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Juniorprofessor Dr. Osman Isfen Die Befangenheit des dealendenRichters * Osman Isfen: Privatdozent und Inhaber der Juniorprofessur für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Ruhr-Universität Bochum Die gesetzliche Regelung der Verständigung im Strafverfahren gehört ohne Zwei- fel zu den am meisten angegriffenen Weichenstellungen im deutschen Strafpro- zess überhaupt. Sie hat nur wenige zaghafte Unterstützer gefunden, dafür aber reichlich Kritik hervorgerufen, die sogar teilweise ungewöhnlich emotionsgela- den war. Die Fülle und Heftigkeit des Widerspruchs könnten dabei einem Außen- stehenden gelegentlich den Eindruck vermittelt haben, dass hier eine Umwälzung von oben erfolgt sei, die ein reibungslos funktionierendes System der Amtsauf- klärung und der schuldangemessenen Bestrafung von heute auf morgen über Bord wirft und einen strafrechtlichen Parteienprozess einführt. Es ist hinreichend bekannt, dass dem nicht so ist. Der Deal wie die Verständigung auch (abschät- zig) bezeichnet wird 1 gehört schon seit Jahrzehnten zu den Alltagserscheinun- gen des Strafprozesses; der Versuch, ihm ein gesetzliches Korsett zu verpassen, war zwar notwendig und seit längerem höchstrichterlich angemahnt 2 , aber auch gleichzeitig zum Scheitern verurteilt, wenn man sich allein dadurch rechtsstaatli- che Zustände erhofft hatte. An dieser Stelle ist nicht beabsichtigt, einen weiteren Generalangriff gegen die Verständigung im Strafverfahren zu starten. Vielmehr soll der Blick geschärft werden für einen Aspekt, der eigentlich auf der Hand zu liegen scheint, aber dennoch (oder gerade deshalb?) bisher relativ wenig Beach- tung gefunden hat: Die Befangenheit des dealendenRichters. Der Gesetzgeber hat die Suche nach Verständigung in allen Kernbereichen des gerichtlichen Verfahrens vorgesehen, also beginnend mit der Phase vor Zu- lassung der Anklage (§202a StPO) über das Stadium der Vorbereitung des Haupt- verfahrens (§212 StPO) bis hin zur Hauptverhandlung (§257b StPO). Daher bietet * Der Beitrag ist die um ausgewählte Nachweise ergänzte Fassung des Habilitationsvortrags, den der Verf. am 5.12.2012 vor dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe- Universität Frankfurt am Main gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 1 Vgl. zur Terminologie Meyer-Goßner, StPO, 56.Aufl. 2013, §257c Rdn.4, der den Begriff des Dealsfür informelle, insbesondere heimliche Absprachen verwendet; ebenso BVerfG NJW 2013, 1069. Siehe ferner Jahn, StV 2011, 500. 2 BGHSt. 50, 40ff. DOI 10.1515/zstw-2013-0015 ZSTW 2013; 125(2): 325338 Bereitgestellt von | Columbia University Angemeldet Heruntergeladen am | 10.10.14 04:49

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Juniorprofessor Dr. Osman Isfen

Die Befangenheit des „dealenden“ Richters*

Osman Isfen: Privatdozent und Inhaber der Juniorprofessur für Strafrecht und Strafprozessrechtan der Ruhr-Universität Bochum

Die gesetzliche Regelung der Verständigung im Strafverfahren gehört ohne Zwei-fel zu den am meisten angegriffenen Weichenstellungen im deutschen Strafpro-zess überhaupt. Sie hat nur wenige zaghafte Unterstützer gefunden, dafür aberreichlich Kritik hervorgerufen, die sogar teilweise ungewöhnlich emotionsgela-den war. Die Fülle und Heftigkeit des Widerspruchs könnten dabei einem Außen-stehenden gelegentlich den Eindruck vermittelt haben, dass hier eine Umwälzungvon oben erfolgt sei, die ein reibungslos funktionierendes System der Amtsauf-klärung und der schuldangemessenen Bestrafung von heute auf morgen überBord wirft und einen strafrechtlichen Parteienprozess einführt. Es ist hinreichendbekannt, dass dem nicht so ist. Der Deal – wie die Verständigung auch (abschät-zig) bezeichnet wird1 – gehört schon seit Jahrzehnten zu den Alltagserscheinun-gen des Strafprozesses; der Versuch, ihm ein gesetzliches Korsett zu verpassen,war zwar notwendig und seit längerem höchstrichterlich angemahnt2, aber auchgleichzeitig zum Scheitern verurteilt, wenn man sich allein dadurch rechtsstaatli-che Zustände erhofft hatte. An dieser Stelle ist nicht beabsichtigt, einen weiterenGeneralangriff gegen die Verständigung im Strafverfahren zu starten. Vielmehrsoll der Blick geschärft werden für einen Aspekt, der eigentlich auf der Hand zuliegen scheint, aber dennoch (oder gerade deshalb?) bisher relativ wenig Beach-tung gefunden hat: Die Befangenheit des „dealenden“ Richters.

Der Gesetzgeber hat die Suche nach Verständigung in allen Kernbereichendes gerichtlichen Verfahrens vorgesehen, also beginnend mit der Phase vor Zu-lassung der Anklage (§ 202 a StPO) über das Stadium der Vorbereitung des Haupt-verfahrens (§ 212 StPO) bis hin zur Hauptverhandlung (§ 257 b StPO). Daher bietet

* Der Beitrag ist die um ausgewählte Nachweise ergänzte Fassung des Habilitationsvortrags, dender Verf. am 5. 12. 2012 vor dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt amMain gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten.1 Vgl. zur Terminologie Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 257 c Rdn. 4, der den Begriff des„Deals“ für informelle, insbesondere heimliche Absprachen verwendet; ebenso BVerfG NJW 2013,1069. Siehe ferner Jahn, StV 2011, 500.2 BGHSt. 50, 40 ff.

