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Die Anwendbarkeit der Genfer Abkommen zum Schutze der Kriegsopfer im Algerien- Konflikt Author(s): Thomas Oppermann Source: Archiv des Völkerrechts, 9. Bd., 1. H. (Januar 1961), pp. 47-59 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40796569 . Accessed: 12/06/2014 14:31 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv des Völkerrechts. http://www.jstor.org This content downloaded from 62.122.73.17 on Thu, 12 Jun 2014 14:31:46 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Anwendbarkeit der Genfer Abkommen zum Schutze der Kriegsopfer im Algerien-Konflikt

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Die Anwendbarkeit der Genfer Abkommen zum Schutze der Kriegsopfer im Algerien-KonfliktAuthor(s): Thomas OppermannSource: Archiv des Völkerrechts, 9. Bd., 1. H. (Januar 1961), pp. 47-59Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40796569 .

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BERICHTE

Die Anwendbarkeit der Genfer Abkommen zum Schütze der Kriegsopfer im Algerien-Konflikt

i. Allgemeine Lage

Seit dem i. November 1954 findet in Algerien1) eine ständig wachsende Auseinandersetzung zwischen der französischen Staatsgewalt und den sich gegen diese auflehnenden nationalalgerischen Kräften statt. Wies dieser Kon- flikt anfänglich noch überwiegend Merkmale einer „Störung der Ordnung durch lokale und sporadische Ereignisse" 2) auf, so weitete er sich mit der Zeit infolge der zunehmenden organisatorischen Verfestigung der „Nationalen Befreiungsfront" (Front de Libération Nationale = FLN), der bedeutsam- sten nationalalgerischen Kraft3) zu einem Konflikt aus, dessen völkerrecht- liche Qualifizierung als Krieg oder auch nur als Bürgerkrieg zwar noch zwei- felhaft erscheinen kann, der aber den Rahmen einer mit polizeilichen Mitteln zu bekämpfenden Ordnungsstörung längst verlassen hat. Die wiederholte Beschäftigung der Vereinten Nationen mit der algerischen Frage, die Tätig- keit der Exilregierung des FLN und das Vorhandensein zum Teil unifor- mierter und disziplinierter militärischer Verbände in einer Stärke von etwa 60 000 Mann zeigen die internationalen Symptome der Auseinandersetzung.

Der algerische Konflikt wurde bald durch eine sich oft zu Grausamkeit und Gnadenlosigkeit steigernde Härte der Kampfhandlungen zwischen den fran- zösischen Streitkräften und der Nationalen Befreiungsarmee (Armée de Libé- ration Nationale = ALN) gekennzeichnet. In der Behandlung der Gefange- nen, bei Verhören und auch im Verhalten der kämpfenden Parteien zur Zi- vilbevölkerung nahm die algerische Auseinandersetzung häufig Formen an, die zwar anderen Bürgerkriegsituationen nach dem zweiten Weltkrieg nicht fremd gewesen sind, in Algerien durch die lange Dauer des Konfliktes aber eine besondere Intensität annahmen4). Andererseits bewogen gerade diese

1) Zur staatsrechtlichen Verbindung der algerisdien Departements mit dem Mut- terland Frankreich vgl. Oppermann, Die Algerische Frage. Rechtlich-Politische Studie, 1 959, S. 7 £F., 44 ff·, 126 ff.

2) Siotis, Le droit de la guerre et les conflits armés d'un caractère non-internatio- nal, 1958, S. 210.

3) Zur organisatorischen Entwicklung des FLN vgl. Bromberger, Les rebelles algé- riens, 1958, und Oppermann, aaO S. 69 fT.

4) Zu den Exzessen des militärischen Kampfes in Algerien vgl. aus dem nichtjuri-

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48 Berichte

Aspekte des Kampfes in Algerien in besonderem Maße humanitäre Gegen- kräfte zu dem gemeinsamen, unter vielfältigen Formen verfolgten Ziel, auch gegenüber der Erbarmungslosigkeit der Auseinandersetzung einem unbedingt zu respektierenden Minimum innerstaatlicher und völkerrechtlicher Normie- rung Geltung zu verschaffen. Neben der Arbeit französischer Organisatio- nen5) stand auch im algerischen Konflikt diejenige des Internationalen Ko- mitees vom Roten Kreuz im Vordergrund6).

Die Frage nach den sich für die Kampfführung in derartigen Konflikten aus dem Völkerrecht ergebenden humanitären Schranken und damit nach der Rechtsgrundlage der Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz 7) betrifft im wesentlichen die Anwendbarkeit der vier Genfer Abkommen zum Schütze der Kriegsopfer vom 12. August 1949 im algerischen Konflikt.

2. Die Frage der Anwendbarkeit des Art. 2 der Genfer Abkommen

Die vier Genfer Abkommen zum Schütze der Kriegsopfer vom 12. August 1949 8) enthalten in ihren gleichlautenden Art. 1-3 die Grundsatzbestimmun-

stisdien Sdirifttum Servan-Schreiber, Lieutenant en Algérie, 1957; Arnaud-Verges, Pour Djamila Bouhired, 1957; Simon, Contre la torture, 1957; Roy, La guerre d'Algérie, i960.

5) Ein Beispiel bietet die Commission de sauvegarde des droits et des libertes indi- viduels.

6) Seit Anfang des Jahres 1955 haben sieben Missionen des Internationalen Komi- tees vom Roten Kreuz Algerien mit Einwilligung der französisdien Regierung be- reist. Neben tätiger karitativer Hilfe stellten die Missionen vertrauliche Berichte für die französische Regierung zusammen, in denen sie etwa über ihre Erfahrungen in den besiditigten Lagern beriditeten. Der Bericht vom 15. Dezember 1959, der sich über die Zustände in gewissen Transitlagern kritisch ausließ und auch Kritik der vor- angehenden Berichte erkennen ließ, wurde in der Tageszeitung Le Monde offenbar ohne Verständigung mit der französischen Regierung veröffentlicht und erregte be- trächtliches Aufsehen. Hierzu Pinto, Le comité international de la Croix-Rouge et les guerres civiles in Le Monde vom 10. Februar i960.

