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108. Jahrgang, Heft 4, 2016 2016 WAXMANN Die Deutsche Schule Erziehungswissenschaft Zeitschrift für Herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bildungspolitik und pädagogische Praxis Schulen in „schwieriger“ Lage Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer Schulen in „schwieriger“ Lage?! Gisela Steins Classroom Management und das Lehrer-Schüler-Verhältnis Horst Weishaupt Schulen in schwieriger Lage und Schulfinanzierung Berichte zum Schwerpunktthema Christine Baur Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen Christine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva Kamarianakis Netzwerk- und evidenzbasierte Schulentwicklung Rick Mintrop Organisationale und designbasierte Schulentwicklung in den USA Weiterer Beitrag Robert Moosbrugger/Christoph Helm/David Kemethofer/ Sandra Bröderbauer/Susanne Luthe Standortspezifische Hemmfaktoren des schulischen Lernens 4

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108. Jahrgang, Heft 4, 2016

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WA X M A N N

DieDeutsche

SchuleErziehungswissenschaftZeitschrift für

Herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

Bildungspolitik und pädagogische Praxis

Schulen in „schwieriger“ LageNina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer

Schulen in „schwieriger“ Lage?!Gisela Steins

Classroom Management und dasLehrer-Schüler-VerhältnisHorst Weishaupt

Schulen in schwieriger Lage und Schulfinanzierung

Berichte zum SchwerpunktthemaChristine Baur

Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von SchulenChristine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva Kamarianakis

Netzwerk- und evidenzbasierte SchulentwicklungRick Mintrop

Organisationale und designbasierte Schulentwicklungin den USA

Weiterer BeitragRobert Moosbrugger/Christoph Helm/David Kemethofer/Sandra Bröderbauer/Susanne Luthe

Standortspezifische Hemmfaktoren des schulischenLernens

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www.waxmann.com

UNSERE BUCHEMPFEHLUNG

Petra Stanat, Katrin Böhme, Stefan Schipolowski, Nicole Haag (Hrsg.)

IQB-Bildungstrend 2015Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich2016, 544 Seiten, br., 44,90 €, ISBN 978-3-8309-3535-3

 Im IQB-Bildungstrend 2015 wird über die Ergebnisse des zweiten Län-dervergleichs des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

(IQB) in den sprachlichen Fächern berichtet. Untersucht werden Kom- petenzen von Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe im Jahr 2015 in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch. Ein Fokus liegt dabei auf Trendanalysen, die zeigen, inwieweit sich das erreichte Kom- petenzniveau in den sprachlichen Fächern seit dem IQB-Ländervergleich 2009 verändert hat. Die Referenzgröße bilden die länderübergreifenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, die fächerspezifisch festlegen, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einem bestimmten Punkt in ihrer Schullaufbahn entwickelt haben sollen.

Neben der Untersuchung der sprachlichen Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Zuhören und Orthografie im Fach Deutsch sowie im Lese- und Hörverstehen in den fremdsprachlichen Fächern werden in diesem Bericht auch geschlechtsbezogene, soziale und zuwanderungsbezogene Disparitäten analysiert und ebenfalls überprüft, inwieweit hierfür seit dem Jahr 2009 Veränderungen festzustellen sind. Ergänzend werden Befunde zur Aus- und Fortbildung von Deutsch- und Englischlehrkräften berichtet.

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Die Deutsche SchuleZeitschrift für Erziehungswissenschaft , Bildungspolitik und pädagogische Praxis

Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im DGBin Zusammenarbeit mit der Max-Traeger-Stift ung

Redaktion: Prof. Dr. Isabell van Ackeren (Essen), Dr. Götz Bieber (Ludwigsfelde), Prof. Dr. Kathrin Dedering (Erfurt), Detlef Fickermann (Hamburg), Dr. habil. Hans-Werner Fuchs (Hamburg), Prof. Dr. Martin Heinrich (Bielefeld), Prof. Dr. Marianne Krüger-Potratz (Münster) Geschäft sführerin: Sylvia Schütze, Universität Bielefeld,Wissenschaft liche Einrichtung Ober-stufen-Kolleg, Universitätsstraße 23, 33615 Bielefeld, E-Mail: [email protected] der Redaktion: Prof. Dr. Isabell van Ackeren (Essen)

Beirat: Prof. Dr. Herbert Altrichter (Linz-Auhof), Dr. Christine Biermann (Bielefeld), Marianne Demmer (Wilnsdorf), Prof. Dr. Mats Ekholm (Karlstad), Prof. Dr. Hans-Peter Füssel (Berlin), Prof. Dr. Friederike Heinzel (Kassel), Prof. Dr. Th omas Höhne (Hamburg), Prof. Dr. Klaus Klemm (Essen), Prof. Dr. Eckhard Klieme (Frankfurt a.M.), Prof. Dr. Katharina Maag Merki (Zürich), Prof. Dr. Heinrich Mintrop (Berkeley), Prof. Dr. Angelika Paseka (Hamburg), Prof. Dr. Nicolle Pfaff (Essen), Hermann Rademacker (München), Prof. Dr. Sabine Reh (Berlin), Prof. Dr. Hans-Günter Rolff (Dortmund), Prof. Andreas Schleicher (Paris), Dr. Gundel Schümer (Berlin), Jochen Schweitzer (Münster), Prof. Dr. Knut Schwippert (Hamburg), Ulrich Steff ens (Wiesbaden), Wilfried W. Steinert (Templin), Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann (Berlin), Prof. Dr. Manfred Weiß (Bad Soden), Prof. Dr. Wolfgang W. Weiß (Bremerhaven)

Beitragseinreichung und Double-blind Peer Review: Manuskripte (nur Originalbeiträge) werden als Word-Datei an die Geschäft sführung ([email protected]) erbeten. Bitte beachten Sie die Hinweise zur Manuskriptgestaltung (www.dds-home.de). Seit dem 103. Jahrgang (2011) durchlaufen alle Fachartikel in der DDS (Texte zum Th emenschwerpunkt und für die Rubrik „Weitere Beiträge“) ein externes Review-Verfahren. Nach einer redaktionellen Prüfung der eingereichten Aufsätze im Hinblick auf ihre grundsätzliche Eignung für die DDS schließt sich eine Begutachtung im Doppelblindverfahren durch ehrenamtlich tätige Gutachter/innen an.

Die Deutsche Schule erscheint vierteljährlich (Februar/Mai/August/November). Zusätzlich zu den vier Heft en pro Jahrgang können Beiheft e erscheinen, die den Abonnenten außer-halb des Abonnements zu einem ermäßigten Preis mit Rückgaberecht geliefert werden. Unter www.waxmann.com und www.dds-home.de fi nden Sie weitere Informationen.

Preise und Bezugsbedingungen: Jahresabonnement 53,00 €, für GEW-Mitglieder/Studierende 43,00 €, inkl. Online-Zugang für Privatpersonen. Campuslizenz auf Anfrage. Die Preise verste-hen sich zzgl. Versandkosten. Ein Einzelheft kostet 16,50 € inkl. Versandkosten. Abbestellungen spätestens 6 Wochen vor Ablauf des Jahres abonnements.

ISSN 0012-0731© Waxmann Verlag GmbH, 2016Steinfurter Straße 555, 48159 Münster, Telefon: 02 51/2 65 04 0, Fax: 02 51/2 65 04 26, Internet: www.waxmann.com, E-Mail: [email protected]

Anzeigenverwaltung: Waxmann Verlag GmbH, Martina Kaluza: [email protected]: Buschmann GmbH, MünsterSatz: Stoddart Satz- und Layoutservice, Münster

Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafb ar. Unter dieses Verbot fallen insbesondere die gewerbliche Vervielfältigung per Kopie, die Aufnahme in elektronische Datenbanken und die Vervielfältigung auf CD-Rom und allen anderen elektronischen Datenträgern.

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DDS – Die Deutsche SchuleZeitschrift für Erziehungswissenschaft ,

Bildungspolitik und pädagogische Praxis108. Jahrgang 2016 / Heft 4

INHALT

NACHRUF

Barbara Koch-PrieweTrauer um Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Klafk i .................................... 315

EDITORIAL

Isabell van Ackeren/Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer Editorial zum Schwerpunktthema: Schulen in „schwieriger“ Lage ......................... 320

SCHULEN IN „SCHWIERIGER“ LAGE

Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin RacherbäumerSchulen in „schwieriger“ Lage?! Begriff e, Forschungsbefunde und Perspektiven ............................................................... 323

Gisela SteinsClassroom Management an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage unter besonderer Berücksichtigung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses ................... 340

Horst WeishauptSchulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung ................................................... 354

BERICHTE ZUM SCHWERPUNKTTHEMA

Christine BaurMerkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin – das Bonus-Programm zur Unterstützung von Schulen in schwieriger Lage .......... 370

Christine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva KamarianakisZur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter SchulentwicklungEin Praxisbericht aus dem Projekt „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“ ........... 384

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Inhalt

312 DDS, 108. Jg., 4(2016)

Rick MintropKonzepte der organisationalen und designbasierten Schulentwicklung im US-amerikanischen Kontext ...................................................................................... 399

WEITERER BEITRAG

Robert Moosbrugger/Christoph Helm/David Kemethofer/Sandra Bröderbauer/Susanne LutheStandortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens – eine qualitative Analyse von Schulleiteraussagen ........................................................ 412

REZENSION ........................................................................................................................ 431

DieDeutsche

Schule

2017VorschauThemenschwerpunkt: Professionalisierung im Berufsfeld Schule

Das Aufgabenspektrum von Lehrerinnen und Lehrern hat sich im Kontext gesellschaftlicher Herausforderungen erheblich erweitert. Vor diesem Hintergrund werden Professionalisierungsprozesse von (angehenden) Lehrkräften sowie die Frage nach dafür förderlichen Rahmenbedingungen bundesweit thematisiert, gestaltet und erforscht, etwa im Rahmen der „QualitätsoffensiveLehrerbildung“.In Heft 1/2017 wird das Themenfeld der Professionalisierung in das BerufsfeldSchule hinein bzw. der Professionalisierung des pädagogischen Personals inSchulen aufgegriffen. Dabei geht es zunächst um den biographisch bedeutsamen Berufseinstieg. Hier setzen u.a. verschiedene Formen des Mentorings an,über die mit einer internationalen Vergleichsperspektive berichtet wird. Professionalisierung im inklusiven Kontext stellt derzeit eine besondere Herausforderung in Schulen dar, auch hinsichtlich des professionellen Selbstverständnisses der Akteure, das paradoxerweise gerade durch Schulbegleitungen alsGruppe weitgehend nicht professionalisierten Personals herausgefordert wird.Die Rollenirritationen werden im Hinblick auf Strukturprobleme und rollenbedingte Friktionen in der Handlungskoordination exemplarisch analysiert undhinsichtlich möglicher Fortbildungsansätze reflektiert. Zudem werden diestrukturellen Rahmenbedingungen von Lehrerfortbildung, Aspekte derLehrerfortbildungsdidaktik und ausgewählte empirische Befunde zu Merkmalen „wirksamer“ Fortbildung präsentiert. Ein historisch informierter Blick aufdie Zukunft des Lehrerberufs beschließt den Themenschwerpunkt.

Heft 1/2017 erscheint im Februar 2017.

Waxmann • Steinfurter Str. 555 • 48159 Münster • www.waxmann.com

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DDS – Die Deutsche SchuleZeitschrift für Erziehungswissenschaft ,

Bildungspolitik und pädagogische Praxis108. Jahrgang 2016 / Heft 4

CONTENTS

OBITUARY

Barbara Koch-PrieweIn Memoriam Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Klafk i .............................. 315

EDITORIAL

Isabell van Ackeren/Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer Editorial to the Focus Topic: Schools in a “Challenging” Situation ......................... 320

SCHOOLS IN A “CHALLENGING” SITUATION

Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin RacherbäumerSchools in a “Challenging” Situation?! Concepts, Results of Research, and Perspectives ............................................................. 323

Gisela SteinsClassroom Management at Schools in Socioeconomically Disadvantaged Areas with Particular Consideration of the Teacher-Student-Relationship ........... 340

Horst WeishauptSchools in a Challenging Situation and School Financing ......................................... 354

REPORTS FOR THE FOCUS TOPIC

Christine BaurFeature-related Level of Resources for Schools in Berlin – the Bonus Program to Support Schools in a Challenging Situation ........................ 370

Christine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva KamarianakisTh e Conception of Network- and Evidence-Based School DevelopmentA Report of the Project “Developing Potentials – Empowering Schools” .................... 384

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Inhalt

314 DDS, 108. Jg., 4(2016)

Rick MintropConcepts of Organizational and Design-Based School Development in the US-American Context ............................................................................................ 399

FURTHER ARTICLE

Robert Moosbrugger/Christoph Helm/David Kemethofer/Sandra Bröderbauer/Susanne LutheObstacles to Learning in the Perspective of School Leaders ...................................... 412

BOOK REVIEW .................................................................................................................. 431

DieDeutsche

Schule

2017PreviewFocus Topic: Professionalization of School Staff

Teachers’ range of tasks has enormously extended in the context of societalchallenges. Against this background, professionalization processes of futureteachers and the question of supportive conditions to that are nationwide discussed, arranged, and explored, for example in the context of the “Quality Pactfor Teaching”.

Issue 1/2017 focuses on professionalization for working at schools and on (further) professionalization of schools’ educational staff. First, it deals with thebiographically important career start. Here, various forms of mentoring are offered, which are presented in an international comparative study. Currently,professionalization with regard to inclusive settings is a particular challenge atschools, last but not least with respect to the actors’ professional self conception, which is paradoxically provoked by classroom assistants, who are widelynot professionally trained. The role irritations are exemplarily analyzed withregard to structural problems and to frictions, which result from different rolesin the action co ordination; this is also discussed with respect to potentialtraining offers. Furthermore, the focus topic deals with the structural framework of further teacher training, with aspects of its didactics, and with selectedempirical results regarding characteristics of “effective” further trainings. Ahistorically informed look at the future of the teaching profession concludesthe focus topic.

Issue 1/2017 will be out in February 2017.

Waxmann • Steinfurter Str. 555 • 48159 Münster • www.waxmann.com

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Nachruf/Obituary

Trauer um Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Klafk i

In Memoriam Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Klafk i

Am 24. August 2016, kurz vor seinem 89. Geburtstag, verstarb Wolfgang Klafk i. Die Disziplin verliert mit ihm einen der bedeutendsten Erziehungswissenschaft ler der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Durch seine geisteswissenschaft lich ge-prägte Bildungstheorie und deren Weiterentwicklung zum Konzept einer Kritisch-konstruktiven Allgemeinbildung, durch seine Forschungen und sein bildungspolitisches Engagement prägte er in der Bundesrepublik für fast ein halbes Jahrhundert erziehungs-wissenschaft liches und schulpädagogisches Denken. Die „DDS – Die Deutsche Schule“ verliert als „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft , Bildungspolitik und pädagogische Praxis“ einen herausragenden Bildungstheoretiker, der es in seinem Leben und Werk vermochte, genau diese Trias in schöpferischer Weise zu verbinden.

Vor allem mit seinen über 400 publizierten Werken förderte er über mehrere Jahrzehnte die Diskussionen um geeignete Bildungsvorstellungen und Schulreformen. Seine Schrift en wurden in 14 Sprachen übersetzt und entfalteten auch international Wirkungen.1 Äußerst bemerkenswerte Werke hatte er bereits als junger Mann von 30 Jahren verfasst. Die von ihm formulierte „Bildungstheoretische Didaktik“ hatte für die bundesrepublikanische Lehrerbildung seit dem Beginn der 1960er-Jahre eine weit-reichende Bedeutung. Viele, die in dieser Phase ein Lehramt studierten, kannten die 1958/1959 erschienenen Aufsätze zur „Didaktischen Analyse“ und zur „Kategorialen Bildung“ und auch die „Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“, die 1963 publiziert wurden und immer wieder neu aufgelegt worden sind. In diesem Jahr wurde er zum Professor an der Universität Marburg ernannt, an der er bis zu seiner Emeritierung 1992 lehrte.

Seine Publikationen richteten sich bereits früh nicht nur auf enge Fragen der Lehrerbildung. Ende der 1960er-Jahre wurde das unter der Leitung von Wolfgang Klafk i erarbeitete „Funkkolleg Erziehungswissenschaft “ ausgestrahlt. Die anschließend als dreibändiges Taschenbuch veröff entlichten Studienbegleitbriefe erzielten Aufl agen bis zu einer halben Million, so dass die Erkenntnisse des Fachs breite Bevölkerungskreise erreichten. Diese erfolgreiche Publikationstätigkeit fi el in die Phase des Entstehens ei-ner eigenständigen und universitär verankerten Disziplin „Erziehungswissenschaft “,

1 Eine vollständige Bibliographie der Publikationen Wolfgang Klafk is auf dem Stand von 2014 fi ndet sich zusammen mit ausführlichen biographischen Informationen unter URL: http://bbf.dipf.de/publikationen/bestandsverzeichnisse/bv13.pdf; Zugriff sdatum: 25.09.2016.

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Nachruf

die damit aus ihrem Schattendasein eines Begleit- oder Nebenfachs der Lehrerbildung, v.a. angesiedelt an Pädagogischen Hochschulen, heraustrat. Dass nun ein akademisches Fachstudium mit dem Abschluss Diplom-Pädagogik möglich wurde, ist u.a. auch auf das Wirken der Autorengruppe des Funkkollegs um Wolfgang Klafk i zurückzuführen, mit dem sich das neu zu etablierende Fach hohe Anerkennung erwarb.

Seine durch die Geisteswissenschaft liche Pädagogik (v.a. Herman Nohl, Th eodor Litt und Erich Weniger) geprägten Vorstellungen von Bildung unterzog Wolfgang Klafk i Ende der 1960er-Jahre im Kontext der Studentenbewegung einer gründlichen Revision, ohne einige ihrer wichtigen Prämissen aufzugeben. Einen eindrucksvollen Beleg für die ihm eigene Synthese von Kontinuität und Weiterentwicklung fi ndet sich im be-reits 1971 erschienenen Aufsatz zur „Kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft “, in der Hermeneutik, Empirie und Ideologiekritik als fruchtbare und zu verbindende Erkenntnismethoden des Fachs dargestellt werden.

Mit dem Begriff „kritisch“ bezog sich Klafk i auf die Kritische Th eorie und die Frankfurter Schule der Sozialphilosophie (v.a. auf Th eodor Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas und Hans-Joachim Heydorn). Deren Kritik an autoritären und un-demokratischen gesellschaft lichen Strukturen (auch in vermeintlich demokratischen Staaten) teilte Klafk i, fand sie jedoch wenig konstruktiv, weil sich in ihren Werken we-nig zu einer positiven gesellschaft lichen Alternative fi nden ließ. Klafk i bemühte sich im Unterschied dazu um konstruktive Vorschläge, wie im bestehenden gesellschaft li-chen System Veränderungen in Schule und Gesellschaft eingeleitet werden könnten, um kontinuierlich eine Demokratisierung durchzusetzen. Die 1970er-Jahre waren daher er-füllt von der Suche nach einem modernen Bildungsbegriff , der einen sowohl kritischen als auch konstruktiven Beitrag zur Veränderung von Schule und Unterricht zu leisten vermochte und mit dem die unpolitischen und letztlich affi rmativen Vorstellungen des durch die Geisteswissenschaft liche Pädagogik geprägten Bildungsbegriff s ebenso über-wunden werden könnten wie technokratische Lehrplankonzepte.

In dieser Phase entdeckte Wolfgang Klafk i als eine vierte fruchtbare Erkenntnismethode die Prinzipien der Handlungsforschung und lotete die mit ihr verbundenen ertrag-reichen Möglichkeiten systematisch aus: Das von ihm dauerhaft und energisch ver-tretene Demokratie-Prinzip ließ sich hier besonders gut verwirklichen durch eine enge und gleichberechtigte Kooperation der forschenden Wissenschaft lerinnen und Wissenschaft ler mit den in der Schule tätigen Lehrerinnen und Lehrern, die gemein-sam Lerngelegenheiten gestalten, um Mündigkeit und Emanzipation der Schülerinnen und Schüler zu fördern. So fanden Schulpraxis und didaktische Th eorie gleichermaßen Eingang in das auf Empirie gestützte Untersuchungsdesign. Im Kontext des von ihm geleiteten Marburger Grundschulprojekts (1971-1978) mündete dies in ein Konzept praxisnaher Curriculumentwicklung für das Fach Deutsch sowie für den natur- und sozialwissenschaft lichen Sachunterricht. Bis heute leitet dieser Forschungstyp, der in-ternational deutlich anerkannter ist als in der Bundesrepublik Deutschland, vor al-

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lem die Prinzipien der staatlichen Versuchsschulen in Bielefeld. Den Anliegen der bei-den dortigen Schulprojekte Oberstufen-Kolleg und Laborschule war Wolfgang Klafk i daher dauerhaft verbunden; dies dokumentiert auch seine lange Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeit im Wissenschaft lichen Beirat der Laborschule.

Die als sein zweites Hauptwerk im Jahre 1985 publizierten „Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ mit der Kritisch-konstruktiven Allgemeinbildungstheorie, die auf die Bearbeitung epochaltypischer Schlüsselprobleme verweist und unter Berufung auf neuhumanistische Bildungstheorien Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit als zentrale Bildungsziele benennt, sind sowohl als Resultat der erwähnten empirischen Forschungstätigkeit als auch als Ergebnis der damit verbun-denen theoretischen Anstrengungen zu lesen: Ähnlich wie die 1963 veröff entlichten Studien traf die neue Aufsatzsammlung wiederum auf breite Zustimmung, und das darin enthaltene Allgemeinbildungskonzept fand vielerorts Eingang in Schulgesetze, Rahmenrichtlinien und Curricula.

Seit Ende der 1960er-Jahre arbeitete Wolfgang Klafk i in zahlreichen bildungspolitischen Gremien und brachte dort seine schulreformerische Expertise ein: Zwischen 1968 und 1971 leitete er z.B. die Kommission zur Reform der Hessischen Bildungspläne, die zwar mit einer Enttäuschung über die Unbeweglichkeit der damaligen Ministerialbürokratie endete, ihn aber nicht von weiterem Engagement in anderen öff entlichen Bereichen abhielt. Er schrieb umfassende Gutachten oder trat kontinuierlich als Experte seiner Zunft und politischer Berater auf: z.B. zur Einrichtung von Gesamtschulen und zur Verlängerung der Pfl ichtschulzeit, zur Einführung der Förderstufe und einer sechsjäh-rigen Grundschulzeit und zur Einführung des Fachs Arbeitslehre an Hauptschulen. In den 1990er-Jahren z.B. fungierte er als Vorsitzender der Schulreformkommission des Landes Bremen und wirkte in dem 1995 veröff entlichten Bericht der NRW-Bildungs-Kommission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft “ mit. Sein Engagement zeig-te sich auch in der Wahl der Institutionen, in denen er Mitglied war: Er gehörte der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft an und wurde kurz nach ihrer Gründung Mitglied der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG). 1968 trug er als Vorstandsmitglied zur Gründung des Bundes demokratischer Wissenschaft lerinnen und Wissenschaft ler (BdWi) bei. Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), der er 1963 beitrat, verliert mit ihm einen langjährigen Vorsitzenden und ein Ehrenmitglied.

Vorbildlich ist auch seine in den 1980er-Jahren beginnende Auseinandersetzung mit der Verstrickung der Geisteswissenschaft lichen Pädagogik in die NS-Ideologie zu nennen, die zusätzlich eine kritische Refl exion der eigenen Biographie und der Tätigkeit als Hitlerjunge einschloss: 1988 publizierte er in einem von ihm herausgegebenen Band („Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus“) eine au-tobiographische Skizze mit dem Titel „Politische Identitätsbildung und frühe pädago-gische Berufsorientierung in Kindheit und Jugend unter dem Nationalsozialismus“).

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Das zusammen mit Johanna-Luise Brockmann 2002 veröff entlichte kritische Werk „Geisteswissenschaft liche Pädagogik und Nationalsozialismus. Herman Nohl und sei-ne ‚Göttinger Schule‘ 1932-1937“ dokumentiert und analysiert bis dahin unbekann-te Schrift en Nohls bzw. Briefwechsel mit seinen Schülern, in denen deutlicher als in anderen Beiträgen von Nohl dessen systemstützende Haltung zum Ausdruck kommt.

Eine Überraschung löste die erst im Jahr 2013 publizierte, von Klafk i in den Jahren 2002 bis 2004 geringfügig überarbeitete Version seiner zweiten Staatsexamensarbeit von 1952 (!) aus.2 Auf 180 Seiten entwickelte Klafk i theoretisch die später in seiner Dissertation und dem bereits oben erwähnten Aufsatz verfassten Prinzipien Kategorialer Bildung. Zusätzlich schildert er durch Rückgriff auf seine eigene Tätigkeit als Volksschullehrer unzählige konkrete Beispiele für die Realisierung Kategorialer Bildung und präsentiert zumindest ausschnittweise Unterrichtseinheiten zur Kategorialen Bildung aus den unter-schiedlichsten Fächern. Besonders bemerkenswert ist die im Werk betonte Verbindung von Kategorialer Bildung und „Selbststätigkeit“, wobei er auf Ansätze Hugo Gaudigs Bezug nimmt. Die Frage „Wie ermögliche ich dem Kind kategoriale Einsichten?“ beant-wortet er mit vielen praktischen Hinweisen (Klafk i 2013, S. 105). Th eoretisch bearbeite-te er in dieser Staatsexamensarbeit – bereits in Entfaltung der Th eorie der Kategorialen Bildung – das Th ema: „In welchem Verhältnis müssen Subjekt und Objekt, Kind und Kulturgut zueinander stehen, damit Kategoriale Bildung Wirklichkeit werden kann?“ (A.a.O., S. 104) Eine seiner richtungsweisenden Antworten fi ndet sich bereits dort: „Alle methodische Kunst liegt darin beschlossen, tote Sachverhalte in lebendige Handlungen zurück zu verwandeln, aus denen sie entsprungen sind“ (a.a.O., S. 165). Warum der Autor in den langen Phasen seiner Schaff enskraft die Prinzipien und konkreten Beispiele für Kategoriale Bildung nicht weiterbearbeitet und früher der Öff entlichkeit zugänglich gemacht hat, bleibt ein ungelöstes Rätsel.

Nicht zuletzt soll auf die Achtung und Wertschätzung hingewiesen werden, die Wolfgang Klafk i als Lehrer und als Hochschullehrer in all seinen persönlichen Beziehungen aus-drückte und auch zurückerhielt. Sein gleichbleibend bescheidenes Auft reten verband er mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit. Mit seinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern einer Volksschule in Schaumburg-Lippe, die er bis 1952 unterrichtete, blieb er durch jährliche Treff en kontinuierlich in Kontakt. Die Auswertung der Interviews (publiziert 1997), die Astrid Kaiser mit ihnen geführt hat, lassen seine außerordentli-chen praktischen Fähigkeiten als Lehrer lebendig werden. Seiner behutsamen und im-mer wohlwollenden Unterstützung ist es zu verdanken, dass über 70 Doktorandinnen und Doktoranden bei Wolfgang Klafk i an der Philipps-Universität Marburg promo-vieren konnten. Sein zuvorkommendes Wesen zeigte sich nicht nur in der sorgsamen Beratung beim wissenschaft lichen Fortschritt der Arbeiten, sondern schloss auch die Anteilnahme an den persönlichen Verhältnissen ein. Vier Jahrzehnte lang trafen sich vie-

2 Klafk i, W. (1952/2013): Kategoriale Bildung. Konzeption und Praxis reformpädagogischer Schularbeit zwischen 1948 und 1952. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Christian Ritzi und Heinz Stübig. Klinkhardt: Bad Heilbrunn.

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Nachruf

le der ehemaligen Doktorandinnen und Doktoranden regelmäßig mit dem Doktorvater und seiner Frau Hildegard zu einer herbstlichen Tagung, diskutierten die eigenen und seine Ideen und blickten humorvoll auf die vielfältigen Aktivitäten des Doktorvaters so-wie der Ehemaligen im berufl ichen und privaten Bereich. Auch hier verband sich im-mer wieder wissenschaft liche Wertschätzung mit persönlicher Sympathie.

Wolfgang Klafk i repräsentiert eine für die Bundesrepublik Deutschland einzigar-tige Verbindung von Erziehungswissenschaft , Schul- und Bildungstheorie, prakti-scher Schulreform und bildungspolitischem Engagement. Nachvollziehbar ist, dass er für sein herausragendes Lebenswerk mehrfach die Ehrendoktorwürde und auch das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhielt. Er hinterlässt die Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft , in der Allgemeinbildung die Grundlage aller didaktischen Überlegungen ist. Inzwischen mehren sich Stimmen, die anregen, sich erneut auf Klafk is Bildungstheorie und die Orientierung an epochaltypischen Schlüsselproblemen zu besinnen sowie „sich zu fragen, wie es um das Erreichen des zentralen Ziels der Schulen steht, der nächsten Generation Einsicht in die Mitverantwortlichkeit für die Herausforderungen der Zukunft zu vermitteln und die Bereitschaft zu fördern, an ih-rer Bewältigung mitzuwirken“ (Kuhn 2014, S. 417f.)3.

Das von Wolfgang Klafk i stets verfochtene Prinzip der Demokratisierung von Gesellschaft und Bildungswesen zielte auf Förderung von Chancengleichheit und ist damit nach wie vor aktuell, ebenso seine Kritik an einer Verabsolutierung der formalen Bildung, auf die ein missverstandener Kompetenzbegriff zielt. Auf Basis seiner Bildungstheorie stellt sich gerade jetzt die drängende Frage, ob es für den Bestand und die Fortentwicklung unse-res demokratischen Staatswesens ausreicht, Lernziele vor allem von den Kernbegriff en Employability und Alltags-Nützlichkeit abzuleiten. Er hingegen votierte immer für ein Allgemeinbildungskonzept, das zentral auch politische Bildung einschloss. Mit ihm ver-liert die Erziehungswissenschaft eine gewichtige Stimme, die sich in Wissenschaft und pädagogischer Praxis konsequent für die weitere Demokratisierung und Humanisierung der Gesellschaft einsetzte.

Barbara Koch-Priewe, Bielefeld

3 Kuhn, H.-J. (2014): Anspruch, Wirklichkeit und Perspektiven der Gesamtstrategie der KMK zum Bildungsmonitoring. In: Die Deutsche Schule 106, H.  4, S.  414-426. Ergänzend sei auf einen demnächst erscheinenden Band verwiesen, der unter dem Titel „Kritische und konstruktive Anschlüsse an das Werk Wolfgang Klafk is“ von Anne Köker und Jan Chris-toph Störtländer herausgegeben wird und in dem eine Reihe von zeitgenössischen Autoren und Autorinnen ihre aktuellen Einschätzungen skizzieren und auch Vorschläge für die Zu-kunft der Lehrer- und Lehrerinnenbildung unterbreiten (vgl. URL: http://www.beltz.de/fachmedien/erziehungs_und_sozialwissenschaft en/buecher/produkt_produktdetails/32755-kri tische_und_konstruktive_anschluesse_an_das_werk_wolfgang_klafk is.html; Zugriff sdatum: 25.09.2016).

Nachruf

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Editorial zum Schwerpunktthema:Schulen in „schwieriger“ Lage

EDITORIAL

Editorial to the Focus Topic:Schools in a “Challenging” Situation

Trotz der guten Wirtschaft slage in Deutschland profi tieren große Teile der Bevöl-kerung nicht von dieser Entwicklung. Dass sich die Lebenslage von Heran-wachsenden in Deutschland – nicht nur hinsichtlich der monetären Situation – im regionalen Vergleich höchst ungleich darstellt, ist ein lange bekannter Befund. Im Bildungsbereich verschärft sich diese Situation auf der Ebene von Einzelschulen, etwa durch ein diff erenziertes Schulwahlverhalten von Eltern unterschiedlicher so-zialer Milieus, so dass es zu sozialen Entmischungsprozessen vor allem in urbanen Ballungsräumen kommt. Diese können sich sogar noch schärfer darstellen, als sich dies in der sozialen Zusammensetzung des Wohnumfelds zeigt (etwa gemessen am Anteil von Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen, an der Arbeitslosenquote, an der Bildungsqualifi kation in der Familie oder eben gemessen am Armutsrisiko).

Dies ist bei weitem kein auf einige Regionen beschränktes Problem. Vielmehr se-hen sich Schulen, auch solche derselben Schulform, aufgrund ökonomischer, sozialer und kultureller Unterschiede im Umfeld von Schulen bzw. in der Zusammensetzung der Schülerschaft bundesweit vor höchst unterschiedliche Herausforderungen gestellt – wobei sich dies kaum in einer diff erenziellen Mittelallokation (etwa in Form von personellen oder sächlichen Ressourcen) widerspiegelt. Bislang fi nden sich erst in Hamburg, Berlin, Bremen und im Ruhrgebiet ernsthaft e Ansätze seitens der Bildungs-administration bzw. im Kontext von Forschungs- und Entwicklungsprojekten, subs-tanzielle Förderkonzepte für Schulen in schwierigen Lagen zu entwickeln und mit ent-sprechendem Ressourceneinsatz umzusetzen.

Das Th ema der Schulfi nanzierung in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld der Schule ist derzeit im bildungspolitischen Diskurs gleichwohl prominent; ihm widmet sich der Beitrag von Horst Weishaupt, der es auf der Basis statistischer Daten als bundes-weite Herausforderung herausarbeitet und die bisherigen politisch-administrativen Anstrengungen auf diesem Gebiet refl ektiert. Das Fazit ist ernüchternd; fi nanzielle Mittelumschichtungen und pädagogische Fördermaßnahmen müssten viel umfassen-der und substanzieller angelegt und mit Evaluation verbunden sein, um Wirkungen zu erfassen und adaptiv steuern zu können.

