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Die Architekten der Intrawelt

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Atlan - Minizyklus 06 -Intrawelt

Nr. 08

Die Architekten derIntrawelt

von Horst Hoffmann

Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – das dem Jahr 4812 alter Zeit ent-spricht – befindet sich der relativ unsterbliche Arkonide auf einer verwegenen Missi-on. Atlan ist in die Intrawelt vorgestoßen, um ein Mittel gegen die unheimlichen Lord-richter zu finden: den Flammenstaub. Nach wie vor bedrohen diese mit ihren Trup-pen mehrere Galaxien. Gleich zu Beginn seiner Odyssee durch die gigantische Hohl-welt gerät der Arkonide an Peonu, einen Diener der Chaotarchen. Dieser raubt ihmeinen Teil der Seele und kettet dadurch ihrer beider Schicksale aneinander. Peonulässt den Arkoniden ziehen – er weiß, dass jener ihm fortan verpflichtet sein wird.

Atlan durchreist weiterhin die Intrawelt auf der Suche nach dem Flammenstaub.Mit seinen Begleitern kommt er erstmals in Kontakt mit den ARCHITEKTEN DER IN-TRAWELT …

Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide kämpft gegen Roboter.Sobensten - Der Parzellenschneider begleitet Atlan zur Membran.Prielsnig - Der Oberste Arzttechniker raucht Kette.Kartnich - Der langlebige Anstize will sterben.Tuxit - Der Geschichtenerzähler bricht das Schweigen.Jolo - Das Echsenwesen ist wie immer hungrig.

1.Kartnich

»Kartnich«, sagte die Stimme, diese leise,ewig gleiche, seelenlose und abgrundtiefverhasste Stimme, »Kartnich, arbeite!« Indiesem aufgewühlten Zustand vernahm ersie kaum. Arbeiten, ja, natürlich, aber …

Er verstand das alles nicht. Er konntenicht mehr. Er wollte nicht mehr.

Und doch musste es irgendwo ein Verste-hen geben; ein geheimes Wissen, das hinterMauern des Vergessens verborgen war. Erwollte sie einreißen. Er spürte, dass er dazuim Stande war. Er würde alles dafür geben.

Aber gleichzeitig hatte er furchtbareAngst davor.

»Arbeite, Kartnich!«Der Anstize presste in einem Anflug

hilflosen Zorns alle drei Fingerkuppengleich mehrerer Lanken so fest gegen eineKontaktfläche, dass er die Vibration derEnergie, die er damit freisetzte, fastschmerzhaft spürte. Der Steuerungsmecha-nismus seiner Schwarzkammer reagierte inGedankenschnelle und ließ die würfelförmi-ge Box, deren mit Instrumenten gespickteInnenseiten ihn wie eine stählerne Haut um-gaben, beschleunigen und durch den Korri-dor rasen. Sie schoss an benachbarten Wür-felkuben vorbei und immer schneller auf diegegenüberliegende Wand seines Wohn- undArbeitsbereichs zu. Kartnich wurde, trotzdes Kraftfelds, das ihn halten sollte, nachhinten gedrückt. Mit Mühe schaffte er es,sich durch Abstemmen auf mehrere Lankenwieder zu stabilisieren.

»Hör damit auf, Kartnich! Du hast keineChance!«

Er sah die Wand auf sich zukommen, jaregelrecht in seinem Blickfeld explodieren.Sie schien in die offene Seite der Schwarz-kammer hereinplatzen zu wollen. Er schrie,ohne sich dessen bewusst zu sein. Er sah dieWand und hatte plötzlich nur den einenWunsch, dass es hier und jetzt zu Ende ging.Schnell und unwiederbringlich. Sein Leben,seine Arbeit, seine armselige Existenz – al-les hatte seinen Sinn verloren. Er war müde.Er hatte keine Kraft mehr. Lasst es zu Endegehen!

Er wusste nicht, an wen er den Gedankenrichtete. Niemand würde ihn empfangen.Niemand hörte ihn. Falsch! Sie sahen undhörten alles, aber niemand reagierte mehrauf das, was er tat, und wenn doch, dannnur, um es wieder zunichte zu machen. Sei-ne Arbeit, seine Aufgabe …

Die Wand. Er hielt den Atem an. Noch ei-ne Sekunde, und es war vorbei. Er würdeendlich Frieden finden. Aber würde es füreinen wie ihn je ein friedvolles Ende geben?

Er wusste, dass sie ihm diesen Gefallennicht erweisen würden. Die Box stoppte un-mittelbar vor der Wand, als wäre sie gegeneinen unsichtbaren Schirm geprallt. Wahr-scheinlich war es so. Kartnich wurde in sei-nem Haltefeld fast um die eigene Achse ge-wirbelt. Sein Kugelkörper wurde gezerrt undgedrückt. Für einen grässlichen Moment hat-te er das Gefühl zu platzen. Der Schmerzstach bis in seine letzte Zelle und drohte ihmdas Bewusstsein zu rauben. Er torkelte, mus-ste sich nach allen Seiten hin abstützen. Ihmwar schwindlig und elend zumute. Aber dieSchwärze zog sich zurück. Sie kam nicht biszu ihm durch. Nein, es war nicht vorbei.Nicht einmal das gönnten sie ihm.

Er hatte es überstanden. Nun ging es wei-

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ter. Wie bisher. Ohne einen erkennbarenSinn.

»Siehst du es endlich ein, Kartnich?Dann arbeite! Löse die Aufgabe!«

Der voluminöse Anstize atmete tief durch.Seine Körperhaut unter der dichten, längstgrauen Behaarung straffte sich, soweit eseben ging. Die Geschmeidigkeit seiner Lan-ken hatte erheblich nachgelassen, manchewaren völlig unbrauchbar, und auch dieKunstlanken konnten von den schwach ge-wordenen Nervenenden kaum noch zielge-recht bewegt werden. Er war alt, uralt. Undschon viel zu lange hier.

Hier?Er steuerte die Schwarzkammer von der

halb transparenten Wand fort. Hinter ihrglaubte er Bewegung zu erkennen. AndereAnstizen? Bewohner der Nachbarbereiche?Vielleicht angelockt durch seinen Amok-lauf?

Oder sie? Beobachteten sie ihn? Natürlichtaten sie das, aber nicht mehr nur über dieSysteme, sondern direkt? Sie sahen und hör-ten doch sowieso alles, was er tat. Ihnenkonnte er nichts verbergen. Sie wussten ge-nau, was er sich wünschte, aber sie waren zugrausam, um es ihm auch zu erfüllen.

»Arbeite, Kartnich!«Sicher. Er musste weitermachen. Funktio-

nieren. Ein kleines Rädchen in einem Ge-triebe, einem teuflischen System, das ernicht durchschaute. Es war ihm bewusst. Im-mer wieder, wenn er seine Aufgabe zu lösenversuchte und Tore verschob, Winkel änder-te, Anschlussvektoren verdrehte und umOrdnung bemüht war, wo keine erkennbareOrdnung existierte.

Aber es musste sie geben! Ein System!Kartnich versuchte, sich zu sammeln.

Weiter, einfach weitermachen und keineFragen stellen. Die Aufgabe: die äußereFarbgebung in Sektor 33 auf Celanblau ver-ändern und die Form der Räume in ein per-fektes Sextumplet bringen. Er arbeitete dar-an, solange er sich zurückerinnern konnte(und wusste genau, dass es vorher etwas an-deres gegeben hatte). Doch was er auch tat,

es schien zu ewigem Scheitern verurteilt zusein. Immer wieder wurden seine räumli-chen Anordnungen auf rätselhafte Art geän-dert, was die Arbeit sinnlos erscheinen ließ.

Er würde sie nie beenden, solange er dasSystem dahinter nicht durchschaute. Er mus-ste sich erinnern, die Mauern niederreißen.Nur dann konnte er seine Aufgabe lösen undzu einem Ende bringen. Er war müde, so un-endlich müde …

Und er hatte eine grausame Angst vordem Fall der Barrieren, die er selbst errichtethatte. Er spürte, dass sich dahinter einschreckliches Geheimnis verbarg, das viel-leicht schlimmer war als der Tod.

Ein Geheimnis, das vielleicht nicht einmalsie kannten.

War er deswegen hier?»Kartnich«, sagte die Stimme aus seiner

Schwarzbox. »Arbeite!«

2.Atlan

»Achtung, Sobensten«, sagte ich leise.»Etwas stimmt nicht.«

Er gab keine Antwort, schwebte stur wei-ter.

Zu glatt und zu ruhig war der Weg unse-rer seltsamen Karawane verlaufen.

Tuxit schwieg wie gewohnt. Der Avoide,der mich an einen terranischen Strauß erin-nerte, über zwei Meter groß, die Flügelarmeauf den Rücken gefesselt, machte auch jetztkeine Ausnahme. Dabei hätte er uns sicher-lich einiges über diese für mich neue Umge-bung, die die Anstizen »Bodenwelt« nann-ten, erzählen können. Inzwischen sah ich esihm an. Die Art und Weise, wie er sich um-blickte, wenn er meinte, unbeobachtet zusein; wie er sich bewegte, manchmal etwaszu vorsichtig. Vielleicht war er sogar schoneinmal in der Bodenwelt gewesen. Wennnicht, hatte er davon gehört. Eins von bei-dem.

Dass Jolo schwieg, war eher ungewöhn-lich, aber eine echte Wohltat. In den letztenStunden hatte er sich an irgendetwas den

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Magen verdorben und uns die Ohren vollgejammert. Bei dem, was er alles wahllos insich hineinstopfte, war es für mich keinWunder. Der grünhäutige, kleine Echsenab-kömmling mit den gleichfarbenen Flatters-horts zog ein Gesicht, als müsste er sterben.Wenn bei ihm etwas flatterte, dann nur nochsein Magen. Hin und wieder warf er mir ge-quälte Blicke zu. Er wollte bemitleidet wer-den. Ich hätte ihm ja gern den Gefallen ge-tan, wenn ich nicht genau gewusst hätte,dass er dann gleich wieder zu stöhnen begin-nen würde. Also ließ ich es bleiben. Außer-dem erforderte die neue Umgebung meineganze Aufmerksamkeit.

Daher störte es mich besonders, dass sichauch unser Führer in Schweigen hüllte. Vonihm hatte ich mir mehr Informationen ver-sprochen. Diese Reise empfand er als lästig,und er gab sich keine Mühe, das zu verber-gen. Wir waren ihm von den Drieten quasiaufgezwungen worden. Als Dank dafür, dasswir die Baustelle Corl 22 vor noch schwere-ren Beschädigungen durch seinen krankenArtgenossen Eggober bewahrt hatten, hatteer zugestimmt, uns zu jenem geheimnisvol-len Hospiz mitzunehmen, wo wir Eggoberzur Behandlung abgeben würden. Dort soll-ten wir von einem Patienten Informationenüber den Flammenstaub erhalten. Kartnich,so der Name des Patienten, war angeblichuralt und verfügte möglicherweise über ganzbesonderes Wissen. Sobensten, der Parzel-lenschneider, verzichtete zwar uns zuliebedarauf, mit Hilfe eines Antigravs und seinerSchwarzbox schneller vorwärts zu kommen,war allerdings nicht bereit, uns ein geeigne-tes Transportmittel wie etwa eine Schwebe-plattform zur Verfügung zu stellen, wie sievon seinen Artgenossen hier unten verwen-det wurde.

»Die Roboter, Sobensten. Ihr Verhaltenkommt mir merkwürdig vor, abweichend…«

»Die Maschinen tun einfach ihre Pflicht,was ist daran merkwürdig?«, meinte er lapi-dar.

Wir hatten die Baustelle Corl 22 und die

Schuttparzelle hinter uns gelassen. Einenhalben Tag lang waren wir durch unebenesund mit Gerümpel verstelltes Gelände mar-schiert, Sobensten in seiner Schwarzkammervor uns, Eggober wie paralysiert in seinerBox hinter uns. Er wurde mitgeschleift, schi-en selbst nicht mehr in der Lage, die Kam-mer zu steuern. Dann, kurz nach Anbrachder Nacht, hatte der Parzellenschneider unsin einen Tunnel gelotst, der über viele hun-dert Meter tief in den Boden der Intraweltführte, mit glasierten Wänden, aus denenweißliches Licht schimmerte. Als er endete,befanden wir uns in einer vollkommen neu-en Umgebung.

Ich war erstaunt, mich plötzlich in einersterilen, technisierten Umwelt wiederzufin-den, in der nichts mehr an die natürlichenLandschaften erinnerte, die ich von der In-trawelt bisher kannte. Hier wuchs keinePflanze, hier gab es kein tierisches Leben,nicht einmal winzige Insekten. Dafür begeg-neten uns Anstizen und Roboter, die aussa-hen wie Anstizen, nur fast doppelt so großund ohne Schwarzkammern. Meistensschwebten sie in der Luft. Manchmal be-wegten sie sich aber auch rollend wie ihreHerren, wobei sie sich in Wirklichkeit wiediese mit ihren dreigelenkigen, dreifingrigenGliedmaßen, den Lanken, von hinten nachvorne stemmten, so dass der Eindruck einesrollenden Balls entstand. Die meisten vonihnen wirkten geschäftig, während einigewie desaktiviert in den breiten, hellen Gän-gen standen und auf einen Befehl zu wartenschienen.

»Ich fürchte, sie werden uns angreifen,Sobensten!«

»Sie sind nur passiv, weil sie auf neue Be-fehle warten – Arbeitsbefehle.«

Bei der Bodenwelt handelte es sich um ei-ne Sphäre zwischen zwei übereinander ge-legten Metallschichten. Die Intrawelt warvon außen nach innen aufgebaut: Zuerst kamder Ortungsschutz, der sie umhüllte. Hatteman ihn durchflogen, sah man die gewaltige,300.000 Kilometer durchmessende Kugelmit den wabenförmigen Metallplatten vor

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sich, in denen es immer noch Lücken gab.Unter den Platten lag die geheimnisvolleMembran, von der ich bisher nur wusste,dass sie das Licht dämpfte, das vom Zentral-gestirn durch die Lücken nach außen drang.Darunter lagen die beiden Metallschichtenund zwischen ihnen ein hundert Meter hoherHohlraum: die Bodenwelt. Hier arbeitetenund lebten die Anstizen und sorgten dafür,dass die Konstruktion der gesamten Intra-welt »hielt« und ständig optimiert wurde.

Darunter wiederum lag die Erdschichtund darunter – oder darüber, je nach Per-spektive –, die Parzellenlandschaft …

Hör auf zu träumen!, wisperte der Extra-sinn eindringlich. Der Tanz kann jeden Au-genblick losgehen!

Ich weiß. In meinem langen Leben hatteich einen Instinkt dafür entwickelt. Nochdrei Sekunden, zwei …

Es war so weit! Sie griffen an, und alles,was wir an Waffen hatten, waren ein paarsimple Werkzeuge, das Cueromb und viel-leicht das, was Sobensten noch bei sich trug.

Jolo rülpste vor Schreck. Sobensten stießein undefinierbares Geräusch aus, und Tuxitstarrte, als ich es hervorholte, für einen ganzkurzen Augenblick wie entgeistert auf dasGerät, das ich aus Peonus Hütte hatte. Indiesem Moment registrierte ich es nur. Spä-ter konnte ich mir meine Gedanken darübermachen.

*

»Hinter die Strebe!«, schrie ich den Ge-fährten zu und versetzte Jolo einen Stoß, derihn aus der Schusslinie brachte. Der grüneEnergiestrahl fauchte über ihn hinweg undfraß sich in eine der glatten, steril wirkendenWände aus glasiertem Metall. Jolo kreischteund stolperte. Dann lag ich über ihm undrollte mich mit ihm hinter die Metallstrebe,die in schrägem Winkel zur Decke ging. UmTuxit und die beiden Anstizen konnte ichmich in diesem Moment nicht kümmern,hoffte aber, dass wenigstens die beiden Ku-gelwesen nicht von ihren eigenen Robotern

angegriffen wurden.Ich wusste nicht, ob sie mich überhaupt

gehört hatten, denn um uns herum war eineKakophonie schriller Töne losgebrochen.

Es waren die drei Kugelroboter, die unsseit mehr als einer Stunde begleiteten, auchwenn sie es durch geschickten Stellungs-wechsel zu verbergen versucht hatten. Michkonnten sie nicht täuschen. Mir fiel auf, dasssie sich ständig neu gruppierten. Der nächsteSchuss zuckte röhrend heran. Alarmsirenenheulten auf. Weitere Roboter schwebten sur-rend herbei und zogen sich blitzschnell wie-der zurück. Zwischen den Maschinen schienvöllige Konfusion ausgebrochen zu sein. Diedrei, die uns angriffen, beschossen sogar ih-re eigenen Artgenossen, wenn sie ihnen zunahe kamen. Und das bedeutete, dass wahr-scheinlich auch Sobensten und Eggobernicht vor ihnen sicher waren.

Ich drückte mich mit dem Rücken gegendie Strebe und überlegte fieberhaft. Für alleFragen nach dem Warum und Wieso warjetzt keine Zeit. Sobensten schrie. Ich konnteihn nicht sehen, doch endlich schien er zusich gekommen zu sein.

Jolo zappelte in meinem Griff und schlugum sich. Ich hielt ihn im linken Arm, umden rechten frei zu haben. Als ich es riskier-te und den Kopf um die Strebe streckte, sahich mitten in den Blitz eines neuen Schusseshinein, zuckte zurück, warf mich auf die an-dere Seite und versuchte es wieder.

Sobensten erschien direkt in meinemBlickfeld. Seine würfelförmige Schwarz-kammer schwebte knapp über dem Bodenund vollführte dabei seltsame hüpfendeSprünge, drehte sich, ruckte vor und wiederzurück. Der Anstize war vollkommen über-rascht und hatte keine Ahnung, wie er sichwehren sollte. Vor allem aber wusste ernicht, wie den verrückt gewordenen Robo-tern Einhalt zu gebieten war. Wenn er ihnenper Funk Befehle gab, befolgten sie sienicht.

Erneut wurde er beschossen. Seine Boxhüllte sich in einen Energieschirm und warfür zwei, drei Sekunden in gleißende Hellig-

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keit getaucht.»Komm her!«, schrie ich. »Hierher, hinter

die Strebe!«Er hörte mich nicht. Ich warf mich zurück

hinter die Deckung, als mich die Maschinenwieder aufs Korn nahmen. Die Zähne zu-sammenpressend, versuchte ich Jolo zu bän-digen, während ich nach einem Auswegsuchte. Dieser Angriff überraschte Soben-sten ebenso wie mich. Die Anstizen hattenihn nicht geplant. Aber irgendwer mussteden Robotern befohlen haben, auf uns loszu-gehen.

Die Schüsse schlugen in die Strebe. Ichkannte das Material nicht, mit dem die Bo-denwelt gebaut worden war, aber dass diegrünen Desintegratorstrahlen es auflösenkonnten, sah ich deutlich an den Löchern inder Wand.

Lange würden wir hinter der Strebe nichtsicher sein.

Womit sollte ich mich wehren?Das Cueromb … Ich wusste nicht, was al-

les in dem kleinen Universalgerät steckte.Ich bezweifelte aber, dass es sich als Waffegegen die Roboter benutzen ließ.

Vor mir ragte ein langer Hebel aus derWand, etwa fünf Meter rechts von der Ein-schussstelle und zwei Meter hoch. Es gabnoch mehrere davon. Die Wände waren hierund da mit technischen Instrumenten durch-setzt, sogar Schaltständen, von denen aus ir-gendwelche Dinge oder Abläufe kontrolliertwerden konnten. Kleine Bildschirme undLichter leuchteten auf und blinkten in hekti-schem Wechsel. Hier war der Teufel los, woblieb das Löschkommando?

Wenn es mir gelang, zu dem Hebel zukommen und ihn aus der Wand zu reißen …Er sah aus, als könnte er als Keule benutztwerden – aber eine Keule gegen hochmoder-ne Roboter mit Strahlwaffen?

Jemand schrie, ein Anstize, aber es kamnicht aus Sobenstens Richtung. Eggober?

Wo war Tuxit? Wieso hörte ich nichtsvon ihm?

In diesem Moment tauchte einer derAmok-Roboter vor mir auf. Er kam um die

Strebe herumgeschwebt und drehte sich vormir in der Luft, eine große, schwarz-me-tallisch glänzende Kugel mit Stacheln wieein gigantischer Seeigel. Aber um die Endender Stacheln flimmerte es verräterisch. Jolosah es ebenfalls, denn er brachte das Kunst-stück fertig, den Mund zu halten.

Ohne zu überlegen, ließ ich Jolo zu Bodengleiten, hechtete zur Seite und rollte michüber den Boden, auf die Wand mit dem He-bel zu. Über mich zischte ein Desintegrator-strahl hinweg und schlug genau dort ein, woich gerade noch gelegen hatte. Hoffentlichhatte es Jolo nicht erwischt.

Der Hebel. Die Maschine war zwischenmir und ihm. Ich glaubte nicht, dass er mirwirklich half, aber mir fiel nichts anderesein. Mit bloßen Händen konnte ich den Ro-bot nicht angreifen. Ich sah aus den Augen-winkeln, wie er sich in der Luft drehte, sahdas Flimmern, stürzte mich genau auf ihn zuund tauchte unter seinem nächsten Schussund unter ihm durch.

Für einen Augenblick hatte ich ihn nichtim Blick. Ich stieß mich in die Höhe, rannteauf die Wand zu und griff nach dem Hebel.Er war fast einen Meter lang und lag schwerin den Händen. Ich zwang mich, nicht nachhinten zu sehen, riss daran und zerrte. Er gabnicht nach. Ich hängte mich an ihn und setz-te beide Füße gegen die Wand, stemmtemich ab, legte mein ganzes Gewicht in denRuck, der ihn lösen sollte. Ich spürte, wie erleicht nachgab. Er kippte ein Stück nach un-ten. Es gab ein Klicken, das ich im Lärm derSirenen und Schüsse eher spürte als hörte,und ich flehte die Götter an, dass ich dasTeil abbrechen konnte.

Ich versuchte es noch einmal, bis dieSchüsse nur Zentimeter neben dem Hebel indie Wand schlugen. Sie wurden jedoch in ei-nem grellen und lauten Blitzgewitter von ihrreflektiert. Ich hatte das Gefühl, dass siedurch die Reflexion noch verstärkt wurden.Die »Querschläger« verfehlten mich nochknapper als die eigentlichen Schüsse. Ichschrie auf, ließ los, rollte mich im Fallen aufdie Brust und riss den Kopf hoch.

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Jetzt waren es zwei. Einer der Roboterschien noch mit Sobensten, Eggober odermeinen Gefährten beschäftigt zu sein. Dochanscheinend hatten sie in mir den gefährli-cheren Gegner erkannt und rückten nun ge-meinsam gegen mich an.

Ich rollte mich von der Wand weg. EinSchuss fauchte höchsten zwei Zentimeter anmeinem Kopf vorbei. Sie wollten mich um-bringen, und der nächste Schuss konnte töd-lich sein.

Mit erstaunlicher Präzision schießen sieabsichtlich daneben. Mein Extrasinn über-zeugte mich nicht.

Dann kam mir eine Idee, wie ich es schaf-fen könnte, sie zu überrumpeln. Ich musstedie Kugeln dazu bringen, sich so zu postie-ren, wie ich es brauchte. Entfernungen, Win-kel und Zeit richtig einschätzen – und hof-fen, dass ich mit meiner Idee richtig lag. Eswar die einzige Chance.

Die zwei Roboter schwebten links undrechts, aber noch ein Stück vor mir. Ich hätteInsektenaugen gebraucht, um sie beide aufeinmal zu sehen. So hatte ich immer nureinen von ihnen im Blickfeld, und das auchnur für einen Sekundenbruchteil.

Und einmal sah ich, dass es in der Boden-welt der Anstizen brannte, und zwar genaudort, wo Jolo liegen musste, an der Strebe,hinter der wir Schutz gesucht hatten.

Denke jetzt nicht an sie! Die Ermahnungdes Extrasinns war überflüssig. Wenn dudeine Freunde je wiedersehen willst, kon-zentriere dich!

Ich rollte mich ab und robbte, den Schüs-sen ausweichend, vorwärts. Als ich den Au-genblick für gekommen hielt, sprang ich auf.

Es war ein uralter Trick. Selbst ein Kadettwürde dafür belächelt werden, aber ich hattekeine Wahl. Ich sah, dass die Roboter sostanden, wie ich sie hatte haben wollen. Imnächsten Moment mochte es wieder anderssein. Ich winkte ihnen zu und schrie sie an,zählte im Kopf bis zwei, stieß die angehalte-ne Luft aus, fiel und tauchte weg, bevor dieSchüsse mich treffen konnten.

Sie hatten gleichzeitig gefeuert, wie ich es

gehofft hatte. Und sie trafen sich gegensei-tig.

Ich lag auf dem Rücken und hielt die Luftan. Die beiden Roboter flammten im Feuerdes jeweils anderen auf. Grelle Energienumwaberten ihre stachligen Kugelkörper.Die gleichen Energien hätten mich treffenkönnen …

Aber sie zerstörten sich nicht. Sie hattenEnergieschirme aufgebaut, die die Desinte-gratorstrahlen absorbierten und unschädlichmachten.

Die Wand!, durchfuhr es mich. Ich sah,dass ich meine vielleicht einzige Chancevertan hatte, aber ich sträubte mich gegenden Gedanken, dass ich wirklich nichts an-deres mehr tun konnte.

Es war ein flüchtiger Eindruck gewesen.Der Hebel, der Abschnitt der Wand um ihnherum mit den eingesetzten Geräten. DieSchüsse, die dort auf getroffen – und reflek-tiert worden waren.

Es war eigentlich gegen jede Logik.Selbst wenn ich die beiden Amokläufer nocheinmal austricksen konnte, gab es keinenvernünftigen Grund anzunehmen, dass sienicht wieder ihre Energieschirme aufbauenwürden. Doch es war ein Strohhalm, meinunwiderruflich letzter, und ich griff nachihm.