7) Pinto, Le drame algérien et la Croix-Rouge internationale in Le Monde vom 20. November 1957; ders., Pour l'application des conventions de Genève en Algérie in Le Monde vom 2. Juli 1958; Siotis, aaO S. 210 ff.; Amelin, Protection for partici- pants in civil and national-liberation wars in Soviet Year-Book of International Law 1958 S. 397 fí.; Boissier, Les troubles intérieurs et l'action du comité international de la Croix-Rouge in Bulletin Interparlementaire 1959 S. 164 ff.; Oppermann aaO S. 163 ff.

8) I. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde in BGB1 1954, Teil 11,5.783 ff.; II. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Ver- wundeten, Kranken und Schiffbrüchigen zur See in BGB1 1954, Teil II, S. 81 3 ff.; III. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefan- genen in BGB1 1954, Teil II, S. 838 ff.; IV. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schütze von Zivilpersonen in Kriegszeiten in Archiv des Völkerrechts Bd. 2

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gen über Einhaltung (Art. 1) und Anwendbarkeit (Art. 2) der Abkommen im ganzen oder gewisser Teile (Art. 3).

Wie im Falle jedes „bewaffneten Konfliktes" im Sinne der Art. 2 und 3 stellt sich auch für den algerischen Konflikt die Frage nach einer Gesamtan- wendbarkeit der Abkommen, da deren grundsätzliches Ziel die möglichst weitgehende Ausdehnung ihres vollständigen Schutzes auf die verschiedenen Formen des Krieges und vergleichbarer Situationen ist. Darauf weist die Er- wähnung des „anderen bewaffneten Konfliktes" neben derjenigen des „er- klärten Krieges" in Art. 2 Abs. 1 hin.

Gleichwohl scheint Art. 2 auf Kampf Situationen wie die algerische seit dem Jahre 1954 nicht anwendbar zu sein. Nach Art. 2 Abs. 1 braucht der erklärte Krieg oder andere bewaffnete Konflikt, um zur Anwendbarkeit der Abkom- men zu führen, zwar nicht ausdrücklich als Kriegszustand anerkannt zu wer- den. Auch wenn eine der am Konflikt beteiligten Mächte den Abkommen noch nicht beigetreten ist (so im Falle des FLN), können - wenn die übrigen Voraussetzungen des Art. 2 Absatz 3 Satz 2 (Annahme und Anwendung der

Bestimmungen der Abkommen durch die Nicht- Vertragspartner) erfüllt sind- die Konfliktsparteien an die Abkommen im ganzen gebunden sein. Die ein-

seitige Selbstverpflichtung der Nicht- Vertragspartei erzeugt in diesem Fall nach Art. 2 Abs. 3 Satz 2 die entsprechende Verpflichtung des Signatars, der seinen Verpflichtungswillen bereits durch Beitritt zu den Abkommen nicht nur gegenüber den übrigen Vertragsparteien, sondern bedingt auch im Hin- blick auf einen potentiellen Konfliktsgegner, der nicht Vertragspartei gewor- den ist, ausgesprochen hat.

Unausgesprochen hat aber Art. 2, wie ein Vergleich mit Art. 3 Abs. 1 er- kennen läßt, zur Voraussetzung, daß es sich um einen Krieg oder anderen be- waffneten Konflikt handeln muß, der internationalen Charakter trägt. Es kommen also insoweit nur Auseinandersetzungen zwischen bereits bestehen- den Staaten in Frage9), von denen jeder zu Beginn des bewaffneten Konflik- tes über ein eigenes Staatsgebiet verfügen muß, da der nur auf dem Gebiet einer der Vertragsparteien entstehende Konflikt unter Art. 3 fällt. Bei Aus- bruch des algerischen Konfliktes waren diese Voraussetzungen nicht gegeben. Während die völkerrechtliche Qualifikation des Status der nationalalgeri- schen Organisation FLN hinsichtlich der Frage, ob dem FLN die volle Rechts- stellung als kriegführende aufständische Partei zuerkannt werden kann, be-

(1949/50) S. 446 ff. - Englisch-deutscher Text der Konventionen (mit Materialien und Einführung) bei Groh, Die vier Genfer Abkommen zum Sdiutze der Opfer des Krieges vom 12. August 1949 (Heft XII der Dokumente, herausgegeben von der Forschungsstelle für Völkerredit und ausländisdies öffentlidies Redit der Universität Hamburg) 1954.

9) Pictety Commentaire. La convention de Genève pour 1 amélioration du sort des blessés et des malades dans les forces armés en campagne, 1952, S. 34; Groh, Das Recht der Kriegsgefangenen und Zivilpersonen nach den Genfer Konventionen vom 12. August 1949, 1952, S. 41; Hinz, Das Kriegsgefangenenrecht, 1955, S. 18.

4 ArdiVR 9/1

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sonders angesichts der Entwicklung in den Jahren 195 8-19 59 nicht von vornherein ablehnbar erscheint10), konnte von der Existenz eines selbständi- gen algerischen Staates mit eigenem Staatsgebiet, der im Jahre 1954 einen bewaffneten Konflikt im Sinne von Art. 2 mit Frankreich begann, nicht ge- sprochen werden. Der FLN hat allerdings am 20. September 1958 die „Pro- visorische Regierung der Algerischen Republik" als Exilregierung mit Sitz in Kairo, später in Tunis, gebildet. Dieses Organ sieht sich ausweislich seines Memorandums über „Die völkerrechtlichen Grundlagen des algerischen Staa- tes"11) als die Spitze eines ungeachtet der in den Jahren 1 830-1 847 erfolgten französischen Besetzung und Annexion latent bis heute fortbestehenden alge- rischen Staates an. Die in dem Memorandum12) behauptete Widerrechtlich- keit der Annexion Algeriens durch Frankreich nach 1830 geht aber von einer zweifelhaften Übertragung des Annexionsverbotes nach dem heutigen Stand des Völkerrechts auf jene Zeit aus. An dem damaligen Erlöschen eines even- tuellen, vom Dey von Algier geleiteten „algerischen Staates" mit gewisser türkischer Oberhoheit kann ernsthaft kaum gezweifelt werden13). Für die An- nahme eines neuen, selbständigen algerischen Staates fehlte bei Ausbruch des Konfliktes schon das eigene Gebiet und selbständige Staatsvolk14). Dieser Auffassung steht nicht entgegen, daß die nationalalgerische Bewegung in einem politischen Sinn an die Staatlichkeit Algeriens vor dem Jahre 1830 an- zuknüpfen bestrebt ist.