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Editorial

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Exemplarisch für die bislang wenigen Ansätze einer merkmalsbezogenen Res sourcen-steuerung berichtet Christine Baur über das Berliner Bonus-Programm zur Unter-stützung von Schulen in schwieriger Lage; Unterstützung bedeutet hier insbesonde-re fi nanzielle Hilfen, weniger aber pädagogische Unterstützung. Ziel ist es vor allem, durch die wissenschaft liche Begleitung des Programms wirksame standortspezifi sche Interventionsstrategien und Unterstützungsmaßnahmen zu identifi zieren und breiter verfügbar zu machen.

Einen anderen Ansatz verfolgt das Projekt „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“ in der Metropole Ruhr, über das Christine Neumann, Tanja Webs, Sarah Eiden und Eva Kamarianakis berichten. Im Mittelpunkt stehen hier netzwerk- und evidenzba-sierte Schulentwicklungsansätze mit dem Ziel, im Zusammenwirken von Schulen, Wissen schaft , Schulentwicklungsberatung und Bildungsadministration geeignete Strategien zur Förderung der Qualität von Schulen in herausfordernden Lagen zu entwickeln, umzusetzen und gemeinsam zu refl ektieren. Schulen werden hier – auch mit entsprechenden fi nanziellen Mitteln (wenngleich bei weitem nicht so hohen wie beim Berliner Bonus-Programm) – in ihrem Entwicklungsprozess unterstützt. Daten, die im Rahmen dieses Forschungs- und Entwicklungsprojektes erhoben und zur Verfügung gestellt werden, werden als „vielschichtig interpretierbar“ verstanden, und Evidenz wird als „Aushandlungskonstrukt“ begriff en, so dass Interpretationen und die Ableitung von Handlungsbedarfen und -maßnahmen in moderierten Prozessen von den schulischen Akteuren selbst vollzogen werden können. Die Erarbeitung von Problemlösestrategien soll sich dabei auf Netzwerk- und Einzelschulebene wechselsei-tig ergänzen.

Der Beitrag von Nina Bremm, Esther Dominique Klein und Kathrin Racherbäumer, mit dem der Heft schwerpunkt eingeleitet wird, gibt einen Überblick über das noch recht junge Forschungsfeld zu Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage – auch auf der Folie der längeren Forschungstradition im angloamerikanischen Raum. Im Artikel wird u.a. auf ein relationales Raumverständnis hingewiesen, da Schulen den sozia-len Raum, in dem sie sich befi nden, selbst mitgestalten, und zwar grundsätzlich so-wohl im produktiven Sinne als auch im Sinne der (kaum bewussten) Verstärkung von Diff erenz, Marginalisierung und Segregation. Im Zentrum des Beitrags steht die Frage, wie Kontext- und Kompositionseff ekte zustande kommen und welche mögli-chen Ansatzpunkte einer gelingenden und zugleich ungleichheitsrefl exiven Schul- und Unterrichtsentwicklung in sozial segregierten Räumen sich auf Basis solcher Analysen zeigen. Entsprechende Handlungsalternativen könnten Bestandteil von Profes sionali-sierungsprozessen in der Lehreraus- und -f ortbildung sein.

Die Autorinnen des Beitrags verweisen auch auf neuere Ansätze der design-basier-ten Schulentwicklung in den USA. Bei diesem Zugang werde von „schablonenhaf-ten Lösungen“ abgesehen, um stattdessen im Zusammenwirken von Wissenschaft , Bildungsverwaltung und Bildungspraxis passgenaue Entwicklungskonzepte für ein-

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Editorial

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zelne Schulen zu entwickeln. Entsprechende „Konzepte der organisationalen und designbasierten Schulentwicklung im US-amerikanischen Kontext“ werden im Berichts teil von Rick Mintrop beschrieben. Solche Konzepte „fortlaufender Orga ni-sations entwicklung“ werden insbesondere für „krisenhaft e Organisationen“ entwi-ckelt, die akute Probleme aufweisen und ihre Ziele nicht erreichen. Anspruch dieser Konzepte ist es, praktisches, nicht überforderndes Designwissen im Sinne von Hand-lungs orientierungen bereitzustellen und zugleich wissenschaft lichen Ansprüchen zu genügen.

Eine besondere Bedeutung kommt schließlich – so belegen es Befunde der Unter-richts forschung – dem Lehrer-Schüler-Verhältnis zu. Gisela Steins zeigt in ihrem Schwer punktbeitrag aus sozialpsychologischer Perspektive, warum ein positives Lehrer-Schüler-Verhältnis im Rahmen von Classroom Management gerade an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage besonders wichtig ist, warum die Herausforderung für Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die einen „abweichenden Interaktionscode“ zeigen, besonders groß ist und wie ein unterstüt-zendes Lehrer-Schüler-Verhältnis in diesem Kontext aussehen und aufrecht erhalten werden kann.

Der Th emenschwerpunkt ist insgesamt so angelegt, dass sowohl Steuerungsimpulse, die die Makroebene des Bildungssystems betreff en (hier vor allem eine diff erenzier-te, sozialindexgesteuerte Mittelzuweisung), aufgegriff en als auch theoretische Ansätze und Befunde dargestellt werden, die die zentrale Bedeutung von auf der Meso- und Mikroebene beobachtbaren Prozessen der Reproduktion sozialer Ungleichheit in den Blick nehmen; auf dieser Basis werden unterstützende Ansatzpunkte auf der Ebene der Schule als Organisation sowie auf der Ebene der Interaktion zwischen Lehrkräft en und Schülerinnen und Schülern aufgezeigt. Berichte zu Projekten und Programmen zeigen erste konkrete Beispiele eines aktiven Beitrags zu mehr Bildungsgerechtigkeit im Kontext sozialräumlich bedingter ungleicher Bildungschancen auf.

Isabell van Ackeren/Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer

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ZusammenfassungForschung zu Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage stellt aus wissenschaft licher Perspektive eine besondere Herausforderung dar. Spezifi ka des sozialen Raums, die für Bildungsprozesse von Schülerinnen und Schülern in deprivierten Sozialräumen wirk-sam werden, theoretisch und empirisch herauszuarbeiten, erfordert interdisziplinäre und multimethodische Zugänge, die eine Vielzahl wissenschaft licher Forschungsfelder berüh-ren. Der vorliegende Überblicksbeitrag skizziert zunächst zentrale Begriff e und Konzepte des Forschungsfeldes und fokussiert anschließend die Frage, welchen Stellenwert Meso- und Mikroprozesse mit Blick auf gelingende und ungleichheitsrefl exive Schul- und Unterrichtsentwicklung in sozial segregierten Räumen einnehmen.Schlüsselwörter: sozialräumliche Segregation, Reproduktion sozialer Ungleichheit, kon-textsensible Schulentwicklung

Schools in a “Challenging” Situation?! Concepts, Results of Research, and PerspectivesSummaryResearch in schools serving disadvantaged communities is challenging. It takes interdis-ciplinary, multi-method approaches to capture the many sub-disciplines that interact in this fi eld and to describe those characteristics of the social space that shape how children in these communities learn and grow. In this paper, the authors aim to provide an over-view of the fi eld. Th ey fi rst specify terms and concepts relevant to the fi eld. Th ey then summarize what we know so far about the mechanisms that infl uence successful organi-zational and instructional improvement that is sensitive to inequities and disadvantages in a socially segregated space.Keywords: segregation in disadvan taged communities, reproduction of social inequality, context-sensitive school development

Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer

Schulen in „schwieriger“ Lage?! Begriff e, Forschungsbefunde und Perspektiven

DDS – Die Deutsche Schule 108. Jahrgang 2016, Heft 4, S. 323-339

© 2016 Waxmann

SCHULEN IN „SCHWIERIGER“ LAGE

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Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer

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1. Einleitung

Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage standen in jüngster Zeit häufi g im öf-fentlichen und bildungspolitischen Fokus, sind jedoch aus bildungswissenschaft licher Sicht in Deutschland bislang wenig beforscht. Die sozialräumliche Einbettung von Schulen in benachteiligte Kontexte und damit einhergehende Kompositionseff ekte der Schülerschaft korrelieren mit niedrigeren Schulleistungen und niedrigeren Bildungsabschlüssen. Gleichwohl weist Ditton darauf hin, dass Zusammenhänge von Kontextfaktoren und Bildungserfolg keinesfalls als deterministische Kausalkette ge-dacht werden können:

„[…] vielmehr ist zu klären, inwiefern und auf welche Weise ein Kontext individuelle Haltungen, Einstellungen und Verhalten beeinfl usst. Relevant können dabei die in einem Kontext vorherrschenden Werte und Normen sein, außerdem die verfügbaren Ressourcen oder bestehenden Restriktionen sowie einschließlich die Strukturen und Ausgestaltung sozialer Beziehungen, die unter anderem auch über soziale Vergleichsprozesse und Mechanismen der Inklusion und Exklusion zum Tragen kommen“ (Ditton 2013, S. 201).

Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, einen Einblick in dieses noch junge Forschungsfeld zu geben und aktuelle Ansätze und Befunde zur schulischen Arbeit in sozialräumlich deprivierten Kontexten zusammenzufassen. Dabei werden vor al-lem Prozesse in den Blick genommen, die sich auf der Meso- und Mikroebene von Schule abspielen und damit unmittelbar mit den Bedingungen des schulischen Kontextes in Berührung kommen. Der Blick auf derartige Prozesse ermöglicht es, das Zustandekommen von Kontext- und Kompositionseff ekten näher zu beleuchten, und eröff net somit auch den Blick auf mögliche Ansatzpunkte einer ungleichheitsrefl exi-ven und kontextsensiblen Schul- und Unterrichtsentwicklung.

Im Folgenden werden zunächst das diesem Beitrag zugrundeliegende Verständnis von Schulen in sozialräumlich deprivierten Kontexten vorgestellt sowie zentrale Begriff e des Forschungsfeldes analysiert und systematisiert. In einem zweiten Schritt werden mit Blick auf die Mesoebene von Schule Modelle und Befunde der Schuleff ektivitäts- und Schulentwicklungsforschung in benachteiligten Sozialräumen vorgestellt. Diese fassen unter Einbezug anglophoner Studien den aktuellen Kenntnisstand zu He-raus forderungen und erfolgreichen organisationalen Strategien von Schulen in so-zial benachteiligten Lagen zusammen. Im dritten Teil werden zentrale theoretische und empirische Arbeiten dargelegt, die die Mikroebene der Reproduktion sozialer Be nachteiligung über Interaktions- und Kommunikationsstrukturen in der Schule in den Blick nehmen.

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Schulen in „schwieriger“ Lage?!

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2. Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage – Defi nitionen und Perspektiven

2.1 Zum Begriff der „sozialräumlich deprivierten Lage“

Bei Schulen in sozialräumlich deprivierten Lagen handelt es sich zumeist um ur-bane Gebiete, „in denen sich das Phänomen der wohnräumlichen Segregation be-sonders deutlich zeigt und für dessen Bewohnerinnen und Bewohner Prozesse der Exklusion und der verringerten Teilhabe“ (Fölker/Hertel/Pfaff 2015, S.  9) beson-ders off ensichtlich sind. Eine solche „Verräumlichung sozialer Ungleichheit“ (ebd.) gilt als Ergebnis sozioökonomischer Polarisierungs- bzw. Entmischungsprozesse, von denen insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit niedri-gem Bildungsabschluss sowie Kinder und Jugendliche überproportional häufi g be-troff en sind. Statistisch sind solche Stadtteile unter anderem durch einen über-durchschnittlich hohen Anteil von Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen, eine überdurchschnittliche Arbeitslosenquote, eine niedrige Bildungsqualifi kation, ein hohes Armutsrisiko und eine geringe soziale Mobilität der Einwohnerinnen und Einwohner im Vergleich mit anderen Stadtteilen gekennzeichnet (vgl. Friedrichs/Triemer 2008, S. 8ff .). Dort lokalisierte Schulen sind entsprechend der oben beschrie-benen Bevölkerungsstruktur durch einen hohen Anteil an sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern charakterisiert, wobei die Freiheit der Schulwahl keine unmittelbaren Schlussfolgerungen zum Zusammenhang zwischen der Lage der Schule und der Schülerinnenkomposition zulässt.

2.2 (Re-)Produktion sozialräumlich deprivierter Lagen

Wir verstehen den sozialen Raum als soziales Phänomen, dessen Entstehung und Entwicklung abhängig von gesellschaft lichen Veränderungen ist (vgl. Löw 2015). Damit geraten hinsichtlich sozial benachteiligter Standorte nicht nur die dort le-benden Akteure mit ihrer sozialen Praxis in den Blick, sondern auch außenstehen-de Akteure, die sozialen Räumen unterschiedliche Bedeutungen zukommen lassen und sie damit ebenfalls mitgestalten. Wesentliches Merkmal eines solchen relationa-len Raumverständnisses ist, dass der soziale Raum – anders als in statischen, star-ren, euklidischen Raumkonzepten – sozial konstruiert und damit veränderbar ist. Divergent verlaufende gesellschaft liche Entwicklungen erzeugen zudem Unterschiede in der Sozialraumgenese. Vor diesem Hintergrund erweisen sich auch sozial benach-teiligte Stadtteile untereinander als heterogen, was insbesondere bei internationalen Vergleichen sichtbar wird (vgl. Friedrichs/Triemer 2008).

Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage gestalten nach dieser Auff assung den Sozialraum, in dem sie sich befi nden, grundsätzlich mit, und zwar in mehrfa-

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Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer

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cher Hinsicht. So können Schulen in einem Stadtteil für die dort lebenden Akteure Gelegenheiten eröff nen, um über Bildung gesellschaft liche Teilhabe zu erlangen. Ferner kann Schule im Sinne der Idee eines Gegenraums zum Quartier neben for-malen fachlichen Bildungsinhalten auch als Modell einer „anderen“ gesellschaft lichen Praxis fungieren, sodass das Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire der Akteure erweitert und damit über den gelebten Sozialraum hinaus anschlussfähig wird.

Jedoch kann die Institution Schule durch Praxen und Routinen der Diff erenz(re)pro-duktion auch zur nachhaltigen Marginalisierung der sozialen Akteure in benachteilig-ten Stadtteilen beitragen und somit Ungleichheiten und segregierende Tendenzen zu-sätzlich verstärken.

2.3 Refl exion von Etikettierungen – „Schwierige Lage“ und „Brennpunktschule“?

Im Kontext bildungspolitischer und gesellschaft licher Diskurse werden Schulen an sozial deprivierten Standorten als „Brennpunktschulen“ oder Schulen in „schwieri-ger“ Lage etikettiert; zum Teil wählen dort berufl ich tätige Personen Begriff e dieser Art auch selbst. Eine diff erenzierte Auseinandersetzung der entsprechenden schuli-schen Akteure mit dem Begriff der „schwierigen Lage“ nimmt mit Blick auf die (Re-)Produktion von Diff erenzen in schulischen Interaktionen eine zentrale Rolle ein. Die Kategorie „Schulen in schwieriger Lage“ ist dadurch nicht mehr nur eine scheinbar objektive Zustandsbeschreibung, sondern impliziert gleichermaßen eine Wertung und Haltung gegenüber dieser Lage, die zu Reifi kation führen kann. In diesem Sinne wür-de eine Schule in sozialräumlich benachteiligter Lage von den schulischen Akteuren grundsätzlich auch mit der Wertung „schwierig“ versehen, was Erwartungen, Zuschreibungen bis hin zu Handlungspraxen evozieren kann, die wiederum zur Folge haben, dass durch die Schule Benachteiligungen nicht nivelliert, sondern im Gegenteil noch verstärkt werden (vgl. Sundsbo 2015). Vor diesem Hintergrund erscheint es rat-sam, wertende Kategorisierungen wie Schulen in „schwieriger“, „herausfordernder“ Lage oder „Brennpunktschulen“ refl exiv zu verwenden, wenn nicht sogar zu verwer-fen, um negative Etikettierungen und Erwartungshaltungen nicht zirkulär neu zu konstruieren. Eine grundsätzliche Dekategorisierung des Diff erenzmerkmals der so-zialräumlichen Lage einer Schule erscheint jedoch nicht möglich, da die grundsätzli-che Anerkennung von Diff erenz auch begriffl iche Diff erenzierungen voraussetzt, um etwa pädagogische Handlungsfelder beschreiben zu können und Handlungsstrategien zu entwickeln.

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Schulen in „schwieriger“ Lage?!

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2.4 Schule in sozialräumlich deprivierter Lage = erhöhter Entwicklungsbedarf?

Der Begriff der Schule in sozialräumlich deprivierter Lage wird häufi g mit ei-ner dysfunktionalen Schule mit problematischem Schulklima, defi zitären Prozess-merkmalen und schlechten Leistungsergebnissen konnotiert. Dass Schulen in so-zialräumlich deprivierter Lage aber nicht automatisch Schulen mit einem erhöhten Entwicklungsbedarf sein müssen, macht die Durchsicht einschlägiger Literatur deutlich. Neben den Merkmalen sozialräumlicher Kontext und Komposition der Schülerschaft in der Schule spielen auch die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler sowie die organisationalen und unterrichtlichen Prozessmerkmale (und das Zusammenspiel aller vier Merkmale) eine Rolle bei der Bestimmung des Ent wick-lungs bedarfs. Diese Charakteristika werden auch zur Typisierung von Schulen in ver-schiedenen Entwicklungsstadien und -kontexten genutzt1 und fi nden ihre Systema-tisierung in Modellen wie zum Beispiel dem nachstehenden.

Abb. 1: Drei-Dimensionen-Modell der Bestimmung von Schulerfolg

Quelle: eigene Darstellung

Mit Blick auf Abbildung 1 werden Schulen auf der linken Seite der y-Achse als Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage bezeichnet, wobei sie hinsichtlich ihrer Ergebnis- und Prozessqualität variieren können. So haben nationale und internati-onale Schulleistungsstudien in den letzten Jahren gezeigt, dass gerade Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Elternhäusern mit Blick auf den Bildungserfolg benachteiligt sind oder werden (vgl. Klieme et al. 2010; Ditton 2013) und zumeist schlechtere schulische Leistungen zeigen. Gleichwohl ist der Zusammenhang zwi-

1 Für die Systematisierung von Schultypologien vgl. auch Holtappels (2008).

ungünstige sozialräumliche Kontextfaktoren

günstige sozialräumliche Kontextfaktoren

hohe Ergebnisqualität

niedrige Ergebnisqualität

hohe schulische Prozessqualität

textfaktoren

nied

niedrige schulische Prozessqualität

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Nina Bremm/Esther Dominique Klein/Kathrin Racherbäumer

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schen schulischer Leistung und sozialem Hintergrund nicht nur durch individu-elle Merkmale der Schülerinnen und Schüler, sondern auch durch Einfl üsse des Schulsystems und der Schulen selbst zu erklären. An dieser Stelle ist der Fokus auf die schulische Prozessqualität, die ebenfalls in der Graphik abgebildet ist, zu rich-ten. Die Schuleff ektivitätsforschung konnte für Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage Merkmale auf der Organisations- und Unterrichtsebene identifi zieren, die den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler deutlich befördern können (vgl. vertiefend Abschnitt 3). Solche Schulen werden unter dem Begriff der „guten Schulen in sozial-räumlich deprivierter Lage“ subsummiert, die – je nach Betrachtung hinsichtlich der Prozess- und/oder Ergebnismerkmale – eine hohe Qualität aufweisen. So kann hier auch von „erwartungswidrig guten Schulen“ gesprochen werden (Mortimore 1991, S. 9).

Auf der rechten Seite der Abbildung befi nden sich Schulen, die sich in sozialräum-lich bevorzugter Lage befi nden. Analog zur linken Seite der Graphik ist anzunehmen, dass Schulen in dieser Lage mehrheitlich von Schülerinnen und Schülern aus sozi-al privilegierten, bildungsnahen Elternhäusern besucht werden, deren Bildungserfolg zumeist deutlich höher ausfällt als bei Kindern und Jugendlichen mit geringerem soziokulturellen Kapital. Es ist unstrittig, dass positive schulische Prozessmerkmale die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler grundsätzlich befördern können, wobei umgekehrt die Möglichkeit besteht, dass diese Schülerinnen und Schüler durch familiäre Unterstützung auch bei vergleichsweise schlechtem Unterricht gute Lernergebnisse erzielen können. Gleichwohl gibt es auch hier Schulen, die mit Blick auf die Ergebnisqualität hinter den Erwartungen zurückbleiben und somit einen er-höhten Entwicklungsbedarf haben. Ein Teil dieser Schulen kann als „Struggling Schools“ bezeichnet werden. Sie sind zwar hinsichtlich ihrer Ergebnisqualität ineff ek-tiv, bemühen sich jedoch um Veränderungs- und Qualitätsentwicklungsprozesse (vgl. Stoll/Fink 1996; Quesel et al. 2013). Als „Failing Schools“ werden vor allem im ang-lophonen Raum solche Schulen bezeichnet, die sowohl mit Blick auf ihre Ergebnis- als auch ihre Prozessqualität schlechte Ergebnisse erzielen (vgl. Huber 2012; Quesel et al. 2013). Entsprechend der Abbildung können sowohl Schulen in sozialräumlich be-nachteiligter als auch in privilegierter Lage als „Failing Schools“ bezeichnet werden, wenn die Ergebnis- und Prozessqualität der Schulen unzulänglich sind.

Zur Ermittlung schulischer Prozessqualität kommen unterschiedliche quantitative und qualitative Verfahren zum Einsatz, die den Anspruch haben, schulische Quali-täts merkmale möglichst objektiv abbilden zu können. Hier ist jedoch anzunehmen, dass die Bedeutung von Qualitätsmerkmalen je nach sozialräumlichem Kontext und der Komposition der Schülerschaft variiert. Der in der Graphik suggerierte lineare Zusammenhang von schulischer Prozessqualität und Ergebnisqualität ist somit kri-tisch zu hinterfragen. Gleiches gilt für den hier suggerierten Zusammenhang zwi-schen sozialräumlichen Kontextbedingungen und Prozessqualität, insbesondere da hierfür die empirische Evidenz für Deutschland bislang nicht gegeben ist.

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Schulen in „schwieriger“ Lage?!

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3. Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage im Fokus der Schuleff ektivitäts- und Schulentwicklungsforschung

Bereits seit Ende der 1960er-Jahre widmet sich die School-Eff ectiveness-Forschung der Analyse von Schulen, denen es gelingt, die Lernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler positiv zu beeinfl ussen. Die in diesem Kontext entwickelten und immer kom-plexer werdenden Merkmalslisten und Modelle (vgl. Scheerens 2000; Creemers/Kyriakides 2006) umfassen einerseits Kontext- und Inputmerkmale, andererseits aber auch relevante Prozessmerkmale, welche eff ektive von weniger eff ektiven Schulen un-terscheiden (z.B. ein qualitativ hochwertiger Unterricht, eine positive und am Lernen orientierte Schulkultur, ein auf das Lernen fokussiertes Schulleitungshandeln und die systematische Nutzung von Feedback und Accountability).

Um erfolgreiche Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage zu beschreiben, bedarf es einer zusätzlichen Diff erenzierung. Ihre Kontextmerkmale und die Bedürfnisse ihrer Schülerschaft verschieben und erweitern ihr Aufgabenspektrum und ihre Lernziele und bewirken dadurch vielfach ungünstigere organisationale Ausprägungen, wie eine überdurchschnittlich hohe Fluktuation bei Lehrkräft en und Schulleitung oder ein Kollegium sowie Infrastrukturen in der Schule und im lokalen Umfeld, die nicht auf die spezifi schen Herausforderungen der Schulen ausgerichtet sind (vgl. Murphy/Meyers 2008). Diese Kontingenzfaktoren prägen beispielsweise die Erwartungen der Lehrkräft e an die Entwicklungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler, den Umgang mit Heterogenität und nicht regelkonformem Verhalten und somit die Prozessqualität von Schule (vgl. ebd.; Wrigley 2014). Über die oben genannten Merkmale hinaus verfügen eff ektive Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage ins-besondere über situative Strategien in der Zusammenarbeit mit dem schulischen Umfeld, über Lern- und Unterstützungsangebote, die über das akademische Lernen hinausgehen und auch die sozioemotionale Komponente von Lernen umfassen, und über spezifi sche Strategien, die positive Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schülern und den Erwachsenen an der Schule sowie ein positives Lernklima schaff en (vgl. im Überblick Racherbäumer et al. 2013; Muijs et al. 2004; Rutledge et al. 2015).

Während die Eff ectiveness-Forschung zwar Merkmale von eff ektiven Schulen in so-zialräumlich deprivierter Lage skizziert, lässt sich davon nicht ohne Weiteres auf Strategien schließen, mit Hilfe derer die weniger eff ektiven Schulen in eff ekti-ve Schulen umgestaltet werden können. Eine solche prozessuale Perspektive eröff -net dagegen die Schulentwicklungs- bzw. School-Improvement-Forschung (vgl. Elmore 2004). Ihr geht es weniger um die Frage, wie Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Milieus besser lernen können und welche Förderangebote und Unter stützungsstrukturen sie benötigen, sondern darum, was Schulen benötigen, um Routinen und Strukturen zu entwickeln, die wiederum den Schülerinnen und Schülern helfen. Oder anders formuliert: Nicht die Lernprozesse der Schülerinnen

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und Schüler stehen im Vordergrund, sondern die „Beeinfl ussbarkeit kollektiver Handlungsprozesse“ (vgl. Feldhoff et al. 2015, S. 66) in der Organisation Schule.

Insbesondere in den USA ist die School-Improvement-Forschung von ihrem Beginn in den 1980er-Jahren an auf Schulen fokussiert gewesen, deren Leistungen hinter den gesetzten Zielen (später Standards) zurückblieben und die zum überwiegenden Teil in urbanen Zentren oder aber ländlichen Gegenden mit einem hohen Anteil an Menschen aus benachteiligten Milieus (vor allem ethnic minorities, low income fami-lies und English learners) lagen. Entsprechend breit ist der Fundus an empirischen Befunden insbesondere für Schulentwicklung an urban schools und schools serving disadvantaged communities.

Die deutsche Schulentwicklungsforschung war dagegen zunächst an einer Ver-besserung für alle Schulen interessiert; erst seit Ende der 2000er-Jahre lassen sich in Deutsch land erste Annäherungen an den konkreteren Prozess von Schul entwicklung in sozial räumlich deprivierten Lagen beobachten (vgl. z.B. Holtappels 2008; Racher-bäumer et al. 2013). Die Beforschung dieser Schulen steckt in Deutsch land also noch in den Kinderschuhen; entsprechend dünn ist bislang die Befundlage. Die aktuel-le wissenschaft liche Begleitung von Schulentwicklungsprojekten wie BONUS (vgl. den Beitrag von Baur in diesem Heft , S.  370-383), „Potenziale ent wickeln – Schulen stärken“ (vgl. den Beitrag von Neumann et al. in diesem Heft , S.  384-398), „School Turnaround“2 und „Sprachsensible Schulentwicklung“3 wird das Spek trum für den deutschen Kontext hoff entlich erweitern können.

Die (größtenteils englischsprachige) Schulentwicklungsforschung hat ebenso wie die Schul eff ektivitätsforschung Modelle und Merkmalslisten zu „lernenden Schulen“ ent-wickelt (vgl. im Überblick z.B. Feldhoff 2011). Ein empirisch validiertes Modell ist das der „Kapazitäten“ (vgl. Marks/Louis/Printy 2000), über die eine Schule verfügen muss – oder die dort aufgebaut werden müssen (capacity building) –, damit sie lernen und sich weiterentwickeln kann. Hierzu gehören eine starke Organisationsstruktur, teacher empowerment und Partizipation, geteilte Werte und Kooperation, Wissen und Fertigkeiten der schulischen Akteure, Leadership sowie Feedback und Accountability. Die konkrete Bedeutung der einzelnen Kapazitäten muss allerdings im Spiegel der spezifi schen institutionellen Rahmenbedingungen der Länder, aus denen ein Großteil der Befunde stammt, interpretiert werden (vgl. vertiefend Mintrop/Klein, im Druck). Ein Versuch, den Kapazitätenansatz für deutsche Rahmenbedingungen anwendbar zu machen, fi ndet sich, ergänzt um die Kategorie „Vernetzung mit der schulischen Umwelt“, bei Feldhoff (2011).

2 Vgl. URL: http://www.school-turnaround.de; Zugriff sdatum: 21.09.2016.3 Vgl. URL: http://www.sprachsensible-schulentwicklung.de; Zugriff sdatum: 21.09.2016.

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Auch in diesen zentralen Modellen der Schulentwicklung werden die spezifi schen Bedürfnisse von Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage zunächst nicht erfasst; Befunde aus drei Jahrzehnten Schulentwicklungsforschung verdeutlichen aber, dass in Improving Schools in sozialräumlich deprivierten Kontexten spezifi sche Ausprägungen der Kapazitäten relevant werden. In struktureller Hinsicht erzeugt etwa die ten-denziell höhere Fluktuation im Kollegium und in der Leitung eine ungünstige-re Ausgangslage für die Schaff ung stabiler und vertrauensvoller Organisations- und Kooperationsstrukturen oder die Entwicklung gemeinsamer Ziele, Normen und Werte (vgl. z.B. Fuller/Terry Orr/Young 2008; Strickland/McIntosh/Horner 2014). Die Bedürfnisse der Schülerschaft stellen zudem spezifi sche Anforderungen an Wissen und Fertigkeiten der Lehrkräft e und damit auch an Entscheidungen über die zu entwickelnden Kompetenzen in der Schule (z.B. mit Blick auf das Classroom Management; vgl. den Beitrag von Steins in diesem Heft , S.  340-353) sowie an Ressourcen für Personal und Sachausstattung (vgl. den Beitrag von Weishaupt in die-sem Heft , S.  354-369). Restriktive oder strafende Formen der Accountability, wie sie etwa bis vor kurzem in den USA unter No Child Left Behind genutzt wurden, können zudem gerade für Schulen mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern aus benachteiligten Milieus problematisch werden, weil die Ziele für sie schwerer er-reichbar sind und dadurch Frustration auf Seiten der Lehrkräft e entstehen kann oder Schulen zu Maßnahmen greifen, mit denen lediglich Testergebnisse verbessert wer-den, aber nicht die Unterrichtsqualität (vgl. z.B. Mintrop/Sundermann 2009). Ob und inwiefern insbesondere Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage von den wei-cheren Formen der Accountability und von „Schulentwicklung durch Einsicht“ (vgl. Kotthoff /Böttcher/Nikel 2016) in Deutschland profi tieren können, lässt sich zur Zeit noch nicht empirisch beantworten.

Darüber hinaus nimmt gerade in diesen Schulen die Wert- und Beziehungsebene eine zentrale Rolle ein (vgl. Rutledge et al. 2015; Smyth 2014; Racherbäumer, im Druck). In sich entwickelnden Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage übernehmen Lehrkräft e Verantwortung für die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler, anstatt insbesondere schlechte Leistungen nur an ihre Herkunft zurückzubinden. Sie erken-nen damit an, dass es Aufgabe der Schule ist, „to fi t itself around the young people, rather than the other way around“ (Smyth 2014, S.  233). Habitus, Erfahrungen und Werte der Schülerinnen und Schüler sowie der die Schule umgebenden Lebenswelt werden nicht automatisch als minderwertig stigmatisiert, sondern als gleichwer-tig anerkannt und die eigenen Routinen und Strukturen vor diesem Hintergrund hinterfragt. Unbestritten profi tieren auch Schulen in herausfordernden sozialräu-mlichen Lagen von einer Weiterentwicklung ihrer Organisationsstrukturen und von Maßnahmen der Entwicklung „guten Unterrichts“, jedoch werden hier zusätz-lich Mechanismen der Ungleicheits(re)produktion relevant, die sich einem direkten Management von Entwicklungsprozessen weitgehend entziehen (vgl. Wrigley 2006).

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4. Reproduktion sozialer Ungleichheit an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage

Lehrkräft e in Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage sind folglich besonders ge-fordert, Schülerinnen und Schüler zum einen in ihrer Leistungsentwicklung zu un-terstützen und zum anderen Mikromechanismen der innerschulischen Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit über Interaktion und Kommunikation zu re-fl ektieren und aufzubrechen. Ein Blick auf theoretische und empirische Arbeiten aus dem Bereich der bildungsbezogenen sozialen Ungleichheitsforschung scheint für die Beschreibung von Mikroprozessen der Reproduktion sozialer Ungleichheit in Schulen in sozialräumlich herausfordernden Lagen daher besonders lohnenswert.

