definitionsbereich der Funktionale nur die Menge der linearen Funktionen im Intervall [A, B] zugelassen sein soll, bemerkt FR~CHET im Anschlul3 an einige Berechnungen (1937) ([11], S. 142):

,,On a vu que, dans ce cas beaucoup plus simple, la d6finition de M. L6vy n'offrirait d'avantage que pour l'6tude de fonctions tr~s singuli~res. Dans le cas plus complexe de l'Analyse fonetionnelle, la d6finition de M. L6vy ... parait 6tre d'une g6n6ralit6 pr6matur6e alors que l'6tude des fonctionnelles les plus simples est encore dans Fen- fance."

Zum Abschlug der Er6rterungen dieses Kapitels sei folgendes Zitat yon FR~CHET angefiihrt, in dem dieser sich deutlich yon den Ansgttzen VOLTERRAS, L~VYS und HILBERTS abgrenzt. So schreibt er 1925 im Anschlug an eine Krit ik an VOL- TERRAS Begriff der (verallgemeinerten) Variation ([7], S. 3):

,,Une remarque analogue s'applique ~ l'utilisation de la th6orie des fonctions une infinitd de variables dans la solution des probl~mes d'Analyse fonctionnelle. La m~thode qui a 6t6 employ6e avec succ~s par MM. Volterra et Hilbert consiste

remarquer qu'une fonction (continue, par exemple) peut ~tre d6termin6e par la con- naissance d'une infinit6 d6nombrable de param~tres. Et alors on traitera d'abord le probl~me comme si l'on n'avait ~ faire intervenir qu'on hombre fini de param~tres, puis on passera ~ la limite. Nous croyons que cette m6thode a jou6 un r61e utile en secondant l'intuition, mais qu'elle a fmi son temps. C'est un artifice inutile de substituer ~ la fonction une suite infinie de hombres qui, d'ailleurs, peut ~tre choisie de plusieurs fa~ons. On le voit bien, par exemple, dans la th6orie des 6quations int6grales ou les solutions de Fred- holm et de Schmidt sont beaucoup plus simples et plus 616gantes que celle de Hilbert, ce qui n'enl~ve pas ~t ce dernier le m6rite essentiel d'avoir obtenu par sa m6thode un grand nombre de r6sultats nouveaux. En r6sum6, la m6thode la plus f6conde en Analyse fonctionnelle nous parait ~tre celle qui consiste g traiter l'616ment dont d6pend la fonctionnelle directement comme une variable et sous la forme ou elle se pr6sente naturellement. Cela permettra d'uti- liser imm6diatement un grand nornbre de propositions actuellement 6tablies en Analyse g6n6rale. Et cela 6vitera d'introduire des 616ments parasites (param~tre, coefficients), susceptibles d'amener des complications inutiles et 6trang6res au fond du probl~me."

Es handelt sich hierbei um ein interessantes Gegenstiick zu dem weiter oben an- gefiihrten L~vYschen Zitat, da FRI~CHET HILBERTS ,,Methode der unendlichvielen Variablen" gerade vom entgegengesetzten Standpunkt aus kritisiert. War L~vY die I-IILBERTsche Methode ,,zu abstrakt", so ist sie FRI~CHET ,,ZU konkret" . Lt~vY kritisiert vom Standpunkt der klassischen Analysis, FR~CHET dagegen vom Stand- punkt der modernen abstrakten Analysis. HILBERTS Arbeit yon 1906 nimmt folg- lich eine gewisse Mittelstellung ein.

Dieser besonderen Qualitiit der HILBERTschen Beitr/ige wird nun m.E. FR~- CHET mit seinem Zitat (ebenso wie mit woanders geiiuBerten Bemerkungen) 6.

6, FRt~CHET gibt HILBERT auch schon in seiner Dissertation [2] (S. 11, 31, 65) einige ,,Seitenhiebe", da er dessen Abneigung, die Resultate in abstrakter Form darzustellen,

Anf/inge der Funktionalanalysis 35

nicht v611ig gerecht: Zum einen verkennt er offenbar den grundlegenden Unter- schied der beiden HILBERTSChen Zugfinge zur Integralgleichungstheorie von 1904 und 1906 (s.o.), zum anderen wfirdigt er nicht das gegenfiber der klassischen Analysis grunds~itzlich Neue einer (impliziten) Theorie unendlichdimensionaler R~iume (1906), die auBerdem auch gleichzeitig mit verschiedenen Topologien (starke und schwache Konvergenz) belegt waren.

Trotzdem ist das obige Zitat FR~CHETS (1925), das die Uberlebtheit der HIL- BERTschen ,,Methode der unendlichvielen Variablen" behauptet, zum damaligen Zeitpunkt historisch berechtigt: die schrittweise Begriindung einer abstrakten Theorie des HmBERTraums und seiner Operatoren in den Arbeiten von FR~CHET, E. SCHMIDT und F. RIESZ liel3 eine weitere Verwendung von HILBERTS komptizier- tern und unfibersichtlichem Verfahren anachronistisch erscheinen.

Kapitel III Die Prioritiit der topologischen Gesichtspunkte in der Friihphase der nichtaxiomatischen (italienischen) verallgemeinerten Analysis

Im bisherigen Verlauf der Er6rterungen, insbesondere im vorigen Kapitel ist schon angedeutet worden, dab die frtihen ,,Funktionalanalytiker" zwar die ge- meinsame Untersuchung yon verallgemeinerten Funktionen ebenso eint wie die prinzipielle Anerkennung der grundlegenden Ideen der CANmRschen Mengen- lehre, dab aber diese Tatsachen noch nicht unmittelbar etwas fiber die ,,N/ihe" jener Ans~itze zur modernen Funktionalanalysis aussagen, dab aus ihnen noch nicht die Anerkennung der Vordringlichkeit struktureller, topologischer Unter- suchungen durch jene Mathematiker resultiert. Diese Erkenntnis soll im folgenden noch welter erhfirtet werden. Insbesondere zeigt eine Analyse der Arbeiten yon S. PINCHERLE, dab selbst die Einbeziehung abstrakter, axiomatischer Struktur- untersuchungen in die Bemfihungen um die Verallgemeinerung der Analysis noch nicht notwendigerweise zu Ergebnissen ffihren muBte, die unmittelbar die Herausbildung der modernen Funktionalanalysis beeinflussen konnten. Dabei deutet sich an, dab die Erkenntnis einer ,,Priorit~it" topologischer Gesichtspunkte und die entsprechende Befolgung dieser Erkenntnis durch die frtihen Funktional analytiker zu einem Gradmesser ffir ihre Erfolge bei der Verallgemeinerung der Ana- lysis wurden. Es soll dabei vor allem auf die wichtigen Arbeiten der Italiener ein- gegangen werden, ohne dab iibersehen werden soll, dab die topologischen Gesichts- punkte der Funktionalanalysis auch aus anderen frfihen Quellen stammen. 65

erkennt. Besonders deutlich wird HILB~RTS Antipathie gegen die Methoden der franz6- sischen Funktionentheoretiker, als er in seinem Buch [3] aus dem Jahre 1912 keinerlei Hin- weise auf die inzwischen erfolgte Verallgemeinerung der Integralgleichungstheorie auf LEB~sauE-summierbare Funktionen (durch RIESZ [3], 1907) gibt. Vgl. auch Ful3note 117.

6s Bekanntlich hat z.B. HILBERT sehr wesentlich Beitr/ige zur Herausarbeitung der topologischen Gesichtspunkte in der verallgemeinerten Analysis geleistet. Am wichtigsten sind dabei seine Beitrgge in der Integralgleichungstheorie (mit der Klassifikation von Funktionalen entsprechend zwei verschiedenen Stetigkeitsbegriffen) und in der Varia- tionsrechnung (s.u.), sowie die Anregungen, die HAUSDORFF bei der Einftihrung seiner ,,Umgebungsaxiome" in topologischen Rfiumen von HILB~RTS Axiomatisierung der Geo- metrie (1899) erhalten hat.

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1. Der , ,Satz yon Ascol i" - Resultat der Vereinigung transfiniter und strukturell-topologischer Denkweisen

Eine bedeutende Vorleistung ffir die Schaffung der abstrakten Punktmengen- topologie erbrachte bekanntlich G. ASCOLI (1843-1896) in seiner Arbeit [1] (1884) mit dem Beweis des nach ihm benannten Satzes fiber die (sp~iter so bezeich- nete) relative Kompaktheit der Mengen yon ,,gleichgradig stetigen" und gleich- m/il3ig beschrgnkten, auf demselben abgeschlossenen reellen Intervall definierten Funktionen. 66 ASCOLI versuchte dabei bewul3t, CANTORsche Begriffe aus der li- nearen Punktmengentopologie auf Funktionenmengen zu tibertragen. 67 Die For- derung der ,,gleichm~il3igen Beschr~inktheit", die an eine unendliche, in ihrer M/ichtigkeit nicht n~iher spezifizierte Menge stetiger Funktionen gestellt wurde, erm6glichte es, mit Hilfe des ,,H~iufungsstellensatzes von BOLZANO-WEIERSTRASS" aus einer beliebigen abz~ihlbaren Funktionenfolge eine Teilfolge auszuw~ihlen, die auf einer im Intervall dichten Punktmenge konvergierte. Diese Auswahl einer Teilfolge erforderte dabei ein Vorgehen, das dem (transfiniten) ,,2. CANTORschen Diagonalverfahren" ~iquivalent ist. Hierbei mugten ngmlich zwei klassische (potentiell unendliche) Grenzfibergfinge gekoppelt werden, was sich auf natiir- liche und einfache Weise nur unter der Annahme der ,,aktualunendlichen" Exi- stenz einer Doppelfolge Gg (s = 1, 2 . . . . ; t = 1, 2 . . . . ) yon Funktionen durchffih- ren lieg. AnschlieBend sicherte dann die eng mit dem klassischen Begriff der gleich- m~il3igen Konvergenz verwandte Eigenschaft der ,,gleichgradigen Stetigkeit", dab die so ausgew~ihlte Funktionenfolge auch wirklich gegen eine stetige Funktion konvergierte -- hierffir war jedoch keine transfinite Schlugweise der obigen Art erforderlich. Es ist genau dieses ,,Zweischrittverfahren", das auch HILBERT zu- grunde legte, als er in seinen bekannten Arbeiten [1] und [2] aus den Jahren 1900 und 1901 das seit WEIERSTRASS' Kritik umstrittene sogenannte ,,DIRICHLETSChe Prinzip" rehabilitierte und die direkten Methoden der Variationsrechnung be- grfindete. Dabei ersetzte HILBERT in [2] die AscoLIsche Bedingung der gleich- m~il3igen Beschr~inktheit yon Funktionenfolgen durch die Forderung der Be- schr~inktheit gewisser Integralfolgen, wodurch sich ebenfalls mit Hilfe einer der Ascoglschen verwandten SchluBweise eine Folge yon ,,zul~issigen" Funktionen ausw/ihlen lieB, die gegen die gewfinschte ,,Potentialfunktion" konvergierte. 6s (Die Stetigkeit der Potentialfunktion wies HILBERT anschliel3end mit Hilfe der gleichgradigen Stetigkeit der Funktionenfolge nach.) HmBERT war sich dabei offenbar des transfiniten Charakters jener Schlul3weise bewul3t und lehnte sich fiuBerlich noch enger als ASCOLI an das (freilich auch erst 1890 yon CANTOR be- nutzte) 69 2. Diagonalverfahren an, indem er die Diagonalfolge einer Doppel- folge ausw~ihlte. Auch in seinen deutlicher als die obigen in der Traditionslinie der Funktionalanalysis stehenden Arbeiten zur linearen Integralgleichungstheorie aus dem Jahre 1906 wendete HILBERT die AscoLIsche SchluBweise an ([3], S. 113/114).

66 ASCOLIS Definition der gleichgradigen Stetigkeit und eine Andeutung yon ASCOLIS Beweis vgl. bei SIEGMUND-SCHULTZE [2].

67 Vgl. Abschnitt 3 dieses Kapitels. 6s Nfiheres vgl. bei Fugnote 1. 69 Zuvor (1874) hatte CANTOR die Oberabz/ihlbarkeit der Menge der reellen Zahlen

auf anderem Wege hergeleitet.

Anf/inge der Funktionalanalysis 37

Besondere Bedeutung erlangte der AscoLIsche Satz bekanntlich als eine Grund- lage ffir FR~CrIETS Kornpaktheitsdefinition im metrischen Raum (s. u.). Am ,,Satz yon ASCOLI" wird einerseits das unmittelbare Herausgewachsensein der Denkweise der Mengenlehre aus der klassischen Analysis sehr deutlich. Andererseits erweist sich hier die historische Notwendigkeit jener Denkweise, die die neuen verallge- meinerten mathematischen Gegenst/inde (Funktionenmengen) in der einfachsten und problemangemessensten Weise behandeln konnte.

2. Pincherle und Volterra - - ein Vergleich

Bis in die dreiBiger Jahre unseres Jahrhunderts hinein galten SALVATORE PIN- CHERLE (1853-1936) und V1TO VOLTERA (1860-1940) als die beiden groBen Stamm- v/iter der Funktionalanalysis. Noch 1928 sagte MAURICE FRI~CHET in seinem Vortrag auf dern VI. Internationalen MathernatikerkongreB in Bologna ([9], S. 267):

,,Et c'est bien ici le lieu de rappeler que l'Analyse g6n6rale n'aurait gu6re pu ~tre m6rne con~ue sans les travaux des math6rnaticiens italiens et particuli6rement de deux d'entre eux: MM. PINCHERLE et VOLTERRA."

Heute ist PINCHERLE den Funktionalanalytikern kaurn mehr bekannt und wird selbst in Mathematikgeschichtsbiichern nur beil~iufig erw/ihnt; VOLTERRAS Name aber wird meistens nut mit dessen Leistungen in der Differential- und Integral- gleichungstheorie in Verbindung gebracht.

PINCHERLE und VOLTERRA versuchten, jeder von einer anderen Seite kommend, die Begriindung einer verallgerneinerten Analysis. PINCHERLE subsurnierte diese Bemtihungen unter der Bezeichnung ,,calcolo funzionale" (s. o.). Interessant ist, dab sowohl PINCHERLE als auch VOLTERRA ihr Hauptziel in einer Verallgemeinerung der Theorie der Funktionen einer kornplexen Variablen, der dorninierenden Theo- rie der Analysis des 19. Jahrhunderts, erblickten 7°. Dabei nahrnen abe l und das ist, wie sich zeigen wird, yon ausschlaggebender Bedeutung fiir die Beurteilung ihrer Stellung zur modernen Funktionalanalysis, die beiden Mathernatiker ver- schiedene Arten der Begrtindung der komplexen Funktionentheorie zurn Vorbild: PINCHERLE die WEIERSTRASSSChe, VOLTERRA dagegen die IOEMANNsche. (Moti- vationen daftir sind aus den Lebensl/iufen leieht zu erschlieBen.) 71

70 Vgl. MEDVEDEV [3], S. 76. Die Richtigkeit dieser Bemerkung, die ffir rnich die Anregung zu tier folgenden Untersuchung war, l~Bt sich an den Einleitungen verschie- dener Artikel yon VOLTERRA und PINCHERLE tiberpriifen. Die Anlehnung an die komplexe Funktionentheorie ist zweifellos auch auf psychologische, 1-nit der zentralen Stellung jener Theorie in der klassischen Analysis zusammenh/ingende Faktoren zurtickzuftihren. Im Verlauf der historischen Entwicklung zeigte es sich imrner deutlicher, dab die reelle Funktionentheorie die geeignete Vorbildtheorie ftir die Verallgemeinerung der Analysis war, wfihrend die Bemtihungen urn eine Verallgerneinerung der komplexen Funktionen- theorie letztendlich in eine Sackgasse ffihrten.

71 PINCHERLE h6rte WEIERSTRASS in Berlin 1877/78. Er gab eine, nicht nur in Italien sehr beachtete Bearbeitung der WEIERSTRASSschen Vorlesungen heraus (1880) und war iiberdies, ebenso wie sein Lehrer, rnehr ,,reiner" Mathernatiker, als an Problernen der angewandten Mathematik interessiert. VOLTERRA dagegen war ein Schiiler yon E. B~TTI [1823-1892], dem Freund RIEMANNS, vor allem abet war er rnindestens ebenso sehr theo- retischer Physiker wie Mathematiker. Die Orientierung der gesamten mathematischen Arbeit yon E. RIEMANN (1826--1866) an physikalischen Problemen ist aber bekannt. Vgl. auch FuBnote 28 und POLIg~UK [1].