Die nationalalgerische Organisation FLN kann demnach nicht als eine an einem internationalen Konflikt beteiligte Macht im Sinne des Art. 2 der Gen- fer Abkommen vom 12. August 1949 angesehen werden. Eine Anwendbar- keit der Abkommen in ihrer Gesamtheit auf den algerischen Konflikt er- scheint daher ausgeschlossen.

Ein solches Ergebnis wirkt auch sachgerecht; denn die einzelnen Kautelen, etwa des III. Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen, sind offensichtlich nicht auf interne Konflikte zwischen einer legitimen Staatsge- walt und gegen diese sich auflehnender Kräfte geschaffen. Bei aller Berechti- gung eines möglichst weitgehenden humanitären Schutzes auch zugunsten des Rebellen und Aufständischen erschiene beispielsweise eine Verpflichtung der

10) Hierzu vgl. unten S. s 2 f. 11) Ohne Jahresangabe (vermutlidi 1959). 12) Memorandum S. 7 13) Inwieweit man um das Jahr 1830 von einem selbständigen, unter effektiver

Herrsdiaftsgewalt des Dey gestandenen algerisdien Staat spredien kann, ist eine sdiwierige historisdie Frage. - Zu den Voraussetzungen des Erlösdiens von Staaten audi durdi völkerreditlidi eventuell unreditmäßige Akte anderer Staaten vgl. Dabm, Völkerredit, Bd. I, 1958, S. 90 f.; Oppenheim-Lauter ρ acht, International Law, Bd. 1, 8. Aufl., 1955, S. 155 f.

14; Selbst der algerischen National be wegung sehr wohlgesonnene sowjetrussische Autoren spredien daher lediglich davon, daß Algerien „auf dem Wege sei, ein Staat zu werden" : Speranskaya, The algerian nation and the question of its international personality in Soviet Year-Book of International Law 1958 S. 421.

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legitimen Staatsgewalt, an gefangengenommene Freischärler einen Wehrsold auszubezahlen, als zu weitgehend 15).

3. Die Frage der Anwendbarkeit des Art. 3 der Genfer Abkommen

Die durch Art. 3 der Abkommen erfolgte Erstreckung eines beschränkten völkerrechtlichen Schutzes für Teilnehmer und Zivilpersonen auch auf Kon- fliktslagen nicht-internationaler Natur war eine bedeutsame Präzisierung und positivrechtliche Festlegung einer weitgehend bereits vorher völkerge- wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtslage16). Die „Miniaturkonvention"17) des Art. 3 verbietet die entwürdigende Behandlung (wie summarische Exeku- tion, grausame Vernehmungspraktiken, Geiselfestnahme, Verurteilungen ohne ordentlich bestelltes Gericht) von allen nicht oder nicht mehr direkt an den Kämpfen beteiligten Personen (etwa Mitglieder der bewaffneten Streit- kräfte beider Parteien, die die Waffen gestreckt haben) 18). Die durch Art. 3 erstrebte Humanisierung auch der nicht-internationalen Konflikte auf dem Territorium einer der Vertragsparteien schließt die Anwendung der staat- lichen Strafgewalt des legitimen Staates gegenüber den Aufständischen ein- schließlich der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren nicht aus19). Die Vor- schrift will die staatliche Sanktionsgewalt in ihrem Umfang nicht beschrän- ken, sondern lediglich gewisse Exzesse des militärischen Kampfes untersagen.

An grundsätzlichen Voraussetzungen für eine Anwendbarkeit auf Kon- fliktslagen, wie sie seit dem Jahre 1954 in Algerien bestehen, nennt Art. 3 Abs. 1 einen nicht-internationalen Konflikt, der auf dem Gebiet eines der Vertragspartner der Abkommen entsteht und sich zwischen „am Konflikt be- teiligten Parteien" abspielt. Gelegentliche Übergriffe vermittels einzelner Kampfeshandlungen auf benachbartes Gebiet, wie die Bombardierung des tunesischen Ortes Sakhiet-Sidi-Youssef durch französische Luftwaffeneinhei- ten am 8. Februar 1958, ändern nichts daran, daß sich die Auseinanderset- zung auf bislang zu Frankreich, einem Vertragspartner20), gehörigem Gebiet

15) Vgl. Art. 60 des III. Abkommens. Dieses und ähnliche Beispiele bei de la Pra- delle, La conférence diplomatique et les nouvelles conventions de Genève du 12 août 1949, 1951, S. 218.

16) De la Pradelle, aaO S. 217 mit Nachweisen datur, dais die durch Art. 3 ge- schaffene Rechtslage völkergewohnheitsrechtlich weitgehend bereits vor den Genfer Abkommen von 1949 anerkannt war.

17) Pictety aaO S. 51. Gegen diese Bezeichnung, aber ohne überzeugende Gründe Amelin, aaO S. 407.

18) Hinz, aaO S. 20. 19) Strebel, Die Genfer Abkommen vom 12. August 1949. Fragen des Anwen-

dungsbereiches in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Bd. 13 (1950/51) S. 130; Hinz, aaO S. 21.

20) Frankreich ratifizierte die vier Genfer Abkommen am 28. Juni 195 1 ohne Vorbehalt; vgl. Grohy aaO S. 13.