DOI 10.1515/zstw-2013-0015 ZSTW 2013; 125(2): 325–338

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sich nachfolgend eine Darstellung entsprechend der jeweiligen Stadien an, wobeigewisse Überschneidungen in der Natur der Sache liegen.

I. Suche nach Verständigung vor Zulassung derAnklage (§ 202 a StPO)

1. Befangenheitsfördernde Struktur des Zwischenverfahrens

Bekanntlich steht das Zwischenverfahren an sich schon seit jeher in der Kritik, derBefangenheit des Richters Vorschub zu leisten, der zunächst durch Zulassung derAnklage das Hauptverfahren eröffnet und danach in derselben Sache entscheidet.Konzeptionell dient das Zwischenverfahren der richterlichen Prüfung, ob nachAbschluss des Ermittlungsverfahrens hinreichende Verdachtsgründe für das Vor-liegen einer Straftat gegeben sind. Diese „negative Kontrollfunktion“3 soll denSchutz des Beschuldigten vor ungerechtfertigten Hauptverhandlungen gewähr-leisten: Er braucht die Strapazen einer stigmatisierenden, zeitraubenden, psy-chisch wie finanziell belastenden Strafgerichtsverhandlung nur dann auf sich zunehmen, wenn durch ein unabhängiges Gericht als neutrale Instanz festgestelltwird, dass er der Tat gemäß § 203 StPO hinreichend verdächtigt ist, d. h. aufGrund des Ergebnisses der Ermittlungen bei vorläufiger Tatbewertung eine Ver-urteilung zu erwarten ist4.

Allerdings sieht die Kehrseite eines solchen vorgeschalteten Schutzmecha-nismus so aus, dass eine Vorbefassung des Richters mit der noch abzuurteilendenSache stattfindet. Dass bereits im Eröffnungsbeschluss das Vorliegen eines hin-reichenden Tatverdachts bejaht und im Anschluss daran bei gleicher richterlicherBesetzung die Hauptverhandlung durchgeführt wird, stellt aus Sicht eines Be-schuldigten einen Umstand dar, der für ihn mit der Annahme verbunden seinkann, dass er praktisch schon vorverurteilt ist, und zwar allein nach Aktenlage.Legt sich also der Richter noch vor Eintritt in die Hauptverhandlung auf eineüberwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit fest, so stellt sich die Frage, ob erals unbefangen angesehen werden kann.

Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit setzt gemäߧ 24 Abs. 2 StPO einen Grund voraus, „der geeignet ist, Misstrauen gegen dieUnparteilichkeit eines Richters zu begründen.“ Hier kommt es nicht darauf an,

3 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 42 Rdn. 2.4 BGHSt. 29, 229.

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dass der betreffende Richter tatsächlich befangen ist: Das Gesetz spricht nicht vonder Befangenheit des Richters, sondern von der Besorgnis der Befangenheit. Irrele-vant ist daher auch die Frage, ob sich eine Befangenheit in der konkreten Situationempirisch überhaupt nachweisen lässt. Entscheidend ist vielmehr, ob nachvoll-ziehbare Umstände vorliegen, die dem Ablehnenden von seinem Standpunkt ausbegründeten Anlass geben, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln5. Dasdürfte hinsichtlich der richterlichen Bejahung der überwiegenden Verurteilungs-wahrscheinlichkeit im Zwischenverfahren regelmäßig zu bejahen sein.

Anders wäre zu entscheiden, wenn die Möglichkeit einer friedlichen Koexis-tenz des Zwischen- und des Hauptverfahrens untereinander existierte. Das istindessen nicht der Fall. Schon im Ausgangspunkt fällt auf, dass die Strafprozess-ordnung in anderen Fällen der Vorbefassung mit der abzuurteilenden Sacheeinen strikten Ausschluss des Richters vorsieht. So ist beispielsweise ein Richtergemäß § 22 Nr. 4 und 5 StPO von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzesausgeschlossen, wenn er in der Sache als Beamter der Staatsanwaltschaft, alsPolizeibeamter, als Anwalt des Verletzten bzw. als Verteidiger tätig war, oderwenn er in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen wurde. Ebensodarf nach § 23 StPO ein Richter, der bei einer durch ein Rechtsmittel angefochte-nen Entscheidung mitgewirkt hat, nicht an der anschließenden Entscheidung ineinem höheren Rechtszug mitwirken. Gleiches gilt für das Wiederaufnahmever-fahren. Schließlich hat nach § 354 Abs. 2 StPO das Revisionsgericht bei Auf-hebung des Urteils die Sache „an eine andere Abteilung oder Kammer desGerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehö-rendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen“6. Demgegenübersoll es aber unschädlich sein, dass der Richter noch vor Eintritt in die Haupt-verhandlung und allein nach Aktenlage eine überwiegende Verurteilungswahr-scheinlichkeit feststellt und die Durchführung des Hauptverfahrens durch seinenEröffnungsbeschluss (erst) ermöglicht7.