4.1 Übergangsempfehlungen und Reproduktion sozialer Ungleichheit

Mit Blick auf Handlungsfelder innerhalb der Bildungsinstitutionen erscheinen aus ei-ner Rational-Choice-Perspektive zunächst Übergangsempfehlungen von Lehr kräft en als zentrales Mittel, die Reproduktion sozialer Ungleichheit an Gelenk stellen des Bildungssystems abzumildern (vgl. dazu ausführlich Boudon 1974). Voraus setzung dafür ist jedoch, dass Lehrkräft e akademische Leistungen als einziges Ent schei dungs-kriterium für ihre Empfehlung einer weiterführenden Schulform zugrunde legen und – anders als handlungstheoretisch für die Eltern angenommen – schichtspezifi -sche Motive der Risikoaversion unberücksichtigt lassen. Studien weisen jedoch dar-auf hin, dass demographische Schülermerkmale wie der Sozial status, das Geschlecht, der Migrationshintergrund oder sogar der Vorname eines Kindes in die Übergangs-empfehlungen und auch in die Leistungsbewertung von Lehrkräft en einfl ießen kön-nen (vgl. bspw. Kaiser et al. 2015; zusammenfassend Dumont et al. 2014). Zudem gibt es vielfältige Hinweise darauf, dass sich Merkmale wie die Leistungs motivation, die Anstrengungsbereitschaft und die Ausdauer beim Lernen zwischen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Sozial schichtzugehörigkeit unter scheiden (vgl. zu-sammenfassend Ditton 2013). Und Motivation und Anstrengungs bereit schaft kön-nen wiederum Einfl uss auf die Leistungs beurteilung – und somit auch die Über-gangs empfehlungen – der Lehrkräft e nehmen (vgl. bspw. Heinrich 2013; Lorenz et al. 2016). So zeigen Studien aus der Pädagogischen Psycho logie, dass sozial benach-teiligte Schülerinnen und Schüler mit Migrations hinter grund mit Blick auf ihre aka-demische Leistungsfähigkeit von Lehrkräft en und Peers – unabhängig von ihrer tat-sächlichen Leistungs fähig keit – schlechter eingeschätzt werden als ihre autochthonen Mitschülerinnen und Mitschüler höherer Schicht zuge hörigkeit (vgl. Schmidt-Daff y et al. 2016). Ungleich heits verstärkend können hier soge nannte Cooling-Out-Prozesse (vgl. Goff mann 1952) wirken, die eine abfallende Bildungsaspiration, Motivation und Anstrengungsbereitschaft für solche Schülerin nen und Schüler beschreiben, die während ihrer Bildungskarriere wiederholt Misserfolgserfahrungen durchle-ben. Eine solche, durch Erfahrungen in Bildungs institutionen bedingte Abnahme

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der Leistungsmotivation und der Leistung wird Heinrich (2010) zufolge dann beson-ders prekär, wenn die Kategorie der Anstrengungs bereit schaft mitschwingt. In deren Logik ist eine gerechte Verteilung von Bildungs teil habe und Bildungserfolg dann er-reicht, wenn diejenigen am erfolgreichsten sind, die sich am meisten anstrengen. Vor dem Hintergrund der Befunde zu Cooling-Out-Prozessen wird augenscheinlich, dass Erfahrungen des Kindes in der Institution vor der Folie der Anstrengungsbereitschaft einzig mit Blick auf die Merkmale des Kindes beschrieben werden und die Dialektik zwischen Individuum und Institution keine Beachtung erfährt (vgl. dazu auch Bremm/Racherbäumer/van Ackeren, im Druck).

Verantwortlichkeiten bei Bildungsübergangsentscheidungen stärker in die Hand von Lehr kräft en zu legen und somit schichtspezifi sche Bildungsentscheidungen in ihrer Wirkung zu nivellieren, verringert soziale Reproduktionsmechanismen somit nicht automatisch. Vielmehr entsteht die Frage, welche Mikroprozesse bei Über gangs emp-fehlungen und Leistungsbewertungen von Schülerinnen und Schülern unter schied-licher sozialer Schichtzugehörigkeit und ethnischer Herkunft in schulischen Be wer-tungsmaßstäben und individuellen Entscheidungen von Lehrkräft en zum Tragen kommen.

4.2 Habitusdiff erenzen und Passungsprobleme

Th eoretisch und empirisch anschlussfähig erscheinen hier Arbeiten zum Habitus und zu habituellen Passungsproblematiken, die rekonstruieren können, dass Bewertungen durch Lehrpersonen nicht nur von Begabung und Performanz der Schülerinnen und Schüler abhängen, sondern von einer mehr oder weniger großen Nähe zwischen mi-lieuspezifi schen Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die in der Herkunft sfamilie er-worben werden, und Präferenzen sowie impliziten Anforderungen der Akteure in Bildungsinstitutionen (vgl. bspw. Bourdieu/Passeron 1971, S.  35; Grundmann et al. 2007; Kramer/Helsper 2010). Soziale Ungleichheit wird aus dieser Perspektive da-durch reproduziert, dass sich der Habitus bestimmter gesellschaft licher Milieus sys-tematisch nicht anschlussfähig an die von der Bildungsinstitution geforderten Ver-haltens weisen und Inhalte darstellt und aus einer sogenannten Habitusdiff erenz eine Passungs krise entsteht, die eine Abwertung der Spezifi ka niederer gesellschaft -licher Milieus durch die Akteure der Bildungsinstitution und eine sozial gefärbte Leistungsbeurteilung zur Folge hat (vgl. Kramer 2014). Die Refl exionsfähigkeit von Lehrkräft en mit Blick auf soziale Diff erenzen und eigene Bewertungsroutinen erlangt aus dieser Perspektive zentrale Relevanz.

Das Problem der Passung wird mit Blick auf sozial benachteiligte Räume besonders relevant, da die raumbezogene Sozialisationsforschung zeigen kann, dass segregier-te Quartiere wenig Möglichkeiten zum Erwerb der in Bildungsinstitutionen erwar-teten Fähigkeiten und Verhaltensweisen bieten. Hinzu kommt, dass familiäre Armut

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und Arbeitslosigkeit die Möglichkeiten, den angestammten Lebensraum wenigstens zeitweise zu verlassen, stark einschränken und so alternative Sozialisationsräume, die gegebenenfalls bessere Anschlussfähigkeit an die habituellen Anforderungen der Bildungsinstitution herstellen können, meist verschlossen bleiben.

4.3 Institutionelle Diskriminierung und Erwartungseff ekte

Während im vorigen Abschnitt stärker Kommunikations- und Interaktionsprozesse schulischer Akteure in den Blick genommen wurden, befasst sich das Feld der in-stitutionellen Diskriminierung mit diff erenzproduzierenden Strukturen von Organisationen. Untersucht werden institutionelle Regelungen und Praktiken, die dazu führen, dass einzelne soziale Gruppen durch organisationale Routinen systema-tisch bevorteilt werden, wohingegen andere Gruppen systematische Benachteiligung erfahren. Es handelt sich somit nicht um Entscheidungen einzelner Akteure, die darauf abzielen, ausgewählte Gruppen bewusst zu diskriminieren; vielmehr wer-den systemimmanente und den einzelnen Akteuren oft mals auch nicht bewuss-te organisationale Handlungslogiken dahingehend untersucht, inwieweit sie sozia-le Disparitäten im Bildungssystem reproduzieren oder verstärken. Besonders relevant werden solche organisationalen Benachteiligungsstrukturen in durch die schulischen Akteure als homogen konstruierten Kontexten wie etwa deprivierten Lagen. In ih-nen steigt aus organisationssoziologischer Perspektive die Wahrscheinlichkeit, dass Schulen institutionell abgesicherte Mechanismen der Diff erenzreproduktion, wie Klassenwiederholungen und Rückstellungen, den Einsatz von Fördermaßnahmen und Überweisungen an Sonderschulen, ausbilden, die intern auch nicht mehr hin-terfragt werden (vgl. Berkemeyer/Hermstein/Manitius 2015). Neuere Arbeiten wei-sen zudem darauf hin, dass es lohnenswert sein könnte, bereits den Kompetenzerwerb hinsichtlich sozial und ethnisch diff erierender Verläufe zu untersuchen. Sogenannte Erwartungseff ekte könnten dazu führen, dass Kinder unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft unterschiedlich behandelt werden4 bzw. unterschiedlich stark von bestimmten schulischen Prozess- und Qualitätsmerkmalen auf der Schul- und Unterrichtsebene profi tieren und in der Folge unterschiedlich viel lernen (vgl. Diehl/Fick 2016).

5. Ausblick

Im derzeitigen bildungspolitischen Diskurs erlangen Fragen einer „bedarfsgerech-ten Ressourcenallokation“, des Zuschnitts von Schuleinzugsgebieten und der Ein-richtung von Schulen mit gymnasialer Oberstufe in sozial benachteiligten Wohn-gegenden, gerade vor dem Hintergrund einer bislang persistent sozialräumlich

4 Vgl. hier bspw. Arbeiten zu Trainingsraumkonzepten und die Herstellung von Diff erenz durch pädagogische Praxen (Rabenstein 2013).

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divergierenden Ausstattung mit schulischer Infrastruktur (vgl. Ditton 2008), große Aufmerksamkeit. Neben diesen wichtigen Steuerungsimpulsen, die die Makroebene des Mehrebenenbildungssystems betreff en, zeigen die dargelegten Befunde und theo-retischen Ansätze jedoch auch die zentrale Relevanz von Meso- und Mikroprozessen der Reproduktion sozialer Ungleichheit zwischen Lehrkräft en und Schülerinnen und Schülern auf.

Vor diesem Hintergrund besteht eine zentrale Herausforderung für die kontextsen-sible Schulentwicklungsforschung darin, neben der Herausarbeitung von relevan-ten Qualitätsmerkmalen auf der Schul- und Unterrichtsebene auch Mechanismen der Diff erenzreproduktion in sozialräumlich deprivierten Lagen sorgfältig zu ana-lysieren, empirisch nachzuzeichnen und Handlungsalternativen zu entwickeln. Hier könnte es eine Strategie sein, Lehrkräft e dahingehend weiterzubilden, den schulischen Habitus und den der Schülerinnen und Schüler systematisch mit Blick auf mögliche Passungsprobleme und nicht beachtete Ressourcen auf Schülerinnenseite zu refl ektie-ren und Handlungsstrategien von Lehrkräft en weiterzuentwickeln.

Zudem muss es zukünft ig gelingen, den Transfer von theoretischen und empiri-schen Erkenntnissen qualitätsvoller und ungleichheitsreduzierender Schul- und Unterrichtsentwicklung in die Praxis zu ermöglichen. Hier lässt sich bislang ver-gleichsweise wenig aus den Befunden der School-Improvement-Forschung ableiten, deren Versuch, entsprechende Designs an Schulen mit Entwicklungsdruck zu „im-plementieren“, in der Einzelschule meist an individuellen Faktoren, Normen und Routinen scheitert. Für die USA, die auf drei Jahrzehnte „Implementation“ zurück-blicken können, resümieren beispielsweise Berliner und Glass (2015): „Perhaps it’s time to lay aside the belief that what works in one setting with one teacher at one time is highly likely to work in another setting with another teacher at another time“ (S.  12). Erfolgreiche Verbesserungen sind zudem häufi g nicht nachhaltig (vgl. Johansson et al. 2009; Hochbein 2012); bislang liegt aber relativ wenig Wissen dazu vor, wie ein möglicher Erfolg nachhaltig gemacht werden kann – wie also Strukturen in den Schulen gebildet werden können, die diese auch dann aufrechterhalten kön-nen, wenn die erste Euphorie verblasst ist oder Unterstützungsstrukturen wegfallen. Neuere Ansätze der hiesigen adaptiven und datenbasierten Schulentwicklung oder der design-basierten Schulentwicklung und Improvement Science in den USA sehen deshalb von schablonenhaft en Lösungen ab und entwerfen in Zusammenarbeit zwi-schen Forschung, Administration und Praxis passgenaue Entwicklungskonzepte für einzelne Schulen (vgl. den Beitrag von Mintrop in diesem Heft , S.  399-411; Bryk 2015; Mintrop 2016; Bremm et al., im Druck).

Anknüpfend an den ersten Teil des Artikels stellt sich die Frage, wie erfolgrei-che Schulen in sozial benachteiligten Kontexten auf den sozialen Raum wirken und ob sie sozialräumlichen Segregationsprozessen entgegenwirken können. El-Mafaalani, Kurtenbach und Strohmeier (2015) zeigen hierzu auf, dass erfolgrei-

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che Bildungskarrieren von Kindern an sozial benachteiligten Standorten nicht au-tomatisch zu einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur in diesen Stadtteilen führen müssen, sondern dass es im Gegenteil sogar noch zu einer Verschärfung der Segregation kommen kann. So können sich bildungserfolgreiche Akteurinnen und Akteure aufgrund ihres sozialen Aufstiegs sozial und räumlich von den Stadtteilen, in denen sie aufgewachsen sind, distanzieren, „so […] dass es im Falle von erfolg-reichen Bildungsinvestitionen in erhöhtem Maße zu selektiven Fortzügen kommt“ (ebd., S.  257). Der Stadtteil besteht dann aus denjenigen, denen es trotz vermehr-ter, externer Investitionen nicht gelungen ist, den Aufstieg zu meistern, und „neuen“ sozial benachteiligten Akteurinnen und Akteuren, die aufgrund geringer Mietpreise in den Stadtteil ziehen. Aus diesen Befunden darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass Bildungsinvestitionen ihren Zweck verfehlen. Im Gegenteil zeigen diese Ergebnisse, dass die Individualebene und die Ebene des Sozialraums sehr diff erenziert betrachtet werden müssen, um den Erfolg schulischer Arbeit mit Blick auf individuel-le Bildungskarrieren deutlich hervorheben zu können.

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Nina Bremm, Dr., geb. 1979, Wissenschaft liche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen.E-Mail: [email protected]

Esther Dominique Klein, Dr., geb. 1982, Wissenschaft liche Mitarbeiterin an der Uni-versität Duisburg-Essen.E-Mail: [email protected]

Kathrin Racherbäumer, Dr., geb. 1978, Wissenschaft liche Mitarbeiterin an der Uni-versität Duisburg-Essen.E-Mail: [email protected]

Anschrift : Fakultät für Bildungswissenschaft en, Arbeitsgruppe Bildungsforschung, Universitätsstraße 2, 45141 Essen

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ZusammenfassungDer vorliegende Beitrag beleuchtet das Lehrer-Schüler-Verhältnis im Kontext des Lernens in der Gruppe und die Bedeutung dieser Aspekte für Classroom Management (CM) an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage. CM unter dem Gesichtspunkt des Lehrer-Schüler-Verhältnisses beschäft igt sich mit der Art und Weise, wie Lehrer ihre Maßnahmen umsetzen, und mit deren Gelingen und zwar im Hinblick auf eine Gruppe. Der Beitrag arbeitet heraus, warum die Herausforderungen an CM an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage besonders hoch sind. Th ematisiert wer-den der dysfunktionale Umgang mit unterschiedlichen Interaktionscodes, dysfunktiona-le Sanktionspraktiken und niedrige Erwartungen sowie mangelnde Unterstützung der Lehrerschaft . Dem schließt sich die Beschreibung evidenzbasierter Lösungsversuche an, die unter dem Konzept Cultural Responsive CM subsummiert werden. Das Fazit des Beitrags akzentuiert besonders, dass Lehrkräft e an Schulen in sozialräumlich deprivier-ter Lage mehrfach herausgefordert sind. Es werden Implikationen in Bezug auf Inhalte der Lehramtsausbildung, aber auch strukturelle Lösungen vorgeschlagen.Schlüsselwörter: Lehrer-Schüler-Verhältnis, Lernen in der Gruppe, Classroom Manage-ment, kulturell sensibles Classroom Management

Classroom Management at Schools in Socioeconomically Disadvantaged Areas with Particular Consideration of the Teacher-Student-RelationshipAbstractTh is article highlights the teacher-student-relationship in the context of learning in the group and the importance of these aspects for classroom management (CM) at schools in socioeconomically disadvantaged areas. CM from the point of view of the teacher-stu-dent-relationship deals with the manner how teachers implement their measures, and with its success in terms of a group. Th e contribution works out why challenges of CM at schools in socioeconomically disadvantaged areas are particularly high. It deals with

Gisela Steins

Classroom Management an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage unter besonderer Berücksichtigung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses

DDS – Die Deutsche Schule 108. Jahrgang 2016, Heft 4, S. 340-353

© 2016 Waxmann

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the dysfunctional handling of diff erent interaction codes, dysfunctional sanction practi-ces and low expectations, and lack of support for the teachers. Evidence-based solutions are described which are subsumed under the concept of cultural responsive CM. Th e conclusion of the contribution particularly accentuates that teachers in schools in so-cioeconomically disadvantaged areas are repeatedly challenged. Implications are pro-posed in relation to the content of teacher education, but also structural solutions.Keywords: teacher-student-relationship, learning in the group, classroom management, cultural responsive classroom management

1. Einleitung

Die Forschung zum Classroom Management (CM) ist diff erenziert aufgefächert und interdisziplinär. Dementsprechend lassen sich die Forschungsthemen auf vielfa-che Weise ordnen. Eine Folge ist, dass es als Begriff uneinheitlich defi niert ist (vgl. Evertson/Weinstein 2006; Dollase 2012). Reupert und Woodcock (2010) schlagen deswegen vor, CM mindestens zu defi nieren als „teacher strategies that oversee stu-dent behavior, student interactions and learning“ (S.  1261), also als die Strategien, die eine Lehrkraft einsetzen kann, um einen Überblick über das Verhalten der Schüler und Schülerinnen, ihre Interaktionen und ihr Lernen zu erhalten. CM um-fasst im weitesten Sinne die Möglichkeiten einer Lehrkraft , eine Klasse so zu führen, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst motiviert sind, viel lernen und sich so-wohl schulisch als auch sozial-emotional weiterentwickeln (vgl. Everston/Weinstein 2006). CM wird als eine entscheidende Grundlage für Unterrichtsqualität angese-hen (vgl. Ophardt/Th iel 2008). In einigen Forschungslinien zum CM wird in die-sem Zusammenhang besonders die Optimierung des zeitlichen und motivationalen Rahmens für den Unterricht betont (vgl. Helmke/Weinert 2007); Stichworte sind hier Gestaltung der Lernumgebung, Motivation der Schülerinnen und Schüler, Klarheit des Unterrichts, Klassenklima. Diese Perspektive wird in diesem Beitrag jedoch nicht ausdrücklich fokussiert.

Das Lehrer-Schüler-Verhältnis im Kontext des Lernens in der Gruppe wird in die-sem Beitrag beleuchtet und die Bedeutung beider Perspektiven auf CM für CM an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage erarbeitet.

Sowohl die Gruppe als auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis bilden zwei der vielen Schwerpunkte der Forschung zum CM. Dollase (2012) betont, dass CM sich aus-drücklich auf gruppenbezogene Prozesse bezieht. Demnach umfasst CM

„die Verhaltensweisen von Lehrern und Schülern, die im Einzelunterricht nicht nötig sind, sondern erst ab zwei Schülern für den erfolgreichen (pädagogisch zu defi nierenden) Unterricht bzw. Lernprozess erforderlich werden.“ (Dollase 2012, S. 6)

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CM unter dem Aspekt der Gruppe beschäft igt sich mit den Herausforderungen an die Lehrkraft , die durch eine 1:28-Interaktion entstehen, also durch Management ei-ner ganzen Klasse in Abgrenzung zu dem Unterrichten eines einzelnen Schülers bzw. einer einzelnen Schülerin. Demensprechend wird CM sowohl unter sozial- als auch entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten erforscht. Stichpunkte sind hier der angemessene Umgang mit Öff entlichkeit, Komplexität und soziometrische Strukturen (vgl. Dollase 2012). Das Ziel ist es, Methoden zur psychologischen Verkleinerung von Klassen zu entwickeln und zur Bewältigung der durch Öff entlichkeit und Beziehungsgefl echt entstehenden Probleme.

CM unter dem Gesichtspunkt des Lehrer-Schüler-Verhältnisses beschäft igt sich da-mit, was Lehrkräft e machen können, untersucht also das Wie, d.h. die Art und Weise, wie Lehrkräft e ihre Maßnahmen umsetzen, und deren Gelingen (vgl. Evertson/Weinstein 2006). Dollase bezeichnet die Interaktionsgestaltung als „intrapsychische Voraussetzung für den Lehrberuf “ (2012, S.  14). Da das Lehrer-Schüler-Verhältnis der Fokus dieses Beitrags ist, wird zunächst auf seine besondere Relevanz für Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage eingegangen.

2. Zur besonderen Berücksichtigung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses

Hattie (2009) beschreibt das Lehrer-Schüler-Verhältnis als einen wirksamen Faktor für einen Unterricht, in dem Schüler und Schülerinnen motiviert sind und viel ler-nen. Er bezieht sich auf eine Metaanalyse von Cornelius-White (2007), der heraus-gefunden hat, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis, beschrieben durch Faktoren wie beispielsweise Nichtdirektivität, Empathie, Wärme und Ermutigung, mit beson-ders hohen Eff ekten für kritisches und kreatives Denken, Mathematik, sprachliche Fähigkeiten und die Noten der Schülerinnen und Schüler einhergeht. Zusätzlich fi n-den sich im Zusammenhang mit einem solchen Lehrer-Schüler-Verhältnis ein res-pektvollerer Umgang untereinander, engagiertere Schüler und Schülerinnen, weniger Widerstände, also insgesamt ein positiveres Klima. Besonders interessant an diesem Befund ist, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis positiv sowohl mit dem schulischen Lernen als auch mit sozial-emotionalen Aspekten zusammenhängt.

Dollase (2012) bezeichnet in Anlehnung an die von Hattie zitierten Befunde „[d]as Lehrer-Schüler-Verhältnis als Letztursache des Classroom Managements“ (S. 62).

In Ergänzung zu den von Cornelius-White genannten Faktoren weist Dollase auf Konzepte aus der elterlichen Erziehungsstilforschung hin, die in der Literatur als för-derlich für die Herausbildung eines positiven Selbstkonzeptes, von Selbstwirksamkeit und Verantwortungs übernahme beschrieben werden (Dollase 2012), wie beispiels-

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weise „autoritativ“ (Lamborn et al. 1991), „reif “ (Schmidtchen 1997) oder „Freiheit in Grenzen“ (Schneewind 2012). Diese Konzepte betonen neben einem herz lichen und zugewandten Verhältnis zwischen erwachsener Bezugsperson und He ran wachsendem bzw. He ran wachsender ebenfalls die Wichtigkeit von Orientierung, Anforderungen und Erwartungen. Nachgewiesenermaßen trifft das auch auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu: Angemessen hohe Erwartungen der Lehrkräft e an die Schülerinnen und Schüler stellen eine zentrale Orientierung für diese dar und motivieren sie hin zu einem Ziel (vgl. Hattie 2009; Steins 2014; Winner 2004).

Schüler und Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten oder/und sozial-emotionalen Schwierigkeiten profi tieren besonders stark von einem solchen Lehrer-Schüler-Ver-häl tnis (vgl. Grünke 2000, 2004; Pianta 1999; Hamre/Pianta 2001, 2005; Liew/Chen/Hughes 2010).

Eine gut gemanagte Klasse stellt Lehrkräft e nun vor einige grundlegende Heraus-forde rungen, nämlich zu wissen, wie man ein unterstützendes Lehrer-Schüler-Ver-hältnis auch angesichts der Tatsache etablieren kann, dass in der Schule in relativ gro-ßen Gruppen gelernt wird. Der Kontext des Lernens in der Gruppe wird deswegen zunächst anhand von drei Merkmalen erarbeitet; außerdem werden die damit ver-bundenen Herausforderungen an Lehrkräft e beschrieben.

3. Alltägliche Herausforderungen an Lehrkräft e durch das Lernen in der Gruppe

Dollase (2012) arbeitet heraus, dass das Lernen in Gruppen sich durch Komplexität, Öff entlichkeit und Beziehungsgefl echt grundlegend von einer 1:1-Interaktion unter-scheidet, und es lohnt sich, um die Herausforderungen für Lehrkräft e an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage zu verstehen, genau nachzuvollziehen, was die-se Dimensionen für das Handeln von Lehrkräft en im Schulalltag prinzipiell bedeuten, zunächst unabhängig vom Standort der Schule.

3.1 Die Herausforderungen durch die Gruppe

3.1.1 Komplexität reduzieren

Komplexität entsteht nicht allein durch die Heterogenität bezüglich vielfältiger Merkmale einer Lerngruppe, sondern auch durch andere Gruppenphänomene, wie z.B. eine schwankende Selbststeuerung (Gruppen neigen zur Deindividuation mit ein-hergehender Unaufmerksamkeit; vgl. Diener 1979), Viskosität (kurze Ausführungen, wie das Entnehmen eines Unterrichtsmaterials aus der Schultasche, dauern in der

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Gruppe sehr viel länger und verlaufen zähfl üssiger als bei nur einer Person; vgl. Ringelmann 1913), Koordinierungs- und Synchronisationsschwierigkeiten (ein und dasselbe Unterrichtsmaterial wird unterschiedlich schnell bearbeitet und verstanden; vgl. Steiner 1972) und Prozess- und Motivationsverluste (Individuen neigen dazu, sich in Gruppen nicht so stark anzustrengen wie alleine, insbesondere, wenn ihre in-dividuelle Leistung nicht bewertet wird; vgl. Karau/Williams 1997).

Komplexität kann reduziert werden durch die psychologische „Verkleinerung“ der Schulklasse. Kounins Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Unterrichtsstörungen abnahmen und Schülerbeteiligung zunahm in dem Ausmaß, in dem Lehrkräft e fol-gende Dimensionen des Verhaltens zeigten (vgl. Kounin 1970):

• Die Schüler und Schülerinnen haben den Eindruck, die Lehrkraft bekommt mit, was sie tun (Allgegenwärtigkeit; z.B. erreichbar durch Bewegung im Klassen-zimmer).

• Verschiedene Tätigkeiten können (nahezu) gleichzeitig und mit geringem Aufwand erledigt werden (Überlappung; z.B. erreichbar durch entdramatisierenden Umgang mit geringfügigen Störungen).

• Sprunghaft igkeit wird vermieden (Reibungslosigkeit; z.B. erreichbar durch gute in-haltliche Vorbereitung).

• Vermeidung von Verzögerungen (Schwung; z.B. erreichbar durch Abschirmen vor Ablenkungen und Überproblematisierungen).

• Alle Schülerinnen und Schüler werden angesprochen und zu aktivem Tun ver-pfl ichtet (Aufrechterhaltung des Gruppenfokus; z.B. erreichbar durch Rechen-schaft slegung).

• Der Unterricht ist spannend (Valenz und Herausforderung sowie Programmierte Überdrussvermeidung; z.B. erreichbar durch Medieneinsatz, eigene Motivation, Schülerpartizipation).

Nicht jede dieser Verhaltensdimensionen muss perfekt beherrscht werden, um einen möglichst störungsarmen und lebhaft en Unterricht zu gestalten; Schwierigkeiten bei dem Ausführen einer Verhaltensdimension können kompensiert werden (vgl. Dollase 2012). Deutlich wird jedoch, dass das Management einer Gruppe den Einsatz von Strategien und Routinen verlangt, die in außerschulischen Alltagskontexten so weder gefordert noch trainiert werden.

3.1.2 Umgang mit Öff entlichkeit: Transparenz und Gerechtigkeit

Durch andere Menschen entsteht Öff entlichkeit und damit eine soziale Realität. Eine Lehrkraft muss sich so verhalten, wie es als gerecht und glaubwürdig empfun-den wird, um Spannungen unter Schülerinnen und Schülern zu vermeiden und sel-ber glaubwürdig zu sein (vgl. Dalbert/Stoeber 2006). Durch Öff entlichkeit wird ein

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Audienceeff ekt begünstigt: Insbesondere ungeübte Lerninhalte können nur mit Schwierigkeiten vor einer Gruppe gezeigt werden, und neue komplexe Lerninhalte in einer Gruppe zu lernen, ist schwierig (vgl. Zajonc 1965; Cottrell 1972). Soziale Vergleiche führen dazu, dass Schüler und Schülerinnen eine erhebliche intrapsychi-sche Verarbeitung zu tätigen haben (vgl. Guay/Boivin/Hodges 1999). Die Siegerkultur mancher Schulen kann dazu beitragen, dass soziale Vergleiche als besonders belas-tend empfunden werden (vgl. Dollase 2012). Lehrkräft e haben zu verarbeiten, dass alles, was gesagt wird, in einer Deutungsgemeinschaft kollektiv validiert wird. Es ist noch wenig erforscht, wie Lehrkräft e mit dieser Dimension der Realität umgehen. Auch Diskriminierungsrisiken erhöhen sich durch die Tatsache der Öff entlichkeit: Binnendiff erenzierung beispielsweise zeigt jedem Schüler und jeder Schülerin in je-der Minute seinen bzw. ihren Platz in der Leistungshierarchie der Klasse (vgl. ebd.).

Öff entlichkeit kann gehandhabt werden durch das Anstreben von gerechtem und transparentem Handeln und durch die Regel, individuelle Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler nicht öff entlich zu behandeln.

3.1.3 Kenntnis des Beziehungsgefl echts

In jeder Gruppe kristallisieren sich Rollen und Statushierarchien heraus. Der sozio-metrische Status bestimmt, wie das Verhalten einzelner Personen wahrgenommen wird: Lobt die Lehrkraft einen Freund oder eine Freundin, so hat dies eine ande-re Bedeutung als ein Lob für einen Schüler bzw. eine Schülerin, den oder die man nicht mag (vgl. Heider 1958). Durch die Entwicklung eines Beziehungsgefl echtes ent-stehen Mehrheiten und Minderheiten, die Prozesse der Konformität in Gang set-zen (vgl. Steins 2014; Steins/Behnke/Haep 2015); Konfl ikte zwischen Subgruppen können entstehen und damit das Klassenklima negativ färben. Schließlich sind Kompositionseff ekte als Resultat des Beziehungsgefl echtes zu nennen: Die Leistungs-scheren innerhalb einer Klasse tendieren dazu auseinanderzugehen, da sich Sub-gruppen von Schülern und Schülerinnen mit ähnlichen Interessen formieren (vgl. Guay/Boivin/Hodges 1999).

Im Umgang mit Gruppen ereignen sich zwangsläufi g Konfl ikte (vgl. Rubin/Pruitt/Kim 1994). Eine Subgruppe von Lehrkräft en erlebt Konfl ikte als einen hohen Stressfaktor. Bauer et al. (2007) haben herausgefunden, dass fast 30 Prozent der Lehrkräft e an relevanten psychischen Problemen leiden. Nach den Erkenntnissen der Lehrerstressforschung sind es Schwierigkeiten in den Interaktionen mit Schüle-rinnen und Schülern, Eltern und Kolleginnen und Kollegen, die als relevante Stress-faktoren genannt werden (vgl. Friedman 2006; Unterbrink et al. 2012). Schon die alltäglichen Herausforderungen sind also für eine bedeutsame Gruppe von Lehr-kräft en mit herausfordernden Stressbewältigungsprozessen verbunden. Wie aus der Stressforschung ebenfalls bekannt ist, neigen Menschen unter Stress dazu, sich ge-

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genüber anderen Menschen negativ zu verhalten (vgl. Friedman 2006; Maag 2008), wodurch Konfl ikte eskalieren können (vgl. Kokkinos/Panayiotou/Davazoglou 2005). Insbesondere im Umgang mit Heranwachsenden, die über nur unausgereift e Selbst-regulationsfähigkeiten verfügen, hat dies negative Folgen (vgl. Doll 2013; Reyes et al. 2013).

Ein sensibler Umgang mit dem Beziehungsgefl echt also erfordert, dass Lehrkräft e ein-zelne Schüler und Schülerinnen bei Problemen unterstützen, ermutigen und insge-samt einen humorvollen und positiven Interaktionsstil mit der Gruppe pfl egen.

Diese in aller Kürze beschriebenen gruppenpsychologischen Herausforderungen für Lehrkräft e bei der Führung einer Klasse verdeutlichen, dass allein das Management einer ganzen Lerngruppe eine Tätigkeit ist, die ein fundiertes Wissen über Th eorie und die praktikable Handhabung unvermeidlicher Dilemmata voraussetzt. Dollases (2012) zusammenfassende Formulierung für effi ziente Strategien im Umgang mit die-sen Herausforderungen stellt• die sinnvolle Vollbeschäft igung der Schülerinnen und Schüler (jede/r weiß jeder-

zeit, was sie bzw. er zu tun hat),• die individuelle Rapporterwartung (jeder Schüler und jede Schülerin hat das

Bewusstsein, dass er bzw. sie jederzeit seine/ihre Leistungen off enlegen können muss),

• und die freundliche und unterstützende Interaktion zwischen Lehrkräft en und Schülern und Schülerinnen

heraus: Auch hier also ist die Arbeit an einem unterstützenden Lehrer-Schüler-Verhältnis ein wichtiger Faktor für Motivation und Lernen.

4. CM an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage

Die Herausforderungen, in einer relativ großen Gruppe zu lernen und dies so zu be-wältigen, dass ein unterstützendes Lehrer-Schüler-Verhältnis entwickelt wird, stellen sich jeder Lehrkraft . CM an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage steigert aller-dings diese Herausforderungen, wie im Folgenden herausarbeitet wird.

Aberkane (2008) konnte für den Düsseldorfer Raum zeigen, dass Eltern häufi g lange Fahrtzeiten für ihre Kinder in Kauf nehmen, damit diese eine Schule in sozialräum-lich anregungsreichen Lagen besuchen können. Schulen in sozialräumlich deprivier-ter Lage wird also von bestimmten Elterngruppen ein gewisser Vorbehalt entgegen-gebracht.

Die Schülerschaft an Schulen in sozialräumlich deprivierten Lagen unterscheidet sich durchschnittlich in ihren Lebenslagen von einer Schülerschaft an Schulen in sozial-

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räumlich anregungsreichen Lagen: Eine komplexe Wechselwirkung zwischen elter-lichem Erziehungsstil, Selbstkonzept, sozioökonomischer Situation und Wohnlage kann in bestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen resultieren, die mit schu-lischen Problemen einhergehen (vgl. Bronfenbrenner/Morris 1998; Patterson/Reid/Dishion 1998). Schülerinnen und Schüler an Schulen in sozialräumlich deprivier-ter Lage kennen vermutlich häufi ger als Schülerinnen und Schüler in anregungsrei-chen sozialräumlichen Lagen nicht den Interaktionscode, der kompatibel ist mit dem der Gesellschaft und dem der Schule als der Repräsentantin der gesellschaft lich als angemessen anerkannten Codes (vgl. Patterson/Reid/Dishion 1998). Daraus kön-nen Abweichungserfahrungen für die Schüler und Schülerinnen entstehen, wenn die Dimensionen Öff entlichkeit und Beziehungsgefl echt als Herausforderung nicht sen-sibel gemanagt werden. Führen Abweichungen zu Ettikettierungen, ist ein unterstüt-zendes Lehrer-Schüler-Verhältnis geschwächt (vgl. hier den Einfl uss von Labeling auf schulisches Lernen; Hattie 2009). Damit aber ist eine grundlegende Voraussetzung für gelingendes CM nicht gegeben.

