1
DIENSTAG, 13. NOVEMBER 2007 GESELLSCHAFT 33 B iel sah am letzten Wochen- ende aus wie immer, war aber anders: Im Stadttheater und an mehreren anderen Schau- plätzen wurde Philosophie doziert und diskutiert, aber auch erlebbar und anschaulich gemacht. Zum vierten Mal waren die alle zwei Jahre stattfindenden Philosophietage an- gesagt, diesmal unter dem Motto «Ich kaufe, also bin ich». Ist der Mensch, der einst mit Descartes von sich sagen konnte, «ich denke, also bin ich», dermassen auf den Hund gekommen, dass er sich vornehm- lich über den Konsum definiert? DieThese ist aufWiderspruch ange- legt, und der lässt nicht auf sich war- ten, als am Samstagmorgen fünf Philosophen und eine Philosophin antreten, Stellung zu nehmen. Das Stehpult vor dem rotenVorhang des Stadttheaters erweist sich bald als wacklig, aber dafür steht als mäch- tige Stütze unsichtbar Karl Marx be- reit. Oskar Negt hat ihn schon zum voraus im Interview mit dem «Klei- nen Bund» beschworen, mit der Feststellung, «dass der Kapitalis- mus heute erstmals so funktioniert, wie Karl Marx es im ,Kapital‘ be- schrieben hat». Noch bevor Negt diese These weiter ausführen kann, bemüht sein marxistischer MitdenkerWolf- gang Fritz Haug den grossen Lehr- meister scherzhaft gerade anders- herum: «So muss sich Marx den Kommunismus vorgestellt haben», sagt er zu den Arbeitsbedingungen auf dem Google Campus, am Hauptsitz des (ver)führenden An- bieters von Suchdiensten im Inter- net.Wer dort arbeite, geniesse beste Bedingungen, stehe aber unter ho- hem Leistungsdruck und sei «nicht unschuldig»: Er locke zwar die Su- chenden mit Geschenken, verkaufe aber die Oberfläche an die Werber. Eine geradezu diabolische Auswei- tung des Verführungsmotivs wird zum Schluss des Philosophen- reigens Gerd Achenbach vorlegen, Gründer der «weltweit ersten philo- sophischen Praxis» (da gabs zwar einen gewissen Sokrates, aber der machte noch keine Werbung): Er unterhielt sich und das Publikum Ich brauche Zeit, also bin ich DIE BIELER PHILOSOPHIETAGE NEHMEN DEN KONSUM UNTER DIE LUPE mit frappanten Parallelen zwischen dem heutigen Marketing und Sa- tans Auftritten in der Bibel und in der Literatur. «Hebe dich hinweg, Satan», wäre al- so eine Losung gegen dieVerführun- gen der Werbung. Aber: «Mündig wird nur, wer lernt,Verführung zu geniessen», schreibt im Programm- heft der Bieler Philosophielehrer Markus Waldvogel, Initiant der der Philosophietage. Vielleicht führt der Weg zur Mündigkeit über einen ehe- maligen Andachtsraum, heute das Tanzatelier «Move». Hier lässt sich zur Ruhe kommen, tief durchat- men. Mehr darüber weiter unten; die Gedanken gehen zurück ins Stadttheater. Neben der Tatsache, dass sich der Grossteil der Menschheit nicht ein- mal das Nötigste leisten kann, stört Haug am heutigen Konsumange- bot vor allem, dass es Käuflichkeit dessen vorspiegle, was der Mensch zur Erfüllung braucht («käufliche Liebe»). Doch der Mensch sei eben nicht «homo consumens», sondern «sapiens» und «faber», wissend und werkend. Er könne sich zwar «Iden- titätszubehör kaufen, aber nicht Identität». Ein Stichwort für Negt, für den die Bindungen der Men- schen identitätsbestimmend sind, Bindungen an andere, an dauerhaft gepflegte Güter, an den Arbeitsplatz – lauter Bindungen, die in der heu- tigen «Welt als Börse» zerstört und zum Schein durch Konsum ersetzt würden. Der Rationalisierungs- druck führe zur Fragmentierung der Gruppen und der Zeitabläufe, damit zu