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2.1. Pincherle's Verallgemeinerung der komplexen Funktionentheorie. Noch mehr als VOLT~RRA hat sich vor allem PINCrmRLE mit der gr6Bten Ausdauer und AusschlieBlichkeit Problemen der Verallgemeinerung der Analysis zugewandt. Recht ausfilhrlich geht der namhafte sowjetische Mathematikhistoriker F.A. MEDVEDEV in seiner Arbeit [3] auf Leben und Werk S. P~NCHERLES ein. Dort werden die Leistungen PINCHERLES bei der Einfilhrung der abstrakten, axiomati- schen (vor allem auf algebraische Aspekte zielenden) Anschauungsweise und der Sprache der Geometrie in die Analysis ausfiihrlich gewilrdigt. (Allerdings ist der EinfluB der PINCHERLEschen Arbeiten auf die Entstehung der zentralen Gebiete der modernen Funktionalanalysis anscheinend gering geblieben.) Diese Ideen legte PINCnERLE erstmals in seinem Buch [2] yon 1901 ,,Le operazioni distribu- tive" dar, das er gerneinsam mit seinem Schiller U. AMALDI herausgab und das auBerdem die Ergebnisse frilherer Arbeiten yon PINCHERLE zusammenfaBt. (Ira weiteren soll stets auf diese Arbeit verwiesen werden.) Ich beschr~inke mich hier auf die Bemerkungen, dab PINCHERL~ die ,,operazione" als ganz allgemeine Mengenabbildung einftihrt, in Anlehnung an G. PEANO (1858-1932) und E. LA- GUERRE (1834-1886) den linearen Raum in strenger axiomatischer Form definiert und dann u.a. auch ein exakt begrfindetes Skalarprodukt und mit dessert Hilfe eine ,,operazione aggiunta", eine ,,adjungierte Operation", betrachtet.

Den Hauptinhalt der verschiedenen PINCnERLEschen Arbeiten zur Verallge- meinerung der Analysis bilden jedoch Untersuchungen fiber ,,distributive Opera- tionen" (S. 25, nach dem heutigen Sprachgebrauch ,,lineare Operationen") auf dem speziellen Raum S ( = spazio) der unendlichen (abz~ihlbaren) Folgen o¢ komplexer Zahlen (S. 68ff.). Diese betrachtet PINCHERLE als unendlich-kompo- nentige Vektoren und filhrt in Analogie zum endlichen Fall die Addition und die Multiplikation mit komplexen Zahlen ein (S. 69/70). Er stellt fest, dab S unendliche (und zwar abz~ihlbare) Dimension besitzt (S. 71). Der Zusammenhang zur kom- plexen Funktionentheorie ergibt sich bei PINCHERLE dadurch, dab er die Fol- gen 0~ = (ao, a~, a2 . . . . . an, ...) mit Potenzreihendarstellungen analytischer Funk- tionen o~(x) = ao + a l x + a2 x2 -~ . . . "~- anx n + . . . identifiziert, wobei der Kon- vergenzradius der Darstellungen natiirlich gegebenenfalls gleich Null ist. Er nennt S O die Menge aller der Potenzreihen ~(x), deren Konvergenzradius gr6J3er als Null ist (S. 72). (PINCHERLE will unter S O zugleich die Menge der nach einem Verfahren yon G. MITTAG-LEFFLER (1846-1927) eindeutig in eine ,,stella" (,,Stern- gebiet") analytisch fortgesetzten Potenzreihen verstanden wissen (S. 71/72); auf diese Weise schaffl er sich einen eindeutig bestimmten Funktionenraum.) S O wird als linearer Raum erkannt. In analoger Weise (s. o.) werden die sukzessive in S O enthaltenen linearen R~iume S r (r aus (0, e¢]) eingefilhrt (S. 73).

PINCHERLE fragt nun im (filr seine Theorie der verallgemeinerten Analysis zentralen) 72 Kapitel ,,Gli elementi del calcolo funzionale" (S. 87-118) nach den ,,distributiven" (additiven und homogenen) Operationen A des Raumes S O in sich. Im folgenden werden die wesentlichsten Schritte nachvollzogen, die PiN- CHERLE ZU einem Darstellungssatz filr jene Operationen ffihren, der ..... zum TAY- Loaschen Satz der Funktionentheorie analog ist. ''Ta

72 Zur Best~ttigung vgl. die Einleitung, S. IV-VI, des PINCHERLEschen Buches [2]. 73 PINCHERLE [3], S. 779.

Anfange der Funktionalanalysis 39

PINCHERLE stellt fest, dab es fiir eine Folge (0~n) von in einem gemeinsamen Bereich a regul/iren analytischen Funktionen einen nichttrivialen, d.h. zumin- dest den Raum S °' der endlichen Polynome enthaltenden linearen Teilraum T TM

von S o gibt, so dab die Reihe

( 1 ) = n ! " n = 0

fiir ~v aus T beziiglich eines Teilbereichs a' Q a gleichm~ii3ig konvergiert (nach einem Satz von WEIERSTRASS, auf den sich PINCHERLZ bezieht) und folglich eine distri- butive Operation von T in S o darstellt (S. 87/88). Hierbei bedeutet D n das Symbol fiir die Ableitung n-ter Ordnung.

Umgekehrt gelingt es PINCHERLE nun nachzuweisen -- und dieser Nachweis gilt ihm auch als eigentlicbe Rechtfertigung ftir die Verallgemeinerung des WEmR- STRASSschen Potenzreihenansatzes --, daB jede distributive Operation A in S °, fiir geeignete nichttriviale T und a dutch eine Reihe (1) darstellbar ist. Zu diesem Zweck iibertr~igt er den Begriff der Ableitung eines Differentialausdrucks n-ter

Ordnung F = ~ biD i nach dem Differentiationssymbol D in formaler Weise

auf die allgemeine distributive Operation A und gibt die (fiir F ' leicht nachweisbare) Formel

(2) A'(~) = A ( x .o 0 -- x . A(o 0

an, wobei oc eine vorgegebene analytische Funktion ist und A ffir die Funktion x . o~ erkl~rt sein soll (S. 100). Ist nun 7s A eine beliebige distributive Operation, die eindeutig in einer zumindest den yon den endlichen Polynomen aufgespannten Raum So" umfassenden Teilmenge von S o erkl/~rt ist, so sind gem~iB der durcll Induktion nach der Ableitungsstufe n verallgemeinerten Formel (2) die Ableitungen A n (1) definiert. Nun kann wie oben geschlossen werden (S. 104), dab ffir geeig-

nete T und a eine durch eine Reihe (1) dargestellte distributive Operation A deft- niert ist (S. 104):

A"(X) ( 3 ) = n-- -T-

n ~ 0

A ist zumindest in S °' erklfirt; mittels Einsetzen yon ~0 = x i (i = 1, 2 . . . . ) und unter Berticksichtigung der verallgemeinerten Formel (2) erhglt man durch Koeffi-

zientenvergleich A ( x i) = A(xi). Somit stimmen A und A auf S ~ tiberein, d.h. ffir beliebige distributive Operationen A ist eine Reihendarstellung (1) m6glich. Damit ist PINCHERLES Behauptung bewiesen.

Am Beweisgang wird deutlich, dab PINCHERLE in der auf LEIBN1Z und D'ALEM- BERT zurfickgehenden Tradition einer abstrakten Operatorentheorie stand, die beispietsweise von der englischen ,,Symbolischen Algebra" im 19. Jahrhundert

74 Diese Bezeichnung ist yon mir gew~hlt; R. S. 75 Im folgenden werden aus Grtinden der Obersichtlichkeit die PINCHERLEscben

GedankengS.nge etwas vereinfacht dargestellt. PINCHERLE sucht allgemeiner eine Dar- stellung ffir distributive Operationen, die ,,in einer Umgebung der (festen) Funktion #" (S. 85), d.h. ftir #, ¢x, px z, ... erkl~rt sind. Auf diese Weise erh/ilt PINCI-~RLE einen verallgemeinerten Darstellungssatz (1)', der ftir ~ --= 1 mit (1) tibereinstimmt.

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fortgeffihrt wurde. 76 Aber auch die Anlehnung PINCHERLES an WEIERSTRASS ist offensichtlich. Nicht nur, dab PINCHERLE als Grundraum den Raum der WEIER- STRASSschen Potenzreihenentwicklungen der analytischen Funkfionen wahlt, er konstruiert vor allem auch seine verallgemeinerten Funktionen, die distributiven Operationen, ebenso, wie es WEIERSTRASS mit den analytischen Funktionen tat. Erhielt dieser seine Funktionen dutch Fortsetzung von (zun5chst auf Kreisschei- ben definierten) Potenzreihen der elementaren analytischen Funktion x, so ent- wickelte PINCHERLE seine distributiven Operationen (ebenfalls zuniichst in ein- fachen ,,Regularitiitsbereichen") nach Reihen in Ableitungsstufen der elementaren distributiven Operation D.

2.2. Volterras Verallgemeinerung der komplexen Funktionentheorie. Bereits in seiner ersten Arbeit zur Theorie der ,,Linienfunktionen" aus dem Jahre 1887, in der er die grundlegenden Begriffe (Stetigkeit, Variation) eingefiihrt hatte, be- merkte VOLTERRA, dab er diese Untersuchungen fiir notwendig erachte, um eine ,,Ausdehnung der RIEM_aNNschen Theorie der Funktionen einer komplexen Va- riablen" durchffihren zu k6nnen ( ..... the credo necessari introdurre per una estensione della teoria di Riemann sulle funzioni di variabili complesse") ([1], S. 97). Im selben Jahrgang dieser Zeitschrift erschien ein Artikel von VOLTERRA, in dem er jene Gedanken n/iher ausfiihrte ([3]). In aller Ausffihrlichkeit sind diese Oberlegungen in der sehr umfangreichen und komplizierten Arbeit yon 1889 ent- wickelt ([4], S. 233-286). Im folgenden soll an Hand der Hauptergebnisse dieser Arbeit ein Vergleich des VOLTERRAschen Vorgehens beim Aufbau einer verall- gemeinerten Funktionentheorie mit dem RIEMANNschen Zugang zur komplexen Funktionentheorie durchgefiihrt werden.

VOLTERRA fragt zun/ichst, ob man die Theorie der Funktionen einer komplexen Variablen auf einen Raum mit drei Dimensionen verallgemeinern k6nne (S. 235). Er geht yon seiner Theorie der Linienfunktionen aus, wobei die Linien diesmat geschlossene Kurven im R a sein sollen, deren Koordinaten stetige Funktionen x, y, z der Bogenl~inge s der Kurve sind (S. 237). Als ,,Variation" der (komplex-

76 Aus dieser Schule stammen u.a. die Defmitionen abstrakter linearer Operationen und inverser Operationen -- man vgl. z.B. die Arbeit yon R. MURPHY [1], die yon PINCn~RL~ besonders gesch/itzt wurde. PINCm~RLn macht in [1] selbst Angaben dartiber, woher er die Anregungen zu seinen Untersuchungen nahm (S. 329):

"Le calcul des op6rations, quoique d6j~t ancien, est consid6r6 avec quelque d6fiance par la plupart des math6maticiens du continent, tandis que de nombreux auteurs anglais s'en sont constamment occup6s: le 'philosophical magazine', les 'philosophi- cal transactions' et d'autres recueils contiennent, depuis plus de quarante ans, de nombreuses notes ~t ce sujet."

Der konkrete mathematische Hintergrund waren vor allem das Studium algebraischer Eigenschaften gewisser ,,Operatoren" der Analysis, insbesondere des ,,Differential- operators" D, und damit zusammenh~tngend bestimmte Umformungs- und Verein- fachungsregeln fi.ir Differentialgleichungen, wie sie z.B. in den Arbeiten yon O. HEAVI- SIDE (1850-1925) vorkommen. PINCH~RLnS Untersuchungen erwiesen sich als fruchtbar in tier Theorie der LAPLAce-Transformation (vgl. auch DonxscH [1] und FREUDENTHAL [1]).

Anf~inge der Funktionalanalysis 41

wertigen) 77 Linienfunktion G wird (bekanntermagen) v8 folgendes Kurvenintegral bezeichnet (S. 241):

t t (4) d G ---- f (G; Ox + Gy + Oz) ds. L

Dabei sind die Gx, G), G~ die ,,ersten Ableitungen" der Linienfunktion G an der Stelle s bezfiglich der festen Koordinatenfunktionen x(s), y(s), z(s) der ,,Linie" L, die Ox, dy, dz sind die infinitesimalen, unendlichkleinen Verriickungen der Koor- dinaten der Kurve (Linie) L.

(4) wird in ein Oberfl/ichenintegral fiber die unendlichkleine F1/iche ~ umge- wandelt, die durch die Verrfickung von L fiberstrichen wird. Man erh/ilt (S. 243):

(5 dO = f (A cos nx + B cos ny -k C cos nz) d~.

Dabei sind A, B, C gewisse Funktionen der Koordinaten x, y, z, die mit den Rich- tungscosinus des Normalenvektors multipliziert werden. Wird nun eine Flfiche Z' durch zwei Linien L1 und L2 ,,beschrieben" (,,mener une surface par L~ et L2", S. 243), indem L1 so nach L 2 verschoben (und dabei deformiert) wird, bis beide Linien, auch in ihren Orientierungen, zusammenfallen v9, so gilt (S. 244):

(6) G(L2) - - G(L1) = f (A cos nx -k B cos ny + C cos nz) d•.

Dies ist, wie im folgenden noch deutlicher werden wird, ein Analogon zur CAUC~rV- RIE~NNschen Integration fiber Kurven in der komplexen Ebene bei konstantem Integranden. Die Linienfunktion G spielt dabei die Rolle der elementaren ,,mono- genen" Funktion f ( z ) = z.

Nachdem so die Verh/iltnisse in dem verallgemeinerten, aus Linien bestehenden Variablenfeld etwas schfirfer gefagt sind, beginnt VOLTERRA die Untersuchung der eigentlichen funktionalen Aspekte. Er nimmt dabei die RIEMAN~sche Funktionen- theorie zum Vorbild, indem er eine sogenannte ,,Isogeneit~tsbedingung" (,,liaison d'isog6n6it6") einffihrt (S. 252). (Bekanntlich hatte RI•MANN (wie auch schon CAUCHY) gefordert, dab der Grenzwert

lira f ( z ) - - f ( zo) z - ~ z o Z - - Z 0

nur yon der Stelle z o und nicht yon der Art der Ann~herung an Zo abh~ingen sollte und nannte nur solche f , die diese ,,Monogeneit~tsbedingung'" und damit die ,,CAUC~Y-RIEMAYNschen Differentialgleichungen" erffillten, ,,Funktion yon z").

VOLTERRA nennt nun, in Abstraktion yon dem bei RIEMANN vorausgesetzten Abh/ingigkeitsverh~ltnis zwischen den ,,komplexen Variablen" f u n d z (vgl. VOLTERRAS Einleitung, S. 235), zwei Linienfunktionen ,,isog6nes", wenn das Ver- h/iltnis

A F F(L') - - F(L)

A"-G -- G(L') - - G(L i

77 und in einem abgeschw/ichten Sinne additiven (vgl. S. 244). 78 Vgl. weiter oben in Kap. II. 79 X wird dadurch nattirlich nicht eindeutig bestimmt.

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(unter L' eine Linie verstanden, die bis auf eine Umgebung eines Punktes A mit L iibereinstimmt, dort aber deformiert ist) mit Ann/iherung von L' an L einem Grenzwert zustrebt, dernur yon der Lage des festen Punktes A abh~ingt (S. 252). VOLTERRA gelingt es nun, gewisse Differentialausdfiicke anzugeben, die ein Ana- logon zur LArLACEschen Gleichung A2 ~ - 0 in der komplexen Funktionentheorie darstellen, wenn auch die ~iul3ere Ahnlichkeit recht gering ist (S .258). Jedenfalls erffillen in Parallelitiit zur RIEMA~Nschen Theorie Real- und Imagin~irteil der zur Linienfunktion F isogenen Linienfunktion G = G1 + iG2 die besagte verall- gemeinerte LAPLACESChe Differentialgleichung (in die auch F eingeht). Umge- kehrt l~iBt sich zu jeder reellen Linienfunktion G1, die die obige Gleichung erffillt, eine weitere reelle Linienfunktion G2 bestimmen, so dab G =- G~ + iG 2 und F isogen sind (S. 258/59).