Als Sicherheitsventil bleibt hier allein die Ablehnung wegen Besorgnis derBefangenheit. In der Praxis stehen indes die Chancen für eine erfolgreiche Ableh-nung eines Richters nicht allzu hoch, denn die Rechtsprechung hat im Laufe derZeit „die richterliche Unvoreingenommenheit zum Normalzustand erhoben, andem Zweifel unangebracht sind“8. Bereits in der reichsgerichtlichen Rechtspre-chung findet sich die unerschütterliche Grundüberzeugung, dass die Beteiligten

5 Siolek, in: Löwe-Rosenberg, Band 1, 26. Aufl. 2006, § 24 Rdn. 5 m. w. N. Instruktiv zu verschie-denen Aspekten der richterlichen Befangenheit Krekeler, NJW 1981, 1633.6 Hervorhebungen durch denVerfasser.7 Entsprechend kritisch auch das Sondervotum in BVerfG NJW 1971, 1031.8 Ignor, ZIS 2012, 228.

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mit der „gewissenhaften Erfüllung“ der Pflicht des Richters bei einer Vorbefassungrechnen können, „sich in einem neuen Verfahren, in dem es wieder auf die Beur-teilung derselben Vorgänge ankommt, sein Urteil unbefangen und auf Grund desin dem neuen Verfahren vorgetragenen Beweisstoffs zu bilden“9. Anders soll essich lediglich dann verhalten, wenn „besondere Umstände“ hinzutreten, „die überdie Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und die damit notwendig verbunde-nen inhaltlichen Äußerungen sowie die übrigen genannten Aspekte hinausgehen.Dies kann etwa der Fall sein, wenn Äußerungen in früheren Urteilen nach derSachlage unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über einen der jetzigenAngeklagten enthalten oder wenn ein Richter sich bei einer Vorentscheidung insonst unsachlicherWeise zumNachteil des Angeklagten geäußert hat.“10

Bei näherer Betrachtung bestehen allerdings gewichtige Gründe zur Annah-me, dass Misstrauen gegen den eröffnenden und zugleich erkennenden Richterbegründet ist, er werde nicht unparteiisch entscheiden. Im Kern liegt es in derengen Parallelität der Prüfungspunkte begründet, dass das Ergebnis des Zwi-schenverfahrens auf das Hauptverfahren abfärbt: Vor der Eröffnung des Haupt-verfahrens hat das Gericht gemäß § 203 StPO das Vorliegen eines hinreichendenTatverdachts zu bejahen. Dies geschieht in der Weise, dass es – bei Annahme derBeweisbarkeit in der Hauptverhandlung – die Strafbarkeit des anklagegegen-ständlichen Verhaltens bejahen muss: „Dies sind exakt die Fragen, die auch daserkennende Gericht zu prüfen und zu bejahen hat, wenn es den Angeklagtenverurteilen will. Die vom eröffnenden Gericht vorzunehmende Prüfung entsprichtalso der Prüfung, die das erkennende Gericht bei der Urteilsfällung vorzunehmenhat. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Prüfung im Zwischenverfah-ren nach Aktenlage erfolgt, während das erkennende Gericht allein nach demErgebnis der Hauptverhandlung zu entscheiden hat (§ 261 StPO).“11 Diese struktu-relle Deckung der materiellen Prüfungspunkte im Zwischen- und Hauptverfahren

9 RGSt. 59, 409 f. In BVerfG NJW 1971, 1030 wird auf diese Passage wörtlich Bezug genommen.Siehe ferner BGH NStZ 2011, 46. Die überwiegende Literatur pflichtet dieser Linie bei, vgl. Beulke,Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rdn. 74.10 BGHSt. 50, 221 f. Ferner BGHSt. 48, 8: Besorgnis der Befangenheit zu bejahen, wenn Zwischen-entscheidungen „abwegig sind oder sogar den Anschein der Willkür erwecken. Auch kann sichdie Befangenheit daraus ergeben, dass das Verhalten des Richters vor der Hauptverhandlungbesorgen lässt, er werde nicht mehr unvoreingenommen an die Sache herangehen, indem er etwadeutlich zum Ausdruck bringt, er sei bereits vorher von der (vollen) Schuld des Angeklagtenendgültig überzeugt.“11 Wohlers, in: Festschrift für Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 1324, der darüber hinaus nichtnur das Ausmaß der Festlegung durch den Eröffnungsbeschluss (geringe Freispruchsquote in derPraxis) betont (S. 1324 ff.), sondern auch die Unvereinbarkeit des deutschen Zwischenverfahrensmit der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hervorhebt (S. 1318 ff.).

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führt zu einer „institutionell bedingten Voreingenommenheit“12 des Richters.Untersuchungen von Schünemann über das unterschiedliche Entscheidungsver-halten der Richter, die ihre Überzeugung einmal mit und ein anderes Mal ohnevorherige Aktenkenntnis gebildet haben, unterstützen die Annahme einer sol-chen tendenziellen Voreingenommenheit bei Vorbefassung13.

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass das Zwischenverfahren kon-zeptionell eine Verdachtsprüfung durch eine neutrale Instanz darstellen soll, dieaber ihrer Struktur nach einer Schuldfeststellung nahekommt. Die Bejahung derüberwiegenden Verurteilungswahrscheinlichkeit durch später im Hauptverfahrentätige Richter führt dazu, dass der Beschuldigte berechtigte Zweifel an der Unpar-teilichkeit der Richter hegen darf. Unabhängig von der sogleich zu behandelndenFrage der verfahrensfördernden Erörterungen nach § 202 a StPO sollte in dieserHinsicht eine Umstellung der Weichen in Erwägung gezogen werden: Wie injüngster Zeit wiederholt von Wohlers gefordert14, besteht die vorzugswürdigeOption darin, das eröffnende und das erkennende Gericht voneinander zu tren-nen15. Die Reichsstrafprozessordnung von 1877 ging von diesem Modell aus16, dasauch in der modernen Literatur namhafte Unterstützer gefunden hat, wie bei-spielsweise Roxin, der diese Forderung vor fast 40 Jahren erhoben hat17. Soweitman den damit einhergehenden erhöhten Personalaufwand als Hindernis an-