Persönlichkeitsstörungen und Kriminalität, und der Staat müsse mehr für Sicherheit ausge- ben, als er durch Sozialabbau ein- spare. Den Ausweg sehen die beiden Marxisten ähnlich: Haug rät (mit einem Anklang an die Alternativen Nobelpreise «for right livelihood») zum gesellschaftlich «guten Leben» im Sinn der Nachhaltigkeit: «Wir engagieren uns, also sind wir.» Und Negt rät zu «Gemeinwesenarbeit» und dazu, sich Zeit zu nehmen im Sinn des biblischen «Alles hat seine Zeit», etwa in der Bildung, entgegen den «betriebswirtschaftlichen» Bo- logna-Reformen. Das gleiche ver- nichtende Adjektiv hält er für die Zumessung von Redezeit bereit und setzt sich souverän darüber hinweg. Das wird ihm Annegret Stopczyk als undemokratisch an- kreiden: «Nur der Monarch braucht keine Uhr.» Stopczyk bezeichnet sich als «Leib- philosophin»; bei den Ateliers, in de- nen sich das philosophische Sextett am Nachmittag der Aussenwelt stellt (einzeln und leider gleichzei- tig) begibt sie sich folgerichtig zu Su- sanneDaeppeninsTanzstudio.Dort erhalten die Teilnehmenden – auch gerade ein Sextett aus dem gut hun- dertköpfigen Vortragspublikum ausgiebig Zeit, sich Zeit zu nehmen. Zeit für Stille und Reflexion, wäh- rend in den anderen Ateliers mehr geredet wird und Wirtschaftsleute Gelegenheit erhalten, ihr Tun gegen die Anfechtungen der Philosophen zu verteidigen. Und diese könnten die «konkreten Alternativen» nach- liefern, die eine Zuhörerin nach den ersten zwei Referaten vermisste. Man versteht, dass Marxisten nicht die Rezepte ausgraben mö- gen, die unter Berufung auf Marx und vor allem auf dessen Ausleger konkret ausprobiert worden sind. Lieber setzen sie die Analysemesser an, die Marx hinterlassen hat. Be- sonders scharf tut es Christian Arnsperger, Ökonom mit deut- schem Pass, französischem Intel- lekt und belgischem Lehrstuhl. Er schreibt die Aussage «ich kaufe, also bin ich» den Kapitalisten zu, die Ar- beitskraft kaufen und ausbeuten. Deren Lieferanten werden sich sel- ber so entfremdet, dass sie mit ihren kargen Einkünften «nicht-authen- tische Kauflust» stillen. Diesem real existierenden Kapitalismus stellt er das Bild einer Wirtschaft entgegen, die «ein Mittel, nicht ein Zweck ist», der Deckung der «authentischen Bedürfnisse» dient, letztlich der «spirituellen Entwicklung» des Menschen. Der kranke «homo con- sumens» muss bei Arnsperger den Wert des Verzichts wiederentde- cken, um in einer demokratisierten, gemeinschaftlichen Arbeitswelt aufzublühen. Exakt zur Halbzeit muss der un- sichtbare Marx von der Bühne wei- chen, die ideologische Analyse der nüchternen soziologischen Be- standesaufnahme Platz machen. Sie fällt beim Franzosen Gilles Lipo- vetsky ebenfalls sehr kritisch aus: Wir leben in der Gesellschaft des «Hyperkonsums», dank dem sich jedes Individuum mit allen Gerät- schaften ausrüstet, in die sich in der Konsumgesellschaft ein Haushalt teilte. Brachten damals die gekauf- ten Güter neben dem Nutzwert so- zialen Status, so sucht der vereinzel- te Zeitgenosse heute laut Lipovets- ky bei Markenartikeln Halt in der allgemeinen Verunsicherung, so auch bei «Bio». Damit lasse sich das Unglücklichsein durchaus mil- dern, aber das Glücklichsein, das sich neun von zehn Europäern in Umfragen zubilligen, ist trügerisch: Bei andern stellen die gleichen Be- fragten Ängste und Depressionen fest. An eine Umkehr glaubt der Au- tor nicht: Die umweltbewussten Al- ternativ-Konsumenten würden es nicht einmal