Um noch weitere S~itze der Funktionentheorie verallgemeinern zu k6nnen, dehnt VOLTERRA die Definition der Isogeneit~t auch auf komplexe Funktionen der Punkte des R a aus. Die Isogeneit~it zwischen einer solchen Funktion f und einer Linienfunktion F wird durch gewisse Differentialbedingungen definiert (S. 280).

So gelangt VOLTERRA schlie131ich zu einer Verallgemeinerung des CAUCHYschen Integralsatzes

(7) f f dF = 0 G

ffir isogene f und F (S. 283). Hierbei ist a eine geschlossene F1/iche und f f dF

dF dF ein Symbol ffir f f ~ da (S. 282). ~- bedeutet den Integranden aus (5) ffir F = G

(S. 247). Der verallgemeinerte Integralsatz (7) erlaubt nun auch eine Verallgemeinerung

des Begriffs des unbestimmten Integrals im komplexen Gebiet (S. 285):

L~

(8) f f dF = I(La). Lo

Hierbei wird das Integral, als Oberfl~ichenintegral im obigen Sinne, fiber die Flache erstreckt, die yon (der festen Linie) Lo und yon L~ ,beschrieben" wird. L F u n d f sind isogen; ffir f ~ 1 ergeben sich (6) und F = L Weiterhin gilt (s. 285):

dI (9) dF - f '

die Differentiation im Sinne der Definition der Isogeneifiit verstanden. Das zeigt, dab Differentiation und Integration (unter den entsprechenden Voraussetzungen) entgegengesetzte Operationen sind, wie VOLTZRRA bemerkt (S. 285).

Die Ausdehnung der Definition der Isogeneifftt auf gew6hnliche Funktionen bringt verstandlicherweise gewisse Abweichungen yon einer strengen Analogie zur Funktionentheorie mit sich. So ffihrt die Ableitung der Linienfunktion I nach der Linienfunktion F nicht wieder zu einer Linienfunktion. Vor allem ist es abet die wesentlich gr6Bere Kompliziertheit der verallgemeinerten Objekte, ins- besondere die wesentlich schwerere Durchschaubarkeit der Verh~iltnisse in den (verallgemeinerten) Mengen yon ,,Linien" (d.h. geschlossene Kurven im R a)

Anf/inge der Funktionalanalysis 43

im Vergleich zu der Einsichtigkeit der topologischen Bedingungen in der komplexen Ebene, die VOLTERRA keine so reichhaltige und in sich geschlossene Theorie wie die der klassischen komplexen Funktionen gewinnen lassen.

Eine Obertragung der tieferliegenden Aspekte der Funktionentheorie, wie z.B. der Begriffe des mehrfach zusammenh/ingenden Gebiets und der mehrdeuti- gen Funktion wird so yon VOLTERRA in seiner hier diskutierten Arbeit gar nicht erst in Angriff genommen.

2.3. Vergleich. Es ist bekannt, dab RIEMANNS ,,topologischer Zugang" zur komplexen Funktionentheorie der Denkweise der modernen Mathematik n~iher steht, dab er weiter in die Zukunft wies (gerade auch wegen der Herausforderung, die die mangelnde Exaktheit dieses Ansatzes darstellte) als der ,,klassische" und strenge WEIERSTRASSsche Zugang. Dies suggeriert in Hinblick auf die hier vorliegen- den Probleme die folgende Frage:

War es mit PINCHERLES und VOLTERRAS Arbeiten vielleicht /ihnlich? Steht VOLTERRAS groBe Bedeutung im EntstehungsprozeB der Funktionalanalysis viel- leicht damit im Zusammenhang, dab er bei seinem Versuch der Verallgemeinerung der Theorie der komplexen Funktionen, inspiriert yon RIEMANN, Begriffe entwik- kelte (!), die der Denkweise der modernen Theorie der reellen Funktionen ent- sprachen ?

Folgende, mehr ins Detail gehende Fragen k6nnte man stellen:

1. Sind VOLTERRA und PINCHERLE bei ihren Ausdehnungen der Funktionen- theorie zu ~ihnlichen, oder gar identischen (wie das bei RIEMANN und WE1ER- STRASS selbst war) Ergebnissen gelangt?

2. In welchem Sinne kann man davon sprechen, dab VOLTERRA (wie RIEMANN) einen ,,topologischen" Zugang zur Verallgemeinerung der Analysis ergreiff und PINCHERLE einen ,,algebraischen"?

3. Inwiefern wurde die VOLTERRAsche Theorie dern Anliegen der Verallgemeine- rung der Analysis besser gerecht als diejenige PINCHERLES .9

Zun~ichst l~iBt sich auf die Frage 1 antworten, dab zumindest ~iuBerlich keiner- lei ~_hnlichkeit zwischen den beiden Theorien besteht; daftir sind beide Theorien auch zu unvollst~indige l[lbertragungen der ,,Vorbildtheorie". Jedoch gibt es fiir diese Frage ebenso tiefer liegende Entscheidungsgfiinde wie auch ffir Frage 2, auf die man zun~ichst antworten kann, dab ftir VOLTERRA die Stetigkeit (oder Differenzierbarkeit) der verallgemeinerten Funktionen, ftir PINCHERLE aber ihre Linearit/it und ihre algebraischen Verknfipfungseigenschaften im Vordergrund stehen. Zun~chst soll aber PINCHERLE selbst zu Wort kommen, der folgendermaBen die grundlegenden, nicht unbedingt auf die beiderseitigen Versuche der Ausdeh- nung der komplexen Funktionentheorie bezogenen Unterschiede zwischen seinem und VOLTERRAS Vorgehen bei der Verallgemeinerung der Analysis kennzeichnet ([1], S. 325/26):

,,... on doit remarquer ... qu'on peut y suivre deux voles bien distinctes, ainsi que cela a lieu darts la th6orie ordinaire des fonctions. Dans celle-ci nous avons en effet deux directions diff~rentes par la m6thode et par le but. L'une m6ne ~t la th6orie des fonctions de variables r6elles au sens de Dirichlet, o~t la d6pendance entre la fonction et ses arguments est tout-~t-fait arbitraire; l'autre conduit ~t la th6orie des fonctions

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analytiques, oCx la nature arithm6tique de cette d6pendance a, au contraire, la plus grande importance. La premiere, plus extensive, nous permet d'obtenir des r6sultats plus g6n6raux; l'autre, plus intensive, p6n6tre plus profond6ment dans l'essence intime des propri6t6s des fonctions. I1 en est de m~me dans le calcul fonctionnel: l~t aussi, on a l e choix entre deux ordres de recherches, soit qu'on veuille 6tudier les cons& quences qui r&ultent du seul fait qu'un 616ment varie en suite de la variation arbi- traire d'une ou de plusieurs fonctions, soit qu'on pr6f6re 6tudier et classifier les diff6- rentes formes que peuvent pr6senter les op6rations qu'on peut executer sur les fonc- tions et que nous appellerons op6rations fonctionnelles."

Am Schlu8 der langen und ausfiihrlichen Einleitung seiner Arbeit yon 1897 schreibt PINCHERLE ([1], S. 332):

,,Mais nous esp6rons que, malgr6 ces lacunes, notre essai suffira /t prouver qu'ort peut p6n6trer assez profond6ment darts l'&ude des op6rations fonctionnelles par des moyens suffisamment 616mentaires, et sans l'usage des int6grales d6finies qui ont Pin- conv6nient d'introduire des consid6rations 6trang~res h la th6orie des op6rations. ''8~

Dieses Zitat steht in engem Zusammenhang zu folgender NuBerung PINCHERLES ([3], S. 779), die sich iibrigens sinngemN3 auch in seinem Buch yon 1901 ([2], S. V) findet:

,,Es ist bemerkenswert, dass die Konvergenz der Reihen (44) (gemeint sind Reihen der Form (1); R. S.) keineswegs eine Eigenschaft verlangt, die ein Analogon der Stetig- keit w/ire."

Diese Eigenschaften (d. h. der Verzicht auf eine Stetigkeitsdefinition und auf damit zusammenh/ingende Integrationsoperationen) wurden yon PINCHERLE offenbar als Vorzug seiner Theorie empfunden. Sie k6nnen aber gerade als Begriindung dafiir dienen, dag sich PINCHERLES Arbeiten nicht in den Strom yon Ideen ein- ordneten, der sphter in die ,,Funktionalanalysis" miinden sollte.

Die yon VOLTERRA untersuchten Stetigkeitseigenschaften der verallgemeinerten Funktionen, die auf Konvergenzbetrachtungen in der als Definitionsraum dienen- den Funktionen- oder Kurvenmenge hinausliefen 81, begriinden gerade das, ,Topo- logische" an seinem Zugang. Was VOLTERRA mit RIEMANN in topologischer Hin- sicht verbindet, ist eine Unterordnung des Begriffs der Funktionalitiit unter den der Menge in folgendem Sinne:

Eigenschaften yon Funktionen werden stets unmittelbar in Beziehung zu Eigen- schaften der Definitionsmengen gesetzt (und nicht wie bei PINCHERLE auf Eigen- schaften einfacherer Funktionen zurtickgefiihrt.) Sowohl RIEMANN als auch VOLTERRA greifen bei der Definition der (unbestimmten) Integration auf die in- finitesimalen Eigenschaften der Definifionsmengen zuriick, indem sie den Begriff der durch Mengeneigenschaften erklhrten ,,Ableitung" der jeweiligen Funktio- nen (durch Forderung der Monogeneit~ts- bzw. Isogeneit~itsbedingungen) ein- ftihren. Bei der Definition der bestimmten Integration bediirfen RIEMANN und VOLTERRA zur integrativen ,,Aufsammlung" yon Kurvensegmenten (RIEMANN) s2

8o Man halte hier wieder W~ERSTRASS' Vorgehen dagegen, dem die Integration ,,als ein zum Zwecke des systematischen Aufbaus der Funktionentheorie unbefriedigender ProzeB" (Osaooo [11, S. 77) erschien.

8~ Nattirlich beruhend auf dem klassischen Begriff der gleichm/iBigen Konvergenz. 82 Nattiflich im Sinne der Kurvenintegration im komplexen Gebiet verstanden.

Anf/inge der Funktionalanalysis 45

bzw. Fl~ichensegmenten (VOLTERRA) der begrifflichen Fassung (Stetigkeit) der An- n:iherung der Mengenelemente (Punkte im R 2, Linien im R3). (VOLTERRA bedarf hierbei noch des besonderen Begriffs der (partiellen) Ableitung der Linienfunk- tion, der die Differenzierbarkeit der Parameterdarstellung der Kurven im kom- plexen Gebiet (bei RIEMANN) ersetzt und damit die ,,Regularit/it" des Integrations- gebietes sichert.)

Eng im Zusammenhang mit dem Vorigen steht ein weiterer Grund daftir, dab die Theorien yon VOLTERRA und PINCHERLE stark voneinander verschieden sind. Dieser Grund ist die wesentlich kompliziertere Natur der in der verallgemeinerten Analysis betrachteten Definitionsmengen (im Vergleich zu denen der Funktionen- theorie). Tats/ichlich wird z.B. in der Ebene sofort klar, was unter ,,Umgebung", was unter ,,Zusammenhang" zu verstehen ist; einfache geometrische Figuren, wie Kreise und Geraden verdeutlichen das. In Funktionenmengen ist dagegen da- yon a priori nichts vorhanden, und nur durch die Entwicklung topologischer Begriffe kann jene intuitive Klarheit auf h6herer Ebene wieder eingefiihrt werden. Die Klarheit und Einfachheit der topologischen Verhftltnisse in der Ebene (so- weit sie ftir die klassische Funktionentheorie yon unmittelbarem Interesse waren) ist mitverantwortlich ftir die .Aquivalenz yon RIEMANNS und WEIERSTRASS' Funk- tionentheorien. Deshalb waren auch WEIERSTRASS' Bedenken gegen RIEMANNS Verwendung ,,transzendenter" Methoden zum damaligen Zeitpunkt berechtigt, da sie sich gegen die mangelnde mathematische Fundierung einiger Eckpfeiler der RIEMANNschen Theorie, besonders die unexakte Begrtindung des sogenannten ,,Dm:CHLETschen Prinzips" und des Kurvenbegriffes wendeten, und da anderer- seits der WEIERSTRASssche Weg, die Funktionentheorie ,,auf dem Fundamente algebraischer Wahrheiten ''83 aufzubauen, zu derselben reichhaltigen Theorie fiihrte. Anders dagegen bei PINCHERLES ,,Vorwfirfen" gegen VOLTERRA. Hier ging es nicht urn den Streit zwischen zwei Arten, eine Theorie zu begriinden, sondern eigentlich um die Begriindung zweier unvereinbarer Theorien. Ungeachtet dieser Tatsache und eingedenk dessen, dab beide Theorien ihre (wenn auch beschr/ink- ten) Anwendungsgebiete s4 hatten, l:iBt sich m. E. doch zusammenfassend folgendes zur obigen dritten Frage bemerken:

Weder VOLTERRAS noch PINCHERLES Versuch der Verallgemeinerung der Theo- rie der komplexen Funktionen war fiir die weitere Entwicklung der verallgemeiner- ten Analysis yon grol3er Bedeutung. Jedoch entwickelte VOLTERRA in Anlehnung an RIEMANN bei seinem Versuch Grundbegriffe (Stetigkeit, Variation), die in ganz anderem Entwicklungszusammenhang yon grol3em EinfluB auf die Entstehung der Funktionalanalysis sein sollten. Die Einftihrung jener Grundbegriffe geschah gem/iB dem RIEMANNSchen Vorgehen nach dem Vorbild der Theorie der reellen

83 WEIERSTRASS [1], Bd. II, S. 235. Brief an H. A. SCHWARZ vom 3.10. 1875. s4 Bezi.iglich PINCHERLE vgl. FuBnote 76. VOLTERRA sah einen engen Zusammen-

hang zwischen seiner Arbeit [4] und der POINCAR~schen Theorie der Funktionen zweier komplexer Variabler, womit er zugleich auf ein m6gliches wichtiges Anwendungsgebiet seiner Theorie hinwies. Er bemerkte z.B. (S. 236), dab auf Grund der POINCAR~schen Verallgemeinerung des CAUCHYsChen Integralsatzes gewisse Doppelintegrale tiber Fl/i- chen nur noch yon den Randkurven dieser F1/ichen abNingen und folglich Linienfunk- tionen sind.

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Funktionen, die in Italien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Bliite stand. 8s PINCHERLES Vorgehen offenbart dagegen in seiner algebraischen Orienfierung ein vorzeitiges hohes Abstraktionsniveau bei unzureichender vorheriger Kl~irung der topologischen Grundlagen. (,~hnliches gilt iibrigens auch fiir den grol3angelegten Versuch des Amerikaners E. H. MOORE (1862-1932), eine ,,general analysis" (um 1904) zu begriinden.) 86

Es ist bemerkt worden sT, dab die PINCHERLEschen Ergebnisse in der Theorie der linearen Riiume und linearen Operatoren ,,verloren" worden seien, und yon HILBERT und RIESZ wieder neu gefunden werden mul3ten. Die obigen Aus- ftihrungen zeigen, dab es sich hierbei keineswegs um ein einfaches ,,Verlieren" aus subjektiver Unkenntnis bei HILBERT oder RIESZ handelte, sondern urn ein ,,notwendiges Verlieren", einen objektiven historischen Prozel3, der durch die Priorit/it topologischer Gesichtspunkte bei der Verallgemeinerung der Analysis bedingt war.

3. Arzeldls Arbeit yon 1889 -- Vorbote der Frdchetschen ,,Analyse gdndrale"

In den Berichten der Accademia dei Lincei (Akademie der Luchsiiugigen) des Jahres 1889 stellte das korrespondierende Akademiemitglied V. VOLTERRA eine Arbeit von CESARE ARZEL~, (1847-1912) [1] vor. Diese Arbeit ist ein H6he- punkt der italienischen Untersuchungen zur Verallgemeinerung der Analysis, da sie die AscoLIschen Ergebnisse in der allgemeinen Punktmengentopologie mit dem VOLT~RRAschen Konzept der ,,Linienfunktion" zusammenbringt und dabei noch stiirker die allgemeinen topologischen, yon CANTOR herriihrenden Gesichtspunkte betont, als das ASCOLIS Arbeit getan hatte. Aus diesen Griinden war die ARZEL.ksche Arbeit [1] der nattirliche Ankniipfungspunkt fiir FR15.CHETS abstrakte Untersuchungen zu Beginn unseres Jahrhunderts.