Mit der Auft retenswahrscheinlichkeit von von der Schulkultur abweichenden Inter-aktion scodes steigt die Wahrscheinlichkeit negativer Interaktionsmuster (vgl. Milner 2006). An Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage macht sich das darin bemerk-bar, dass die Sanktionierungspraktiken auf Strafe, nicht auf die Verstärkung positi-ver Ver haltensweisen oder das Erweitern des Verhaltensrepertoires durch explorative Gespräche und Unterstützung ausgerichtet sind (vgl. Skiba/Knesting 2001). Dies führt dazu, dass, da Bestrafungsakte kollektiv validiert werden, Schüler und Schülerinnen ausgegrenzt werden und das Klassen- und Schulklima negativ gefärbt wird. Folglich haben Schulen mit dysfunktionalen Sanktionierungspraktiken häufi ger eine hohe Drop-Out-Quote (vgl. ebd.). Da Lehrkräft e für ihre Sicht der Dinge durch die kollek-tive Validierung im Kollegium und sein Beziehungsgefl echt wahrscheinlich verstärkt werden, ist es für Schüler und Schülerinnen manchmal besser, die Schule zu wech-seln, als das eigene Verhalten zu ändern, zumal eine Änderung nicht unbedingt aner-kannt wird (vgl. Wu et al. 1982).

Auch neigen Lehrkräft e dazu, ihre Erwartungen an die Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler drastisch zu senken, wenn sie diese für unfähig oder des-interessiert halten oder aber befürchten, dass sie Ärger von ihnen bekommen könn-ten (vgl. Ladson-Billings 2001; Winner 2004). Das führt dazu, dass die Schüler und Schülerinnen in jeder Minute ihres Schullebens lernen, dass aus ihnen auf alle Fälle „nichts werden“ kann, denn Erwartungen sind eine Rückmeldung für das Fähigkeitskonzept: Niedrige Erwartungen der Lehrkraft zeigen den Schülern und Schülerinnen wenig Zutrauen. Der Unterricht zeichnet sich durch die Abarbeitung von Pfl ichtprogrammpunkten und Strukturen aus, die für die Schülerinnen und Schüler weiter demotivierend sind (vgl. Ladson-Billings 2001).

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Das beschriebene Verhalten von Lehrkräft en ist prinzipiell an allen Schulen zu be-obachten, jedoch in besonderer Häufi gkeit an Schulen in sozialräumlich depri-vierten Lagen aufgrund ihrer Besonderheit, dass hier in großer Zahl Schülerinnen und Schüler zusammenkommen, die in vielfacher Hinsicht wenig Zugang zu den Erfordernissen von Schule und Lernen haben (vgl. Milner 2006). Lehrkräft e neigen zu diesem Verhalten, wenn sie sich nicht unterstützt fühlen oder aber ihre Schule eine harte Sanktionspolitik hat und Störungen jeder Art vermieden werden müs-sen, diese nicht als zu lösendes Problem angesehen werden und das Lehrer-Schüler-Verhältnis vernachlässigt wird (vgl. Lewis et al. 2006). Lehrkräft e, die so handeln, ma-chen durchschnittlich genau auch das, was die meisten Menschen in dieser Situation machen würden.

Ein unterstützendes Verhältnis zu Schülerinnen und Schülern mit einem abwei chen-den Interaktionscode zu etablieren und aufrechtzuerhalten, ist also mit Schwie rig-keiten verbunden (vgl. Skiba/Knesting 2001; Steins 2011). Im Folgenden wird exemp-larisch ausgeführt, wie ein unterstützendes Lehrer-Schüler-Verhältnis im Kontext der Herausforderungen durch die Gruppe aussehen kann.

4.1 Umgang mit anderen Gewohnheiten: Cultural Responsive CM

4.1.1 Sprachgewohnheiten

In unserer Kultur wird es als kompetenter bewertet, wenn jemand sofort „zum Punkt kommt“, als wenn er „um den heißen Brei herumredet“ (vgl. Gay 2006). Das kultu-relle CM des Lehrers ist gefragt, genannt Cultural Responsive Classroom Management (CRM; vgl. ebd.). Die Lehrkraft könnte konstruktiv Sprachstile thematisieren und dem Schüler bzw. der Schülerin konkret erklären, warum ein fokussierter Sprachstil wichtig für eine bestimmte Kultur ist und wie er genau erlernt werden kann. Sie kann dieses Th ema allerdings nicht nur in Bezug auf einzelne Schülerinnen und Schüler erörtern, denn sonst würde sie Öff entlichkeit und Beziehungsgefl echt nicht sensibel managen; auch würde sie einige der Kouninschen Dimensionen vernachlässigen (z.B. Reibungslosigkeit).

Delpit (1995) benennt mit „Culture of Power“ ein Konzept, mit Hilfe dessen Schüler und Schülerinnen lernen können, dass es sich lohnt, formale Konformität zu erler-nen und zu zeigen: Den Schülern und Schülerinnen werden die kulturellen Regeln des Miteinanders nicht nur innerhalb der Schule aufgezeigt, sondern Verhalten wird mit den Regeln der Machtverteilung in einer Gesellschaft in einen größeren Zusammenhang gebracht. Das geschieht als metathematische Einführung in der ge-samten Gruppe. Angemessenes Verhalten, so wie es in einer Gesellschaft verstan-den wird, ist als Teil des eigenen Verhaltensrepertoires unabdingbar für Erfolg in der

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Gesellschaft , und das Unterrichten in diesen Codes ist deswegen Teil des CRM (vgl. Adomeh 2006; Milner 2006).

4.1.2 Antisoziale Verhaltensweisen

Ein anderes Beispiel für einen abweichenden Interaktionscode ist der Umgang mit Konfl ikten: Negative und eskalierende soziale Interaktionsmuster können in der elter-lichen Sozialisation erworben worden sein, aber in der Schule zu sozialen Problemen führen. Patterson, Reid und Dishion (1998) haben sich in ihrer Forschung mit den antisozialen Verhaltensweisen von Jungen befasst. Die Jungen hatten zu Hause ge-lernt, aggressiv zu interagieren, und dieses Muster auf die Schule übertragen: Eigene Interessen werden nicht verhandelt, sondern mit Druck- und Machtmitteln durchge-setzt und setzen damit eine Eskalationsspirale in Bewegung. Das führt dazu, dass die Jungen in der Schule als verhaltensauff ällig wahrgenommen werden. Schaut man sich das Elternhaus an, sieht man in der Regel, dass die Familien dieser Jungen Stressoren wie Armut, Drogen, psychische und physische Krankheiten und häufi ge Umzüge dys-funktional bewältigen, insofern sie Druck und Zwang als Problemlösung ansetzen: eine Verhaltensweise, zu der Menschen unter Stress neigen. Auch hier ist der sensible Umgang mit Öff entlichkeit und Beziehungsgefl echt besonders stark herausgefordert. Auch wird es nicht immer möglich sein, im Kouninschen Sinne „mit leichter Hand“, ohne Unterbrechungen, gravierendere Konfl ikte, sofern sie im Unterricht ausgetragen werden, zu lösen.

4.2 Deeskalation und das Vermeiden von Labeling

Abweichende Interaktionsmuster sind in der Schule besonders dann problemprodu-zierend und belasten das Lehrer-Schüler-Verhältnis, wenn eskalierend auf sie geant-wortet wird. Schüler und Schülerinnen mit abweichenden Interaktionsmustern haben ein hohes Risiko, ihr Wissens- und Verhaltensrepertoire nicht erweitern zu können: Sie werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit einem freundlich zugewandten und positiv erwartungsvollen Interaktionsstil begegnen, wenn ihr Verhalten als intenti-onal bösartig interpretiert wird oder als persönlich beleidigend. Insbesondere diese Schüler und Schülerinnen würden aber von einem guten Lehrer-Schüler-Verhältnis besonders stark profi tieren. Wenn jedoch Schülerinnen und Schüler als verantwort-lich für ihr Verhalten wahrgenommen werden, setzt ein Wahrnehmungsprozess ein, der von Weiner (2000) sehr ausführlich erforscht wurde: Die Wahrnehmung von Verantwortlichkeit, z.B. für eine Unterrichtsstörung, führt dazu, dass eine Lehrkraft ein vergleichsweise hohes Ausmaß an Ärger empfi nden wird. Sie wird den Schüler bzw. die Schülerin bestrafen, während sie einem anderen Schüler oder einer ande-ren Schülerin, den bzw. die sie als wenig verantwortlich für eine Unterrichtsstörung wahrnimmt und der oder die möglicherweise eher als freundlich gilt, augenzwin-

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kernd zulächelt (vgl. Hymel/Wagner/Butler 1996) – mit Auswirkungen auf das Beziehungs gefl echt der Schülerinnen und Schüler, denn dieses Verhalten ist öff ent-lich. Im Falle einer fachlichen Schwierigkeit würde ein als verantwortlich wahrge-nommener Schüler bzw. eine solche Schülerin als faul bezeichnet werden und wür-de keine Unterstützung bekommen; der unfähige Schüler oder die unfähige Schülerin würde jedoch Mitleid auslösen, und für ihn bzw. sie würden womöglich die Standards gesenkt werden. Beide würden jedoch eine angemessene Unterstützung benötigen. Um diesem Wahrnehmungsautomatismus zu entgehen, müssten Lehrkräft e über-durchschnittlich gute soziale Wahrnehmer und Wahrnehmerinnen sein.

5. Fazit

Lehrkräft e an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage sind mehrfach heraus-gefordert: Sie sehen sich zahlreichen objektiven Schwierigkeiten gegenüber, und sie reagieren häufi ger dysfunktional auf diese Schwierigkeiten, wenn sie keine Un-ter stützung bekommen, was wiederum die Schwierigkeiten verstärkt (vgl. Ladson-Billings 2001). Lehrkräft e in solch einem schulischen Umfeld werden also mit höhe-rer Wahrscheinlichkeit Teil eines dysfunktionalen Prozesses und müssen stärker als in einem anderen schulischen Umfeld darauf aufpassen, dass sie anders als der durch-schnittliche Mensch reagieren. Ein positives Lehrer-Schüler-Verhältnis, von Dollase als Letztursache für CM bezeichnet, zu entwickeln, ist für Lehrkräft e an Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage eine große Herausforderung. Dafür sind die poten-ziellen Eff ekte umso höher.

5.1 Implikationen

Wissen über CM führt dazu, dass sowohl Lehramtsstudierende als auch Lehrkräft e sich wirksamer fühlen und dass ihre Zuversicht steigt, die Herausforderungen, die das Unterrichten einer Gruppe mit sich bringt, bewältigen zu können (vgl. Steins/Haep/Wittrock 2015; Steins/Wittrock/Haep 2015). Selbstwirksamkeit reduziert Stress und erhöht die Motivation, Probleme zu lösen (vgl. Bandura 1997). Deswegen ist es eine wichtige Implikation der vorauslaufenden Argumentation, dass CM ein essen-zieller Bestandteil der Lehrerausbildung und -fortbildung werden sollte. Aber auch die Ausarbeitung von Konzepten für systematische individuelle Supervision und Beratung in Bezug auf Interaktionstrainings würde sich lohnen: Lehrkräft e bleiben mit größerer Wahrscheinlichkeit gesünder, und Schülerinnen und Schüler werden wahrscheinlicher zur gesellschaft lichen Teilhabe und Mündigkeit befähigt.

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Gisela Steins

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Gisela Steins, Prof. Dr., geb. 1963, Professorin für Allgemeine Psychologie und Sozialpsychologie an der Universität Duisburg-Essen.

Anschrift : Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Bildungswissenschaft en, Institut für Psychologie, Universitätsstraße 2, 45141 EssenE-Mail: [email protected]

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ZusammenfassungWie lassen sich Schulen in schwieriger Lage identifi zieren, wie häufi g kommen sie vor, wo sind sie gelegen? Auf diese Fragen wird im ersten Teil des Beitrags versucht, eine Antwort zu geben. Anschließend wird dargestellt, was bisher seitens der Länder getan wird, um den besonderen Herausforderungen an diesen Schulen durch zusätzliche fi -nanzielle Mittel gerecht zu werden. Die Ergebnisse sind ernüchternd.Schlüsselwörter: Schulfi nanzierung, soziale Segregation, Migrationshintergrund, Sozial-gesetz buch II, regionale Disparitäten, sozial belastete Schulen

Schools in a Challenging Situation and School FinancingSummaryHow can schools in a challenging situation be identifi ed? How frequent are they? Where are they situated? In the fi rst part of this article, I try to give an answer to these ques-tions. Second, I will show what the Federal States have done so far to meet the special challenges of these schools with additional fi nancial resources. Th e results are sobering.Keywords: school fi nancing, social segregation, migration background, Sozialgesetzbuch [Social Security Statute Book] II, regional disparities, schools under social stress

1. Einführung

Seit der Rütli-Schule in Berlin sind „Schulen in schwieriger Lage“, „Schulen in so-zialen Brennpunkten“, „Schulen mit besonderem Unterstützungsbedarf “ – und wie die Bezeichnungen auch lauten – in der Öff entlichkeit bekannt. Durch die Wohn-segregation in der Grundschule, die sich durch die Schulartdiff erenzierung in der Sekundarstufe noch verstärkt, sind die Unterschiede in der sozialen Zusammen-setzung der Schülerinnen und Schüler ein lange bekanntes Problem des deut-schen Schulwesens: Soziale Benachteiligung ist nicht zuletzt vermittelt über die so-ziale Zusammensetzung der Schülerschaft von Schulen. Durch die Marginalisierung der Hauptschule (vgl. Trautwein/Baumert/Maaz 2007) und zunehmende soziale Se-gre gationsprozesse in den Städten, die verbunden sind mit einer Konzentration der

Horst Weishaupt

Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

DDS – Die Deutsche Schule 108. Jahrgang 2016, Heft 4, S. 354-369

© 2016 Waxmann

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

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Armut auf Migranten und Migrantinnen sowie Kinder, hat sich im letzten Jahrzehnt die Situation noch zugespitzt (vgl. Baur/Häußermann 2009). Seit Jahren lebt in Ostdeutschland jedes vierte Kind unter 15 Jahren in Bedarfsgemeinschaft en, die Unterstützung nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) beziehen, in Westdeutschland ist es jedes siebte Kind. Bundesweit hat inzwischen jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund. Diese Kinder haben nicht nur gegenüber den Kindern ohne Migrationshintergrund eine deutlich ungünstigere sozioökonomische Lebenssituation (vgl. Schwarz/Weishaupt 2014), sondern es ist auch davon auszugehen, dass mehr als die Hälft e dieser Kinder in der Familie eine nichtdeutsche Muttersprache sprechen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 166f.). So kommen zu den so-zialen und ökonomischen noch sprachliche und kulturelle Unterschiede hinzu, die bildungsbewusste Eltern – meist ohne Migrationshintergrund – dazu veranlassen, bei der Schulwahl nicht unbedingt die zugewiesene Schule zu akzeptieren. Zunehmend wird über Strategien von Eltern berichtet, die über Gestattungen oder die Wahl ei-ner Privatschule (vgl. Weishaupt/Kemper 2015; Kann/Rothe, im Erscheinen) ver-suchen, gezielt eine gewünschte Schule zu wählen und die öff entliche Schule in der Nachbarschaft zu umgehen. Die Schulverwaltungen stellen sich diesen Entwicklungen nicht entgegen, sondern begünstigen sie häufi g noch. Dadurch kann es nicht verwun-dern, dass die soziale Segregation zwischen der Schülerschaft der Grundschulen grö-ßer ist als die zwischen der Bevölkerung in den Wohnquartieren (vgl. Morris-Lange/Wendt/Wohlfahrt 2013).

Auf diese Zusammenhänge wird in den letzten Jahren immer wieder aufmerksam gemacht, doch ist es schwer, sie in ihrer gesellschaft lichen Bedeutung zu erfassen, weil die bisherigen Untersuchungen sich auf Stichprobendaten oder Fallstudien be-schränkten (vgl. ebd.). Allerdings wurde schon mit diesen Daten ermittelt, dass in den deutschen Großstädten „knapp 70% der Kinder mit Migrationshintergrund be-reits im Grundschulalter eine Schule [besuchen], in der mehrheitlich Kinder nicht-deutscher Herkunft lesen und schreiben lernen“ (ebd., S.  4). Bundesweit sind es über 40 Prozent. Damit wäre die Segregation in der Grundschule mit der Situation im Kindergarten vergleichbar: Nach der Kindertagesstättenstatistik besucht ein Drittel der Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache Einrichtungen, in der sie die Mehrheit stellen; in vielen Großstädten liegt der Anteil deutlich höher (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S.  185).1 Insofern sollte im öff ent-lichen Bewusstsein schon besser verankert sein, dass es sich bei den beschriebenen Entwicklungen um keine Randerscheinungen des deutschen Schulwesens handelt, die zwar besonderer Beachtung bedürfen, aber kein grundlegendes Umdenken er-fordern. Zunächst wird daher versucht, mit bundesweiten Daten die Notwendigkeit grundlegender Korrekturen bei der Schulfi nanzierung zu unterstreichen. Im zwei-ten Teil des Beitrags wird darauf eingegangen, in welchem Umfang bisher durch

1 Aus Platzgründen wird auf den Forschungsstand zu Schulen in schwieriger Lage (vgl. Föl-ker/Hertel/Pfaff 2015; van Ackeren et al. 2016) und zu Sozialindizes (vgl. Groot-Wilken/Isaac/Schräpler 2016) nicht näher eingegangen.

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Horst Weishaupt

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gezielte Fördermaßnahmen für Schulen in schwieriger Lage ihren besonderen Herausforderungen begegnet wird.

2. Wo gibt es Schulen in schwieriger Lage?

Einkommen und Migrationshintergrund sind die zwei zentralen Merkmale der Lebenssituation von Kindern, die zur Bestimmung ihrer sozialen Lage herangezo-gen werden können, weil die Schulstatistik keine Angaben über die Bildung und den Beruf der Eltern erfasst. Zur Bestimmung der ökonomischen Lage von Kindern er-wies sich die SGB-II-Quote als gut verwendbar, weil sie nicht nur sehr hoch mit der Arbeitslosenquote (r = .95) korreliert, sondern weil die Daten auch jährlich für ein-zelne Wohnadressen vorliegen und sich dadurch beliebig regionalisieren lassen (vgl. Schräpler 2009; Laschke 2011).

Um die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Schülerinnen und Schüler zu erfas-sen, sind Informationen über deren Migrationshintergrund zusätzlich wünschens-wert. Die Schulstatistik liefert aber bundesweit nur Informationen über ausländische Schüler, die – nach der Änderung des Staatsbürgerschaft srechts 2000 – nur noch eine Minderheit unter den Schülerinnen und Schülern darstellen. Durch den Zensus von 2011 stehen stattdessen Angaben über die Schülerinnen und Schüler am Wohnort nach dem Migrationskonzept der Bevölkerungsstatistik nach Kreisen zur Verfügung. Es berücksichtigt einen Migrationshintergrund, wenn mindestens ein Elternteil eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt oder nach Deutschland zugewandert ist. Auch nach diesem Erhebungskonzept werden Eltern dann nicht mehr als Migranten erfasst, wenn beide in Deutschland geboren wurden und die deutsche Staatsbürgerschaft an-genommen haben.

Von den Schülerinnen und Schülern an Grundschulen (1. bis 4. Klasse) hatten nach dem Zensus 2011 in Deutschland 27,8 Prozent einen Migrationshintergrund.2 Nach Kreisen variierte der Anteil zwischen 62,3 Prozent in Pforzheim und 1,2 Pro-zent in Nordvorpommern. Nur 22,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund hatten (nur) eine ausländische Staatsangehörigkeit; das sind 5,3 Prozent aller Grundschülerinnen und -schüler. Anzunehmen ist, dass auch im Schulalter mindestens die Hälft e bis zu zwei Dritteln der Kinder mit Migra tions-hintergrund zu Hause überwiegend kein Deutsch sprechen.3

2 Der Anteil ist niedriger als nach dem Mikrozensus zu erwarten, denn nach ihm hatten 2011 von der 5- bis unter 10-jährigen Bevölkerung 31,3 Prozent einen Migrationshintergrund. Nach dem Mikrozensus 2014 sind es 35,3 Prozent. Ursache des Anstiegs ist auch der Rück-gang der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.

3 Nach dem Zensus hatten in Nordrhein-Westfalen 34,8 Prozent der Grundschüler und -schülerinnen einen Migrationshintergrund, nach der Schulstatistik 2010/11 (MSW NRW Stat. Übers. 373, S. 125) 19,5 Prozent der Grundschüler und -schülerinnen eine nichtdeut-sche Verkehrssprache (also etwa 56 Prozent der Grundschüler und -schülerinnen mit Mi-

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

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Die Hilfequote der nach dem SGB II geförderten Kinder liegt nicht für Grundschüler und -schülerinnen vor, sondern ist ohne eine Sonderauswertung der Daten nur für alle nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten unter 15 Jahren verfügbar. Zum Zeitpunkt des Zensus 2011 erhielten 15,3 Prozent der Kinder unter 15 Jahren Leis-tungen nach dem SGB II (13,2 Prozent in West- und 25,3 Prozent in Ost deutschland). Nach Kreisen variierte die Hilfequote zwischen 2,1 Prozent (Eichstätt) und 37,9 Prozent (Bremerhaven).4

Um die Belastung der Regionen Deutschlands durch Migration, Armut (SGB-II-Quote) oder beides im Grundschulalter zu verdeutlichen, werden beide Belastungs-faktoren in Beziehung zueinander gesetzt. Dabei ist interessant, dass im bundeswei-ten Vergleich zwischen beiden Merkmalen keine Korrelation besteht. Sie zeigt sich nur (wegen der Niveauunterschiede im Ost-West-Vergleich), wenn Ost- bzw. West-deutschland separat betrachtet werden (r  =  .27 Ost- und r  =  .54 West deutsch land). Deutlich wird über die Spannweiten, wie stark sich die durchschnittlichen Lebens-bedingungen der Kinder bereits zwischen den Kreisen Deutschlands unterscheiden. Die oft beschriebenen zunehmenden sozialen Unterschiede in der Gesell schaft erwei-sen sich zugleich als gravierende regionale Unterschiede (vgl. Abb. 1).

Um die Situation in den Kreisen besser darstellen zu können, wurden die Kreise nach dem Anteil der Grundschülerinnen und -schüler mit Migrationshintergrund in drei Gruppen eingeteilt: unter 20 Prozent (niedrig), 20 bis unter 40 Prozent (durchschnitt-lich) und über 40 Prozent (hoch) (Tab. 1). In der Schulforschung wird häufi g ein Anteil von 40 Prozent unter den Schülerinnen und Schülern einer Klasse als kritische Schwelle angesehen, um eine besondere Belastung für den Unterricht anzuzeigen. Dieser Wert wird als Durchschnittwert aller Grundschulen eines Kreises in 55 der 412 Kreise und kreisfreien Städte (alle in Westdeutschland gelegen) überschritten (vgl. Abb. 2). In diesen Gebieten leben 27,5 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler mit Migrationshintergrund. In 13 Städten hat die Mehrheit der Grundschülerinnen und -schüler einen Migrationshintergrund.

Die Quote der SGB-II-Empfänger unter den Kindern unter 15 Jahren wurde in vier Gruppen eingeteilt, um mit der Gruppe unter 10 Prozent die wenig belasteten Regionen von den durchschnittlichen (10 bis unter 20 Prozent), den belasteten (20 bis unter 30 Prozent) und den sehr stark von Kinderarmut betroff enen Regionen (über 30 Prozent) zu unterscheiden (vgl. Tab. 1).

grationshintergrund). In Hessen beträgt der Migrantenanteil unter den Grundschülern und -schülerinnen (Zensus 2011) 35,5 Prozent; nach der Schulstatistik hatten 23,7 Prozent (vgl. Kemper 2015, S. 199) eine nichtdeutsche Verkehrssprache (66,8 Prozent).

4 Die Werte wurden berechnet, indem die Zahl der Leistungsberechtigten im Juni 2011 auf die Bevölkerung unter 15 Jahren im Zensus 2011 bezogen wurde. Im Juni 2015 betrug die Quote 15,7 Prozent; in Westdeutschland war sie auf 14,0 Prozent angestiegen, in Ost-deutschland auf 23,2 Prozent zurückgegangen.

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Horst Weishaupt

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Abb. 1: Die Kreise Deutschlands nach dem Anteil der Grundschülerinnen und -schüler mit Migrationshintergrund im Mai 2011 (Zensusergebnisse) und den Hilfequoten (SGB II) der Kinder unter 15 Jahren in Bedarfsgemeinschaft en im Juni 2011 an der Bevölkerung unter 15 Jahren nach Ländergruppen

Quelle: Zensus 2011, eigene Berechnungen

Abb. 2: Kreise mit einem Anteil von Grundschülerinnen und -schülern mit Migrationshintergrund über 40 Prozent

Quelle: Zensus 2011, eigene Berechnungen

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

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▓ westdeutsche Kreise █ ostdeutsche Kreise □ Stadtstaaten

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, internes Material, eigene Berechnungen

Abb. 3 enthält die 57 Kreise, in denen mehr als ein Viertel der Kinder unter 15 Jahren Leistungen nach dem SGB II erhalten. Neben Berlin und Bremen/Bremerhaven als Stadtstaaten sind es 18 westdeutsche Städte und 36 ostdeutsche Städte und Landkreise.

Tab. 1: Kreise nach den unterschiedenen Gruppen der Migrations- und Armutsbelastung und Anteil der Grundschüler in Deutschland, die in den verschiedenen Kreisgruppen leben

Abb. 3: Kreise mit Hilfequoten der Kinder unter 15 Jahren in Bedarfsgemeinschaft en (SGB II) von über 25 Prozent im Juni 2011

Anteil Schüler mit Migrations-hintergrund

Anteil Leistungs-berechtigte

(SGB II) unter 15 Jahren

Anzahl Kreise

Grundschülerinnen und -schüler Anteil der Kinder unter 15 Jahren mit SGB II-Leistungen

Anzahl Prozent mit Migra-tions hinter-grund in %

niedrig (unter 20%)

unter 10% A 51 257.830 8,3 4,7 2,810 bis unter 20% B 59 354.790 11,4 4,6 10,920 bis unter 30% C 43 200.540 6,5 1,7 9,630% und mehr D 16 69.720 2,2 0,8 4,8

mittel (20- unter

40%)

unter 10% E 92 720.410 23,2 23,6 10,910 bis unter 20% F 75 627.490 20,2 21,4 18,420 bis unter 30% G 18 203.110 6,5 8,2 10,030% und mehr H 3 165.490 5,3 7,6 9,4

hoch (über 40%)

unter 10% I 3 9.330 0,3 0,5 0,210 bis unter 20% J 24 189.590 6,1 10,4 6,220 bis unter 30% K 23 258.320 8,3 14,2 13,930% und mehr L 5 47.660 1,5 2,4 3,2

Insgesamt 412 3.104.280 99,8 100,0 100,0

Quelle: Zensus 2011 und IAB-Statistik Juni 2011, eigene Berechnungen

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Horst Weishaupt

360 DDS, 108. Jg., 4(2016) Schulen in „schwieriger“ Lage

Tab. 2: Belastungssituation der Kreise in Deutschland nach dem Anteil der Grund schüle-rinnen und -schüler durch Migration und Armut (SGB II) unter der Bevölkerung unter 15 Jahren

Anteil Schüler mit Migrations-hintergrund

Anteil Leistungs-berechtigte

(SGB II) unter 15 Jahren

An-zahl

Kreise

Bundesland

SH HH NS HB NW HE RP BW BY SL BE BB MV SA ST TH

niedrig (unter 20%)

unter 10% A 51 1 0 1 0 1 0 4 1 41 1 0 1 0 0 0 0

10 bis unter 20% B 59 10 0 17 0 0 2 2 0 0 0 0 5 3 7 1 12

20 bis unter 30% C 43 1 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 9 8 5 9 10

30% und mehr D 16 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 3 7 1 4 1

mittel (20- unter

40%)

unter 10% E 92 0 0 5 0 4 7 12 33 30 1 0 0 0 0 0 0

10 bis unter 20% F 75 0 0 16 0 23 11 11 3 8 3 0 0 0 0 0 0

20 bis unter 30% G 18 3 1 3 0 8 0 2 0 0 1 0 0 0 0 0 0

30% und mehr H 3 0 0 1 1 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0

hoch (über 40%)

unter 10% I 3 0 0 0 0 0 0 0 1 2 0 0 0 0 0 0 0

10 bis unter 20% J 24 0 0 0 0 4 2 2 4 12 0 0 0 0 0 0 0

20 bis unter 30% K 23 0 0 1 1 10 3 3 2 3 0 0 0 0 0 0 0

30% und mehr L 5 0 0 1 0 3 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Gesamt 412 15 1 46 2 53 26 36 44 96 6 1 18 18 13 14 23

Quelle: Zensus 2011 und IAB-Statistik Juni 2011, eigene Berechnungen

Tab. 3: Namen der Kreise mit besonders hohen Belastungskonstellationen durch Armut oder Migration

Kreise mit sehr hoher SGB-II-Quote und niedrigem Migrantenanteil

Kreise mit sehr hoher SGB-II-Quote und durchschnittli-chem Migrantenanteil

Kreise mit hoher SGB-II-Quote und hohem Migrantenanteil

Kreise mit sehr hoher SGB-II-Quote und hohem Migrantenanteil

Brandenburg an der Havel Berlin Salzgitter Delmenhorst Frankfurt (Oder) Bremerhaven Bremen Essen Uckermark Wilhelmshaven Düsseldorf Mönchengladbach.Greifswald Duisburg GelsenkirchenNeubrandenburg Krefeld Offenbach a.M.Rostock Wuppertal Schwerin Köln Stralsund Bielefeld . Demmin Dortmund Uecker-Randow Hagen Leipzig Hamm Halle (Saale) Herne Magdeburg Frankfurt a.M. Salzlandkreis Wiesbaden Stendal Kassel Gera Kaiserslautern

Ludwigshafen am Rhein

Worms Mannheim Pforzheim Weiden i.d.OPf. Hof Nürnberg

Quelle: Zensus 2011, eigene Berechnungen

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

361DDS, 108. Jg., 4(2016)Schulen in „schwieriger“ Lage

Tab. 1 stellt die Kreise und die in ihnen lebenden Grundschülerinnen und -schü-ler nach den zwölf unterschiedenen Kreisgruppen dar, Tab. 2 die Kreise zusätz-lich diff erenziert nach Ländern. Insgesamt ist davon auszugehen, dass etwa zwei Drittel der Grundschülerinnen und Grundschüler in gering bis wenig belasteten Regionen (Kreisgruppen A, B, E und F) aufwachsen. In diesen Regionen leben aber nur gut die Hälft e der Grundschülerinnen und -schüler mit Migrationshintergrund (54,3 Prozent) und sogar nur 43 Prozent der unter 15-Jährigen, die von SGB-II-Leistungen leben. Die am wenigsten belasteten Regionen (Gruppe A) befi nden sich – mit Ausnahme von Potsdam-Mittelmark – in Westdeutschland, darunter 41 bay-erische Kreise (vgl. Tab. 2). Die Kreise mit niedrigem Migrationsanteil und hoher Armutsbelastung (Gruppe C) befi nden sich – mit Ausnahme von Flensburg und Goslar – in Ostdeutschland, mit sehr hoher Armutsbelastung (Gruppe D) ausschließ-lich in Ostdeutschland. Die Namen der Kreise der Gruppe D, der Kreise mit mittle-rer Migrationsbelastung und sehr hoher Armutsbelastung (Gruppe H) und mit hoher Migrationsbelastung und hoher bis sehr hoher Armutsbelastung (Gruppen K und L) sind in Tab. 3 aufgeführt.

Von den nach beiden Indikatoren stark belasteten Städten (Gruppe L) befi nden sich drei in Nordrhein-Westfalen und je eine in Hessen und Niedersachsen. Auch in der Gruppe mit hohem Migrantenanteil und hohem Anteil von SGB-II-Empfängern (Gruppe K) befi nden sich nur Städte in sieben westdeutschen Ländern, zehn da-von in Nordrhein-Westfalen. Zu den Städten mit hoher SGB-II-Quote und mittle-rem Migrantenanteil (Gruppe H) könnten noch einige Städte der Gruppe G gerech-net werden, in denen über ein Viertel der Kinder SGB-II-Bezieher und/oder mehr als 35 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler Migranten bzw. Migrantinnen sind (Kiel, Lübeck, Neumünster, Hamburg, Osnabrück, Oberhausen, Remscheid, Bottrop, Bochum). Auff allend ist, dass die bayerischen Großstädte mit einem hohen Anteil von Grundschülerinnen und -schülern mit Migrationshintergrund ganz über-wiegend nur durchschnittliche Anteile von Einwohnern unter 15 Jahren mit SGB-II-Leistungen aufweisen. Dadurch sind sie unter den hier als besonders belastet darge-stellten Städten kaum vertreten.