schaffen, den TGV der Kommerzialisierung zu bremsen. Wahrscheinlich nicht, denn zu we- nige begeben sich ins «Langsam- keitsatelier» unter dem Titel «Kapi- tal Lebenskraft». Nach dem Ruhen und Atmen wirds bei Tanzlehrerin Daeppen richtig streng: Es gilt, die rund 20 Meter längs durchs Atelier in 20 Minuten zurückzulegen, ohne anzuhalten. Bei den gemessenen Be- wegungen, inspiriert vom japani- schen Butoh-Tanz, beginnt «etwas zu passieren»; das ist bei mir und meinem – immerhin meditations- erfahrenen Beichtpartner noch nicht geschehen, als wir bloss unse- ren Atem beobachteten. Doch das bewusste Gehen wird zum Erlebnis, zeigt die Schwierig- «Ich kaufe, also bin ich»: Die Bieler Philosophietage haben zur Diskussion gestellt, ob die heutige Weltwirtschaft den Menschen zum blossen Konsumenten degradiere. Neben Klagen, just so sei es, förderten sie auch die Ansicht zu Tage, gerade die grossen Konsummöglichkeiten eröffneten neue Wege, zur eigenen Identität zu finden. keit des Gleichgewichts in der Lang- samkeit, die Komplexität dieser all- täglichsten aller Tätigkeiten, die ge- schärfte Aufmerksamkeit für das Knarren des Parketts. Nach 20 Mi- nuten sind nur zwei der sechs schon am Ziel; einer Teilnehmerin kam die Zeit wie zwei Stunden vor, weil sie so viel erlebte; mir aus demselben Grund höchstens wie eine Viertel- stunde, die mir erst noch die Idee be- scherte, wie dieser Bericht aufgebaut werden könnte. Nach all den Konsumkritikern ist die Halbstunde der Leibphiloso- phin Annegret Stopcyzk-Pfund- stein gekommen. Der Zeitmonarch Negt erhält seinen Seitenhieb, die Organisatoren werden zu (zusätzli- cher) Sponsorensuche ermuntert, um nächstes Mal im bilinguen Biel auch noch eine Simultanüberset- zung anzubieten. Konsum ist für sie auch dann keine Ersatzhandlung, wenn er über das hinausgeht, was jeder Vorredner als Grundbedarf anerkannt und keiner definiert hat. Vielmehr dient der Konsum, gerade auch der vom Kommerz genährte und von einem gewissen Reichtum ermöglichte Konsum dazu, die Sehnsucht nach Freiheit, die Le- bensbejahung, den Gestaltungs- willen zu befriedigen. Zu dieser Auffassung kommt Stopczyk gerade wegen ihres «leib- philosophischen Ansatzes», den sie auch auf neueste Hirnforschung abstützt. Demnach hängt das Iden- titätsbewusstsein mit jenem Teil des Hirns zusammen, der die Bewe- gungen steuert, und man lernt und kommuniziert besser, wenn man dabei körperlich etwas spürt: «Die Trennung Geist - Körper findet beim Denken nicht statt.» Dement- sprechend weist die Philosophin auch die altgriechische Trennung von Polis und Oikos zurück, zwi- schen dem Bürgerstaat und der Haus(frauen)wirtschaft. Wie wirtschaftet man, wenn man bei Susanne Daeppen die Langsam- keit erlernt? Wie man zuvor beim Gehen für sich allein Zeit gewinnen gelernt hat, erhält man nun zu zweit Warenhaus in München: Wie finden wir uns in der Konsumwelt zurecht, wenn die Zeit fehlt? Wolfgang Fritz Haug schaut auf Karl Marx. zehn Minuten, um den stummen Tausch eines Apfels gegen einen Ein- fränkler zu vollziehen. Manche Duos schreiten gleich zum Tausch- akt in Zeitlupe, würdig und unrea- listisch mit gleichzeitiger Übergabe der begehrten Objekte. Meine Lekti- onspartnerin beschliesst, sich vom Apfel verführen zu lassen, nimmt ihn nach gebührendem Beschnup- pern entgegen; der Verkäufer ziert sich, den Franken anzunehmen, und verneigt sich zum Erstaunen der Käuferin tief. Man erlebt, dass Handel immer auch von