ARZEL.~ hatte sich seit Beginn der 80er Jahre verst/irkt der Untersuchung von Funktionenmengen und Funktionenfolgen zugewandt. Seine zweifellos be- deutendste eigene Leistung auf diesem Gebiet ist die Einfiihrung des Begriffs der ,,quasigleichmaBigen", oder wie ARZEL~ sie nannte, der ,,streckenweise gleichm~.Bigen" Konvergenz 88 (convergenza uniforme a tratti) yon Funktionen- folgen. Diese Konvergenzart erkannte er als hinreichende und notwendige Be- dingung fiir die Stetigkeit der Grenzfunktion einer Folge von stetigen Funktio- nen.

Die ARZELXsche Arbeit [1] yon 1889 hatte jedoch andere Ziele. In einer Hin- sicht war sie fi~r ARZEL~ eine Vorbereitung auf den Versuch einer Rechtfertigung des sogenannten DmICHLETschen Prinzips der Variationsrechnung, worauf er

s~ Zum Beispiel stammt das erste Lehrbuch der modernen mengentheoretischen Theorie der reellen Funktionen (1878) yon U. DINI (1845-1918), einem Lehrer VOLTERRAS und PINCHERLES.

s6 Vgl. BERNKOVF [1], S. 44/45 und FR~CF~rT [7], S. 14. Vgl. auch Ful3note 25. a7 MONNA [1], S. 133. as Vgl. B~RNKOVF [1], S. 35.

Anf/inge der Funktionalanalysis 47

(wie auch schon ASCOLI) ausdfiicklich in der Einleitung der Arbeit hinweist (S. 343) 89. Aus diesem Grunde steht der AscoLische Begriff der gleichgradigen Stetigkeit im Vordergrund, und den gr6Bten Raurn beansprucht in der Arbeit die Verallgemeinerung des ,,Satzes yon ASCOLI" yon Funktionenmengen auf (ebene) Kurvenmengen (S. 344-347) 9°. ARZEL~ verweist hierbei ausdriicklich auf ASCOLIS Priorit/it (S. 345), und in der Tat ist ARZEL)~S Beweis zwar aufwendig, aber relativ trivial, da er unmittelbar ASCOLZS Resultat verwendet (S. 346) 9~.

Wichtiger ftir die Einordnung dieser Arbeit in den EntwicklungsprozeB der verallgemeinerten Analysis ist aber m.E. die Art, in der ARZEL~ an VOLTERRAS Untersuchungen ankntipft und in derer bewuBt allgemeine ,,funktionalanalytische" Gesichtspunkte in den Mittelpunkt stellt. ARZEL)~ bemerkt zun~ichst, dab VOLTERRA zwar die Stetigkeit seiner Linienfunktionen definiert babe, aber nicht untersucht habe, ob sich die fundarnentale Eigenschaft von gew6hnlichen stetigen Funktionen, ihr Maximum, ihr Minimum und jeden dazwischen liegenden Wert anzunehrnen, auf stefige Linienfunktionen tibertragen lasse 92. Diese Frage sei der Gegenstand des vorliegenden Artikels, die Variationsrechnung stelle ein m6gliches Anwen- dungsgebiet dieser Untersuchungen dar (S. 342/43). ARZEL~ bernerkt dann (S. 343):

,,Lirnitando alquanto il concetto di funzioni di linee posto dal prof. Volterra, io dimostro chela proprieth anzidetta continua a sussistere."

Diese Einschrgnkungen des VOLTERRAschen Linienfunktionenkonzepts gehen, wie dann klar wird, in zwei Richtungen:

a) ARZ~L.k untersucht, entsprechend der obigen Zielstellung, nut stetige (im Sinne von VOLTERRA) Linienfunktionen. Der VOLTERRAsche Begriff der ,,Varia- tion" einer Linienfunktion spielt hier keine Rolle.

b) ARZEL~, untersucht nur Funkfionen auf speziellen Kurvenrnengen, die durch die AscoLIsche Bedingung charakterisiert sind. Um den WEIERSTRASSschen Zwi- schenwertsatz ebenfalls verallgerneinern zu k6nnen, muB ARZEL.k noch zus/itzliche, sehr einschneidende Bedingungen an die Kurvenmengen stellen, die deren inneren ,,Zusarnmenhang" garantieren rnfissen (S. 347).

ARZELk war also offenbar der Meinung, dab einer tiefergehenden Untersu- chung der Linienfunktionen (Untersuchung von Ableitungen u. dgl.) die Feststel- lung ihrer einfachsten Eigenschaften und die ~bertragung der fundamentalen S/itze der klassischen Analysis vorangehen rntisse. Man beachte, dab es sich hier-

s9 Das entsprechende Zitat vgl. MONNA [2], S. 109. MONNA weist in seiner Arbeit darauf hin (S. 113), dab ARZEL)~S Beitrag zur Rechtfertigung des DIRICHLETSChen Prin- zips, den er vor allem in einigen Arbeiten urn 1895 leistete (vgl. z.B. ARZEL~ [2]), im all- gemeinen yon Mathematikern und Historikern unterschRtzt worden ist. Allerdings lieBe sich kein direkter EinfluB von ARZEL.k auf HILBERT nachweisen. DaB schon FRt~CHET ARZEL)~S Arbeiten Priorit/it vor denen t-IILBERTS einrfiumte, 1/il3t sich tibrigens aus seiner Dissertation ersehen ([2], S. 11).

9o Zu diesem Aspekt der ARz~L)~schen Arbeit vgl. MEDWDEV [1], S. 160. 9~ Deshalb erscheint auch das transfinite AscoLIsche Auswahlprinzip bei ARZ~L)~

nicht. 92 Es handelt sich hierbei um bekannte S/itze von K. WEIERSTRASS.

48 R. SIEGMUND-ScHULTZE

bei keineswegs darum handelte, eine ,,Reihenfolge der Abarbeitung von Pro- blemen" umzukehren; vielmehr fiihrte dieses ARzzL3,sche Vorgehen, wie die wei- tere Entwicklung zeigen sollte, zu tiefgreifenden konzeptionellen Umorientierungen im ProzeB der Verallgemeinerung der Analysis (s.u.). Bei ARZEL3~ tritt das Stu- dium der topologischen Verh~iltnisse in den verallgemeinerten Definitionsmengen verst~_rkt in den Vordergrund. (Dies aber gerade ist es, was weiter oben die Priori- tat der topologischen Gesichtspunkte in der Friihphase der Funktionalanalysis genannt wurde.) Dabei steht ARZELk der modernen Analysis schon urn einen wei- teren Schritt n~her als noch AscoLI. Dies beruht auf den unterschiedlichen Kon- zeptionen, die ASCOLI und ARZEL3~ vom Begriff des Grenzelements haben. ASCOLI bewies in seiner Arbeit [1] zun/ichst den nach ibm benannten Satz, und nannte die dabei erhaltene Grenzfunktion ,,linea limite" (S. 549), die er sich also gewisser- mai3en aus den Grenzwerten yon Punktfolgen ,,zusammengesetzt" vorstellte. AR- ZEL3, dagegen definiert zuerst den Begriff der Grenzkurve ,,ente-limite" (S. 343), und zwar unter Zuhilfenahme des Begriffs der ,,Distanz" (distanza), die als Mini- malabstand zweier stetiger Kurven erkl~irt wird. (Zus/itzlich fordert ARZEL)~, dab in beliebigen vorgegebenen, dutch Kurven begrenzten ,,Umgebungen" (intorni) der Grenzkurve unendlich viele der Ngherungskurven liegen sollen.)

Dies impliziert natiirlich unmittelbar eine abstraktere Anschauungsweise als sie noch ASCOLI hatte; insbesondere war der AscoLIsche Begriff der Ableitung einer Funktionenmenge (ASCOLI [1], S. 549: ,,derivata prima") an die bei ASCOLI betrachteten gleichgradig stetigen und gleichm/il3ig beschrankten Funktionen- mengen gebunden. Bei ARZELi dagegen sind weitergehende Begriffsbildungen, z.B. der Begriff der perfekten Menge (,,variet~ perfetta", S. 347) yon solchen Bedingungen zungchst unabh~ingig. Zur ARZEL3~schen Konzeption des Grenz- elementes bemerkt FRI~CHET ([2], S. 56), ARZEL~ sei der erste Mathematiker ge- wesen, der bei Untersuchungen des Grenzverhaltens yon Kurven- bzw. Funk- tionenfolgen die Bedeutung der Definition einer fest bestimmten Zahl als MaB fiir die Ann~herung an eine Grenzrkurve bzw. Grenzfunktion erkannte (w/ihrend z. B. WEIERSTRASS in der Variationsrechnung eine wertm~tBige mehrdeutige ,,Nach- barschaft" zwischen Funktionen definiert habe). Eine solche lest bestimmte Zahl wird ja dann auch von ~'R~CHET bei der Einftihrung der Metrik definiert.

Dies ist jedoch nur ein Ankniipfungspunkt von vielen, die vor allem die obige Arbeit yon ARZEL.k bot: FRt~CHET verwendet den ,,Satz von ASCOLI-ARZEL.k" als ein Kompaktheitskriterium ftir Funktionenmengen und verallgemeinert ihn aul3erdem auf Mengen yon Funktionalen ([2], S. 30). FRt~CHET verallgemeinert, angeregt durch ARZEL~ (und BAIRE, S.U.), den Satz von WEIERSTRASS fiber die Annahme des Minimums und Maximums durch stetige Funktionen, die auf einem abgeschlossenen Intervall definiert sind, auf den Fall ,,halbstetiger" Funktionale auf ,extremalen" (kompakten und abgeschlossenen) Mengen. FRI~CHET weist hierbei aber ausdriicklich darauf hin ([2], S. 8), dab fiir diesen Beweis die Annahme der ,,Stetigkeit" der Definitionsmengen, die ARZEL~ benutzt habe, nicht erfor- derlich sei. Dieser bewies den obigen Satz zusammen mit dem ,,Zwischenwert- satz" unter einheitlichen Voraussetzungen (vgl. die obige Einschr~nkung b)); diese Voraussetzungen sollten bei ihm offenbar den (klassischen) Begriff des ab- geschlossenen (zusammenh~ngenden) Intervalls ersetzen. Hier enden folglich die Gemeinsamkeiten yon ARZELk und FRt~CHET. Das Trennende zwischen beiden

AnfS.nge der Funktionalanalysis 49

liegt vor allem in der fehlenden Abstraktheit der ARZEL3,schen Mengen begriindet. LieB sich die ASCOLI-ARZEL~sche Kompaktheitsbedingung noch problemlos abstrakt formulieren, so ist dies bei der fiir den Beweis des Zwischenwertsatzes erforderlichen ,,Zusammenhangsbedingung" nicht mehr so. ARZEL3~ macht hier- bei vonder konkreten Interpretation der Definitionsmengen umfangreichen Ge- brauch, wenn er unter anderem fordert (S. 347), dab es im Definitionsgebiet zu zwei gegebenen Kurven stets eine ,,perfekte" Kurvenmenge geben soll, so dab sich eine stetige Verbindungskurve zwischen den beiden Kurven konstruieren l~il3t, deren Punkte alle auf Kurven jener perfekten Menge liegen. (Die Voraus- setzungen fiir die ~bertragung solcher speziellen topologischen Bedingungen auf abstrakte Mengen waren, wie es sich zeigen sollte, auch 1906 noch nicht gege- ben 9a. So verallgemeinert FR~CHET zwar den Zwischenwertsatz auf sogenannte ,,stetige Mengen" ([2], S. 9); diesen Begriff fiihrt er aber durch stetige Abbildung direkt auf das reelle Intervall [0, 1] zurtick. Dies bedeutet nattirlich eine Abkehr yon rein abstrakten, axiomatischen Untersuchungen, und aus diesem Grund verfolgt FR~CHEr diesen Weg auch nicht weiter und 1/il3t den Begriff der ,,stetigen Menge" wieder fallen.)

Wegen der ,,Konkretheit" der ARzEL3~schen Mengen war auch eine Ubertra- gung von Begriffen der CANTORschen linearen Punktmengenlehre aufjene Mengen zum grogen Teil nur formal m6glich, wobei die dazugeh6rigen S6tze der Mengen- lehre nicht mit fibertragen werden konnten. (Immerhin sollte man aber den blogen Fakt der Obertragung jener Begriffe in seiner Bedeutung ftir die Entwicklung der abstrakten mengentheoretischen Denkweise in der verallgemeinerten Analysis nicht unterschfitzen.) Bei FR~CHET offenbaren sich auch die Unzul~inglichkeiten der ARZELAschen Konzeption vom Grenzelement. Diese Konzeption unterzieht FR~CHET in [2] einer Kritik (S. 55) und weist darauf bin, dab bei ARZEL3~ der Di- stanzbegriff alIein nicht ausreicht, um die Grenzkurve zu definieren, und dab ins- besondere das Verschwinden der Distanz zwischen zwei Kurven lediglich bedeutet, dab sie gemeinsame Punkte besitzen. In FR~CHETS metrischen RSumen dagegen wird die Distanz bekanntlich nur dann zu Null, wenn die Elemente des Raums tibereinstimmen.

Trotz dieser eben genannten Mfingel der ARZEL2~schen topologischen Ansfitze bleibt jener Arbeit das Verdienst, auf die M6glichkeiten der mengentheoretischen Topologie in der verallgemeinerten Analysis hingewiesen zu haben. Vermittelt durch FRI~CHET waren ARZEL~S Ergebnisse von hervorragender Bedeutung ftir die Entstehung der abstrakten Analysis.

Kapitcl IV Die Entstehung des Fa~cnETschen metrischen Raums in der franzSsischen Theorie der reellen Funktionen

MAURICE FRI~CHET hat bekanntlich in seiner beriihmten Dissertation [2] von 1906 die axiomatische Theorie des ,,metrischen Raums" (der erst 1914 von F. HAUSDORFF [I] SO bezeichnet wurde) und seiner stetigen und halbstetigen

93 Es deutete sich schon hier die Notwendigkeit weitergehender Begriffsbildungen, z.B. ,,linearer topologischer RS.ume" an.

50 R. SIEGMUND-SCHULTZE

Funktionale geschaffen. Obwohl diese Arbeit schon oftmals Gegenstand histori- scher Untersuchungen gewesen ist, wurde ihr Herausgewachsensein aus verschie- denen Ans~itzen insbesondere des italienischen ,,calcolo funzionale", das im letzten Kapitel angedeutet worden ist, bisher ebenso wenig analysiert, wie ihre feste Verankerung in der franz6sischen Schule der Theorie der reellen Funktio- nen. Diese letzteren Beziehungen will das vorliegende I(apitel ein wenig aufhellen, da bier insbesondere die Bedeutung der Mengenlehre sowie des Wechselverh~ilt- hisses yon konkreter und abstrakter Analysis bei der Entstehung der Funktional- analysis hervortritt. Die folgende Analyse wird auBerdem zeigen, dab auch die FR~CnErsche Theorie des metrischen Raums noch eine gewisse Mittelstellung zwi- schen klassischer, konkreter Analysis und moderner Funktionalanalysis einnimmt. Der Umw~tlzungsprozeg der Analysis war damals noch in vollem Gang und erst in den Arbeiten von HAUSDORFF [1] und anderen Mathematikern wurden gewisse der Fa~CHETschen Theorie noch anhaftende Beschr~inkungen fiberwunden.

1. Frdchets Quellen

Wie es sich bereits an der Bibliographie in FRI~CHET [21, S. 71/72, erkennen l~ii3t, sind FR~,CHETS wichtigste Quellen die folgenden:

a) Modernere Arbeiten fiber lineare Punktmengenlehre, besonders aus der fran- z6sischen funktionentheoretischen Schule (BAIRE, BOREL, LEBESGUE).

b) Arbeiten fiber Kurvenmengen, mit Feststellung von Kompaktheitsbedingungen (ARZEL.~, HILBERT) sowie erste Ans/itze einer Untersuchung von allgemeineren Funktionen (ARZELk). Diese Arbeiten stammen (ursprfinglich) aus der Varia- tionsrechnung.

c) Anregungen zur Herausarbeitung allgemeinerer topologischer Gesichtspunkte yon HADAMARD und BAIRE, die schon deutlich in die Richtung yon FR~CHETS Arbeit weisen und eine gewisse Zwischenstellung zwischen a) und b) einneh- men. SchlieBlich in etwas geringerem MaBe:

d) Arbeiten yon J. M. LE Roux (1863-1949) fiber Funktionen unendlich vieler Variabler (HILBERTS vierte Mitteilung zur Integralgleichungstheorie yon 1906 lag noch nicht vor).