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vollzieht. Ebensowenig macht die Unterstützung vielfältiger Art, welche der FLN durch andere arabische Staaten empfängt21), die gebietsmäßig lokali- sierte algerische Auseinandersetzung zu einem internationalen Konflikt. Der eigentliche Unterschied zwischen dem internationalen und dem nicht-inter- nationalen Konflikt im Sinne der Art. 2, 3 liegt vielmehr, wie vor allem Siotis entwickelt hat22), in der Gleichheit oder Ungleichheit des völkerrechtlichen Status der Konfliktspartner. Eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen einem Staat als Völkerrechtssubjekt auf der einen und einem anders gearte- ten, rechtlich nicht gleichartigen Rechtsträger auf der anderen Seite macht das eigentliche Wesen des nicht-internationalen Konfliktes aus. Da die national- algerische Bewegung jedenfalls bisher nicht zur Gründung eines selbständigen Staates geführt hat, kann die grundsätzliche Ungleichheit der Konfliktspart- ner in der algerischen Auseinandersetzung und damit ein nicht-internationa- ler Konflikt im Sinn des Art. 3 angenommen werden. Zusätzlich muß es sich dabei allerdings um eine Auseinandersetzung zeitlich und umfangmäßig nicht gänzlich unbedeutender Natur und mit politischer Zielsetzung handeln23). Angesichts der langjährigen Dauer und der vielfachen weltpolitischen Folgen des Algerienkonfliktes wird man ihm eine derartige allgemeine Bedeutsam- keit schwerlich absprechen können.

Dieser Gesichtspunkt ist von Bedeutung für die weitere Voraussetzung des Art. 3 Abs. 1 , daß auch der ungleichwertige Partner des nicht-internationalen Konfliktes immerhin von solcher Bedeutung sein muß, daß er sich als eine „am Konflikt beteiligte Partei" qualifizieren läßt, wie dies bei anerkannten kriegführenden Aufständischen der Fall ist. Da ein algerischer selbständiger Staat bisher nicht oder noch nicht wieder entstanden ist, erhebt sich die Frage, ob den Nationalalgeriern der Status von kriegführenden Aufständischen im völkerrechtlichen Sinn zuerkannt werden kann, oder ob die offizielle franzö- sische These, es handele sich um eine einfache Rebellion unbotmäßiger Bürger, fundiert erscheint24). So weitgehend sich die innere Organisation der natio-

21) Nach weise bei Oppermann, aaO S. 166 ff. 22) AaO S. 21 ff. 23) „Une lutte prolongée dans 1 espace et dans le temps (Siotts, aaO S. 24). 24; Zu der oinziellen Haltung .Frankreichs in diesem Zusammenhang vgl. Upper-

manriy aaO S. 158 f. - Im Zusammenhang mit der Frage der völkerrechtlichen Qua- lifizierung des algerischen Konfliktes ist die Entscheidung des Appellationsgerichtes von Montpellier vom 20. November 1959 (Recueil Dalloz i960 S. 122 ff. mit An- merkung Schmidt) von Interesse. In diesem Urteil zu einer versicherungsrechtli- chen Frage, das die entgegengesetzte Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichtes in Narbonne vom 15. Juni 1959 (Recueil Dalloz 1959 S. 496 ff. m. Anm. Schmidt) aufhob, wird der algerische Konflikt als „Bürgerkrieg* angesehen. Das Gericht zieht diese, hier ausschließlich unter versicherungsrechtlichen Gesichtspunkten inter- essierende Konsequenz jedoch im wesentlichen aus dem beträchtlichen äußeren Um- fang des Konfliktes, ohne auf die völkerrechtlich entscheidenden Gesichtspunkte, besonders hinsichtlich der internationalrechtlichen Stellung des FLN irgendwie näher einzugehen. Zur Anerkennungsfrage in diesem Zusammenhang vgl. jetzt auch Teuscher, Die vorzeitige Anerkennung im Völkerrecht, i960.

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nalalgerischen Bewegung in den Jahren seit 1954 auch verfestigt hat25), so fehlen ihr doch bislang noch entscheidende faktische Voraussetzungen, die eine völkerrechtlich zulässige Anerkennung des FLN als kriegführende Auf- ständische durch dritte Staaten erst ermöglichen würden. So ist dem FLN bis- her ein dauernder Herrschaftserwerb über ein größeres geschlossenes Teilge- biet Algeriens versagt geblieben26). Wenn es dem FLN im Laufe der jahre- langen Kampfhandlungen auch zeitweilig gelang, gewisse Gebietsstriche, ins- besondere im Aurès-Gebirge und im ostalgerischen Constantinois unter seine Herrschaft zu bringen, führten derartige Erfolge nicht zu längerer effektiver Inbesitznahme von größeren Landstrichen durch die „Front". Im September 1958 behauptete zwar der FLN, das Collomassiv in Ostalgerien, das Aurès- massiv, Teile Kabyliens, das Massiv von Quarsenis im Gebiet von Algerien und die Umgebung von Tlemcen so zu beherrschen, daß sich dort keine fran- zösischen Truppen aufhielten. Man kann indessen wohl noch nicht von einem konstant eroberten, zusammenhängenden Territorium sprechen, über das die algerische Republik eine zivile und militärische Staatsgewalt stetig ausübt. Der Kampf des FLN ist auf algerischem Boden vorläufig im wesentlichen eine Untergrund- und Partisanenrebellion geblieben, deren Ausmaß beträcht- lich ist, der es aber gleichwohl noch nicht effektiv und dauerhaft gelang, sich durch eine „consistance préétatique", um die prägnante Formel Scelles27) zu verwenden, innerhalb des Unruhenterritoriums als lokale de facto-Regierung des möglichen zukünftigen Staates auszuweisen. Während das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für das Vorhandensein einer anerkennungsfähigen aufständischen Partei - Existenz einer Organisation, die imstande ist, die bürgerliche Ordnung aufrechtzuerhalten und internationale Verpflichtungen zu erfüllen, Kriegführung „nach Art" eines internationalen Krieges in mili- tärisch durchorganisierten Verbänden - hinsichtlich des FLN immerhin disku- tabel wäre, ist das Fehlen einer nennenswerten Gebietsbeherrschung für die nationalalgerischen Kräfte ein ernsthaftes Hindernis für eine Verbesserung ihres internationalrechtlichen Status28).