Handeln begleitet ist und beides mit Händen zu greifen ist. Das löst Gedanken aus, bei uns vor allem über das Geld. Fast alle wollen den Apfel – noch jemand hat daran gero- chen, und ein Paar verspeist ihn nach dem Kaufakt gemeinsam – den grösseren Wert sehen und fragen sich, wieso er just einen Franken kos- ten soll. «Weil der, mit seinen zwei Seiten, auch etwas Schönes ist», meint eine Teilnehmerin. Auch An- negret Stopczyk, die im Vortrag das Lob des Geldes gleich mehrfach ge- lobt hat, gerät ins Sinnieren: Es sei gar nicht so einfach, ein Geldstück in Beziehung zu setzen zu Bedürfnis- sen, die man innerlich erfahre. Von den Trennungen zwischen Geist und Körper oder Gesellschaft und Wirtschaft zieht Stopczyk eine direkte Linie zu einer Reihe für sie unhaltbarer Behauptungen: «Wirt- schaft und Ethik sind unversöhn- bar; eher geht ein Kamel durchs Na- delöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt; Geld verdirbt den Charakter.» Vielmehr verstärke es jenen, der schon da sei. Und wenn Vertreter der «patriarchalen Eigen- tumskultur» über die genusssüchti- ge Jugend schimpften, dann orien- tierten sie sich an einer Kriegskul- tur, die Verzicht nötig mache: «Le- bensfeindliche asketische Ideale gehören nicht in eine Friedensge- sellschaft.» «Auch was wir nicht brauchen, kann die Lebensqualität steigern», hält die Leibphilosophin den «Obermoralisten» entgegen, die Konsumverzicht predigen. «Ich kaufe, also bin ich» versteht sie Annegret Stopczyk schaut auf den Leib. nicht im konsumkritischen Sinn des französischen «nouveau philo- sophe» Pascal Bruckner, sondern in jenem des britischen Warenhauses Selfridges, das damit warb. Wer konsumiert, nimmt bei Stopczyk am «atmenden Organismus» teil, den die Wirtschaft darstellt, und kann darin im Verbund mit andern Konsumierenden sogar Macht aus- üben. Freilich muss das Kaufen be- wusst geschehen. Ob ein Bedürfnis echt ist, kann man von sich selber erfahren, indem man mit Leib und Seele auf das innere Erleben achtet. Dafür aber braucht man Zeit. Biel ist immer noch gleich wie sonst, aber bei der Abreise sieht es doch et- was anders aus: Plötzlich fällt am Bahnhof das Piktogramm mit der Einkaufstasche auf, das zur Sicher- heit in dieser zweisprachigen Stadt noch beschriftet ist: «Shopping». Ein Prospekt beim Reisebüro verheisst gar «Shopping, Christmas & Sale». Wie sagte doch US-Präsident Bush nach den Anschlägen vom 11. Sep- tember 2001, jetzt vom marxisti- schen Philosophen Haug genüsslich zitiert? «Go shopping!» Daniel Goldstein So entsteht Markenkult «Ob eine Marke zum Renner wird, entscheiden zu einem grossen Teil die Konsumenten selbst – durch ihre Markenwahr- nehmung.» So fasst die Internet- Publikation der Universität Bern (www.uniaktuell.unibe.ch) eine Studie zusammen, die Myriam Wiederkehr am Institut für Mar- keting und Unternehmensfüh- rung verfasst hat. Qualität und bisherige Bekanntheit einer Marke vorausgesetzt, entschei- de die Käuferschaft über die Be- förderung zum (von ihr definier- ten) «Kult». Es brauche ein Pro- dukt «zur richtigen Zeit am rich- tigen Ort, die richtigen Leute müssen davon begeistert sein und ihrerseits Werbung für das Produkt machen» , schliesstWie- derkehr aus 300 Befragungen. In der Schweiz ergab sich daraus die Rangliste Nike, Adidas, Apple, Coca Cola, M-Budget. Auf die «richtigen Leute» («opinion leaders») kann dieWerbung aber durchaus Einfluss nehmen. (dg) MARCUS FUEHRER/KEYSTONE ZVG ZVG

