21
Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes.: Mutter-Tochter Beziehungen bei Herta Müller, Aglaja Veteranyi, Carmen Francesca Banciu und Gabriela Adameºteanu Tanja BECKER 1 Abstract: This article deals with the representation of mother- daughter relationships in novels by Herta Müller, Aglaja Veteranyi, Carmen Francesca Banciu and Gabriela Adamesteanu, all of them born in Romania. Herta Müller and Aglaja Veterani constantly wrote in German, while Carmen Francesca Banciu changed her language after emigrating to Germany and Gabriela Adameºteanu’s language has always been Romanian. Mother-daughter relationships are analysed in regard of female genealogy, but also considering their complexity and ambiguity. It is shown that representations of mother-daughter-relationships are depending rather on individual and psychological criteria than the author’s cultural or ethnic affiliation. Maybe a larger study, which could not be made in this article, could reveal more detailed results. Keywords: Motherhood – Mother-daughter relation – Romanian literature –German literature from Romania 1. Einführung Dieser Beitrag befasst sich mit der Performanz von Mutter-Tochter- Beziehungen bei Herta Müller, Aglaja Veteranyi, Carmen Francesca Banciu und Gabriela Adameºteanu, die alle aus Rumänien stammen. Herta Müller und Aglaja Veteranyi schrieben stets auf Deutsch, während Carmen Francesca Banciu nach ihrer Ausreise in die 1 West-Universität Temeswar/Timiºoara. Lector DAAD. [email protected]

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses unddes Todes.: Mutter-Tochter Beziehungen bei Herta

Müller, Aglaja Veteranyi, Carmen Francesca

Banciu und Gabriela Adameºteanu

Tanja BECKER1

Abstract: This article deals with the representation of mother-daughter relationships in novels by Herta Müller, AglajaVeteranyi, Carmen Francesca Banciu and Gabriela Adamesteanu,all of them born in Romania. Herta Müller and Aglaja Veteraniconstantly wrote in German, while Carmen Francesca Banciuchanged her language after emigrating to Germany and GabrielaAdameºteanu’s language has always been Romanian.

Mother-daughter relationships are analysed in regard of femalegenealogy, but also considering their complexity and ambiguity.It is shown that representations of mother-daughter-relationshipsare depending rather on individual and psychological criteriathan the author’s cultural or ethnic affiliation. Maybe a largerstudy, which could not be made in this article, could revealmore detailed results.

Keywords: Motherhood – Mother-daughter relation – Romanianliterature –German literature from Romania

1. Einführung

Dieser Beitrag befasst sich mit der Performanz von Mutter-Tochter-Beziehungen bei Herta Müller, Aglaja Veteranyi, Carmen FrancescaBanciu und Gabriela Adameºteanu, die alle aus Rumänien stammen.Herta Müller und Aglaja Veteranyi schrieben stets auf Deutsch,während Carmen Francesca Banciu nach ihrer Ausreise in die

1 West-Universität Temeswar/Timiºoara. Lector DAAD. [email protected]

Page 2: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Bundesrepublik Deutschland Anfang der 90er Jahre ihre Literatur-sprache vom Rumänischen ins Deutsche wechselte und GabrielaAdameºteanu gänzlich der rumänischen Literatur zuzurechnen ist.

Zunächst eine kurze Anmerkung, welche die Auswahl der Werkebetrifft: ausgehend von dem schmalen Werk Aglaja Veteranyiswird ihrem Debütroman Warum das Kind in der Polenta kocht derBand Niederungen von Herta Müller – ebenfalls deren literarischesDebüt -gegenübergestellt, zumal beide aus der Perspektive einerkindlichen Ich-Erzählerin dargestellt sind. Der ganz jungen Frauaus Das Regal der letzten Atemzüge stellen wir die Erzählerin ausdem Roman Herztier gegenüber. Von Carmen Francesca Banciuwird lediglich das von ihr selbst als Mutterroman bezeichnete WerkDas Lied der traurigen Mutter berücksichtigt. Bei GabrielaAdameºteanu möchte ich mich ausschließlich auf Drumul egal alfiecãrei zile beziehen, da eine Analyse des sehr umfangreichenRomans Dimineaþã pierdutã, der sich von der Thematik her nochanbieten würde, den Umfang dieses Beitrags bei Weitem sprengenwürde.

Die Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehungen interessiertuns dabei einerseits vor dem Hintergrund der weiblichen Genealogie,andererseits wegen ihrer Komplexität und Ambiguität. So ist eskeineswegs Zufall, dass nur Autorinnen ausgewählt wurden, da beiAutoren diese Thematik nicht vorkommt. Darüber hinaus bietet essich an, wegen der jeweils unterschiedlichen Provenienz der Auto-rinnen, sei es, was ihre ethnische Zugehörigkeit, sei es, was ihrLebensumfeld betrifft, Vergleiche zu kulturellen Unterschieden dervon ihnen dargestellten Frauenfiguren bzw. Mutter-Tochter-Bezie-hungen anzustellen.

2. Mutter-Tochter-Beziehungen aus psychosozialer und

psychoanalytischer Sicht

Die erste Beziehung, die ein Neugeborenes, gleich welchenGeschlechts, sozusagen in die Wiege gelegt bekommt, ist die zurMutter. In der Psychoanalyse wird davon ausgegangen, dass dasNeugeborene sich damit ein Leben lang auseinandersetzen muss.

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 99

Page 3: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Die weitere Entwicklung ist bestimmt von dem uns allseits bekanntenÖdipuskomplex:

The boy will become a boy to the extent that he recognizes that he cannothave his mother, that he must find a substitute woman for her; the girl willbecome a girl to the extent that she recognizes she cannot have her mother,substitutes for that loss through identification with the mother, and thenrecognizes she cannot have the father and substitutes a male object for him.According to this fairly rigid schematic of Oedipalization, gender is achievedthrough the accomplishment of heterosexual desire.”2

Grundsätzlich stehen jeder Frau, die Mutter wird, zwei Modelle derSelbstverwirklichung, bzw. der Performanz der Mutterrolle offen:Sie kann entweder Frau oder Mutter sein wollen, entweder einGlied in der Abstammungslinie einer Familie oder ein Individuummit einer besonderen Persönlichkeit, entweder abhängig oder auto-nom, ehrenwert oder begehrenswert. „Sie kann sich hingebungsvollden anderen aufopfern oder sich fortwährend dem Programm dereigenen Vervollkommnung widmen.“3 – „Écrire ou enfanter“, umes mit Simone de Beauvoir zu sagen.4