Die Hauptschwierigkeiten bei der l~lbertragung der Ans/itze a) und b) in eine abstrakte Theorie ergaben sich aus folgendem: Bei a) wurden zum Beweis der S/itze, und mochten sie auch rein topologischen

Charakter haben, natfirlich meist die speziellen Eigenschaften der reellen Zahlengerade, z.B. die Anordnung der Punkte, herangezogen.

Bei b) handelte es sich nicht um Arbeiten, die ,,inhaltlich axiomatisiert" waren, also durch ,,einfacheAbstraktion" von diesem Inhalt in abstrakte axioma- tische Form gebracht werden konnten.

2. Die Hauptergebnisse der Frdehetschen Dissertation yon 1906

Aus den eingangs genannten Grfinden beschr/inke ich mich zun/ichst auf eine kurze Erw~ihnung der Hauptergebnisse der Arbeit von FR~CHET [2]. Sie bestehen in der Begrfindung einer abstrakten axiomatischen Theorie des metrischen Rau-

Anf/inge der Funktionalanalysis 51

mes, der durch die auch heute iiblichen Axiome charakterisiert wird, in der Ein- filhrung und Untersuchung der Begriffe , ,Kompaktheit" (s.u.) und ,,Separabili- t/it T M und in der f]bertragung einiger fundamentaler S/itze der reellen Funktio- nentheorie und der linearen Punktmengenlehre (z.B. des BOREL-LEBESGUEschen Oberdeckungssatzes) auf stetige (bzw. halbstetige) Funktionale und abstrakte metrische R~iume. Dabei ist zu beachten, dab FR~CHEXS neue Begriffe nicht in der Luft schweben, sondern konkrete Beztige zu bestimmten, gegen Ende des 19. Jahr- hunderts untersuchten verallgemeinerten Mengen, wie Funktionen- und Folgen- mengen haben. Eine besondere Rolle spielt deshalb z.B. die ASCOLI-ARZEL)~sche Kompaktheitsbedingung filr Mengen yon stetigen Funktionen (bzw. Kurven).

3. Die Anregungen yon or. H a d a m a r d

JACQUES HADAMARD, FRI~CHETS Lehrer, kann als Initiator und Organisator des franz6sischen calcul fonctionnel angesehen werden. Er gab Anregungen und trug Eigenes bei sowohl in der abstrakten Analyse g6n6rale als auch in den konkreten Untersuchungen der Analyse fonctionnelle 95. Sein besonderes Verdienst besteht zweifellos darin, dab er die Ergebniss e der italienischen Schule der verallgerneiner- ten Analysis, insbesondere die seines Freundes VOLTERRA, in Frankreich propa- gierte und auf diese Weise die neuen, um die Jahrhundertwende entwickelten, funktionentheoretischen Methoden der franz6sischen Analysis rnit dem calcolo funzionale der Italiener in Berilhrung brachte 96. Jene neuen Methoden beruhten bekanntlich vor allem auf der nunmehrigen systematischen Verwendung der Mengenlehre in der Funktionentheorie. Und in der Tat ist ffir HADAMARDS Stellung zur Verallgemeinerung der Analysis die bewuBte Verwendung der Mengenlehre bestimmend. Er filhlte sogar die Notwendigkeit, fiir eine grilndliche Durchftihrung jenes Unternehrnens ein zus~itzliches, neues ,,Kapitel der Mengenlehre" zu schaf- fen (s.u.), womit er letzten Endes, wie noch zu sehen sein wird, nichts anderes meinte, als die Begrilndung der axiomatischen, mengentheoretischen Topologie, die sein Schiller FRI~CHET begann. Sehr gut wird dies durch ein bekanntes, yon FRt~CHET mehrfach hervorgehobenes Zitat HADAMARDS belegt ([6], S. 17):

,Le eontinu fonetionnel -- c'est-h-dire la multiplicit6 obtenue en faisant varier con- tinfiment une fonction de toutes les mani6res possibles -- n'offre, en effet, /t notre esprit, aucune image simple. L'intuition g6om6trique ne nous apprend rien, ~ priori, sur son compte. Nous sommes forc6s de rem6dier h cette ignorance, et nous ne pouvons le faire qu'analytiquement, en cr6ant h l'usage du continu fonctionnel, un chapitre de Th6orie des ensembles."

Als Geburtsjahr des franz6sischen calcul fonctionnel k6nnte man das Jahr 1897 bezeichnen, in dern der I. Internationale MathematikerkongreB yon Zilrich statt- fand. Die Abhaltung dieses Kongresses ist Ausdruck eines neuen Niveaus inter- nationaler mathematischer Zusarnmenarbeit um die Jahrhundertwende. Ftir die

9, ,,Separabel" sind bei FR~CHET Mengen, die ,,Ableitung" einer abz/ihlbaren Teil- menge sind (S. 23). FR~CHET erkennt iibrigens noch nicht, dab die Separabilit/it aus der Kompaktheit folgt. Vgl. BERNKOPF [1 ], S. 39.

95 Vgl. FuBnote 41. 96 Vgl. z.B. FRI~CI-IET [14].

52 R. SlEGMUND-SCHULTZE

Geschichte der Mengenlehre ist dieser KongreB noch von besonderer Bedeutung; mit dem Zeitpunkt seiner Durchffihrung datiert man die allgemeine (wenn auch, was den ganzen Inhalt der Theorie anbelangt, nicht uneingeschr~inkte) interna- tionale Anerkennung dieser Theorie. Ein Ausdruck dessen war nicht zuletzt die kurze Mitteilung [1] yon J. HADAMARD an diesen Kongreg, die t~. PmARD (1856- 1941) zur Verlesung brachte:

,,Sur certaines applications possibles de la th6orie des ensembles."

HADAMARD bemerkt bier zu Beginn ([1], S. 201):

,,Quoique la th6orie des ensembles fasse abstraction de la nature des 616ments, on a surtout consid6r6, jusqu'~t pr6sent, les ensembles compos6s de nombres, ou, tout au plus, de points dans l'espace ~ n dimensions. I1 ne me semble pas inutile de signaler l'int6r~t qu'il y aurait ~t 6tudier des ensembles compos6s de fonctions."

Nachdem HADAMARD die Bedeutung solcher Untersuchungen besonders ftir die Variationsrechnung hervorgehoben hat, kommt er am Schlul3 des Vortrags auf m6gliche allgemeinere Fragestellungen einer abstrakten mengentheoretischen Topologie zu sprechen (S. 201/202):

,,Un des premiers probl6mes qui se poseraient dans cette 6tude me parait atre le suivant:

Divisons l'ensemble consid6r697 en ensembles partiels E' tels que deux fonctions in- t6rieures/t Fun quelconque d'entre eux aient une distance (au sens de Weierstrass) moindre qu'un nombre d6termin6 0.

Consid6rant tous ces E' comme autant d'individus, on peut dire que l'ensemble qui aces E' pour 616ments numkre l'ensemble E. C'est cet ensemble num6rant dont il conviendrait d'6tudier les propri6t6s et, en premier lieu, la puissance."

Man sieht, wie hier Begriffe aus der Theorie metrischer R~iume, wie ,,Prakompakt- heit", ,,e-Netz" und ,,Separabilitgt" antizipiert werden.

Angesichts dieser HgDaMAm~schen Vorarbeiten ist der FR~CHETsche Beitrag zur Funktionalanalysis, vor allem aus dem Jahre 1906, klarer einzuordnen. FR~CHET selbst sagte fiber den HADAMARDschen Vorschlag, ein ,,allgemeineres Studium beliebiger numerischer Funktionen" auf der Grundlage einer ,,neuen Geometrie" zu beginnen ([14], S. 4084):

,,C'est cette derni~re remarque qui m'a incit6 h essayer de fonder, en effet, une telle g6om6trie et qui m'a conduit ~ cr6er la th6orie des espaces abstraits."

FR~CHET geh6rt zu der Generation junger Mathematiker (wie z.B. auch F. RIESZ), die sich urn die Jahrhundertwende, inspiriert von ihren Lehrern (HADAMARD bei FR~CHET, HILBERT bei RIESZ) in aller Ausffihrlichkeit und AusschlieBlichkeit der Begrfindung einer abstrakten, axiomatischen Analysis zuwandten. HADAMARD dagegen, den FRI~CHET in seinem Nekrolog als den nach dem Tode yon POINCARt~, HILBERT und BOREL ,,gr613ten lebenden Mathematiker der Welt" bezeichnete ([14], S. 4083), verfolgte jene Arbeiten zwar mit Aufmerksamkeit und trug hin und wieder Eigenes zur abstrakten Analysis bei, hatte aber insgesamt wesentlich

97 Hiermit ist der Raum E = C[a, b] der stetigen Funktionen auf abgeschlossenem Interval1 (mit Maximumnorm) gemeint.

Anf'~ge der Funktionalanalysis 53

weiter gef/icherte Interessen, die v o n d e r Variationsrechnung fiber das Studium der Gleichungen der Hydrodynamik bis hin zur unmittelbar angewandten Mathe- matik, die seine letzten Forscherjahre bestimmte, reichten.

Zudem traten im weiteren Verlauf seiner Karriere die wissenschaftsorganisa- torischen F~ihigkeiten von HADAMaRD immer deutlicher hervor. Es ist interessant, dab aus dem bertihmten HADAMARDSchen Pariser Seminar, das in organisatori- scher Hinsicht an Traditionen ankniipfte, die von F. KLEIN (1849-1925) und HIE- BERT in G6ttingen begrfindet worden waren, die BOURBAKI-Bewegung hervor- gegangen ist. 9s Damit hatte HADAMARD ein Vierteljahrhundert nach jenen Ereig- nissen um die Jahrhundertwende ein zweites Mal wesentlichen Anteil an der Schaf- fung der modernen axiomatischen Mathematik.

4. Die Verwurzelung der Frdchetschen Theorie in der franz6sischen reellen Funktionentheorie

FR~CHET folgt den Anregungen von HADAMARD und l~il3t an der Notwendigkeit eines der Untersuchung verallgemeinerter Funktionen vorangehenden Studiums der Theorie reeller Funktionen und der linearen Punktmengenlehre keinen Zweifel wenn er in seiner Dissertation von 1906 schreibt ([2], S. 2):

,,Rien en effet (au d6but, du moins) ne vient jouer, dans te Calcul Fonctionnel, le r61e de l'intervalle dont la consid6raticn a suffi pendant si longtemps aux analystes pour la th6orie des functions."

Hier wird schon deutlich, dab es FR~CHET nicht um irgendeine willkiirliche Defi- nition topologischer Eigenschaften in allgemeinen und abstrakten Mengen geht, sondern um eine der reellen Funktionentheorie streng nachgeahmte, in dem Sinne, dab die konkrete Theorie in der zu schaffenden abstrakten als Spezialfall und Realisierung enthalten ist. Aus diesem Grunde spielt das Studium der Eigenschaf- ten des reellen Intervalls in der vorliegenden Analysis zun~ichst weiter die do- minierende Rolle; es geht, wie FR~CHET im folgenden ausfiihrt, um eine Abstrak- tion von den besonderen und ,,anschaulichen" Eigenschaften jenes Intervalls, um die Schaffung der Anfiinge einer abstrakten axiomatischen Punktmengen- theorie. So behauptet FR~CHET in seiner Dissertation schlieBlich (S. 2):

,,La voie que nous venons d'indiquer a conduit ~t la g6n6ralisation de presque 99 tousles th6or6mes sur les ensembles lin6aires et sur les fonctions continues (du moins, de ceux qu'on peut 6noncer d'une mani6re ind6pendante de la nature des 616ments que l'on consid+re)."

Es ist sehr wesentlich, zu erkennen, dab in FR~CHETS Theorie von 1906 die Ober- tragung der Eigenschaften der (mengentheoretischen) reellen Funktionentheorie auf allgemeinere Mengen und Abbildungen im Vordergrund vor der Untersuchung verschiedener Mengen und Abbildungen auf gemeinsame Eigenschaften steht. Dies ergab sich aus den Notwendigkeiten eines historischen Prozesses, in dem alte,

9s Vgl. DIEUDONNt~ [1], S. 135/36. 99 Diese Einschrgnkung k/Snnte sich z.B. auf den BAIREschen Kategoriebegriff bezie-

hen, der (noch) nicht tibernommen wird. Vgl. FuBnote 107.

54 R. SIEGMUND-SCHULTZE

klassische Probleme (z. B. aus der Variationsreehnung) zum Teil erst neu formuliert werden muBten, in dem durch ,,strukturelles mathematisches Denken" neue ma- thematische Objekte in die Analysis eingeftihrt wurdenJ °°

4.1. Die Vermittlung der Mengenlehre dutch die franz6sische Funktionen- theorie. Die CANTORSche Mengenlehre ist FR~CI-IET dureh die franz6sischen Arbeiten der Jahrhundertwende zur Theorie der reellen Funktionen vermittelt worden. In seiner Dissertation findet sieh kein direkter Hinweis auf CANTOR, daftir abet bezieht sich FR~CnET st~indig auf die grundlegenden Arbeiten von E. BOREL (1871-1956), R. L. BAIRE (1874-1932) und H. LEBESGUE (1875-1941) aus den Jahren um 1900, die bekannflieh direkt an CANTOR ankntipfen. Dutch diese Ar- beiten war die Mengenlehre gewissermaBen mit analytisehem Inhalt erftillt wor- den; bekannt ist ein Zitat von BAmE ([1], S. 121), das die reelle Funktionentheorie gleichsam mit der Mengenlehre identifiziert. Eine selbst~ndige Theorie yon Funk- tionen auf al!gemeinen Mengen (bei FR~CHET) konnte n~imlich erst entstehen, naChdem auf diese Weise die Verbindungslinien zwisehen der linearen Punktmen- gentopologie und den funktionalen Aspekten der Analysis gezogen, d.h. die ab- strakten topologischen Bedingungen ftir das Gelten der fundamentalen S~itze fiber stetige Funktionen herausgearbeitet worden waren.

4.2. ,,Ein neues Kapitel der Mengenlehre" -- die abstrakte Punktmengentopo- logie. HADAMARD hatte yon der Notwendigkeit gesprochen, ,,ein neues Kapitel der Mengenlehre" zu schaffen. Nun gab es bereits bei CANTOR Ans~itze einer all- gemeinen Punktmengentopologie, die aber in seiner Theorie keine zentrale Bedeutung gewannen:

CA~TOR gelangt zun~ichst in seiner Arbeit von 1882 ([1], S. 149-157) bis zur Verallgemeinerung seiner Ergebnisse aus der linearen Punktmengenlehre auf den n-dimensionalen Raum und sehreibt dazu mit interessanter Bezugnahme auf den kognitiven Aspekt der Verallgemeinerung in der Mathematik (S. 149):

,,Diese Verallgemeinerung mSehte ieh abet nun deutlieher hervortreten lassen, da sie nieht nut an sieh und mit Rtieksieht auf Anwendungen in der Funktionentheorie yon Interesse ist, sondern aueh neue Gesiehtspunkte ffir die Erkenntnis des Gebietes der linearen Punktmengen liefert."

Zuniiehst ist der R" der allgemeinste Fall, den CANTOR topologiseh untersueht. Er kommt aber 1895 tiber die Theorie der abstrakten geordneten Mengen aufjene Problematik zurtiek und iibertr~igt u.a. die Begriffe ,,Grenzelement" und ,,per- fekte Menge" auf jene abstrakten Mengen (CANTOR [1], S. 307-310).

A. FRAENI(EL ([1], S. 158) ebenso wie F.A. MEDVEDEV ([1], S. 176) stellen aber zu Reeht lest, dal3 sieh die auf den Entfernungs- bzw. den Umgebungsbegriff grtindenden Ansiitze yon M. FR~CnET und F. HAUSDORFF wegen ihrer groBen Bedeutung ftir die mathematisehen Anwendungen als lebensf/ihiger erwiesen haben. MEDVEDEV ergiinzt, dab es offenbar CANTORS langj~ihrige Zurtickgezogenheit von

loo Hieraus ergibt sieh insbesondere, dab die neuen, im Gefolge der reellen Funk- tionentheorie gesehaffenen Funktionenr~iume (L 2, L p) nieh~ Gegenstand yon FR~¢rIZl'S ~Theorie, sondern umgekehrt (fiber RIEsz) Ergebnis derselben waren.

Anf/inge der Funktionalanalysis 55

der konkreten und zumindest teilweise anwendungsorientierten Mathematik war, die ihn solche fruchtbaren Begriffsbildungen hier nicht finden lieB. (Zwischen 1884 und 1895 liegt bekanntlich CANTORS Schaffenskrise. Zudem sah CANTOR das An- wendungsgebiet der Mengenlehre vor allem in der komplexen Funktionen- theorie, w/ihrend die reale Entwicklung bald in Richtung der reellen Funktionen- theorie gehen sollte.)