DIE BIELER PHILOSOPHIETAGE NEHMEN DEN KONSUM UNTER … · 2013-03-12 · zum Schein durch Konsum ersetzt würden. Der Rationalisierungs- ... zur eigenen Identität zu finden. keit

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: DIE BIELER PHILOSOPHIETAGE NEHMEN DEN KONSUM UNTER … · 2013-03-12 · zum Schein durch Konsum ersetzt würden. Der Rationalisierungs- ... zur eigenen Identität zu finden. keit

DIENSTAG, 13. NOVEMBER 2007 GESELLSCHAFT 33

B iel sah am letzten Wochen-ende aus wie immer, waraber anders: Im Stadttheater

und an mehreren anderen Schau-plätzen wurde Philosophie doziertund diskutiert, aber auch erlebbarund anschaulich gemacht. ZumviertenMalwarendieallezweiJahrestattfindenden Philosophietage an-gesagt, diesmal unter dem Motto«Ich kaufe, also bin ich». Ist derMensch, der einst mit Descartes vonsich sagen konnte, «ich denke, alsobin ich», dermassen auf den Hundgekommen, dass er sich vornehm-lich über den Konsum definiert?

DieTheseistaufWiderspruchange-legt,undderlässtnichtaufsichwar-ten, als am Samstagmorgen fünfPhilosophen und eine Philosophinantreten, Stellung zu nehmen. DasStehpultvordemrotenVorhangdesStadttheaters erweist sich bald alswacklig, aber dafür steht als mäch-tigeStützeunsichtbarKarlMarxbe-reit. Oskar Negt hat ihn schon zumvoraus im Interview mit dem «Klei-nen Bund» beschworen, mit derFeststellung, «dass der Kapitalis-musheuteerstmalssofunktioniert,wie Karl Marx es im ,Kapital‘ be-schrieben hat».

Noch bevor Negt diese Theseweiter ausführen kann, bemühtsein marxistischer MitdenkerWolf-gang Fritz Haug den grossen Lehr-meister scherzhaft gerade anders-herum: «So muss sich Marx denKommunismus vorgestellt haben»,sagt er zu den Arbeitsbedingungenauf dem Google Campus, amHauptsitz des (ver)führenden An-bieters von Suchdiensten im Inter-net.Werdortarbeite,geniessebesteBedingungen, stehe aber unter ho-hem Leistungsdruck und sei «nichtunschuldig»: Er locke zwar die Su-chendenmitGeschenken,verkaufeaber die Oberfläche an die Werber.Eine geradezu diabolische Auswei-tung des Verführungsmotivs wirdzum Schluss des Philosophen-reigens Gerd Achenbach vorlegen,Gründerder«weltweiterstenphilo-sophischen Praxis» (da gabs zwareinen gewissen Sokrates, aber dermachte noch keine Werbung): Erunterhielt sich und das Publikum

Ich brauche Zeit, also bin ichDIE BIELER PHILOSOPHIETAGE NEHMEN DEN KONSUM UNTER DIE LUPE

mitfrappantenParallelenzwischendem heutigen Marketing und Sa-tans Auftritten in der Bibel und inder Literatur.

«Hebedichhinweg,Satan»,wäreal-so eine Losung gegen dieVerführun-gen der Werbung. Aber: «Mündigwird nur, wer lernt, Verführung zugeniessen», schreibt im Programm-heft der Bieler PhilosophielehrerMarkus Waldvogel, Initiant der derPhilosophietage.Vielleicht führt derWegzurMündigkeitübereinenehe-maligen Andachtsraum, heute dasTanzatelier «Move». Hier lässt sichzur Ruhe kommen, tief durchat-men. Mehr darüber weiter unten;die Gedanken gehen zurück insStadttheater.

Neben der Tatsache, dass sich derGrossteil der Menschheit nicht ein-mal das Nötigste leisten kann, störtHaug am heutigen Konsumange-bot vor allem, dass es Käuflichkeitdessen vorspiegle, was der Menschzur Erfüllung braucht («käuflicheLiebe»). Doch der Mensch sei ebennicht«homoconsumens»,sondern«sapiens»und«faber»,wissendund

werkend. Er könne sich zwar «Iden-titätszubehör kaufen, aber nichtIdentität». Ein Stichwort für Negt,für den die Bindungen der Men-schen identitätsbestimmend sind,Bindungenanandere,andauerhaftgepflegteGüter,andenArbeitsplatz– lauter Bindungen, die in der heu-tigen «Welt als Börse» zerstört undzum Schein durch Konsum ersetztwürden. Der Rationalisierungs-druck führe zur Fragmentierungder Gruppen und der Zeitabläufe,damit zu Persönlichkeitsstörungenund Kriminalität, und der Staatmüsse mehr für Sicherheit ausge-ben, als er durch Sozialabbau ein-spare.