Extreme Mutterliebe kann sich dabei zur Bindungspathologieentwickeln, bei der die Beziehung zum Vater und die ehelicheSexualität gegen mütterliche Sinnlichkeit eingetauscht werden –aus der Lust heraus, über ein völlig abhängiges Wesen Allmachtauszuüben. Eine Allmacht, die sich als unbegründete Hingabe äußert,dafür aber eine ebenso schrankenlose Gegengabe verlangt. Dabeikann es in Extremfällen zum platonischen Inzest kommen – scheinbareine Contradictio in adjecto – weil Inzest gerade Vollzug desGeschlechtsakts zwischen blutsverwandten Personen bezeichnet,aber die wesentliche Dimension ist in diesem Fall die Bildung einesPaares (Mutter-Tochter) unter Ausschluss eines Dritten (Vater).

100 Tanja Becker

2 Butler, Judith (2004): Undoing Gender. New York: Routledge, S. 120.3 Eliacheff, Caroline, Heinrich, Nathalie (2004): Mütter und Töchter – Ein

Dreiecksverhältnis. Patmos Verlag: Düsseldorf und Zürich, S.17.4 De Beauvoir meint zwar Schreiben oder Gebären – allerdings gehe ich hier

davon aus, dass die Tatsache Mutter zu sein noch nicht am Schreibenhindert, sondern eine bestimmte Art von Muttersein kein Schreiben zulässt.

Page 4: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Im Gegensatz dazu gibt es Frauen, die eher Frauen als Müttersind. Auch sie sind von einer Passion getrieben. Diese gilt einemMann, einem bestimmten Sozialstatus, einem Beruf oder einerBerufung – etwas Entscheidendem, bei dem alle Emotionen zumAusdruck kommen. Dies führt zu Desinteresse gegenüber demKind, mit besonders fatalen Folgen für Töchter. Im ersten Fall, wodie Mutter eher Mutter als Frau ist, ist der Dritte aus der Beziehungausgeschlossen und die Tochter der Mutter hilflos ausgeliefert. Imzweiten Fall, wo die Mutter eher Frau als Mutter ist, ist das Kind dasAusgeschlossene.

Die Psychoanalytikerinnen Caroline Eliacheff und NathalieHeinrich betonen die Bedeutung eines Dritten in der Beziehung.Fehlt dieser Dritte, kommt es entweder zum platonischen Inzestzwischen Mutter und Tochter oder zum Inzest 1. Grades zwischenVater und Tochter. Außerdem kann es zum Inzest 2. Grades kommen,wenn sich zwei blutsverwandte Personen, üblicherweise Mutterund Tochter einen Sexualpartner teilen.5

3. Mutter-Tochter-Beziehung bei Herta Müller

Äußerlich ist die Mutter-Tochter-Beziehung sowohl in den Niede-rungen als auch in Herztier geprägt von den überlieferten Traditionender banatschwäbischen Dörfer. Die Mutter übernimmt den schwerstenTeil der für Frauen vorgesehenen Hausarbeit, Kinder werden eherGroßmüttern überlassen, die nicht mehr so hart arbeiten können. ImVordergrund steht die harte Arbeit der Mütter, den Haushalt gut zuführen, kritisch beäugt von einer unbarmherzigen Dorfgemeinschaft,die nur äußerlich versucht den Schein zu wahren, in der aber Kinderin der Regel nicht vom Ehemann der Mutter stammen (siehe dieGenealogie in der absichtlich überspitzten Erzählung Meine Familieaus den Niederungen)6. Kinder müssen sich dem Ziel, in der Dorf-gemeinschaft zu bestehen, unterordnen. Ihre Haare und Fingernägelhaben ordentlich auszusehen. So wird die Ich-Erzählerin in

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 101

5 Eliacheff/Heinrich, a.a.O., S. 99 (wie Anm. 2).6 Müller, Herta: Meine Familie. In: Müller, Herta(1982): Niederungen.

Bukarest: Kriterion, S. 15f.

Page 5: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Herztier als kleines Mädchen an den Stuhl gebunden, wenn ihr dieNägel oder die Haare geschnitten werden. Die Mutter schneidet dieNägel bis es blutet – in der Phantasie des Kindes geht sie heimlich inden Hof und isst die Finger des Kindes – am Abend lügt sie denGroßvater an und sagt, sie habe die Finger weggeworfen.7 Damitnimmt sie dem Kind die Finger, mit denen es die Mutter berührenkann, sich ihr nähern kann, verleibt sie sich ein und macht das Kindsomit zu einem Instrument ihrer Befriedigung.

Die Mutter in den Niederungen ist gefangen in ihrer Beziehungzu ihrem Mann, einem Alkoholiker, der sie schlägt und nicht zukontrollieren ist und dem sie hilflos verfallen ist, bis über den Todhinaus. So schneidet sie beispielsweise in der Erzählung Grabredenach dem Tod des Vaters ihren Zopf mit dem Messer ab und legt ihnin den Teller, verbrennt ihn und sagt, sie werde ihr ganzes Leben inSchwarz gehen.8 Wenn man einen psychoanalytischen Interpretations-ansatz möchte, könnte man den Zopf mit dem Penis des Vatersgleichsetzen, der mit seinem Tod verschwunden ist. Die Mutter istdem Vater trotz seiner Bösartigkeit verfallen, was zum Ausschlussdes Kindes aus der Beziehung führt. Schon bei ihrer Hochzeitspürte sie, dass ihr Mann sie oft verprügeln wird. Sie geht heimlichauf den Dachboden weinen, weil die Hochzeit nicht mehr rückgängigzu machen ist. Ihr Vater hat das Rind bereits geschlachtet – er hättesie umgebracht.9 Dies alles erzählt sie auch der Tochter in schwachenMomenten und überfordert das Kind damit völlig, wenn sie es fürden Moment zum Verbündeten macht. In der Regel bleibt für dieTochter in ihrem Leben aber nur der Platz des Störenfrieds. DemKind wird sogar zum Vorwurf gemacht, die Figur der Mutterverunstaltet zu haben: „Seitdem es mich gibt, sind Mutters Brüsteschlaff, seitdem es mich gibt, hat Mutter kranke Beine, ...“10

102 Tanja Becker

7 Müller, Herta (1996): Herztier. Reinbek bei Hamburg: Rowolt, 2. Auflage,S. 14-16.

8 Müller, Herta: Grabrede. In: Niederungen, a.a.O., S. 11 (wie Anm. 5).9 Müller, Herta: Niederungen. In: Niederungen, a.a.O., S. 20.10 Ebenda, S. 20.