Sie hatten schon wieder die Position ge-wechselt. Ich wartete nicht auf die erstenSchüsse, nachdem sie nicht mehr gegensei-tig in der Feuerlinie waren, sondern stießmich ab und hetzte zur Wand, sah mich um,wartete, bis die Maschinen wieder im richti-gen Winkel standen, und schwang michdann erst an den Hebel. Ich zog die Beine sofest an wie möglich, umklammerte den He-bel wie meinen letzten Rettungsanker, war-tete auf die Schüsse und hielt die Luft an.

Die Roboter feuerten. Ihre Strahlen trafengrell auf die Wand. Es gab ein Blitzen, dasmich blendete. Doch die Strahlen wurden re-flektiert, verstärkt, zuckten zurück, trafendie Roboter – und durchschlugen ihre Schir-me!

Die Amokläufer explodierten. Noch ein-

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mal zog ich den Kopf ein. Es hätte mirnichts genützt, wenn einer der jaulendenMetallfetzen mich getroffen hätte. Das warreines Glück. Ich klammerte mich an denHebel, spürte, wie er nachgab, und landetemit ihm auf dem harten Boden.

Für einen Augenblick blieb ich so liegen,die Beine angezogen, den Hebel in beidenHänden vor der Brust, und wagte nicht,mich wieder umzusehen. Erst als keineTrümmer mehr umherflogen und nur nochdie Sirenen die Trommelfelle malträtierten,sah ich zwei qualmende Roboterwracks amBoden liegen wie aufgebrochene, dunkle Ei-erschalen. Der Rauch wurde von ihnen weg-getrieben, durch einen Luftzug, den ich nichtspürte. Er vermischte sich mit der größerenWolke dort, wo ich die Flammen gesehenhatte.

Für einen Moment dachte ich, es sei über-standen, als mein Extrasinn sich meldete:Sogar ein Narr musste es in 10.000 Jahrenso weit bringen, auf drei zählen zu können!

Der dritte Roboter …Dann hörte ich den bis ins Mark gehenden

Schrei einer Kreatur in höchster Not. Aufmeinen Dhedeen hatte ich in dem ganzenChaos überhaupt nicht mehr geachtet. Erwar nicht mehr da, aber auch ohne denÜbersetzervogel wusste ich, wer da schrie.

»Sobensten«, murmelte ich, drehte michauf Hände und Beine, packte den ausgerisse-nen Hebel fest und richtete mich auf.

Nein, ich hatte es nicht vergessen, nur füreinen Augenblick verdrängt. Wir – wer im-mer von uns noch übrig war – hatten nocheinen Gegner, und der würde sich nichtselbst erschießen.

*

Ich hatte nur die Keule. SobenstensSchreien kam mitten aus dem dunklenQualm heraus. Ich holte tief Luft, umklam-merte meine Waffe und drang in die Wolkeein, die sich noch ausbreitete. Wenigstenswaren keine Flammen mehr zu sehen. Siewaren entweder erstickt oder gelöscht wor-

den.Willkommen beim Zwiebus-Cup!, dachte

ich. Neandertal gegen Intrawelt-High-Tech!Was soll das?, mäkelte der Extrasinn.Vergiss es. Galgenhumor.Der Rauch biss mir in den Augen, sie be-

gannen sofort zu tränen. Ich rief nach So-bensten und erhielt nur Schreie zur Antwort.Ich suchte vergeblich nach der Strebe, wosich Jolo befinden musste. Dann teilten sichdie giftigen Schwaden vor mir. Ich sah dieSchwarzkammer des Anstizen und davorden Kugelroboter. Beide beschossen sichmit grünen Strahlen, und beide waren in ih-ren Energieschirm gehüllt, doch der des Par-zellenschneiders flackerte bedrohlich. Ermusste jeden Moment zusammenbrechen.Sobenstens Lage war hoffnungslos.

Ich wusste nicht, wo der Roboter überallSensoren besaß, musste aber davon ausge-hen, dass er mich jeden Augenblick bemer-ken würde. Ich näherte mich mit schnellenSchritten. Er drehte sich. Ich sah in die flir-rende Abstrahlmündung der Waffe am Endeeiner besonders langen Lanke und reagierteinstinktiv, indem ich den Hebel einmal übermeinen Kopf schwang und im Fallen auf ihnschleuderte. Der Energiestrahl fauchte übermich hinweg, aber die Keule durchdrangden Schirm der Maschine und traf ihn mitaller Wucht zwischen seine Gliedmaßen. Esgab ein Zischen, als sie sich durch die Hüllebohrte, dann explodierte die Maschine miteinem lauten Knall.

Der Roboter beulte sich auf, bekam Risse,Lanken fielen herunter wie abgesprengt.Dann sank er zu Boden und blieb regungslosliegen.

Ich stürmte auf die offene Seite derSchwarzbox zu. Ihr Energieschirm hatte sichdesaktiviert. Sobensten lebte. Er schrie jetztnicht mehr, aber seine Lanken zitterten. Ichredete beruhigend auf ihn ein und sah ausden Augenwinkeln, wie Roboter herange-schwebt kamen. Für einen Moment war ichalarmiert, doch dann schien klar, dass ich esmit friedlichen Maschinen zu tun hatte. Siehielten Abstand und beobachteten uns. Eini-

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ge ihrer Lanken bewegten sich wie Anten-nen. Funkten sie, was sie sahen? Und anwen?

»Sobensten!«, sagte ich. Mein Dhedeensaß plötzlich wieder auf meiner Schulter undzapfte mich auch sogleich an, als wäre er nieweg gewesen. Mittlerweile machte es mirnichts mehr aus. Ich gab ihm Nahrung, meinBlut, und er übersetzte für mich; ließ michverstehen, was die unterschiedlichen Wesender Intrawelt sagten. »Sobensten, kannst dumich hören?«

Er ächzte. Ich hatte das Gefühl, dass ermich anvisierte. Mit Sicherheit behauptenkonnte ich es nicht, denn er besaß keine imhumanoiden Sinn erkennbaren Sinnesorga-ne.

Momentan war er nicht in der Lage zukommunizieren. Ich wandte mich von seinerBox ab, sah die wartenden Roboter und riefihnen zu, sich um ihn zu kümmern. Schließ-lich war er ihr Herr.

»Jolo, Tuxit!« rief ich. Die Rauchwolkehatte sich halbwegs verzogen. Der Luft-hauch einer Umwälzanlage trieb sie davonund löste sie allmählich auf. Die Schrägver-strebung, halb durchsiebt von Desintegrator-schüssen, war geschwärzt. Mit klopfendemHerzen lief ich auf sie zu, bog um die Eckeund sah Jolo mit starrem Blick der großen,weit auseinander liegenden Augen reglos amBoden liegen. Sein Echsengesicht warschmerzverzerrt. Bei dem Anblick überliefmich ein kalter Schauder. Ich spürte eineWelle des Mitleids.

Über ihm war Tuxits Kopf mit dem riesi-gen Hakenschnabel. Der Vogelabkömmlingsaß neben ihm, die kräftigen Beine an dengefiederten Leib gezogen. Er drehte sich um,als er mich kommen hörte. Seine ausgepräg-te Halskrause verriet durch ihre rötliche Ver-färbung eine gewisse Belustigung, was über-haupt nicht zu unserer Situation passte. Ichblieb stehen.

»Ist er tot?«, fragte ich.»Leider nicht«, antwortete Tuxit.Ich starrte ihn verständnislos an. »Wie

kannst du so reden? Er mag eine Nervensäge

sein, aber er ist unser Freund!«»Und er versteht es meisterhaft, bei ande-

ren Wesen Gefühle zu erzeugen, Atlan. Hastdu das vergessen?«

»Du meinst … Mitleid?«»Zum Beispiel«, sagte Tuxit mit müder

Stimme. Dabei starrte er wieder auf das Cu-eromb, das ich mir um das linke Handgelenkgehängt hatte. Ich steckte es ein. TuxitsBlick verriet jetzt allzu deutlich nicht nur In-teresse, sondern eine starke, kaum verhohle-ne Gier. Er konnte sich vielleicht verstellen,aber seine Halskrause »log« nicht: Sie wech-selte ins Bläuliche über, was Leidenschaftund Erregung bedeutete. Doch bevor ichihm eine entsprechende Frage stellen konn-te, richtete sich Jolo auf. Er bog den Ober-körper in die Höhe, als sei er aus Gummi,und sah mich mit einem Ausdruck bittererEmpörung an. Sofort wollte sich einschlechtes Gewissen einstellen, aber diesesMal war ich gewappnet und wehrte das Ge-fühlschamäleon ab.

»Ich habe alles gehört«, sagte er. »Ihr seidmir zwei schöne Freunde. Du hast mich imStich gelassen, Atlan. Einfach abgehauenbist du. Hast du gedacht, ich sei tot? Bist duenttäuscht, dass ich's nicht bin?«

»Jolo«, seufzte ich. »Du redest Unsinn.«»Ach ja? Unsinn? War es auch Unsinn,

als ich dich aus größter Not gerettet habe?«»Jolo!«, sagte ich. »Hattest du nicht Leib-

schmerzen?«Er verstummte und starrte mich an. Dann

schnitt er eine Leidensgrimasse und fuhrsich mit der Hand über den Bauch. »Ganzschlimm«, jammerte er. »Danke, dass dumich daran erinnert hast. Aber das ist euchja auch ganz egal, stimmt's? Es ist euch egal,wenn ich sterbe. Hauptsache, ihr seid michlos. Aber was wird aus euch ohne mich?Wie willst du denn jemals das Geheimnisdes Flammenstaubs lösen, ihn gar stibitzen,wenn ich nicht mehr da bin? Frag dich dasmal, Atlan. Ich bin … Oh weh, oh weh, tutmir der Bauch weh …«

Ich drehte mich um, damit er mein Grin-sen nicht sah. Jolo hätte sonst noch auf den

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Gedanken kommen können, es wäre Scha-denfreude.

Ich hatte im Rücken keine Augen. Den-noch spürte ich Tuxits Blick und wusste,was der Geschichtenerzähler dachte.

Sobensten. Eggober. Ohne die beiden An-stizen, vor allem den Parzellenschneider,waren wir hier unten verloren. Wir würdennie das Hospiz finden und nie die Antwor-ten, die ich so dringend brauchte, wenn meinAufenthalt hier nicht ganz ohne Sinn seinsollte. Wenn mindestens drei Galaxien vomTerror der Lordrichter befreit werden soll-ten.

Ich machte mich erneut auf den Weg zuSobensten. Ich wollte endlich verstehen, washier vorging, und nur er hatte die Antworten.Ich war nicht länger bereit, mich von ihmhinhalten zu lassen. Er schuldete mir etwas.

3.Kartnich

Kartnich hatte sich wieder beruhigt.Nun fühlte er sich schwach. Die Anstren-

gung, die Anspannung, der innere Aufstandhatten ihn Kraft gekostet, und darüber ver-fügte er nicht mehr im Überfluss. Er durftesich nicht so sehr gehen lassen. Durfte demZorn, der Verzweiflung, der hilflosen Wutnicht erlauben, ihn zu beherrschen. SeineArbeit, seine Aufgabe … Das war alles, waszählte. Ob es noch wichtig war, interessierteniemand, am wenigsten sie.

Und er wollte es hinter sich bringen, nurdas. Also begann er von neuem mit seinenVersuchen, Ordnung zu schaffen.

Die Blöcke. Es gab genau tausend davonin seinem Lebens- und Arbeitsbereich. Jederdieser Würfel war mehr als zehnmal so großwie seine Schwarzkammer. Nebeneinander,dicht an dicht, Wand an Wand, passten zehnvon ihnen hinein. Übereinander angeordnetwaren es ebenfalls zehn. Und zehn, wenn ersie nach hinten ordnete. Das machte tausend.Zwischen ihnen gab es lange und weit ver-zweigte Gänge, die ebenfalls Teil der An-ordnung waren. Man verlangte von ihm, alle

Blöcke so zu ordnen, dass sich ein perfektesSextumplet ergab und die äußere Farbge-bung des Bereichs auf Celanblau geändertwurde. Schon das eine war schier unmög-lich, beides zusammen absolut undenkbar!

Und doch wieder nicht, wenn er bedachte,dass sie ihm zwar schon viele schwere, schi-kanöse Aufgaben gestellt hatten, jedoch kei-ne unlösbare. Er war verzweifelt gewesen,hatte es aber am Ende immer geschafft, ohnesich genau zu erinnern, wie. Sonst hätten sieihm keine neue Aufgabe gestellt.

Und wenn er diese nun löste, bestand sei-ne Belohnung nur in der nächsten, nochschwierigeren?

Schon beim Gedanken daran geriet er inKrisenstimmung.

Er begann wieder mit der Anordnung derBlöcke auf der Seite, die er in Ermangelungeiner Richtung einfach nur »Anfang« nann-te. Es war leicht, die Würfel zu verschieben.Seine Lankenfinger brauchten nur die ent-sprechenden Richtungstasten auf seinenKontrollen zu berühren. Die Kuben wurdenvon Kraftfeldern erfasst und gehoben, ge-schoben, gedreht und positioniert, wenn erglaubte, dass eine Anordnung richtig war.

Ebenso leicht fiel die Manipulation derFarben: Mit Hilfe der Instrumente derSchwarzbox ließ er die Farbgebung wan-dern. Wie er aus reiner Formenergie beste-hende Wände »löschen« oder neu errichtenkonnte, vermochte er auch mit den Farbenzu spielen und sie zu projizieren. Mit derEinschränkung, dass sich die verschiedenenFarben stets genau gegenüberliegen mus-sten. Celanblau lag immer gegenüber vonVauletta, Drommetenrot von Giecksgrünund Orgenage von Oppelnektar.

Das eigentliche Problem waren die Nach-barn, weil sie gegen ihn spielten.

Er wusste, dass es sie gab. Andere»Bewohner« dieses Orts, andere Gefangene,wahrscheinlich Anstizen wie er.

Manchmal sah er sie verschwommen hin-ter den aneinander liegenden Trennwändender einzelnen Bereiche. Er hatte keine Ah-nung, warum sie das taten, aber die Verän-

Die Architekten der Intrawelt 11

derung eines Bereichs wirkte auf alle ande-ren. Wenn er kurz vor einem Erfolg stand,zerstörten die Nachbarn seine Anordnungenwieder, indem sie ihre eigenen Arbeitsberei-che entsprechend umgruppierten. Mehr alseinmal war es ihm gelungen, den gesamtenAußenbereich richtig zu ordnen, hundertBlöcke aufeinander. Doch als er die nächsteReihe in Angriff nehmen wollte, wurden dieFarben wie durch Geisterhand wieder durch-einander gewirbelt, und alles war umsonstgewesen.

Sie arbeiteten gegen ihn, alle! Wie langeversuchte er schon, das Unmögliche zuschaffen? Tausend Tage? Zehntausend? Esmusste eine sehr, sehr lange Zeit sein. Aufjeden Fall viel zu lang für eine einzige Auf-gabe. Hätte er es nicht längst bewältigt ha-ben müssen, wenn er nicht massiv daran ge-hindert worden wäre? Nicht nur die Nach-barn, das ganze System arbeitete gegen ihn.Sogar seine Schwarzkammer zeigte uner-klärliche Fehlfunktionen. Alles hatte sichgegen ihn verschworen. Er konnte es drehen,wie er wollte: Es gab keine Hoffnung.

»Arbeite, Kartnich!«»Ihr braucht mich nicht zu scheuchen!«,

schrie er.Er wollte nicht mehr. Er war müde. Wa-

rum ließen sie ihn nicht in Ruhe? Warumschenkten sie ihm nicht seinen Frieden? Washatten sie davon, dass er hier vor sich hinvegetierte, denn dies war kein sinnerfülltesLeben mehr.

Leben …Worin bestand es für einen Anstizen wie

ihn? Er kannte nur einen Inhalt: Arbeit. Da-zu war er geboren, dafür existierte er. EineAufgabe lösen und die nächste angehen. Daswar der Fluch seiner Art. Und dieser»Berufsethos« trieb ihn wieder an, wenn erglaubte, am Ende zu sein. Aber worin lagder Sinn?

Es musste andere Aufgaben für ihn geben– draußen –, wo immer das war. Seine Situa-tion war einmal eine andere gewesen …

»Arbeite, Kartnich!«»Hört auf!«, schrie er ins Leere. »Erlöst

mich! Befreit mich! Ich kann nicht mehr!Lässt mich sterben, ich befehle es euch!«

Ich befehle es!Befehle …Ja, da war etwas, weit weg und schwach.

Der Hauch einer Erinnerung. Ein Flackernvon Licht in der bodenlosen Dunkelheit, dieseinen Geist umhüllte. Er hatte einmal Be-fehle gegeben, und man hatte sie befolgt.Das bedeutete, dass er einmal mächtig ge-wesen war. Er wusste es, ohne sich zu erin-nern. Aber wo war das gewesen?

Für einen Moment hatte er die Vision ei-ner riesigen, scheinbar unendlichen Welt oh-ne Mauern und Grenzen. Er sah ein Licht, sohell, dass es ihn schmerzte. Er atmete frischeLuft, sah schier unüberschaubare Kolonnenvon Arbeitern, Wesen verschiedener Art,und er lenkte sie. Er gab die Anweisungen.Ein Wort von ihm konnte eine halbe Welterschaffen.

Das Bild verschwamm und erlosch. Erwar wieder allein in seiner Kammer, in sei-nem Bereich, in den verfluchten sechs Wän-den, die seine Welt waren – und die ihn er-stickten.

Er wollte nicht mehr. Er konnte nichtmehr. Er war ausgebrannt. Ein Anstize lebtefür seine Arbeit, allein für sie, und wenn siekeinen Sinn mehr ergab, erlosch der Lebens-wille.

Jeder andere Anstize durfte in Friedensterben. Warum er nicht? Was war anders anihm? Warum hielten sie ihn hier gefangen,und wo war »hier«?

»Kartnich«, sagte die Stimme aus demNichts. »Arbeite, Kartnich!«

4.Atlan

Wir waren wieder unterwegs, mit Soben-sten und Eggober. Unsere kleine Truppe hat-te den Angriff überlebt. Das war die guteNachricht.

Die schlechte war: Ich war noch genausoschlau wie vorher.

Weder Sobensten noch Eggober hatten

12 Horst Hoffmann

ernsthafte Verletzungen davongetragen. Bei-de standen unter Schock, unser Führer aller-dings mehr als der Kranke, der sich nur wei-ter in seinen Irrsinn hineingeflüchtet hatte.Sobensten war zwar klar genug bei Ver-stand, um mitzubekommen, was geschehenwar, aber er weigerte sich einzugestehen,dass wir von seinen eigenen Robotern vor-sätzlich angegriffen worden waren. Er be-hauptete, dass es sich um ein Versehen oderganz einfach eine Panne handeln musste.

Ich hatte es aufgegeben, ihn vom Gegen-teil überzeugen zu wollen, denn beweisenkonnte ich nichts. Was die Tötungsabsichtbetraf, war auch mein Extrasinn andererMeinung.

Narr! Trotz deiner artistischen Glanzlei-stung hätten dich die Kugelroboter treffenmüssen!

Ich wusste nur, was ich gesehen hatte,und von einem Gefühl zu reden wäre genau-so wenig stichhaltig gewesen wie sein Be-harren darauf, dass »so etwas noch nie vor-gekommen« sei. Die Roboter der Anstizenwaren Arbeitsmaschinen ohne hohe Intelli-genz und auf unbedingte Loyalität program-miert. Sie griffen ihre Herren nicht an, nichtsie und nicht ihre Gäste.

Immerhin schien der Parzellenschneidernoch zu wissen, wo's langging. Ab und zukontaktierte er Artgenossen oder klinkte sichüber eine Internverbindung ins Info-Netz derBodenwelt ein. Dann schwebte er mit seinerSchwarzbox zu einer der Wände, schlosssich mit den Kontrollen kurz, kam wieder zuuns zurück und setzte den Weg fort, mürri-scher noch als zuvor. Er sagte nur das Nötig-ste, und das war schon vor dem Zwischen-fall nicht viel gewesen. Es ging weiter, zumHospiz, wie er mitteilte. Wir sollten unsweiter gedulden. Im Hospiz würden wir dieAntworten auf unsere dringendsten Fragenerhalten, soweit ein Anstize sie geben konn-te. Abermals nannte er den Namen Kartnich,und wenn er von ihm sprach, tat er das mitgroßem Respekt. Immerhin, Sobensten tatnoch ein Weiteres, indem er uns aufforderte,eng zusammenzubleiben und auf unser Be-

finden zu achten. Wenn wir spüren sollten,dass wir von Übelkeit befallen wurden, wür-de er mit uns einen Umweg einschlagen.Mehr konnte ich ihm dazu nicht entlocken.Appelle und Drohungen fruchteten nichts.Ich merkte nur, dass ihm die Aussicht aufeinen Umweg ein ziemliches Missfallen be-reitete.

Der Weg durch die Bodenwelt begannmonoton zu werden. War dieser Wohn- undArbeitsbereich in der Parzellenbaustelle Corlnoch keineswegs fertig gestellt gewesen, sowanderten wir nun durch ein technisiertesNiemandsland mit in einem weißen Lichtblassblau schimmernden Wänden aus unbe-kanntem Material, durch endlos lange, breiteKorridore und unter einer immer hundertMeter hohen Decke, die mit der zweiten,oberen Metallschicht der Intrawelt identischwar. Vom Boden der Intrawelt aus gesehen,lag sie tief darunter und über der ersten Me-tallschicht, hinter der wiederum die Mem-bran kam und dann die Metallhaut ausSechsecken – und der Weltraum. Hatte esnach unserem Einstieg in der Parzelle Corlnoch Lücken in dieser Decke gegeben,durch die man bei Tage die immer im Zenitstehende Kunstsonne sehen konnte, so warsie nun restlos geschlossen. Wir waren vonder Intrawelt, wie wir sie bisher kannten, ab-geschottet. Ob draußen gerade Tag oderNacht war, konnten wir allenfalls schätzen,denn hier gab es nur ewiges Licht; weiß, in-direkt und hell, aber nicht unangenehm. Wirsahen es nicht. Tuxit und Jolo hatten damitwahrscheinlich größere Probleme als ich.

Die Anstizen, die fast überall herumstan-den, arbeiteten oder betriebsam umherwu-selten, schienen ebenfalls nach ihrem eige-nen Rhythmus zu leben. Auf eine entspre-chende Frage hatte Sobensten sich zu derAndeutung herabgelassen, dass sie wohl ineiner Art Schichtbetrieb arbeiteten. Wer ge-rade keinen Dienst schob, zog sich zurück,klinkte sich aus. Ich nahm an, dass sie sch-liefen.

Tuxit, der Geschichtenerzähler, bliebschweigsam. Immer wieder fing ich die selt-

Die Architekten der Intrawelt 13

samen Blicke auf, mit denen er mich muster-te. Seine Neugier schien eine neue Dimensi-on erreicht zu haben. Ich fragte mich mehrdenn je, was er wusste und vor uns verbarg.Tuxit war mir ein Rätsel, und ich hoffte nur,dass er zu reden begann, wenn es nötig seinsollte. Vielleicht spielte er sein eigenesSpiel. Ich glaubte jedoch nicht, dass er unsdamit Schaden zufügen wollte.

Und Jolo? Wenn er nicht qualvoll seineLeibschmerzen zur Schau stellte, dann be-schwerte er sich mittlerweile schon wiederüber Hunger. Wir hielten uns nun seit min-destens fünfzehn Stunden in der Bodenweltder Anstizen auf. Draußen, »oben oder un-ten«, musste jetzt die Sonne der Intraweltwieder scheinen. Hoch über unseren Köpfenging das Leben wahrscheinlich seinen ganzgewohnten Gang, in welcher Parzelle wiruns inzwischen auch immer befanden. Undoben gab es Nahrung, hier unten nicht. Joloverwünschte die Anstizen und ihre Roboterdafür, dass sie uns »verhungern« ließen.Wenn er aber auch das nicht mehr tat, mus-ste ich ihm erzählen, wie ich es geschaffthatte, mit den drei Maschinen fertig zu wer-den, und wie ich auf die Idee gekommenwar, dass es sich um positronische Amok-läufer gehandelt hatte.

Ich hatte viel Geduld, aber irgendwannwurde es selbst mir zu dumm. Ich ließ Jolofragen und hoffte fast, seine Bauchschmer-zen würden ihn bald wieder ablenken. Warich hier der Geschichtenerzähler? Die einzi-gen Fragen, auf die ich gern eine Antwortgehabt hätte, blieben die nach dem Motivder Roboter – und ob ihr Angriff, ihr offen-sichtlicher Aussetzer, ein Einzelfall gewesenwar. Ich hatte Zweifel daran.

Irgendwann schwieg er tatsächlich. Abernur kurz. Dann blieb er stehen und hielt sichwieder den Leib – zur Abwechslung nur miteiner Hand. Die andere lag auf seinerschmalen Stirn.

»Es tut weh«, klagte er.»Das weiß ich inzwischen«, sagte ich

seufzend. »Ich kann dir nicht helfen, Jolo.Überleg dir in Zukunft, was du frisst.«

»Nein, Atlan. Es ist … Spürst du es dennnicht? Mir tut nicht nur der Bauch weh.Auch der Kopf.«

»Dann hast du dich wahrscheinlich ver-giftet.«

»Atlan!« Jolo schaute mich empört an.»Ich leide wirklich! Mein Kopf platzt gleich,das ist doch nicht normal.«

Was ist bei dir schon normal?, lag mir aufder Zunge, doch dann sah ich Sobensten.Der Anstize hatte mit seiner Schwarzbox an-gehalten und sich ein Stück aus dem Würfelherausgelehnt. Ich war sicher, er sah uns an,und mir fiel wieder ein, was er gesagt hatte,nachdem wir den Weg wieder aufgenommenhatten.