25) Zu der militärisdien und zivilen Organisation des FLN innerhalb Algeriens („Parallelverwaltung") und im Exil vgl. Brombergery aaO.

26) Zu diesem Merkmal vgl. Guggenheim, Lehrbudi des Völkerredits, Bd. I, 1948, S. 193; Dahrn, aaO S. 185; Verdross, Völkerredit, 4. Aufl., 1959, S. 145. - Audi der nadi Oppenheim-Lauterpachty aaO S. 141 unter den am meisten erleiditerten Vor- aussetzungen anerkennungsfähige „status of insurgency" erfordert eine gewisse Ge- bietskontrolle. Früher etwas großzügiger hinsichtlich der reconnaissance comme insurgés im Verhältnis zur reconnaissance comme belligérants Fauchille, Droit inter- national public, Bd. I, 1922, S. 308 ff. Zur tatsädilidien Lage in Algerien vgl. Opper- mann, aaO S. 160 f.

27) La reconnaissance des insurgés et la guerre espagnole in Die Friedens-Warte 37· Jg· (1937) S. 67.

28) Die dennoch erfolgte vorzeitige Anerkennung des FLN durch eine Reihe ara- bisdier und Ostblockstaaten zeitigte daher nur politisdie, nidit völkerrechtliche Wir- kungen. - Für die Notwendigkeit des Merkmals der Gebietsbeherrschung sowohl hin-

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Eine Qualifikation des FLN oder der „Republik Algerien", deren „Provi- sorische Regierung" durch den FLN gebildet wird, als kriegführende auf- ständische Partei wäre allerdings auch ungeachtet dieser Bedenken dann möglich, wenn Frankreich von sich aus bereits eine Anerkennung vollzogen hätte29); denn dem im Verhältnis zur Aufstandsbewegung legitimen Staat muß es möglich sein, sich schon frühzeitig, also noch vor dem Eintreten aller für eine Anerkennung erforderlichen Voraussetzungen, der Verantwortung für die Akte der sich gegen ihn auflehnenden Kräfte zu entziehen, wenn er zu ihrer Niederschlagung nicht sofort in der Lage ist. Der legitime Staat kann daher das Bestehen eines Kriegszustandes zwischen ihm und den Auf- ständischen ausdrücklich anerkennen.

Für den algerischen Konflikt hat diese völkerrechtliche Doktrin beson- dere Aktualität durch mehrfache indirekte Appelle des französischen Mi- nisterpräsidenten und späteren Staatspräsidenten de Gaulle im Oktober 1958 mit seiner Forderung einer WafTenniederlegung an die Rebellen30) und vom 16. September 1959 über die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für Algerien an die Adresse des FLN gewonnen. Besonders an diese Erklärung hat sich ein längerer Dialog von Presseerklärungen und ähnlichen Äußerun- gen von amtlicher französischer Seite und aus Kreisen der Provisorischen Re- gierung der Algerischen Republik bis zu dem „Gespräch von Melun" im Som- mer i960 angeschlossen, der die Fragestellung zuläßt, ob in diesen Erklärun- gen nicht eine völkerrechtliche Anerkennung des FLN als kriegführende auf- ständische Partei seitens Frankreichs erblickt werden kann.

Eine solche Anerkennung liegt jedoch nicht vor. Da der Sinn der beson- ders frühzeitigen Anerkennung von Insurgenten durch die legitime Staats- gewalt darin zu suchen ist, daß es der legitimen Staatsgewalt ermöglicht werden soll, sich ihrer Verantwortlichkeit über unkontrollierbare Akte noch nicht deutlich zu einer Eigenständigkeit entwickelter politischer Gegner im eigenen Staatsbereich zu entledigen, kann es sich insoweit nur um eine Ent- scheidung des legitimen Staates handeln, die in seinem freien Ermessen steht31). Infolge der politischen Bedeutung eines derartigen Aktes muß diese frühzeitige Anerkennung durch eine ausdrückliche, unmißverständliche Er- klärung vollzogen werden, deren eigentlicher Inhalt gerade eine solche An- erkennung ausspricht. Sonstige Erklärungen, die primär andere Zwecke ver- folgen, im Sinne einer solchen Anerkennung ausdeuten zu wollen, dürfte

sichtlich der Anerkennung des Kriegszustandes als auch hinsichtlich des Aufständi- schenstatus auch Lauterpacht, Recognition in international law, 1948,8. 175 ff., 270 fr.

29) Dahmy aaO S. 186. 30) In diesen vor der Presse abgegebenen Erklärungen wurden Begriffe wie der

„Friede der Tapferen" oder der „Gebrauch der Fahne der Parlamentäre" von de Gaulle verwendet.

31) Das um so mehr, als eine Rechtspflicht zur Anerkennung selbst bei Vorliegen aller Merkmale einer lokalen de facto-Regierung noch weitgehend verneint wird. Vgl. den Streitstand bei Dahm, aaO S. 187 Fußn. 19 und Verdross, aaO S. 145.

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nicht möglich sein32). Die amtlichen Erklärungen vom Oktober 1958 und vom September 1959 vermeiden aber gerade in ihrer ausweichenden For- mulierung alles, was als die Absicht einer bewußten Statuserhöhung des FLN angesehen werden könnte. Insofern muß auch die Möglichkeit ausscheiden, daß der FLN von Frankreich 3S) als kriegführende aufständische Partei aner- kannt worden wäre.