Den Ausweg sehen die beidenMarxisten ähnlich: Haug rät (miteinem Anklang an die AlternativenNobelpreise «for right livelihood»)zumgesellschaftlich«gutenLeben»im Sinn der Nachhaltigkeit: «Wirengagieren uns, also sind wir.» UndNegt rät zu «Gemeinwesenarbeit»und dazu, sich Zeit zu nehmen imSinn des biblischen «Alles hat seineZeit»,etwainderBildung,entgegenden «betriebswirtschaftlichen» Bo-logna-Reformen. Das gleiche ver-nichtende Adjektiv hält er für dieZumessung von Redezeit bereitund setzt sich souverän darüberhinweg. Das wird ihm AnnegretStopczyk als undemokratisch an-kreiden: «Nur der Monarch brauchtkeine Uhr.»

Stopczyk bezeichnet sich als «Leib-philosophin»;beidenAteliers, inde-nen sich das philosophische Sextettam Nachmittag der Aussenweltstellt (einzeln und leider gleichzei-tig) begibt sie sich folgerichtig zu Su-sanneDaeppeninsTanzstudio.Dorterhalten die Teilnehmenden – auchgerade ein Sextett aus dem gut hun-dertköpfigen Vortragspublikum –ausgiebig Zeit, sich Zeit zu nehmen.Zeit für Stille und Reflexion, wäh-rend in den anderen Ateliers mehrgeredet wird und WirtschaftsleuteGelegenheit erhalten, ihr Tun gegendie Anfechtungen der Philosophenzu verteidigen. Und diese könntendie «konkreten Alternativen» nach-liefern, die eine Zuhörerin nach denersten zwei Referaten vermisste.

Man versteht, dass Marxistennicht die Rezepte ausgraben mö-gen, die unter Berufung auf Marxund vor allem auf dessen Auslegerkonkret ausprobiert worden sind.LiebersetzensiedieAnalysemesseran, die Marx hinterlassen hat. Be-sonders scharf tut es ChristianArnsperger, Ökonom mit deut-schem Pass, französischem Intel-lekt und belgischem Lehrstuhl. ErschreibtdieAussage«ichkaufe,alsobin ich» den Kapitalisten zu, die Ar-beitskraft kaufen und ausbeuten.Deren Lieferanten werden sich sel-bersoentfremdet,dasssiemitihrenkargen Einkünften «nicht-authen-tische Kauflust» stillen. Diesem realexistierenden Kapitalismus stellt erdas Bild einer Wirtschaft entgegen,die «ein Mittel, nicht ein Zweck ist»,der Deckung der «authentischenBedürfnisse» dient, letztlich der«spirituellen Entwicklung» desMenschen. Der kranke «homo con-sumens» muss bei Arnsperger denWert des Verzichts wiederentde-cken,umineinerdemokratisierten,gemeinschaftlichen Arbeitsweltaufzublühen.

Exakt zur Halbzeit muss der un-sichtbare Marx von der Bühne wei-chen, die ideologische Analyse dernüchternen soziologischen Be-standesaufnahme Platz machen.SiefälltbeimFranzosenGillesLipo-vetsky ebenfalls sehr kritisch aus:Wir leben in der Gesellschaft des«Hyperkonsums», dank dem sichjedes Individuum mit allen Gerät-

schaftenausrüstet, indiesichinderKonsumgesellschaft ein Haushaltteilte. Brachten damals die gekauf-ten Güter neben dem Nutzwert so-zialenStatus,sosuchtdervereinzel-te Zeitgenosse heute laut Lipovets-ky bei Markenartikeln Halt in derallgemeinen Verunsicherung, soauch bei «Bio». Damit lasse sich dasUnglücklichsein durchaus mil-dern, aber das Glücklichsein, dassich neun von zehn Europäern inUmfragen zubilligen, ist trügerisch:Bei andern stellen die gleichen Be-fragten Ängste und Depressionenfest. An eine Umkehr glaubt der Au-tornicht:DieumweltbewusstenAl-ternativ-Konsumenten würden esnicht einmal schaffen, denTGV derKommerzialisierung zu bremsen.