Page 6: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Für eine Tochter besteht immer ein Risiko in der Beziehung zurMutter, wenn sie genau das erbetteln will, was ihr die Mutter nichtgeben kann – Liebe oder Anerkennung. Denn indem sie bettelt,nimmt die Tochter den Platz des Opfers ein; indem sie jedoch dasverlangt, was die Mutter nicht geben will, übt sie Gewalt aus. DieAntwort kann selbst wiederum nur eine gewaltsame sein und dieOpferrolle der Tochter verstärken.

So bettelt auch die kindliche Ich-Erzählerin um Liebe undAnerkennung gegenüber der Mutter. Als ein Kalb geschlachtet wirdund die Kuh deswegen tagelang weint, fragt sie die Mutter, ob sieauch weinen würde, wenn jemand ihr das Kind wegnehmen und esschlachten würde. Die Mutter wirft sie gegen den Schrank, dass sieeine Beule bekommt. Sie muss aufhören zu weinen und die Scherbender Scheibe aufkehren, die zerbrochen ist, als die Mutter sie geschla-gen hat.11

An anderer Stelle legt sich das Kind ins Gras und will sterben,damit seine Mutter um es weint und alle sehen, dass sie sie gerngehabt hat.12

In Herztier ist es der Ich-Erzählerin gelungen, genügend Distanzzwischen sich und ihrer Mutter zu halten, indem sie in die Stadt zog,um dort zu studieren und zu arbeiten. Zwar blitzen noch erniedrigendeSzenen aus der Kindheit auf, aber die Erzählerin ist nicht mehr indieser Beziehung zur Mutter gefangen. Sie hat es geschafft, zu einerder schönen Frauen aus der Stadt zu werden, die nicht in ihr Dorfkommen würden.13

Die Mutter schreibt Briefe aus dem Dorf über Krankheiten. DieKrankheiten dienen dabei als Schlinge für die Tochter, damit dieseoft nach Hause kommt. Dabei vergisst die Mutter, dass sie diesesGesicht, auf dem die ersten Falten auftauchen, nicht mehr schlagenund nicht mehr streicheln darf.14 Die Mutter hat die Tugend und diesoziale Norm auf ihrer Seite – ihre Liebe gegenüber dem Kind

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 103

11 Ebenda, S. 59f.12 Ebenda, S. 78.13 Ebenda, S. 77.14 Müller, Herta: Herztier. a.a.O., S. 54 (wie Anm. 6).

Page 7: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

findet Anerkennung und Bewunderung. Wenn sie bei Kindern aufGleichgültigkeit oder Ablehnung stößt, bemitleidet man sie.

Als die Securitate beginnt, die Familien der Ich-Erzählerin unddie ihrer drei Freunde durch Hausdurchsuchungen zu tyranni-sieren, schreiben die Mütter Briefe, das dürften sie ihr, bzw. demGroßvater nie mehr antun und versuchen damit, die Kinder zuerpressen, indem sie eine Position des Leidens beziehen, die durchdas Kind verschuldet ist.

Immer wieder kommt vernichtende Kritik an der Ich-Erzählerinvon Seiten der Mutter, aber eben nur in Briefform – beispielsweise„Frau Margit hat mir geschrieben, dass Du mit drei Männern gehst.Gottseidank sind es Deutsche, aber verhurt ist das trotzdem. Manzahlt für sein Kind jahrelang die Schulung in der Stadt; dafür istman gut...“15 oder bei sporadischen Besuchen und damit aus einerDistanz, die die Ich-Erzählerin ertragen kann.

Als die Tochter entlassen wird, kommt es zu einem Rückfall indie alte Mutter-Kind-Beziehung. Die Ich-Erzählerin schreibt ihrerMutter von der Entlassung. Die Mutter antwortet, sie käme mit demFrühzug in die Stadt. Die Tochter wahrt hier allerdings wiederDistanz, weil sie nicht an den Bahnhof kommt, sondern sich erst um10 Uhr mit ihr an einem Springbrunnen trifft – so als hätte sieAngst, zu viel Gehorsam gegenüber der Mutter könnte sie erneutabhängig machen.16 Die Mutter tut so, als sei sie hauptsächlich mitdem Einkaufen von Einweckgläsern beschäftigt. Alle Gesten sindfalsch, eine wirkliche Annäherung findet nicht statt – im Gegenteil,es kommt zum Streit. Schließlich rettet die Mutter die Situation mitder banalsten aller Fragen, der nach der Uhrzeit, „weil man mit dirnichts anderes reden kann“17.

Trotz allem unterstützt sie die arbeitslose Tochter bis zur Ausreise.In Deutschland kehrt sich dann die Konstellation um, die Mutter hatHeimweh und fängt Tauben, um aus ihnen Suppe zu kochen, abersie bekommt nur kurze Antworten der Tochter, die in einer anderen

104 Tanja Becker

15 ebenda, S. 174f.16 ebenda, S. 184-186.17 ebenda, S. 187.

Page 8: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Stadt lebt, sie müsse sich jetzt hier anpassen18. Die Tochter wirdalso ein wenig zur Mutter ihrer Mutter.19

Es ist somit zu einer Loslösung der Tochter gekommen, die aberdurchaus prekär ist und nur durch die räumliche Distanz aufrecht-erhalten werden kann.

4. Mutter-Tochter Beziehung bei Aglaja Veteranyi

In Warum das Kind in der Polenta kocht ist die Mutter äußerlichbetrachtet die einzige Konstante im Leben der kindlichen Ich-Er-zählerin. Durch das Leben als Zirkusartisten ist die Familie nirgendwozu Hause, das Mädchen kennt sogar sein Heimatland (Rumänien)nur vom Geruch des Essens seiner Mutter.20

Ihre Mutter hängt jeden Abend an ihren Haaren in der Zirkus-kuppel und jongliert mit Bällen, Ringen und Feuerfackeln. Auchdie Ich-Erzählerin soll später so ihr Brot verdienen, obwohl sienicht möchte. Stattdessen vergeht das Mädchen jeden Abend vorAngst, dass die Mutter abstürzen könnte und die Schwester muss ihrstets neue, grausamere Varianten der titelgebenden Geschichte„Warum das Kind in der Polenta kocht“ erzählen.