Ich drehte mich nach Tuxit um, der hintermir kam. Er zeigte keine ungewöhnliche Re-aktion und erwiderte nur meinen fragendenBlick.

Und dann spürte ich es selbst. Ich hatteweder Kopf- noch Magenschmerzen, aberich litt unter leichtem Schwindel und auf-kommender Übelkeit.

Und ich erinnerte mich, dieses gleiche ir-ritierende Gefühl schon einmal gehabt zuhaben.

*

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ichden Anstizen. Ich stand direkt vor ihm undversuchte, aus den Bewegungen seiner Lan-ken etwas herauszudeuten. Er war nervös, soviel glaubte ich zu wissen. Aber darüber hin-aus … seine Lanken konnten Gefühlszustän-de verraten, doch keine Gedanken. »Nun re-de endlich! Wir fühlen etwas. Du hast ge-wusst, dass es dazu kommen würde, also sages uns jetzt!«

Es war gleich nach der Ankunft in der In-trawelt gewesen, als ich mich nackt in einerfremden Umgebung wiederfand und mich zudem sich in sich selbst drehenden Transport-schlauch umgesehen hatte. Die gleicheÜbelkeit, das gleiche Unbehagen. Aber ichhatte es ausgehalten.

Sobensten drehte sich mit seiner Schwarz-

14 Horst Hoffmann

kammer um hundert Grad und zeigte mit ei-nem Lanken in Vorausrichtung. »Dort«, sag-te er. »Sieh hin. Kannst du etwas erken-nen?«

Ich verstand ihn zuerst nicht. Die Boden-welt sah für mich in einer Richtung nicht an-ders aus als in der anderen. Ein endlos wei-ter Korridor zwischen Boden und hundertMeter hoher Decke, alles in weißliches Lichtgetaucht und wie blank poliert. Wir hatteneines der Brückenelemente erreicht, die ichvon der Oberfläche her kannte und die auchhier unten den Stütz- und Spannungsapparatder Intrawelt-Konstruktion bildeten. Dahin-ter hatte sich der Korridor verbreitert, alsginge es in eine riesige Halle hinein, einigeKilometer breit.

Oder eine Weggabelung, sendete der Ex-trasinn. Eine Kreuzung.

Ich kniff die Augen zusammen undstrengte mich an. War es der Schwindel,oder flirrte einige hundert Meter vor uns dieLuft über dem Boden, so wie Asphalt beiSonnenhitze. Doch dann sah es so aus, alsschlüge die gesamte Bodenfläche vor unsWellen.

»Ich sehe etwas, ja«, sagte ich. »Was istes, Sobensten?«

»In der Bodenwelt gibt es noch immerStellen«, erklärte der Anstize, »wo auch dieBodenfläche zur Membran der Intraweltnoch nicht fertig gestellt oder isoliert ist.Vor uns liegt eine solche Stelle. Wenn wirweitergehen, kannst du die schlierige Mem-branschicht, die die Intrawelt vom Normalu-niversum trennt, auf einer schier endlosenFläche direkt bewundern.«

Der Gedanke elektrisierte mich. Ich erin-nerte mich wieder an den Anblick der Intra-welt vom Weltraum aus, die hellen Lückenin ihrem Mantel aus gigantischen Sechseck-platten. Hatte ich hier solch eine Lücke vormir? Dann musste sie wirklich gewaltigsein.

»Wir können, wie schon gesagt, auch um-kehren und einen anderen Weg zum Hospiznehmen. Wir würden einige Tage länger be-nötigen, aber … Ja, ich denke, es wäre bes-

ser. Obwohl …«»Obwohl was?«, fragte ich, ohne den

Blick von dem wellenartigen Flimmern zuwenden.

»Deinem kleinen Freund geht es nichtgut«, sagte der Parzellenschneider. »Du hastgesagt, du fühlst es auch. Es ist die Nähe derMembran. Allen anderen Wesen außer unsAnstizen bereitet sie starke körperlicheSchmerzen. Deshalb sind wir vor langer Zeitauserkoren worden, die Bauarbeiten in derIntrawelt zu übernehmen.«

»Ich verstehe«, murmelte ich, obwohl ichnichts verstand. Worauf wollte er wirklichhinaus?

»Du müsstest stärker betroffen sein«, fuhrSobensten fort. »Dein großer Freund auch.«

Ich drehte mich zu Tuxit um. Er sagtenichts und zeigte nicht, wie es um ihn stand.Doch ich hatte den Eindruck, dass er unge-duldig war und weitergehen wollte.

Jolo stöhnte und jammerte herzerwei-chend. Ich machte mir nichts vor. Ich wolltedie Membran aus der Nähe sehen, solangeich es aushalten konnte. Wie viel war Jolozuzumuten? Ich konnte es nicht riskieren,dass er ernsten Schaden nahm. Also wastun? Ihn zurücklassen?

Und wenn ich allein ging? Nur kurz, umdie Membran zu sehen?

Würde ich es ertragen? Ich hatte es bereitsbewiesen – glaubte ich. Hier war es viel-leicht anders.

Wieso litt Jolo und ich nicht?Es liegt vielleicht an deinem besonderen

Status, meinte der Extrasinn. Du warst be-reits hinter den Materiequellen. Es ist mög-lich, dass dich dies vor stärkeren körperli-chen Reaktionen bewahrt.

Ich war nicht davon überzeugt, konnte esaber natürlich nicht ausschließen. Und fallses sich so verhielt, was war dann mit Tuxit?Warum war er offenbar nicht betroffen?

Wie viele Rätsel wollte mir das so passivund leidend durchs Leben schleichende Vo-gelwesen denn noch aufgeben?

»Die Membran«, fragte ich Sobensten,um Zeit zu gewinnen und nicht wirklich in

Die Architekten der Intrawelt 15

der Hoffnung, eine auch nur einigermaßenbefriedigende Antwort zu erhalten. Zu we-nig wussten die Bewohner der Intrawelt überihre Heimat. »Was ist ihre Funktion?«

»Das fragst du?«, reagierte der Anstize er-staunt. Ich spürte, dass seine Überraschungecht war. »Die Membran ist dazu da, um denFlammenstaub vom Normaluniversum fernzu halten. Wusstest du das wirklich nicht?«

*

Warum hätte ich es wissen sollen? Vonden vielen Fragen, die mir schon wiederdurch den Kopf schossen, war diese viel-leicht die dringendste – doch vielleicht auchdie gefährlichste. Vielleicht war es gut, So-bensten in dem Glauben zu lassen, dassmehr hinter mir steckte. Was immer er inmir sah und warum das so war, er würde mirkeine Antwort geben. Möglicherweise ausScheu, eventuell aus Angst oder ganz ein-fach Unsicherheit. Ich wusste es nicht undwollte den Bogen nicht ohne Not überspan-nen.

Doch vielleicht war er reif, um mir end-lich die Antworten zu geben, die ich bishervergeblich eingefordert hatte. Veränderte dieNähe der Membran etwas? Löste sie einewie auch immer geartete Sperre in dem An-stizen?

Ich riskierte es.»Was ist der Flammenstaub?«, fragte ich.

»Bitte weich mir nicht wieder aus.«»Ich kann es dir nicht sagen«, lautete die

Antwort. »Du musst Geduld haben. Im Hos-piz …«

»Was ist das Hospiz?«, bohrte ich weiter.»Wer ist dieser Patient – Kartnich? Waskann er wissen, das du nicht weißt?«

»Du quälst mich!«, fuhr der Parzellen-schneider auf. Für ihn war das ein sehr un-gewöhnlicher Ausbruch. »Du musst warten,sieh es doch ein!«

»Was ist der Flammenstaub?«, versuchteich es noch einmal mit der Brechstange.»Warum wird er hier in der Intrawelt aufbe-wahrt und muss vom Normaluniversum fern

gehalten werden? Was ist sein Geheimnis?Wo wird er gelagert?«

»Ich weiß es nicht!«»Du willst es nicht wissen! Oder du willst

es nicht sagen!«»Nein!«, schrie Sobensten. »Ich weiß es

nicht, weil es mich nichts angeht! Ich habemeine Arbeit, und das genügt mir. Lassmich in Frieden!«

Es hatte wirklich keinen Sinn. Sobenstenkonnte mir keine Antwort geben. Offenbarwaren die Anstizen kein besonders neugieri-ges Volk, obwohl sie seit jeher die Intraweltbevölkerten. Sie taten, was sie zu tun hatten.Damit, so schien es, waren sie zufrieden.

Wirklich alle?»Was ist mit diesem Kartnich?«, versuch-

te ich es ein letztes Mal. »Warum sollte ermehr wissen als du?«

»Du wirst es erfahren«, versetzte der An-stize. »Sobald wir am Ziel sind.«

»Warum nicht jetzt? Warum habt ihrAngst vor Kartnich?«

Sobenstens Lanken verrieten seine Erre-gung. »Wer sagt, dass wir Angst haben?«

»Ich!« Als er nicht antwortete, seufzte ichund nickte grimmig. »Also schön. Wir ge-hen weiter. Vorher aber möchte ich zumin-dest einen Blick auf die Membran werfen.«

»Das ist nicht gut!«, wehrte sich unserFührer sofort.

»Warum nicht?« Ich hatte Geduld, vielGeduld. Dennoch hatte auch sie ihre Gren-zen. »Sobensten, ich erinnere dich nur un-gern daran, aber ihr seid uns etwas schuldig.Ich rede nicht davon, dass ich dir vor einpaar Stunden wahrscheinlich das Leben ge-rettet habe. Ohne unser Eingreifen in derBaustellenparzelle Corl hätte es durch Eggo-ber eine Katastrophe gegeben. Ist es zu vielverlangt, dafür jetzt die fällige Gegenlei-stung zu erwarten?«

»Ich kann deine Fragen nicht beantwor-ten!«, sagte er heftig.

»Das habe ich inzwischen eingesehen«,erwiderte ich. »Ich werde warten, aber jetztführst du mich zur Membran.«

»Das ist nicht gut!«, wiederholte er stör-

16 Horst Hoffmann

risch.»Und warum nicht?«»Du … Es ist schädlich.«»Nicht für mich, du hast es selbst gesagt.«

Stimmte das? Was geschah, wenn ich michweiter näherte? »Deine Freunde …«

»Ich werde nur mit dir gehen. Vielleichtbrauche ich dich. Vielleicht habe ich Fragen.Ich meine solche, die du auch beantwortenkannst.«

Sobensten schwieg. Ich spürte, dass ermich lange ansah. Was dachte er?

Endlich stimmte er zu. Er würde mich zurMembran führen. Er könne für nichts garan-tieren, sagte er, nicht einmal für mein Leben.

Aber das verlangte ich ja auch gar nichtvon ihm.

*

Ich merkte, wie Unbehagen in mir wuchs.Es war das bekannte Unwohlsein, die Des-orientierung, aber es wurde mit jedemSchritt stärker. Die Membran schien sich ge-gen mein Nähern zu wehren. Es fehlte nurnoch ein Warnschild: »Zutritt verboten«,dachte ich belustigt. Bald war es aber soschlimm, dass ich körperliche Schwierigkei-ten bekam und mich zu jedem Schritt zwin-gen musste.

Doch gerade das spornte mich weiter an.Was durfte ich nicht sehen? Oder bildete iches mir nur ein? Ich war mir nicht sicher. Ichwusste nur eins definitiv: Wenn ich jetzteinen Rückzieher machte, würde ich aufdem Weg zum Hospiz nie aufhören, mich zufragen, wovor ich gekniffen hatte.

Außerdem wollte ich mir beweisen, dassich die Kraft hatte, den Anblick der Mem-bran zu ertragen.

Tuxit und Jolo warteten auf mich. DerGeschichtenerzähler beherrschte sich zwarrelativ gut, doch er konnte mich nicht täu-schen: Er wäre liebend gern mitgegangen.Da ich allerdings nichts über seine Immuni-tät wusste, wollte ich kein Risiko eingehen.Es reichte, wenn ich mich selbst in Gefahrbrachte. Jolo dagegen war heilfroh, nicht

weitergehen zu müssen.Dabei hätte er mich vielleicht abgelenkt.

Ich stemmte mich gegen die von außen auf-gezwungene Stimmung und versuchte, esmir nicht anmerken zu lassen. Mir war heiß.Meine Beine schienen mit jedem Schrittschwerer zu werden. Mein Magen ver-krampfte sich, und das Schwindelgefühlwurde stärker und stärker. Ich hatte Mühe zuatmen.

Geh weiter! Es ist alles nur induziert!Mein Extrasinn machte mir Mut.

Ich biss die Zähne zusammen. Ich war si-cher, dass Sobensten mich beobachtete.Würde er triumphieren, wenn ich fiel? Wennich stehen blieb und umkehrte?

Wir hatten über die Hälfte der Strecke zu-rückgelegt. Vor uns waberte das Nichts,flirrte die Luft, schlugen unsichtbare, aberspürbare Wellen wie Brandung gegen einUfer. Dort endete die Bodenwelt. Dort warnichts mehr, nur die Membran und dahinter…

Weiter! Es sind psionische Kräfte, diedich fern zu halten versuchen. Du kannst siebesiegen!

Ich hatte das Gefühl, zu ersticken …Du erstickst nicht!Die Beine nicht mehr heben zu können …Du kannst gehen!Den Verstand zu verlieren, in ein Nichts

zu fallen …Du musst kämpfen! Du fällst nicht!Schritt für Schritt, Meter für Meter. Jede

Bewegung eine neue Anstrengung. Wennich zu lange geradeaus sah, begann sich dieWelt um mich zu drehen, und ich glaubte,dass gespensterhafte Gestalten sich aus demFlimmern lösten und auf mich zuschwebten,geboren aus den unsichtbaren Wellen …

Weiter! Du schaffst es!Sobensten schwebte in seiner Kammer

konstant neben mir.Es war kein Kampf gegen einen Gegner

aus Fleisch und Blut. Es war schlimmer. Ichhasste derartige Psychofallen oder psioni-sche Barrieren. Oft hatte ich solche Hinder-nisse schon überwunden.

Die Architekten der Intrawelt 17

Und ich würde es auch diesmal schaffen.Als ich am Ende der Boden-Metallschicht

stand und auf die Membran blickte, empfandich ein Gefühl des Triumphs. Immer nochkämpfte die Membran mit aller Heftigkeitgegen mich. Ich setzte Trotz gegen den in-duzierten Widerwillen, der mich zur Um-kehr zwingen wollte. Es war ein zähes Rin-gen. Die Welt schien sich um mich zu dre-hen. Ich hatte kein Gefühl mehr in den Bei-nen, aber ich wusste, dass ich gewonnen hat-te.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ichmich hier halten konnte, und zwang michdazu, an Eindrücken aufzunehmen, was ichbekommen konnte.

Die Membran wirkte unendlich, ein gren-zenloser Ozean aus ans Ufer spülendemNichts, das kein Nichts war. Der Boden derIntrawelt hörte entlang einer unregelmäßi-gen Kante einfach auf. Ein anderes Ufer warnicht zu erkennen. Das Flimmern über derMembran und die Wellen, die jetzt quasi op-tisch zu erkennen waren, verschluckten al-les. Wieweit konnte ich meinen Wahrneh-mungen noch trauen?

Sie glänzte matt, nur beschienen vomweißen Licht der Bodenwelt, deren ge-schlossene Decke sich wie ein endloser,niedriger Himmel über ihr spannte, einkünstliches Firmament über einem StückUnendlichkeit. Ich begann, eine Faszinationzu spüren, die bisher hinter dem verborgengewesen war, was mich fern zu halten ver-sucht hatte. Die unendliche Fläche derMembran, die die Intrawelt vom Universumtrennte, war von feinen Schlieren überzogen,die über sie wanderten und tatsächlich denEindruck erweckten, als würden Wellenüber sie hinwegziehen. Es war das, was ichaus der Entfernung gesehen, nein: eher ge-spürt, hatte.

Die Membran lag vor mir in ihrer ganzenherrlichen Schönheit. Ich glaubte, »unter«ihr die Sterne des Weltraums erahnen zukönnen und ein leichtes Wellenrauschen zuhören. Es war wunderbar.

Bleib auf dem Teppich, es sind bloß Psi-

Effekte! Mein Extrasinn verdarb mir mit sei-ner Nörgelei die euphorische Stimmung.

Ich glaubte, leise Stimmen zu hören, diedirekt aus dem Wallen kamen. Leise, verhei-ßungsvolle Stimmen, die das Paradies ver-sprachen. Ich beugte mich vor und ertapptemich bei dem Wunsch, mich einfach fallenzu lassen. Tief hinein in diese Schönheit …

Und die Sirenen lockten die Seemännerins Verderben … Wach endlich auf, Arkoni-de!, zischte der Extrasinn.

Da war kein Wunsch nach Umkehr mehr.Nur noch das Gegenteil. Ich hatte die Gren-ze überschritten und die Prüfung bestanden.Ich war auserwählt. Das Tor in die Ewigkeitstand weit offen, offen für mich. Es ist nichtwirklich! Fallen lassen. Nichts tun, nur nach-geben. Den verheißungsvollen Stimmen fol-gen, grenzenloses Glück in der Verschmel-zung finden … absolutes Sein. Einfach fal-len lassen …

Es ist nicht wirklich, Atlan! Komm zu dir!Kehre um! Ich zögerte.

Kehre um! Es ist nicht wirklich! Was warnicht wirklich? Ich starrte auf das Meer derUnendlichkeit, das Wogen der Ewigkeit, sahdie Sterne … ES IST NICHT WIRKLICH!Die Stimme meines Extrasinns kreischte undstörte die vollkommene Harmonie. Der Zau-ber löste sich auf. Ich schnappte nach Luftwie ein Ertrinkender, der noch einmal an dieOberfläche eines stürmischen Meeres ge-spült worden war, das ihn hinabzog. Tiefer,immer tiefer … ATLAN!

Ich begann zu rudern. Ich kämpfte. Ichspürte meinen Körper wieder. Die Luft stachwie feurige Speere in meine Lungen. MeineFüße am Abgrund. Ich verlor das Gleichge-wicht. Ich ruderte stärker, schrie, warf michnach hinten … drehte mich, fing mich auf…

… sah Sobensten in seiner Würfelbox …… und begann zu laufen, einfach zu ren-

nen, schnell weg von der falschen Verhei-ßung und der Macht, die mich in ihren Sch-lund ziehen und ersticken wollte.

*

18 Horst Hoffmann

Sobensten schwebte schweigend an mei-ner Seite, keine zwei Meter entfernt. Hinteruns marschierten Tuxit und der unaufhörlichjammernde und plappernde Jolo. Den Ab-schluss bildete wie immer Eggober im ener-getischen Schlepptau und seiner Dunkelbox.Ich wusste nicht, was Jolo jetzt wieder fehl-te, denn der Einfluss der Membran konnte esnicht mehr sein. Wir spürten ihn nicht mehr.Wir hatten sie hinter uns gelassen und einenWeg genommen, der, laut Sobensten, in ei-ner sicheren Entfernung parallel zu ihr zumHospiz führen sollte.

Es war müßig zu spekulieren, ob ich ohnedie Hilfe meines Extrasinns ebenfalls demEinfluss widerstanden hätte, der mich zuerstmit aller Macht abzuwehren und dann, alsich diese Hürde genommen hatte, ins Ver-derben zu locken versuchte. Ich war nur eineHandbreit vom sicheren Tod entfernt gewe-sen.

Ich fragte mich, ob die Membran der In-trawelt lebte. Besaß sie ein Bewusstsein?Sobensten würde mir die Antwort nicht ge-ben, Tuxit auch nicht. Doch irgendwannschloss der Geschichtenerzähler zu mir aufund sah mich lange und eindringlich an, be-vor er sagte:

»Ich hätte nicht gedacht, dass wir dichwiedersehen würden, Atlan. Du bist stärker,als ich dich eingeschätzt habe.«

5.Kartnich

»Kartnich – arbeite, Kartnich!«Er wollte es nicht mehr hören! Wie konn-

ten sie von ihm verlangen, seine Aufgabe zulösen, seine Arbeit zu tun, wenn sie andau-ernd gegen ihn spielten! Sie und die Nach-barn. Er hatte es versucht, immer wieder,aber es ging nicht! Das System ließ es nichtzu! Es verschloss sich vor ihm. Es hielt ihnzum Narren, es raubte ihm den Verstand, esbrachte ihn um!

Wenn es das nur tun würde …»Gebt mir Frieden«, bat er flüsternd.Dann brach es wieder aus ihm heraus. Er

schrie es. Er tobte. Er drohte und befahl es.Aber sie hörten nicht. Sie gaben keine Ant-wort. Sie schwiegen und zeigten dadurch ih-re ganze Verachtung für ihn. Kein Wort warer ihnen wert. Was er hier tun sollte, war sovollkommen sinnlos. Es war eine Strafe, rei-ne Quälerei und Willkür. Aber wofür straf-ten sie ihn? Was hatte er ihnen getan?

Er tobte sich aus, drosch mit seinen Fin-gern auf die Instrumente, ließ die Schwarz-kammer durch die Gänge jagen und schie-ßen. Er versuchte, die Wände zu rammen.Die Box reagierte nicht. Er versuchte, dieSchwerkraftvektoren so zu lenken, dass sieihn umbrachten. Sie ließ es nicht zu. Er pro-bierte alles aus, was ihm einfiel und was mitseinen Instrumenten zu machen war. Sieblockierten. Die Kammer gehorchte ihmnicht. Sie war mit ihnen allen im Bunde.Auch sie war gegen ihn.

Als Kartnich total erschöpft war, hatte erdie Idee, die letzten Befehle zu rekonstruie-ren, die die Box für ihn ausgeführt hatte.Vielleicht gelang es ihm so, einen Fehler zufinden – oder zu entdecken, was falsch warim System. Die von ihm vorgenommenenNeuanordnungen seiner Blöcke Stück fürStück zurückverfolgen; ihm fiel nichts ande-res mehr ein, und er wusste, dass er dochwieder beginnen würde; immer und immerwieder, die gleiche sinnlose, verhasste Ar-beit, bis er irgendwann einfach zusammen-brach. Vielleicht in hundert Tagen, vielleichtin tausend. Und jeder von ihnen eine einzigeQual.

Er rief die Protokolle ab, sah, was er getanhatte – und stutzte.

Kartnich wiederholte die letzten fünf Ab-folgen. Da war es wieder. Er ließ es nocheinmal ablaufen, ein drittes, ein viertes Mal,bis kein Irrtum mehr möglich war.

»Ich habe …« Er verstummte mitten imSatz. Und wenn er einen Fehler gemachthatte? Dann sollten sie es nicht wissen. Erwürde ihnen den Gefallen nicht tun. Aberwas hatte er getan?

Er versuchte es bis ins Detail zu rekon-struieren, aber die Befehle, die er über seine

Die Architekten der Intrawelt 19

Box gegeben hatte, ergaben keinen Sinn fürihn. Dass er Befehle gegeben hatte, an die ersich nicht erinnern konnte, stand außerZweifel. Die Protokolle logen nicht. Oderdoch? Wie konnte er sicher sein? Er hatte et-was getan, etwas angeordnet, etwas in Ganggesetzt. Doch wo war das Ergebnis? Konntees sein, dass …?

Er erinnerte sich nicht, obwohl es erst we-nige Stunden zurücklag. Er hatte etwas ge-tan, von dem er nicht mehr wusste, dass eres getan hatte. Und was bedeutete das?Konnte es sein, dass er etwas außerhalb sei-nes Arbeitsbereichs bewegt hatte? In jenemunerreichbaren Niemandsland draußen, jen-seits seines Gefängnisses – in einer anderenWelt, von der er nur wusste, dass sie exi-stierte?

Wenn es ihm nur wieder einfiele! Alles,was einmal gewesen war und was jetzt war –dort, wohin er nicht sehen konnte. Wo siewaren und ihn verhöhnten. Er hatte etwasgemacht, etwas ausgelöst, etwas befohlen,nur was?

Der Gedanke daran war ihm so unerträg-lich, dass er sich wieder in seine Erregungsteigerte. Er ertrug die Vorstellung nicht, et-was getan zu haben, was außerhalb seinerbewussten Kontrolle lag. Er hatte stets dieKontrolle gehabt. Immer gewusst, was er tat.

Aber stimmte das wirklich, oder war erper Zufall auf etwas gestoßen, was schonviel länger geschah? Gab es Dinge, die ertat, ohne sich dessen bewusst zu sein? Et-was, das tief aus den Abgründen seiner See-le herauskam und an ihm vorbei in die Welthinausschlüpfte?

Die Welt?Flackernde Lichter. Blitze, die näher ka-

men. Bilder. Die Welt. Sie war riesig, vielgrößer als sein kleines Gefängnis. Er hattedort gelebt und gearbeitet. Er war stark undmächtig gewesen. Man hatte ihn respektiertund ihm gehorcht.

Es war ganz nahe. Kartnich hatte das Ge-fühl, nur stark genug stoßen zu müssen, umdie Mauern zum Einsturz zu bringen. EinRuck, ein Hieb, ein Wort …

»Wer bin ich?«, schrie er ins Leere. »Sagtes mir! Wer bin ich? Was habe ich getan?Was tue ich? Ich will es endlich wissen!«

Wissen, um sterben zu können. Die Mau-ern, sie waren näher denn je. Und sie beka-men Risse.

Ganz nahe … Nur ein Stoß, ein Schlag,eine einzige letzte Anstrengung noch.

Er steigerte sich hinein. Ihm war heiß unddann wieder kalt. Er zitterte, schrie und litt;kämpfte und verdoppelte seine Kraft. Nurnoch ein Ruck, und …

Die Mauern zersprangen. Sie barsten wieeine Schale, die von innen gesprengt wurde.Helles Licht umtanzte ihn, und Kartnich sah.Kartnich erinnerte sich. Kartnich hielt denAtem an. Er erkannte das System. Er wussteplötzlich, wo er hier war. Er wusste, was ergetan hatte und vielleicht immer noch tat,jetzt, in diesem Augenblick. Kartnich sahund verstand …

… und schrie, wie er noch nie im Lebengeschrien hatte.