Das politische Gewicht von Kontakten zwischen der französischen Regie- rung und der Provisorischen Regierung der Algerischen Republik ist ebenso wie dasjenige der Anerkennungsakte durch dritte Staaten allerdings nicht zu unterschätzen. Ungeachtet der vorsichtigen Formulierung läßt sich den französischen Erklärungen und ihren Zielen entnehmen, daß Frankreich po- litisch in dem FLN doch etwas anderes und mehr sieht als lediglich eine „Bande von Rebellen". Die Provisorische Regierung der Algerischen Repu- blik ist ein ernstzunehmender Gesprächspartner („interlocuteur valable"), ohne dessen Einbeziehung eine Lösung des nicht-internationalen Konfliktes unmöglich erscheint, wenn Frankreich auch nicht bereit ist, ihn als kriegfüh- rende Partei mit allen völkerrechtlichen Folgen anzuerkennen. Bei den aner- kennenden Drittstaaten tritt zwar der Wille hervor, dem FLN einen solchen völkerrechtlichen Status zuzusprechen, aber ihre Anerkennung muß ange- sichts der fehlenden faktischen Voraussetzungen notwendig vorzeitig und völkerrechtlich unwirksam bleiben. Aber auch in diesem Verhältnis der aner- kennenden Staaten zum FLN wird die politische Absicht erkennbar, die na- tionalalgerische Organisation so behandeln zu wollen, „als ob" sie mindestens kriegführende aufständische Partei sei34).

Für die Frage, ob dem FLN der Status einer „am Konflikt beteiligten Par-

32) So audi hinsichtlich der Erklärungen de Gaulies vom Oktober 1958 P. Bastid, „Dans sa conférence de presse le général de Gaulle n* a pas admis - même impli- citement - la belligerence des rebelles" in Le Monde vom 31. Oktober 1958 unter Hinweis auf Art. 4 §§ 1, 2 der Resolution des Institut de Droit international vom 8. September 1900 in Annuaire d l'Institut de Droit international Bd. 18 (1900) S. 228. A A. Siotis in einem Brief an Le Monde, der in demselben Zeitungsartikel in Auszügen wiedergegeben ist. Siotis liest aus den Erklärungen eine von ihm als ge- nügend erachtete implizite Zustimmung der französischen Regierung zur Anwendung der Regeln des gesamten Kriegsrechtes. Vgl. auch Siotis, aaO S. 116.

33) Und dann auch - nach Dahm, aaO S. 186 - völkerrechtlich zulässig durch die übrigen sie ausdrücklich anerkennenden dritten Staaten.

34) Über das Heraustreten derartiger Insurgentenorganisationen, die auf der Schwelle der Anerkennungsfähigkeit als aufständische kriegführende Partei stehen, aus dem Bereich des Innerstaatlich-Privaten vgl. Mattern, Die Exilregierung, 1953, S. 36. Vgl. auch die Ansicht Wehbergs in La guerre civile et le droit international Recueil des Cours 63 (1938, I) S. 7 if., nach der auch eine zu einseitige Förderung der legitimen Regierung auf die Dauer gesehen eine unzulässige Einmischung in die inne- ren Angelegenheiten des betroffenen Staates sein kann. Allerdings geht Wehberg bei diesen Gedanken von einer noch in anderem Maße als der FLN als Konfliktspartei ins Leben getretenen Aufstandsgruppe, nämlich den National-Spaniern unter Gene- ral Franco im Jahre 1937/38, aus.

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56 Berichte

tei" im Sinne des Art. 3 der Genfer Abkommen zukommt, ist die politische Bedeutsamkeit der Auf Standsbewegung ungeachtet ihrer fehlenden Völker- rechtssubjektivität von Belang. Bei einer Auslegung des Art. 3 nach dem ihm zugrunde liegenden Sinn, auch bei internen Auseinandersetzungen ein gewis- ses Mindestmaß an Humanisierung des Konfliktes zu erreichen, ist Großzü- gigkeit geboten. Unter den „am Konflikt beteiligten Parteien" wird man da- her nicht nur anerkannte oder anerkennungsfähige lokale de facto-Regierun- gen einer kriegführenden aufständischen Partei im Sinne des allgemeinen Völkerrechts verstehen dürfen, sondern darüber hinaus auch Organisationen von Insurgenten, die an sich einen minderen Status besitzen, durch den zeit- lichen und sonstigen Umfang ihrer Aktivität aber eine tatsächliche Bedeutung erlangt haben, die sie zu einem von legitimen und dritten Staaten ernsthaft beachteten politischen Faktor werden ließen85).

Daß es bei der Anwendung des Art. 3 auf nicht-internationale Konflikts- lagen nicht entscheidend auf den sonstigen völkerrechtlichen Status der Kon- fliktspartner ankommt, beweist auch der letzte Absatz des Art. 3, nach dem die Anwendung dieser Vorschrift auf die Rechtsstellung der am Konflikt be- teiligten Parteien keinen Einfluß hat. Auch Parteien, denen eine Völkerrechts- subjektivität sonst nicht zuerkannt wird, sollen dem Anwendungsbereich der Art. 3 unterfallen, ohne daß sich dadurch ihr Status im übrigen verbessert36).

Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Art. 3 auf den algerischen Kon- flikt37) beantwortet nicht die dogmatische Frage nach dem eigentlichen Ver- pflichtungsgrund für die Anwendung dieser Norm auf die Konfliktspartner. Für Frankreich als Vertragspartei kann sie aus der Ratifizierung hergeleitet werden, in dem Sinne, daß Frankreich sich damit den übrigen Signatarmäch- ten gegenüber verpflichtete, auf seinem Territorium keine, auch nicht im Falle interner Konflikte, inhumanen Methoden gegenüber dem durch die Abkom- men geschützten Personenkreis dulden zu wollen. Schwieriger gestaltet sich dagegen die Frage der Geltungskraft im Hinblick auf den rechtlich nicht gleichwertigen Konfliktspartner, der sich, wie der FLN, von der Herrschafts- gewalt des legitimen Staates gelöst hat und die Abkommen weder unterzeich- net hat noch ihnen ausdrücklich beigetreten ist. Pictet38) möchte eine Bindung der Insurgenten in solchen Fällen aus ihrer „Prätention, das betreffende Land

35) In ähnlidiem Sinne audi Pictet, aaO S. 52 ff.; Siotis, aaO S. 217 f. 36) Siotis y aaO S. 218 spricht daher zutreffend davon, daß die Konfliktspartei im

Sinne des Art. 3 eine „entité possédant un statut dans le cadre limité du droit huma- nitaire" darstelle.