Die Familienverhältnisse insgesamt sind so verworren, dass es denRahmen dieses Beitrags sprengen würde, sie detailliert darzustellen.Wichtig ist für uns nur, dass die ältere Halbschwester der Ich-Er-zählerin ausschließlich die Tochter des Vaters ist, der ein inzestuösesVerhältnis zu ihr hat. Ihre Stiefmutter schützt sie nicht vor demVater, weil sie nicht ihr leibliches Kind ist. Die leibliche Tochterdagegen, die Ich-Erzählerin, lässt sie nicht mit dem Vater allein.Damit verhindert die Mutter zwar einen Inzest ersten Typs zwischenVater und Tochter, aber gleichzeitig schrumpft die Beziehung zudritt auf eine Beziehung zu zweit zwischen Tochter und Mutter, beider das Kind der Mutter hilflos ausgeliefert ist. „Nicht ohne meineTochter, das könnte zu einem Schlagwort jener Mütter werden, die

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 105

18 ebenda, S. 248f.19 Eliacheff/Heinrich, a.a.O., S. 170.20 Veteranyi, Aglaja (2003): Warum das Kind in der Polenta kocht. Deutsche

Verlagsanstalt Stuttgart, 3. Aufl., S. 10.

Page 9: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

‚eher Mutter als Frau’ sind und ihren Lebenssinn in der Symbiosemit einer zurückspiegelnden Tochter finden, nachdem der Vaterbestenfalls auf eine schemenhafte Erscheinung oder, im schlechterenFall, auf ein Hindernis beziehungsweise einen zu bekämpfendenFeind reduziert wurde.“21

Die Beziehung zur Mutter ist von Anfang an ein ständigesWechselbad für die Tochter. Einerseits projiziert die Mutter eigeneWünsche auf das Kind und vereinnahmt es, wie bereits das kleineMädchen feststellt: „Das Kind gehört mehr der Mutter als demVater, weil sie die Mutter ist.“22 Außerdem behauptet sie Verwandtenzu Hause gegenüber, die Tochter könne sechs Sprachen lesen undschreiben. Das Mädchen ist in diesem Fall nur noch passives Spielzeugeines narzisstischen Missbrauchs, wehrloses Objekt für die verschlin-gende, allmächtige Liebe der Mutter.

Andererseits gibt sie die leibliche Tochter als ihre kleine Schwesteraus, um bei Männern mehr Erfolg zu haben oder nimmt sie mit zuMännern, bei denen das Kind dann stundenlang mit Süßigkeitenund Comic-Heften warten muss.

Dazu kommt, dass auch die äußere Realität äußerst brüchig ist:„Unsere Geschichte klingt bei meiner Mutter jeden Tag anders.“,sagt die kindliche Erzählerin.23

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch deren bereitskompromittierter Kinderwunsch. Im Kinderheim, in das sie von denBehörden gebracht wird, wird sie auf den Dachboden gesperrt, alssie mit einem Meerschweinchen – sozusagen einem Kinderersatz –im Bett erwischt wird. Sie bestraft sich selbst, indem sie die Litanei„Und Kinder will ich keine.“ als Strafarbeit aufschreibt – auch hierein Ausdruck von Zerrissenheit und Widerspruch in sich selbst.

Später wird der Hund Bambi ihr Kind.24 Als er bei einem Unfallstirbt, bekommt sie einen Ausschlag, der ihre Karriere als Striptänzerinund Sängerin, zu der die Mutter sie inzwischen gemacht hat, jähbeendet.

106 Tanja Becker

21 Eliacheff/Heinrich, a.a.O., S. 23.22 Veteranyi, Aglaja: Warum das Kind in der Polenta kocht. a.a.O., S. 30.23 Ebenda, S. 57.24 Ebenda, S. 135.

Page 10: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Da die Mutter nach einem Unfall nicht mehr auftreten kann, willsie ihre 13jährige Tochter zum Filmstar machen. Auch hier tretenwieder offensichtliche Widersprüche auf. Einerseits lässt die Mutterihre heranwachsende Tochter in Striplokalen auftreten, andererseitshütet sie deren Jungfräulichkeit. Die Mutter ist gegen die Sexualitätder Tochter, weil sie einerseits deren Konkurrenz fürchtet, einenInzest zweiten Typs, bei dem sich zwei blutsverwandte Personen,üblicherweise Mutter und Tochter, einen Sexualpartner teilen,25

und andererseits Angst davor hat, Großmutter zu sein, die letzteRolle einer Frau bezüglich der Genealogie der Familie.

Gleichzeitig übernimmt die Tochter zu dieser Zeit die Rolle, dieFamilie zu ernähren und wird dadurch zur Mutter ihrer Mutter.26

Insgesamt ist die Beziehung zwischen Mutter und Tochter geprägtvon einer ständigen für das Kind unerträglichen Ambivalenz, dieder Mutter in keinster Weise bewusst ist. „Mutter sagt wie gut, dassdu mich noch hast, später wirst du merken, wie das ist allein auf derWelt. Da muss ich gar nicht auf später warten.27

So entstehen auch Vorstellungen der Tochter, die Mutter solleauf der Stelle sterben. Man würde sie im Garten begraben und dieErdbeeren auf ihrem Grab würden dann nach ihr schmecken.28

Bereits in Warum das Kind in der Polenta kocht wird thematisiert,dass die Ich-Erzählerin in ihren ersten Lebensjahren von der Tanteerzogen wurde. Im Regal der letzten Atemzüge wird nun derenZerissenheit zwischen den beiden „Müttern“ anlässlich des Todesder Tante aufgearbeitet.

So nennt die Ich-Erzählerin als Kind ihre leibliche Mutter Tanteund umgekehrt, als diese nach längerer Abwesenheit zurückkehrt,was ihr aber wieder aberzogen wird. Seit ihrer Kindheit legt sie sichzu ihrer Tante ins Bett und diese sucht sie nach Flöhen ab – einSpiel, das die junge Frau zuletzt auch im Krankenbett mit der Tante

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 107

25 Eliacheff/Heinrich, a.a.O., S. 99.26 Ebenda, S. 170.27 Veteranyi, Aglaja: Warum das Kind in der Polenta kocht. a.a.O., S. 69.28 Ebenda, S. 83.