6.Atlan

Als Sobensten diesmal von einem Kon-taktpunkt zurückkam, wusste ich, dass er er-schüttert war. Er brauchte mir nichts zu sa-gen. Mittlerweile konnte ich seine»Körpersprache« gut genug deuten. Die Be-wegungen seiner Lanken waren fahrig. Erhatte sich nicht zum ersten Mal ins Intern-netz der Bodenwelt eingeklinkt, um Nach-richten oder Instruktionen abzurufen. Er tatdas oft, und je häufiger er es machte, destomehr verriet es seine Unsicherheit. Er warnicht so souverän, wie er sich gab. Ich mus-ste mich fragen, ob er wirklich wusste, wo-hin er uns führte.

»Weiter«, sagte er. Wenn er meine fra-genden Blicke bemerkte, ging er nicht dar-auf ein. »Es dauert nicht mehr lange.« Dannschwieg er wieder, dabei hatte ich eben erstdas Gefühl gehabt, dass er allmählich be-gann, gesprächiger zu werden. Er hatte vonsich aus angefangen, von seiner Arbeit zu

20 Horst Hoffmann

sprechen, von der Bürde und seiner Verant-wortung. Der Bann schien endlich gebro-chen. Vielleicht lag es an meinem Sieg ge-gen die uns gerichteten Kräfte bei der Mem-bran. Wie Tuxit schien ich ihn beeindrucktzu haben. Sobensten war langsam aufgetaut,doch nun war er wieder still, und ich ver-suchte erst gar nicht, ihn nach dem Grund zufragen.

Aber alles an seinem Verhalten erinnertemich an den Angriff der drei Roboter undden Schock, den ihm dieser versetzt hatte.War etwas Ähnliches in der Bodenwelt ge-schehen? Hatte es auch an anderer StelleAngriffe gegeben, Aussetzer, rätselhafteFehlfunktionen?

Ich tröstete mich damit, dass wir baldbeim Hospiz waren – falls das stimmte undwir ihm vertrauen durften. Ich setzte mir ei-ne Frist, bis wann ich ihn zur Rede stellenwürde. Ich hasste es, anderen Wesen ausge-liefert zu sein. Ich zog es vor, selbst zu be-stimmen, was ich tat.

Doch hier war alles anders. Ich bezweifel-te, dass wir ohne Sobenstens Hilfe über-haupt einen Weg zurück in die eigentlicheIntrawelt finden würden.

So gingen wir schweigend weiter – dasheißt: Wir schwebten. Sobensten hatte end-lich ein Einsehen gehabt und eine Schwebe-plattform für uns geordert, kurz nachdemwir an der Membran gewesen waren. Er hat-te es kommentarlos getan und keinerlei Er-klärung gegeben, aber ich vermutete stark,dass er uns nur eine langsame Annäherungan die Membran in Ruhe hatte ermöglichenwollen. Vielleicht hatte er uns – mich – aufdie Probe stellen wollen. Vielleicht hatte erandere Gründe gehabt. Seither war er nichtmehr so abweisend und überheblich. Und erhielt andere Anstizen von uns fern. Ich hattees geahnt, war mir aber erst sicher, nachdemer die zwei Anstizen, die die Plattform ge-bracht hatten, mit übertriebener Gestik fort-geschickt hatte, ehe sie Fragen an uns stellenkonnten.

Er war unsicher. Wovor hatte er Angst?War es etwas, das ich wissen musste?

Er hatte über das Internnetz etwas erfah-ren, was ihm einen Schreck eingejagt hatte,und ich hoffte, dass er von sich aus wiederzu reden beginnen würde, wenn sich diesergelegt hatte. Sobensten wollte reden. Ichmusste Geduld haben – wieder einmal.

Immerhin ging es jetzt schneller voran.Die Schwebeplattform war groß genug fürTuxit, Jolo und mich. Eggober folgte uns imSchlepp und rührte sich nicht. Er schien zuschlafen, was zweifellos auch besser für ihnwar – und für uns.

Wir bewegten uns weiterhin parallel zumMembranmeer, wie ich das »Nichts« hinterdem Metallufer inzwischen bezeichnete. Wirhielten stets genug Abstand, um nicht in sei-nen Einfluss zu geraten. Selbst Jolo beklagtesich mittlerweile nur wieder über seinenschrecklichen Kohldampf und beschimpftedie Anstizen als »Mörder«, die ihn absicht-lich verhungern ließen. Ich sagte ihm, dassihm einige Stunden Fasten sicher ganz guttun würden, worauf er jeden Kontakt mit mirbis auf weiteres einstellte.

Endlose Korridore entlang schwebten wirdurch Hallen, über Verteiler, und doch blie-ben wir immer nur auf einer Ebene. Es schi-en nur die eine zu geben in der Bodenwelt,diesen einen Bereich zwischen unten undoben, Boden und Decke. Hier spielte sich al-les ab, und das um die ganze riesige Intra-welt herum, den künstlichen, eine Lichtse-kunde durchmessenden Himmelskörper, ei-ne Hohlschale, mehr als doppelt so groß wieder solare Jupiter. Es war fast unvorstellbar,und die Anstizen hatten dieses Wunderwerkgebaut und arbeiteten noch immer daran.

Wir rasteten nicht, und das war mir ganzlieb so. Wir schwebten durch das weißeLicht, und irgendwann erfüllten sich meineErwartungen. Sobensten begann wieder zureden.

Das war ungefähr fünf Minuten, bevoruns die Wände um die Ohren flogen.

*

»Wir Anstizen«, sagte Sobensten, »sind

Die Architekten der Intrawelt 21

ein uraltes Volk.« Wir näherten uns einerEngstelle, was an sich nichts Ungewöhnli-ches war. »Unser einziges Ziel ist die Fertig-stellung der Intrawelt. Aber wir leiden untergroßer Rohstoffknappheit und müssen stän-dig improvisieren. Viele von uns kränkelnund kommen mit dem auch für uns eigent-lich unnatürlichen Leben in der Bodenweltnicht zurecht.«

Ich hatte mehr und mehr das Gefühl, dasser sich etwas von der Seele reden wollte.Vielleicht hatte er lange darauf gewartet,und nun, als der Knoten einmal geplatzt war,sprudelte es nur so aus ihm heraus. VomFlammenstaub oder der Membran redete erauch weiterhin nicht. Ich hatte es auch nichtmehr erwartet, aber auch die Informationenüber sein Volk konnten wichtig sein. Alsounterbrach ich ihn kaum. Dann versuchte ichgezielt, ihm Stichworte zu liefern, wie zumBeispiel ihre Technik. Ich hörte zu, ohne dieUmgebung aus den Augen zu lassen. Mirfiel auf, dass sich in diesem Bereich relativwenig Anstizen aufhielten, dafür umso mehrRoboter.

»Wir verwenden in erster Linie Positro-nentechnik«, sagte der Parzellenschneider,während wir auf die Engstelle zuschwebten.Schon hier waren die sich gegenüberliegen-den Wände nur achtzig Meter voneinanderentfernt. »Sie ist sehr ausgefeilt und syste-matisch, extrem effizient. Auch in jederSchwarzkammer befinden sich Positronik-rechner, allerdings arbeiten wir auf einemgenerell niedrigen Energieverbrauchsniveau.Notwendige Energie wird via Zapfanlagenvon der Kunstsonne der Intrawelt gewonnenund ist relativ beschränkt.«

»Von der Kunstsonne?«, unterbrach ichihn. Ich konnte es mir kaum vorstellen. Einekünstliche Sonne als Energielieferant? Siemusste ihre Energie ja auch von irgendwo-her beziehen – eine Frage, die sich mirschon lange stellte.

Doch Sobensten ging nicht darauf ein. Erschien meinen Einwurf nicht einmal gehörtzu haben. »Die Bioplasma-Komponente derRechner wird aus unserem eigenen Zellge-

webe gezüchtet. Die Leistungsfähigkeit derRechner bezieht sich selbstverständlich nurauf das, was wir selbst von ihnen wünschen.Was für uns nicht von Interesse ist, damitbeschäftigen wir uns nicht, deswegen gibt esdiesbezüglich also auch keinerlei Rechen-grundlagen.«

Ich verstand. Also, da sein Volk keinerleiInteresse an Raumfahrt und dergleichen hat-te, besaß es auch keine Parameter in seinenPositroniken, um etwa Flugkurven, Verbren-nungseffizienten für Treibstoff, Beschleuni-gungswerte und so weiter zu berechnen.Zweifellos interessant, obwohl es uns imAugenblick nicht gerade weiterbrachte.

»Sehr wohl«, sagte Sobensten, »sind dieRechner sehr effizient etwa in der abstraktenMathematik, Statikberechnung, Architektur,Materialerkennung, Materialdichtemessungund Ähnlichem, also grundsätzlich bei al-lem, was mit der Parzellenschneiderei zu tunhat.« Er wollte mich beeindrucken, das warklar. Aber es nützte mir nichts. Wir hattendie engste Stelle des Korridors fast erreicht,zu beiden Seiten noch ungefähr zwanzigMeter bis zu den mit Instrumenten gespick-ten Wänden. Jetzt konnte ich keinen einzi-gen anderen Anstizen mehr sehen. »Kannstdu dir vorstellen, welche Mengen und Mas-sen an Material bei unserer Arbeit bewegtwerden und welch großer logistischer Auf-wand dabei notwendig ist? Wir haben …«

Keine Anstizen. Nur Roboter. Der Korri-dor war wie tot.

»Sei still«, bat ich Sobensten.Er drehte den Kugelkörper. »Was …?«In diesem Moment geschah es.Die Wände bekamen plötzlich sehr

schnell Beulen, rechts von uns, links vonuns. Ich schrie eine Warnung, fuhr herum,packte Jolo und warf mich mit ihm auf dieSchwebeplattform. Ich sah Tuxits Blick undhoffte, dass er schnell genug begriff undnoch schneller den Kopf einzog. Und danngab es einen furchtbaren Knall, als die Wän-de explodierten und die metallenen Trüm-merfetzen durch die Luft heulten.

Ich drückte mich mit Jolo auf die Platt-

22 Horst Hoffmann

form, schloss die Augen, wartete, bis derBlitz vorbei war. Für einen Moment hörteich nichts mehr. Dem fürchterlichen Knallfolgten weitere. Die messerscharfen Trüm-merstücke jaulten uns um die Ohren undschlugen in die gegenüberliegende Wand.Sirenen heulten auf. Ich presste den Kopfauf die Platte und wartete auf das Ende.

Doch als es vorbei war, stellte ich fest,dass ich unverletzt war. Gleich neben mirhatte sich ein scharfes Metallteil in die Platt-form gefressen und war stecken geblieben.Es hätte ebenso gut mich treffen können.

Jolo regte sich unter mir. Ich gab ihn frei.Er kam in die Höhe, starrte auf das Bild derVerwüstung, starrte mich an, sah dorthin,wo Tuxit sich gerade erhob, und begann wieein Rohrspatz zu schimpfen.

»Das darf doch alles nicht wahr sein!«,tobte er. »Was ist das bloß für eine Welt?Wo sind wir hier gelandet? Diese Anstizensind verrückt! Sie sind gemeingefährlich,Mörder, Terroristen, Bombenleger! Sie las-sen uns nicht nur verhungern, sondern …«

Ich hörte nicht hin. Ich stand auf, ging diepaar Schritte zu Tuxit und überzeugte michdavon, dass ihm nichts passiert war. SeineHalskrause war aufgestellt und machte eini-ge schnelle Verfärbungen durch.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragteich ihn.

»Nichts ist in Ordnung«, sagte er, ohnemich anzusehen. Sein Blick ging an mir vor-bei, wie ins Leere gerichtet. »Überhauptnichts. Ich hätte nie gedacht, dass …«

»Was?«, fragte ich schnell, als erschwieg. Er wich vor mir zurück. Ich hatteden Eindruck, dass er verlegen war – verle-gen und aufgeregt. Es schien, dass er die aufden Rücken gebundenen Flügel bewegenwollte, seine Fesselung sprengen. »Was istnicht in Ordnung? Was stimmt hier nicht,Tuxit?«

»Ich kann es dir nicht sagen«, antworteteer. Seine Augen blickten mich an. War dasTrauer, was ich da zu sehen glaubte? Einegroße Traurigkeit? »Ich bin mir selbst nichtsicher, Atlan.«

Ich nickte grimmig, drehte mich um undmarschierte mit geballten Händen in Soben-stens Richtung. Es reichte! Ich hatte genugvon vagen, ausweichenden oder gar keinenAntworten. Ich wollte jetzt wissen, was hiervorging, und – bei Arkons Göttern! – Soben-sten würde es mir sagen!

Ich stieg von der Plattform, die auf demBoden aufgesetzt hatte, kickte Metallteileweg und stapfte durch Trümmerfetzen aufdie in einem Meter Höhe schwebendeSchwarzbox zu, aus der der Anstize michanstarrte. Er rotierte in seiner Kammer wieein in Panik geratenes Käfigtier. Seine Lan-ken bebten. Es wurde schlimmer, je näherich kam. Ich wusste, was das zu bedeutenhatte. Er ergriff die Flucht. Er zog sich wie-der in sein Schneckenhaus zurück, das er inder Hoffnung auf mein Mitleid aus Ver-zweiflung errichtete.

Aus den Augenwinkeln heraus sah ich,wie Roboter herangeschwebt kamen und da-mit begannen, die in den Wänden ausgebro-chenen Brände zu löschen. Zum Glück wa-ren diesmal keine giftigen Dämpfe entstan-den, ich spürte jedenfalls nichts davon. An-dere Maschinen kamen mit Plattformen undbegannen die Trümmer aufzuladen. Ich ach-tete nicht auf sie und auch nicht auf die Sire-nen. Ich ging weiter, bis ich direkt vor So-bensten stand. Ich wünschte mir, er hätteSchultern besessen, an denen ich ihn packenund rütteln konnte. Aber da war nur der zit-ternde schwarze Ball mit seinen Hundertenvon Lanken, natürlichen und künstlichen,die sich jetzt um ihn herum schlossen wiedie Blätter einer Blüte beim Anbruch derDunkelheit.

»Du hast es gewusst!«, sagte ich, die Fäu-ste in die Seiten gestemmt. Er sollte ruhigmerken, dass ich wütend war. »Es war keinUnfall, genauso wenig wie das mit den dreiRobotern. Denn das war es, was du vorhingehört hast, stimmt es nicht? Deshalb derSchock. Es passiert überall. Sag es mir, So-bensten! Sag mir, was hier geschieht!«

Ich stand vor ihm. Ich spürte, wie er michansah, zitternd, ein Häufchen Elend. Keine

Die Architekten der Intrawelt 23

Spur mehr von Überheblichkeit und Überle-genheit. Die Zeit für Mitleid und Rücksicht-nahme war nun vorbei. Es gab Situationen,in denen man sich kein Mitleid mehr leistendurfte, und solch eine Situation hatten wirjetzt.

»Rede endlich, Sobensten!«, sagte ichheftig. »Es geht um unser Leben, begreifstdu das nicht? Beim nächsten Unfall habenwir vielleicht nicht mehr so viel Glück. Waspassiert in der Bodenwelt?«

*

»Ja, es hatte schon früher solche Pannengegeben«, berichtete Sobensten, »ein kleinerUnfall hier, eine Fehlfunktion dort und stetsunerklärlich. Es hatte genügt, um uns imweiten Umkreis des Hospizes zu beunruhi-gen, ohne uns allerdings tatsächlich schon inAlarm zu versetzen. Das hatte sich erst voretwa hundert Tagen geändert, als sich dieZwischenfälle plötzlich häuften. Wirklichdramatisch aber ist die Situation erst seitdem Angriff der Roboter geworden.«

Tuxit und Jolo lauschten gebannt. Tuxitauf seine in sich gekehrte, düstere Art. UndJolo vergaß seinen Appetit, unterließ seineunqualifizierten Bemerkungen.

»Nie zuvor war es geschehen, dass sichdie Maschinen gegen uns wandten. Ja, eswar zwar schon an anderen Stellen zu Unfäl-len gekommen, auch zu verheerenden Unfäl-len, wobei fast immer nur Materialschädenzu beklagen waren. Nur in einem einzigenFall war ein Anstize verletzt worden.«

»Könnte man behaupten, dass diese …Unregelmäßigkeiten erst auftraten, seitdemwir die Bodenwelt der Anstizen betraten.«

Sobensten widersprach mir nicht und füg-te hinzu: »Nur im großen Umkreis des Hos-pizes kam es zu diesen Unfällen.«

Er war zusammengebrochen, ein Häuf-chen Elend. Nachdem er geredet hatte, tatich mein Möglichstes, um ihn zu trösten undwieder aufzurichten. Er war dankbar, dasspürte ich, aber was in ihm zerbrochen war,ließ sich so leicht nicht kitten. Wahrschein-

lich, falls überhaupt, würde er erst wieder zusich selbst finden, wenn die Zwischenfälleaufhörten.

Er schien nicht so recht daran glauben zukönnen. Selten hatte ich ein Wesen so nie-dergeschlagen erlebt wie den einflussreichenParzellenschneider.

Die richtigen Worte zu finden fiel mirauch deshalb schwer, weil ich genau wusste,dass er das Gleiche dachte – denken musste– wie ich: nämlich dass wir, Tuxit, Jolo undich, für die plötzliche Eskalation der Kata-strophen verantwortlich waren, allein durchunser Auftauchen in der Bodenwelt. Und daer uns hierher gebracht hatte, traf auch ihnein Teil der Schuld, wenn nicht überhauptdie ganze.

Wir schwiegen, als wir den Weg fortsetz-ten. Ich hatte das Gefühl, von jedem Ansti-zen, dem wir begegneten, angestarrt zu wer-den, aber das mochte Einbildung sein. Mus-sten wir ein schlechtes Gewissen haben?Waren wir wirklich der Auslöser für dieDinge, die in der Bodenwelt geschahen?Würde es noch schlimmer kommen?

Ich wusste es nicht, aber ich nahm mirfest vor, alles zu tun, um die Ursache her-auszufinden. Ich hatte noch keine Ahnung,wie. Der einzige Anhaltspunkt war das Hos-piz. Die Zwischenfälle ereigneten sich nichtin entfernten Bereichen der Bodenwelt, nurhier, in der relativen Nähe.

Das Hospiz schien der Schlüssel zu vielenverschlossenen Türen zu sein. Alles drehtesich darum, und ich war entsprechend ge-spannt, als wir es nach mehr als fünf Stun-den seit den Explosionen endlich erreichten.

Sobensten hielt seine Schwarzkammer ineinem Bereich der Intrawelt an, an dem nochemsig gearbeitet wurde. Teilweise fehltennoch große Teile der Wand- und Deckenver-kleidung, und in einigen Kilometern Entfer-nung wogte das Membranmeer ungeschütztgegen das metallene Ufer dieser künstlichenSphäre.

Hier, an dieser Stelle, fiel helles Tages-licht durch die obere Abdeckung herein. DieSonne stand senkrecht wie immer am Him-

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mel, im Zentrum der Hohlkugel. Vor unswar ein riesiges Loch in der Decke, wahr-scheinlich auch mehrere Kilometer groß,und Sobensten deutete mit einigen Lankendarauf.

»Dort«, sagte er, »liegt das Hospiz. Es istkein gewöhnlicher Anblick.«

»Ich bin gespannt«, erwiderte ich. »Dannkommt! Das Hospiz liegt an der Oberfläche.Wir schweben hinauf.«

Sobensten ließ seine Schwarzkammersteigen. Unsere Plattform setzte sich wie Eg-gobers Box wie von selbst in Bewegung. Ersteuerte sie fern.

Wir stiegen hinauf, immer höher, an denverschiedenen Schichten empor, aus denender Untergrund der Intrawelt-Parzellen be-stand, an Erde, einer Vegetationsdecke, im-mer höher der Sonne entgegen. Und demHospiz.

Jolo sah es als Erster. Er stieß einen ge-quälten Laut aus.

Mir stockte der Atem, und Tuxit blieb ru-hig wie immer. Es wäre mir lieber gewesen,wenn er eine Reaktion gezeigt hätte – ge-schrien, gestöhnt, vielleicht den Kopf in De-mut gesenkt –, nur irgendeine. Es hing überuns, groß wie ein Mond. Es ist kein gewöhn-licher Anblick …

Sobensten hätte uns besser darauf vorbe-reiten sollen.

7.Kartnich

Vor ihm öffnete sich eine Tür, das Tor zueinem der anderen Wohnbereiche, die ihmbisher unzugänglich gewesen waren. Es lös-te sich einfach auf, denn es bestand aus For-menergie, und er konnte sie erschaffen oderverschwinden lassen, ganz wie es ihm be-liebte. Es gelang ihm jetzt, weil er es wusste.Er wusste alles. Alles war wieder da. Erkonnte fast alles tun, was er wollte, einfachüber die Instrumente seiner Schwarzkam-mer, denn über sie war er mit allem vernetzt:dem Gefängnis, der Welt. Nur eines ver-mochte er nicht: sterben.

Seine Kammer, die ihm plötzlich so vielMacht verlieh, erfüllte ihm fast jedenWunsch, nur diesen einen nicht, der wichti-ger war als alles andere. Denn er kannte dieWahrheit. Er wusste, wer er war und warumer sich hier befand. Deshalb wollte er ster-ben. Es war ein tausendmal wichtigererGrund, als allein seine Verzweiflung überein sinnloses Leben es jemals gewesen war.Er wusste, warum er dieses Leben gewählthatte und warum er sich nie – niemals! –hätte erinnern dürfen.

»Ich warte auf eure Antwort«, sagte er,während er durch die Öffnung schwebte.»Ihr wisst, dass ich meine Drohung wahrmachen kann, und ich werde es tun, wennihr mich nicht erlöst. Gebt mir den Tod! Er-möglicht es mir zu sterben! Sonst habt ihreuch die Folgen selbst zuzuschreiben – undich schwöre euch: Sie werden furchtbarersein als alles, was bisher schon passiert ist!«

Er spürte den eisigen Schauder, den alleinder Gedanke daran wieder auslöste.

Was bisher passiert war …Er kannte die Protokolle und hatte sich in

das Internnetz der Bodenstation eingeklinkt.Er wusste, was dort geschehen war, und erwusste, dass es weiter geschehen würde. Eswar nicht zu Ende. Es war erst der Anfang,und er konnte es nicht kontrollieren!

»Antwortet! Warum sagt ihr nichts? Wasmuss ich noch tun, um euch zu zeigen, wieernst ich es meine?«

Es würde weitergehen, solange er lebte.Er wusste nicht, wann und wie es geschah.Aber er war der Auslöser. Aus ihm kam esheraus. Er allein kannte wirklich alle Mittelund Wege, die ihm zur Verfügung standen.Er hätte sie warnen können, aber er tat esnicht. Es gab immer noch Sperren, selbst füreinen befreiten Geist. Denn ganz frei war ernoch nicht. Stärker als alle anderen Mauernwaren jene, die er selbst in sich errichtet hat-te. Mauern des Gewissens und der Angst;der Moral, der Scheu.

Aber was nützte ihm ein Gewissen, wennes ihn nicht daran hinderte, all diese Dingezu tun!

Die Architekten der Intrawelt 25

Kartnich geriet in einen Zustand der Rase-rei. Er jagte die Schwarzkammer durch denneuen Bereich und rief nach dessen Bewoh-nern. War es ein Kranker, ein »normaler«Patient, der wie er Zuflucht im Vergessengesucht hatte, bevor der Wahnsinn ihn um-brachte – oder er selbst jemanden tötenkonnte? Nein, nicht einen: viele tausend!

Er bekam keine Antwort, weder von sei-nem Nachbarn noch von ihnen. Sie sagtennicht mehr: »Kartnich, arbeite!«. Sie sahenund hörten ihn, wie es immer gewesen war.Doch nun hatte er die Macht. Er hatte dasSystem durchschaut, was nach dem Fall derBarrieren in seinem Geist nicht schwer ge-wesen war – denn er hatte es ja erst geschaf-fen!

Wie lange mochte es her sein? 200.000Tage? 500.000? Eine Million?

»Antwortet mir!« Wo war sein Nachbar?Er selbst konnte sich nicht helfen. Er war ur-alt und körperlich verbraucht. Seine Lankenwaren längst zu schwach, um Hand an sichzu legen. Es ging also nur mit den Mittelnder Schwarzkammer. Eigentlich hätte ihmauch das ein Leichtes sein sollen: sie so zumanipulieren, dass sie ihn umbrachte oderwenigstens zuließ, dass er es selbst tat, in-dem er sie gegen eine der Wände rasen undzerschellen ließ, wie er es schon versuchthatte. Oder sich mit einem elektromagneti-schen Impuls hinzurichten. Einen Kunstlan-ken über ihre Mechanismen so zu steuern,dass er ihn gegen sich selbst richten konnte.Er stellte sich viele Arten vor, in und mitHilfe der Box zu sterben, aber es ging nicht.Sie war darauf programmiert, das Leben ih-res Insassen unter allen Umständen zu schüt-zen und zu bewahren – eine Zwangsjacke.Er selbst hatte dafür gesorgt, als er das Hos-piz errichten ließ, denn er, Kartnich, hatte eseinst erbaut.