Es versteht sich, dass hinter den Kreisdurchschnitten erhebliche Unterschiede in den einzelschulischen Bedingungen existieren. Zur Migrationssituation liegen zwar in einigen Ländern Daten im Rahmen der Schulstatistik vor; sie werden aber nicht – wie im Rahmen der Kindertagesstättenstatistik – in den laufenden statisti-schen Veröff entlichungen dargestellt. Eine Annäherung an eine Beschreibung nach einzelnen Schulen und deren Einzugsbereichen stellen Daten nach Stadtteilen in-nerhalb der Städte dar. Beispielhaft kann hier auf Frankfurt am Main mit einem Migrantenanteil unter den Grundschülerinnen und -schülern beim Zensus 2011 von 58,3 Prozent verwiesen werden. Damit entspricht der Anteil etwa dem Wert, der bei den Einschulungsuntersuchungen 2011-2014 ermittelt wurde (61,1 Prozent). Nach Stadtteilen schwankt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund zwischen

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86,6 und 15,2 Prozent. Ähnliche regionale Unterschiede ergeben sich bei der SGB-II-Quote für unter 15-Jährige. Sie beträgt 2014 in Frankfurt 22,1 Prozent und variiert nach Stadtteilen zwischen 1,5 und 41,6 Prozent. Beide Werte korrelieren stark mit-einander: Es gibt folglich mehrere Stadtteile mit hohem Migrantenanteil und einem hohen Anteil von SGB-II-Empfängern unter den Grundschülerinnen und -schülern.5

Zwischen den einzelnen Schulen ist mit noch größeren Varianzen zu rechnen. Zu-sätz lich muss zwischen den Schulen in Abhängigkeit von der sozialen Belastung mit einem erheblichen Unterschied im Anteil von Kindern mit sonderpädagogi-schem Förderbedarf ausgegangen werden, weil einige Behinderungsarten nach Sozial-gruppen unterschiedlich häufi g auft reten. Inklusionsbestrebungen würden an den Schulen in schwieriger Lage ebenfalls besondere Anstrengungen erfordern, damit sie den Gegebenheiten Rechnung tragen.6

Auch in den hier als wenig belastet dargestellten Städten und Landkreisen sind durchaus stark belastete regionale Konstellationen anzutreff en. Insofern verkleinert eine stärkere Regionalisierung nicht die angesprochenen Probleme, sondern es muss davon ausgegangen werden, dass auch in einer einzelschulischen Betrachtung wenigs-tens ein Viertel bis ein Drittel aller Schulen in Deutschland als belastet anzusehen sind: Die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich in der Situation der Schulen. In Ostdeutschland beruht eine Belastung der Schulen vornehmlich auf der Armut der Kinder (mit der damit im Zusammenhang stehenden Arbeitslosigkeit der Eltern etc.), in den westdeutschen Großstädten auf einem hohen Migrantenanteil unter den Grundschülerinnen und -schülern, der vor allem in den Großstädten Nordrhein-Westfalens mit einer hohen Armutsbelastung kombiniert auft ritt.

3. Was wird getan, um Schulen in schwieriger Lage zu helfen?

Bildungseinrichtungen in benachteiligten Stadtvierteln oder mit hoher sozialer Belastung sollten zusätzliche standortspezifi sche Ressourcen zugewiesen werden, da-mit durch die soziale und ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft bedingte Standortnachteile ausgeglichen werden können. Sogenannte „Brennpunkt-Schulen“

5 Die Darstellung basiert auf der Internetveröff entlichung zu den Stadtteilen Frankfurts des Statistischen Amtes (vgl. URL: http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=11800621&_ff mpar[_id_eltern]=2811#a11695479; Zugriff sdatum: 26.04.2016). Ähnliche Varianzen in der innerstädtischen Verteilung der Problemlagen könnten für andere Städte beschrieben wer-den (z.B. Berlin, Hamburg, München, die Städteregion Ruhr).

6 In Hamburg wird für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache oder emotionale und soziale Entwicklung (LSE) auf der Basis empirischer Auswertungen ein nach Sozialindex variierender Anteil angenom-men, der in der Grundschule zwischen 7,6 Prozent bei den Grundschulen mit Sozialindex 1 (sozial stark belastet) und 0,8 Prozent bei den Grundschulen mit Sozialindex 6 (sozial wenig belastet) variiert.

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

363DDS, 108. Jg., 4(2016)Schulen in „schwieriger“ Lage

stehen vor der Herausforderung, ihre Schülerschaft dabei zu unterstützen, die – auf-grund außerschulischer und schulischer Faktoren vorhandenen – Leistungsdefi zite zu kompensieren; denn nationale und internationale Leistungsstudien haben gezeigt, dass die soziale Komposition von Lerngruppen einen statistisch bedeutsamen Einfl uss auf das Leistungsniveau und die Lernergebnisse der Schülerschaft hat (vgl. Dumont et al. 2013). Eine auf den variierenden Bedarf ausgerichtete Ressourcenausstattung der Schulen kann die Grundlage dafür bilden, den Zusammenhang zwischen er-schwerten Kontextbedingungen und den Bildungschancen der Schülerschaft zu ent-koppeln, und insofern als Steuerungsinstrument einen Beitrag dazu leisten, Bildungs-benachteiligungen auszugleichen.

Bei der Ressourcenzuweisung an die Schulen durch die Kultusministerien und Senatorinnen bzw. Senatoren der Länder fi nden aber aktuell überwiegend standar-disierte Steuerungsinstrumente Verwendung, die primär auf den quantitativen Kenn-werten zur Berechnung der Schüler-Lehrer-Relation basieren. Die Mängel dieses Vorgehens sehen auch die Kultusminister und -ministerinnen, was ein Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2007 zur schulischen Integration von Kindern mit Migrationshintergrund verdeutlicht:

„Die Länder sind sich bewusst, dass Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch einen höheren Aufwand betreiben müssen, um Integrationsarbeit im erforderlichen Umfang leisten zu können. Es besteht deshalb Einigkeit, dass für diese Schulen auch spezifi sche Mittel bereitgestellt werden, sei es durch Senkung der Frequenzen, Erhöhung des Lehrpersonals oder Unterstützung der Lehrkräft e durch sozialpädagogische Fachkräft e der Jugendhilfe. Diese Schulen benötigen besonders qualifi ziertes Personal.“ (KMK 2007, S. 4)

Ähnlich sehen es die Autoren und Autorinnen eines Expertenberichts zur Bil dungs-situation in Baden-Württemberg, welche die zielgenaue Förderung unter Berück-sichtigung struktureller Gegebenheiten befürworten (vgl. Baumert et al. 2011, S. 22).

Das elaborierteste Verfahren zur Ermittlung der sozialen Situation einzelner Schulen hat Hamburg entwickelt. Dort wird ein Sozialindex schulscharf auf Basis von Schüler- und Elternbefragungen ermittelt. Die Erhebungen beinhalten Variablen über die Herkunft der Eltern sowie zum ökonomischen, kulturellen und schulbezogenen so-zialen Kapital im Elternhaus. Die schulbezogenen Variablen werden um stadtteilbe-zogene Strukturdaten ergänzt, die die sozialräumliche Lage der Schulen charakteri-sieren. Die Schulen werden nach dem Sozialindex sechs Gruppen zugeordnet (vgl. Schulte/Hartig/Pietsch 2014), und danach werden sowohl für ihre Grundbedarfe als auch für bestimmte Fördermaßnahmen diff erenziert Personalressourcen für fol-gende Maßnahmen zugewiesen (vgl. Institut für Bildungsmonitoring und Qualitäts-entwicklung 2013):

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Horst Weishaupt

364 DDS, 108. Jg., 4(2016) Schulen in „schwieriger“ Lage

• Grundbedarfe für Unterricht in Grundschulen (Absenkung der Klassenfrequenzen bei einem Sozialindex von 1 und 2 auf 17 Schülerinnen und Schüler);

• Allgemeine Sprachförderung (Vorschulen, Grundschulen und Stadtteilschulen/Sekundarstufe I);

• Ganztagsbetreuung (Jahrgangsstufen 1-4 der Grund- und Stadtteilschulen);• Inklusion (Vorschulen, Grundschulen und Stadtteilschulen/Sekundarstufe 1), nach

Sozialindex gestuft e Zuweisung für sonderpädagogische Förderbedarfe;• Sekretariatskapazitäten (Vorschulen, Grundschulen, Sekundarstufe I und II).

In keinem anderen Bundesland in Deutschland gibt es eine vergleichsweise weit-gehende sozialindexgesteuerte Ressourcenzuweisung an Schulen (vgl. Tillmann/Weishaupt 2015). In Bremen scheint die Situation ähnlich wie in Hamburg zu sein; sie ist aber weniger gut dokumentiert (vgl. Morris-Lange 2016, S.  17f.). Hessen und Nordrhein-Westfalen sehen nur pauschale Personalzuweisungen nach Sozialindex vor für Grund- und Hauptschulen (in Hessen auch weitere Schularten); die Mittel für Sprach- und Ganztagsförderung und die Inklusion werden nicht nach Sozialindex diff erenziert.

In Berlin erfolgt die Berechnung der Unterrichtsstunden, die für Sprachförderung zur Verfügung gestellt werden,

„auf der Basis der Anzahl von Schülern nichtdeutscher Herkunft ssprache (ndH) plus der Anzahl der lernmittelbefreiten Schüler einer Schule. Die Zumessung erfolgt an Schulen mit einem Anteil von >=40% für Schüler/innen nichtdeutscher Herkunft (NdH) oder >=40% für Schüler/innen mit Lernmittelbefreiung (Lmb). Nur eine dieser Bedingungen muss erfüllt sein.“ (Zuletzt: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, Anlage 2)

Berlin wählt folglich unmittelbar auf die Schülerinnen und Schüler der Schulen be-zogene Merkmale der Schulstatistik bzw. der Schulverwaltung (von der Zuzahlung zu den Lernmitteln befreite Schülerinnen und Schüler). Auch ein Programm zur fi nan-ziellen Unterstützung von Schulen mit benachteiligter Schülerschaft in Berlin richtet sich nach dem Anteil lernmittelbefreiter Schülerinnen und Schüler (vgl. den Beitrag von Baur in diesem Heft , S. 370-383). Vergleichbare Merkmale über die soziale Lage der Schülerinnen und Schüler einer Schule (z.B. Befreiung von der Zuzahlung zum Mittagessen) liegen aber in den meisten Ländern nicht vor.

Nicht selten ist die Ressourcenzuweisung an die Schulen intransparent, weil nicht alle Länder die entsprechenden Verfahren off en legen (Bayern und Hessen veröf-fentlichen z.B. nicht die Verordnungen zur Lehrkräft ezuweisung) und den Schul-auf sichts beamten und -beamtinnen meist ein individueller Handlungsspielraum ein geräumt wird. Die meisten Länder sehen beispielsweise zusätzliche Mittel für Sprach förderung vor, die aber an Kriterien gebunden sind, die für Außenstehende

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

365DDS, 108. Jg., 4(2016)Schulen in „schwieriger“ Lage

nicht überprüfb ar sind (vgl. Morris-Lange 2016).7 Auch gibt es zusätzliche Mittel für die Ganztagsbetreuung und die sonderpädagogische Förderung an allgemeinen Schulen. Aber kein Land sieht bei der Zuweisung dieser Mittel eine Zusatzzuweisung an Schulen in schwieriger Lage vor. Insgesamt sind Verfahren einer indikatorenge-steuerten Finanzierung der einzelnen Schulen nach spezifi schen Bedarfen stark un-terentwickelt (vgl. ebd.).

Soweit sich die verfügbaren Angaben quantifi zieren ließen, ergeben sich über die be-darfsorientierte Mittelzuweisung nur geringe Umverteilungseff ekte; bisher haben diese Bestrebungen eher eine symbolische Wirkung. Zu berücksichtigen ist bei ei-ner Bewertung dieses Förderansatzes zusätzlich die Kompensation der strukturel-len Ausstattungsunterschiede zwischen den Schularten aufgrund der Unterschiede in den Lehrdeputaten und der Besoldung bzw. Vergütung der Lehrkräft e nach Schulart (vgl. Tillmann/Weishaupt 2015), die in den meisten Ländern erheb liche Vorteile in den bereitgestellten Ressourcen für die Kinder oberer Sozialgruppen und ohne Migrationshintergrund zur Folge haben. Zu berücksichtigen sind auch die Unterschiede in der fachlichen Qualifi kation der Lehrkräft e und damit der Anteil fachfremd erteilten oder nicht erteilten Unterrichts (vgl. Porsch 2016).

Für den Erfolg einer Strategie der bedarfsorientierten Ressourcenausstattung müss-te die Bindung der Mittelzuweisung an qualitative Zielkriterien stärker herausgestellt und über Zielvereinbarungen abgesichert werden. Schließlich müssten den Schulen erprobte und erfolgversprechende pädagogische Konzepte zur sinnvollen Nutzung der Ressourcen zur Verfügung stehen. Es ist bisher auch nicht möglich, Aussagen über die Qualitätsverbesserungen zu treff en, die mit bedarfsorientierten Mittelzuweisungen über einen Sozialindex in den Ländern erreicht wurden. Die Länder haben sich bis-her um eine entsprechende Evaluation ihrer Programme nicht bemüht.

Oft wird übersehen, dass zur Schulausstattung maßgeblich die Kommunen beitragen. Zusätzliche Räumlichkeiten für einen Mittagstisch und Ganztagsbetreuung, eine er-weiterte Sachausstattung der Schulen, Schulsozialarbeiter und -sozialarbeiterinnen und ergänzende Hausaufgabenhilfe müssen von den Kommunen bereitgestellt wer-den. Für die Kommunen als Schulträger sind Maßnahmen der unterrichtsergänzen-den Förderung von Schülerinnen und Schülern zwar eine wichtige Aufgabe; sie un-terliegen oft aber keiner rechtlichen Verpfl ichtung. Die Finanzierungsbedingungen der kommunalen Haushalte sind stark von der ökonomischen Leistungskraft und den Lebensbedingungen der Bevölkerung einer Kommune abhängig (vgl. Arnold

7 Die Überprüfung der Lehrkräft eausstattung der Grundschulen in Rheinland-Pfalz ergab, dass nur kleine Grundschulen besser mit Lehrkräft en versorgt werden, nicht aber die Schu-len mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit nichtdeutscher Famili-ensprache (vgl. Weishaupt, in Vorbereitung), trotz eines Sprachförderprogramms und 72 Grundschulen, in denen Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache die Mehrheit stellen. – Eine für Hessen geplante vergleichbare Analyse scheiterte daran, dass das Kultusministeri-um die Bereitstellung der verfügbaren Daten der Schulstatistik verweigerte.

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Horst Weishaupt

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et al. 2015) und variieren dadurch erheblich (vgl. Schwarz/Weishaupt 2013; ei-nen echten kommunalen Finanzausgleich gibt es in Deutschland nicht, und die Landeszuweisungen sind von der Finanzkraft der Länder abhängig). Damit ergibt sich für viele Kommunen mit einem hohen Anteil von Schulen in schwieriger Lage das Dilemma, mit vergleichsweise geringen kommunalen Mitteln ausgestattet zu sein.8 Reiche Gemeinden mit relativ wenigen sozialen Brennpunkten können oft um-fangreiche Fördermaßnahmen fi nanzieren, die für sozial stark belastete Gemeinden undenkbar sind. Diese strukturelle Problematik wird alle Bestrebungen einzelner Kommunen, eine chancengerechte Schulausstattung einzelner Schulen zu fördern, li-mitieren.

4. Fazit

Die Lebenslage der Kinder ist in den Kreisen Deutschlands extrem unterschied-lich und verweist auf noch größere Unterschiede auf der Ebene der Einzelschule. Wie die bundesweite Analyse zeigt, sind alle Länder von der Problematik von Schulen in schwieriger Lage betroff en. Allerdings stehen die Länder vor unter-schiedlichen Herausforderungen. In Ostdeutschland ist es der große Anteil armer Kinder in den Schulen, denen durch zusätzliche schulische Maßnahmen verbesser-te Lebensperspektiven eröff net werden müssen. In Westdeutschland sind es der hohe Migrantenanteil und damit verbundene soziale und kulturelle Unterschiede an den Schulen, die durch zusätzliche Ressourcen bewältigt werden müssen. In einer grö-ßeren Zahl von Großstädten kommt das Problem der Kinderarmut noch hinzu. Inklusion kann an den betroff enen Schulen in diesen Städten nur als umfassendes Schul entwicklungskonzept mit erheblich erweiterten Ressourcen ermöglicht werden. Der Brisanz dieser Herausforderungen haben sich bisher nur Bremen und Hamburg gestellt und bemühen sich um substanzielle zusätzliche Fördermaßnahmen für Schulen in schwieriger Lage. Berlin hat punktuelle Maßnahmen ergriff en, deren tat-sächliche Reichweite schlecht dokumentiert ist. Von den Flächenländern kennen nur Hessen und Nordrhein-Westfalen eine sozialindexgesteuerte zusätzliche Zuweisung von Ressourcen an die Schulen, deren Umverteilungswirkung aber sehr gering ist.9

8 Der Anteil der Einwohner mit SGB-II-Bezug korreliert hoch mit dem Schuldenstand der Gemeinden (Ost .59, West .58) und führt zu tendenziell niedrigeren Steuereinnahmen in Ostdeutschland (-.21). Westdeutsche Kreise mit hohem Migrantenanteil weisen einen hö-heren Schuldenstand auf (.25), doch muss berücksichtigt werden, dass zwischen den west-deutschen Ländern die Finanzsituation der Kommunen extrem unterschiedlich ist und insbesondere die Städte in Nordrhein-Westfalen hoch verschuldet sind (vgl. Arnold et al. 2015).

9 Die Überprüfung der Wirkung des Sozialindex in Nordrhein-Westfalen ergab, dass die ge-ringen Eff ekte der Lehrkräft ezuweisung nach Sozialindex teilweise durch andere bedarfs-orientierte Lehrkräft ezuweisungen wieder aufgehoben oder sogar konterkariert wurden (vgl. Weishaupt/Kemper im Druck), obwohl sie für Sprachförderung, Ganztagsbetreuung etc. vorgesehen sind.

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

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Eine unterschiedliche Finanzausstattung der Schulen über eine sozialindexgesteuerte Mittelzuweisung ist prinzipiell sinnvoll, um Bildungsbenachteiligungen zu verringern (vgl. Gamoran/An 2016; Kidson/Norris 2014). Sie müsste aber wirklich substanziel-le Mittelumschichtungen bewirken, an zielführende pädagogische Programme gebun-den sein und mit Erfolgskontrollen kombiniert werden um sicherzustellen, dass die beabsichtigten Wirkungen auch erzielt werden. Außerdem könnte es sinnvoll sein, sie nicht an einzelne Maßnahmen – wie insbesondere die Sprachförderung – zu binden, sondern umfassender die vielfältigen Benachteiligungen, nicht zuletzt auch bezogen auf die kulturelle Förderung, zu berücksichtigen. International haben beispielsweise für die Verringerung von Bildungsbenachteiligungen Schulbibliotheken einen hohen Stellenwert, die in Deutschland nur wenig Beachtung fi nden (vgl. Richter 2014).

Vor dem Hintergrund der bestehenden Unterschiede in den Ressourcenzuweisungen nach Schulart, die bereits sozial benachteiligend wirken, sind die bisherigen Ansätze völlig unzureichend. Maßnahmen der Länder müssten mit kommunalen Maßnahmen gekoppelt werden, damit die sachlichen und räumlichen Rahmenbedingungen für pädagogische Maßnahmen gewährleistet werden können. Da solche umfassenden Handlungskonzepte mit entsprechenden Umverteilungswirkungen bisher bestenfalls in Bremen und Hamburg (als Stadtstaaten ohne kommunale Ebene) erkennbar sind, haben auch sozialindexgesteuerte Mittelzuweisungsansätze bisher eher eine geringe chancenausgleichende Wirkung.

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Horst Weishaupt

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Schulen in schwieriger Lage und Schulfi nanzierung

369DDS, 108. Jg., 4(2016)Schulen in „schwieriger“ Lage

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Horst Weishaupt, Prof. Dr., geb. 1947, Professor i.R.

Anschrift : Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Schloßstr. 29, 60486 Frankfurt am MainE-Mail: [email protected]

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370 DDS, 108. Jg., 4(2016) Berichte zum Schwerpunktthema

ZusammenfassungMit dem im Februar 2014 gestarteten Berliner „Bonus-Programm zur Unterstützung von Schulen in schwieriger Lage“ erfolgt eine merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen, der folgende Merkmale zugrunde liegen: Die Höhe des prozentualen Anteils der Schüler und Schülerinnen mit Lernmittelbefreiung (mehr als 50%), die Kooperationsbereitschaft der Schulen mit anderen Bildungseinrichtungen, die Lage der Schule nach dem Berliner „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ und der Erfolg, ge-messen am Erreichen der von der jeweiligen Schule festgelegten Ziele. Damit werden der sozioökonomischen Benachteiligung als stärkstem Wirkfaktor bei der Bildungs-benachteiligung Rechnung getragen und die Qualitätsentwicklung der Schulen in Kooperation mit ihrem Umfeld gefördert. Mehr als 200 Schulen in Berlin werden dabei mit zusätzlichen Finanzmitteln in Höhe von 50.000 € bis 100.000 € jährlich unterstützt. Die wissenschaft liche Begleitung und Evaluation des Programms lässt erwarten, dass ge-sicherte Erkenntnisse über den Wirkungsgrad des Programms gewonnen und, falls nötig, Ablaufprozesse eff ektiver gestaltet werden.Schlüsselwörter: Bildungschancen, Kooperationen, Bildungsverbund, Lern mittel be-freiung, Qualitätsentwicklung, Sozialraum

Feature-related Level of Resources for Schools in Berlin – the Bonus Program to Support Schools in a Challenging SituationSummaryIn February 2014, Berlin launched a bonus program to support schools in socioeconom-ically deprived situations. Th e magnitude of fi nancial support depends on the following criteria: the proportion of students who are exempt from a contribution to learning ma-terials (so-called Lmb factor), the proximity to a socially deprived neighborhood, coop-

Christine Baur

Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin – das Bonus-Programm zur Unterstützung von Schulen in schwieriger Lage

DDS – Die Deutsche Schule 108. Jahrgang 2016, Heft 4, S. 370-383

© 2016 Waxmann

BERICHTE ZUM SCHWERPUNKTTHEMA

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Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin

371DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

erativeness with other educational institutions and a Performance Bonus. Depending on the Lmb proportion of a school, funding can vary from € 50,000 to € 100,000 per year. Th ereby the socioeconomic disadvantage is set as the most infl uential factor regarding the educational disadvantage. Further co-operations between schools and out-of-school partners are encouraged to improve the development of school quality with extracurric-ular academic activities. To this day already more than 200 Berlin schools receive annu-al subsidies. Th e monitoring of this federal state program is scientifi cally supervised and evaluated. In case of failure, gathered knowledge about effi ciency can be used to alter fu-ture procedures.Keywords: educational opportunities, co-operations, educational network, exemption from contribution to learning materials, quality development, social space

1. Besondere Ressourcenzumessung bei Schulen in schwieriger Lage

Die internationalen Schulleistungsstudien PISA und IGLU haben gezeigt, dass in Deutschland Bildungserfolg so eng wie in keinem anderen der an den Studien teil-nehmenden Länder an die soziale Herkunft geknüpft ist. Berlin gehörte im PISA-Ländervergleich 2006 zu den Ländern, in denen diese Koppelung überdurchschnitt-lich hoch war (vgl. PISA-Konsortium Deutschland 2008). Im bildungspolitischen Interesse, Bildungsbenachteiligung entgegenzusteuern und Bildungschancen zu för-dern, wurden in Berlin bereits vor der Schulstrukturreform 2010/2011 zahlreiche Maßnahmen ergriff en, um eine Entkoppelung von Kompetenzerwerb und sozia-ler Herkunft zu befördern. Neu hinzugekommen ist das im Februar 2014 gestartete Bonus-Programm für Schulen in schwieriger Lage, das die besondere Situation von Schulen berücksichtigt, an denen 50 Prozent und mehr Eltern von der Zuzahlung zu den Lernmitteln befreit sind (Lmb-Faktor). Der sozioökonomische Faktor als ent-scheidendes Kriterium für die Aufnahme einer Schule in das Bonus-Programm deu-tet einen Paradigmenwechsel in der merkmalsbezogenen Ressourcenausstattung von Schulen an, der Befunde berücksichtigt, die die sozioökonomische Benachteiligung als stärksten Wirkfaktor bei der Bildungsbenachteiligung feststellen (vgl. Stanat/Schwippert/Gröhlich 2010).

2. Ziele des Bonus-Programms

Das Bonus-Programm für Schulen stellt erstmals eine erfolgsorientierte und an fol-genden Merkmalen orientierte Ressourcensteuerung im Schulbereich über eine Laufzeit von mindestens sechs Jahren dar: die Höhe des prozentualen Anteils der Schüler und Schülerinnen mit Lernmittelbefreiung, die Kooperationsbereitschaft der Schulen mit anderen Bildungseinrichtungen, die Lage der Schule nach dem Berliner Monitoring Soziale Stadtentwicklung und der Erfolg, gemessen am Erreichen festge-

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Christine Baur

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legter Ziele. Das Programm berücksichtigt die besondere Situation von Schulen, de-ren überwiegende Schüler- und Schülerinnenschaft von sozialer Benachteiligung be-troff en ist und die zumeist in benachteiligten Quartieren liegen. Zum Zeitpunkt des Programmstarts erfüllten 220 Grundschulen, Integrierte Sekundarschulen, Förder-zentren und Gymnasien die Voraussetzungen für die Aufnahme in das Programm.

Das bildungspolitische Ziel des Programms ist, Bildungsbenachteiligung der Schüle-rinnen und Schüler auszugleichen. Dies soll gelingen, indem• die Eigenverantwortung der Schulen gestärkt wird,• wirksame standortspezifi sche Interventionsstrategien und Unterstützungs maß nah-

men identifi ziert und weiterentwickelt werden,• Schulen sich vernetzen und ihre Sozialraumorientierung gefördert wird und• das Ansehen der Schulen in der Öff entlichkeit gestärkt wird.

Die fi nanziellen Bestandteile des Bonus-Programms knüpfen an diese Teilziele an, wie der nächste Abschnitt verdeutlicht.

3. Das erfolgsorientierte Modell des Bonus-Programms – Erfolg, Lage und Kooperation

Das Bonus-Programm berücksichtigt bei der zusätzlichen Ressourcenausstattung der Schulen mehrere Merkmale in unterschiedlicher Gewichtung. Die Mittel setzen sich zusammen aus einer Basiszuweisung, einem Leistungsbonus, der Kooperationszulage und einer Zuwendung für die Lage der Schule in einem nach den Kriterien des Berliner Monitoring Soziale Stadtentwicklung benachteiligten Quartier (Aktionsraum Plus/Soziale Stadt).

Tabelle 1 verdeutlicht, dass Schulen mit mehr als 75 Prozent Lmb eine Basiszuweisung in Höhe von 75.000 €, gegebenenfalls die Kooperationszulage von 10.000 € und den Leistungsbonus von 15.000 €, insgesamt also 100.000 € erhalten (Modell A). Schulen mit mehr als 50 Prozent Lmb erhalten eine Basiszuweisung in Höhe von 25.000  € und für ihre Lage im Aktionsraum Plus/Soziale Stadt zusätzlich 12.500 € (Modell B). Einschließlich Kooperationszulage und Leistungsbonus erhalten diese Schulen also 50.000 € (Modell C) bzw. 62.500 € (Modell B).

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Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin

373DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

3.1 Der Leistungsbonus

Mit dem erfolgsabhängigen Leistungsbonus ist die Vorstellung verbunden, die Schulen in ihrem Bemühen, Erfolg zu erzielen, zu stärken. Die Schulen entwickeln in eigener Verantwortung evaluierbare Zielstellungen, die mit Unterstützung der Bonus-Mittel verfolgt werden. Passgenau wird zu diesem Vorhaben eine schulspezifi sche Zielvereinbarung mit der regionalen Schulaufsicht geschlossen, wobei auch bestehen-de qualifi zierte Zielvereinbarungen angepasst oder neue abgeschlossen werden kön-nen. Der Leistungsbonus ab dem dritten Jahr der Laufzeit bemisst sich danach, ob die Schulen ihre mit dem Einsatz der Bonus-Mittel verbundenen Zielstellungen erreichen. In den Folgejahren steigt der Anteil des Leistungsbonus am Finanzierungsmodell an, und die pauschale Basiszuweisung sinkt ab (vgl. Tab. 1). Ob eine Schule ihr Ziel oder Teilziele erreicht, hängt davon ab, ob erreichbare Ziele und Strategien der Umsetzung formuliert und die Umsetzung realisiert wurden. Große Ziele wie „Die Anzahl der Schulabbrecher/innen soll halbiert werden“ sind in ihrer Erfüllung ohne Angabe ei-nes Zeitraums eher zum Scheitern verurteilt als das Ziel „Rückgang der Konfl ikte auf dem Schulhof “, das sich zum Beispiel an der Zahl der Streitschlichtungsgespräche messen lässt.

A) Schule (75% lmb)Jahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5 Jahr 6

Basiszuweisung 75.000,- EUR 75.000,- EUR 65.000,- EUR 55.000,- EUR 45.000,- EUR 35.000,- EURKooperation 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR

Erf olgsabhängig 15.000,- EUR 15.000,- EUR 25.000,- EUR 35.000,- EUR 45. 000,- EUR 55.000,- EURSumme 100.000,- EUR 100.000,- EUR 100.000,- EUR 100.000,- EUR 100. 000,- EUR 100.000,- EUR

B) Schul e (50%lmb) i m Akt ionsraumJahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5 Jahr 6

Basiszuweisung 25.000,- EUR 25.000,- EUR 22.500,- EUR 20.000,- EUR 17.500,- EUR 15.000,- EURKooperation 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EURZulage Aktionsraum 12.500,- EUR 12.500,- EUR 12.500,- EUR 12.500,- EUR 12.500,- EUR 12.500,- EURErf olgsabhängig 15.000,- EUR 15.000,- EUR 17.500,- EUR 20.000,- EUR 22. 500,- EUR 25.000,- EURSumme 62.500,- EUR 62.500,- EUR 62.500,- EUR 62.500,- EUR 62. 500,- EUR 62.500,- EUR

C) Schule (50%l mb) außerhalb Akt ionsraumJahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5 Jahr 6

Basiszuweisung 25.000,- EUR 25.000,- EUR 22.500,- EUR 20.000,- EUR 17.500,- EUR 15.000,- EURKooperation 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR 10.000,- EUR

Erf olgsabhängig 15.000,- EUR 15.000,- EUR 17.500,- EUR 20.000,- EUR 22. 500,- EUR 25.000,- EURSumme 50.000,- EUR 50.000,- EUR 50.000,- EUR 50.000,- EUR 50. 000,- EUR 50.000,- EUR

Tab. 1: Erfolgsabhängiges Verlaufsmodell je Schule

Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (2014)

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Christine Baur

374 DDS, 108. Jg., 4(2016) Berichte zum Schwerpunktthema

3.2 Die Zulage Aktionsraum Plus/Soziale Stadt

Ein großer Teil der Schulen mit einem hohen Lmb-Faktor liegt in Quartieren, de-ren Bewohnerinnen und Bewohner nach dem Berliner Monitoring Soziale Stadt ent-wicklung durch Benachteiligung gekennzeichnet sind. Die besondere Betrachtung dieser Quartiere erfolgte bereits nach dem 1998 eingeführten Monitoring Soziale Stadtentwicklung als Frühwarnsystem für gebietsbezogene Handlungsbedarfe der so-zialen Stadtentwicklung. Grundlage waren empirische Befunde, die belegten, dass die räumliche Konzentration von Armut, Arbeitslosigkeit und geringem Bildungsniveau der Bewohnerinnen und Bewohner Sozialisationsbedingungen schafft , die die Kinder und Jugendlichen über die individuelle soziale Lage hinaus benachteiligen und stig-matisieren (vgl. Häußermann/Kronauer 2009). Zur Überwindung der sozialen und räumlichen Spaltung in Deutschlands Städten wurde 1999 das Bund-Länder-Pro-gramm Soziale Stadt aufgelegt, das über Vernetzung, Aktivierung und integrierte Hand lungs konzepte Förderprogramme und Ressourcen gebietsbezogen bündeln und Ver waltungsstrukturen weiterentwickeln sollte.

Nach den Ergebnissen des Monitorings in den Jahren 2008 und 2009 weisen fünf großräumige Gebiete, Aktionsräume Plus genannt, in hohem Maße komple-xe Problemlagen auf, die auch in den Folgejahren bestätigt wurden. In den fünf Aktionsräumen konzentrierten Senat und Bezirke zwischen 2010 und 2013 ihre Aktivitäten, um die sozialräumliche und städtebauliche Entwicklung zu verbessern und den Bewohnerinnen und Bewohnern bessere Lebenschancen zu erschließen.

Der Zuschlag für Schulen in den Aktionsraum-Plus-Gebieten setzt damit nicht nur an der direkten Benachteiligung der Schülerinnen und Schüler durch die soziale Lage der Herkunft sfamilie an, sondern berücksichtigt wissenschaft liche Befunde, nach de-nen ein benachteiligtes Quartier benachteiligend wirken kann (vgl. Häußermann 2012; Friedrichs 1998). Gleichzeitig stärkt die Zulage die Sozialraumorientierung der Schule, die auch im nächsten Abschnitt zum Bonus-Bestandteil „Kooperationszulage“ von Relevanz ist.

3.3 Die Kooperationszulage – Kooperationen und Vernetzung im Sozialraum

Schulen im Bonus-Programm erhalten bei Abschluss einer schrift lich vereinbar-ten Kooperation mit anderen Schulen, einer Hochschule, Kita oder einem Partner im Bildungsverbund den Kooperationsbonus. Bereits vorhandene schrift lich ver-einbarte Kooperationen zwischen Schulen bzw. Schulen und Kitas, die sich be-währt haben, gelten als Kooperation im Sinne des Bonus-Programms. Mit Hilfe der Kooperationszulage können gemeinsame Vorhaben unterstützt und ausgebaut und vielfältige Bildungsmöglichkeiten über die Schule hinaus angeboten werden.