Es zeigte sich nun bald, dab FRI~CHETS abstrakter Zugang zur Topologie die Entstehung einer neuen ,,Theorie abstrakter Mengen" bewirkte, die, anders als noch die reelle Funktionentheorie, nur mit einigen Grundprinzipien der CAN- TORsChen Theorie in unmittelbarer Verbindung stand, insbesondere natiirlich keinesfalls mit der abstrakten CANTORSchen ,,allgemeinen" Mengenlehre (d.h. seiner Theorie der transfiniten Ordinalzahlen) verwechselt werden daft. Dies lag einerseits speziell in FRI~CHETS Arbeit yon 1906 daran, dab hier erst die Grund- begriffe der neuen Theorie eingefiihrt wurden, wie FRt~Ct/ET in der Einleitung zu [2] selbst betont (S. 2).

Ein zweiter Grund ist jedoch wesentlich tiefliegender. Dieser befiihrt die Wesensunterschiede zwischen konkreter, linearer Punktmengentopologie und ab- strakter, mengentheoretischer Topologie, die auf der Einfiihrung der Axiomatik in die Topologie beruhen. Bekanntlich ist in der nichtaxiomatischen linearen Punktmengenlehre CANTORS, die u.a. yon BAmE iibernommen und in der Funk- tionentheorie verwendet wurde, der Begriff der ,,Ableitung" einer Menge, d.h. der Menge der Grenzelemente dieser Punktmenge, zentral 1°1. Die sich hieran anscblieBenden Untersuchungen yon Ableitungen beliebiger, d.h. auch unend- licher, ,,transfiniter" Ordnungsstufe, fiihrten bei CANTOR zur Entwicklung der ,,allgemeinen" Mengenlehre und sind die Ursache ffir die untrennbare Einheit yon konkreten und abstrakten mengentheoretischen Untersuchungen bei CANTOR und BAIRE.

CANTOR erh/ilt nun wesentliche Ergebnisse der linearen Punktmengentopologie, indem er allgemeine topologische Aussagen fiber Ableitungen yon transfiniter Ordnungsstufe mit speziellen, nicht axiomatisch beschriebenen Eigenschaften der Zahlengerade verquickt. Bei FRI~CHET dagegen werden diese Eigenschaften (z. B. Voltst/indigkeit, Separabilit/it, Metrik) deutlich herausgearbeitet und in den Vordergrund gestellt, so dab er ftir den Beweis bestimmter S/itze tiber die Struktur abstrakter Mengen jener allgemeinen Betrachtungen yon Mengenableitungen nicht bedarf 1°2. Aus diesem Grunde spielt der Begriff der Mengenableitung bei FRG CHET nur eine sehr untergeordnete Rolle; es wird nur die ,,erste Ableitung" deft- niert.

Besonders gut wird das eben Gesagte m.E. an FR~CFIETS Verallgemeinerung des ,,Satzes yon CANToR-BENDIXON" deutlich, nach der jede abgeschlossene Menge im vollst/indigen und separablen metrischen Raum in zwei elementefremde Men- gen zerf/illt, yon denen die eine perfekt, die andere abz/ihlbar ist. FRECHET be- weist diesen Satz in dieser allgemeinen Form ([2], S. 27) als Endresultat einer

loi Vgl. z.B. ZERMELOS entsprechende Aussage in CANTOR [1], S. 102. lo2 Man vgl. hiermit folgendes Zitat von HAUSDORFF [1], S. 275: ,,E. Lindel6f erkannte, dab der Begriff der Verdichtungspunkte (der tibrigens schon bei Cantor vorkommt) die Ordnungszahlen auszuschalten gestattet, und dieser Ten- denz folgt auch unsere Darstellung ..."

56 R. SIEGMUND-SCHULTZE

Reihe yon Theoremen, in denen zwar von den axiomafischen Eigenschaften der Mengen, nicht aber vonder allgemeinen CANTORschen Mengenlehre Gebrauch ge- macht wird. Bei CANTOR und BAmE jedoch ist der obige Satz eine relativ triviale Folgerung aus gewissen allgemeinen S~itzen tiber Mengenableitungen 1°3, deren Ordnungsstufen Ordinalzahlen der Sogenannten ersten und zweiten CANTORschen Zahlenklassen sein durften, wobei natfirlich nur Mengen aus dem n-dimensiona- len euklidischen Raum R ~ betrachtet wurden. Bei CANTOR (1884) werden die speziellen topologischen Voraussetzungen (Vollstandigkeit, Separabilit~it, Ab- geschlossenheit) sukzessive, z.B. durch Betrachtung yon ineinander liegenden ,,Vollkugeln" im R ~, eingefiihrt, so dab schliel31ich der ,,Satz von CANTOR-BEN- DIXON" als spezielles ,,Theorem E'" aus jenen allgemeinen S~itzen folgt (CANTOR [1], S. 227). Ftir BAIRES Verh/iltnis zur allgemeinen Mengenlehre ist seine spezi- fische Art der Synthese yon Mengenlehre und Analysis (reelle Funktionentheorie) bestimmend. Bei seiner ,,Klassifikation" der unstetigen Funktionen zieht BAIRE aus den Eigenschaften der Ableitungen der Menge der Unstetigkeitsstellen einer reellen Funktion z.B. stets unmittelbar Schlugfolgerungen dariiber, ob die Funk- tion Grenzelement (bzgl. punktweiser Konvergenz) einer Folge yon stetigen Funktionen ist, oder nicht. So gewinnt BAIRE auch aus den obigen allgemeinen S/itzen tiber Mengenableitungen (vgl. BAIRE [2], S. 50-68) seine wichtige hinrei- chende Bedingung daftir, dab eine Funktion Grenzelement stetiger Funktionen ist, also zur BAIREschen Klasse I geh6rt ([2], S. 90-98): eine Funktion geh6rt zu dieser Klasse, wenn sie punktweise unstetig auf jeder perfekten Menge ist. Da- gegen ist der ,,Satz yon CANToR-BENDIXON" (BAIRE [2], S. 67) ein spezieUes Resul- tat ohne zentrale Bedeutung in BAIRES Theorie.

In diesem Zusammenhang ist eine Rtickbesinnung auf die zuerst erw~ihnte Tatsache aufschlufSreich, dag FRI~CHET zun~ichst die elementaren Grundbegriffe einfiihren muBte, also das Studium der abstrakten Mengen und einfachsten Funk- tionale voranstellte. In dieser Hinsicht steht er also CANTOR n~iher als BAIRE (der komplizierte Funktionen untersuchte), wobei aber die Verwendung der axiomati- schen Methode bei FRI~CHET einen neuen Begriff yon ,,Mengenlehre" entstehen 1M3t. FRI~CHET unternimmt jedoch keine Anstrengungen, etwa Funktionale gem/iB dem Charakter ihrer Unstetigkeitsstellen zu klassifizieren (so interessieren ihn z.B. die ,,halbstetigen" Funktionen, die bei BAIRE der Klasse I angeh6ren, nicht wegen ihrer Unstetigkeitsstellen, sondern weil sie einer in der Variationsrechnung welt verbreiteten Art yon Funktionalen entsprechen).

Ohne in Abrede stellen zu wollen, dag FR~CHETS Verzicht auf gewisse Mittel der allgemeinen Mengenlehre zum Teil auch auf psychologischen, der Abneigung gegen die ,,obskuren allgemeinen Prinzipien" yon CANTOR (vgl. Abschnitt 5) ge- schuldeten Faktoren beruhen mag, haben die obigen Bemerkungen sicher deutlich werden lassen, dab sich jene Tendenzen aus konkreten historischen Notwendig- keiten, aus der Schaffung eines ,,neuen Kapitels der Mengenlehre" erklSren lassen. Diese Entwicklung eines neuen Begriffs einer allgemeinen Mengenlehre ist z.B. von HAUSDORFF fortgesetzt worden und findet im Titel seines Buches [1] ihren

lo3 Ftir SCHOENFLIES [1], ist der entsprechende allgemeine Satz tiber die fortgesetzte Abtrennung isolierter Mengen durch Ableitungsbildung das ,,Haupttheorem" der CAN- TORschen Theorie.

Anf/inge der Funktionalanalysis 57

Ausdruck: ,,Grundziige der Mengenlehre" (1914). W/ihrend die Begriffsbildungen der abstrakten CANTORschen Mengenlehre eine enge und unmittelbare Verbindung zur konkreten, nichtaxiomatischen Punktmengentopologie haben, sind diese all- gemeinen Prinzipien im Laufe der Entwicklung der abstrakten Analysis zweifellos etwas in den Hintergrund getreten. So findet beispielsweise der Begriff der h6he- ren Mengenableitung in der modernen Topologie und Funktionalanalysis kaum Verwendung. In diesen Zusammenhang ist zweifellos auch das folgende Zitat yon BOURBAKI einzuordnen, das sich besonders auf die Verwendung des in der abstrakten Strukturmathematik fundamentalen, dem Auswahlaxiom aquivalen- ten, ,,ZORNsChen Lemmas" bezieht ([1], S. 44):

,,Deswegen hat das Interesse an den Cantorschen Ordinalzahlen stark nachgelassen; ganz allgemein sind tibrigens viele der Ergebnisse von Cantor und seinen Nachfolgern zur Arithmetik der Ordinal-und Kardinalzahlen bis heute ziemlich isoliert geblie- ben ."

4.3. Probleme bei der Verallgemeinerung der linearen Punktmengenlehre. Ein Hauptproblem bei der l~bertragung der S~itze der linearen Punktmengelehre auf abstrakte Mengen ist, dab jene zwar rein topologischer Natur sind, abet zu ihrem Beweis besondere Eigenschaften der Zahlengerade benutzen, so dab bier das All- gemeine mit dem Besonderen in undifferenzierter Gemeinsamkeit verharrt. Aus diesem Grunde betont FR~¢HET in seiner Dissertation von 1906 bei der Verall- gemeinerung vieler Satze der linearen Punktmengentopologie, dab sich der ent- sprechende Beweis nicht verallgemeinern lasse (z. B. S. 7, 22, 26). Ein zweites Haupt- problem besteht darin, dab bei jener Verallgemeinerung auf allgemeine Mengen bisher gleichwertige Aussagen (z. B. der Satz von BOLZANO-WEIERSTRASS und der BOREL-LEBESGUEsche Oberdeckungssatz) m6glicherweise unterschiedliche Bedeu- tung erlangen k6nnen. Dieses Problem h~ingt eng mit der ,,Beschr~inktheit" der FR~¢HETschen Theorie zusammen und soll weiter unten angeschnitten werden.

Im Zusammenhang mit der zuerst berfihrten Problematik soil zunfichst eine kurze Diskussion des FR~CHETSChen Kompaktheitsbegriffs folgen. Es ist dabei zun~ichst zu beachten, dab FR~CHETS ,,Kompaktheit" heute als (relative) ,,Folgen- kompaktheit" bezeichnet wird, und dab die modernen Begriffe ,,folgenkompakt", ,,abz~ihlbar kompakt" und ,,kompakt" ffir allgemeine topologische R~iume (ins- besondere fiir HAUSDORFFr~iume) wohlunterschieden sind, wfihrend sie fiir se- parable metrische Rfiume, die yon FR~CHET in erster Linie betrachtet wurden, tibereinstimmen. (Heute wird deshalb die ,,Kompaktheit" meist durch das all- gemeinere ,,BOREL-LEB~S~UE-Axiom" gefordert. Dagegen ist die Tatsache, dab FR~CHETS Kompaktheitsdefinition die ,,Abgeschlossenheit" der Mengen nicht fordert, yon sekund~irer Bedeutung.) FR~CHET definiert den Begriff der kompakten Menge (ensemble compact) in seiner Dissertation in Analogie zum BOLZANO- WErERSTRASSSchen H~iufungsstellensatz, indem er fordert, dab jede unendliche Teilmenge jener Menge ein (in seinem Sinne verstandenes) 1°~ Grenzelement haben soil ([2], S. 6). Schon vorher hatte FR~CHET den engen Zusammenhang dieser Definition mit dem ,,CANTORschen Durchschnittssatz" der linearen Punktmengen- lehre erkannt, nach dem jede (abz~ihlbare) Folge von sukzessiv ineinander enthal-

ao4 Das heiBt als ,,Folgenlimes", vgl. Abschnitt 5 dieses Kapitels.

58 R. SIEGMUND-ScHULTZE

tenen abgeschlossenen Teilmengen einer beschrii.nkten Menge einen nichtleeren Durchschnitt besitzt (mit dem Durchschnittssatz wird heute ,,abziihlbare Kom- paktheit" definiert). In seiner ersten bedeutenden Arbeit zur Funktionalanalysis (1904) definierte er die ,,Kompaktheit" sogar auf der Grundlage der Aussage dieses ,,Durchschnittssatzes" ([1], S. 849). In seiner Dissertation [2] jedoch betont FR~CHET die Analogie zwischen beschriinkten (linearen) und ,,kompakten" (ab- strakten) Mengen (s. o.) und weist das Erfiilltsein der Durchschnittsbedingung (auch im Fall der metrikfreien ,,Klasse (L)") fiir diese Mengen im abstrakten Fall nach ([2], S. 7). FR~CHET bemerkt hierbei wieder, daf3 sich der Beweis des Durch- schnittssatzes (wobei er sich auf BAIRE bezieht) nicht verallgemeinern lasse: BAIRE benutze die fortw/ihrende Halbierbarkeit der reellen Intervalle (S. 7). Bekanntlich wird der Satz yon BOLZANO-WEIERSTRASS im R 1 gew6hnlich dutch eben solche Intervallunterteilungen bewiesen. Es liegt nun m.E. nahe zu vermuten, dab FR~CHET aus einer solchen Form der Beweise yon Siitzen der linearen Punktmen- genlehre, wie sie bei BArnES Beweis vorliegt, ohne groBe Schwierigkeiten sowohl die Aquivalenz yon Hiiufungsstellen- und Durchschnittssatz erkennen, als auch eine Verallgemeinerung des konkreten Beweises des Durchschnittssatzes herleiten konnte: die Form des CANTOR-BAIRESChen Beweises wies unmittelbar auf die M6glichkeit hin, den Hiiufungsstellensatz yon BOLZANO-WEIERSTRASS in die Vor- aussetzung des Durchschnittssatzes zu verwandeln, so wie das dann FR~CHET auch tat.

Schwerer fiel FR~CHET dagegen die Verallgemeinerung des ,,BORELschen ~berdeckungssatzes", der yon LEBESOUE 1902 in seiner endgiiltigen (konkreten) Form, d.h. fiir iiberabzShlbare Qberdeckungen, unter Zuhilfenahme der Anord- nungseigenschaften der Punkte des Intervalls bewiesen wurde. Da dieser,,konkrete" Beweis keinen Hinweis auf den BOLZANO-WEIERSTRASSSchen Satz enthielt, oblag es FR~CHET, diese Verwandtschaff zu entdecken und den Uberdeckungssatz fiir ,,extremale" (d.h. kompakte und abgeschlossene) Mengen zu beweisen ([2], S. 26).

Diese Bemerkungen sollten darauf hinweisen, dab es offenbar verschiedene Schwierigkeitsgrade bei der Verallgemeinerung konkreter S~ttze der linearen Punkt- mengenlehre gab. Eine ausfiihrliche Diskussion dieser Frage, die eng mit der nach der Originalit~it der FR~cnExschen Theorie des metrischen Raums zusammenhangt und eine gesonderte Untersuchung lohnen wiirde, soll hier nicht erfolgen.

4.4. Der Einflufl Baires auf die Dissertation yon Frdchet. Generell la13t sich, u.a. ankniipfend an die letzten Bemerkungen, feststellen, dab die verschiedenen Arbeiten zur mengentheoretischen reellen Funktionentheorie, die verschiedenen Ans~tze der Begriinder dieser Theorie, jeweils eine unterschiedliehe ,,N~ihe" zu FR~CHETS Theorie des metrischen Raums aufwiesen. Bekanntlich 1°5 w~hlten BO- R~L und LEBESGU~ den ,,metrischen", BAmE aber den ,,topologischen Zugang" zur reellen Funktionentheorie. Fiir BAIRE standen nicht die Mal3bestimmungen in den Definitionsbereichen der Funktionen und die Integration dieser Funktionen (LEBESGOZ), sondern die topologischen Verhaltnisse in den Definitionsbereichen und die dementsprechende Klassifizierung der unstetigen Funktionen im Vorder-

los Vgl. z.B. MEDVEDEV [4].