»Ihr wisst es, oder?«, schrie er. »Dannwisst ihr auch, was ich von hier aus tunkann! Lasst mich sterben, oder ich werde estun! Ich schwöre es!«

Wieso reagierten sie nicht?Er steuerte die Box um Ecken herum und

durch immer neue Gänge. Das Labyrinthhatte seine Schrecken für ihn verloren. Erkannte es in- und auswendig und wusste,wie er es zu benutzen hatte. Jetzt wunderteer sich nicht mehr darüber, dass er seineAufgabe nicht hatte lösen können. Es gehör-te zum System. Alles war hier miteinanderverzahnt. Er selbst hatte es sich ausgedacht,zusammen mit anderen klugen Anstizen, da-mals …

Er war einer der geschicktesten Parzellen-schneider der Intrawelt gewesen – vor lan-ger, unvorstellbar langer Zeit. Er war sogarzu einem der »Viertlinge« ernannt worden,die jeweils die Aufsicht über eine halbe He-misphäre der Kunstwelt innehatten und alleBauarbeiten in ihrem Bereich beaufsichtig-ten. Einer der vier mächtigsten Anstizenüberhaupt.

Aber er hatte es nicht verkraftet. Er warstolz und hochmütig gewesen, als er dasgroße Ganze ihrer Arbeit überblickt hatte.Wie ein Gott hatte er sich gefühlt, so als wä-re er selbst der Ideengeber und Erbauer dergesamten Intrawelt gewesen, er und nichtdie …

Doch etwas hatte an ihm genagt wie einbösartiges Geschwür. Es wollte und wollteihm einfach nicht gelingen, den wahrenZweck dieses Bauwerks zu ergründen. Na-türlich wussten die Anstizen, dass der Flam-menstaub hier drinnen versteckt werdensollte. Nie mehr durfte er ins normale Uni-versum gelangen. Er hatte sich als zu gefähr-lich herausgestellt. Nur warum war er so ge-fährlich gewesen und für wen? Die Informa-tionen, die man ihm gegeben hatte, warenihm, einem der Besten seines Volkes, zudürftig gewesen. Er hatte mehr wissen wol-len, die ganze Wahrheit. Deshalb hatte erdamit begonnen, seine eigenen Nachfor-schungen anzustellen. Vorsichtig, ganz be-hutsam – und dennoch nicht vorsichtig ge-nug …

Kartnich riss sich von den Gedanken andie Vergangenheit los. Er öffnete Tore, floghindurch, schloss sie hinter sich und öffnetewieder neue. Er konnte sich nicht verirren,

26 Horst Hoffmann

wohl aber dafür sorgen, dass im ganzenHospiz so viel Chaos entstand, dass sie sicham Ende wünschen mussten, er wäre tot.Dass ihnen gar nichts anderes mehr übrigblieb, als seinen Wunsch zu erfüllen. Siekonnten es. Er wusste, dass er ärztlich über-wacht wurde wie jeder Patient. Sie musstensein Leben erhalten, aber sie konnten esauch sein lassen. Sie allein hatten die Machtdazu. Vor langer Zeit hatte er sie ihnen ge-geben und sich ihnen ausgeliefert, um zuvergessen. Um das, was er wusste, niemalszurück an die Oberfläche dringen zu lassen.

Und jetzt war es doch geschehen. Er hattees nicht gewollt. Er wollte auch jetzt nichttun, was er tat, aber er musste es, wenn ernoch viel Schlimmeres verhindern wollte.

Das Hospiz, sein Hospiz, als das kleinereÜbel … Das Hospiz oder die ganze Boden-welt, vielleicht sogar die Intrawelt …

»Antwortet!«, schrie er. »Sprecht mit mir!Ihr könnt es beenden, hier und jetzt, bevor esüberhaupt angefangen hat!« Angefangenhatte es längst, auf eine andere, schrecklicheWeise. »Lasst mich sterben, findet einenWeg! Oder ich lasse die Patienten frei, wieich es euch gesagt habe! Ich werde es tun,glaubt mir! Und dann …« Er überließ es ih-rer Phantasie, sich auszumalen, was dannpassieren würde. Er musste schon wieder andas Andere denken. Was sich in ihm auf-staute. Er konnte es spüren, aber nicht kon-trollieren. Es kam, stieg in ihm hoch … Erwusste nicht, was gleich mit ihm geschehenwürde. Er hatte nie eine Erinnerung daran.Aber hinterher, wenn er wieder er selbstwar, würde er es sehen und den Tag verflu-chen, an dem er geboren worden war.

… Versagen der Hydraulik im Stützele-ment 2323-10, teilweise Einsturz – Fehlfunk-tion im Belüftungssystem der Sektion CHX-56, Notevakuierung – Energieausfall im Be-reich 15 – heftige Explosionen im Intra-Leitungssystem, hoher Sachschaden – Ein-dringlinge im Rotsektor C, nähern sich demHospiz-Roboter – Kontrollverlust, hoherSachschaden – Energieausfall – Explosio-nen – Eindringlinge …

Immer wieder sah er sie.Und fast zu spät sah er den Anstizen im

Korridor vor sich auftauchen. Er schrie eineWarnung, versuchte zu bremsen. SeineSchwarzkammer kam zum Stehen. Er wurdein ihre Kraftfelder gepresst und verlor fastdas Bewusstsein, aber selbst den Gefallenwollte ihm das Schicksal nicht erweisen.

Der andere Anstize lag vor ihm. SeineBox hatte einen winzigen Augenblick zuspät reagiert. Sie hatte den Patienten, der sounvermittelt aufgetaucht war, gerammt undwie einen Spielball hoch durch den Ganggeschleudert.

»Nein«, flüsterte Kartnich. »Das … woll-te ich doch nicht …«

Er stieg aus, zum ersten Mal seit einer un-vorstellbar langen Zeit versuchte er es. SeineLanken, die meisten von ihnen künstlich,hatten Mühe, den Körper ohne die stabilisie-renden Felder der Kammer zu tragen. Vieleknickten einfach ein. Kartnich kroch mehraus der Box, als dass er sich gezielt bewegte.Er rollte sich unter starken Schmerzen aufden Reglosen zu.

*

»Hörst du mich, Freund?«, fragte er leise.»Gib mir doch Antwort. Sag etwas, bitte!«

Der Anstize reagierte nicht. Er lag aufdem Boden, schlaff, wie tot. Seine Lankenbewegten sich nicht. Einige waren ausge-streckt, andere in den beiden Gelenken ge-knickt, die meisten eng an den schwarz be-haarten Körper gezogen. Kartnich empfingkein Lebenssignal.

»Tu mir das nicht an«, flüsterte er. »Sagmir, wie ich dir helfen kann. Ich will allestun …«

Er musste hier weg, zurück in die Box.»Mein armer Freund«, hauchte er. »Ich

habe dich nicht gesehen. Wie konntest duauch … ohne den Schutz deiner Schwarz-kammer …« Normale Patienten sollten dochgar nicht imstande sein, ihre Box selbststän-dig zu verlassen.

Er kämpfte gegen den Drang an, den er in

Die Architekten der Intrawelt 27

sich spürte. Er zitterte. Er wollte nicht, nichtwieder, nicht das!

Plötzlich spürte er, wie der Anstize ihnanblickte.

»Ja?«, fragte er rasch. »Du lebst. Warte,ich helfe dir.«

»Ich … lebe nicht mehr«, vernahm er. Ineinem letzten Aufbäumen streckten sich alleLanken seines Opfers. »Das Leben … istschon erloschen. Dabei hatte ich noch …meine Aufgabe. Ich muss sie doch lösen …«

»Sei froh, dass du es nicht mehrbrauchst«, sagte Kartnich verzweifelt. Eswaren keine guten Worte. Sie trösteten we-der ihn noch sich selbst. »Sag mir deinenNamen, Freund. Wie heißt du?«

»Ich bin Lurnin«, hörte er ganz schwach.»Und ich will … arbeiten. Meine Aufgabe… wartet.«

Es war das Letzte, was Kartnich von Lur-nin hörte. Der Anstize hauchte sein Lebenvor ihm auf dem Boden aus. Ein letztesZucken ging durch seinen Kugelleib. Dannlag er still. Die Lanken, außer den Kunst-gliedern, sanken herab und rührten sichnicht mehr.

Kartnich blickte ihn lange an. Für Minu-ten stand er vor ihm. Dann gaben auch seineStützlanken nach, und er sank langsam ne-ben dem Toten auf das kalte Metall.

Er glaubte an seine Aufgabe, dachte erbitter. Er hatte noch ein Ziel im Leben, viel-leicht Wünsche und Sehnsüchte; etwas, wor-an er sich klammern konnte.

»Nein!«, schrie er in hilflosem Zorn. Sei-ne Stimme hallte von den glatten Wändenwider. »Warum lasst ihr das zu? Warumkonnte ich nicht für ihn sterben? Wieso?Sagt es mir! Antwortet mir doch!«

Glaubten sie vielleicht, er würde seineDrohungen nicht wahr machen? Er würde esihnen zeigen!

Kartnich wusste, dass er es nicht verhin-dern konnte. Es war stärker als er. Er musstegehen. Dabei war er so müde, so unendlichmüde.

Er betrachtete den toten Lurnin undwünschte, er wäre an seiner Stelle gestorben.

Er flehte darum, jetzt einfach hier liegenbleiben zu können, einzuschlafen und niemehr aufzuwachen. Seine Schuld und dasfurchtbare Wissen für immer vergessen zukönnen, das er selbst wieder ans Tageslichtgebracht hatte.

»Kartnich?«, sagte eine Stimme.

8.Atlan

Wir standen am Rand des »Lochs« imBoden, dessen Grund die Welt der Anstizenbildete, und starrten in die Höhe. Ich hatteden Kopf weit in den Nacken gelegt.

»Meine Fresse«, sagte Jolo immer wieder.Nur das. Er schien über den Anblick sogarseinen Hunger vergessen zu haben. Soben-sten blickte uns abwartend an. Tuxitschwieg, aber wieder konnte er seine Erre-gung nicht verbergen.

Über uns schwebte in einer Höhe von et-wa einem Kilometer eines der phantastisch-sten Objekte, die ich jemals gesehen hatte.Den Vergleich mit einem Mond, der beimersten Anblick entstanden war, nahm ich zu-rück. Das Gebilde erinnerte mich eher aneinen Posbi-Würfelraumer, obwohl es nichtso chaotisch wie ein Fragmentschiff war. ImGegenteil, es wirkte auf eine faszinierendeArt und Weise, die sich meinen Sinnen inihrer ganzen Komplexität noch entzog, ge-ordnet und bis ins letzte Detail durchkon-struiert.

Das also war das Hospiz.Es handelte sich um einen riesigen Wür-

fel, der aus vielen anderen Würfeln bestand,die wiederum aus noch kleineren Würfelnzusammengesetzt zu sein schienen. SeineGesamtkantenlänge mochte gut und gernzweitausend Meter betragen. Die als quadra-tische Felder an der Außenhülle erscheinen-den kleineren Würfel schätzte ich auf hun-dert Meter Breite, Höhe und Tiefe, die dernoch kleineren auf zehn. Zehn mal zehn aufeine Fläche von hundert ergab ebenfallshundert.

Mein Extrasinn vollendete die Rechnung:

28 Horst Hoffmann

Tausend ganz kleine Würfel in einem kleinen– und davon, bei zweitausend Metern Kan-tenlänge des Gesamtobjekts, zwanzig malzwanzig mal zwanzig ergab achttausendkleine und acht Millionen kleinste Würfel.

Da wir von all diesen Blöcken nur die Au-ßenseite sahen, machte ich es mir leichterund rechnete zwanzig mal zwanzig hundertmal hundert Meter große Flächen und darinje zehn mal zehn zehn Meter große. Die grö-ßeren wiesen verschiedene Färbungen auf,die meist einheitlich waren und irgendwie ir-ritierend. Erst bei genauem Hinsehen er-kannte ich, dass diese Ordnung nicht voll-kommen war. Überall gab es Lücken, störtenunpassende Farben. Darüber hinaus glänztensehr viele kleine und große Flächen metal-lisch, andere wiederum wirkten stumpf, alssei dort die graue Farbe abgeblättert. Ichschätzte, dass die schimmernden ein Drittelder Gesamtfläche einer Würfelseite aus-machten.

Sobensten schien meine Gedanken gele-sen zu haben, denn er meldete sich wieder,nachdem er uns Zeit zum Bestaunen diesestechnischen Wunders gegeben hatte. »Ihrwundert euch über die Farben«, sagte er. Ichnickte. »Wir wissen, dass es vielen Bewoh-nern der Intrawelt, die an diesen Ort kamen,ebenso gegangen ist. Es hängt damit zusam-men, dass wir Anstizen die Farben unsererUmgebung anders wahrnehmen und verwen-den als andere.« Er streckte einen Lankenaus der offenen Fläche seiner Schwarzboxheraus und zeigte nach oben, zur Unterseitedes Würfels. »Für uns Anstizen gibt es sechsPrimärfarben«, erklärte Sobensten, »undzwar Celanblau, Vauletta, Drornmenrot,Giecksgrün, Orgenage und Oppelnektar. Je-der Block, also jedes dieser kleinen Elemen-te, weist auf einer Fläche je eine der sechsFarben auf, die in einem festgelegten Musterangeordnet sind. Sie alle würden, in optima-ler Anordnung, eine einheitliche Färbung ei-nes Bereichs, eines größeren Elements, erge-ben. Das Ganze dann nochmals einheitlichin der Farbe würde einen Hospiz-Ge-samtwürfel ergeben, der auf jeder Seite in

einer einheitlichen Farbe erstrahlt. Aller-dings sind die Insassen noch sehr weit ent-fernt, was nicht zuletzt an den grauen Flä-chen liegt.«

Es war etwas verwirrend, aber allmählichbegriff ich.

»Dort«, sagte unser Führer, »sind jene Be-reiche, in denen sich derzeit keine Patientenbefinden.«

In seinem Eifer, uns das Hospiz von au-ßen zu erklären, hatte er offensichtlich vor-übergehend seine Ängste und Sorgen um dieBodenwelt vergessen. »Das Hospiz ist nurzu etwa zwei Dritteln belegt, von den insge-samt 7900 Wohnbereichen nur rund fünftau-send.«

»Ich kam auf achttausend«, meinte ichvorlaut.

»Es gibt zwischen den Bereichen Verbin-dungsgänge für das Überwachungspersonal,die nicht verändert werden dürfen. Dazukommen noch die Gänge in den Patientenbe-reichen für die Insassen selbst, die sich jaauch bewegen können sollen. Das Hospiz istalso nicht bis auf den letzten Kubikmetermit Blöcken gefüllt.«

»Du sprichst also von den Bereichen, diewir als metallisch schimmernde Flächen se-hen«, vergewisserte ich mich. »Was ist mitden anderen, die nur grau sind?«

»Für euch sind sie grau«, sagte Sobenstengeduldig. Er wirkte tatsächlich wie verwan-delt, und ich hoffte für ihn, dass ihm einneuer Rückschlag erspart bleiben würde. Ichhätte es uns allen wünschen sollen. »Für unssind sie drommenrot und vauletta. Wir wis-sen, dass andere Wesen sie nicht als solchesehen können, weil diese Farben im Infrarot-beziehungsweise UV-Bereich liegen. Wirhaben festgestellt, dass sie deren Augen mitder Zeit schädigen können, also seht euchvor.«

»Das ist mir alles viel zu kompliziert«,sagte Jolo stöhnend. Natürlich regte sichjetzt, da das Wunder kein so großes Wundermehr war, bei ihm wieder sein Elementarbe-dürfnis. »Wann kriegen wir endlich was zufuttern, he? Ihr seid schuld, wenn ich sterbe,

Die Architekten der Intrawelt 29

und habt ihr eine Vorstellung, was passiert,wenn Jolo stirbt?« Er schlug respektlos ge-gen einen von Sobenstens Lanken. »Du, ichrede mit dir.«

Der Anstize drehte sich mit seiner Boxeinfach von ihm weg. Ich lächelte, wurdeaber sofort wieder ernst. Auch ich verstandnoch nicht alles, was ich hier sah und gehörthatte. Das Hospiz war beeindruckend undwahrscheinlich noch voller Geheimnisse. Ei-nige dieser Geheimnisse waren für uns unin-teressant, andere wichtig. Mit den uninteres-santen konnten wir uns nicht weiter aufhal-ten. Wir waren hier, um Antworten auf un-sere Fragen zu erhalten.

»Also dort drinnen lebt dieser Anstize na-mens Kartnich«, sagte ich zu unserem Füh-rer, »Wann werden wir ihn sehen?«

»Das hängt davon ab …«, antwortete So-bensten zögernd.

Ich starrte ihn an. »Was soll das nun wie-der heißen? Wir haben den weiten Wegnicht gemacht, um jetzt …«

Der Rest des Satzes ging im Krachen ei-ner furchtbaren Detonation unter. Ich ver-stummte und sah, wie tausend Meter überunseren Köpfen gleich ein halbes DutzendBlöcke aus der Unterseite des Hospizes fie-len. Lange Stichflammen schossen aus demGebilde. Ich schrie eine Warnung und warfmich auf die Plattform.

*

Ich sah im Fallen, wie die zehn Kubikme-ter großen Blöcke auf uns zuschossen wieaus einer riesigen Kanone abgefeuert. Sieflogen nicht in alle Richtungen davon, nichtgestreut, sondern gezielt. Es war nur einganz kurzer, schneller Eindruck, ein Bildvon Sekundenbruchteilen Dauer, dann lagich hart auf der Seite und wälzte mich aufden Bauch, beide Arme schützend in denNacken gelegt. Es war nicht mehr und nichtweniger als eine Reflexbewegung, denngenützt hätte es mir im Zweifelsfall nichts.Der Hospiz-Block hätte mich zerschmettertund wahrscheinlich auch die beiden Freun-

de.Ich hielt den Atem an. Für einen Moment

wartete ich auf das Ende. Um mich herumwar ein grauenvolles Getöse, über mir wei-tere Explosionen, links von mir schrie Jolo,von vorne hörte ich Sobenstens Stimme.Doch alles ging unter in dem Einschlagender Blöcke vor, hinter und neben uns. Alle,außer einem, verfehlten uns denkbar knappund schlugen Löcher in den Boden, bohrtensich tief in den lehmigen Untergrund. Alleaußer einem …

Er traf die Plattform auf der hinteren Kan-te. Die große Antigravscheibe wurde an die-ser Seite nach unten gedrückt und vorne ent-sprechend in die Höhe gewirbelt. Ich schrieauf und hatte das Gefühl, von einem furcht-baren Stoß in die Höhe katapultiert zu wer-den. Im nächsten Moment befand ich michin der Luft. Es ging alles ganz schnell. Ichruderte mit den Armen und Beinen wie einSchwimmer, sah aus den Augenwinkeln Joloneben mir, dann fiel ich, breitete die Armeaus, um den Sturz aufzufangen, sah den Bo-den auf mich zukommen und prallte auf.

Für einen Moment wurde es dunkel vormeinen Augen, und ich bekam keine Luftmehr. Ein einziger Schmerz zog durch mei-nen Körper. Ich drehte mich auf denRücken, blinzelte, schüttelte den Kopf undblieb für ein paar Sekunden auf dem Rückenliegen. Als ich wieder atmen konnte und dasGefühl in meinen Körper zurückkehrte, kamauch das Gehör wieder. Irgendwo schrie Jo-lo. Von Tuxit war nichts zu hören. Es gabkeine Explosionen mehr.

Ich bewegte vorsichtig meine Gliedmaßenund stellte erleichtert fest, dass ich mirnichts gebrochen hatte. Ich richtete mich aufden linken Ellbogen auf, sah das Hospizüber uns, dann Sobenstens Schwarzkammer.Der Anstize war wie erstarrt. Kein Lankenrührte sich. Er brachte keinen Ton heraus.

Ich drehte mich und sah Tuxit neben derzerstörten Schwebeplattform, die sich mit ei-ner Seite unter dem Block, der sie getroffenhatte, ins Erdreich gegraben hatte. Ihre ande-re Seite stach im 45-Grad-Winkel in die Hö-

30 Horst Hoffmann

he. Der Geschichtenerzähler stand auf bei-den kräftigen Laufbeinen und glotzte michbestürzt an.

Aber er schwieg, im Gegensatz zu Jolo,der mit furchtbarer Schmerzensmiene undhumpelnd auf mich zukam und zeterte undkeifte, spuckte und mit den Fäusten Löcherin die Luft schlug. Doch bevor er mich er-reichte, wechselte er die Richtung und nahmSobensten aufs Korn. Ich glaubte, er wollejetzt dem Anstizen an den nicht vorhande-nen Kragen, biss die Zähne zusammen undstemmte mich in die Höhe. Ich hatte keineProbleme und erreichte unseren kleinenFreund, bevor er in seinem Zorn ein Unheilanrichten konnte.

»Lass es«, sagte ich, als ich ihn erreichteund am Arm packte. »Er kann nichts dafür,Jolo.«

Er drehte sich wütend zu mir um. »Wiekannst du das sagen? Was muss denn nochalles passieren, damit du es begreifst? Diewollen uns umbringen! Und beim nächstenMal schaffen sie es. Ich bin schwer verletzt,Atlan! Ich glaube, mein linkes Bein ist ge-brochen.«

»Und warum humpelst du dann mit demrechten?«

Er starrte mich an, dann seine Beine.Schließlich stampfte er nacheinander mitbeiden auf. Danach war der Bruch wohl end-gültig behoben.

Tuxit kam zu uns. Eggobers Schwarzboxwar unversehrt geblieben. Um uns herumsah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Ichschüttelte den Kopf und fragte Sobensten:»Hast du vielleicht eine Vorstellung, was alsNächstes kommt?«

Er gab keine Antwort. Wahrscheinlichwusste er keine. Sein Weltbild befand sichin deutlicher Schieflage. Sobensten tat mirLeid. Jemand oder etwas hatte es auf uns ab-gesehen, daran bestand für mich kein Zwei-fel mehr. Und wenn einer das wirklich über-haupt nicht verstand, dann unser bemitlei-denswerter Führer.

*

Wir lebten. Wir waren auch diesmal un-verletzt geblieben. Doch das konnte sich je-de Minute ändern. Ich dachte mit gemisch-ten Gefühlen daran, was uns erwartete, wennwir erst einmal im Hospiz drin waren.

»Das ist ja schlimmer als in dieser furcht-baren Bodenwelt«, beklagte sich Jolo. In-zwischen hatte wohl auch er eingesehen,dass er bei Sobensten nichts erreichen wür-de, und richtete seine Beschwerden wiederan mich. »Warum unternimmst du nichts,Atlan? Ich verlange Schutz! Ich habe An-spruch darauf, ich kenne meine Rechte!«

»Das ist die Bodenwelt«, sagte der Ansti-ze überraschend, doch seine Stimme klangmonoton, so als ob eine Maschine redete.Sobensten schien geistig ganz woanders zusein. Vermutlich erhielt er gerade irgendwel-che Anweisungen. Dennoch sprach er wei-ter. »Das Hospiz ist zwar über einer Parzelleverankert, gehört jedoch zur Bodenwelt. Esist mit ihr vernetzt und energetisch verbun-den.«

Ich sah in die Höhe. Über uns klaffte einkleines, dunkles Loch in der Hülle des Hos-pizes, das wie eine stumme Drohung überuns hing. Anstizen in Schwarzkammern wa-ren aus dem großen Würfel herausgequollenund auch aus dem Bodenschacht gekommenund schwebten nun wie ein aufgeregter Bie-nenschwarm unter dem Würfel. Es gab kei-ne Flammen und kein Glühen. Es schien ei-ne »saubere« Explosion gewesen zu sein, soals ob jemand sie mit großer Genauigkeitgeplant und ausgeführt hätte. Die herausge-sprengten Blöcke schienen ebenfalls unver-sehrt zu sein, selbst jener, der unsere Schei-be zertrümmert hatte. Die anderen stakenrings um sie herum im Boden wie Geschos-se, die ihr Ziel knapp verfehlt hatten. Ansti-zen mit größeren Plattformen näherten sichihnen. Wahrscheinlich würden sie bald ver-suchen, sie wieder einzusetzen.

Eine andere Gruppe der Kugelwesen nä-herte sich uns mit einer neuen Schwebeplatt-form.

»Was bedeutet das alles?«, hörte ich So-bensten fragen. Noch immer rührte er keinen

Die Architekten der Intrawelt 31

Lanken. Seine Stimme war schwach. Bei ei-nem Menschen würde man sagen: Sie bebte.Ich stellte mir einen alten, gebrochenenMann vor, wie er fassungslos den Kopfschüttelte. »Was geschieht hier?«

»Wir können es nur herausfinden, wennwir mehr Informationen haben«, bot ich ihmindirekt meine Hilfe an. Wir waren wegenetwas ganz anderem gekommen, doch ichhatte das Gefühl, dass beides miteinanderzusammenhing. Dass die Unfälle eskaliertwaren, seit wir die Bodenwelt betreten hat-ten, war für mich nach diesem jüngsten Er-lebnis ebenso wenig noch Zufall, wie dassirgendjemand uns massiv nach dem Lebentrachtete. Weshalb es auch in anderen Teilender Bodenwelt zu verheerenden Zwischen-fällen kam, wusste ich nicht. Aber wenn je-mand oder etwas sie inszenierte, um uns zuschaden, war er auch unser Gegner.

»Sobensten«, sagte ich eindringlich, »hatjemand etwas dagegen, dass wir mehr überdie Intrawelt und den Flammenstaub erfah-ren?«

Endlich erwachte er wieder aus seinerStarre. »Das habe ich mich auch schon ge-fragt.«

»Dann führe uns zu diesem Kartnich«, be-schwor ich ihn. »Vielleicht kann er unseinen Hinweis geben. Wenn ihr uns helft,helfen wir euch auch.«

»Ihr? Uns?« Seine Stimme, seine Gestikwar zweifelnd. Er versuchte, seine Angstund den Schock zu bekämpfen.

»Vertraust du uns nicht? Ihr habt keineWahl. Wenn es bei den Anschlägen um unsgeht, sind wir der Schlüssel. Wir – und viel-leicht Kartnich. Lass es uns gemeinsam her-ausfinden.«

Sobensten schwieg eine Weile. Meine Ge-duld wurde erneut auf eine harte Probe ge-stellt. Dann fasste er sich endlich ein Herzund willigte ein.