12 Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1997, 144; ebenso bezüglich desVerständigungsverfahrens ders., in: Löwe-Rosenberg, Band 6/2, § 257 c Rdn. 14, 16 (Verletzungder Unschuldsvermutung). Siehe auch Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rdn. 622.1, der inder Struktur des Zwischenverfahrens eine „institutionelle Gefährdung der Unschuldsvermutung“erblickt.13 Schünemann, Experimentelle Untersuchungen zur Reform der Hauptverhandlung in Strafsa-chen, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätskontrolle, Bd. II,1983, 1116 ff., 1131 ff., 1145 ff.; ferner ders., StV 2000, 159 ff.14 Wohlers, Festschrift für Roxin zum 80. Geburtstag, S. 1327.15 Für eine solche Trennung spricht im Übrigen auch die Regelung der zivilrichterlichen Media-tion, bei der ein strikter Ausschluss des an einer außergerichtlichen Streitbeilegung beteiligtenRichters von der späterenMitwirkung imGerichtsverfahren besteht, vgl. 41 Nr. 8 ZPO: „Ein Richterist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen (…) in Sachen, in denen eran einemMediationsverfahren oder einem anderen Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbei-legungmitgewirkt hat“.16 Vgl. § 23 Abs. 3 RStPO, wonach „mehr als zwei von denjenigen Richtern, welche bei derEntscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mitgewirkt haben, und namentlich derRichter, welcher den Bericht über den Antrag der Staatsanwaltschaft erstattet hatte“ nicht an derHauptverhandlung vor der – damals mit fünf Richtern besetzten – Strafkammer teilnehmendurften.17 Roxin, in: Lüttger (Hrsg.), Probleme der Strafprozessreform, 1975, 61 f. Ebenso Roxin/Schüne-mann (Anm. 3), § 42 Rdn. 3.

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sieht, besteht die nachrangige Option darin, dass auf den Eröffnungsbeschlussentweder gänzlich verzichtet wird oder aber das Gericht sich auf eine Prüfung derformalen Voraussetzungen beschränkt18.

2. Verfahrensfördernde Erörterungen gemäß § 202 a StPO

Die Problematik der Unbefangenheit des eröffnenden Richters hat sich seit dergesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafprozess quasi potenziert. Gemäߧ 202 a StPO – eingefügt durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung imStrafverfahren vom 29. Juli 200919 – kann das Gericht, wenn es die Eröffnung desHauptverfahrens erwägt, „den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteilig-ten erörtern, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern.“ Zunächstscheint es folgerichtig zu sein, dass eine solche Bestimmung auch für dasZwischenverfahren existiert; schließlich ist die Suche nach Verständigung in denübrigen Stadien des Strafprozesses durchgängig vorgesehen. Allerdings wirddieses offensichtliche Durchdeklinieren der einzelnen Phasen der besonderenSensibilität im Zwischenverfahren nicht gerecht, denn verfahrensfördernde Erör-terungen in diesem Stadium haben das Potenzial, noch größere Zweifel an derUnbefangenheit des beteiligten Richters zu erwecken. Diese These soll nachfol-gend näher dargelegt werden.

Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, sei vorausgeschickt, dassnicht jede verfahrensfördernde Erörterung im Zwischenverfahren gleichsam zurBesorgnis der Befangenheit führen muss. So sind beispielsweise Gespräche übereine Strukturierung des Verfahrens unbedenklich. Ebenso frei von Bedenken istder Austausch über eine Einstellung nach §§ 153 ff. StPO, da hier eine Verurteilungdes Angeschuldigten gerade nicht ansteht. Solche Einstellungsgespräche dürftenim Übrigen nicht immer von § 202 a StPO erfasst sein, denn dies würde voraus-setzen, dass das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens erwägt, auch wenn essich hierzu noch nicht fest entschlossen haben muss. Jenseits solcher unschädli-cher Kommunikation zwischen Gericht und Verteidigung ist die Grenze zur Unbe-denklichkeit im Zwischenverfahren allerdings dort erreicht bzw. überschritten,

18 So beispielsweise im türkischen Strafprozessrecht, das sich seit der Reform von 2004/2005(dazu Roxin/Isfen, GA 2005, 228 ff.) noch stärker an den Grundsätzen des deutschen Strafverfah-rensrechts orientiert: Art. 174 Abs. 2 türkStPO untersagt eine Zurückweisung der Anklageschriftaus Gründen der „rechtlichen Wertung der Tat“. Entsprechend dazu finden sich in Abs. 1 nurformelleAspekte, die bei der ZulassungderAnklage einer gerichtlichenÜberprüfungunterliegen.19 BGBl. I S. 2353.

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wo das Gericht die Rechtsfolgen der vorgeworfenen Tat in den Mittelpunkt des„Dealens“ rückt.