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Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin

375DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

Die Öff nung der Schule in den sie umgebenden Sozialraum ist nicht nur schulge-setzlich verankert, sondern wird in vielen Arbeitszusammenhängen bereits gelebt. Schulen sind Zentren sozialraumorientierten Handelns im Quartier, die Ko opera-tionen mit außerschulischen Partnern eingehen, sei es über das Ganztägige Lernen, die Jugendsozialarbeit an Schulen und nun auch über das Bonus-Programm. Die Kooperation mit Kitas, Schulen, der Jugendhilfe und anderen bildungsrelevanten Partnern im Bildungsnetzwerk dient der Bündelung von Bildungsressourcen. Mit dem 2010 in Berlin auf den Weg gebrachten Rahmenkonzept Schule – Jugend hilfe be-kennen sich Schule und Jugendhilfe zur gemeinsamen Verantwortung für Bildung und Erziehung und entwickeln gemeinsame Kommunikations- und Kooperations-strukturen. Durch verstärkte Kooperationen können Kindern und Jugendlichen bes-sere Bildungsbedingungen geboten werden.

4. Vielfalt der Investitionen

Die Schulen haben weitgehend freie Hand bei der Planung der Verwendung der Bonus-Mittel. Der Rückgang der Basisfi nanzierung bei gleichzeitigem Anstieg des erfolgsabhängigen Bonus erfordert allerdings, die bereits entwickelte oder noch zu vereinbarende Zielvereinbarung bei der Planung von Projekten vor Augen zu ha-ben. Ausgeschlossen sind defi nitiv bauliche Maßnahmen und die Einstellung von Lehrpersonal, um negative Kompensationseff ekte zu vermeiden. Für den Abschluss von Verträgen stellt die Senatsverwaltung für Bildung in ihrem Helpdesk eine Reihe von Vertragsarten zur Verfügung, die die Schulen entsprechend der zu erbringenden Leistung einsetzen. Dazu gehören der Vertrag für das Bonus-Programm, Honorar- und Werkverträge und der Vertrag für die Kooperation im Rahmen des Landes-programms Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen. Wird ein Teil der Bonus-Mittel in die sächliche Ausstattung investiert, richten die Schulen ein Sachmittelkonto ein und können damit ihre Anschaff ungen vornehmen (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2014).

Anhand der Verträge, die teilweise zur Prüfung der Fachgruppe in der Senats-verwaltung für Bildung vorgelegt werden, und der von den Schulen in Anspruch ge-nommenen Beratung kann ein erster Einblick in Schwerpunktthemen oder auch in-novative Projekte gewonnen werden. Dabei wird deutlich, dass mit dem Einsatz der Mittel häufi g an das Schulprofi l oder Schulprogramm angeknüpft wird und ausge-wählte Bereiche gestärkt werden sollen. Ein Überblick über die Zielstellungen der Schulen und den Einsatz der Bonus-Mittel ist Anfang 2015 zu erwarten.

Anknüpfend an bereits bewährte Kooperationen mit freien Trägern der Jugendhilfe wird an vielen Schulen die Sozialarbeit ausgebaut und werden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Schulstationen für die Stärkung des Sozialen Lernens und der Erziehungskompetenz der Eltern, für themenzentrierte Eltern-Cafés oder am

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Christine Baur

376 DDS, 108. Jg., 4(2016) Berichte zum Schwerpunktthema

Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule eingesetzt. Da vie-le Schulen Sprachbildung und Sprachförderung als zentrale und konzeptionell im ganztägigen Lernen verankerte Aufgabenbereiche wahrnehmen, sind diese ein An-knüp fungspunkt für Projekte über das Bonus-Programm. So werden in Lernwerk-statt projekten Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler optimal gefördert und Selbst lern kompetenzen, soziale Kompetenzen und Sprachkompetenzen gestärkt.

Der Aufb au oder die Erweiterung von Schulbibliotheken, zum Teil in Kooperation mit der kommunalen Bibliothek oder mit der Nachbarschule, entsprechen ebenfalls den Bedarfen vieler Schulen. Erzielt werden sollen hiermit die Stärkung der media-len Kompetenz und des selbstgesteuerten Lernens der Schülerinnen und Schüler, die Anleitung von Lesepatinnen und -paten durch die Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeiter und eine gute Ausstattung mit Medien und Mobiliar.

Schulen mit einem hohen Neuzugang an Schülerinnen und Schülern ohne Deutsch-kenntnisse aller Altersklassen, teilweise mit Flüchtlings- und Trauma-Erfahrungen, gehen mit dem Bonusprogramm neue Wege und statten beispielsweise einen Rück-zugs raum aus, in dem künstlerisch-therapeutische Angebote gemacht werden.

Zur Stärkung des inklusiven Ansatzes von Schulen werden etwa Sportrollstühle ange-schafft und die Zusammenarbeit mit der benachbarten Schule befördert, indem die-se die Rollstühle ausleihen kann oder gar gemeinsame Sportwettkämpfe ausgetragen werden.

Ein hoher Bedarf besteht auch an Fort- und Weiterbildung des Lehr- und pädago-gischen Personals an Schulen im Hinblick auf die Herausforderungen durch eine zunehmend heterogene Schülerschaft und die Umsetzung inklusiver Grundsätze. Vorrangig ist dieser Bedarf über die regionale Fortbildung zu decken, kann jedoch darüber hinaus auch anhand der Bonus-Mittel fi nanziert werden.

Zur Veranschaulichung der Umsetzung des Bonusprogramms werden im nächsten Kapitel die Planungsprozesse zweier Schulen beschrieben.

5. Best Practice – Schulen schärfen ihr Profi l mit dem Bonus-Programm

5.1 Vineta-Grundschule – Bildungsraum mit starken Säulen

Die in das Bonus-Programm aufgenommene Vineta-Grundschule liegt im Berliner Brunnenviertel, einem Quartier im Bezirk Mitte, Ortsteil Wedding. Das Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2008 wies für die meisten Quartiere des Weddings proble-matische Werte für eine Reihe von sozialen Indikatoren aus (vgl. Senatsverwaltung

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Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin

377DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

für Stadtentwicklung 2008). Die sozialräumliche Bestandsanalyse des Integrierten Stadtteilentwicklungskonzepts (INSEK) Wedding/Moabit 2010 verdeutlichte die be-sonderen Entwicklungsbedarfe, abgeleitet von einer hohen Kinderarmut, Sprach-förder bedarf bei der Einschulung und einer weit über dem Berliner Landesdurch-schnitt liegenden Quote an Schulabbrecherinnen und -abbrechern und Jugend- sowie Langzeitarbeitslosen. Von 2010 bis 2013 unterstützten der Senat und der Bezirk Mitte mit der Initiative Aktionsräume plus gemeinsam eine integrierte Stadtteilentwicklung, um Lebensbedingungen und Zukunft schancen der Bewohner und Bewohnerinnen in den betroff enen Quartieren zu verbessern. Ins gesamt leben im Aktionsraum mehr als ein Drittel der Menschen von staatlichen Transfer leistungen (vgl. Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2008; Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2013).

Die in das lokale Bildungsnetzwerk Brunnenviertel eingebundene Vineta-Grund-schule erhält zum Start des Bonusprogramms eine Summe in Höhe von 62.500 €, mit denen das Schulprofi l, insbesondere die Säulen 2 „Soziales Lernen“ und 4 „Sprach-bildung“, gestärkt werden (vgl. Abb.  1). Die Schule erfüllt alle Kriterien nach dem Modell B der Tabelle 1, d.h., sie erhält über die Basiszuweisung hinaus die Ko opera-tionszulage (für ihre Kooperation mit Kitas, einer weiterführenden Schule und im Bildungsverbund) und die Aktionsraumzulage.

Die mit der Schulaufsicht geschlossene Zielvereinbarung konkretisiert das geplan-te Vorhaben. Für das Jahr 2015 sind bereits Supervision und Fortbildung für das Kollegium u.a. über das Bonus-Programm vorgesehen, um neue Kolleginnen und Kollegen einzubinden und das Th ema Inklusion im Schulalltag stärker zu verankern.

5.1.1 Partizipatives Verfahren

Die Planung der Verwendung der zusätzlichen Ressourcen erfolgte über ein parti-zipatives Verfahren. Vor der Festlegung der Verwendung der Mittel wurde von der Schulleiterin ein Ideenpool ausgehängt, auf dem alle am Schulleben Beteiligten (Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräft e, pädagogisches und weiteres Personal) aufgefordert waren, ihre Vorschläge einzutragen. Nach mehreren Wochen Aushang erfolgte die Sortierung der Ideen durch die Schulleiterin und die Zuordnung wei-terer zur Verfügung stehender Ressourcen. Anschließend wurden die Vorschläge in allen schulischen Gremien wie der Gesamtkonferenz, der Schulkonferenz, der Schülerversammlung und der Gesamtelternvertretung von der Schulleiterin vor-gestellt, ihre Relevanz für die Schulentwicklung und die Förderung der Kinder dis-kutiert, mögliche Finanzierungsformen und Chancen der Realisierung erläutert und letztendlich eine Entscheidung für bestimmte Maßnahmen ausgehandelt. Das Ergebnis ist eine Zweiteilung der zusätzlichen Ressourcen in den Einsatz einer Sozial-arbeiterin und in die Verbesserung der räumlichen und sächlichen Ausstattung im

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Christine Baur

378 DDS, 108. Jg., 4(2016) Berichte zum Schwerpunktthema

außerunterrichtlichen Bereich im Sinne einer Erweiterung des schulischen Sprach- und Bildungsraumes.

5.1.2 Schulsozialarbeit

Die Schulleiterin benennt als besondere Herausforderung die Entwicklung einer in-klusiven Haltung gegenüber allen Kulturen und Religionen sowie die Akzeptanz der spezifi schen Bedarfe der Schülerinnen und Schüler, da 92 Prozent der Kinder nicht-deutscher Herkunft ssprache und 74 Prozent von der Zuzahlung der Lernmittel befreit sind. Unterstützt wird die Entwicklung bereits durch eine Schulsozialarbeiterin über das Berliner Landesprogramm Jugendsozialarbeit an Schulen. Das Bonus-Programm bietet nun die Möglichkeit, eine zweite Sozialarbeiterin einzusetzen, die im Tandem mit den Lehrerinnen und Lehrern sowie den Erzieherinnen und Erziehern die Entwicklung einer inklusiven Grundhaltung aller am Schulleben Beteiligten voran-bringt und die Vorhaben der Säule 2 „Soziales Lernen“ des Schulprofi ls befördert (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Das Schulprofi l

Quelle: Schulprogramm Vineta-Grundschule

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Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin

379DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

Die Schülerinnen und Schüler werden vom schulischen Personal altersentsprechend in ihrer Sozial- und Handlungskompetenz unterstützt und in ihrem Selbstvertrauen gestärkt. Die Lernmotivation und der grundlegende Zugriff auf das Lernen an sich sollen bei allen Schülerinnen und Schülern verbessert werden. Dementsprechend sol-len grundlegende Aspekte wie z.B. Teamfähigkeit angebahnt werden, um das Arbeiten in kooperativen Lernformen zu befördern.

Die über das Bonus-Programm eingesetzte Sozialarbeiterin orientiert sich am Schul-profi l, das jahrgangsbezogen Elemente des Sozialen Lernens und freiwillige Angebote zur Stärkung des sozialen Ehrenamts, der Persönlichkeit und der Identitätsbildung vorsieht. Sie bildet Schülerinnen und Schüler zu Konfl iktlotsinnen und -lotsen aus, wobei z.B. mit Rollenspielen und Wahrnehmungsübungen die Empathie der Schülerinnen und Schüler und der Perspektivwechsel bei der Konfl iktbearbeitung gestärkt werden. In den Hofpausen auft retende und ausgetragene Konfl ikte zwi-schen Schülerinnen und Schülern werden in den eingerichteten Konfl iktstationen am „Friedenstisch“ mithilfe der diensthabenden Konfl iktlotsinnen und -lotsen vor der Rückkehr in die Klassenzimmer bearbeitet. Die Sozialarbeiterin begleitet diese weit-gehend schülergesteuerten Streitschlichtungsgespräche beratend und unterstützend.

5.1.3 Erweiterung des Sprach- und Bildungsraums

Entsprechend des Sprachbildungsprofi ls der Schule und der Zielstellung, eine „Lese-schule“ zu werden, in der das Lesen eine Querschnittsaufgabe in allen Fächern und im unterrichtsergänzenden Bereich werden soll, ist die Beschaff ung einer Reihe von Materialien zur Stärkung der Sprachbildungskompetenzen vorgesehen. Hierzu ge-hören – neben der Ausstattung von Klassenräumen mit Computern – digitale und animierte Bilderbücher auf Deutsch und Englisch zur Lese- und Sprachförderung (Onilo) und Schmökerkisten für alle Bereiche. Die von Bildungsmentoren und -men-torinnen eines Trägers der freien Jugendhilfe in Kooperation mit dem Sprach förder-zentrum in Berlin-Mitte methodisch und didaktisch aufb ereiteten Schmökerkisten werden für die themenzentrierte Sprachförderung für lesestarke und leseschwäche-re Schülerinnen und Schüler genutzt. Die Anschaff ung mathematisch-naturwissen-schaft licher Materialien (TuWas-Kisten) zum forschenden Lernen fördert nicht nur das Interesse an MINT-Th emen, sondern schafft Sprechanlässe beim entdeckenden und selbstgesteuerten Lernen in der Lernwerkstatt.

Um den Anforderungen ganztägigen Lernens und dem Anspruch einer Schule als Lern- und Lebensort gerecht zu werden, sollen die beengten Klassenzimmer geöff net und die Schulfl ure als Lern- und Rückzugsort gestaltet werden. Die Bonus-Mittel fl ie-ßen hier zunächst, nach Absprache mit dem Schulamt und der Prüfung brandschutz-rechtlicher Richtlinien, in die Ausstattung aller Flure mit Sitzecken und multifunkti-onalen Tischen.

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Christine Baur

380 DDS, 108. Jg., 4(2016) Berichte zum Schwerpunktthema

5.2 Refi k-Veseli-Schule – gut vernetzt im Quartier

Die Refi k-Veseli-Schule liegt im Wrangelkiez, einer Förderkulisse im Aktionsraum Plus Kreuzberg-Nordost. Das Quartier hat in den letzten Jahren laut Monitoring Soziale Stadtentwicklung eine positive Entwicklung durchlaufen, wenngleich der Bezug von staatlichen Transferleistungen und insbesondere die Kinderarmut deutlich über dem Berliner Durchschnitt liegen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2011). Als Handlungsschwerpunkte der Stadtentwicklung werden die Behebung städ-tebaulicher Probleme, die aktive Teilhabe am wirtschaft lichen, sozialen und kulturel-len Leben aller Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Beförderung neuer loka-ler Netzwerke von Bewohnerinnen, Bewohnern und lokalen Akteuren benannt (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2013).

Die Refi k-Veseli-Schule ist im Quartier und in der lokalen Bildungsinitiative gut vernetzt und kooperiert mit zahlreichen außerschulischen Partnern. Die Integrierte Sekundarschule (ISS) hat sich mit 86 Prozent Schülerinnen und Schülern nichtdeut-scher Herkunft ssprache und mehr als 75 Prozent lernmittelbefreiten Schülerinnen und Schülern die Förderung des individuellen Lernens zum Schwerpunkt des Einsatzes der Bonus-Mittel in Höhe von 100.000 € gesetzt. Dieses Ziel entspricht dem Leitbild der Schule, nach dem „jedes Kind […] in seiner individuellen Persönlichkeit wahrgenommen und auf der Grundlage seiner individuellen Ziele, seiner Lern vor-aussetzungen und biografi schen Erfahrungen gefördert, unterstützt und gefordert werden“ (Schulprogramm 2014) soll. Die Zielsetzung „Individuelle Förderung für alle“ setzt an der bereits im Vorjahr geschlossenen Zielvereinbarung zwischen der Schulleitung und der Schulaufsicht an, die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit einem (erweiterten) Berufsbildungsreife-Abschluss zu erhöhen. Dabei sollen die im Folgenden dargestellten Vorhaben umgesetzt werden.

5.2.1 Lerncoaches

Geplant ist der Einsatz von drei Lerncoaches, die Schülerinnen und Schüler, deren berufsbildender Abschluss gefährdet ist, intensiv begleiten. Die Lerncoaches werden über einen weiteren Leistungsvertrag mit dem Träger eingesetzt, der an der Schule bereits Kooperationspartner im Ganztägigen Lernen und der Schulsozialarbeit über das Landesprogramm Jugendsozialarbeit an Schulen ist.

Die Aufgabenfelder der Lerncoaches beziehen sich im Wesentlichen auf die direk-te Arbeit mit den Jugendlichen, die Beratung der Lehrerinnen und Lehrer und die Kooperation mit den Eltern. Die gecoachten Jugendlichen werden mit ihren Stärken und Entwicklungsbedarfen in den Blick genommen und im Hinblick auf ihre Lernprozesse verlässlich beraten und unterstützt. Dazu gehören die Analyse

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Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin

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der Bildungsbiografi e der Jugendlichen, Lernentwicklungsgespräche und die Ausei-nander etzung mit den Ängsten und Bedürfnissen der Jugendlichen.

Das Konzept der Stärkung des Entwicklungspotenzials der Jugendlichen geht von der Annahme aus, dass bei Schülerinnen und Schülern, die unter ihren Leistungs-möglichkeiten bleiben – zum Beispiel schuldistanziert sind und wenig Motivation im unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Bereich zeigen –, eine Labilität in der Ich-Integration vorliegt. Oft mals besteht eine hohe Diff erenz zwischen dem von den Betroff enen gewünschten Schulabschluss, einer berufl ichen Aus bildung oder einem akademischen Beruf und der tatsächlichen Arbeitshaltung. Die Lerncoaches überneh-men eine „Ich-Hilfsfunktion“ (vgl. Becker 2008, S.  18), indem sie die Jugendlichen klein schrittig darin unterstützen, ihre persönlichen Ziele zu defi nieren und zu errei-chen.

Als schülerbezogene Ziele des Projekts werden defi niert:• Schulabschlussgefährdete Schülerinnen und Schüler nutzen das Unter stützungs-

angebot regelmäßig und verbessern ihre schulischen Leistungen.• Die Fehlzeiten (Fehltage, Verspätungen) der Schülerinnen und Schüler werden

deutlich reduziert.• Mindestens 60 Prozent der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler erreichen

den Schul abschluss im Schuljahr 2013/14.

In ihrem Selbstverständnis gehen die Lerncoaches in einen Schulterschluss mit den Jugendlichen und verstehen sich nicht als Doppelung des Lehr- oder pädagogischen Personals. Das Projekt stellt in Bezug auf die Schulentwicklung einen Ansatz zur in-dividuellen Förderung außerhalb des regulären Unterrichts dar. Die Lerncoaches ar-beiten auf der Grundlage einer zusammen mit den zuständigen Lehrerinnen und Lehrern erstellten und mit den Schülerinnen und Schüler und Eltern abgesprochenen individuellen Lernentwicklungsplanung und bieten in den Schulferien ein Camp mit einem intensiven Lern- und Entwicklungstraining an. Die Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern, Lerncoaches und Lehrkräft e sowie die Schulleitung schließen individuel-le Lernverträge ab.

5.2.2 Imker-Projekt

Das Imker-Projekt ist ein Kooperationsprojekt mit der benachbarten Fichtel-Gebirge-Grundschule und stellt eine Bildungsbrücke am Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe I her. Das Projekt erfolgt in enger Kooperation mit dem natur-wissenschaft lichen Fachunterricht. Mit der von einem promovierten Biologen an-geleiteten Bienenhaltung wird im großen Schulgarten der Refi k-Veseli-Schule ein praxisorientierter Lern- und Erfahrungsraum im Bereich Naturwissenschaft en ge-schaff en. Das Projekt vermittelt den Schülerinnen und Schülern die komplexe ökolo-

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Christine Baur

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gische und ökonomische Bedeutung von Bestäubung, Fruchtansatz, Nahrungsketten in der Natur und der Biodiversität in den von der Biene besiedelten Lebensräumen. Die an naturwissenschaft lichem Arbeiten und Lernen besonders interessierten Schülerinnen und Schüler erweitern ihre naturwissenschaft lichen Kompetenzen mit der Gestaltung kleiner Forschungsprojekte. Zusätzlich wird eine Arbeitsgruppe „Jugend forscht“ zu diesem Th emenbereich eingerichtet. Damit knüpft dieses Projekt am Individualisierungskonzept der Integrierten Sekundarschule an, nach dem nicht nur eine Unterstützung der Schülerinnen und Schüler bei Lernschwierigkeiten erfolgt, sondern auch herausragende Fähigkeiten, ein überdurchschnittlicher Entwicklungs-stand oder besondere Interessen gefördert werden.

5.2.3 Bildungsbrücken

Zur Stärkung des Übergangs von der Grundschule in die Sekundarstufe ist die ISS in das Fortbildungsnetzwerk „Bildungsbrücken“ eingebunden, in dem Fortbildungen für die Kollegien der ISS und der drei umliegenden Grundschulen angeboten werden. Die Th emen orientieren sich an den Bedürfnissen der Kollegien der Einzelschulen; zudem erfolgt ein intensiver kollegialer Austausch zu fachlichen Th emen des Übergangs. Ziel ist es, den für bildungsbiografi sche Brüche anfälligen Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe im Sinne eines Übergangsmanagements zu verbessern und im fachlichen Austausch der Kolleginnen und Kollegen die Zusammenarbeit zwischen den Grundschulen und der ISS zu intensivieren. Nicht zuletzt dient das gemeinsa-me Arbeiten in Fortbildungen dazu, sich gegenseitig kennenzulernen und bestehen-de Vorurteile abzubauen.

6. Ausblick

Das Berliner Bonus-Programm wurde mit dem Ziel gestartet, Bildungs benach tei-ligung von Schülerinnen und Schülern zu kompensieren und den Schulen mit einem hohen Lmb-Faktor ein fl exibles Instrument zu bieten, das sie in ihrem Engagement unterstützt, die Schülerinnen und Schüler noch besser als bisher zu fördern. Durch die lange Laufzeit des Programms von mindestens sechs Jahren und die wissen-schaft liche Evaluation ist zu erwarten, dass gesicherte Erkenntnisse über den Wirkungsgrad des Programms gewonnen und – falls nötig – Ablaufprozesse eff ek-tiver gestaltet werden können. Bereits wenige Monate nach dem Start zeichnet sich eine große Vielfalt in der Planung der einzelnen Schulen ab, die Mittel entspre-chend den schulspezifi sch gesetzten Zielstellungen zu verwenden. Es ist deutlich sichtbar, dass die eingangs beschriebenen Teilziele des Programms angestrebt wer-den, indem Schulen Kooperationsvereinbarungen schließen oder bestehende prü-fen, ihre Netzwerke erweitern und sich im Sozialraum noch stärker als bisher ver-ankern. Der Leistungsbonus fördert die Entwicklung von erreichbaren Zielstellungen

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Merkmalsbezogene Ressourcenausstattung von Schulen in Berlin

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und den Abschluss oder die Vorbereitung qualifi zierter Zielvereinbarungen mit der Schulaufsicht. Das Bonus-Programm ist somit einmal mehr ein Programm, das die bildungspolitische Linie Berlins umsetzt, Schulen in ihrer Eigenverantwortung für die Ergebnisse ihrer Arbeit zu stärken.

Die Aufgabe der Verwaltung wird weiterhin sein, wirksame standortspezifi sche Inter-ventions strategien und Unterstützungsmaßnahmen zu identifi zieren, weiterzuentwi-ckeln und damit die Schulen zu unterstützen.

Literatur und Internetquellen

Becker, U. (2008): Lernzugänge. Beitrag zur integrativen Pädagogik. Wiesbaden: VS.Friedrichs, J. (1998): Do Poor Neighborhoods Make Th eir Residents Poorer? In: Andreß,

H.-J. (Hrsg.): Empirical Poverty Research in a Comparative Perspective. Aldershot u.a.: Ashgate, S. 77-99.

Häußermann, H. (22012): Wohnen und Quartier: Ursachen sozialräumlicher Segregation. In: Huster, E.-U./Boeckh, J./Mogge-Grotjahn, H. (Hrsg.) (2012): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Überarb. und erw. Aufl . Wiesbaden: VS, S. 383-396.

Häußermann, H./Kronauer, M. (2009): Räumliche Segregation und innerstädtisches Ghetto. In: Castel, R./Dörre, K. (Hrsg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung: Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Campus, S. 113-130.

PISA-Konsortium Deutschland (2008): Pisa 2006 in Deutschland. Die Kompetenzen der Jugendlichen im dritten Ländervergleich. Zusammenfassung. Hrsg. v. M. Prenzel, C. Artelt, J. Baumert, W. Blum, M. Hammann, E. Pekrun und R. Klieme. URL: http://ar chiv.ipn.uni-kiel.de/PISA/Zusfsg_PISA2006_national.pdf; Zugriff sdatum: 23.07.2015.

Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (2014): Handreichung Bonus-Programm. URL: http://www.berlin.de/sen/bildung/schulqualitaet/bonus-programm/fachinfo.html; Zugriff sdatum: 23.07.2015.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin (Hrsg.) (2008): Monitoring Soziale Stadt-entwicklung 2008. Fortschreibung für den Zeitraum 2006-2007. Berlin.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin (Hrsg.) (2011): Monitoring Soziale Stadt-entwicklung 2011. Fortschreibung für den Zeitraum 2009-2010. Berlin.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin (Hrsg.) (2013): Monitoring Soziale Stadt-entwicklung 2013. Berlin.

Stanat, P./Schwippert, K./Gröhlich, C. (2010): Der Einfl uss des Migrantenanteils in Schul-klassen auf den Kompetenzerwerb: Längsschnittliche Überprüfung eines umstrittenen Eff ekts. In: Allemann-Ghionda, C./Stanat, P./Göbel, K./Röhner, C. (Hrsg.): Migration, Sprache, Identität. 55. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 147-164.

Christine Baur, Prof. Dr., geb. 1960, Professorin für Interkulturalität in der Sozialen Arbeit unter besonderer Berücksichtigung von Gender- und Diversity-Aspekten an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaft en – Braunschweig/Wolfen-büttel.

Anschrift : Ostfalia Hochschule, Fakultät Soziale Arbeit, Salzdahlumer Str. 46/48, 38302 WolfenbüttelE-Mail: [email protected]

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ZusammenfassungNetzwerk- und evidenzbasierte Schulentwicklungsansätze stellen geeignete Strategien zur Förderung der Qualität von Schulen in schwierigen Lagen dar. Das Projekt „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“ hat diese Unterstützungselemente in einem innovativen Ansatz konzeptionell vereint. Neben der Beschreibung dieser Konzeption wird in dem Beitrag auf die Vorgehensweise zur Rekontextualisierung von empirischem Material in der Schulpraxis eingegangen, das im Projekt zum Einsatz kommt.Schlüsselwörter: Schulen in schwierigen Lagen, Schulentwicklung, Evidenzbasierung, Schulnetzwerke, Rekontextualisierung

Th e Conception of Network- and Evidence-Based School DevelopmentA Report of the Project “Developing Potentials – Empowering Schools”

SummaryApproaches of network- and evidence-based school development are appropriate strat-egies to improve the quality of schools in challenging circumstances. Th e project “Developing Potentials – Empowering Schools“ connects these concepts innovatively. Th e article describes the conception as well as its strategy, which is used for recontextualiza-tion of empirical material in schools’ practice.Keywords: schools in challenging circumstances, school development, evidence-based, school networks, recontextualization

1. Ausgangslage

Schulen in schwierigen Lagen lassen sich sowohl über ein ökonomisch und sozial schwaches räumliches Umfeld bestimmen (vgl. Ditton 2000) als auch über eine eher lernungünstige Komposition ihrer Schülerschaft (vgl. Baumert/Stanat/Water-

Christine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva Kamarianakis

Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter SchulentwicklungEin Praxisbericht aus dem Projekt „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“

DDS – Die Deutsche Schule 108. Jahrgang 2016, Heft 4, S. 384-398

© 2016 Waxmann

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Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter Schulentwicklung

385DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

mann 2006). Diese Schulen weisen oft mals eine unzureichende Ergebnisqualität auf (vgl. Racherbäumer et al. 2013), die jedoch nicht ausschließlich auf exter-ne Kontextmerkmale zurückgeführt werden kann, sondern ebenso häufi g durch schwache Qualitäten pädagogisch-organisatorischer Prozessmerkmale innerhalb der Schulen entsteht (vgl. Palardy 2008). Gleichwohl sich Schulen in herausfordernden Lagen mit hoher Ergebnis- und Prozessqualität fi nden lassen, kann auf der Grundlage unter schiedlicher theoretischer Bezugspunkte – wie z.B. der Kontingenztheorie (vgl. Creemers et al. 2000), dem Kompensationsmodell (vgl. Teddlie/Stringfi eld/Reynolds 2000) und der Additivitätshypothese (vgl. Reynolds/Teddlie 2000) – ge-schlossen werden, dass Schulen in schwierigen Lagen in besonderem Maße in ih-rer Adaptabilität, ihren Unterstützungsleistungen gegenüber ihrer Schülerschaft und in dem Ausgleich negativer kumulativer Eff ekte gefordert sind (vgl. van Ackeren 2008, S.  49f.). So stellen Schulen mit ausgeprägter situativer Anpassungsleistung an-gemessene Lerngelegenheiten für ihre Schülerschaft in Unterricht und Schulleben be-reit (vgl. van de Grift /Houtveen 2006, S.  259) und kompensieren eine fehlende au-ßerschulische Unterstützung der Kinder und Jugendlichen durch ihre pädagogische Arbeit (vgl. Teddlie/Stringfi eld/Reynolds 2000, S.  171f.). Aufgrund herausfordern-der Einfl ussgrößen kann ein Nachteil gegenüber Schulen mit günstigeren Voraus-setzungen abgeleitet werden, der spezifi sche Maßnahmen der Adaption und des Ausgleichs erfordert (vgl. van Ackeren 2008, S. 50).

2. „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“

„Potenziale entwickeln – Schulen stärken“ (im Folgenden: Potenziale-Projekt) ist ein gemeinsames Projekt der Arbeitsgruppe Bildungsforschung an der Uni ver sität Duisburg-Essen und dem Institut für Schulentwicklungsforschung an der Tech-nischen Universität Dortmund und wird in enger Kooperation mit der Quali täts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW) durch -ge führt. Das Projekt verfolgt das Ziel, 35 Schulen mit herausfordern den Stand ort-be dingungen in der Metropolregion Rhein-Ruhr in ihren Schul ent wick lungs akti-vitäten über einen Zeitraum von vier Jahren (2015-2018) zu unter stützen. Einzel-schulische Entwicklungsprozesse werden im Projekt durch Unter stützungs for mate auf zwei Ebenen ermöglicht: Zum einen arbeiten die Schulen in datenbasiert zu-sammengestellten Netzwerken; zum anderen wird durch das Projekt eine mehr-jährige Schulentwicklungsbegleitung auf Einzelschulebene realisiert. Weiter werden die Projektschulen durch möglichst adaptive Fortbildungen, Workshops, Trainings und Schulentwicklungsberatungen in ihren Entwicklungsaktivitäten gefördert. Um das Wissen über adaptive Unterstützungsstrukturen für Schulen in schwierigen Lagen im Regelsystem auszubauen, kooperiert das Potenziale-Projekt mit der Fort-bil dungsabteilung des Ministeriums für Schule und Weiterbildung NRW (MSW) und den zuständigen Bezirksregierungen.

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Christine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva Kamarianakis

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Das Projekt fokussiert einen evidenzbasierten Schulentwicklungsansatz, der es den Projektschulen ermöglicht, anhand von Daten aus einer fragebogengestützten Aus-gangs erhebung schuleigene Ressourcen und Entwicklungspotenziale zu identifi zie-ren und, mithilfe der im Projekt angelegten Unterstützungsangebote, möglichst kon-textsensible und bedarfsgerechte Schulentwicklungsmaßnahmen mitzugestalten und durchzuführen. Auf dieser Grundlage vereint das Projekt einen Schul forschungsansatz mit einem evidenzbasierten Schulentwicklungsteil (vgl. Bremm et al., im Druck).

2.1 Der evidenzbasierte Schulentwicklungsansatz

Internationale Studien weisen darauf hin, dass evidenzbasiertes Arbeiten die Kom-petenzen schulischer Akteure in Schulen in herausfordernden Lagen fördert (vgl. Maden/Hillmann 1996). Als Evidenzbasierung wird in diesem Zusammenhang der systematische Einbezug von Daten zur Qualitätsentwicklung von Schulen verstanden (vgl. Bremm et al., im Druck). Dabei werden Daten für eine evidenzbasierte Schul-entwicklungsarbeit nutzbar gemacht (vgl. Racherbäumer et al. 2013).

Da der schulische Alltag wenige Zeiträume für refl exive Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Wissensformen bietet, fl ießen empirische Wissensbestände oft -mals nur geringfügig in professionelles Handeln ein (vgl. van Ackeren et al. 2011, S.  171). Ein entscheidender Einfl ussfaktor für die Überführung von datengestütz-ten Wissensbeständen in professionelles Handeln ist dabei der Vorgang der Rekon-textuali sierung von Daten (vgl. Fend 2008, S. 15ff .).

Zur Unterstützung eines evidenzbasierten Schulentwicklungsprozesses an Schulen in herausfordernden Lagen bietet das Potenziale-Projekt einen zeitlichen Rahmen, Daten mit den schulischen Akteuren zu refl ektieren und kommunikativ zu validie-ren. Die empirische Grundlage liefern Fragebogendaten, die an 36 Schulen mit he-rausfordernden Bedingungen durch die Befragung von Schulleitungen, Lehrkräft en (n = 1.105), Schülerinnen und Schülern aus je zwei Klassen des 6. und 8. Jahrgangs (n  =  3.183) sowie deren Eltern (n  =  2.146) gewonnen wurden.1 Im Projektkontext unterstützen sowohl die Netzwerke als auch die Begleitung auf der Einzelschulebene die schulischen Akteure im Prozess der Datenrezeption und Datennutzung. Darunter fällt u.a. die Nutzung der Daten zur Identifi kation von Th emen und Zielen für netz-werkbezogene und einzelschulische Prozesse (vgl. Bremm et al., im Druck).