Wahrscheinlich nicht, denn zu we-nige begeben sich ins «Langsam-keitsatelier» unter dem Titel «Kapi-tal Lebenskraft». Nach dem Ruhenund Atmen wirds bei TanzlehrerinDaeppen richtig streng: Es gilt, dierund20MeterlängsdurchsAtelierin20 Minuten zurückzulegen, ohneanzuhalten.BeidengemessenenBe-wegungen, inspiriert vom japani-schen Butoh-Tanz, beginnt «etwaszu passieren»; das ist bei mir undmeinem – immerhin meditations-erfahrenen – Beichtpartner nochnicht geschehen, als wir bloss unse-ren Atem beobachteten.

Doch das bewusste Gehen wirdzum Erlebnis, zeigt die Schwierig-

«Ich kaufe, also bin ich»: Die Bieler Philosophietage haben zur Diskussion gestellt,

ob die heutige Weltwirtschaft den Menschen zum blossen Konsumenten degradiere.

Neben Klagen, just so sei es, förderten sie auch die Ansicht zu Tage, gerade die grossen

Konsummöglichkeiten eröffneten neue Wege, zur eigenen Identität zu finden.

keit des Gleichgewichts in der Lang-samkeit, die Komplexität dieser all-täglichsten aller Tätigkeiten, die ge-schärfte Aufmerksamkeit für dasKnarren des Parketts. Nach 20 Mi-nuten sind nur zwei der sechs schonamZiel;einerTeilnehmerinkamdieZeit wie zwei Stunden vor, weil sie soviel erlebte; mir aus demselbenGrund höchstens wie eine Viertel-stunde, die mir erst noch die Idee be-scherte,wiedieserBerichtaufgebautwerden könnte.

Nach all den Konsumkritikern istdie Halbstunde der Leibphiloso-phin Annegret Stopcyzk-Pfund-stein gekommen. Der ZeitmonarchNegt erhält seinen Seitenhieb, dieOrganisatoren werden zu (zusätzli-cher) Sponsorensuche ermuntert,um nächstes Mal im bilinguen Bielauch noch eine Simultanüberset-zunganzubieten.Konsumistfürsieauch dann keine Ersatzhandlung,wenn er über das hinausgeht, wasjeder Vorredner als Grundbedarfanerkannt und keiner definiert hat.VielmehrdientderKonsum,geradeauch der vom Kommerz genährteund von einem gewissen Reichtumermöglichte Konsum dazu, dieSehnsucht nach Freiheit, die Le-bensbejahung, den Gestaltungs-willen zu befriedigen.

Zu dieser Auffassung kommtStopczyk gerade wegen ihres «leib-philosophischen Ansatzes», den sieauch auf neueste Hirnforschungabstützt. Demnach hängt das Iden-titätsbewusstsein mit jenem TeildesHirnszusammen,derdieBewe-gungen steuert, und man lernt undkommuniziert besser, wenn mandabei körperlich etwas spürt: «DieTrennung Geist - Körper findetbeim Denken nicht statt.» Dement-sprechend weist die Philosophinauch die altgriechische Trennungvon Polis und Oikos zurück, zwi-schen dem Bürgerstaat und derHaus(frauen)wirtschaft.

Wie wirtschaftet man, wenn manbei Susanne Daeppen die Langsam-keit erlernt? Wie man zuvor beimGehen für sich allein Zeit gewinnengelernthat,erhältmannunzuzweit

Warenhaus in München: Wie finden wir uns in der Konsumwelt zurecht, wenn die Zeit fehlt?

WolfgangFritz Haugschaut aufKarl Marx.

zehn Minuten, um den stummenTausch eines Apfels gegen einen Ein-fränkler zu vollziehen. MancheDuos schreiten gleich zum Tausch-akt in Zeitlupe, würdig und unrea-listisch mit gleichzeitiger Übergabeder begehrten Objekte. Meine Lekti-onspartnerin beschliesst, sich vomApfel verführen zu lassen, nimmtihn nach gebührendem Beschnup-pern entgegen; der Verkäufer ziertsich, den Franken anzunehmen,und verneigt sich zum Erstaunender Käuferin tief.