Warum das so ist, erschließt sich aus dem möglichen Inhalt einer Verständi-gung im Strafprozess. Gegenstand der Verständigung dürfen gemäß § 257 c Abs. 2StPO „nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigenBeschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde-liegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbetei-ligten. Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein. Der Schuld-spruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstandeiner Verständigung sein.“

Es ist zulässig, dass solche Verständigungsgespräche bereits im Zwischen-verfahren stattfinden, auch wenn § 202 a StPO nicht ausdrücklich auf § 257 c StPOverweist. Das lässt sich nicht nur der Gesetzesbegründung entnehmen20, sonderngeht auch daraus hervor, dass gemäß § 243 Abs. 4 StPO der Vorsitzende in derHauptverhandlung unmittelbar anschließend an die Verlesung des Anklagesat-zes mitzuteilen hat, ob „Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben,wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen istund wenn ja, deren wesentlicher Inhalt.“ Das Gericht hat es demnach in derHand, noch vor dem Eröffnungsbeschluss Kontakt mit der Verteidigung auf-zunehmen und mit ihr die voraussichtliche Straferwartung des Angeschuldigtenzu besprechen, je nachdem, ob dieser geständig sein möchte oder nicht. Binden-de Vereinbarungen dürfen zwar zu diesem Zeitpunkt nicht getroffen werden, dadie Schöffen in diesem Stadium noch nicht mitwirken21. Das schließt aber, wiedargelegt, nicht aus, dass Rechtsfolgengespräche zwischen der Verteidigung undder eröffnenden Berufsrichter dennoch stattfinden. Salditt berichtet beispielswei-se von einem Fall, in dem das Gericht unter ausdrücklicher Bezugnahme auf§ 202 a StPO noch vor (!) Zulassung der Anklage eine Straferwartung von sechsJahren Freiheitsstrafe bei Geständnis als Gesprächsgrundlage bekannt gab22. Einesolche Vorgehensweise des Gerichts rüttelt an den Grundfesten des Zwischen-verfahrens als Instanz der negativen Kontrolle. Warum?

Nach der Grundstruktur des deutschen Strafprozesses bekommt der erken-nende Richter den Angeklagten gewöhnlich erst in der Hauptverhandlung zuGesicht. Sein Bild von ihm vor diesem Stadium kann sich daher nur auf denAkteninhalt stützen. Nun fragt sich, weshalb die Gerichte gerade in dieser Pro-

20 BT-Drucks. 16/12310 S. 12.21 Meyer-Goßner (Anm. 1), § 202 a Rdn. 4.22 Salditt, Festschrift für Imme Roxin zum 75. Geburtstag, 2012, S. 687, dem das Verdienstzukommt, als Erster auf die Problematik des § 202 a StPO in der gebotenen Deutlichkeit hingewie-sen zu haben.

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zesslage das Verständigungsgespräch mit der Verteidigung über die Rechtsfolgensuchen sollten, denn nach dem klassischen Konzept des Strafverfahrens ist der„Inbegriff der Verhandlung“ (§ 261 StPO) sowohl für den Schuldspruch als auchdie Strafzumessung von maßgeblicher Bedeutung. Im Regelfall dürfte die Ant-wort lauten: Es ist das erhoffte Geständnis des Angeschuldigten, das den mögli-cherweise schwächelnden hinreichenden Tatverdacht auf feste Fundamente stelltund dabei eine Extrapolation des bisherigen Akteninhalts zu einem erstrebens-werten Ergebnis der Hauptverhandlung in Kauf nimmt. Das alles wohlgemerkt ineiner Phase, in der noch kein kontradiktorisch erhobenes Wissen vorliegt. Nichtselten werden solche Verständigungsgespräche begleitet sein von der latentenDrohung mit der sog. Sanktionsschere, d. h. einem unverhältnismäßigen, nichtmehr schuldadäquaten Auseinanderfallen der in Aussicht gestellten Strafe imFalle eines Gestehens oder Nicht-Gestehens23. Man könnte hier auch ruhig vomaltvertrauten System „Zuckerbrot und Peitsche“ sprechen. Daran sieht man ganzdeutlich, wie weit sich das Zwischenverfahren unter solchen Begleitumständenvon seinem ursprünglichen Grundgedanken der negativen Kontrolle entfernenkann. Zur Erinnerung: Der Grundgedanke des Zwischenverfahrens ist der Schutzdes Beschuldigten vor ungerechtfertigter Hauptverhandlung, und hier redet mandarüber, welche Strafe für ihn angemessen sein könnte, und dass es besser fürihn wäre, wenn er gestehen würde. Am Rande sei nur erwähnt, dass die Kon-frontation des Angeschuldigten mit einer bestimmten Straferwartung von vorn-herein überhaupt nicht zur Prüfung des hinreichenden Tatverdachts gehört24. DieSuche nach Verständigung ist also ein Fremdkörper im konzeptionellen Systemdes Zwischenverfahrens, wenn sie von Rechtsfolgenerwägungen geleitet wird.

Des Weiteren ist zu bedenken, dass Fragen der Strafzumessung höchst indivi-duelle Wertungen voraussetzen, die nur mit persönlichen Eindrücken in derHauptverhandlung möglich sind. Aus gutem Grund gilt im deutschen Strafpro-zessrecht der Grundsatz, dass eine Verurteilung des Angeklagten in dessen Ab-wesenheit nicht erfolgen darf. Selbst im Strafbefehlsverfahren, dem wichtigstenAusnahmefall der Verurteilung ohne Hauptverhandlung, kann eine Freiheitsstra-fe ohne Bewährung nicht verhängt werden (§ 407 Abs. 2 Satz 2 StPO). Insbeson-dere die Bestimmung der konkreten Strafe nach den Leitlinien des § 46 StGB iststets eine Einzelfallbetrachtung, die ohne den „Angeklagten in Person“ nichtauskommt: Dieser erhält in der Hauptverhandlung die Möglichkeit, sich selbst inSzene zu setzen und seinem Abbild in der Akte die unmittelbare Wahrnehmung

23 Dazu näher unten II.24 Salditt, Festschrift für Imme Roxin, S. 696. Ebenso Paeffgen, in: SK-StPO, Band IV, 4. Aufl.2011, § 202 a Rdn. 1.