»Ich bringe euch zu Prielsnig«, verkünde-te er. »Er ist unser Oberster Arzttechniker.Wir müssen ihm ohnehin Eggober überge-ben. Nur Prielsnig kann euch mit Kartnichzusammenbringen, obwohl …«

»Was?«, fragte ich, als er stockte.»Ach nichts«, antwortete Sobensten ha-

stig.»Du wolltest doch etwas sagen.«»Es ist unwichtig. Kartnich gilt als

schwieriger Patient, aber er ist nicht der ein-zige. Prielsnig ist ein guter Arzt. Er wird al-les richten.«

Wieso hatte ich das Gefühl, dass der Par-zellenschneider sich und uns etwas vor-machte?

Er winkte mit einem Lanken und stieg indie Luft. Inzwischen wartete die neue Platt-form darauf, dass wir sie bestiegen. Tuxit tates bereits. Ich ging als Zweiter, Jolo folgtenur unter Protest.

Ich wartete, bis er neben uns stand, klopf-te ihm auf die Schulter und gab Sobenstenein Zeichen. Im nächsten Moment hoben wirab und folgten ihm mit Eggobers Box. Wirschwebten langsam in die Höhe, dem trotzseiner Farben düsteren Riesenwürfel entge-gen, in dessen Unterseite sich eine helle,große, runde Öffnung befand, aus der auchdie Reparaturplattformen und Schwarzkam-mern der Anstizen gekommen waren.

»Wenn die da drinnen nichts für mich zuessen haben«, drohte Jolo grimmig, »treteich in den Streik.« Immer wieder überrasch-te er mich durch den schnellen Wechsel sei-ner Gedankengänge.

»Das kannst du den Anstizen nicht antun.Sie würden es nicht überleben.«

Er schielte mich seltsam an, sagte abernichts mehr. Der Hunger musste ihn wirk-lich bereits sehr entkräftet haben.

*

Wir befanden uns in einem kahlen, wür-felförmigen Raum, der offenbar als Warte-zimmer diente. In dieser Hinsicht unter-schied sich das Hospiz durchaus nicht vonterranischen oder arkonidischen medizini-schen Institutionen. Ich fieberte der Begeg-nung mit Prielsnig und besonders Kartnichentgegen.

Nachdem wir durch eine Schleuse ins In-

32 Horst Hoffmann

nere des Hospizes gekommen waren, hattenwir die neue Plattform in einer Art Hangarabgestellt und waren zu Fuß weitergegangenbis zu einer Kammer, in der jeder von unseine kleinere Antigravscheibe erhielt, mitder wir uns fast wie Surfer durch die Gängeund Korridore des Hospizes bewegen konn-ten. Tuxit saß breit und sicher auf ihr, Joloruderte unsicher. Anstizen hatten Eggober inEmpfang genommen und weggeführt. So-bensten war bei uns geblieben.

Nach zäh verstreichenden Minuten warPrielsnig mit einem kleinen Stab Artgenos-sen erschienen – vermutlich seine Assisten-ten, die sich im Hintergrund hielten. Er be-grüßte uns freundlich und führte uns in seingroßes, ebenfalls würfelförmiges Büro. Pri-elsnig war kleiner als die anderen Anstizen,die ich bisher gesehen hatte. Dafür hatte erungewöhnlich viele Kunstlanken, die mitfeinmechanischem Werkzeug besetzt waren.Er wirkte, im Gegensatz zu Sobensten, an-fangs ruhig, sprach mit hoher Stimme, aberich merkte schon nach seinen ersten Worten,dass er nur krampfhaft versuchte, sich zukontrollieren. In Wirklichkeit war er ebensoschockiert und unsicher wie alle anderenAnstizen.

»Kartnich …«, sagte er gedehnt, als ichihm den Grund unseres Besuchs genannthatte.

Ich musste alles allein erzählen, die Ge-schichte mit Eggober, unsere Reise hierher,unser Anliegen – Sobensten war nicht in derLage dazu. Es war mir auch lieber so, eineneinzigen, dafür hoffentlich kompetenten An-sprechpartner zu haben. »Kartnich ist einschwieriger Fall.«

»Wieso?«, fragte ich. Nach SobenstensWorten rechnete ich mit Problemen. Es wäreja auch ein Wunder gewesen, wenn nun, alswir endlich am Ziel waren, plötzlich allesglatt gelaufen wäre. »Er soll uns nur ein paarFragen beantworten. Sobensten sagte, dasser es könne.«

»Ja«, stimmte Prielsnig zu. »Wenn einer,dann er.«

»Aber …?«, hakte ich nach.

Er schwebte aus einer stationären, offenenSchwarzbox hervor und zwei Meter aufmich zu. Ich spürte, wie er uns musterte: Jo-lo, der sich glücklicherweise zusammenriss,den stillen und grüblerischen Tuxit, der mirseit dem Betreten des Hospizes noch ver-störter vorkam, fast ängstlich, schließlichwieder mich.

»Er ist, wie gesagt, ein Problemfall. Ihrmüsst wissen, dass es immer wieder vor-kommt, dass einzelne Patienten uns Schwie-rigkeiten bereiten. Keiner von ihnen ist zuseinem Vergnügen hier. Die meisten wurdeneingeliefert, weil sie irgendwann nicht mehrmit ihrer Arbeit und den Lebensbedingun-gen in der Bodenwelt fertig wurden. Sie ste-hen unter ständiger Überwachung und wer-den, falls nötig, medikamentös behandelt.Wo es geht, versuchen wir natürlich, siedurch ausgeklügelte Beschäftigungstherapi-en ruhig zu stellen. Die farbliche und räum-liche Anordnung der Blöcke in ihrem Wohn-und Arbeitsbereich zum Beispiel. Die Auf-gaben, die wir ihnen stellen, sind so ange-legt, dass sie ihnen das Gefühl geben sollen,weiterhin konstruktiv an etwas zu arbeiten.«

Wenn mir nicht so dringende Fragen unterden Nägeln brennen würden, wäre es sicher-lich interessant gewesen, mehr über die an-stizischen Behandlungsmethoden psychischKranker zu erfahren. Daher befürchtete ichschon, dass Prielsnig zu einem längeren me-dizinischen Vortrag ausholen wollte, aber errollte plötzlich zu seiner offenen Box zu-rück, um kurz darin zu verschwinden. Zu-rückkommend entdeckte ich einen braunenGegenstand, der in einer Halterung steckte,die mich an einen Zigarettenhalter erinnerte.Tatsächlich handelte es sich um Rauchzeug,denn er saugte an diesem wie eine Mischungaus Zigarre und Pfeife aussehenden Teil.Vielleicht rauchte der Oberste Arzttechni-ker, um seine Nervosität zu bekämpfen.

»Wir redeten von Kartnich«, erinnerte ichihn, als er wieder vor mir stand.

»Natürlich.« Er nahm einen Zug, und ichmerkte, wie sich seine wenigen natürlichenLanken strafften, als bekämen sie neue Kraft

Die Architekten der Intrawelt 33

aus dem Kugelkörper zugeführt. Eigentlichwartete ich nur noch darauf, dass er perfekteRauchringe ausstieß. Doch dann redete erwirklich ruhiger.

»Kartnich ist ein solch schwieriger Fall.Er ist uralt, nein, nicht nur das. Anhand derUnterlagen in unseren Patientenkarteien ister sogar – bitte passt auf! – Gast in dieserAnstalt seit der Erschaffung des Hospizes!Er ist der älteste Patient überhaupt! Er warder erste! Und aus den Notizen geht auchhervor, dass er sich damals freiwillig hierherbegeben hat.«

Prielsnig nahm einen schnellen Zug.»Und das ist noch nicht alles.«»Wir sind gespannt«, sagte ich.»Kartnich war derjenige, der selbst den

Auftrag zum Bau des Hospizes erteilt hat.«Für lange Sekunden trat Schweigen ein.

Sobensten ließ die Lanken hängen. Ab undzu zuckten sie. Ich wandte mich wieder demgierig inhalierenden Mediziner zu und frag-te: »Wann hat Kartnich diesen Auftrag er-teilt?«

»Vor mehr als fünf Millionen Tagen«,antwortete Prielsnig, und zwar so schnell,dass ich ihn kaum verstand. Er wollte dieseheikle Information endlich loswerden.

Das war in diesem Fall allerdings auchverständlich.

Denn nach meiner schnellen Umrechnungbedeuteten fünf Millionen Tage in der Intra-welt etwa 13.700 Jahre in dem Universum,aus dem ich kam!

9.Kartnich

Endlich hatten sie reagiert. Sie hatten sichgemeldet. Er hatte nicht antworten können,weil er sich in diesem Augenblick in einemZustand der tiefsten Verzweiflung befundenhatte. Der durch ihn verursachte Tod einesanderen Anstizen, eines Bewohners desHospizes, hatte ihn schwer getroffen. Er warkein Mörder. Er hatte noch niemals das Le-ben eines Anstizen aufs Spiel gesetzt, auchnicht, als er noch die Macht dazu besessen

hatte. Es war ihm heilig. Er hatte noch nie…

War das richtig? Ein Anstize war gestor-ben, vor nur wenigen Stunden!

Kartnich wollte den Gedanken nicht ansich heranlassen. Er kämpfte dagegen anund zwang sich dazu, sich auf seine Antwortzu konzentrieren. Sie warteten.

Sie – natürlich wusste er nun auch wieder,zu wem die Stimme gehörte, die ihn quälteund ihm die Erlösung versagte. Mit dem Er-innern waren sie aus der Anonymität heraus-gerissen worden: die Ärzte, die Arzttechni-ker des Hospizes. Die ersten davon hatte erselbst eingesetzt. Die Namen der heutigenwaren ihm nicht bekannt; das heißt: bis voreiner Stunde nicht.

Dann hatte sich der Oberste Arzttechnikerbei ihm gemeldet und seinen Namen ge-nannt: Prielsnig. Natürlich kannte Kartnichihn nicht. Prielsnig hatte noch nie mit ihmgesprochen. Wozu auch? Er hatte es nichtnötig gehabt, bis heute.

Prielsnig hatte versucht, Kartnich zu beru-higen. Er zeigte sich sogar bereit, ihm seineAufgabe zu erlassen – allerdings nur, umihm eine neue zu geben. Doch nie würde erihm erlauben, vor der Zeit aus diesem Lebenzu scheiden. Prielsnig redete und redete,doch es waren leere Worte, die er sagte.Schließlich hatte Kartnich das Gespräch mitder erneuten Drohung beendet, mit Hilfe derihm zur Verfügung stehenden Mittel undseines immensen Wissens alle Insassen desHospizes freizulassen. Er würde die Tore ih-rer Wohnbereiche öffnen. Das Chaos, dasdanach ausbrechen würde, konnte Prielsnigsich selbst ausmalen. Er brauchte es ihmnicht extra zu schildern.

Er brauchte dem Obersten Arzttechnikerauch nicht zu sagen, dass er diese furchtbareAbsicht gar nicht realisieren konnte, denn eswürde den Tod vieler hundert, vielleicht tau-send unschuldiger, kranker Anstizen bedeu-ten. Und diese Schuld würde Kartnich nie-mals auf sich nehmen – er, der nach demTod eines Anstizen schon zusammengebro-chen war.

34 Horst Hoffmann

Aber traf das auch auf die grausameMacht zu, die tief in ihm wohnte? Das, wasihn beherrschte, wenn er nicht er selbstwar? Es begnügte sich jetzt nicht mehr»nur« mit der Bodenwelt. Es griff bereitsnach dem Hospiz. Er hatte die Schreckens-bilder der Explosion im Netz gesehen.

»Kartnich?«, drängte die Stimme. »Ichfrage noch einmal: Bist du bereit aufzuge-ben, wenn ich dir verspreche, dass du dirselbst eine Aufgabe nach deiner eigenenWahl aussuchen kannst? In einem neuenQuartier deiner Wahl? Antworte uns, Kart-nich, bitte!«

Er war es nicht, und er sagte es ihm.»Erlaubt mir zu sterben. Schaltet die Sy-

steme meiner Schwarzbox ab, die mich amLeben erhalten müssen und daran hindern,es zu beenden.«

»Das können wir nicht!«, beteuerte Priels-nig.

»Dann lasst euch etwas einfallen!«, schrieer. »Gebt mir Frieden, gebt mir den Tod! Ihrhabt fünf Stunden dazu. Wenn ich in fünfStunden noch lebe, öffne ich alle Türen undTore im Hospiz. Ihr wisst, was das bedeu-tet.«

Er sagte nicht, was in diesen fünf Stundennoch alles passieren konnte, denn er wusstees selbst nicht.

Er hatte nur Ahnungen von unvorstellba-rer Gewalt und unglaublichem Leid.

10.Atlan

»Fünf Millionen Tage«, sagte ich tief be-eindruckt. »Werden alle Anstizen so alt, Pri-elsnig? Oder bildet Kartnich eine Ausnah-me?«

»Ich verstehe nicht …«, sagte der ObersteArzttechniker.

»Ich meine, ob ihr vielleicht die Möglich-keit besitzt, euer Leben künstlich zu verlän-gern.«

Er antwortete nicht, und an der Art, wie erdie Lanken bewegte und schnell rauchte,glaubte ich zu erkennen, dass ich etwas an-

gesprochen hatte, was mich nichts anging.Ein wunder Punkt, ein Tabu vielleicht. Aufjeden Fall etwas, worüber die Anstizen nichtgern sprachen, zumindest nicht mit Frem-den.

Dennoch hätte es mich interessiert, obKartnich eine so besondere Rolle in der Ge-schichte der Anstizen und der Intrawelt ge-spielt hatte, dass ihm ein solches Privilegvielleicht zukam.

»Kartnich hat also das Hospiz erbauenlassen und sich danach selbst eingewiesen«,versuchte ich es anders. »Warum? Ist erkrank? Was sagen eure Notizen darüber?«

»Wir haben keine«, gab Prielsnig nach ei-nem schnellen, tiefen Zug zu. »Es existierenkeine Unterlagen über den Grund von Kart-nichs Selbsteinlieferung. Er bestimmte, dasser in die Obhut des Hospizes gehörte, unddeshalb war es so. Damals wagte ihm nie-mand zu widersprechen.«

»Und heute?« Ich trat einen Schritt an denArzttechniker heran. Die Zeit war knapp.»Was ist heute? Du hast gesagt, Kartnich seiein Problem geworden. Er macht euchSchwierigkeiten. Bitte sag endlich konkret,welche das sind!«

Ich spürte seinen Blick und seine Unsi-cherheit. Offenbar rang er mit sich. Ichseufzte, verdrehte die Augen, drehte denKopf und sah auf einem der hier installiertenBildschirme die Schwebeplattformen derAnstizen bei den aus der Unterseite ge-sprengten Würfeln. Der erste davon schweb-te schon in der Luft und wurde von einemunsichtbaren Kraftfeld nach oben getragen.Jetzt waren auch mehrere Roboter dort untenzu sehen, und andere kamen aus demSchacht, dem riesigen Loch, durch das eszur Bodenwelt hinabging.

Ganze Trauben … Wenn die BodenweltHilfe schickte, war sie sehr großzügig.

Zu großzügig, meinst du nicht?, fragte derExtrasinn.

Prielsnig zog meine Aufmerksamkeit wie-der auf sich.

»Kartnich ist krank – krank an der Seele.Das Leben eines jeden Anstizen hat seinen

Die Architekten der Intrawelt 35

ganzen Sinn in der Arbeit, die er leistet. Wirleben nur für die Arbeit. Doch irgendwannmerken wir, dass unsere Kraft nachlässt. DieEnergie versiegt, und wir fühlen uns unnütz.Die einen – die meisten – sterben dann ein-fach friedlich, bei anderen dauert es länger.Sie können nicht abschalten und leben wei-ter, bis der Tod sie eines Tages doch erlöst.Solche Fälle befinden sich hier im Hospiz.«

»Gehört Kartnich er zu jenen?«»Es ist schlimmer. Kartnich hat schon

lange keine Kraft mehr. Seine Lebensuhr istabgelaufen. Er dürfte keine Energie mehrhaben, aber er stirbt nicht. Etwas ist in ihm,was ihn nicht einfach einschlafen lässt wiealle anderen. Das ist sehr sonderbar. Doch erwill nicht mehr leben und fleht uns an, ihnsterben zu lassen. Er versucht sogar, sichselbst umzubringen. Er hat nur noch deneinen Wunsch, endlich sterben zu können.«

»Er hat versucht, sich das Leben zu neh-men?«

»Mehrfach, doch jeder Versuch ist zumScheitern verurteilt. Wir dürfen es nicht zu-lassen. Das Programm, das die Vorgängehier im Hospiz steuert und die Systeme sei-ner Schwarzkammer kontrolliert, ist daraufausgerichtet, die Patienten unter allen Um-ständen am Leben zu erhalten. Wenn einAnstize auf natürliche Weise stirbt, ist es inOrdnung. Wir müssen Krankheiten bekämp-fen, soweit es in unserer Macht steht. Schla-fen sie aber ein, ist es gut, aber wir dürfenkeine wie auch immer geartete Sterbehilfeleisten. Dies ist das oberste Gesetz im Hos-piz. Kartnich selbst hat das initiiert. Was ernun von uns verlangt, können wir unmöglicherfüllen.«

Sterbehilfe, dachte ich, war auch für vieleMilchstraßenvölker ein heikles Thema.

Worüber wir jetzt nicht die Zeit haben zudiskutieren, mahnte mein Extrasinn.

Ich sah aus den Augenwinkeln, wie im-mer noch Roboter aus der Bodenwelt ka-men. Der Strom wollte nicht abreißen.

Hinter Prielsnig blinkten hektisch Lam-pen. Er schien es nicht zu sehen, aber einigeAnstizen verließen aufgeregt den Raum.

Etwas stimmte nicht. Ich spürte es deut-lich. Etwas war schon wieder im Gange.»Kartnich«, sagte der Arzttechniker, »drohtuns nun. Er tut das schon lange, aber jetzt ister konkret geworden.«

»Und das heißt?«, fragte ich ungeduldig.»Er will in weniger als fünf Stunden die

Insassen des Hospizes freilassen, wenn wirseiner Forderung bis dahin nicht nachkom-men«, sagte Prielsnig. Und nahm noch ein-mal einen letzten, langen Zug. Der Glimm-stängel hatte sich vollends aufgelöst. DerQualm, auf den ich förmlich gewartet hatte,wurde plötzlich in einem Rutsch ausgesto-ßen. Ein paar Sekunden saßen wir im Nebel.Ein beißender Geruch mit einer süßlichenNote, ein Hauch Zimt vielleicht …

Und Minze, nicht zu vergessen Minze.Wenn du den Flammenstaub eingesteckthast, kannst du gerne Prielsnig um eine Pro-be bitten, aber so weit bist du noch nicht!,nörgelte mein Extrasinn.

Ich musste ihm Recht geben – wie kannman sich nur so ablenken lassen: ein Arko-nide mit meiner Erfahrung …

»Das hört sich an, als würdest du von Ge-fangenen reden, statt von Patienten«, nahmich den Faden wieder auf. Der Qualm hattesich schnell verzogen.

»Du kannst dir nicht vorstellen, welchesChaos ausbrechen würde, wenn KartnichErnst machte. Die Patienten sind krank, vie-le haben den Verstand verloren. Wenn siesich plötzlich über die Gänge des Hospizesergießen, bricht jegliche ärztliche Versor-gung zusammen. Wir können keine Hilfelei-stung mehr erbringen. Viele Anstizen wer-den sterben, ganz abgesehen davon, dass sieübereinander herfallen könnten.«

Ich sah auf die Schirme. Einer der ebenverschwundenen Anstizen kam wieder her-ein und schwebte auf der Obersten Arzttech-niker zu, offenbar sehr erregt. Ich fragte auseinem Impuls heraus: »Hier im Hospiz gibtes doch sicher auch Roboter – viele?«

»Natürlich«, erhielt ich zur Antwort.Dann drehte sich Prielsnig ein Stück und

sah ebenfalls auf die Schirme. »Roboter …

36 Horst Hoffmann

so viele …«Der andere Anstize war fast bei ihm. Ich

spürte, dass es nun pressierte. »Was gehthier vor?«

»Die Katastrophe – es ist furchtbar. SelbstKartnich scheint beeindruckt zu sein, dennwenn etwas Schlimmes geschieht, redet ernicht.«

Der Anstize hatte ihn erreicht und sprachleise zu ihm. Als er schwieg, zitterten Priels-nigs Lanken heftig.

»Was ist?«, fragte ich. »Was hat er ge-sagt?«

»Die … Roboter«, stammelte der ObersteArzttechniker. »In der Bodenwelt herrschtAlarm. Die Roboter verlassen ihre Postenund ihre Arbeit. Sie gehorchen keinem Be-fehl mehr. Sie …«

»… fliegen zum Schacht und kommenhierher«, vollendete ich für ihn.

»Und das ist nicht alles«, sagte Prielsnig.»Auch im Hospiz gehorchen uns unsere Ro-boter nicht mehr. Sie kümmern sich nichtmehr um die Patienten und sammeln sich.«

Sie sammeln sich!Wozu?

*

Ich sah das Problem und wusste, dass ichvon Prielsnig und seinem Personal nichts er-warten konnte. Ihnen waren die Lanken ge-bunden. Selbst wenn sie aus Mitleid bereitgewesen waren, Kartnich zu helfen, sie durf-ten es nicht. Das von Kartnich einst selbstinitiierte Programm verbot es. Sie konntensich nicht darüber hinwegsetzen.

Das wusste auch Kartnich, trotz seinerkranken Psyche, davon ging ich aus. Unddas bedeutete, er machte sich selbst keineHoffnungen, dass seine Forderung erfülltwurde – jedenfalls nicht von seinen Artge-nossen.

Und jeden Moment konnten die Roboterangreifen. Etwas sagte mir, dass Kartnichder Schlüssel auch hierzu sei. Prielsnig hatteetwas gesagt. Es war noch wie ein blinderFleck vor meinen Augen. Es war etwas ge-

wesen, was mich hätte alarmieren müssen…

Ich konnte mich auch damit nicht aufhal-ten und wandte mich erneut an den Arzt-techniker.

»Prielsnig«, drängelte ich. »Lass mich mitKartnich reden. Von euch darf er keine Hilfeerwarten, auch wenn er dies offenbar nichterkennt. Er weiß es im Unterbewusstsein,und er wird seine Drohung wahr machen.«

»Du?«, fragte der Anstize überrascht.»Wie willst du ihm denn helfen?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich offen zu.»Aber mir wird etwas einfallen. Es muss ei-ne Lösung geben, die beide Parteien zufrie-den stellt. Die Uhr läuft, Prielsnig.«

»Sobensten hat mir gesagt, weshalb ihrhier seid. Ist es nicht vielmehr so, dass duauf diese Weise an Kartnich herankommenwillst, um ihm deine Fragen zu stellen?«

»Natürlich erhoffe ich mir auch das. Abervielleicht kann ich beides miteinander ver-binden.«

»Auch du kannst unsere Gesetze nichtignorieren.«

»Nein, aber ich kann vielleicht herausfin-den, was Kartnich am Sterben hindert.«

Es war wie ein Schuss ins Blaue. Ich mus-ste es riskieren. Ich spürte, dass dem Hospizmehr drohte als nur ein durch freigelassenePatienten verursachtes Chaos. Und Kartnichwar der gemeinsame Nenner. Ich mussteversuchen, zu ihm durchzudringen. Alles an-dere würde sich dann vielleicht finden.

»Ich werde mich mit Sobensten und eini-gen Vertrauten beraten«, verkündete Priels-nig. »Geht bitte so lange hinaus und wartetmeine Entscheidung ab.«

Ich sah auf die Schirme. Anscheinend ka-men aus der Bodenwelt nun keine neuen Ro-boter mehr. Es mussten bereits Tausendesein, und sie schwebten in der Luft, zwi-schen Oberfläche und Hospiz. Sie ordnetensich zu Formationen an.

Formationen, die mir bekannt vorkamen…

»Geht bitte hinaus«, sagte Prielsnig.Ich seufzte, drehte mich um und gab Jolo

Die Architekten der Intrawelt 37

und Tuxit ein Zeichen.Wir hatten Prielsnigs Büro noch nicht

ganz verlassen, als der Angriff der Roboterauf das Hospiz begann.

*

Auch in dem Vorraum, in dem wir zuwarten hatten, gab es Bildschirme in denWänden. Ich sah voller Entsetzen, wie dieRoboterschwärme das Hospiz unter Be-schuss nahmen. Grüne Desintegrator- undrote Energiestrahlen schlugen dem giganti-schen Würfelblock entgegen. Die Reparatur-trupps der Anstizen waren bereits geflohen.Ich nahm an, dass sich hinter dem letzten dieSchleuse geschlossen hatte. Die Amok lau-fenden Roboter kamen nicht herein – nochnicht. Aber sie würden sich ihren Weg frei-schießen. Das Hospiz schien über keinewirksamen Abwehreinrichtungen wieSchutzschirme zu verfügen – wozu auch? Eswar eine Einrichtung, die naturgemäß keineFeinde hatte.

Also wer kommandierte die Roboter?Wem war daran gelegen, die Bodenwelt,vielleicht sogar einen noch größeren Teil derIntrawelt ins Chaos zu stürzen?

Zweimal schien es, als käme der Angriffder Maschinen ins Stoppen. Als legten sieeine Pause ein. Als warteten sie auf Befehle…

Der Alarm heulte durch das Hospiz. An-stizen mit oder ohne Schwarzkammerschwebten oder rollten über die Gänge,durch den Vorraum und wieder zurück. Siehuschten ziellos durcheinander. Kein einzi-ger schien zu wissen, wie er auf eine Gefahrzu reagieren hatte, die für ihn nie existentgewesen war.