37) bo auch die herrschende Meinung (vgl. oben ruiSnote γ). Die Anwendbarkeit des Art. 3 auf den algerischen Konflikt bejahte bereits im Jahre 1956 der damalige französische Ministerpräsident Mollet; vgl. Pinto, Le drame algérien et la Croix rouge internationale, aaO.

38) AaU b. 55; Die Gegenseitigkeit bei der Anwendbarkeit des Art. 3 der Abkom- men ist keine juristische Voraussetzung, wenn sie auch tatsächlich von großer Bedeu- tung ist; vgl. Pinto, Pour l'application des conventions de Genève, aaO.

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Die Genfer Abkommen im Algerien-Konflikt 57

oder einen Teil desselben zu repräsentieren", herleiten. Es läge im Interesse gerade einer solchen um Anerkennung ringenden Aufstandsgruppe, die Ele- mentarregeln des Art. 3 innezuhalten, stelle ein solches Verhalten doch einen weiteren, selbständigen Beweis dar, daß das betreffende Gebilde auf dem Wege ist, dem Mindeststandard eines „staatsgemäßen" Verhaltens Genüge tun zu wollen und zu können.

Weiterhin wird in diesem Zusammenhang der Gedanke herangezogen, daß es sich bei den in Art. 3 niedergelegten Mindestgrundsätzen um die deklara- torische Wiedergabe bereits geltenden Völkergewohnheitsrechtes handele39). Ähnlich meint Dahm 40), daß die „elementaren Regeln" des Kriegsrechts auf den Kampf mit Insurgenten schon vor deren Anerkennung anwendbar seien, soweit das Kriegsrecht nur eine Konkretisierung der Pflicht zur Respektie- rung der allgemeinen Menschenrechte enthalte. Als allgemein verbindliche Völkerrechtssätze lassen sich die Grundsätze des Art. 3 ferner über den Ge- danken der Quasi-Unanimität der Völkerrechtsgemeinschaft in dieser Frage herleiten, nachdem bisher jj Staaten, darunter die Großmächte, die Genfer Abkommen ratifiziert haben41).

Von der Seite der Insurgenten und deren Verpflichtungsfähigkeit her be- trachtet läßt sich ein solches Ergebnis allerdings nur gewinnen, wenn man hinsichtlich des „humanitären Minimums" des Kriegsrechts den Kreis der Träger von Rechten und Pflichten wiederum (ähnlich wie bei der Definition der „am Konflikt beteiligten Partei") über die traditionellen Rechtspersön- lichkeiten des Völkerrechts hinaus ausweitet und Insurgentengruppen von ernsthafter politischer Bedeutung auch ohne weitere Voraussetzungen als Adressaten der in Art. 3 deklaratorisch niedergelegten Sätze des Völkerge- wohnheitsrechts anerkennt. Insofern stellt die Bejahung der Anwendbarkeit von Art. 3 auf Konfliktslagen wie in Algerien zwar gemäß Art. 3 Abs. 4 keine Wertung im Hinblick auf den völkerrechtlichen Status dieser Auf- standsgruppen dar42). Dennoch wird damit praktisch für einen speziellen

39) Siordet, Les conventions de Genève et la guerre civile in Revue internationale de la Croix-Rouge 1950 S. 211; Hinzy aaO S. 21; Urnery Die Menschenrechte der Zivilpersonen im Krieg gemäß der Genfer Zivilkonventionen von 1949, 1956, S. 42; ähnlich auch Schmid, Die völkerrechtliche Stellung der Partisanen im Kriege, 1956, S. 81; vgl. ferner Giraud, Le respect des droits de l'homme dans la guerre internationale et dans la guerre civile in Revue du droit public et de la science politique en France et à l'étranger 74. Jg. (1958) S. 66$.

40) AaO S. 189. 41) Zahl nach Pinto, Le comité international de la Croix-Rouge et les guerres

civiles, aaO. 42) bo deutlich im Hinblick aur den algerischen Konflikt Pinto, Le drame

algérien et la Croix rouge internationale, aaO; ders.y Pour l'application des conven- tions de Genève, aaO. Gleicher Ansicht war eine Expertenkommission des Internatio- nalen Komitees vom Roten Kreuz, die zu dieser Frage vom 3.-8. Oktober 1955 tagte (Bericht veröffentlicht 1955). Neuerdings auch Boissier, Les troubles intérieurs et l'action du comité de la Croix-Rouge, aaO S. 169.

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58 Berichte

Teilbereich eine Ausdehnung der völkerrechtlichen Verpflichtungsfähigkeit auf eine noch unterhalb des Ranges der kriegführenden aufständischen Partei stehende Personengruppe vollzogen.

Bejaht man in dieser Weise die Anwendbarkeit des Art. 3 auf den FLN, so wird die aufständische Organisation durch ihre Existenz ipso facto diesen Be-

stimmungen unterworfen, ohne daß es, wie etwa in Art. 2 Abs. 3 S. 2, einer Annahme von Art. 3 durch sie bedürfte. Die Tatsache, daß eine derartige Gruppe sich gebildet hat, die den Anspruch erhebt, sich allmählich zu einem

vollwertigen Völkerrechtssubjekt zu entwickeln, genügt, sie insoweit zu ver-

pflichten. Entsprechend ihrem noch unausgebildeten Status wird von ihr zu- nächst nur die Beachtung der elementaren Regeln des humanitären Kriegs- rechts verlangt.

Im Ergebnis ist demnach festzuhalten, daß ungeachtet mancher sich aus der völkerrechtlichen Qualifikation des Status des FLN ergebenden Schwierig- keiten die Anwendbarkeit von Art. 3 der Genfer Abkommen im Algerien- konflikt bejaht werden kann. Nach Art. 3 Abs. 3 bestünde darüber hinaus die

Möglichkeit, daß die Konfliktsparteien durch Sondervereinbarungen die an- deren Bestimmungen der Abkommen ganz oder teilweise zur Anwendung bringen. Auch derartige Vereinbarungen würden nach Art. 3 Abs. 4 keinen Einfluß auf die Rechtsstellung der Parteien haben. Zu solchen Sonderverein- barungen zwischen Frankreich und der Provisorischen Regierung der Alge- rischen Republik ist es bisher nicht gekommen. Dagegen hat das Internatio- nale Komitee vom Roten Kreuz auf Grund der Befugnis aus Art. 3 Abs. 2 in der algerischen Auseinandersetzung die Initiative ergriffen und Missionen nach Algerien entsendet43). Aber auch ohne ausdrückliche Sondervereinba- rungen haben beide Konfliktspartner in verschiedenen Erklärungen erkennen lassen, daß sie bereit sind, gegenüber dem Gegner mindestens die Grundsätze des Art. 3 anzuwenden und eventuell sogar weitere Grundsätze des Kriegs- rechts freiwillig anzuwenden44).