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durch das Gericht entgegenzusetzen. Sein verfassungsrechtlich garantiertes Rechtauf rechtliches Gehör verschafft ihm die Gelegenheit, in einem kontradiktorischenProzess seine Sicht der Dinge darzulegen25. In der Frage, ob schuldig oder nicht-schuldig, hat der Richter daher seine Überzeugung, wie bereits dargelegt, alleinaus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen, so ausdrücklich § 261StPO. An all diesen Erfordernissen fehlt es, wenn Richter bereits in der Phase derPrüfung des hinreichenden Tatverdachts Gespräche mit der Verteidigung über diezu erwartende Rechtsfolge führen. Mögen solche Erörterungen im Zwischenver-fahren rechtlich nicht verbindlich sein: Faktisch, und darauf kommt es in derFrage der Befangenheit an, faktisch wird sich jedoch der Eindruck bei einemvernünftigen Dritten nicht vermeiden lassen, dass hier eine Vor-Verurteilungschon vor (!) Erlass des Eröffnungsbeschlusses erfolgt ist und es nur noch um dieBestimmung der Rechtsfolgen geht.

II. Suche nach Verständigung nach Eröffnungdes Hauptverfahrens (§ 212 StPO)

Hat sich das Gericht vom Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts überzeugt,so eröffnet es das Hauptverfahren und bereitet dieses vor. Gerade in dieser Phasewerden oft weichenstellende Verständigungsgespräche geführt, die aber eben-falls unter dem konzeptionellen Mangel leiden, dass das Gericht seinen Eindrucküber den Angeklagten immer noch auf die Aktenlage stützen muss. Insofernbestehen die oben herausgearbeiteten Bedenken auch vorliegend fort, freilich mitder Einschränkung, dass hier immerhin von einem hinreichenden Tatverdachtausgegangen wird, was die grundsätzliche Brisanz der Gespräche vor der Haupt-verhandlung über mögliche Rechtsfolgen entschärft, aber nicht durchweg besei-tigt. Weiterhin bedeutsam bleibt ferner der Umstand, dass dem Gericht als einem„nicht beteiligten Dritten“26 – wie auch in anderen Stadien des gerichtlichenVerfahrens – ein Initiativrecht zusteht: Die Wahrnehmung dieses Rechts aufAnstoßen einer Verständigung kann „zwangsläufig nur auf der Basis einesSchuldvorwurfs an den Angeklagten erfolgen“, weshalb nach Duttge „von einerUnparteilichkeit des Gerichts (…) nicht mehr ausgegangen werden (kann)“27.

25 Zumgebotenen Ablauf der richterlichenMitteilung über die zu erwartende Rechtsfolge Salditt,Festschrift für Imme Roxin, S. 693 f.26 BVerfGE 103, 140.27 Duttge, Meijo Law Review Vol. 61 No. 4 (March 2012), S. 9. Anderer Auffassung ist der Gesetz-geber (BT-Drucks. 16/12310 S. 307), der davon ausgeht, dass die gesetzliche Gewährung eines

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Hinsichtlich der Verständigung nach Zulassung der Anklage verweist § 212StPO auf § 202 a StPO. Unproblematisch erscheinen an dieser Stelle zunächst„unverbindliche Erörterungen der Beurteilung der Sach- und Rechtslage zwi-schen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten (…). Eine offene, kommunikati-ve Verhandlungsführung kann der Verfahrensförderung dienlich sein und istdaher heute selbstverständliche Anforderung an eine sachgerechte Prozesslei-tung. So begegnen etwa Rechtsgespräche und Hinweise auf die vorläufige Beur-teilung der Beweislage … keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Solche For-men der kommunikativen Verhandlungsführung stellen insbesondere nicht dieUnvoreingenommenheit des Gerichts in Frage, solange sie transparent bleiben undkein Verfahrensbeteiligter hiervon ausgeschlossen ist“28.

Schlicht rechtswidrig ist es hingegen, wenn eine erpressungsähnliche Situati-on geschaffen wird, in der man dem Angeschuldigten die „Pistole auf die Brustsetzt“: Angesprochen ist hier die Problematik der Sanktionsschere, die selbst-redend nicht auf dieses Stadium beschränkt ist, sondern überall dort auftaucht,wo es um Strafmilderung gegen Geständnis geht. Die entsprechenden Konstella-tionen sind hinreichend bekannt, daher nur zwei Beispiele aus der BGH-Recht-sprechung: Erhöhung auf 7 bis 8 Jahre Freiheitsstrafe im Falle eines nicht-gestän-digen Prozessverhaltens bei ursprünglich 3 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafemit Geständnis29 sowie 2 Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung mit Geständnis,sonst bis zu 6 Jahren Freiheitsstrafe30. Auf der gleichen Linie liegt die Drohungmit der (Wieder-)Verhängung von Untersuchungshaft31. Das Verhalten der betei-ligten Richter begründet in diesen Fällen einen Verstoß gegen § 136 a StPO32, derzugleich die Besorgnis der Befangenheit begründet33. Doch auch bei einem ansich zulässigen Sanktionsrahmenunterschied kommt eine Ablehnungsrüge inBetracht, wenn das Gericht seine Mitteilung nicht lediglich als eine noch zubestätigende Prognose ansieht, sondern den Eindruck erweckt, „sich insoweit

solchen Initiativrechts den Einwand der Befangenheit generell aus dem Weg räume. Indessensteht es nicht in der Disposition des Gesetzgebers, ein gerichtliches Verhalten, das als befangenanzusehen ist, per Gesetz als unbefangen zu definieren, näher Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg(Anm. 12), § 257 c Rdn. 47 i. V. m. § 257 b Rdn. 11.28 BVerfG NJW 2013, 1068. Hervorhebung durch denVerfasser.29 BGHNStZ 2008, 170 f. (Revision gestützt auf Befangenheit des Gerichts).30 BGH StV 2004, 470 f. (Revisionwar bereits mit der Sachrüge erfolgreich).31 BGHNStZ 2005, 280 (Revision gestützt auf Verletzung des § 136 a StPO).32 Näher zum möglichen Höchstgewicht eines Geständnisses als Strafmilderungsgrund Meyer-Goßner (Anm. 1), § 257 c Rdn. 19.33 BGHNStZ 2008, 171.