Page 11: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

spielt. Zu ihrer Mutter legt sie sich dagegen nicht ins Bett, auch alsKind nicht.29

Die lange Abwesenheit lässt sich nicht wieder gut machen, dasKind kann keine Mutter- Tochter Beziehung zur leiblichen Muttermehr aufbauen. Psychoanalytisch betrachtet vermutlich, weil dieMutter in der Ödipusphase abwesend war und eine Ablösung undspätere Identifikation nicht möglich war.

Ich bin deine Mutter, sagt eine Frau, deine Tante hat ihr eigenes Haus.Ich höre mit dem Weinen nicht auf. Nie.Die Frau lässt mich ins Treppenhaus.Schau, wie steil die Treppe ist, du kannst nicht runter.Im Mund der Frau wohnt eine Schlange.Ich setze mich auf die Treppe. Rutsche.30

Sie fühlt sich als Kind der Tante und legt sich Erklärungen dafürzurecht, warum ihre Mutter und nicht ihre Tante sie geboren hat.

Die kalten Kinder der Tante gingen zu meiner Mutter. In sie wurde mitNadeln hineingestochen.Ich machte mich dünner als die Nadel. (...)Meine Augen nahmen die Augenfarbe der Tante an.31

Noch extremer finden wir diesen Wunsch, von der Tante geborenzu sein und auch gleichzeitig Sexualpartnerin der Tante zu sein, infolgendem Bild: „Ich liege zwischen ihren Schenkeln (der Tante)32,drücke meinen Fuß ins Loch.

Aus der Tante tropft Sirup.33

Als die Tante mit einem ihrer Liebhaber sesshaft wird, nabeltsich die Ich-Erzählerin quasi selbst ab: „Ich war so groß wie nötigund schnitt mir die Tante ab.“ Die Mutter dagegen weint und

108 Tanja Becker

29 Veteranyi, Aglaja (2002): Das Regal der letzten Atemzüge. Deutsche Verlags-anstalt Stuttgart, 2. Aufl., S. 27.

30 Ebenda, S. 55.31 Ebenda, S. 57.32 Einfügung von der Autorin des Beitrags.33 Veteranyi, Aglaja: Das Regal der letzten Atemzüge. a.a.O., S. 51.

Page 12: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

versucht die Tochter enger an sich zu binden, was aber nichtgelingt: „Meine Mutter und ich hatten keine Sprache miteinander.Nur Wörter.“34

Vielleicht sollte man die Abnabelung von der Tante aber alsnicht geglückt ansehen, denn es folgt eine tiefe innere Krise derIch-Erzählerin: „Ich selbstmordete mich täglich. (...) Ich starb anDunkelheit, Sommer, Traurigkeit oder an langer Haut.

Vor allem starb ich an meiner Mutter, die mir aus dem Gesichtwuchs.“35

Sie zieht aus, um Distanz zur Mutter zu schaffen36, öffnet derMutter nicht, wenn sie ihr Essen bringt. Stattdessen wirft sie dasEssen weg37 und lässt sich nicht bemuttern und damit instrumenta-lisieren.

Auch hier finden wir ebenso wie in ihrem Debütroman, nurausgeprägter, die inzwischen erwachsen gewordene Tochter alsMutter ihrer Mutter. So bitten sie die Ärzte, ihre Mutter, die dieKontrolle über sich verloren hat, vom Krankenbett der Tantewegzubringen.

Bis über den Tod der Tante hinaus bleibt eine große körperlicheNähe zu ihr bestehen. So legt die Ich-Erzählerin ihren Kopf auf diesoeben verstorbene Tante, um deren letzte Wärme in sich aufzu-nehmen.

„Ihre Wärme. Ihr Gesicht. Mein Gesicht verwandelte sich in ihrGesicht.“38

In Umkehrung des Märchens bleibt die Tante bzw. Stiefmutterbis zum Schluss die gute Mutter.

Die Ich-Erzählerin ist es auch, die die Tante nach ihrem Todumzieht und ihr somit den letzten möglichen Dienst erweist. Hierendet der posthum veröffentlichte und nicht ganz überarbeiteteRoman abrupt und ich möchte meine Betrachtungen zu ihm miteiner Frage zum ersten Satz aus dem Nachwort ihres Verlagslektors,

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 109

34 Ebenda, S. 71.35 Veteranyi, Aglaja: Das Regal der letzten Atemzüge. a.a.O., S. 74.36 Ebenda, S. 81.37 Ebenda, S. 88f.38 Ebenda, S. 125.

Page 13: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Werner Löcher-Lawrence, beenden. „Schreiben war für AglajaVeteranyi Weltbewältigung“39 – war es nicht auch und noch in vielgrößerem Maße eine Bewältigung der extrem ambivalenten Be-ziehung zur Mutter, der trotz allem einzigen Konstante in einemLeben ohne festen Ort und ohne feste weitere Bezugspersonen?

5. Mutter-Tochter-Beziehungen bei Carmen Francesca

Banciu

In dem von der Autorin selbst als Mutterroman bezeichneten BandDas Lied der traurigen Mutter spielt die Ambivalenz der Mutter-Toch-ter-Beziehung eine große Rolle, die bereits zu Beginn deutlichwird, als die auf dem Sterbebett liegende Mutter die mitgebrachtenBlumen zurückweist und die Tochter sich fragt, ob ihre Mutter siesehen wolle und ob sie ihre Mutter sehen wolle.

Die Mutter beantwortet diese Frage, indem sie die Tochterwegschickt und sagt, sie würde sie rufen lassen, wenn sie siebräuchte, was bis zu ihrem Tod noch am selben Tag allerdings nichtgeschieht.40 Als der Vater schließlich nach Hause kommt und ihrmitteilt, die Mutter sei gestorben, weint sie ebensowenig wie er,obwohl er das von ihr erwartet.41

Auch diese Tochter, die Figur Maria-Maria, fühlt sich ihrerMutter hilflos ausgeliefert, da der Vater sich bei der Erziehungzurückhält und sie der Mutter überlässt.42 Dabei leidet sie untereiner doppelten Vernachlässigung, zum Einen weil die Mutter wegender Dreifachbelastung Berufstätigkeit, Haushalt und Kindererziehungnur die Zeit findet, das Leben des Mädchens zu organisieren, d. h. indiesem Fall eine gute, vielseitig gebildete Kommunistin aus ihr zumachen, aber nicht auch mit ihr zu leben.43 Zum Anderen scheintdie Mutter den Vater mehr zu lieben als das Kind.44 Die Mutter

110 Tanja Becker

39 Ebenda, S. 129.40 Banciu, Carmen Francesca (2007): Das Lied der traurigen Mutter. Berlin:

Rotbuch, S. 18.41 Ebenda, S. 26.42 Ebenda, S. 34.43 Ebenda, S. 12.