Anf/inge der Funktionalanalysis 59

grund des Interesses. DaB FRI~CHET die Bedeutung der BAIREschen Arbeiten auch filr seine eigenen Forschungen hoch einsch~itzte, obwohl die von FRI~CHET ver- allgemeinerten S/itze der Punktmengenlehre zum iiberwiegenden Tell schon auf CANTOR zurtickgehen, steht aul3er Zweifel. Diese Bedeutung ergab sich letztlich aus dem topologischen, ,,qualitativen" Charakter jener BAmEschen Arbeiten, der den Abstraktionsprozel3 f6rderte, w/ihrend andererseits eine Aufnahme weiterer konkreter Bestimmungen in die abstrakte Analysis, etwa eine verallgemeinerte MaBtheorie, noch nicht auf der Tagesordnung stand 1°6. Aus diesen Grilnden war BAIRE neben ARZEL~ FRI~CHETS Hauptquelle. (BAIRES Bedeutung fiir die Entstehung tier Punktmengentopologie ist bisher kaum gewtirdigt worden.)

Ohne die Beziehungen zwischen BAIRES und FRI~CHETS Schaffen bier vollstgndig wilrdigen zu k6nnen, ohne auch zu iibersehen, dal3 FRI~CHETS allgemeine Theorie nattirlich zunfichst nur Ans/itze der tiefgehenden BAIRESchen Untersuchungen tibernehmen konnte (so werden z.B. von FRI~CHET keine kategorientheoretischen Untersuchungen durchgefiihrt) 1°7 sollen folgende spezielle Einfltisse yon BAIRE auf FRt~CHET erw/ihnt werden:

1. FRI~CHET ilbertr/igt den BAIREschen Begriff der ,,halbstetigen Funktion" (,,fonction semi-continue") auf Funktionale ([2], S. 8) und beweist deren obere bzw. untere Beschr/inktheit auf einer kompakten Menge.

2. Die BAmEsche Klassifikation der unstetigen Funktionen gibt FRt~CHET das wich- tige Beispiel dafiir, dab die Ableitung einer beliebigen abstrakten Menge (hier: der Klasse (L)) nicht notwendig abgeschlossen ist ([2], S. 15). Dies ist filr FRt~CHET die Veranlassung, die Allgemeinheit der R~iume weiter einzu- schr/inken und schliel31ich eine Metrik einzufilhren.

3. Wenn sich BAmE auch in seinen zentralen Beitfiigen zur Topologie nicht vom Linearkontinuum 16st, so lassen sich bei ihm doch innerhalb dieser Grenzen viele Bemilhungen um eine Verallgemeinerung der Punktmengenlehre erkennen. An erster Stelle ist hier BArnES Ubergang yon der Untersuchung des IntervaUs zum Studium der perfekten Menge zu nennen. Dazu schrieb sein Schiller ARNAUD DENJOY (1884-1975) ([1], S. 37):

,,Baire d6couvre que l'ensemble parfait, m~me totalement discontinu, offre pour les fonctions un support sensiblement 6quivalent au continu."

Es kann kein Zweifel bestehen, dab FRI~CHET diese BAIREsche Art, die topologi- schen Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen, stark bei seinen eigenen Oberlegungen beeinflul3t hat.

lo6 Andererseits lieferten BOREL und LEBESGUE jedoch wesentliche Beitrfige in der allgemeinen Topologie (z.B. Topologie der Fl/ichen, vgl. 1V[ANHEIM [1]), die aber fiir FR~CHETS Dissertation nicht von Belang waren.

1o7 Der Begriff der ,,Kategorie einer Punktmenge" (BAmE [1], S. 65) land das BAIRd- sche Kategorietheorem wurden sp~tter in der BANAcH-Schule zentral. Anwendungen gab es z.B. im ,,open mapping theorem" (BANACH 1931, vgl. MONNA [1], S. 145). Vgl. auch Beispiele bei DI~VDONNI~ [4], Bd. II, S. 163/64.

60 R. SIEGMUND-SCHULTZE

5. Die Beschriinktheit der Frdchetschen Theorie

Die FRI~CHETsche Topotogie abstrakter Mengen bietet zwei grundlegende Be- schr~inkungen dar 108, die ihre gemeinsame Ursache in der Anlehnung an die inhalt- lich-gegenst~indlich beschffmkte konkrete Analysis haben, und die gut unterschie- den werden miissen, obwohl die zweite Beschfiinkung, wie noch zu sehen sein wird, sich im Verlauf der FR~CHETschen Arbeit aus der ersten mit einem gewissen Grad an Notwendigkeit ergibt:

1. FR~CHET versteht den Begriff des Grenzelements einer abstrakten Menge im Sinne des Grenzwertes einer (abz/ihlbaren) Folge von abstrakten Elementen ([21, S. 6).

2. Die zweite Beschffmkung betrifft den Begriff der ,,Ann~iherung" yon zwei ab- strakten Elementen und damit letztlich die Allgemeinheit der betrachteten abstrakten R~iume. FR~CHET wird im Verlauf seiner Arbeit dazu gefiihrt, jenen Begriff im Sinne eines ,,Abstandes" (,,6cart") zu verstehen, d.h. den spiiter so genannten ,,metrischen Raum" zu definieren.

Zur Erliiuterung m6gen folgende Bemerkungen dienen, die sich wieder auf die FR~CHETSChe Dissertation yon 1906 beziehen: FR~CI-mTS ursprfinglicher Zugang zur Theorie der abstrakten R~tume ist ganz allgemein und nieht aufdie Betrachtung metrischer Riiume beschfiinkt. Er definiert den sehr allgemeinen Raum (L) (la classe (L); S. 5/6), der als Menge aller derjenigen Elemente angesehen wird, von deren Folgen sich entscheiden fftBt, ob sie einen (noch nicht niiher erklarten) ,,Grenzwert" besitzen (und deshalb zwei einfache, selbstverstiindliche Bedingun- gen erfiillen) 1°9 oder nicht. In dem Bemiihen, m6glichst viele Satze der linearen Punktmengenlehre auf abstrakte Riiume fibertragen zu k6nnen, spezialisiert FR~CHET die topologischen Voraussetzungen und fiihrt eine Metrik ein, die er ,,6cart" nennt (,,la classe (E)"; S. 30)? ~° Durch diese Spezialisierung negiert FR~- CHET gewissermaBen selbst seinen allgemeinen topologischen Zugang und iiber- triigt eine Eigenschaft der Zahlengerade, die nicht ,,rein" topologisch ist. Bekannt- lich ffihrte F. HAIJSDORFF (1868-1942) 1914 einen ,,topologischen Raum" ein, der dutch den ,,Umgebungsbegriff" charakterisiert ist und in seiner Allgemeinheit, wie HAUSDORFF selbst bemerkt ([1], S. 211), eine MittelsteUung zwischen den auf dem Limesbegriff (Raum (L)) und dern Entfernungsbegriff (Raum (E)) aufbauen- den Riiumen einnimmt.

Es sind nun mehrere Griinde dafiir zu vermuten, dab FR~CHET die zwischen (L) und (E) liegenden ,,topologischen Riiume" verschiedener Allgemeinheit nicht niiher betrachtet. 1~ a) Der erste wesentliche Grund ist die oben genannte Beschriinkung des Begriffs

des Grenzelements. Zweifellos erkannte FR~CHET, dab es in allgemeinen topo- logischen Riiumen nicht m6glich ist, eine befriedigende Konvergenztheorie zu

lo8 Vgl. auch FRECHET [7], S. 22. lo9 Vgl. BERNKOPF [1], S. 37. 11o Vgl. ebenda, S. 40/41. 111 Die nach FR~CrIETS Ansicht bezfiglich ihrer Allgemeinheit zwischen (L) und (E)

stehende Klasse (V) stimmt nach E.W. CHITTENDEN (1917) mit (E) fiberein. Vgl.: Trans. Amer. Math. Soc. 18, (1917), 161-66.

Anf/inge der Funktionalanalysis 61

entwickeln; die in euklidischen R~iumen eng verwandten Begriffe des ,,Folgen- limes" und des ,,H/iufungspunktes" einer Folge (bzw. Menge) erhalten fiir Topologien, die auf dem Umgebungsbegriff beruhen, (zun/ichst) eine grund- s/itzlich verschiedene Bedeutung. Insbesondere ist nicht jeder Hfiufungspunkt einer unendlichen Menge Grenzwert einer abz~ihlbaren Folge yon Elementen dieser Menge. HAUSDORFF, der mit der Einfiihrung seines (sp/iter so genann- ten) ,,Trennungsaxioms" zun/ichst die Eindeutigkeit des Folgenlimes in seinen R/iumen gesichert hatte, erkannte, dab durch die Postulierung des ,,ersten Abzfihlbarkeitsaxioms '"~2, nach dem jeder Punkt des topologischen Raums eine h6chstens abzfihlbare Umgebungsbasis besitzen soll, die Aquivalenz des urspriinglich allgemeineren Begriffs des H/iufungspunkts mit dem Begriff des Folgenlimes wieder hergestellt wird. (Insbesondere gilt dieses Axiom in den FR~CHETsChen metrischen R/iumen. Es stellte sich auch heraus, dal3 die bei FR~CHET vorausgesetzte ,,Separabilit/it" nicht erforderlich ist, um eine befrie- digende Konvergenztheorie zu erhalten. Das sogenannte ,,zweite Abz/ihlbar- keitsaxiom" (das in metrischen R~iumen zur Separabilitfit ~iquivalent ist) ist also verzichtbar, wenn es auch bei der Mehrzahl der tats/ichlich wesentlichen R/iume vorausgesetzt werden kann.)

Man sieht, dab die Beschrfinkung auf den Folgenlimes FRt~CHET einiger wesentlicher Erkenntnism6glichkeiten beztiglich der allgemeinen topologi- schen Grundlagen der Theorie abstrakter Mengen beraubte. Dabei ist freilich zu beachten, dab HAUSDORFFS Erkenntnisse u.a. unmittelbar auf denen FR~- CHETS fugten: HAUSDORFF untersuchte so auch gleichermaBen die Begriffe des Hfiufungspunktes und des Folgenlimes.

b) Die Topologien in den yon FR~CHET betrachteten konkreten Punkt- und Funk- tionenmengen waren alle durch Metriken erzeugbar; somit bestand vom Urn- fang der konkreten Problematik her keine Notwenigkeit der Ausdehnung der Betrachtungen.

c) Die Verwandtschaft mit schon existierenden topologischen Untersuchungen in euklidischen R~iumen (CANTOR, BAIRE) wurde durch die Einffihrung einer Metrik besonders sinnf~llig. So konnten z.B. ohne weiteres Begriffe wie ,,Ku- gel", aber auch die Eigenschafl der ,,Vollst~indigkeit ''~13 iibernommen wer- den.

Die obige Beschrfinkung 1) ist zweifellos in erster Linie eine Nachwirkung der fundamentalen Stellung der auf dem Begriff des potentiell Unendlichen beruhen- den CAUCHY-WEIERSTRASSschen Grenzwerttheorie in der klassischen Analysis. Jedoch m6gen bei FRI~CHET noch weitere Griinde eine Rolle gespielt haben. Etwa zur selben Zeit (1908) hatte F. RIESZ mit der Einffihrung der dem modernen Be- griff des H~iufungspunktes in topologischen R/iumen verwandten ,,Verdichtungs- stelle" einen allgemeineren Standpunkt eingenommen 1~4, und dabei darauf hin- gewiesen ([4], S. 20), dab man im allgemeinen Fall nicht, wie FRI~CHET, voraus-

~12 HAUSDORFV [1 ], S. 263. HAUSDORFF verwendet noch nicht den Begriff ,,Umgebungs- basis".

1~3 Im Sinne der Konvergenz der CAUCHY-FoIgen. Vgl. BERNKOPF [1], S. 40. 1~4 Dem entsprechen die sehr allgemeinen, auch heute nocb bekannten ,,RIESzschen

R/iume". Vgl. auch MANHEIM [1], S. 119/20.

62 R. SIEGMUND-SCHULTZE

setzen k6nne, ,,dal~ jede Verdichtungsstelle einer Teilmenge Grenzelement einer in jener Teilmenge enthaltenen abz~ihlbaren Folge sei." Pozsz lieB in dieser Arbeit keinen Zweifel daran, dab er die CANTORsche Mengenlehre in ihrem vollen Um- fange anerkannte, insbesondere berief er sich in seinen Ausftihrungen mehrfach auf die Theorie der Ordnungstypen und auf das ,,in neuester Zeit viel diskutierte(n) Auswahlprinzip(es)" ([4], S. 20). Gerade dieses Prinzip war in der franz6sischen Schule der Funktionentheorie umstritten; es wurde danach gestrebt, es in den Be- weisen zu unterdrticken, wenn dies auch nur teilweise gelang. (Man vergleiche eine bekannte Diskussion unter franz6sischen Funktionentheoretikern in HADA- MARD [4].)

Auch FR~CHETS Arbeiten geben an manchen Stellen AnlaB zu vermuten, dab er den ,,intuitionistischen" Ansichten der fiihrenden Funktionentheoretiker (BAmE, BOREL, LE~ES6UE) nahe stand. So bemerkte er gelegentlich einer yon ihm vorgenommenen Periodisierung der Geschichte der ,,Theorie der abstrakten Men- gen" (1925), dab die CANTORsche Einfiihrung der transfiniten Zahlen durch ge- wisse ,,obskure Prinzipien" belastet gewesen sei, die in der Folge einen Klarungs- prozeB durch einige franz6sische Mathematiker (von denen nur BAmE erw~ihnt wird) erfordert hgttten. Infolgedessen sei nun der Begriff der transfiniten Zahl ebenso einfach zu begreifen, wie der der ganzen Zahl (FR~CHET [7], S. 15; vgl. auch MEDVEDEV [2], S. 65/66). An anderer Stelle ([12], S. 79) bemerkt F~CHZT, dab er in Fragen der Philosophie der Mathematik meist mit LEBESGUE einer Meinung gewesen sei -- dieser vertrat aber bekanntlich ,,semiintuitionistische" Positionen.

Es ist nun m.E. denkbar, dab die Bindung an den abz~thlbaren GrenzprozeB in FR~CrmTS Dissertation auch auf solche Ansichten zurtickzufiihren ist. So ist die oben untersteUte ~quivalenz der Begriffe ,,Haufungspunkt" und ,,Folgenlimes" in metrischen Raumen bekanntlich auch im Fall der konkreten Interpretation der Mengen nur unter Voraussetzung des Auswahlaxioms giiltigt15; nur mit Hilfe dieses Axioms ist eine entsprechende abz~ihlbare Folge, die gegen einen H~tufungs- punkt konvergiert, ausw~hlbar (vgl. FRAENKEL/BAR-HILLEL [1], S. 76). Auch diese Tatsache mag ein Grund dafiir sein, dab FR~CHET der Begriff des ,,Folgenlimes" n~iher stand, als der des ,,H~iufungspunktes".

Diese Bemerkungen sollten deutlich gemacht haben, dab FR~Crt~TS Theorie des metrischen Raums, obschon erster echter Bestandteil der modernen Funktional- analysis, dennoch in manchen Ziigen den Beschr~nkungen der klassischen WEmR- STRASSschen Analysis unterliegt; sie ist als historisch notwendiges Zwischenglied vor dem Beginn der Untersuchung allgemeinerer Fragen der abstrakten Punkt- mengentopologie, wie sie z .B.F . HAUSDORFF unternahm, zu begreifen. Man er- kennt in jenen Beschr~inkungen der FR~CHETSChen Theorie die tieferen Implika- tionen der festen Verankerung dieser Theorie in der franz6sischen funktionen- theoretischen Schule. Beschranktheiten dieser Art konnten erst in solchen Unter- suchungen vermieden werden (HAuSDORFF, RIESZ), die, auf einem h6heren Ent- wicklungsstand der verallgemeinerten Analysis aufbauend, ihre Aufgabe nicht mehr unmittelbar in der Herstellung yon Analogien zur klassischen Analysis, son- dern vor allem in der Vergleichung verschiedener bereits vorhandener Ansiitze einer verallgemeinerten Analysis sahen.

xls Vgl. auch FuBnote 17.