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ohne Rücksicht auf den Umfang des Geständnisses und den weiteren Verlauf derHauptverhandlung vorbehaltlos und endgültig festgelegt zu haben“34.

Des Weiteren ist eine erfolgreiche Befangenheitsrüge dort greifbar nahe, wodas Gericht bei mehreren Tatbeteiligten keine Rücksicht auf mögliche Interes-senkonflikte nimmt35, so beispielsweise wenn es (heimliche) Gespräche mitausgewählten Beschuldigten führt und dabei auch belastende Aussagen inBezug auf andere Beschuldigte im Raum stehen, die von ihrem Aussageverwei-gerungsrecht Gebrauch machen oder die Tatvorwürfe bestreiten: „In solchenFallkonstellationen liegt es nahe, dass bei dem an dem Gespräch nicht betei-ligten Mitangeklagten berechtigte Zweifel an der Unvoreingenommenheit derRichter aufkommen können, da aus seiner Sicht zu befürchten steht, dass auchauf Betreiben des Gerichts seine Tatbeteiligung hinter verschlossenen Türen undohne seine Kenntnis mitverhandelt wird. Dieser verständlichen Besorgnis kannzuverlässig nur dadurch begegnet werden, dass Gespräche, die die Möglichkeiteiner Verständigung zum Inhalt haben, auch außerhalb der Hauptverhandlungnur in Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligten oder offen in der Hauptverhand-lung geführt werden.“36

Schließlich kann nicht nur die selektive Vorgehensweise in Bezug auf einzel-ne Beschuldigte, sondern auch das Übergehen der Staatsanwaltschaft bei Ver-ständigungsgesprächen eine Besorgnis der Befangenheit des beteiligten Richtersbegründen37. Im Gegensatz zur überwiegenden früheren Praxis ist jedoch dieZustimmung der Staatsanwaltschaft zur Verständigung nunmehr von Gesetzeswegen eine Voraussetzung für deren Wirksamkeit (§ 257 c Abs. 3 Satz 4 StPO), sodass solche Fälle an Bedeutung verlieren dürften.

34 BGHSt. 45, 312.35 Eschelbach, in: Beck’scher Online-Kommentar zur StPO (Stand: 11. 04. 2013), § 257 cRdn. 10.6; Paeffgen, in: SK-StPO (Anm. 24), § 202 a Rdn. 37.36 BGH StV 2011, 73. Vgl. ferner NStZ 2011, 46 sowie BGH NStZ 2008, 54 zur gerichtlichenAufklärungspflicht bei mehreren Beteiligten, wenn einzelne Beschuldigte im Rahmen einer Ver-fahrensabsprache Geständnisse abgelegt haben.37 Vgl. BGHSt. 45, 312 f.; BGHNStZ 2008, 172.

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III. Suche nach Verständigung in derHauptverhandlung (§§ 257b, c StPO)

Die bisher problematisierten Befangenheitsaspekte behalten ihre Bedeutungauch im Hauptverfahren. Hinzu kommt an dieser Stelle ein hauptverhandlungs-spezifischer Punkt, der die Fülle der Schwierigkeiten eines „Dealens“ im Straf-verfahren schlagartig auf die Spitze treibt: Was passiert nach einer gescheitertenAbsprache, wenn der Angeklagte bereits ein Geständnis abgelegt hat? Auf denersten Blick scheint das Gesetz die passende Antwort bereitzuhalten; es ordnetnämlich für diesen „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ an, dass das Geständnisdes Angeklagten nicht verwertet werden darf (§ 257 c Abs. 4 Satz 3 StPO)38. Nun istalso so zu tun, als ob es die bisherige Verständigungsphase einschließlich desGeständnisses nicht gegeben hätte. Allerdings sind es weiterhin dieselben Rich-ter, die jetzt in der gleichen Sache ein Urteil nach dem klassischen Vorbild derAmtsaufklärung fällen sollen. Um dies unbefangen bewältigen zu können, müs-sen diese Richter über die wundersame Fähigkeit verfügen, das Geständnis desAngeklagten vollständig auszublenden. Menschen sind aber keine technischenGeräte, die über eine Löschtaste verfügen. Selbst bei Computern reicht derbekannte einfache Löschvorgang für eine restlose Entfernung nicht aus; erforder-lich ist vielmehr eine zusätzliche Beseitigung aller sektoralen Ableger in temporä-ren Dateien, Backups, Schattenkopien etc. und bei manchen Festplatten aucheine mehrmalige (bis zu 35-fache) Überschreibung der Datei, damit diese nichtmehr rekonstruierbar ist. Nichts liegt doch hier näher auf der Hand als dieAnnahme, dass die betreffenden Richter schlicht und einfach nicht die Gewährdafür bieten können, unparteiisch zu entscheiden39. Vor diesem Hintergrund istes geradezu eine Zumutung für den Angeklagten40, sich eine ergebnisoffeneHauptverhandlung gerade durch diejenigen Richter erhoffen zu müssen, mitdenen er „nicht ins Geschäft“ gekommen ist, die aber bereits seine Vorleistung,