Man erlebt, dass Handel immerauch von Handeln begleitet ist undbeidesmitHändenzugreifenist.DaslöstGedankenaus,beiunsvorallemüber das Geld. Fast alle wollen denApfel–nochjemandhatdarangero-chen, und ein Paar verspeist ihnnachdemKaufaktgemeinsam–dengrösseren Wert sehen und fragensich,wiesoerjusteinenFrankenkos-ten soll. «Weil der, mit seinen zweiSeiten, auch etwas Schönes ist»,meint eine Teilnehmerin. Auch An-negret Stopczyk, die im Vortrag dasLob des Geldes gleich mehrfach ge-lobt hat, gerät ins Sinnieren: Es seigarnichtsoeinfach,einGeldstückinBeziehung zu setzen zu Bedürfnis-sen, die man innerlich erfahre.

Von den Trennungen zwischenGeist und Körper oder Gesellschaftund Wirtschaft zieht Stopczyk einedirekte Linie zu einer Reihe für sieunhaltbarer Behauptungen: «Wirt-schaft und Ethik sind unversöhn-bar;ehergehteinKameldurchsNa-delöhr, als dass ein Reicher in denHimmel kommt; Geld verdirbt denCharakter.» Vielmehr verstärke esjenen, der schon da sei. Und wennVertreter der «patriarchalen Eigen-tumskultur»überdiegenusssüchti-ge Jugend schimpften, dann orien-tierten sie sich an einer Kriegskul-tur, die Verzicht nötig mache: «Le-bensfeindliche asketische Idealegehören nicht in eine Friedensge-sellschaft.»

«Auch was wir nicht brauchen,kann die Lebensqualität steigern»,hält die Leibphilosophin den«Obermoralisten» entgegen, dieKonsumverzicht predigen. «Ichkaufe, also bin ich» versteht sie

AnnegretStopczykschaut aufden Leib.

nicht im konsumkritischen Sinndes französischen «nouveau philo-sophe» Pascal Bruckner, sondern injenem des britischen WarenhausesSelfridges, das damit warb. Werkonsumiert, nimmt bei Stopczykam «atmenden Organismus» teil,den die Wirtschaft darstellt, undkann darin im Verbund mit andernKonsumierenden sogar Macht aus-üben. Freilich muss das Kaufen be-wusst geschehen. Ob ein Bedürfnisecht ist, kann man von sich selbererfahren, indem man mit Leib undSeele auf das innere Erleben achtet.Dafür aber braucht man Zeit.

Biel ist immer noch gleich wie sonst,aber bei der Abreise sieht es doch et-was anders aus: Plötzlich fällt amBahnhof das Piktogramm mit derEinkaufstasche auf, das zur Sicher-heit in dieser zweisprachigen Stadtnoch beschriftet ist: «Shopping». EinProspekt beim Reisebüro verheisstgar «Shopping, Christmas & Sale».Wie sagte doch US-Präsident Bushnach den Anschlägen vom 11. Sep-tember 2001, jetzt vom marxisti-schen Philosophen Haug genüsslichzitiert? «Go shopping!»

Daniel Goldstein

So entsteht Markenkult«Ob eine Marke zum Rennerwird, entscheiden zu einemgrossen Teil die Konsumentenselbst – durch ihre Markenwahr-nehmung.» So fasst die Internet-Publikation der Universität Bern(www.uniaktuell.unibe.ch) eineStudie zusammen, die MyriamWiederkehr am Institut für Mar-keting und Unternehmensfüh-rung verfasst hat. Qualität undbisherige Bekanntheit einerMarke vorausgesetzt, entschei-de die Käuferschaft über die Be-

förderung zum (von ihr definier-ten) «Kult». Es brauche ein Pro-dukt «zur richtigen Zeit am rich-tigen Ort, die richtigen Leutemüssen davon begeistert seinund ihrerseits Werbung für dasProduktmachen»,schliesstWie-derkehr aus 300 Befragungen. Inder Schweiz ergab sich darausdie Rangliste Nike, Adidas,Apple, Coca Cola, M-Budget. Aufdie «richtigen Leute» («opinionleaders») kann dieWerbung aberdurchaus Einfluss nehmen. (dg)

MARCUS FUEHRER/KEYSTONE

ZVG ZVG