In der Projektkonzeption zeigen sich Parallelen zum Verfahren der Qualitätsanalyse NRW. In beiden Ansätzen werden Schulentwicklungsaktivitäten durch situationsan-gemessene Impulse und Maßnahmen angeregt und unterstützt, die auf einer exter-nen Evaluation basieren, welche spezifi sche Qualitätskriterien von Schulen fokus-

1 Für die Projektteilnahme wurden solche Schulen akquiriert, die nach dem aktuellen Stand-orttypenkonzept für NRW den Standorttypen 3, 4 und 5 entsprechen (vgl. Isaac 2011).

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Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter Schulentwicklung

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siert. Unterschiede liegen jedoch vorrangig in dem Verständnis von Evidenz und der Begleitung von Rekontextualisierungsprozessen. Die Interpretation und Bewertung der Evaluationsergebnisse erfolgt im Rahmen der Qualitätsanalyse NRW durch Inspektorinnen und Inspektoren. Die Ergebnisse werden i.d.R. in Form schrift licher Berichte an die Schulen zurückgemeldet (vgl. Altrichter et al. 2014, S.  186ff .). Dabei werden die Ergebnisse als Entwicklungsempfehlungen für die Schulen verstanden. Eine Lücke zwischen Datengenerierung und -nutzung zeigt sich derzeit in Bezug auf „innerschulische Verarbeitungsprozesse“ der Evaluationsergebnisse, die im Kontext der Qualitätsanalyse NRW noch nicht begleitet werden (vgl. ebd.).

Im Gegensatz dazu verfolgt der Potenziale-Projektansatz ein subjektivistisches Ver-ständ nis von Evidenz und betrachtet diese als vielschichtig interpretierbar und als Aus handlungskonstrukt. Interpretationen der Befragungsergebnisse und Ableitungen von Handlungsbedarfen und -maßnahmen werden nicht von Projektseite vorgenom-men, sondern in moderierten Prozessen von den schulischen Akteuren selbst voll-zogen. Damit kommt der Problemsicht der schulischen Akteure, neben den Ergeb-nissen der Ausgangserhebung, eine gleichwertige Rolle zu. Die Unterstützung des Verarbeitungsprozesses steht im Projektkontext im Vordergrund und wird im Besonderen durch die stetige Begleitung der Einzelschulen und durch die thematische Arbeit im Zuge der Netzwerktreff en ergänzt.

2.2 Der netzwerkbasierte Schulentwicklungsansatz

Netzwerke werden als „Beziehungsgefl echte“ oder „Beziehungskonstellationen“ ver-standen, da sie sich mithilfe von Interaktionen realisieren und hierbei u.a. auf Fähig-keiten, Interessen, Bedürfnisse und Ressourcen der Beteiligten Bezug nehmen (vgl. Dedering 2007, S. 34). Sie verfolgen das Ziel gemeinsamer Problem erarbeitungen und Problemlösungen, die auf individueller Ebene nicht erbracht werden können, und för-dern die Kompetenzerweiterung ihrer Mitglieder. Zur Erreichung dieses Ziels erfüllt das Netzwerk unterschiedliche Aufgaben, wie den moderierten Erfahrungs-, Wissens- und Methodenaustausch, gegenseitige Beratung und die gemeinsame Analyse von Best-Practice-Beispielen (vgl. ebd., S. 38ff .).

Schulnetzwerke leisten einen relevanten Beitrag für die Entwicklung von Schulen und können als geeignete Instrumente zur Steigerung von Schulqualität angesehen wer-den (vgl. Berkemeyer et al. 2011, S. 230). Im angloamerikanischen Sprachraum wer-den Netzwerke daher auch als Methode „moderner Schulentwicklung“ betrachtet (vgl. Berkemeyer/Bos 2010, S. 758). Internationale Forschungsergebnisse zeigen, dass insbesondere durch schulische Netzwerkarbeit die Professionalisierung der Lehrkräft e zunimmt, was sowohl die Erweiterung fachlicher und fachdidaktischer Kompetenzen von Lehrkräft en als auch die übergeordneten Kompetenzen zur Schulentwicklung betrifft (vgl. Berkemeyer et al. 2009, S.  674f.). Dies lässt die Annahme zu, dass mit

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Christine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva Kamarianakis

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Schulnetzwerken eine indirekte Steigerung von Fachkompetenzen der Schülerschaft einhergehen kann. Neben den Veränderungen des Unterrichtshandelns der Lehr-kräft e, wie z.B. der Zunahme des Anwendungsbezugs und der Methodenvielfalt (vgl. Glesemann/Järvinen 2015, S.  136), unterstützen schulische Netzwerke die Re zep tion wie auch die Interpretation von Daten bei den schulischen Akteuren (vgl. Dedering 2007, S. 277).

Die mögliche Qualitätssteigerung von Schulen durch Netzwerkarbeit wird mit dem Passungsverhältnis zwischen Netzwerkkonzeption und dem aktuellen Steuerungs-modell von Schule begründet, das auf die Eigenverantwortlichkeit schulischer Ent-wick lungsaktivitäten verweist. Netzwerkarbeit bietet so die Chance, Schulen in der Selbst organisation ihrer Schulentwicklungsarbeit zu unterstützen (vgl. ebd., S.  64). Neben der Professionalisierung schulischer Akteure verfolgt ein netzwerksbasierter Schulentwicklungsansatz ebenso das Ziel, eine Plattform bereitzustellen, um geeignete Lösungen für schulische Entwicklungsaufgaben zu erarbeiten, die eine organisationa-le Anpassung an gegebene Bedingungen ermöglichen (vgl. Berkemeyer 2008, S. 273). Damit unterstützen Netzwerke die kooperative Lösungserarbeitung zu organisationa-len Problemlagen (vgl. Berkemeyer/Bos 2010, S. 759).

Damit schulische Netzwerkarbeit dieses Innovationspotenzial entfalten kann, sind ei-nige Voraussetzungen auf schulübergreifender Netzwerkebene umzusetzen. Hierzu zählen die freiwillige Teilnahme der Netzwerkmitglieder, klare Zielsetzungen, ge mein-sam getragene Arbeitsschwerpunkte, die Verantwortungsübernahme aller Ak teure, ein erkennbarer Nutzen für die Beteiligten sowie gegenseitige Wertschätzung und wechselseitiges Vertrauen (vgl. Müthing/Berkemeyer/van Holt 2009, S. 195ff .). Gerade letztgenannter Punkt wird als Folge von Kooperation verstanden (vgl. Dedering 2007, S.  36). Der Faktor Vertrauen stabilisiert das Netzwerk (vgl. Ziegenhorn 2005, S.  38) und ermöglicht die Gestaltung eines geschützten Raumes, der es den schulischen Akteuren erlaubt, eigene Handlungs- und Deutungsmuster zu refl ektieren und kri-tisch zu hinterfragen (vgl. Berkemeyer 2008, S. 273).

Für die Netzwerkarbeit im Projektkontext wurden die Schulen datengestützt, anhand ausgewählter schulischer Gestaltungs- und Kontextmerkmale, zu überregionalen und schulformübergreifenden Arbeitsgruppen zusammengeschlossen. Dabei handelt es sich um Faktoren, die in internationalen Studien als zentrale Qualitätsmerkmale von eff ektiven Schulen in schwierigen Lagen identifi ziert werden konnten. Auf diese Weise wurden sechs Schulnetzwerke gebildet, die sich aus fünf bis sieben Schulen zu-sammensetzen.2 Schulen mit ähnlichen Kontextbedingungen und Prozessmerkmalen bilden dabei ein Netzwerk. Die im Projekt genutzte Schulzusammensetzung wurde gewählt, um u.a. die Komponente des Vertrauens zu stärken, die für die gemeinsa-

2 Für das methodische Vorgehen der datengestützten Netzwerkzusammenstellung inklusive statistischer Kennwerte vgl. Holtappels et al. (im Review).

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Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter Schulentwicklung

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me Arbeit von Bedeutung ist. Weiter ermöglicht dieses Vorgehen einen leichteren Einstieg in die Th emenfi ndung und bietet so eine zügige Orientierung für die ge-meinsame Arbeit.

Im vorliegenden Beitrag sollen die Konzeption der Netzwerkarbeit und der einzel-schulischen Begleitung im Projekt „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“ vorge-stellt (vgl. Abschnitte 3. und 4.) sowie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Einbezugs datengestützter Inhalte in beiden Unterstützungsformaten veranschau-licht werden (vgl. Abschnitte 3.1 und 4.1). Anhand von Fallbeispielen werden die theoretisch dargelegten Punkte erörtert, und es wird auf das methodische Vorgehen Bezug genommen, das die Rekontextualisierung von empirischen Wissensbeständen unterstützt (vgl. Abschnitte 3.2 und 4.2). Abschließend folgen Fazit und Ausblick (Abschnitt 5.).

3. Konzeption der Netzwerkarbeit

Zu den vierteljährlich stattfi ndenden Netzwerktreff en sind jeweils zwei bis drei Vertretungen der Projektschulen eingeladen, deren Auswahl schulintern erfolgt. Im Hinblick auf Transferleistungen wurde den Schulen die Auswahl von Akteuren mit besonderer Funktion innerhalb der schulischen Steuerungsstrukturen empfohlen, wie z.B. Mitglieder von Steuergruppen oder eines erweiterten Schulleitungsteams, didak-tische Leitungen oder (stellvertretende) Schulleitungen. Der Einbezug von Akteuren mit steuernden Funktionen besitzt eine besondere Relevanz für die Eff ektivität der Schulentwicklungsarbeit. So wird u.a. der Schulleitung eine zentrale Stellung für schulische Veränderungsprozesse zugesprochen, da sie aufgrund ihrer Position die Möglichkeit besitzt, organisationale Strukturen zu verändern, zu erweitern oder wie-derherzustellen (vgl. Berkemeyer 2008, S. 275f.). Der Steuergruppe kommt eine ähn-lich relevante Rolle zu, da sie sich insbesondere an der Planung von Transferprozessen und an der Herausarbeitung strategischer Ziele beteiligen kann (vgl. ebd.).

Die Begleitung der Netzwerke wird von wissenschaft lichen Mitarbeiterinnen der Uni versitäten verantwortet, die die Treff en organisieren, moderieren, Materialien zum Austausch und zur Refl exion bereitstellen und die Ergebnisse der Zu sam-men arbeit sichern. Die Moderatorinnen organisieren zudem Fortbildungs angebote für die Netzwerke, um Unterstützungsangebote von weiteren externen Wissens-trägern und Impulsgebern für die Netzwerkmitglieder bereitzustellen. Der Ablauf der Netzwerktreff en folgt einer strukturierten Abfolge unterschiedlicher Inter aktions-phasen, wie Begrüßungs- und Einstiegsphasen, Austausch- und Arbeitsphasen, Refl exion und Transferplanung.

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3.1 Einbezug datengestützter Inhalte im Netzwerk

Die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Datenerhebung erfolgte auf der Netz werk ebene zunächst durch Off enlegung und detaillierte Erläuterung der empi-risch begründeten Netzwerkzuordnung durch das wissenschaft liche Projektteam. Die Netzwerkzusammenstellung wurde im Sinne einer externen, deskriptiven Bestands-aufnahme präsentiert und stellte gleichsam Stärken und Entwick lungs bedarfe he-raus, die das spezifi sche Entwicklungsprofi l der Schulen eines Netz werks kenn-zeichnen. Weiterführende, über die Netzwerkprofi le hinausgehende Informationen zu ihren Einzelschulen entnahmen die Netzwerkmitglieder aus den schul eigenen Datenrückmeldungen, die, neben Erläuterungen zum Projekt und zur Ergebnis-rückmeldung, schulspezifi sche Befragungsergebnisse zu ausgewählten Merkmalen des Schulumfeldes, zu Merkmalen schulischer und unterrichtlicher Gestaltungs qualität sowie zu Merkmalen der Ergebnisqualität aus Sicht unterschiedlicher schulischer Akteure enthielten.

Um die fokussierte Arbeit an einem gemeinsamen Gegenstand zu gewährleisten, wurde in einem moderierten Zielfi ndungsprozess ein Schwerpunktthema für die ge-meinsame Netzwerkarbeit von den Schulvertreterinnen und Schulvertretern festge-legt. Dieser Vorgang erfolgte partizipativ in der refl exiven Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial und wurde von den Netzwerkmoderatorinnen durch Übungs-materialien unterstützt. Dabei wurde das Schwerpunktthema so off en gehalten, dass sich für den weiteren Prozess unterschiedliche Schulentwicklungsziele darunter fassen lassen. Letztere werden auf der Einzelschulebene mit der einzelschulischen Begleitung herausgearbeitet (siehe Abschnitt 4.1).

Auf die Ergebnisse der Datenrückmeldung wird in gemeinsamen Refl exionen re-gelmäßig zurückgegriff en, um eine stetige kommunikative Validierung und Rekon-tex tualisierung der Daten im Prozess zu ermöglichen. Durch den moderierten Aus-tausch werden dabei Anregungen und Impulssetzungen zwischen den Beteiligten sichergestellt, die zur kokonstruktiven Wissensgenerierung beitragen und so zu neu-en Wissensbeständen erwachsen können. Im weiteren Prozess überprüfen, selektieren und modifi zieren die Netzwerkmitglieder Informationen und Wissensbestände hin-sichtlich ihrer Funktionalität für den einzelschulischen Entwicklungsprozess.

Auf der Netzwerkebene wird zudem gemeinsam geplant, wie, mit wem und in welchem passenden Zeitrahmen die als viabel geltenden Informationen auf der Einzelschulebene kommuniziert werden. Die Planung dieser Transferprozesse ist da-bei als relevante Komponente zu verstehen, die das Netzwerk mit der Einzelschule verbindet. Transfer wird dabei verstanden als eine „gesteuerte Übertragung von Problemlösungen“, die sich aus einem Ausgangskontext in einen Zielkontext voll-zieht (vgl. Jäger 2014, S. 119). Ausgangs- und Zielkontext unterscheiden sich hierbei

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Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter Schulentwicklung

391DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

durch Personen, Strukturen und Inhalte (vgl. ebd.). Das Netzwerk wird somit zum Impulsgeber für den einzelschulischen Veränderungsprozess.

3.2 Falldarstellung Netzwerkarbeit

Das folgende Fallbeispiel veranschaulicht den Einbezug der Erhebungsdaten im Rahmen des ersten Netzwerktreff ens. In diesem Zusammenhang wird verdeutlicht, wie die Refl exion datengestützter Inhalte methodisch gefördert wird. Dabei wird im Besonderen auf off ene Frageformate im Moderationsprozess zurückgegriff en. Diese steuern durch thematische Setzung den Prozess, bieten den Beteiligten jedoch eben-so die Möglichkeit der individuellen Relevanzsetzung und der Konkretisierung von Sachverhalten. Durch ihren refl exiven Charakter laden sie zur Betrachtung indivi-dueller Einstellungen und Deutungen ein (vgl. Sperling/Wasserveld-Reinhold 2011, S. 95f.).

Neben den Entwicklungsbedarfen werden vorrangig Ressourcen und Stärken der Projekt schulen in den Blick genommen. Gemäß einer ressourcenorientierten Haltung werden die Netzwerkmitglieder nicht nur als Lernende, sondern ebenso als Experten und Expertinnen verstanden (vgl. Berkemeyer 2008, S. 273). Die Moderation gilt da-bei nicht selbst als Experte für schulische Problemlösungen, jedoch als Experte zur Gestaltung des Austausches:

Bei dem ersten Netzwerktreff en wurde den anwesenden Netzwerkmitgliedern die Vorgehensweise der datengestützten Netzwerkzusammensetzung durch einen Input erläutert. Auf Grundlage der auf Netzwerkebene aggregierten Daten wurden gemein-same Stärken der Schulen des Netzwerks vorgestellt sowie übereinstimmende Bedarfe beleuchtet. In einem der Netzwerke zeigten sich über alle Schulen hinweg Bedarfe zu den Th emen: „Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft “, „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft en“ und „Selbstwirksamkeit/Lehrergesundheit“. Anhand eines Übungspapiers und mithilfe ihrer schulspezifi schen Datenrückmeldung refl ektierten die Netzwerkmitglieder im schuleigenen Team, an welchen Stellen sie Stärken ihrer Schule wiedererkannten, mit welchen Ergebnissen sie gerechnet hatten und von wel-chen Ergebnissen sie überrascht waren.

Nach einer Austauschphase zu den Ergebnissen im Plenum sammelten die Netzwerk-mit glieder in weiteren Gruppenarbeitsphasen mögliche Unterthemen zu allen drei Ent wicklungsbedarfen des Netzwerks. Die Netzwerkmoderatorin nahm anschlie-ßend gemeinsam mit dem Plenum eine Priorisierung der gesammelten Entwick-lungsthemen vor. In einem moderierten Austauschprozess konkretisierten die Netz-werkmitglieder ihren Arbeitsschwerpunkt in: „Haltungen und Strukturen im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft “. Anschließend erarbeiteten die Teilnehmenden

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die Bedeutung des gewählten Th emas für ihre Schule. Dazu beantworteten sie folgen-de Leitfragen:

• Wo sehen wir Anknüpfungspunkte zwischen dem gemeinsam ausgewählten Th ema und unserer Schule?

• Was haben wir zu dem ausgewählten Th ema bereits unternommen? Was haben wir bereits ausprobiert? Welche Erfahrungen haben wir mit diesem Th ema?

• Welche Stärken sind an unserer Schule zu diesem Th ema erkennbar?• Welchen Nutzen könnte das ausgewählte Th ema für unsere Schule haben?• Was wäre für uns ein gutes Ergebnis der Netzwerkarbeit mit Blick auf das ausge-

wählte Th ema?

Abschließend besprachen die Netzwerkmitglieder ihre Antworten im Plenum und hielten für den Transferprozess fest, welche Informationen aus dem Treff en zu wel-chem Zeitpunkt und mit welcher Personengruppe im schuleigenen Kontext bespro-chen werden sollten.

4. Konzeption der einzelschulischen Begleitung

Die einzelschulische Begleitung verfolgt das Ziel, den Transfer von Netzwerkimpulsen in die Einzelschule zu unterstützen und die Aktivierung weiterer schulischer Akteure zu forcieren. Die Bereitstellung von einzelschulischen Begleitungen wird durch die Kooperation mit der QUA-LiS NRW ermöglicht. Pro Kalenderjahr erfolgen von jeder einzelschulischen Begleitung mindestens drei Besuche an fünf bis sieben Projektschulen. Zudem nimmt die einzelschulische Begleitung auch an den Netzwerk-treff en teil, an denen die von ihr begleiteten Projektschulen beteiligt sind.

Die Treff en auf der Einzelschulebene erfolgen in einer formalen Gruppierung, be-stehend aus der Schulleitung und den Mitgliedern der Steuergruppe. Damit eine Verbindung zwischen der Netzwerkarbeit und der einzelschulischen Entwicklungs-arbeit entsteht und aufrechterhalten werden kann, sind auch die Netzwerk teil-nehmenden in dieser Gruppe aktiv. Die Gruppenzusammensetzung besitzt dann eine besondere Relevanz für den einzelschulischen Entwicklungsprozess, wenn Akteure mit Steuerfunktionen nicht als Netzwerkmitglieder fungieren (siehe Abschnitt 3.). Die von den Netzwerkmitgliedern als nützlich bewerteten Impulse werden in diesem Kontext weitergegeben, der Prozess der Informationsprüfung, -selektion und -modi-fi kation an dieser Stelle mit der Schulleitung und den Mitgliedern der Steuergruppe fortgeführt.

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Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter Schulentwicklung

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4.1 Einbezug datengestützter Inhalte auf der Einzelschulebene

Den Ausgangspunkt der Schulentwicklungsarbeit auf der Einzelschulebene bildet der Austausch über die Datenrückmeldung im schulischen Kontext. Die schuleige-nen Daten können auf Wunsch der Schule von Mitarbeitenden des wissenschaft lichen Projekt teams vorgestellt werden. Diese Präsentation erfolgt in Lehrerkonferenzen, schul internen Lehrerfortbildungen (SchiLfs) oder an Pädagogischen Tagen. Die an-schließende Moderation des Austausches zwischen Schulleitung, Steuergruppe und Kollegium wird i.d.R. von der einzelschulischen Begleitung durchgeführt.

Auch auf der Einzelschulebene werden die Daten genutzt, um einen Zielfi ndungs-prozess zu gestalten. Dabei unterscheidet sich der Prozess der Zielfi ndung auf der Einzelschulebene von der Schwerpunktsetzung im Netzwerk: Im Gegensatz zum Prozess auf der Netzwerkebene handelt es sich bei dieser Zielfi ndung nicht um die Herausarbeitung eines Schwerpunktthemas, sondern um die datengestützte Defi nition eines konkreten Schulentwicklungsziels, das mit der Schulleitung, der Steuergruppe und den Netzwerkmitgliedern in kurz-, mittel- und langfristige Ziele ausdiff erenziert wird. Diese ausdiff erenzierte Zielklärung wird vorgenommen, da insbesondere die Festlegung konkreter Ziele ein Qualitätsmerkmal für die Entwicklung von Schulen in schwierigen Lagen darstellt (vgl. Maden/Hillman 1996).

Die im Zielfi ndungsprozess festgehaltenen thematischen Schwerpunkte für die Schulentwicklungsarbeit bieten die Grundlage, um im Anschluss mit weiteren schulischen Akteuren in den Austausch zu kommen und diese partizipativ an der Schulentwicklungsarbeit teilhaben zu lassen. Dieser Punkt ist nicht zu vernachläs-sigen, da die Integration und Aktivierung des Kollegiums, neben der Kooperation mit der Schulleitung, wichtige Erfolgskriterien für den Veränderungsprozess darstel-len (vgl. Berkemeyer 2008, S.  275). Schulentwicklungsziele können so durch weitere Refl exionsangebote spezifi ziert und ergänzt werden.

An diesem Vorgehen wird das zirkuläre und prozessorientierte Verständnis der da-tenbasierten Zielklärung auf der Einzelschulebene deutlich: Die Zielklärung ist nach einmaliger Formulierung von Zielen nicht abgeschlossen. Mit Schulleitung, Steuer-gruppe und Netzwerkmitgliedern werden die zuvor festgelegten Ziele in den fol-genden Treff en mit weiteren schulischen Akteuren – und durch den Einbezug der Ergebnisse der Datenerhebung – überprüft , reformuliert und bei Bedarf auch neu ge-fasst. Die Auseinandersetzung mit evidenzbasierten Wissensbeständen wird so auf verschiedenen Ebenen der Einzelschule und für alle Akteursgruppen relevant.

Der datengestützte Zielfi ndungsprozess umfasst neben der einzelschulischen Ent-wicklungs arbeit auch die Strategiebildung von Arbeitsgruppen und -gremien zur För derung des Veränderungsprozesses. Hierbei wird im Rahmen von detaillierten Auft ragsklärungen eruiert, welche weiteren Unterstützungsangebote zum Einsatz

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kommen und wie sich diese möglichst adaptiv gestalten lassen. Unter stützungs-angebote können sich auf fachliche und fachdidaktische Fortbildungen für das gesam-te Kollegium beziehen und damit spezifi sche Inhalte fokussieren (Was-Ebene). Zur Erweiterung organisationaler Strukturen können aber auch Workshops und Trainings für Schulleitungen und Steuergruppen erfolgen, die eine Implementation von Inhalten fördern (Wie-Ebene). Falls der Veränderungsprozess eine intensivere Form der Begleitung verlangt – wie z.B. aufgrund des Aufb aus oder der Umstrukturierung von Steuergruppen oder aufgrund von Konfl ikten, die Mediation verlangen –, wer-den den Schulen, u.a. durch die Kooperation mit den Kompetenzteams NRW, Schulentwicklungsberaterinnen und Schul entwick lungs berater zur Verfügung gestellt.

4.2 Falldarstellung einzelschulische Begleitung

Das folgende Fallbeispiel veranschaulicht den datengestützten Zielfi ndungsprozess auf der Einzelschulebene. Dabei wird verdeutlicht, wie es durch den Einbezug von Daten gelingen kann, bisher nicht kommunizierte Inhalte mit den schulischen Akteuren zu thematisieren. Dieses Vorgehen ermöglicht den Abgleich und die Erweiterung be-stehender Perspektiven zwischen den Beteiligten über die Beschaff enheit der Einzel-schulsituation und ihre Entwicklungsmöglichkeiten. So kann es gelingen, Schul-entwicklungsziele unter Einbezug von Mehrperspektivität zu spezifi zieren.

Zur Erzeugung des Austausches wird dabei methodisch auf den Dialog als spezifi -sche Gesprächsform zurückgegriff en. Dieses Vorgehen wird gewählt, da die Arbeit im Dialog nicht nur die Handlungsautonomie der Teilnehmenden gewährt, sondern ebenso gezielt die Aufrechterhaltung vielfältiger Perspektiven fördert, die sich durch-aus auch divergierend gestalten können. Im Gegensatz zur Diskussion wird im dia-logischen Austausch nicht der „Wahrheitsfrage“ nachgegangen und nicht die Absicht verfolgt, Argumente zu fi nden, die auf die Übernahme einer einzigen Perspektive oder Überzeugung hinarbeiten (vgl. Palmowski 1998, S. 95). Auf diese Weise werden die Schaff ung möglichst vielfältiger Sichtweisen zu schulischen Herausforderungen und Lösungen sowie die Erzeugung neuer Einsichten für die Beteiligten forciert:

Die einzelschulische Begleitung sammelte bei ihrem ersten Besuch an der Frida-Kahlo-Schule3 mit der Schulleitung, der Steuergruppe und den Netzwerkmitgliedern Ideen für die weitere Schulentwicklungsarbeit. Dabei berichtete die Schulleitung von ihren Vorstellungen über die zukünft ige Entwicklung der Schule, die sich je-doch nicht aus den Ergebnissen der Datenerhebung ableiten ließen. Die einzelschu-lische Begleitung erfragte daher, welche Relevanz die Datenrückmeldung für die Schulentwicklungsideen habe. Anhand der Antworten in der Gruppe wurde deut-

3 Name geändert.

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Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter Schulentwicklung

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lich, dass auf die Datenrückmeldung in Konferenzen bisher zwar hingewiesen wor-den, eine intensive Auseinandersetzung jedoch noch nicht erfolgt war.

Die einzelschulische Begleitung eröff nete dann, dass sie anhand der Daten rück-meldung Herausforderungen der Schule bei der Unterrichtsgestaltung in heterogenen Lerngruppen sehe, und erfragte, ob dies mit der Wahrnehmung der Gruppe über-einstimme. Während die Schulleitung dies verneinte, meldete sich eine Lehrkraft zu Wort und berichtete, dass dies seit längerer Zeit als grundsätzliches Problem im Lehrer zimmer kommuniziert werde. Es fehle an Konzepten zum Umgang mit her-ausforderndem Schülerverhalten. Das Kollegium sei zwar sehr bemüht, individuelle Lösungen zu fi nden, fühle sich jedoch auch sehr belastet. Diese Belastung werde an der spezifi schen Zusammensetzung der Schülerschaft festgemacht. Die Schulleitung meldete daraufh in im Gespräch zurück, dass sie diesen Sachverhalt bisher nicht wahrgenommen habe.

Anhand dieser Informationen wurden unterschiedliche Perspektiven zwischen den Anwesenden deutlich, die in der Runde nun off en kommuniziert werden konn-ten. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Datenerhebung erfolgte in der Gruppe das Gespräch über die Relevanz der von den Lehrkräft en wahrgenommenen Problematik. Die Gruppe kam zu dem Schluss, dass die Entwicklung ihrer Schule ohne die Einbeziehung dieses Th emas nicht möglich sei. Daran geknüpft wurde nun auch die Vorstellung, das Kollegium mehr in den Entwicklungsprozess einzu-beziehen. Vonseiten der Lehrkraft wurde der Wunsch geäußert, die Ergebnisse der Datenerhebung beim anstehenden Pädagogischen Tag im gesamten Kollegium zu be-sprechen sowie den Inhalt und das Format weiterer Fortbildungen festzulegen. Mit dieser Vorstellung waren alle Anwesenden einverstanden.

5. Fazit und Ausblick

Das Projekt „Potenziale entwickeln – Schulen stärken“ vereint auf innovative Weise einen netzwerkbasierten mit einem evidenzgestützten Schulentwicklungsansatz. Um den Transfer von Erkenntnissen und Problemlösungen vom Netzwerk in die Einzelschule zu unterstützen und weitere schulische Akteure für den Prozess zu ak-tivieren, wird eine einzelschulische Begleitung der Projektschulen realisiert. Auf bei-den Unterstützungsebenen werden Daten der Fragebogenstudie in unterschied-licher Weise einbezogen: Auf der Netzwerkebene dienen diese zur Setzung eines Schwerpunktthemas, auf der Einzelschulebene als Unterstützungsinstrument zur Defi nition und Ausdiff erenzierung von Schulentwicklungszielen. Dieser Ansatz macht es möglich, eine thematische Verbindung zwischen Netzwerk- und Einzelschulebene herzustellen. Die Erarbeitung von Problemlösestrategien kann sich so auf Netzwerk- und Einzelschulebene thematisch ergänzen.

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Das Potenziale-Projekt unterscheidet sich konzeptionell von dem derzeitigen Verfahren der Qualitätsanalyse NRW, da es die Datenrezeption bei den schulischen Akteuren aktiv unterstützt, moderierend begleitet und Evidenzen als Aus hand-lungskonstrukte begreift . Um die Rekontextualsierung von empirischen In halten zu ermöglichen, wird methodisch auf prozess- und ressourcenorientierte Gestaltungs-elemente zurückgegriff en, die bei den Beteiligten zur Perspektiven erweiterung und Refl exion individueller Einstellungen beitragen. Ergänzende fachliche Impulse erhal-ten die schulischen Akteure auf beiden Ebenen durch weitere Fortbildungsangebote, Workshops und Trainings, die ebenfalls datengestützt und bedarfsgerecht ausgewählt werden. Ob sich diese Konzeption der Unter stützungsstrukturen und der hier darge-legte methodische Einbezug von datengestützten Inhalten für die Qualitätsförderung von Schulen in schwierigen Lagen bewähren, wird durch die an das Projekt ange-schlossene Begleitforschung geprüft . Weitere Erkenntnisse hierzu können durch die qualitativen Vertiefungsstudien und durch die zweite Fragebogenstudie im Längsschnitt (2018) gewonnen werden.

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Zur Konzeption netzwerk- und evidenzbasierter Schulentwicklung

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Christine Neumann/Tanja Webs/Sarah Eiden/Eva Kamarianakis

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Christine Neumann, Diplom-Pädagogin, geb. 1981, wissenschaft liche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Bildungsforschung an der Fakultät für Bildungswissenschaft en, Universität Duisburg-Essen.E-Mail: [email protected]

Sarah Eiden, Diplom-Sozialwissenschaft lerin, geb. 1984, wissenschaft liche Mit-arbeiterin der Arbeitsgruppe Bildungsforschung an der Fakultät für Bildungs wissen-schaft en, Universität Duisburg-Essen.E-Mail: [email protected]

Anschrift : Universitätsstraße 2, Raum S06 S06 C14, 45141 Essen

Tanja Webs, Diplom-Pädagogin, geb. 1985, wissenschaft liche Mitarbeiterin am Institut für Schulentwicklungsforschung, Technische Universität Dortmund.E-Mail: [email protected]

Eva Kamarianakis, M.A., geb. 1985, wissenschaft liche Mitarbeiterin am Institut für Schulentwicklungsforschung, Technische Universität Dortmund.E-Mail: [email protected]

Anschrift : Vogelpothsweg 78, 44227 Dortmund

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399DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

ZusammenfassungDer vorliegende Beitrag diskutiert Potenziale und Begrenzungen von verschiedenen Formen der Schulentwicklung in den USA mit dem Ziel, den Stellenwert einer design-basierten Form der Schulentwicklung zu verorten. Diese wird mit der Dynamik von strategischer Planung, von Implementierung extern entwickelter Programme und von Rechenschaft ssystemen kontrastiert. Die Frage stellt sich: Kann man sich eine Form der Schulentwicklung vorstellen, die ü ber die schwachen Impulse der strategischen Planung hinauskommt, die engmaschige Implementierung von Designs vermeidet, den exter-nen Lokus der Handlungskontrolle in Rechenschaft ssystemen stärker nach innen verla-gert und die Initiative und Selbstbestimmung der engagierten Einzelnen oder Gruppen schätzt, ohne die Zufälligkeit von persönlichen Vorzü gen oder Einsichten hinzunehmen? Eine solche Konzeption von Schulentwicklung wü rde Planung, Leistungstransparenz und evidenzbasierte Unterrichts- oder Organisationsdesigns so miteinander verbinden, dass die Bedü rfnisse der Lernenden und Lehrenden vor Ort im Zentrum stehen und schulin-ternes Problemlösen mit externen Partnern in Netzwerken verknü pft wird.Schlüsselwörter: Schulentwicklung, Strategische Planung, Rechenschaft ssysteme, Imple-men tierungs prozesse, Schulen in schwieriger Lage, Praxisprobleme

Concepts of Organizational and Design-Based School Development in the US-American ContextSummary Th e article discusses the potential and limitations of a variety of school improvement ap-proaches practiced in the United States in order to show the usefulness of a design-based approach. Design-based school improvement is contrasted with dynamics of strategic planning, implementation of externally developed instructional programs or organiza-tional change designs, and accountability. Th e question is posed: Can we imagine a form of school improvement that goes beyond the relatively weak eff ects of strategic planning, avoids the narrow confi nes of program or design implementations, and moves the locus of control from externally imposed accountability to internal self-determination, with-out giving free reign to individual preferences? Such a concept of school improvement

Rick Mintrop

Konzepte der organisationalen und designbasierten Schulentwicklung im US-amerikanischen Kontext

DDS – Die Deutsche Schule 108. Jahrgang 2016, Heft 4, S. 399-411

© 2016 Waxmann

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would link planning, performance transparency, and evidence-based development of or-ganizational and instructional designs in such a way that the needs of adult and student learners would be in the center and school-internal problem solving would be articulat-ed with external networks of partners.Keywords: school improvement, strategic planning, accountability systems, implementa-tion, problems of practice

1. Einleitung

Eine Notsituation in vielen Klassenzimmern, landesweit: Lehrerinnen und Lehrer mit Mittelschichtshintergrund und der national dominanten ethnischen Gruppe an-gehörig sind mit Klassen konfrontiert, in denen sich fast ausschließlich adoleszen-te Jugendliche befi nden, die aus einem anderen klassenbedingten oder ethnischen Kulturkreis kommen. Es kommt zu Konfl ikten. Die Lehrpersonen fühlen sich hilf-los. Wie sollen sie diese Klassen erreichen? Es fällt ihnen schwer, sich zu behaup-ten und vor allem die dominanten männlichen Schüler dazu zu gewinnen, ihre Arbeitsauft räge zu erfüllen. Disziplin und Engagement mit dem Lernstoff herzustel-len, scheint ein endloser Kampf, der manchmal aussichtslos erscheint. Träume, dass man einfach zu Hause bleibt und sich krank meldet, kommen immer häufi ger vor, und manchmal muss man ihnen einfach nachgeben, mit schlechtem Gewissen. Ein dramatisches Problem der Praxis: Wie sollen Schulen damit umgehen? Sollten sie die beschriebenen Schwierigkeiten als individuell-persönliches Problem einer jeden Lehrperson behandeln? Sollten sie sie als ein spezifi sches Problem einer jeden Schule begreifen? Oder gäbe es vielleicht eine Reihe von verallgemeinerbaren Strategien in-dividueller und schulorganisationaler Art, die in vielen Fällen einem Abgleiten in die Hilfl osigkeit vorbeugen und es den Lehrpersonen ermöglichen, sich der Situation, mit positiven Resultaten für ihre Klassen, zu stellen? Für die Schulentwicklung in sozial-räumlich deprivierten Kontexten ist dies eine klare Aufgabe. Wie soll man vorgehen?