»Das muss ich doch träumen, oder?«, tön-te Jolo. »He, Tuxit, du verhinderter Flatter-mann, sag doch auch mal was dazu. Selbstmit einem Furz wäre ich schon, zufrieden…«

Tuxit sah mich an, traurig, leidend – sogarverzweifelt? Noch nie hatte ich ihn so gese-hen wie jetzt. Ich hatte das Gefühl, dass er

mir unbedingt etwas sagen wollte – viel-leicht sogar musste, aber, verdammt, washinderte ihn daran? Was fesselte seinenSchnabel so wie seine Arme?

»Wenn die Anstizen sich nicht beeilen,wird es wirklich zum Albtraum«, unkte ich.Wieso ließen sie sich so viel Zeit? Sie steck-ten in einer ganz bösen Klemme und konn-ten sich nicht selbst daraus befreien. Natür-lich verstand ich auch Prielsnig. Er trug dieVerantwortung für das Hospiz und sollte sieauf die Schultern eines anderen abwälzen,eines Fremden, der auch noch mit seinenganz eigenen Motiven zu ihm gekommenwar.

Aber es war vielleicht seine einzige Chan-ce!

»Diese Anstizen sind arrogant und einge-bildet!«, schimpfte Jolo. »Wir sollten dieWartezeit nützen, um mal eben im Hospiz-Casino einen Schnellimbiss einzuwerfen.Und so gestärkt die Tür zum Büro aufbre-chen und endlich Klartext mit den Anstizenreden, Atlan. Oder fällt dir was Besseresein? Was ist mit dir los? Du bist doch sonstkein Zauderer!«

In diesem Moment öffnete sich die Tür,und Sobensten bat uns herein. Er wirkte mü-de, soweit sich das aus dem kraftlosen Her-abhängen seiner Lanken herauslesen ließ.Seine Stimme allerdings hatte wieder einenfesten Klang. Ich fragte mich, ob er versuch-te; uns etwas vorzuspielen; eine Kraft zu de-monstrieren, die überhaupt nicht da war.

Prielsnig erwartete uns. Er saugte wiederan seiner Mischung. Als ich vor ihm stand,richtete er zwei Lanken auf mich.

»Wir haben uns entschieden«, verkündeteer. »Ich habe auch schon mit Kartnich ge-sprochen. Er ist einverstanden.«

»Einverstanden?«, fragte ich ungläubig.Sosehr ich darauf gehofft hatte – mit einersolch schnellen Wendung hatte ich dennochnicht gerechnet. »Du meinst, ihr habt ihmvorgeschlagen, dass ich mit ihm verhandle,und er hat akzeptiert? Einfach so?«

»Nicht du allein«, korrigierte er mich. »Erwill euch alle drei sehen. Ich verstehe es

38 Horst Hoffmann

nicht. Was, glaubt er, könnt ihr ihm geben,zu was wir nicht fähig wären?«

»Vielleicht ihn töten«, sagte ich.»Vielleicht spekuliert er darüber.«

»Brächtest du das fertig?«»Nein«, sagte ich. »Ich bin kein Mörder,

und meine Freunde sind auch keine.«»Ich hoffte, dass du das sagen würdest,

und ich glaube dir. Sonst ließe ich euchnicht gehen.«

Der Oberste Arzttechniker rollte sich zueinem kleinen Tisch, auf dem einige Gegen-stände ausgebreitet waren. Ich folgte ihm.»Hier haben wir einige Geräte, die euch hel-fen sollen, zu Kartnich zu gelangen und ihn– vielleicht – daran zu hindern, seine Dro-hung wahr zu machen. Zuerst bekommt ihrFunkgeräte, über die wir euch den Wegdurch das Labyrinth aus Gängen undSchächten weisen. Dann einen Impulsgeber,der die Türen auf eurem Weg öffnet. EinSuchpeilgerät: Es kann euch den Weg wei-sen, wenn der Funkkontakt abbrechen sollte.Und schließlich ein Steuergerät, das jegli-chen Energieimpuls auf kurzer Entfernungunterbricht.« Er griff nach einem kleinen,metallisch schimmernden Gegenstand undhielt ihn in die Höhe. »Darauf setzen wir un-sere Hoffnungen, Atlan. Wir gehen davonaus, dass Kartnich alles, was derzeit im Hos-piz passiert, über teilweise nur ihm bekannteKanäle von seiner Schwarzbox aus steuernkann. Wenn es euch gelingt, diese steuern-den Impulsströme zu unterbrechen, sind wirgerettet. Es raubt ihm den Zugriff auf unsereSysteme.«

Ich nickte. Prielsnig schien an alles ge-dacht und rasch erkannt zu haben, welcheChance sich ihm nun bot. Ich hätte es ihmnicht unbedingt zugetraut.

»Und das Ultimatum? Ist es außer Kraftgesetzt, solange wir zu Kartnich unterwegssind und mit ihm reden?«

»Leider nein«, musste der Arzttechnikerzugeben. »Es läuft ohne Unterbrechung wei-ter. Wir haben noch knapp vier Stunden.«

»Oder weniger«, sagte ich und zeigte aufeinen der Bildschirme. »Was ist mit den Ro-

botern im Hospiz?«»Noch sind sie ruhig.«»Sind sie bewaffnet?«»Es sind Medoroboter«, sagte er, »zur Be-

treuung, aber auch zur Arbeit mit und an denPatienten. Einige haben Laser und andereWerkzeuge, die sich als Waffen missbrau-chen ließen.«

Ich ahnte, dass sie es tun würden.»Seid ihr bereit?«, fragte Prielsnig und

nahm einen hastigen Zug.»Ja«, sagte ich und verteilte die verschie-

denen Gegenstände. Jeder von uns hatte nunein Funkgerät. Sollten wir getrennt werden,konnten wir uns also auch untereinander da-mit verständigen.

»Viel Glück«, wünschte Prielsnig.»Kartnich hat als Treffpunkt einen der unbe-wohnten Bereiche genannt. Er erwartet euchdort. Folgt unseren Anweisungen, dann fin-det ihr sicher hin.«

»Danke«, murmelte ich, obwohl mir dasWort »sicher« in diesem Zusammenhangbitter aufstieß. »Ich denke, das Glück kön-nen wir brauchen.«

Worauf du Gift nehmen kannst, wisperteder Extrasinn. Ich weiß nicht, weshalb sichKartnich so schnell auf ein Gespräch miteuch eingelassen hat, aber ich weiß, dass ernicht dumm ist. Wenn er zugestimmt hat,verfolgt er damit einen eigenen Plan. Wenndies ein Spiel ist, Arkonide, dann nimm dichin Acht. Kartnich hat bewiesen, dass er einguter und ausgefuchster Spieler ist.

Also ein gleichwertiger Gegner, dachteich grimmig.

Ich fürchte, mehr als das.

11.Kartnich

Natürlich durchschaute er Prielsnig. DerOberste Arzttechniker wollte ihm die Frem-den schicken, weil er hoffte, dass sie das tunwürden, was er nie würde tun können. Daspasste zwar nicht zu seiner Verpflichtungdem Patientenwohl gegenüber und auchnicht zu seiner ethischen Grundeinstellung,

Die Architekten der Intrawelt 39

aber Prielsnig war verzweifelt und wolltedas Hospiz retten.

Doch erwiesen die Fremden ihm diesenGefallen?

Sie waren bis hierher gekommen. Sie hat-ten es tatsächlich geschafft, trotz allem, wasauf ihrem Weg passiert war.

Kartnich sah wieder die Bilder: den An-griff der Roboter, die Explosionen, dieBlöcke, unter denen sie fast zertrümmertworden wären …

Er zitterte. Sie waren hier. Sie waren zuihm unterwegs. Er wusste, was – wer! – fürdie Angriffe auf sie verantwortlich war. Erwusste auch, dass es nicht die letzten bleibenwürden. Aber sie konnten sich wehren. Siewären anders als die Anstizen, kämpferi-scher, entschlossener, vor allem der eine, derAtlan genannt wurde.

Vielleicht gab es noch Hoffnung, das zubesiegen, was in ihm wirkte; Hoffnung nichtnur für ihn, sondern auch für das Hospiz unddie Intrawelt. Er wollte das alles nicht tun,doch er musste! Er wollte nicht zum Mörderwerden!

Er musste die Fremden zu sich kommenlassen. Er musste sie dazu bringen, dass sieihn töteten. Sie waren seine einzige Hoff-nung. Er musste sie zwingen!

Vielleicht hatte er sogar schon die Mitteldazu …

Er konnte die Gespräche im Hospiz belau-schen und alles hören, auch was in Priels-nigs Büro gesprochen wurde. Daher wussteer auch, dass die Fremden nicht nur wegenEggober zum Hospiz gewollt hatten, son-dern etwas von ihm erfahren wollten. Wasimmer es sein mochte – vielleicht konnte erihnen ein Geschäft vorschlagen: ihr Wunschgegen seinen Tod!

Nur den einen Wunsch konnte er ihnenniemals erfüllen: Sein Wissen um die Ver-gangenheit musste mit ihm sterben, für im-mer erlöschen.

Kartnich sah die drei kommen, auf einemder kleinen Monitoren in seiner Schwarz-kammer. Sie bewegten sich ziemlich sicher,wurden von Prielsnig geleitet.

Doch als er spürte, wie er wieder die Kon-trolle verlor, wusste er, dass es damit schnellvorbei sein würde. Sie würden ihn nicht er-reichen. Das Andere in ihm würde es verhin-dern. Es wollte, dass sie starben. Deshalbsollten sie alle drei kommen. Es hatte sievon Anfang an töten wollen, damit sie nichterfuhren, was niemand wissen durfte.

Er konnte sie nicht einmal warnen. Denner war schon nicht mehr er selbst. DasSchlimme war, dass er bereits im »wachen«Zustand zum Diener seines anderen Ichswurde, sonst hätte er nicht darauf bestanden,dass sie alle drei kämen. Und er hätte Priels-nig gewarnt, dass er sie nur umbringen woll-te.

Er verstand das alles nicht mehr.Gab es denn bereits keine Trennung mehr

zwischen ihm und ihm? War dies der Wahn-sinn, den er immer gefürchtet hatte? Ein Teilvon ihm wollte den Tod der Fremden, wäh-rend der andere darum kämpfte, sie zu be-schützen und mit ihnen zu reden.

Draußen brandete eine neue Angriffswelleder Roboter gegen das Hospiz. Und drinnen,im Hospiz, fing es erst an …

12.Atlan

Ich betätigte den Impulsgeber, um die»Tür« vor uns zu öffnen, eine energetischeWand, die uns den weiteren Weg versperrte.Es war eine inzwischen zur Routine gewor-dene Prozedur. Sie löste sich auf, ver-schwand einfach – und dahinter warteten dieRoboter.

»Hinwerfen!«, rief ich Jolo und Tuxit zuund hechtete schon von meiner Antigrav-scheibe auf die Maschinen zu. Ich wusstenicht, ob sie schnell genug waren, als derLaserstrahl über mich hinwegzischte.

Ich rollte mich auf dem Boden herum,weiter auf den ersten der insgesamt drei Ro-boter zu, einen Meter große Kugeln mitstählernen Stacheln, an deren Spitze sich dieWaffenprojektoren befanden, und zwangmich, nicht auf die Strahlen zu achten, die

40 Horst Hoffmann

neben mir in den Boden schlugen. Als ichmich genau unter dem Roboter befand, tratich auf dem Rücken liegend mit beiden Fü-ßen fest zu. Ich traf den metallenen Körper,trat noch einmal, und die Maschine wurdegegen die zweite geschleudert, die genauhinter ihr schwebte. Der dritten war dadurchdie Schussbahn versperrt. Ich sprang auf,drehte mich halb in der Luft, stand nur aufeinem Bein und trat mit dem anderen. Eswar unsere einzige Chance. Wir waren un-bewaffnet. Ich musste aufpassen, dass ichmir an den spitzen Enden der Stacheln nichtdas Bein aufschrammte. Es war eine Sachevon wenigen Sekunden. Wieder krachten diebeiden Roboter gegeneinander. Soweit Ma-schinen irritiert sein konnten, waren sie es.Sie feuerten wild in den Gang. Der erste ver-irrte Schuss hätte Tuxit, Jolo oder mich tref-fen können – es wäre das Ende gewesen.

Plötzlich hatte der dritte Roboter freieSchussbahn. Es war unmöglich, schnell ge-nug an ihn heranzukommen, geschweigedenn auszuweichen. Ich warf mich wiederauf den Boden, wirbelte um meine Achse,erreichte die Freunde und riss die Hand vordie Augen, um wenigstens den grellen Blitznicht sehen zu müssen. Es krachte undzischte – und dann ein feiner Summton, derhier nicht hingehörte.

Die Schüsse klangen anders, gedämpfter.Eine matt schimmernde, halb transparenteWand trennte uns von den Robotern, diesich gefangen hatten und auf breiter Frontangriffen. Aber die Wand wehrte ihreSchüsse ab. Sie verpufften an ihr und schlu-gen auf die Maschinen zurück.

»Was ist das?«, fragte Jolo. »Was hat daszu bedeuten? Haben die Anstizen uns gehol-fen? Prielsnig und seine feige Bande?«

Ich wusste es auch nicht. Die Roboterrannten gegen die Wand und damit in ihr ei-genes Feuer, und sie hörten erst auf zuschießen, als sie bereits glühten oderschwarze Löcher in ihren metallenen Lei-bern klafften. Als der erste zu Boden sank,stellten die anderen zwei das Feuer ein.

»Natürlich hilft uns jemand!«, sagte Jolo.

»Aber klar. Du warst nicht schlecht, Atlan,aber ohne diese Wand, die plötzlich erschi-en, wäre es aus gewesen.«

Jolo hatte Recht.Und mich beschlich eine Ahnung …Wir waren seit gut einer Stunde unter-

wegs. Auf den Antigravscheiben kamen wirin den langen Korridoren relativ schnell vor-an. Sie trugen uns in den Schächten desHospizes nach oben, zu den zentralen Berei-chen, wo Kartnich auf uns warten wollte.Wir hatten keine Probleme, mit Hilfe desImpulsgebers alle Formenergietüren zu öff-nen, die uns den Weg versperrten. Es schienalles zu einfach. Wir trafen auf keine Ansti-zen und keine Roboter. Was die Roboter an-ging, so würden sie vermutlich irgendwo aufuns warten, auf den richtigen Augenblickund an der richtigen Stelle.

Prielsnig gab uns Anweisungen, denenwir strikt folgten. Zwischendurch bekamenwir Nachrichten über die Lage außerhalb desHospizes. Die Roboterscharen griffen weiterwütend an. Noch war kein gravierenderSchaden entstanden, doch das war nur eineFrage der Zeit. In der Bodenwelt herrschtenVerwirrung und Panik. Immer noch reagier-ten die Maschinen auf keine Befehle, stell-ten die wütenden Angriffe weder ein, nochkehrten sie um.

Nur manchmal legten sie eine Pause ein…

Prielsnigs Worte über Kartnich fielen mirwieder ein. Ich fragte ihn, was der Patientmachte, wenn die Roboter stillhielten, undnach dem dritten Mal wusste ich Bescheid.

Kartnich schwieg, wenn die Angriffe tob-ten oder sich, wie inzwischen geschehen, imHospiz selbst Unfälle ereigneten.

Nur wenn der Oberste Arzttechniker rede-te, hielten die Roboter still, und im Hospizpassierte nichts.

»Es ist Kartnich«, sagte ich ins Funkmi-kro, »Kartnich lenkt die Maschinen, und erist für all die Zwischenfälle in der Boden-welt und hier im Hospiz verantwortlich.«

Prielsnig musste es akzeptieren. DieÜbereinstimmung war einfach zu deutlich.

Die Architekten der Intrawelt 41

»Wenn es so ist«, fragte der Oberste Arzt-techniker, »was bezweckt er dann mit sei-nem Tun? Will er das Hospiz vernichten, da-mit wir ihn sterben lassen?«

Die Vermutung lag nahe, aber dagegensprach erstens, dass Kartnich dann nicht nurmit der Freilassung der Patienten gedrohthätte, sondern direkt mit den Robotern undall dem, was er aufgrund seiner immensenMöglichkeiten und seines uralten Wissenstun konnte und tat.

Zweitens hatte er es auf uns abgesehen,auf Tuxit, Jolo und mich. Ich wusste nicht,warum, aber es konnte nur so sein, und ichhatte vor, mir die Antwort zu holen. Dieswar nun schon der dritte Grund, Kartnich soschnell wie möglich gegenüberzustehen. Biszum Ablauf des Ultimatums waren es keinedrei Stunden mehr, aber das schien mir jetztsogar nebensächlich. In jeder Minute konnteviel Schlimmeres geschehen.

»Atlan?«, fragte Prielsnig. »Ist das seinPlan?«

»Vielleicht«, sagte ich. »Wir werden esherausfinden!«

Ich konnte mir vorstellen, wie er pausen-los rauchte. Jolos Stimme riss mich aus mei-nen Gedanken: »Was ist nun, Atlan?Träumst du?«

»Nein, nein«, beruhigte ich ihn.»Warum versuchst du es nicht einmal mit

diesem anderen Gerät, das Tuxit immer sogierig anstarrt, wenn du's in der Hand hast?«

Das Cueromb?»Du riskierst doch nichts, oder? Warum

holst du's nicht einfach raus?«»Warte!«, sagte ich.»Da hat man mal eine Idee, und schon

ist's wieder nicht recht! Ich werde gar nichtsmehr sagen. Ich werde die Schnauze haltenund …«

»Nein, nein«, wehrte ich ab. »Du hastvorhin vielleicht etwas sehr Wichtiges ge-sagt, Jolo.«

»So? Was denn? Da bin ich aber ge-spannt.«

»Natürlich hilft uns jemand.«Die transparente Wand. Wer hatte sie ge-

nau in dem Augenblick in den Gang proji-ziert, als die Roboter freie Schussbahn aufuns hatten? Prielsnig? Wenn er es hätte tunkönnen, dann hätte er es viel früher machenmüssen.

»Kartnich!«, rief ich in den Gang.»Kartnich, du hörst mich, nicht wahr?«

»Was ist denn jetzt?«, zischelte Jolo.»Ja«, sagte eine Stimme wie aus dem

Nichts. »Ich höre und sehe dich, Atlan.«Ich nickte und überlegte mir die nächste

Frage genau. »Kartnich, du hast uns geradewahrscheinlich das Leben gerettet. Du be-fehligst diese Maschinen, nicht wahr? Dulässt die Roboter aus der Bodenwelt dasHospiz angreifen.«

»Nicht … ich«, hörte ich die stockendeStimme. »Das … bin ich nicht …«

»Ich glaube, ich verstehe«, sagte ich. »Dukämpfst gegen etwas an, in dir, was dich be-einflusst, dich gegen deinen Willen steuert.Aber du selbst willst, dass wir zu dir kom-men und miteinander reden. Ist das richtig?«

»Das ist richtig«, antwortete er.»Dann hilf uns!«, appellierte ich an ihn.

»Hilf uns weiter! Vergiss Prielsnig und dieanderen. Es gibt nur noch dich und uns. Ho-le uns zu dir, Kartnich! Mach uns den Wegfrei!«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann …«»Du meinst, wie lange du es noch

kannst?«»Ja.« Er hörte sich niedergeschlagen an,

verzweifelt.»Dann tu es, solange du kannst, Kart-

nich!«, sagte ich beschwörend. »Wir wollendir helfen.«

»Das könnt ihr nicht. Ich weiß, dass ihretwas anderes von mir wollt.«

»Das lässt sich verbinden. Lass es unsversuchen, Kartnich.«

Er sagte nichts mehr. Jolo starrte mich anwie einen Geistesgestörten, und Tuxit wichmeinem Blick aus. Ich wartete auf KartnichsAntwort.

Und als sich die drei Roboter zurückzo-gen und die Energiewand erlosch, wussteich, dass wir diese Runde gewonnen hatten.

42 Horst Hoffmann

Eine Runde, mehr nicht.Aber es ging weiter.

*

Jolo löcherte mich mit Fragen, doch ichvertröstete ihn und sagte, dass er alles ver-stehen würde, wenn wir bei Kartnich waren.Tuxit, von dem ich so gerne ein Wort gehörthätte, schwieg so eisern, als hätte er ein Ge-lübde abgelegt. Und je länger er schwieg,desto stärker wurde mein Gefühl, dass er mirviel zu sagen hätte. Hier, jetzt, vielleichtmehr als jemals zuvor. Er war beeindrucktvom Hospiz, mehr noch: Auf eine nicht zudeutende Weise flößte es ihm Angst ein.

Oder war es Kartnich, vor dem er sichfürchtete?

Vor dem, was Kartnich wusste?Je höher wir kamen, desto unruhiger und

ungeduldiger wurde ich. Es ereigneten sichweitere Zwischenfälle, und sie alle passier-ten synchron mit den Roboterangriffen aufdas Hospiz. Wenn die Maschinen feuerten,gerieten auch wir in Gefahr durch materiali-sierende Energiewände, die auf uns zuwan-derten und uns zwischen sich zu zermalmendrohten, durch weitere Roboter, durch plötz-liche Änderungen der Schwerkraftvektorenund sogar durch Anstizen, die in Schwarz-kammern auftauchten und uns bedrängten.Es konnte sich nur um Patienten handeln,die Kartnich gezielt freiließ und gegen unseinsetzte.

Doch wir schlugen uns wacker, kämpftenuns weiter, Meter um Meter, auf unserenFlugscheiben.

Einige Male sahen wir dem Tod ins Augeund hofften, dass Kartnich wieder er selbstwerden würde, bevor es zu spät war. Wirhatten Glück. Kartnich vermochte sich im-mer im allerletzten Moment zusammenzu-reißen, als wolle er es ganz besonders span-nend machen. Jedenfalls gelang es ihm, in-dem er die von ihm selbst herbeigeführteGefahr rechtzeitig beseitigte.

Wir brauchten noch einmal eine Stunde,bis wir den grauen Bereich erreicht hatten,

in dem Kartnich uns erwarten sollte. Der ge-naue Treffpunkt war einer der zehn Kubik-meter großen Würfel, die sich überall anein-ander reihten. Dieser hier bildete eine Aus-nahme. Er stand isoliert, zu beiden Seitenführten Gänge vorbei.

Insgeheim hatte ich mit einem letzten,wütenden Angriff der Roboter gerechnet,um uns am Betreten des Blocks zu hindern;ein letztes Aufbäumen jenes Teils von Kart-nich, der für das ganze Chaos verantwortlichwar, doch nichts geschah. Die plötzliche Ru-he war schon beinahe gespenstisch.

Wie im Auge eines Hurrikans, kommen-tierte mein Extrasinn treffend.

Auf unserer Seite des Würfels stand einebreite Tür offen. Wir stiegen von unserenScheiben und waren schon im Begriff einzu-treten, als sich Kartnich wieder meldete:»Nur du, Atlan! Ich will vorerst nur mit dirallein sprechen. Die beiden anderen müssenwarten.«

»Wozu?«, fragte ich in die Luft. »Hierdraußen sind sie nicht sicher.«

»Nur du und ich«, beharrte der krankeAnstize. »Oder es gibt kein Gespräch.«

»Geh«, sagte Tuxit. »Geh zu ihm.«»Na los!«, schloss Jolo sich an. »Umso

eher haben wir es hinter uns. Nun machschon!«

Er trat nervös von einem Fuß auf den an-deren. Mir fiel auf, dass er schon seit Stun-den nicht mehr über seinen Hunger geklagthatte. Das führte mir mehr als alles anderevor Augen, wie unwohl er sich in seinerHaut fühlte.

Ich nickte meinen Gefährten zu, atmeteeinmal tief durch und betrat die Kammer.

Der Kubus war leer. Auch von Kartnichwar noch nichts zu sehen. Ich ging bis zurMitte des Würfels.

Hinter mir schloss sich lautlos die Tür.Jetzt war es ganz still. Man hätte eine Steck-nadel fallen hören können.

Ich versuchte, Jolo über Funk zu errei-chen, und musste feststellen, dass ich keinenKontakt mehr bekam. Die Verbindung zuPrielsnig war schon kurz vorher abgebro-

Die Architekten der Intrawelt 43

chen. Mir wurde klar, dass ich plötzlich völ-lig auf mich allein gestellt war.

In der mir gegenüberliegenden Wand bil-dete sich eine Öffnung, und Kartnichschwebte in seiner Schwarzkammer herein.Die Tür schloss sich hinter ihm wieder.

Wir beide, dachte ich. Nur er und ich.Zwischen uns wird es ausgetragen.

Und ich ahnte, dass nur einer von uns die-sen Ort lebend verlassen würde.

*

Kartnich rollte sich mühselig aus seinerBox. Ich blieb stehen und wartete, bis erzwei Meter vor mir zum Stillstand kam. Sei-ne Lanken knickten ihm unter dem Kugel-leib weg, wenn er nicht schnell genug neuenachschob. Er besaß noch ungewöhnlichviele natürliche Gliedmaßen. Mehr als seineäußerliche Erscheinung aber wunderte esmich, dass er seine Schwarzbox verlassenhatte. Nur in ihr standen ihm alle techni-schen Mittel zur Verfügung, um seine Um-welt zu beeinflussen. Er hatte sie freiwilligaus der Hand gegeben – sollte ich das alseinen Vertrauensbeweis ansehen?

Oder wollte er mich nur in Sicherheit wie-gen? Welchen Trumpf besaß er?