38 Ein Fernwirkungsverbot wird allerdings in der Regel nicht angenommen, vgl. Stuckenberg, in:Löwe-Rosenberg (Anm. 12), § 257 c Rdn. 68;Meyer-Goßner (Anm. 1), § 257 c Rdn. 28. Kritisch dazuVelten, in: SK-StPO, Band IV, 4. Aufl. 2011, § 257 c Rdn. 51; Beulke (Anm. 9), Rdn. 396c.39 Ebenso Schünemann, ZRP 2009, 107; Weßlau, ZStW 116 (2004), S. 167 f.; Eschelbach, in:BeckOK (Anm. 35), § 257 c Rdn. 5 und 39.2; Paeffgen, in: SK-StPO (Anm. 24) § 202 a Rdn. 9. Andersjedoch BVerfG NJW 2013, 1069.40 Dieser wird ohnehin schon durch § 257 c Abs. 4 Satz 2 StPO in erheblichem Maße „diszip-liniert“ und faktisch angehalten, sich an die abgesprochene Verhaltensweise zu halten, dennauch der Umstand, dass „das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhaltenentspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist“, berechtigt das Gericht,von der erzielten Verständigung einseitig abzurücken.

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nämlich das Geständnis, zur Kenntnis genommen haben. Was soll noch dazukommen, um von berechtigten Zweifeln des Angeklagten an der Unvoreinge-nommenheit des Gerichts sprechen zu können?

Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass eine einmal zustande gekom-mene Absprache stets bindend sein soll, gleichgültig was sich in der Hauptver-handlung sonst noch ergibt. Dennoch darf um des Aufklärungs- und Schuld-grundsatzes willen das Risiko eines Scheiterns der Verständigung nicht einseitigdem Angeklagten aufgebürdet werden. Werden die Karten neu gemischt, wenndie Vereinbarung scheitert, so gilt das auch für die Besetzung des Gerichts.

IV. Ausblick

Suche nach Verständigung und Erhebung einer Befangenheitsrüge – im Aus-gangspunkt stehen sich diese möglichen Handlungswege der Verteidigung kon-trär gegenüber: Während die Verständigung der konsensualen Schiene folgt,bedeutet die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit regelmäßig die maxi-male Konfrontation mit dem Gericht. Auch darin dürfte sich eine Erklärung für dierelativ dünn gesäte Rechtsprechung zur Befangenheit des „dealenden“ Richtersfinden. Indes hat sich gezeigt, dass zahlreiche Berührungspunkte zwischen derProzesserledigung durch Verständigung und des Verlusts der richterlichen Un-voreingenommenheit bestehen, die durch die betreffenden Vorschriften und dieGerichtspraxis verstärkt werden. Letztlich zeigt sich in diesem Punkt wiederholtdie Quadratur des Kreises, die die Rechtsprechung seit den 1980er Jahren undnunmehr auch der Gesetzgeber seit 2009 anstreben: Verständigung im Strafpro-zess trägt alle wichtigen Züge eines Vergleichs, den es in einem Parteienprozessunter Freien und Gleichen mit guter Berechtigung gibt, der sich aber mit derStruktur eines Offizialverfahrens, das sich der Amtsaufklärung und dem Schuld-prinzip verschreibt, nicht gut verträgt.

Dieses Spannungsverhältnis im Fundament des Systems schlägt mit vollerWucht auch auf die an einer Absprache beteiligten Richter durch: Wenn diese aufder einen Seite die Garanten einer ergebnisoffenen Entscheidungsfindung seinsollen, auf der anderen Seite aber die initiierende, wortführende und regelmäßigmächtigste Stellung in dem sich verständigenden Trio innehaben, so ist der stetszu wahrende Anschein der Unvoreingenommenheit sehr zerbrechlich. DieserUmstand der tendenziellen Nähe zur Befangenheit lässt sich auch nicht durch diegebetsmühlenartig wiederholte „wundersame“ Fähigkeit des deutschen Richterszur angeblichen Neutralität bis zur Grenze der offenen Willkür überdecken.Insofern ist inständig zu hoffen, dass die Absprachepraxis zumindest ein Gutesbewirkt: Dass nämlich die höchstrichterliche Rechtsprechung in Anbetracht der

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Auswüchse in der Welt der „dealenden Richter“ ihre unvertretbar restriktiveHaltung zur Frage der Besorgnis einer richterlichen Befangenheit umfänglichüberdenkt und den Weg freimacht für eine realistische Beurteilung der Problema-tik, welches Verhalten des Richters bereits berechtigte Zweifel an seiner Unvor-eingenommenheit begründet41.

41 In seiner Grundsatzentscheidung über die Zulässigkeit von Absprachen im Strafprozess hatdas Bundesverfassungsgericht zwar auch die „Neutralitätspflicht des Gerichts“ besonders her-vorgehoben (BVerfG NJW 2013, 1058) und darauf hingewiesen, dass ein „wesentliches Kenn-zeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes“ darin bestehe, „dass die richterlicheTätigkeit von einem ‚nicht beteiligten Dritten’ ausgeübt wird (…) Das Recht auf den gesetzlichenRichter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (…) garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einemRichter steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbetei-ligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt. Dieses Verlangen nachUnvoreingenommenheit und Neutralität des Richters ist zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlich-keit“ (a. a. O., S. 1061). Allerdings bleibt es dort bei diesen prinzipiellen Erwägungen, ohne sienäher an den Einzelaspekten der Verständigung zu spezifizieren.

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