Page 14: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

handelt stets nach Prinzipien und berücksichtigt die Bedürfnisse desKindes nicht. So verbrennt sie am ersten Schultag alle Puppen, weilab jetzt das Lernen an erster Stelle stehen soll. Gleichzeitig wehrtsich die Mutter dagegen, die Mutter einer Puppenmutter und damitGroßmutter zu sein.

Dabei hat die Mutter stets für andere gelebt, für die Arbeit, fürden Vater und auch für sie, aber nicht für sich und kann damit keinVorbild für die Tochter sein.

Der Vater wollte nur für den Kommunismus leben und keineeigenen Kinder haben, doch die Mutter setzte sich durch. Als dasKind noch dazu eine in den Augen des Vaters minderwertigeTochter ist, schwindet sein Interesse fast vollends und die Mutterwird zur allmächtigen Bestimmerin über das Leben des Mädchens,was an zahlreichen Stellen des Romans zum Ausdruck kommt,nicht zuletzt dadurch, dass alle Kapitelüberschriften das Wort Mutterenthalten45 und darin gipfeln, dass die Mutter über Leben und Todnicht nur der Stubenfliegen, sondern auch des Kindes entscheidetund jedes Mal sagt, wenn sie wütend ist: „Ich habe dich geboren,und ich bringe Dich um.“46

Da die Mutter den Eindruck hat, das Kind würde nicht genugessen, stopft sie ihm löffelweise Essen in den Mund und pervertiertdamit ihre Rolle als Ernährerin durch die Anwendung von Gewalt.47

Die Tochter versucht immer zu verstehen, warum ihre Mutter sotraurig ist und ständig Kopfschmerzen hat und entdeckt als Erklä-rungsansatz, dass die Mutter im Gegensatz zu ihrer älteren Schwesterein uneheliches Kind ist, was der Tochter als Entschuldigung fürdas Verhalten der Mutter dient.48

Erstaunlicherweise kommte es doch zu körperlicher Annäherungzwischen Mutter und Tochter, da die Mutter bereit ist, um derenkünstlerische Entwicklung zu fördern, der Tochter als Aktmodell

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 111

44 Ebenda, S. 11.45 Bis auf ein Kapitel, in dem es um die Abtreibung des Bruders des Mädchens

geht und damit um die Weigerung Mutter zu sein. Siehe S. 166.46 Ebenda, S. 39.47 Ebenda, S. 64.48 Ebenda, S. 79.

Page 15: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

zur Verfügung zu stehen. Dabei hat die Tochter stets den Eindruck,sie könne nur das Äußere und nie das Innere der Mutter einfangen.49

Die Tochter verlässt die Familie, sobald sie achtzehn ist und giltals verlorene Tochter.50 Während der Vater den Kontakt zu ihr mehroder weniger abbricht, besucht die Mutter sie in Bukarest. AufWunsch der Tochter gehen die beiden Kleidung für die Mutterkaufen, weil die Tochter die Mutter zwingen möchte auch einmal ansich zu denken.51 Bei der Abreise stellt sie der Mutter ihren Freundvor und diese reagiert mit heftiger Eifersucht: „Er oder ich.“52

Damit entscheidet die Mutter paradoxerweise über die Ernst-haftigkeit der Beziehung, weil die Tochter überhaupt noch nichtentschieden war, mit diesem Mann zusammenzuleben und jetzt beiihm bleibt, um sich von der Mutter abzugrenzen, während dieMutter feststellt: „Jetzt brauchst Du mich nicht mehr.“53

Während über weite Teile des Romans die konkrete Mutterfigurvon Maria-Maria negativ dargestellt wird, steht am Ende der Versuch,die Widersprüchlichkeiten der „Conditio materna“ darzustellen. Sofinden wir eine mehrseitige Anklageschrift gegen die Rolle derFrau als Gebärerin für irgendwelche Zwecke, wie von Soldaten fürden Krieg oder von Steuerzahlern.54 Gleichzeitig wird Frauen, dienichts mit eigenen Kindern anfangen können das Recht zugestanden,keine zu bekommen. Maria-Maria fühlt sich als Ganzes mit ihremMann, sie will kein Kind, vielleicht auch wegen der negativenErfahrungen mit ihrer Mutter. Doch ihr Mann möchte ein Kind undsie bekommt eines, wobei sie die Geburt als schmerzliche Befreiungdes Kindes aus der Mutter erlebt55 und ihr dieses Muttersein einenneuen Blick auf das Verhalten ihrer eigenen Mutter eröffnet. „Mutter

112 Tanja Becker

49 Ebenda, S. 101.50 Ebenda, S. 127.51 Ebenda, S. 148.52 Ebenda, S. 156.53 Ebenda, S. 161.54 Ebenda, S. 170 ff.55 Banciu, Carmen Francesca: Das Lied der traurigen Mutter. a.a.O., S. 184.

Page 16: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

wollte mich bei Tod [sic!] nicht sehen, weil ich ein Teil von ihr war,den sie verlassen musste.“56

Im Unterschied zu den anderen behandelten Frauenfiguren fügtsich Maria-Maria damit als Glied in die Kette der Generationen ein,indem sie selbst Kinder bekommt.57 So gibt es am Ende des Romansein Spiel mit dem Bild der Matrioschka, der russischen Puppe, inder weitere Puppen verborgen sind, und Maria-Maria fühlt dieersten Anzeichen der Schwangerschaft mit ihrer Tochter am Tagedes Todes ihrer Mutter.

Dabei basiert der ganze Roman auf dem Bewusstsein der unab-dingbaren Ambivalenz von Mutter-Tochter-Beziehungen, wie siein dem „Mutter Unser“, einer Reécriture des Gebets, dargestellt ist58

– aus dem auch die Titelzeile des Vortrags stammt: „Die Quelle desLebens, der Liebe, des Hasses und des Todes“. Im Prinzip basiert derRoman auf der Idee eines notwendigen Scheiterns dieser Beziehung,weil die Libido des Kindes die Mutter überfordere und eine völligeHingabe an das Kind eine Selbstaufgabe bedeute, die die Mutter inihrer Vorbildfunktion scheitern lässt.