»Du bist also Atlan«, sagte er, langsamund mit schwacher Stimme. »Ich habe dichbeobachtet. Du bist nicht wie die Anstizen.Ich kenne weder dich noch dein Volk, aberes muss eine wichtige, tatkräftige Rassesein.«

»Danke.«»Und sie haben dich geschickt, um mit

mir zu verhandeln.«»Ich habe mich selbst angeboten«, stellte

ich klar.Kartnich richtete einen zitternden Lanken

auf mich. Sein ganzer Leib bebte. Er warwirklich sehr schwach, aber etwas hielt ihnam Leben. Etwas ließ ihn einen titanischenKampf austragen, etwas tief in ihm drin.»Das weiß ich«, sagte er. »Du bist hier, weildu etwas von mir willst. Reden wir nichtlange um die Sache herum, Atlan. Prielsnig

will, dass ich aufgebe, aber er ist nicht be-reit, mir meinen Sterbenswunsch zu erfül-len.«

»Er darf es nicht«, sagte ich.»Ja, ja, das behauptet er. Aber du könntest

es. Ich habe nicht mehr viel Zeit, Atlan, undich weiß nicht, wie lange ich noch ich selbstbin und wann es wieder anfängt. Du bisteinen langen Weg gekommen, um mich zusehen. Du willst etwas von mir. Ich gebe esdir, wenn du mir dafür beim Sterben hilfst.Du musst dafür sorgen, dass ich die volleKontrolle über meine Schwarzkammer be-komme, damit sie mich nicht mehr rettenkann. Das ist mein Angebot. Deshalb habeich dich zu mir kommen lassen.«

»Ich kann dir nicht helfen, dich umzubrin-gen. Aber vielleicht können wir gemeinsamversuchen, den Grund dafür herauszufinden,warum du nicht von selbst sterben kannst, inFrieden, wie die anderen Anstizen.«

Als er schwieg, fügte ich hinzu: »Was inder Bodenwelt geschieht, passiert durchdich, Kartnich – nicht wahr? Du löst es aus.Du hast auch gegen uns gekämpft, dann wie-derum uns geholfen. Warum, Kartnich? Wa-rum handelst du einmal so und einmal an-ders?« Er schwieg.

»Warum richtest du diese Zerstörungenan? Was kämpft in dir, Kartnich? Ist es das,was dich auch am Leben erhält?«

»Hör auf!«, sagte er krächzend.»Nein, Kartnich. Denn wenn du es er-

kennst, kannst du es besiegen – und so dei-nen Frieden finden und sterben. Ist es … Hates etwas mit der Vergangenheit zu tun?«

»Hör auf! Es gibt keine Vergangenheit!«»Natürlich gibt es sie!«, sagte ich scharf.

»Du hast das Hospiz erbauen lassen, vorfünf Millionen Tagen! Dann hast du dichselbst eingewiesen. Warum, Kartnich? Umzu vergessen? Du warst einmal mächtig,dann hast du Dinge erfahren, die wichtigwaren – vielleicht zu wichtig. Bist du des-halb ins Hospiz geflohen? Um zu verges-sen?«

»Schluss!«, rief Kartnich. »Es war einFehler, dich kommen zu lassen! Unser Ge-

44 Horst Hoffmann

spräch ist beendet!«Er machte Anstalten, zurück zu seiner

Kammer zu rollen. Ich ging um ihn herumund versperrte ihm den Weg.

»Was wolltest du vergessen, Kartnich?Was hast du gesehen, das so schlimm war,dass du es nicht ertragen konntest?«

»Geh mir aus dem Weg!«, sagte Kartnichkeuchend. Er zitterte.

»Was hast du einmal gewusst? Was warso furchtbar, dass du es in dir eingekapselthast? Du kannst es verdrängen, Kartnich,aber nicht abtöten. Es ist weiter in dir. Es ar-beitet in dir und lässt dich nicht zur Ruhekommen. Du musst dich ihm stellen, sonstwirst du nie Frieden finden, sondern die In-trawelt zerstören! Quälst du dich deshalb?Willst du dich unbewusst selbst bestrafen füretwas, das einmal gewesen ist?«

»Hör endlich auf!«, kreischte der alte An-stize. Er bebte jetzt so stark, dass ich be-fürchtete, er würde jeden Moment zusam-menbrechen. Doch er bäumte sich auf. Erwar ein Kämpfer. War das sein Verhängnis?Hatte er auch früher um Dinge gekämpft, dienicht für ihn bestimmt waren?

»Du redest so klug«, sagte er stockend.»Aber du weißt gar nichts! Mein Leben hatviel zu lange gedauert, und ich trage dieganze Wahrheit über die Erbauer, der Intra-welt in mir! Ja, ich weiß alles, von ihnenund von ihren schrecklichen Manipulatio-nen!«

»Kartnich …«, sagte ich, aber er ließ sichnicht mehr unterbrechen.

»Die Wahrheit ist so schrecklich und sotraurig für mein Volk, dass mein Wissen mitmir sterben muss, bevor ich nicht mehr ver-hindern kann, dass es … dass ich vollendsdie Kontrolle verliere und es doch nochpreisgebe. Warum wurde ich damals, alsmeine Berufskarriere schon fast zu Endewar, auch nur von dieser schrecklichen Neu-gier und diesem verderblichen Ehrgeiz ge-leitet? Es wäre so viel besser gewesen, hätteich nicht eine der drei Großen Karawanenbeobachten lassen! Ich …«

Er brach abrupt ab. Er zitterte, rollte sich

hin und her, immer wieder einknickend. Erwar wie ein Ball, aus dem langsam die Luftentwich. Ich konnte deutlich spüren, wie ersich quälte. Was waren die drei Großen Ka-rawanen? Was war daran so schrecklich?Und wusste er wirklich alles über die Erbau-er der Intrawelt?

»Kartnich, was weißt du über den Flam-menstaub? Warum muss er vom Rest desUniversums fern gehalten werden? Wer hatdie Intrawelt erbaut? In wessen Auftrag?«

Er gab keine Antwort. Ich machte mirschon wieder Vorwürfe und bereute die Fra-gen. »Du bist nicht verantwortlich«, sagteich. »Das, was in dir ist, will, dass du uns tö-test, damit wir deine Geschichte nie erfah-ren. Aber es quält dich schon länger. Seit dieZwischenfälle begannen. Und auf einmalfällt dir auf, dass Fremde in die Bodenweltgekommen sind, du hattest uns also ent-deckt. Dann hast du unseren Weg verfolgt,weil du befürchtetest, wir hätten vor, deinGeheimnis zu rauben. Deshalb die Gewalt.Um uns zu vernichten, riskierst du sogar dieZerstörung deines Hospizes. Was in dir ist,will nur zerstören, Kartnich, aber es ist deineVerzweiflung. Wenn du du selbst bist, willstdu sterben, um es zu beenden. Damit dasAndere mit dir stirbt. Habe ich Recht?«

»Ja«, wisperte er.»Dann erkenne es! Was ist es? Erkenne

es, und du kannst es besiegen – und in Frie-den sterben.«

War es der unbändige Wunsch, sich füretwas zu bestrafen, was er einmal getan hat-te? Hatte sich dieser Wunsch verselbständigtund ihn unbewusst all die schrecklichenDinge tun lassen, die im Angriff der Roboterauf das Hospiz gipfelten? Und nun – war esvielleicht schon zerbrochen, starb es, hierund jetzt, ohne dass ich die Antworten aufmeine Fragen bekam?

Hatte ich das Hospiz vielleicht schon ge-rettet, nur um selbst mit leeren Händen da-zustehen?

»Kartnich«, sagte ich eindringlich.»Kannst du mich hören?«

»Ja.« Seine schwache Stimme war kaum

Die Architekten der Intrawelt 45

noch wahrzunehmen.»Ich hätte jetzt gern meine Freunde bei

mir.«Das stimmte. Ich fühlte mich allein und

ratlos. Ich wusste nicht, was ich von Jolo er-warten sollte. Immerhin, er hatte in einigenkniffligen Situationen schon durch Bemer-kungen oder Hinweise den Ausschlag gege-ben. Und Tuxit?

Vielleicht war es Intuition. Ich weiß bisheute nicht, ob ich Kartnich noch einmal ge-beten hätte, die Tür für die beiden Gefährtenzu öffnen. Doch er tat es. Er griff mit einemKunstlanken in sein Haarkleid und holte einkleines Gerät hervor, das er bisher darin ver-steckt hatte.

Er richtete es auf die Tür. Hätte ich ihnzurückgehalten, wenn ich gewusst hätte, wasgleich darauf geschehen würde? Hätte ichmich anders entschieden und anders gehan-delt?

13.Kartnich

Wogen der Panik brandeten gegen seinenVerstand – das, was davon übrig gebliebenwar. Er wusste nicht mehr, was er denkensollte. Er wusste nicht, ob er überhaupt den-ken sollte. Fast wünschte er sich, dass dasAndere wieder käme und ihn erlöste und be-freite. Nicht mehr sprechen, nichts mehr hö-ren; keine Fragen, keine Antworten und kei-ne Erinnerungen, die mit Macht an die Ober-fläche gespült wurden. Er war nahe daran,alles zu verraten. Er konnte es nicht mehrbei sich behalten, nicht mehr allein die gan-ze, furchtbare Last tragen. Etwas in ihmwollte es herausschreien und ihm ein für alleMal Luft verschaffen. Andererseits sträubteer sich mit allem dagegen, was er noch anKraft aufzubieten hatte – und das war nichtmehr viel.

Und das wiederum Andere in ihm …Er spürte es nicht. Es war da, doch es reg-

te sich nicht. Es war wie gelähmt, wie erselbst.

Hatte der Fremde Recht gehabt? Wie

konnte er dann weiterleben, ohne noch mehrSchuld auf sich zu laden?

Aber er wollte es ja nicht! Sah Atlannicht, dass er sterben musste? Warum ver-half er ihm nicht dazu? Wieso war es soschwer, Erbarmen zu zeigen? Warum ließensie seine Qualen zu?

Er bestand darauf, dass sie alle drei ka-men. Ein Teil von ihm hatte gehofft, wenig-stens einer von Atlans Freunden würde ihntöten. Ein anderer Teil wollte, dass sie star-ben, und zwar alle. Dann hatte er jedoch ge-zögert, denn einer von ihnen …

Er musste sich täuschen. Die Bilder, dieihm die optischen Systeme des Hospizes lie-ferten, waren nicht wie ein Bild, das er sichmit den Optikfäden seiner Lanken machte.Und dennoch hatten sie gereicht, um ihn zuerschüttern. Die Ähnlichkeit war so verblüf-fend – aber es konnte nicht sein! Es war un-möglich.

Etwas in ihm glaubte das, eine andereHälfte nicht. Die Zweifel waren da. Was,wenn er sich nun nicht irrte? Wenn er nunauch vor diesem Gespenst floh? Er war desFliehens so müde …

Nein. Sie waren zusammen gekommen,drei Fremde, drei Wanderer, einfache Be-wohner der Intrawelt. Die Ähnlichkeit mus-ste Zufall sein. Er redete es sich ein und ver-suchte, sein inneres Gleichgewicht wieder-zufinden. Aber er spürte, wie es ihn zerriss.

Er hatte befohlen, dass Atlan allein käme.Er hatte geglaubt, mit Atlan fertig zu wer-den, doch jedes Wort des Fremden war wieein glühender Pfeil gewesen, der sich tief inseine Seele bohrte. Atlan hatte ihn in die En-ge getrieben. Er bekam keine Luft mehr.Weshalb quälte er ihn? Wieso machte ernicht ein Ende mit ihm? Was musste er dennnoch tun? Was musste er ihm geben, vondem abgesehen, was er nie offenbaren durf-te?

Und genau das wollte Atlan. Deshalb warer gekommen. Und wenn er so weitermach-te, würde er es auch bekommen. Kartnichwar am Ende. Er glaubte nicht, dass er nochlange Widerstand leisten konnte.

46 Horst Hoffmann

Im Hospiz und außerhalb warteten dieRoboter auf die Befehle seines anderen Ichs.Sie würden wieder angreifen, wenn diesesAndere wieder von ihm Besitz ergriff. Unddas würde geschehen, wenn er Atlan jetzt tö-tete.

Er fühlte den kleinen Befehlsgeber unterseinen Haaren. Ein Signal an die Schwarz-kammer, und Atlan würde sterben.

Aber er war kein Mörder! Andererseits …Er würde sein Geheimnis verraten, wenn

er ihn nicht tötete. Und das bedeutete viel-leicht so viel Tod und Leid, wie er es sichnicht einmal vorstellen konnte.

Was sollte er tun? Wie er sich auch ent-schied, es würde furchtbar sein.

Helft mir doch!, schrie es lautlos in ihm.Irgendjemand, helft mir!

In diesem Augenblick bat Atlan, dass erseine Freunde, die auf seine Anweisung hindraußen warteten, zu ihnen hereinließe.

War das die Antwort?Sollte er es so kommen lassen, wie es

vielleicht kommen musste? Wenn er sichnicht irrte und das Ungeheuerliche wahrwar?

Kartnich riss sich noch einmal zusammen,ein letztes Mal. Vielleicht war danach alleszu Ende. Vielleicht hatte es von Anfang anso kommen müssen, und er fand seine Erlö-sung.

Kartnich zog den Befehlsgeber aus sei-nem Haarkleid hervor und richtete ihn aufdie Tür. Dann betätigte er ihn.

14.Atlan

Zuerst kam Jolo. Er sah mich an, blicktehinab auf den alten Anstizen, verzog denMund und fragte: »Und das ist er? Dieses ar-me Häufchen Elend dort? Vor dem habenwir alle gezittert? Du hast es ihm gegeben,was, Atlan?«

Ich antwortete nicht, sondern wartete aufTuxit. Warum zögerte er?

»Tuxit?«, rief ich.»He, Tuxit!«, polterte Jolo. »Was ist, hast

du Wurzeln geschlagen?«Er kam, langsam, einen Schritt nach dem

anderen. Ich verstand das nicht, bis ich vonihm wieder zu Kartnich sah. Der Anstizehatte sich aufgerichtet. Seine Lanken warensteif, zitterten, knickten und strafften sichwieder. Jetzt schimmerte sein Kugelkörper,als würde er unter dem Haarkleid Flüssigkeitabsondern – ein anstizisches Pendant zumenschlichem Schweiß?

Wovor hatte er solche Angst? Er hatte be-reits alles verloren. Was konnte ihn jetztnoch entsetzen, das Wesen, das die Hölle insich selbst trug?

»Komm«, hört ich ihn plötzlich flüstern.Er streckte einen Kunstlanken ganz weit aus,in Tuxits Richtung. »Komm … näher …«

Seine brüchige Stimme bebte. Es gab kei-nen Zweifel mehr: Er sonderte stark Flüssig-keit ab. Sein Kugelkörper hatte sich in leich-te Schwingungen versetzt. Wie eine Spinneim Netz. Er hielt den Lanken starr auf Tuxitgerichtet. An seinem Ende befanden sichfeine Fäden.

Und Tuxit kam schleichend. Hatte erAngst? Nein, dachte ich, es war Vorsicht.Was wusste er? Was wussten die beiden?Was spielte sich hier ab und degradierte Jolound mich zu Statisten?

Tuxit blieb stehen, drei Meter vor Kart-nich. Der Anstize bebte jetzt so stark, dassich befürchtete, er musste jeden Augenblickplatzen. Aber er winkte mit einem anderenLanken. »Komm! Noch … näher!«

Ich ahnte die Worte mehr, als dass ich siewirklich hörte. Tuxit machte einen weiterenSchritt, dann einen letzten. Endlich stand ervor Kartnich. Der uralte Anstize rollte sichmit letzter Kraft einige Zentimeter auf ihnzu, bis er ihn mit dem Kunstlanken berührenkonnte.

Für einen scheinbar unendlich langen Mo-ment verharrte er in dieser Haltung. Das Be-ben seines Körpers hatte aufgehört. Ein paarSekunden lang herrschte vollkommene Stillein dem Raum, in den Kartnich uns bestellthatte, um mit uns über seinen Tod zu ver-handeln.

Die Architekten der Intrawelt 47

Dann zuckte er zurück, rollte einen Meternach hinten, blieb stehen und stieß einenSchrei aus, wie ich ihn nie wieder hörenwollte. Seine kreischende, gequälte Stimmefuhr mir durch Mark und Bein. Kartnichschrie auch noch, als sein Körper schlaffwurde wie ein Ballon, aus dem man die Luftherausgelassen hatte. Alle Lanken knicktenein und zogen sich an diese kraftlose Hüllezurück. So lag er dort vor uns, in der Mittedes Würfels – wie tot, aber er zuckte noch.Ich wusste nicht, was er gesehen hatte, aberes musste die Qualen, die er innerlich litt,noch vervielfacht haben. Ich spürte das Mit-leid mit dieser armen, leidenden Kreatur wieeinen dicken Kloß im Hals.

Doch selbst jetzt schien der Anstize nichtsterben zu dürfen. Auch jetzt, in seinem un-ermesslichen Schmerz, blieb ihm die Erlö-sung versagt.

Die Schwarzbox, die wie ein stummerWächter hinter ihm geschwebt hatte, setztesich auf ihn zu in Bewegung. Lange stähler-ne Tentakel fuhren aus ihr heraus und woll-ten nach ihm greifen.

Ich wusste, was das bedeutete. Und ichwusste jetzt, was ich zu tun hatte.

*

Bist du verrückt geworden?, schrie derExtrasinn in mir. Bleib stehen, du Narr! Haltdich da raus! Das ist nicht deine Sache, unddu brauchst die Antworten!

Ich beachtete ihn nicht. Mein Entschlussstand fest. Die Schwarzkammer war jetztfast über Kartnich, einem zitternden, feuch-ten, jämmerlich winselnden Etwas. Ich wus-ste, dass sie darauf programmiert war, seinLeben zu erhalten, und genau das würde sieversuchen. Kartnich retten, ihn zurückholenin eine Welt, die er nicht ertrug. Ich wusstenicht, was hier geschehen war, zwischenihm und Tuxit. Ich wusste nur: Wenn ichjetzt tat, was ich glaubte, tun zu müssen,würde ich weiterhin nach einer Antwort aufmeine bohrenden Fragen suchen. Ich würdeneu anfangen müssen, eine neue Spur fin-

den.Dabei kannst du die Antworten hier ha-

ben!, protestierte der Extrasinn. Komm zurVernunft! Lass geschehen, was geschehenmuss! Es geht dich nichts an!

Und ob es das tut!, dachte ich voller Bit-terkeit und richtete das von Prielsnig erhalte-ne Steuergerät auf die Schwarzbox, dieschräg über Kartnich hing wie ein Käfig, derihn wieder einfangen wollte.

Hör auf!, schrie der Extrasinn. Du zer-störst alles! Denk an deine Verantwortung!

Das tat ich. Ich dachte an meine Verant-wortung dem Leben gegenüber – und derWürde des Lebens.

Ich desaktivierte die Schwarzbox. Ichwartete, bis sie die Tentakel einzog und vonKartnich zurückwich.

Was hast du getan!Ich ging zu dem Anstizen, kniete vor ihm

nieder und streckte die Hand nach ihm aus,bis ich einen seiner Lanken zu fassen be-kam. Ich hob das schlaffe Glied hoch undhielt es wie die Hand eines Sterbenden.

Ich wusste, dass er mich ansah. Ich stelltemir einen Menschen mit langsam erlöschen-den Augen vor und bildete mir ein, so etwaswie ein seliges Lächeln auf seinem Gesichtzu sehen. Kartnich konnte nicht lächeln;nicht in unserem Sinn. Aber er konnte nochsprechen. Wie er das schaffte, wusste ichnicht, aber ich hörte seine gehauchten Wor-te.

»Warum …«, sagte der uralte Anstize mitkaum noch zu verstehender, brüchiger Stim-me, »hast du mir diese Fragen gestellt? Wes-halb … bist du extra zu mir gekommen,wenn du …«

»Ja, Kartnich. Ich höre dich.«Sein schlaffer Körper zuckte. Er gab Lau-

te von sich, die sich anhörten wie Husten.Noch einmal fühlte ich seinen Blick.»… wenn du ohnehin jemanden bei dir

hast, der … sie dir viel besser beantwortenkann?«

Mit diesen Worten ging ein letzter Ruckdurch seinen Leib. Kartnichs Körper er-schlaffte vollends, alle Lanken außer dem

48 Horst Hoffmann

einen, den ich hielt, lagen am Boden.

15.Atlan

Kartnich war tot. Das Zerstörerische inihm war mit ihm gestorben. Das Hospiz unddie Bodenwelt waren gerettet. Er würde ih-nen keinen Schaden mehr zufügen. Die Ro-boter würden an ihre Plätze und zu ihrenAufgaben zurückkehren, die Schäden amHospiz würden repariert werden, und alleskonnte wieder seinen gewohnten Gang ge-hen. Wirklich?

Ich stand langsam auf und drehte mich zuden Freunden um. Beide schwiegen, selbstJolo enthielt sich jeglichen Kommentars.Mein Extrasinn verzichtete auf jegliche Vor-würfe, wofür ich ihm dankbar war. Ich wus-ste es ja selber: Ich hatte eine vielleicht niewiederkehrende Chance vertan, mehr überden Flammenstaub zu erfahren. Doch ichbereute es nicht. Ich wusste, ich hätte wiederso gehandelt. Ich hatte einem gequälten We-sen, das unendliches Leid gelitten hatte, sei-nen Frieden geschenkt. Ob das nun Sterbe-hilfe oder Gnade gewesen war, darüber soll-ten einmal andere urteilen. Für mich war esgut, war es richtig.

Aber was hatten Kartnichs letzte Worte zubedeuten?

Ich sah Tuxit an. Von keinem anderenkonnte Kartnich soeben gesprochen haben.Tuxits Verhalten unterstrich es. Er war meinFreund. Wir hatten einiges zusammendurchgemacht, aber dadurch stand ich nichtso in seiner Schuld, um mich weiter mitAusflüchten – wenn es die wenigstens gege-ben hätte! – und seinem Schweigen abzufin-den.

»Du wirst jetzt den Schnabel aufmachenund reden!«, sagte ich scharf. Es war nichteinmal gespielt. Ich war wütend, wütend aufmich, weil ich etwas hatte tun müssen, wes-wegen ich mir trotz allem Vorwürfe machenwürde, und wütend auf Tuxit, von dem ichmich an der Nase herumgeführt fühlte. Ichtrat einen Schritt näher. »Rede jetzt, Tuxit!

Und ich will keine Geschichten hören, son-dern die Wahrheit! Verdammt, Tuxit, es istbitterer Ernst!« Doch auf einmal bemerkteich, wie perlende Tränen über sein zerrupf-tes Federkleid rollten. Tuxit senkte denKopf, und sie tropften auf den Boden. »Daswollte ich nicht«, sagte er mit klagender,halb erstickter Stimme. »Ich wollte es nicht,das musst du mir glauben. Aber anscheinendkann ich meinem Schicksal nicht entgehen.«

»Was heißt das?«, fragte ich hart. Es ko-stete mich schon wieder Mühe, den Unnach-giebigen zur Schau zu stellen, aber wenn ichdiese Chance nicht nützte, dann erfuhr ichTuxits Geheimnis vielleicht nie. Und ichhatte gerade schon ein Geheimnis ver-schenkt.

Tuxit hob wieder den Kopf. Sein gesam-ter Körper straffte sich. Er sah Jolo an, derihn mit großen Augen und offenem Mundanstarrte, und forderte ihn auf, die Vernä-hung seiner Arme durchzubeißen.

»Vernähung?«, fragte ich. »Ja«, sagte er.»Sie sind mir auf dem Rücken festgenähtworden.«

Jolo sah von ihm zu mir. Ich wusste nicht,was Tuxit bezweckte, aber ich nickte.

»Eigentlich mache ich mir nicht viel ausGeflügelroulade …«

Widerstrebend begab sich unser Hunger-leider zu dem zweimal so großen Wesen undtat, was dieses von ihm wünschte. Es kosteteihn sichtlich Mühe, doch schließlich warenTuxits Arme frei. Er breitete sie aus undschlug mit ihnen, um die Durchblutung an-zuregen und wieder ein Gefühl für sie zu be-kommen. Dann wandte er sich wieder anmich und sagte: »Bitte vertraue mir, Atlan.Gib mir das Cueromb!«

»Wozu?«, fragte ich, wieder misstrauischgeworden. Was wollte er ausgerechnet mitdiesem Gerät, das ich aus Peonus Besitz hat-te und das dieser selbst irgendwo hatte mit-gehen lassen? Mir fielen die Blicke wiederein, die er ihm zugeworfen hatte.

»Vertraue mir bitte. Versuche es wenig-stens.«

Ich seufzte und reichte es ihm – und unter

Die Architekten der Intrawelt 49

meinen prüfenden Blicken schlüpfte er mitseinem rechten Armstummel in die Fassungdes Multifunktionsgeräts. Im nächsten Mo-ment stieß er einen wohligen Seufzer aus.Das Cueromb passte ihm wie an den Leibgegossen – oder geschmiedet.

Meine innere Anspannung wurde schierunerträglich. »Was, Tuxit?«, fragte ich.»Was bedeutet das alles?«

Und er antwortete, mit voller, kräftigerStimme, die plötzlich viel selbstbewussterwirkte, wobei ihr dennoch weiter ein Hauchvon Melancholie anhaftete: »Es wird Zeit,dass ich nach Hause zurückkehre, Atlan. Ichhabe es viel zu lange vor mir hergescho-ben.«

In mir schrillten die Alarmglocken. Ichhatte für einen Moment das Gefühl, dass der

Boden unter mir wegglitt.»Wer bist du, Tuxit? Wer bist du wirk-

lich?«»Mein Name ist Tuxit, das stimmt«, ant-

wortete er. Seine Stimme klang feierlich, alshätte er sehr lange auf diesen Augenblickwarten müssen. »Tuxit vom Stamm der As-poghies, vom Volk der Rhoarxi. Früher ein-mal«, er machte eine Pause, sah Jolo undmich an, »früher einmal, vor langer Zeit, ge-hörte ich zu den Hütern des Flammenstaubs…«

ENDE

E N D E

Das Symbol der Flammevon Arndt Ellmer

Tuxits Offenbarung schlägt bei Atlan ein wie eine Bombe. Endlich – so scheint es – kommtder Arkonide seinem Ziel einen bedeutenden Schritt näher. Der Rhoarxi wird ihn in das Ge-heimnis des Flammenstaubs einweihen und ihn an den Ort führen, an dem die sagenumwobe-ne Substanz lagert.

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