Dennoch wird der algerische Konflikt durch eine große Anzahl von Ver- stößen auch gegen das durch Art. 3 der Genfer Abkommen garantierte „hu-

43) Die Regierung Mendès-France lud Anfang 1955 das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zum ersten Male ein, eine Mission nadi Algerien zu senden. Zur Arbeit des Komitees in Algerien vgl. oben Fußnote 6, ferner Siotis, aaO S. 210 ff., Boissier, aaO S. 169 ff.

44) Für Frankreidi vgl. die Darstellung bei Pintoy Le drame algérien et la Croix- Rouge internationale, aaO; der FLN soll versdiiedentlidi erklärt haben, er behindere niemals Angehörige des Roten Kreuzes, die entsprediend gekennzeidinet seien. Vgl. die Ausführungen von François-Poncet in Le Figaro vom 2. Juli 1956. Die National- algerier gestatteten bisweilen audi Kontakte des Komitees zu französisdien Gefange- nen; vgl. Revue internationale de la Croix-Rouge 1957 S. 553. In dieser Zeitsdirift ersdieinen regelmäßig Tätigkeitsberidite über die Arbeit des Komitees in Algerien. Vgl. audi Oppermann, aaO S. 165.

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Die Internationale Seerechtskonferenz in Genf i960 59

manitäre Minimum" gekennzeichnet45), die nicht nur gegen innerstaatliches Recht oder die Völkermoral im allgemeinen verstoßen, sondern ausdrückliche Normen des humanitären Kriegsvölkerrechtes verletzen46).

Dr. T. Oppermann, Bonn

45) Pinto y Le drame algérien et la Croix-Rouge internationale, aaO weist in die- sem Zusammenhang auf die Verpflichtung der Signatarstaaten zu Strafmaßnahmen gegen Übertreter der Abkommen nadi Art. 146, 147 des IV. Abkommens (analoge Bestimmungen in den anderen Konventionen) hin.

46) Zur neueren Entwicklung der hier behandelten Fragen sei nadigetragen, daß die Provisorische Regierung der Algerischen Republik in Tunis am 4.-6. April i960 besdilossen hat, den vier Genfer Abkommen zum Schütze der Kriegsopfer beizutre- ten und sie zu ratifizieren (Text des Beschlusses in Le Monde vom 12. April i960). Dieser Wunsch des FLN wurde verschiedentlich wiederholt, so durch die mündliche Stellungnahme eines Delegierten der algerischen Rotes-Kreuz-Organisation „Roter Halbmond" gegenüber dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (vgl. Le Monde vom 8./9. Mai i960). Ob ein Beitritt des FLN zu den gesamten Abkommen angesichts des bisherigen völkerrechtlichen Status dieser Organisation möglich, ist, muß zweifelhaft erscheinen. Ablehnend hierzu Pinto, Le „GPRA" et les conventions de Genève in Le Monde vom 13. April i960. Der FLN hat auch auf eine bereits im Jahre 1958 ergangene Anfrage des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, welche die von den kämpfenden Parteien auf jeden Fall nach Art. 3 der Abkom- men zu beachtenden Bindungen einzeln benennt, noch nicht geantwortet.

Die Zweite Internationale Seereditskonferenz in Genf 1960

Die Zweite Seerechtskonferenz1), die die Vereinten Nationen nach dem Beschluß der Generalversammlung vom 11. Dezember 1958 einberufen hat- ten, um die Arbeiten der ersten Konferenz von 1958 zu vollenden, ist ge-

1) Bericht über die erste Internationale Seerechtskonferenz in Genf 1958 im Ar- chiv des Völkerrechts Bd. 8 (1959/60) S. 180 ff. - Schrifttum zu den Konferenzen (er- gänzend zu Münchy aaO S. 180 Anm. 2 und S. 206 Anm. 15); Garcia Robles, La Conferencia de Ginebra y la anchura del mar territorial, 1959 (mit umfangreichem Dokumentenanhang); Berichte von Balladore-Pallieri, Diritto Internazionale Vol. 13 (1959) S. 123 ff.; Bartos, Internationale Politik Bd. 9 (1958) S. 6 ff.; Becker, The Department of State Bulletin Vol.40 (1959) S. 369 ff.; Bowett, International and Comparative Law Quarterly Vol. 9 (i960) S. 415 ff.; Burke, Proceedings American Society of International Law 1959 S. 1 97 ff.; Campbell, Tulane Law Review Vol.33 (τ959) S. 339 ff.; Chappell, Tasmanian University Law Review Vol. 1 (X959) S. 323 ff.; O'Connell, Australian Law Journal Vol.32 (1958) S. 134 fF.; Dean, Foreign Affairs Vol. 37 (1958) S. 83 ff.; ders., The Department of State Bulletin Vol.42 (i960) S. 251 ff.; ders., Proceedings American Society of Inter- national Law 1959 S. 186 ff.; Fitzmaurice, International and Comparative Law Quarterly Vol. 8 (1959) S. 73 ff.; François, Nederlands Tijdschrift voor Internatio- naal Recht Vol. 4 (1957) S. 338 ff. und Vol. 7 (i960) S. 249 ff.; ders., United Na- tions Review Vol.6 (i960) No. 12 S. 12 ff.; Gialdino, Rivista di diritto inter- nazionale Vol.41 (1958) S. 99 ff.; Graefrath, Deutsche Außenpolitik 3. Jg. (1958)

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