6. Mutter-Tochter-Beziehungen bei Gabriela Adameºteanu

Zu Beginn des ersten Teils des Romans Drumul egal al fiecãrei zilekommt der Pförtner mit der Frage: „Wer ist Letiþia Branea?“ insZimmer des Studentenwohnheims. Diese Frage, die dreimal anentscheidenden Stellen von Randpersonen gestellt wird, weist bereitsauf die Thematik des Romans hin: die Identitätssuche eines jungenMädchens und damit auch die Loslösung von der Mutter.

Die Rückblende beginnt mit der Zeit, als die Schülerin LetiþiaBranea zusammen mit ihrer Mutter und deren Bruder in Piteºti, inder Nähe von Bukarest, lebt und für die Aufnahmeprüfung an derUniversität lernt. Der Vater ist seit Jahren aus politischen Gründenim Gefängnis, wobei er allerdings bereits vorher die Familie wegeneiner anderen Frau verlassen hatte.

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 113

56 Ebenda, S. 18957 Ebenda, S. 207.58 Ebenda, S. 192.

Page 17: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Dabei opfert sich die Mutter für die jetzige Familie auf, hat sichselbst mehr oder weniger aufgegeben, läuft nur in alten Kleidernherum und sagt Dinge wie: „Ich mache alles nur für euch, icherwarte schon lange nichts mehr.“59 Damit wird sie zum Negativvor-bild für ihre Tochter, die diese Rolle für sich nicht akzeptierenmöchte.

In der Pubertät lehnt Letiþia Branea die aufkeimende Weiblichkeitihres Körpers ab. Sie ist erschrocken über die Blutung, von der siehofft, dass sie nächsten Monat wieder vorbei ist. Als die Mutter mitihr zu sprechen versucht, schreit sie nur: „Ich will keine Frauwerden so wie ihr. Sie hasste das weiche Fleisch der Frauen, ihreschweren Brüste, den Bauch, den Hintern, Lippenstift und Puder,ohne die sie nicht aus dem Haus gingen und dass sie ständig vonKindern und vom Essen sprachen.“60

Nicht nur in ihrem Körper, auch in ihrem Namen, den sie vonihrer Großmutter hat, erkennt sie sich nicht wieder. Diese Großmutterwar irgendwie schlampig, kümmerte sich wenig um Haushalt undKinder, las ständig und passte nicht genug auf ihre drei Kinder auf.Sie lief immer herum, aß nicht ordentlich, erkältete sich, bekamTuberkulose und starb. Damit scheidet auch die Großmutter alspositives Vorbild für das Mädchen aus.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die beiden Figuren,die Mutter und die Großmutter, die jeweils entgegengesetzte Aus-prägung der Verbindung des Frau- und Mutterseins darstellen. DieMutter findet sich in einer Opferrolle wieder und will nichts fürsich, während die Großmutter die Kinder vernachlässigt und vielliest. Beide Rollenvorbilder werden jedoch von Letiþia abgelehnt,und sie sucht verzweifelt nach einer Alternative.

Die etwas ältere Cornelia aus der Nachbarschaft kann auch nichtals positives Vorbild des Frauseins dienen. Nach ihrer Hochzeit wirdsie anders. Ihr Gesicht wird breiter, die Hüften auch, sie macht sichseltener Dauerwelle und läuft die ganze Zeit mit Kopftuch durch denHof. Sie warnt Letiþia wegen der Geburtsschmerzen davor, Kinder zu

114 Tanja Becker

59 Adameºteanu, Gabriela (1975): Drumul egal al fiecãrei zile. Bukarest:Cartea româneascã , S. 31, Übersetzung von der Autorin des Beitrags.

60 Ebenda, S. 67.

Page 18: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

bekommen, gebiert aber selber nach einem Jahr das zweite Kind, wasfür das Mädchen überhaupt nicht nachvollziehbar ist.61

Im zweiten Teil des Romans ist Letiþia Branea mit den Anfangs-schwierigkeiten des Lebens im Studentenwohnheim, dem Zusammen-leben mit gleichaltrigen Mädchen auf engstem Raum, konfrontiert.

An dieser Stelle taucht zum ersten Mal die Frage auf: „Wer istLetiþia Branea?“62 und zwar gestellt von einer Studentin, die vomPförtner geschickt wurde.

Sie soll schnell nach Hause, weil ihr Onkel gestorben sei.63 DieMutter ist völlig verzweifelt, weil damit auch ihr Leben aufgehörthat, da sie seinen Blick nötig hatte. Kurz danach übergibt ihr dieMutter die wissenschaftlichen Arbeiten des Onkels und bittet sie,diese zu publizieren. Letiþia geht zu Petru Arcan, einem ehemaligenSchüler ihres Onkels, der verspricht, dessen Schriften bis zur fol-genden Woche zu lesen.

Er hilft ihr tatsächlich, die Schriften zu überarbeiten, aber behan-delt sie von oben herab als fleißiges Mädchen. Er nimmt sie mit zusich nach Hause, befiehlt ihr mit derselben autoritären Stimme zutrinken, mit der er ihr die Bibliographie diktiert. Als sie miteinanderschlafen, lässt sie es zwar geschehen, aber ihr Körper verkrampftsich. Sie hat das Gefühl, ihren Körper verlassen zu haben undschaut ihren eigenen Bewegungen ebenso neugierig zu wie seinen.

Zu Hause hat inzwischen der Vater den Platz des Onkels ein-genommen, und wie es ihr scheint, auch ihren eigenen.

Petru drängt sie, bis zum Sommer fertig zu sein. Sie solleweniger spazieren gehen, weniger schlafen und effizienter lernen.Sie wehrt sich und sagt mit der wie sie erstaunt bei sich selbst beo-bachtet schneidenden Stimme ihrer Mutter, er solle seltener anrufen.64

Dabei hofft sie bei jedem Treffen auf seine zurückgehaltene Zärtlich-keit, auch wenn sie jedes Mal enttäuscht wird. Sie fühlt sich chancen-los, in die Welt einzutreten, in der er sich bewegt. Ein Mädchenerzählt ihr, er habe sich von seiner Frau getrennt und habe seitdem

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 115

61 Adameºteanu, Gabriela: Drumul egal al fiecãrei zile. a.a.O., S. 85.62 Ebenda, S. 88.63 Ebenda, S. 89.64 Ebenda, S. 101.