Anfgnge der Funktionalanalysis 63

Weitere wichtige EinfluBfaktoren:

Strukturelles mathe- matisches Denken (CAUCHY, WEIERSTRASS, GRASSMANN 7

Mengenlehre (CANTOR)

Th. d. reellen Funkt. (BAIRE, BOREL, LEBESGUE)

Topologie (POINCARI~, BROUWER, WEVL)

Die Anfiinge der Funktionalanalysis

Variationsrechnung

I -T ~ Ital. calcolo funzionale (ab 1884)._11

Topoi. d. Kurvenmengen Funktionale Lin. Operatoren

ASCOLI(1884) VOLTERRA (1887) PINClaERLE (ab 1884)

ARZELA (18897 \ \ ~

Theorie Iin. lntegralgln, u. unendlicher linearer Gleichungssysteme

FREDHOLM (1900~1903) I HILBERT (1904)

IFranz. calcu fonct . . . . (HADAMARD 1897) I \ J } i.... . . . . . ~____ __ -.a \ HILBERT(1906) SCHMIDT

\ (1905,19077 / , . - HADAMARD (1902, 1903) \ ~ [ . . ~ /

FRI~CHE'rl906 / (Topol. Dualit:dt . . . . ) ~ k I r / I { (Metr. R a u m ) { ~ \ ~ x i II~

. . . . . . ~ ~ "~x RIESZ (1906-1918)

/ FR~CttET(1911) GXTEA . ( ) N / (veral,gDifforential> \ II~"'~LL'~" I I \ - - . . i II

I__[_~ I HAUSDORFF 1914 I \ "~L~VY(1911-1922) I/]<./Ithaca, (Verallg Differential HAHNU a (Topok Raum) [ \ • , I I - - . .

I J \ ,,Analyse fonctionnelle") vJL '~ /

ILin . . . . Funktiona lanalysis (urn 1930i']

- ~- ]NichtlineareFunktionalanalysis(besondersstarkseit 50erJahren7 }

(B RO UWER, B IRKHO FF, B ANACH, LERAY, S CHAUDER, B gO WDER7

Kapitel V Der , ,Satz von Riesz-Fischer". Schluflbemerkungen

In dieser Untersuchung stand die vornehmlich aus der Variationsrechnung stammende Traditionslinie der Funktionalanalysis im Vordergrund. Die Er6rte- rungen sind deshalb mit der zuletzt durchgeffihrten Diskussion der FRfiCHETSchen Theorie nahezu an das ZM gelangt, 116 da diese in qualitativer Hinsicht trotz ihrer Beschr~nkungen (s. o.) der modernen Funktionalanalysis unmittelbar verwandt ist. Bereits ein Jahr spfiter wies der wichtige ,,Satz von RIESZ-FlSCrIER" deutlich auf die inhaltlichen Beziehungen zwischen den aus Variationsrechnung und linea- rer Integralgleichungstheorie kommenden Impulsen zur Verallgemeinerung der Analysis bin. 117 (Dieser S atz war 1929 J. v. NEUMANNS (1903-1957) Ausgangspunkt ftir die auf der Isomorphie yon l 2 und L 2 beruhende Axiomatisierung des HIL-

1~6 Ein an sich far die Gesamteinschfitzung der Umwfilzungsperiode der Analysis um 1900 wtinschenswerter Ausblick auf die weitere Entwicklung der verallgemeinerten Analysis kann hier nicht mehr gegeben werden. Vgl. dazu (FuBnote 1) Kap. IX der Disser- tation des Verfassers.

~7 Allerdings verliefen diese Forschungen de facto bis in die 20er Jahre getrennt. Vgl. FuBnote 64 und BERNKOPF [2], S. 311/12.

64 R. SIEGMUND-ScHuLTZE

BERTraurns). F. RIESZ hatte bereits 1906, H8 angeregt durch einen Vortrag E. SCHMIDTS aus dern Jahre 1905, den rnetrischen Raum der nach LEBESGUE ein- fach integrierbaren (,,surnrnierbaren") und beschfiinkten (und deshalb auch im Quadrat surnmierbaren) Funktionen betrachtet und dabei die Metrik nach FR~- CnETschern Vorbild durch seine bekannte Norm im L 2 definiert. 1907 dehnte RIESZ die 1906 erzielten Resultate auf den Raurn der quadratisch summierbaren Funk- t i o n e n L 2 alas und bewies den ,,Satz y o n RIESZ-FISCHER". 119 Dieser erhielt seinen Namen daher, dab E. FISCHER (1875-1959) einige Wochen spftter (FISCHER [1]) einen yon dern RIEszschen Vorgehen unabh~ingigen Beweis der Vollsffmdigkeit des L 2 ver6ffentlichte. Da der dabei verwendete Begriff der Mittelkonvergenz im L 2 (convergence en moyenne) sich yon der durch RIEsz schon 1906 (s.o.) ein- gefiihrten L2-Norm und dern sich darauf griindenden Konzept der Grenzfunktion herleitete, ist RI~sz beirn Beweis des ,,Satzes yon RIESZ-FISCHER" zweifellos Priori- tgt gegeniiber FISCHER zuzuerkennen. Dies wurde auch yon zeitgen6ssischen Mathematikern 12° so ernpfunden; das Urteil spiegelt sich allerdings kaum in der modernen mathernatikhistorischen Literatur wider.

Der ,,Satz yon RIESZ-FISCHER" zeigte, dab fiir eine tragf/ihige allgemeine Theo- fie des HILBERTraurns die Einbeziehung der rnengentheoretischen Konzeption der franz6sischen Theorie der reellen Funktionen erforderlich war. (In einer weiteren Arbeit [2] wies E. FISCHER nach, dab der L 2 der kleinste vollst~indige Funktionen- raum ist, der die stetigen Funktionen enth/ilt, dab also kein schwftcherer als der LEBESGUEsche Integralbegriff geniigen wiirde, urn die Vollst/indigkeitsbedingung zu erfiillen.) Dies wirft ein weiteres (und fiir diese Untersuchung abschlieBendes) Licht auf die hervorragende Bedeutung der mengentheorefischen Begriffe und Methoden irn Entstehungsprozei3 der Funktionalanalysis.

Einen Schwerpunkt dieser Untersuchung stellte die Analyse des Zusarnrnen- spiels zweier grundlegender Tendenzen des Strukturwandels der Mathernatik um 1900 dar, nftmlich der Prozesse der mengentheoretischen Durchdringung und der axiornatischen Begriindung der Mathernatik. Dieses Zusamrnenspiel voUzog sich auf der Grundlage neuer gegenst~indlicher Voraussetzungen in der Mathernatik (Studiurn aktualunendlicher Mengen und verallgerneinerter Grenzprozesse und Abbildungen auf diesen Mengen). Der unl6sbare Zusamrnenhang zwischen jenen beiden Tendenzen ftihrte schliel31ich in vielen Bereichen der Mathernatik zu einer spezifischen Synthese yon Mengenlehre und Axiomatik. Dies ~iuBerte sich z.B. einerseits in der Entstehung eines neuen, erweiterten Begriffs yon ,,Mengenlehre", der die abstrakte mengentheoretische Topologie einschlieBt. Andererseits karn es zu gewissen ~_nderungen der Funktion der Mengenlehre in der rnodernen Mathe- matik; insbesondere zur Betonung der allgerneinsten und grundlegendsten rnen- gentheoretischen Schlugweisen (z.B. des Auswahlaxiorns und der ,,Diagonalver- fahren"), w~ihrend ein Nachlassen der Bedeutung der CANTORschen Theorie der transfiniten Ordinalzahlen gerade in Zusamrnenhang mit dem Prozel3 der Axioma- tisierung der Analysis unverkennbar ist.

11s In RIEsz [1]. N/iheres zur bisher wenig beachteten Bedeutung dieser Arbeit vgl. bei SIEGMUND-SCHULTZE [2].

119 RI~SZ [2]. Den Beweis vgl. bei BERNKOPF [1], S. 49-51. 12o Zum Beispiel FR~CHET [3], S. 1414.

Anf~inge der Ftmktionalanalysis 65

In der Gegenwart, in der eine gewisse erneute Tendenzwende, eine Tendenz zur Rfickbesinnung auf die Probleme der ,,konkreten, anwendungsorientierten Mathematik" sptirbar wird und der erste Rausch des ,,Bourbakismus" zu ver- fliegen beginnt TM, sctleint der Zeitpunkt gekommen, sich dartiber Gedanken zu machen, was jener Umw/ilzungsprozeB der Mathematik um 1900 an Dauerhaftem und wirklich wesentlichem Neuen gebracht hat. Was den Wert der Axiomatischen Methode betrifft, so sind w/ihrend der vergangenen ann/ihernd einhundert Jahre mit stets wechselnder Intensitfit unterschiedlichste Meinungen vertreten women, die oft zu den beiden folgenden Extremen tendierten:

a) Die Axiomatische Methode ist die Forschungsmethode der modernen Mathe- matik.

b) Die Axiomatik stellt nur Ergebnisse abstrakt dar, die bereits bekannt sind.

Mir scheint, dab die Wahrheit hier in der Mitte liegt, und zwar vor allem dann, wenn man den Begriff der Axiomatischen Methode durch den historisch aussage- kriiftigeren und allgemeineren Begriff des ,,strukturellen mathematischen Denkens" ersetzt. Die Entwicklung dieser Denkweise ffihrte in der Tat nicht nur zu formalen Ver/inderungen in der Mathematik, sondern auch zu deren inhalttichen Berei- cherung durch Neuformulierung alter Probleme, Entstehung neuer mathematischer Gegenst~inde (Funktionenr/iume) und zur Er6ffnung neuer L6sungsm6glichkeiten fiir jene alten Probleme. Dagegen kann der vorwiegend formale Charakter der dutch den historischen ProzeB schlieBlich hervorgebrachten abstrakten, axiomati- schen Darstellung jener vom strukturellen Denken schon geschaffenen neuen An- s/itze nicht geleugnet werden. Jedoch w/ire es aus historischer Sicht verfehlt, den mathematischen Inhalt yon seiner Form trennen zu wollen und letztere nicht als eine wesentliche Determinante des jeweils erreichten Entwicklungsniveaus der Mathematik anzusehen. Will man (als eine Art Zusammenfassung der Haupt- resultate dieser Untersuchung) die einzelnen Str6mungen und Ergebnisse der ver- allgemeinerten Analysis in sinnvoller Weise in den tiefgreifenden Strukturwandel der Mathematik um 1900 einordnen, so muB vor allem nach einzelnen ,,Umschlags- punkten" in der Geschichte der Funktionalanalysis gefragt werden, in denen eine Verselbstdndigung der Bemiihungen um den Aufbau einer verallgemeinerten Ana- lysis gegeniiber den als Ausgangspunkten fungierenden konkreten mathematischen Problemstellungen erkennbar wird. Diese einzelnen qualitativen Sprungstellen sind als die konkreten Realisierungen des Strukturwandels der Mathematik an- zusehen. Es erweist sich hierbei wiederum als ntitzlich, von der schon in der Ein- leitung vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen ,,gegenst/indlichen" und ,,me- thodischen" Verallgemeinerungen (oder Sprfingen) Gebrauch zu machen. (Diese Verallgemeinerungen k6nnen dann als Resultat und L6sung der Unstimmigkeiten aufgefaBt werden, die in der klassisehen W~IERSrRASSSChen Analysis auftraten.) Dabei ist der hier als Vorstufe der Funktionalanalysis begriffenen ,,verallgemeiner- ten Analysis" nattirlich stets eine durch strukturelles mathematisches Denken

121 Diese meine Einschfitzung griJndet sich auf in letzter Zeit verst~trkt auftretende Diskussionen unter ftihrenden Mathematikern, in denen vor der Gefahr der Oberbetontmg des axiomatischen Standpunktes in der Mathematik gewarnt wird. Vgl. dazu BROWDER [1] und verschiedene Beitr~tge in OTa'~ [l], u.a. yon E. BRn~SKORN und R. TnOM.

66 R. SIEGMUND-SCHULTZE

(z. B. dutch Obertragung des Punktmengen- oder Funktionsbegfiffs auf allgemeinere Objekte) veranlal3te Tendenz zur ,,gegenst~indlichen" Verallgemeinerung der klas- sischen Analysis eigen. Spriinge yon dieser Art lassen sich z.B. in der angefiihrten VOLTERRAschen Arbeit von 1887 sowie in HILBERTS ,,vierter Mitteilung" zur Inte- gralgleichungstheorie (1906, s.o.) erkennen: VOLTERRA untersuchte 1887 erstmals nicht mehr die konkret repfiisentierten Funktionale der Variationsrechnung, son- dern stellte den Funktionsbegriff in den Vordergrund und fiihrte ,,Linienfunktio- nen" mit beliebigen Zahlenwerten ein -- HILBERT seinerseits verlieB 1906 das yon ihm schon 1904 mit Erfolg behandelte Ausgangsproblem in der Integralgleichungs- theorie und untersuchte allgelneine (beschrgnkte) ,,quadratische Formen unend- lichvieler Variabler", obwohl nur die ,,vollstetigen" unter diesen, wie er erkannte, fiir das Ausgangsproblem relevant waren, und obwohl HILBERT auf diesem Wege bezeichnenderweise keine neuen konkreten Resultate fihr die Integralgleichungs- theorie erzielte. Es sollte sich abet im Verlauf des historischen Prozesses heraus- stellen, dab Neuerungen dieser Art, die in methodischer Hinsicht noch eng an die klassische Analysis gebunden waren, historisch vorlftufig und letztlich unbefriedi- gend blieben. Vielrnehr erforderte der Aufbau der Funktionalanalysis auch fief- greifende ,,methodische Konsequenzen", die ihren Ausdruck vor allem in der Ein- ftihrung der Methoden der CaNTORschen Mengenlehre in die Analysis finden sollten. Umschlagspunkte dieser zweiten Art, die zur Oberwindung der methodi- schen Beschr/inkungen in der klassischen Analysis beitrugen, finden sich z.B. in HILBERTS Arbeiten um 1900, die die ,,direkte Methode" in die Variationsrechnung einfiihren (allerdings lassen sich diese Arbeiten nicht nnmittelbar in die Tradi- tionslinie der Funktionalanalysis einordnen) und in E. SCHMIDTS Dissertation yon 1905, die einen qualitativ neuen Zugang zur Integralgleichungstheorie ent- h/ilt. Am radikalsten und konsequentesten iiberwindet aber FRI~CHET mit Hilfe der mengentheoretischen Topologie die rnethodischen und gegenstiindlichen Be- schrgmkungen der klassischen Analysis; dies geschieht in seinen Arbeiten ab 1904, yon denen seine Dissertation (1906) am bedeutendsten ist. (Da die Begriffsbildun- gende r Funktionalanalysis ohne methodische Neuerungen nicht lebensfiihig waren, andererseits jedoch z.B. die konkrete, mengentheoretisch begriindete reelle Funktionentheorie trotz ihrer gegenst/indlichen Beschrftnktheit Fruchtbar- keit und Dauerhafligkeit offenbarte, kann man m.E. der Mengenlehre in diesem Sinne ,,Primat" gegeniiber der Axiomatischen Methode einrfmmen, in ihr den ,,wichfigsten" Faktor des Strukturwandels in der Analysis um 1900 sehen.)

Bei einer Analyse der einzelnen qualitativen Spriinge, in die sich der Struktur- wandel in der Analysis um 1900 aufl6sen l~iBt, zeigt es sich also, dal3 der groBe historische Ablauf: Entwicklung der strukturellen Denkweise -- Entstehung und Anerkennung der Mengenlehre -- Durchsetzung der Axiomatischen Methode, der den ProzeB der konzeptionellen Umorientierung der Mathematik im 19. und 20. Jahrhundert kennzeichnet, beim speziellen historischen Vorgang der Entste- hung der modernen Funktionalanalysis ,,im Kleinen" ebenfalls feststellbar ist. Das neue Niveau, das die strukturelle Denkweise durch die konsequente Benut- zung der mengentheoretischen Methoden erhalten hat, ~iugert sich im weiteren Entwicklungsprozeg der Verallgemeinerten Analysis (nach 1906) z.B. in den Ar- beiten yon F. HAUSDORFF und F. RIESZ, die durch Vergleichung der verschiedenen nun schon vorhandenen Ans~itze der Funktionalanalysis die vollstgndige Emanzi-

Anfiinge der Funktionalanalysis 67

pa t i on dieser neuen ma themat i schen Disz ip l in yon der klass ischen Analys i s be- wi rken und zu den Arbe i t en yon S. BANACH (1892-1945) und J. v. NEUMANN i iber- lei ten, in denen die Funk t iona l ana lys i s schlieBlich als selbst~ndige ma themat i sche Disz ip l in begr i inde t wird.

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