Page 19: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

ständig wechselnde Freundinnen. Sie will weit weg und weiß nicht,wem sie ihre Liebe geben soll. Das bedeutet, dass die Ablösung vonder Mutter als Bezugsobjekt zwar stattgefunden hat, das neue Liebes-objekt aber noch nicht klar ist.

Am Ende des Romans steht noch einmal die Frage: „Wer istLetiþia Branea?“ Petru erwartet sie und damit die Möglichkeit, inBukarest zu bleiben. Sie hat, ohne jemals eine bewusste Entscheidungzu treffen, Petru als Liebesobjekt akzeptiert.

So ist der Roman letztlich ein Bildung- und Entwicklungsromanaus weiblicher Perspektive, bei dem die Ablösung von der Mutterthematisiert wird, aber die Beziehung zur Mutter bei Weitem nichtso traumatisch dargestellt wird, wie in den anderen behandeltenRomanen.

7. Vergleich

Bei den ersten beiden Autorinnen gibt es einen Wechsel der Beziehungzur Mutter von einem Extrem ins andere. Einerseits stößt die Tochterauf völlige Kälte und Ablehnung, andererseits wird sie geliebt undinstrumentalisiert, wobei dieses Phänomen des Wechselbades beiAglaja Veteranyis Figuren wesentlich ausgeprägter ist. Die Mutter-figuren bei ihr leben allerdings auch in einem wesentlich wenigerstabilen sozialen Umfeld, das ihnen Rückhalt geben könnte.

Man könnte somit sagen, die Mutterfiguren hätten versagt, ihreRolle also nicht genügend ausgefüllt. Allerdings stellt bereits Freudfest, dass die Mutter nicht als individuelle Mutter scheitert, sonderndass sie angesichts der Gier der kindlichen Libido notwendig versagenmuss.65

Bei der jungen Frau aus Herztier kann man letztlich die Abnabe-lung von der Mutter als mehr oder weniger geglückt ansehen, auchwenn sie nur durch die Wahrung einer gewissen Distanz seitens derTochter aufrecht erhalten werden kann, die lediglich eine ober-flächliche Mutter-Tochter-Beziehung zulässt. Die Ich-Erzählerin

116 Tanja Becker

65 Casale, Rita, Rendtorff Barbara (Hg.) 2008: Was kommt nach der Gender-forschung? – Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Bielefeld:transcript Verlag, S. 126.

Page 20: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

aus dem Regal der letzten Atemzüge muss dagegen mit dem Tod derguten Mutterfigur in ihrem Leben fertig werden, wobei wenigAussichten zu bestehen scheinen, eine wirkliche Mutter-Tochter-Beziehung zur leiblichen Mutter aufzubauen.

Sowohl bei den Figuren von Herta Müller als auch bei denenvon Aglaja Veteranyi ist die Ablehnung, selbst Kinder zu bekommenund damit Mutter zu werden, vorhanden, und bei beiden entstehtdiese Ablehnung aus einer negativen Erfahrung der eigenen Be-ziehung zur Mutter. Die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ist zugroß. Die Figuren nehmen das Risiko nicht auf sich, ebenso zuversagen wie ihre Mütter.

Auch gelingt es ihnen nicht, eine Beziehung zu einem Partneraufzubauen, ja dieses Misslingen wird nicht einmal wirklich thema-tisiert, als ob es keine Rolle spielen würde. Sie sind somit auch indiesem Punkt gescheitert. Sie können keine enge Beziehung aufbauen,weil die erste Beziehung ihres Lebens, die zu ihrer Mutter, nichtausreichend gelungen ist.

Anders ist dies bei den Figuren Carmen Francesca Bancius undGabriele Adameºteanus, die beide Beziehungen zu Männern eingehen,wobei Maria-Maria sogar Kinder bekommt. Während bei GabrielaAdameºteanu die Ablösung der Tochter mit von gewissen im Norm-bereich liegenden Peripetien beschrieben wird, finden wir bei CarmenFrancesca Banciu zwar keine Überwindung des Muttertraumas vonMaria-Maria, aber es gelingt ihr, mit ihren Verletzungen weiterzulebenund sich in die Generationenkette einzufügen, indem sie selbstMutter wird.

Interessant wäre es nun, kulturelle Unterschiede der Mutter-Toch-ter-Beziehungen bei den vier Autorinnen herauszuarbeiten, die wiebereits eingangs erwähnt unterschiedliche kulturelle Hintergründehaben. Dabei besteht allerdings die Gefahr der Verallgemeinerung,gerade weil die psychosoziale Komponente bei diesem Thema einegrößere Rolle spielt als die kulturelle Provenienz. Eine umfassendeUntersuchung unter der Einbeziehung weiterer Autorinnen würdejedoch den Rahmen dieses Beitrags bei Weitem sprengen.

Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes 117

Page 21: Die Quelle des Lebens, der Liebe. Des Hasses und des Todes

Bibliographie:

Primärliteratur:

Adameºteanu, Gabriela (1975): Drumul egal al fiecãrei zile,Bukarest: Cartea româneascã.

Banciu, Carmen Francesca (2007): Das Lied der traurigen Mutter.Berlin: Rotbuch.

Müller, Herta (1982): Niederungen. Bukarest: Kriterion.Müller, Herta (1996): Herztier. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2.

Auflage.Veteranyi, Aglaja (2003): Warum das Kind in der Polenta kocht.

Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, 3. Aufl..Veteranyi, Aglaija (2002): Das Regal der letzten Atemzüge. Deutsche

Verlagsanstalt Stuttgart, 2. Aufl..

Sekundärliteratur:

Butler, Judith (2004): Undoing Gender. New York: Routledge.Casale, Rita, Rendtorff Barbara (Hg.) 2008: Was kommt nach der

Genderforschung? – Zur Zukunft der feministischen Theorie-bildung. Bielefeld: transcript Verlag.

Eliacheff, Caroline, HEINRICH, Nathalie (2004): Mütter und Töchter– Ein Dreiecksverhältnis, Düsseldorf und Zürich: Patmos Verlag.

Lindhoff, Lena (1995): Einführung in die feministische Literatur-theorie. Stuttgart: Metzler.

118 Tanja Becker