Wenn wir über Schulentwicklung nachdenken, kommen uns die verschiedensten mentalen Modelle in den Kopf. Für die einen ist Schulentwicklung ein Prozess des kontinuierlichen Lernens von Lehrkräft en. Die Initiative geht von einzelnen Kolleginnen und Kollegen oder Kollegengruppen aus, die ein Interesse an bestimmten Fort bildungen haben oder die von ungelösten Problemen getrieben werden, wie dem oben beschriebenen. Zur Problemlösung machen sie sich den Erfahrungsschatz ande-rer Betroff ener zunutze. Die Schule als Organisation spielt in dieser Vorstellung von Schulentwicklung eine weniger entscheidende Rolle. Für andere ist Schulentwicklung eher ein Prozess, in dem sich Initiativen einzelner oder bestimmter Gruppen zu ei-nem gemeinsamen Ansatz des kollegialen Lernens für die ganze Schule bündeln. In dieser Version von Schulentwicklung sollten Einzelinitiativen zueinander passen und miteinander so koordiniert sein, dass Wirkungen für den technischen Ablauf oder die Kultur der Organisation entstehen.

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Wie aber können zentrale organisationale Probleme gelöst werden, und wie kann die Koordination oder Artikulation zum Zwecke der organisationalen Verbesserung zuwege gebracht werden, besonders in Schulen in schwieriger Lage, in denen häu-fi g reibungslose Organisationsabläufe keine Selbstverständlichkeit sind? Hier bieten sich mehrere Wege an, die davon abhängen, welchen Grad an Rationalität man der Organisation von Schule zuschreibt und wie man sich Problemlösen im Kontext von Schulen in schwieriger Lage vorstellt. Um deutlich zu machen, um was es hier geht, werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf zwei Arbeitsfelder, die sich sehr von der Arbeit in Schulen unterscheiden.

2. Organisationsentwicklung in anderen Arbeitsfeldern

Der Arbeitsablauf an einem Fließband in einer Autofabrik ist eine hoch-rationale Angelegenheit, d.h., der Einsatz von Mitteln steht in direkter Beziehung zum Ziel: der zuverlässigen Produktion von technisch einwandfreien Autos. Auf der technischen Seite müssen Material, menschliche Arbeitsverrichtungen und Zeittakte genau auf-einander abgestimmt sein. Auf der weicheren normativ-emotionalen Seite sollten die Arbeitenden motiviert sein, das Tempo zu halten, miteinander zu kooperieren, Fehler off enzulegen und an Verbesserungen von Arbeitsabläufen und Betriebsklima aktiv teilzunehmen. Der Prozess der Verbesserung ist hier potenziell systematisch, standar-disiert, kontinuierlich, kleinschrittig und unmittelbar empirisch feststellbar, da er sich auf der Basis einer starken, klaren, für alle Beteiligten einsehbaren technischen Kultur der Organisation abspielt. Arbeitsverbesserungen sind häufi g technisch komplex, aber auf der menschlichen Ebene relativ einfach, d.h., sie zielen auf eine Reihe von sub-jektiven Kerneinstellungen ab, wie Engagement, Aufmerksamkeit, Lernbereitschaft , Kooperation, off ene Kommunikation zwischen Hierarchieebenen und Identifi kation mit dem Betrieb (vgl. Stecher/Kirby 2004). In diesem Rahmen sollten fortlaufende Verbesserungen in einem effi zienteren und trotzdem subjektiv zufriedenstellenden Design der Arbeit kumulieren.

Etwas anders liegt der Fall bei der Arbeit in einem Krankenhaus. Einerseits ist vieles von dem, was Ärztinnen und Ärzte sowie das Pfl egepersonal tun, Routine; anderer-seits ist die Behandlung von Krankheiten von Fall zu Fall unterschiedlich. Flexibilität, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Intensität der Pfl ege sind ebenso ausschlaggebend für die Qualität der Arbeit wie professionelle Kompetenz und der technische Ablauf von Aufnahme, Diagnose, Behandlung, Pfl ege und Nachsorge. Die Arbeit ist so-wohl technisch als auch subjektiv-menschlich anspruchsvoll und hoch komplex, aber Kontingenz oder Unvorhersehbarkeit sind reduziert. Es gibt relativ klare Standards dessen, was medizinisch vertretbar oder „Best Practice“ ist. Arbeitsabläufe sind in ge-wissem Maße segmentiert und standardisiert, um so administrative Kontrolle und Abrechnung mit den Krankenkassen oder -versicherungen zu ermöglichen. Der

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Arbeitsprozess wird so von vielen nutzbaren Qualitätsindikatoren und Messgrößen begleitet.

Überdies sind die Ziele der Arbeit – Genesung und Abwendung von Infektionen und vermeidbaren Todesfällen – relativ klar. Behandlungswege mögen von Fall zu Fall va-riieren und von Unwägbarkeiten begleitet sein, aber Probleme bei Arbeitsabläufen und Routinen auf voneinander abhängigen Funktionsebenen können weitreichen-de Folgen haben, z.B. Todesfälle (vgl. Berwick et al. 2006). Fehler zu vermeiden und gleichzeitig technische Effi zienz zu erhöhen, ohne die Intensität der Pfl ege zu beeinträchtigen, stehen im Zentrum des Problemlösens und sind Gegenstand der Organisationsentwicklung in Krankenhäusern. Die relative Klarheit von Zielen und deren Verbindung zu standardisierten und zum Teil messbaren und miteinander ko-ordinierten Arbeitseinheiten ermöglichen es, Entwicklungsprozesse im Sinne von „improvement science“ (vgl. Berwick 2008) zu gestalten.

3. Schule als Organisation

Ganz anders, so scheint es, ist es in der Schule. Hier ist die technische Basis der Arbeit vergleichsweise ungesichert. Das Ziel scheint klar: Schulerfolg für alle Schüler und Schülerinnen. Aber wie ist dieses Ziel defi niert? Aus verschiedenen philoso-phischen Denkweisen ergeben sich unterschiedliche Defi nitionen. Es gibt Nahziele und weiter gefasste Ziele. Auch Aspirationen, die auf das spätere Gelingen eines gu-ten Lebens der anvertrauten Lernenden abzielen, haben eine nicht unerhebliche Bedeutung. Aber viele dieser Ziele und Aspirationen sind nicht nur uneindeutig, son-dern stehen oft mals auch im Widerspruch zueinander, wie z.B. persönliche Entfaltung und Leistungskonkurrenz. Lernprozesse in der Schule sind menschlich hoch kom-plex. Zwischenmenschliche Beziehungen, kulturelle Werte, Erfahrungshorizonte, Brüche zwischen den Generationen, kognitive Sensibilität usw. spielen alle neben der eigentlichen Unterrichtung von Lernstoff eine entscheidende Rolle für die Qualität der Lehrerarbeit, und dies ganz besonders in Schulen in schwieriger sozial-räumli-cher Lage.

Das Kima einer Schule ist das Resultat von kollektiven und organisationsweiten Interaktionen, aber den größten Teil der Arbeitszeit verbringen die Lehrenden mit den Lernenden in räumlich isolierten Klassenzimmern. Die Arbeit vollzieht sich weitgehend unkoordiniert und unkontrolliert und generiert wenig formale Daten über Arbeitsprozesse, vor allem über deren menschliche Komponente. Dagegen ist die technische Seite der Arbeit relativ einfach. Viele Lehrer und Lehrerinnen, z.B. in deutschen weiterführenden Schulen, eilen von Stunde zu Stunde und von Klassenraum zu Klassenraum, ein paar Bücher oder Arbeitsbögen unter den Arm ge-klemmt. Was als „Best Practice“ gilt, scheint weitgehend abhängig von den prakti-

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schen Erfahrungen und Urteilen individueller Lehrpersonen, da es wenig erhärtetes Forschungswissen oder praktisches Designwissen gibt, das kontextunabhängig gesi-cherte Kausalzusammenhänge zwischen Lehrerhandeln und Schulerfolg herstellt. Wie könnte unter diesen ungesicherten und kontingenten Bedingungen Schulentwicklung als organisationaler Prozess ablaufen?

4. Formen der Entwicklung von Schule als Organisation

In der US-amerikanischen Szenerie haben sich verschiedene Konzepte herausge-bildet, die über Schulentwicklung als Problemlösung im eigenen unmittelbaren Aktionsfeld oder als persönliche Weiterbildung hinausdenken und dies insbesonde-re für brennende Probleme von krisenhaft en Organisationen, die ihre Ziele oft mals verfehlen. In jüngerer Zeit hat sich die Schulentwicklungsforschung zum Ziel ge-setzt, auch unter den oben beschriebenen kontingenten Bedingungen von Schulen in schwieriger Lage praktisches Designwissen beizusteuern, welches wissenschaft -lichen Ansprüchen genügen soll. In den USA sind diese jüngsten Versuche der de-sign-basierten Schulentwicklung eingebettet in einen Kontext, in dem Schulen in vie-len Fällen strategische Pläne für die ganze Organisation anfertigen, an die Idee der Implementierung externer Programme oder Designs gewöhnt sind und Zielsetzungen auf der Ebene der Organisation im Rahmen von staatlichen Rechenschaft ssystemen vornehmen. Das Konzept der designbasierten Schulentwicklung macht sich diesen Kontext zunutze und arbeitet gleichzeitig an den Schwachstellen der ihr vorausgegan-genen Schulentwicklungsansätze.

4.1 Strategische Planung

Strategische Planung (vgl. Mintzberg 2000) ist ein oft gewählter Ansatz, der zum Ziel hat, viele einzelne Initiativen so zu bündeln, dass schulweite Ziele erreicht wer-den können, dass sich die Initiativen von Einzelnen oder Teams ergänzen und ge-genseitig befruchten und dass eine gemeinsame Linie und Kohärenz entsteht. In vielen Bundestaaten der USA ist ein strategischer Entwicklungsplan für öff entli-che Schulen, die Leistungsprobleme haben, verbindlich. In strategischen Plänen set-zen sich Schulen übergreifende Leistungsziele und planen Aktivitäten, Ressourcen, Programme oder Fortbildungen, die in einem Semester oder Schuljahr umgesetzt werden sollen. Diese Pläne sind von der Schulaufsicht einsehbar und auch kontrol-lierbar.

So nützlich strategische Pläne auch sein können, sie haben Grenzen für die Lösung praktischer Probleme. Häufi g sind sie zu grobmaschig, um die Komplexität bren-nender Probleme einfangen zu können. Sie sind häufi g spekulativ und werden sel-ten eins zu eins umgesetzt. Der Vorstellung eines großen strategischen Wurfs steht

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die Wahrscheinlichkeit von „Durchwursteln“ (vgl. Fullan 1982) oder „Herumbasteln“ (vgl. Tyack/Cuban 1995) entgegen. Nicht unähnlich einer komplexen Lerndynamik einer Schulklasse, die die besten Stundenentwürfe hinfällig machen kann, durch-kreuzen Organisationsdynamiken in Schulen, besonders in denen, die krisenhaft oder instabil sind, jede noch so gute Planung. So ist strategische Planung für Schulen unter Leistungsdruck oft mals ein symbolischer Akt, der der Organisation äuße-re Legitimation verschafft , aber wenig Innenwirkung zeigt (vgl. Mintrop/MacLellan 2002).

4.2 Implementierung von Programmen und extern entwickelten Designs

Eine fokussiertere Variante der Schulentwicklung ist die Suche nach Programmen und Designs, die von externen Unterstützern, Forscherinnen und Forschern oder auch Schulbuchverlagen entwickelt worden sind und den Schulen vermeintlich passgenau auf ein Problem angeboten werden. Häufi g sind diese Programme das Resultat von kumulativen praktischen Erfahrungen und verbreiten sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda. In den USA ist dies vermutlich die am weitesten verbreitete Form der Schulentwicklung. So gibt es zum Beispiel Organisationen wie das National Equity Project (vgl. URL: nationalequityproject.org), welche sich auf Lösungen für ethnisch-kulturelle Missverständnisse und Konfl ikte spezialisiert haben. Sie halten Vorschläge bereit, die sich aus ihrem Erfahrungsschatz in der Arbeit mit vielen Schulen gebildet haben. Aber noch häufi ger bieten sie Prozesswissen an, welches die Schulen nutzen können, um sich selbst zu erkunden und an Lösungen selbst zu arbeiten, mit unkla-rem oder eher unabsehbarem Erfolg.

Hier wollen die Vertreter und Vertreterinnen einer designbasierten Schulentwicklung Abhilfe schaff en. Unterrichtsprogramme oder Interventionen für spezielle Probleme werden in einzelnen Schulen als Prototypen von Forschern und Forscherinnen ent-wickelt und deren Eff ekte auf Schulklima oder Schülerleistungen mit wissenschaft li-chen Standards evaluiert und validiert (vgl. Slavin/Fashola 1998). In den Schulen, so die Erwartung, sollten die Programme dann zwangsläufi g eins zu eins umgesetzt wer-den, um die im Prototyp erzielten Erfolge auch messbar reproduzieren zu können. Die Idee von Schulentwicklung als Design kommt aus der Unterrichtsforschung (vgl. Cobb et al. 2003), also einem Feld, welches auf Implementierung von Unter richts-programmen oder -werken auf der Ebene des Klassenzimmers abzielt.

Die Designidee ist in der Folge auf die Organisationsebene ausgeweitet worden, bis hin zu der Vorstellung, dass Schulentwicklung gemäß einem umfassenden Organi-sa tionsdesign stattfi nden soll, welches neues Material, Unterrichtsmethoden, Fort- und Weiterbildung für Lehrkräft e sowie neue Formen der professionellen Zu-sam menarbeit aus einem Guss anbietet und auf die Bedürfnisse von Schulen mit besonderen Herausforderungen vermeintlich zugeschnitten ist. Diese Comprehensive

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School Reform Designs, so das Konzept, sollten zunächst von der Forschung validiert werden, bevor sie anschließend über Netzwerke in die Schulen gelangen. War schon auf der Ebene des Klassenzimmers die Umsetzung von Designs nicht unproblema-tisch, so hat sie sich auf der Ebene der Organisation als äußerst schwierig erwiesen (vgl. Berends/Bodilly/Kirby 2006). Umfassende Designs aus einem Guss scheinen zu komplex zu sein und sind häufi g zu weit von der konkreten Wirklichkeit der betei-ligten Schulen entfernt. Implementierungsprobleme, die schon bei den strategischen Plänen zu Tage traten, potenzieren sich bei hoch-komplexen Designs, obwohl oder vielleicht gerade weil die Handlungsanleitungen in den Designs sehr engmaschig sein können.

In den USA ist die Idee des umfassenden Organisationsdesigns vor allem von den Charter-Netzwerken aufgegriff en worden. Diese Netzwerke bestehen aus öff entlich fi nanzierten, aber teilprivat betriebenen Schulen, die vielfach von einer regionalen oder nationalen Charter Management Organization (CMO) zentral gesteuert werden. Die CMOs, mit wohlklingenden Namen wie Aspire oder Envision, stehen oft mals in Designkonkurrenz mit den „normalen“ öff entlichen Schulbezirken, übernehmen häu-fi g „failing schools“ von den Bezirken und müssen nachweisen, dass die Leistungen ihrer Netzwerkschulen gleich gut oder besser sind als die der Bezirksschulen. Spezielle Organisations- und Unterrichtsdesigns unterscheiden die CMOs von den normalen öff entlichen Schulen. Und anders als in öff entlichen Schulen, wo professi-onelle Interessen und lokale demokratische Kontrolle die vermeintliche Rationalität, d.h. die nachweisbare Eff ektivität eines Designs, durchkreuzen können, sind die Designs in den CMOs mit der Autorität des zentralen Netzwerkmanagements ausge-stattet. In den meisten CMOs, die ja außerhalb der öff entlichen Verwaltung existieren, haben die Lehrkräft e weder gewerkschaft liche Vertretung noch Arbeitsplatzsicherheit über ein Schuljahr hinaus, so dass sich die professionelle Selbstbestimmung der Lehrkräft e – die generell in den USA im Vergleich zu Deutschland schwächer entwi-ckelt ist – im engen Rahmen des Netzwerkdesigns bewegt.

4.3 Rechenschaft ssysteme

Für die „normalen“ öff entlichen Schulen sowie deren Schulbezirke, die sich in den USA weitgehend autonom auf lokaler Ebene verwalten, haben staatliche Regierungen, unterstützt durch US-Bundesgesetze, einen weniger engmaschigen Rahmen für Schulentwicklung geschaff en. Rechenschaft ssysteme, die regelmäßig mit Hilfe von standardisierten staatlichen Tests die Leistungen von Schulen und Schulbezirken er-heben und fortschreitende Leistungsziele setzen, sollen Profession und Administra-tion in den lokalen Systemen auf klare Ziele einschwören und sie dazu motivieren – oder unter Zugzwang bringen –, kontinuierlich nach neuen Lösungen zu suchen und neue Praktiken auszuprobieren, die sich in Leistungsverbesserung niederschlagen. Gegenwärtig werden diese Systeme in vielen Bundestaaten überholt. Ursprünglich

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nur auf Testergebnisse ausgerichtet, sollen sie nun zusätzliche Qualitätsindikatoren wie Schulklima, Elternzufriedenheit, Lehrerevaluationen, Inklusion oder den Erfolg der Schülerinnen und Schüler in Schullaufb ahn und Abschlüssen abbilden. Rechen-schaft ssysteme haben die positive Funktion, dass sie der Schulentwicklung einen gro-ben rationalen Orientierungsrahmen geben. Wenn aber, so zeigt die Erfahrung in den USA, diese Systeme schlecht konstruiert sind, lenken sie von der Lösung komplexer Probleme ab. Gerade brennende Probleme, die kulturelle und kognitive Sensibilität für die Bedürfnisse von schulunzufriedenen Schülerpopulationen erfordern, werden vernachlässigt. Stattdessen ergeben sich Verzerrungen, wenn Schulen und bezirkliche Schulaufsicht ihre Arbeit eng auf die extern geforderten Leistungskriterien ausrichten (vgl. Mintrop/Sunderman 2009).

Im US-amerikanischen Kontext ist das Problem für Schulentwicklung Folgendes: Ohne einen klaren Rahmen, der Zielsetzungen, Leistungserwartungen und trans-parente Informationen über die Leistungen einer Schule oder Schulbehörde als Organisation vorgibt, ist es nicht ausgemacht, dass Schulen sich auch auf das Wesentliche konzentrieren. Schulbehörden, die von gewählten school boards be-aufsichtigt werden – und besonders solche in schwieriger sozialer Lage –, sind da-für bekannt, sich in bürokratischer Fragmentierung und lokalen politischen, oft -mals Arbeits- oder ethnischen Konfl ikten zu verzetteln (vgl. Honig 2006). Auf der anderen Seite ist die Gefahr groß, dass Rechenschaft ssysteme, vor allem wenn sie mit viel Druck von außen operieren, die Macht der Schuladministration gegenüber Lehrkräft en steigern und diese dazu anhalten, interne Problemlösungsprozesse ab-zukürzen und lediglich externe Qualitätsindikatoren abzuarbeiten. Die Bedürfnisse der Lernenden, in die Lehrende vor Ort immer schon mehr Einblick haben als fer-ne Verwaltungen, kommen so insbesondere in Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage zu kurz, sollten jedoch in einer Schulentwicklung, die ihren Namen verdient, an erster Stelle stehen.

4.4 Wie weiter?

Die Frage ist nun: Kann man sich eine Form der Schulentwicklung vorstellen, die über die schwachen Impulse der strategischen Planung hinauskommt, die engma-schige Implementierung von Designs vermeidet, den externen Lokus der Hand lungs-kontrolle in Rechenschaft ssystemen wieder stärker nach innen verlagert und die Initiative und Selbstbestimmung der engagierten Einzelnen oder Gruppen schätzt, ohne die Zufälligkeit von persönlichen Vorzügen oder Einsichten hinzunehmen? Eine solche Konzeption von Schulentwicklung würde Planung, Leistungstransparenz und evidenzbasierte Unterrichts- oder Organisationsdesigns so miteinander verbinden, dass die Bedürfnisse der Lernenden und Lehrenden vor Ort im Zentrum stehen und schulinternes Problemlösen mit externen Partnern in Netzwerken verknüpft wird.

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5. Designbasierte Schulentwicklung und Improvement Science

Ein Konzept, welches diesen Ansprüchen genügt, ist eine Form designbasier-ter Schulentwicklung, die sich aber von der Version von Design als einer fertig im-plementierbaren Struktur für Unterricht und Organisation (s.o.) absetzt. Sie wur-zelt stattdessen in Konzepten fortlaufender Organisationsentwicklung (vgl. Langley et al. 2009), forschungsgestützter Design-Implementierung (vgl. Fishman et al. 2013) und Improvement Science (vgl. Berwick 2008; Bryk et al. 2015). In diesen Konzepten geht es im Wesentlichen um die Entwicklung von Unterrichts- oder Orga-nisationsroutinen, die es Beschäft igten unter normalen Bedingungen ermöglichen, Arbeitsprozesse und -ergebnisse zu verbessern, ohne sie einem erhöhten Leistungs-druck auszusetzen.

Die Logik ist eingängig. Sie bringt Prinzipien des Qualitätsmanagements, die schon vor Jahren von „Management-Guru“ W. Edwards Deming vorgestellt wurden, mit Ansätzen aus der Interventionsforschung zusammen. Es werden insbesonde-re hartnäckige, wiederkehrende und weit verbreitete Probleme aus der Praxis iden-tifi ziert. Denn: Designbasierte Schulentwicklung ist nicht vonnöten, wenn Probleme einfach zu lösen oder konventionelle Lösungen schon vorhanden sind. Design-entwicklung sollte strategisch wichtigen, aber brennenden und quälenden Problemen ( wicked problems) vorbehalten sein, für die die Profession noch keine Antworten hat. Diese Art von Problemen ist normalerweise relativ unstrukturiert und erfor-dert weiteres Defi nieren und Einbetten in einen Rahmen. So können oft prakti-sche Probleme, wie das oben geschilderte Problem der kulturellen Brüche, als eine Herausforderung individuellen Lehrerhandelns oder als eine Herausforderung der ge-samten Organisation „gerahmt“ werden. Entwicklungsziele werden aus den spezifi -schen Entwicklungsbedarfen und existierenden Verbesserungskapazitäten von betrof-fenen Schulen und ihnen übergeordneten Schulbezirken abgeleitet. Alle Veränderung von Praxis ist im Kern ein Lern- und Problemlöseprozess, der sich innerhalb loka-ler Möglichkeiten, mit gegenseitiger und externer Unterstützung, im „next level of work“ (vgl. City et al. 2009; siehe auch Mintrop 2016) abspielen soll. Externe Unter-stützung kann in Ko-Design-Partnerschaft en organisiert werden, in denen inter-ne Schulakteure mit verschiedenen Funktionen in der Hierarchie (z.B. Schulaufsicht, Schulleitung, Lehrende) sowie Forscherinnen und Forscher von der Universität oder anderen Einrichtungen miteinander kommunizieren.

Erste Intuitionen dieser Designteams zum Problem und seiner Lösung werden schrittweise mit Daten aus den betroff enen Schulen über Bedarfslagen und mit Er-kennt nissen aus Forschung und praktisch-professionellem Wissen untermau-ert oder hinterfragt. Es bildet sich eine praktische Handlungstheorie, die ein tiefe-res Verständnis der Kausalitäten des zu behandelnden Problems mit Vorstellungen von Veränderungsprozessen verbindet und zu Vermutungen über die wesentlichen

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change drivers oder Triebkräft e für Veränderungen führt. Eine Abfolge von diskre-ten Lernaktivitäten oder kleinschrittige Veränderungen in der Praxis werden oft auf mehreren Organisationsebenen gleichzeitig erarbeitet und in relativ kurzen, schnell aufeinander folgenden Zyklen im „Trial-and-Error“-Verfahren getestet. Dieser Lern-prozess wird systematisch ausgewertet. Die Ergebnisse der Auswertung fl ießen in die Weiterentwicklung der Designs und in die Revision der Handlungstheorien. Um die Verbesserung messen zu können, werden Messgrößen konstruiert, die Ergebnisse quantifi zieren oder zumindest standardisieren. Darüber hinaus werden Daten an wichtigen Stellen des Veränderungsprozesses begleitend gesammelt (vgl. Mintrop 2016; Bryk et al. 2015). Über mehrere Iterationen hinweg kommt man einer Lösung oder Minderung des Problems näher. Als Resultat des Designprozesses schälen sich validierte Designprinzipien (vgl. Van den Akker et al. 2006), neue eff ektivere Praktiken und nützliches Wissen darüber, wie man von A nach B gelangt ist, heraus.

Wenn viele Akteure unter gleichen oder verschiedenen Kontextbedingungen gleich-zeitig mit Designs oder Praktiken experimentieren und in Lernnetzwerken zusam-menkommen, beschleunigt sich der Problemlöseprozess. In dem Maße, in dem sich praktische Probleme, Implementierungskontexte und praktische Lösungen klassifi zie-ren lassen, können die Lernnetzwerke transferierbares praktisches Designwissen pro-duzieren, welches dann nach Bedarf von Akteuren, die mit ähnlichen Problemen kon-frontiert sind, abgerufen werden kann (vgl. Bryk et al. 2015, Kapitel 6). Es geht aber beim Transfer nicht um eine getreue Umsetzung von Oberfl ächenstrukturen, wie zum Beispiel bei den extern entwickelten Unterrichtsprogrammen oder Comprehensive School Designs, sondern die Implementierung selbst kann als organisationsinterner Designprozess im Zuge einer adaptiven Integration aufgefasst werden (vgl. Bryk et al. 2015).

5.1 Erfahrungen

Designbasierte Schulentwicklung als kontinuierliche Ko-Design-Partnerschaft zwi-schen internen Schulpraktikern und -praktikerinnen und externen Unterstützern ist in einem Stadium, in dem gesicherte Forschungsergebnisse noch nicht präsen-tiert werden können; es liegen aber Erfahrungsberichte vor. Drei Fallbeispiele aus den USA geben darüber Auskunft , wie sich Schulentwicklung in dieser Logik abspielen könnte.

Das Strategic Educational Research Partnership Institute (vgl. URL: http://serpinstitute.org) existiert seit etwa zehn Jahren. Das Konzept des Instituts teilt den Designprozess in zwei Komponenten auf: Auf eine Laborphase, in der kooperierende Schulen und Schulbezirke mit führenden Universitätsforscherinnen und -forschern zusam-mengebracht werden und in der die Prototypen für Interventionen, in der Regel im Unterrichtsbereich, herausgebildet werden, folgt eine Implementierungsphase

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in Schulbezirken, die mit den Prototypen im „Trial-and-Error“-Verfahren experi-mentieren wollen. So wurde z.B. eine Intervention zur Förderung von sprachlicher Kompetenz von Kindern mit Sprachdefi ziten von einer Psychologin und Forscherin in einem Schulbezirk entwickelt und dann in einer Reihe weiterer Schulbezirke auf-gegriff en, deren Implementierungskapazität mit Instrumenten ermittelt wird, die von einem Organisationsforscher (vgl. Donovan/Snow/Daro 2013; Penuel et al. 2011) ent-wickelt wurden. Es fehlen aber noch abschließende Studien, die zeigen, wie tiefgrei-fend das SERP-Modell in der Lage ist, traditionelle Implementierungsprozesse auf neuer Basis zu gestalten.

Ein weitaus ambitionierteres Projekt ist das Lernnetzwerk Community College Pathways, das von der Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching betrieben wird. Dieses Projekt, das sich an Konzepte von Improvement Science (vgl. Berwick 2008; Bryk et al. 2015; Langley et al. 2009; Lewis 2015) anlehnt, hat als zentrales Problem die hohe Abbrecherquote von Studierenden am College,1 die zum größten Teil durch die hohe Abbrecherquote in Mathematikkursen bedingt ist. Das Netzwerk bringt eine Anzahl von experimentierenden Colleges mit Forscherinnen und For-schern sowie anderen externen Unterstützern zusammen, um gemeinsam eine um-fassende Neugestaltung von Curriculum, Kurssystem, Pädagogik und Beratung zu designen. Das Problem wird genau spezifi ziert. Kausalanalyse und die Analyse von Entwicklungsantrieben (change drivers) folgen einem einheitlichen Verfahren. Ideen auf verschiedenen Ebenen der Organisation werden in einem für alle gleich struk-turierten Erkundungszyklus getestet, und Messgrößen sind für alle Beteiligten ver-bindlich. Eine Reihe von Berichten dokumentiert die Eff ektivität dieses Ansatzes: Der Prozentsatz derjenigen, die die Mathematik-Nachhilfekurse bestehen, ist von 5 auf 50 Prozent gestiegen.2

Ein drittes Fallbeispiel ist eine Ko-Design-Partnerschaft zwischen einer universitären Forschergruppe, einem Doktorandenprogramm und einem Schulbezirk in schwieriger sozialer Lage, an welcher der Autor beteiligt ist. Auf der Seite der Praxis besteht das Designteam aus Personen aus der Schulaufsicht und Schulleitung sowie freigestellten Lehrerinnen, die als Coaches an den Schulen arbeiten. Zum Teil sind die Beteiligten im Doktorandenprogramm in der Logik der designbasierten Schulentwicklung (vgl. Mintrop 2016) geschult worden.

Das Projekt bearbeitet ein Problem, welches viele Schulen in schwieriger sozia-ler Lage beschäft igt: die Vertiefung von professionellem Lernen, um das aktive Engagement von Schülerinnen und Schülern mit komplexen Inhalten zu fördern. Das Projekt befi ndet sich noch im Anfangsstadium. Es hat bis dato deutlich ge-macht, dass der eigentlichen Designentwicklung eine Phase vorgeschaltet sein soll-

1 Das zweijährige Community College schließt sich als 13. und 14. Schuljahr nach der High School für Schülerinnen und Schüler an, die nicht auf eine vierjährige Universität wechseln.

2 Vgl. URL: http://www.carnegiefoundation.org/resources/publications/.

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te, in der zunächst einmal die Defi nition des Problems, die Zuteilung von Autorität und Expertise sowohl innerhalb der Organisation als auch zwischen Forscherinnen und Forschern und Praktikerinnen und Praktikern, die ungewohnte Transparenz durch Datenerhebung, die Erwartung von schnellen Lösungen und die Kohärenz zwi-schen externen Designideen und der Vielzahl von intern nebeneinander existierenden Entwicklungsinitiativen verhandelt werden müssen.

6. Schlussbemerkung

Kann man sich Ko-Design-Partnerschaft en oder Lernnetzwerke vorstellen, die sich brennende oder quälende Probleme der Praxis vornehmen, wie z.B. das ein-gangs geschilderte, und die mit gezielten Kommunikationsstrategien, neuen Unter-richts strategien oder Schritten der Organisationsentwicklung die Arbeitsqualität der Lehrenden erhöhen und den Schulerfolg von Lernenden substanziell verbessern? Und kann man sich vorstellen, dass diese Strategien sich über den professionellen Erfahrungsschatz hinaus zu einem Design verdichten, welches in seiner Eff ektivität getestet und validiert ist und welches mit Erfolg in eine Vielzahl von Kontexten mit entsprechender Adaption integriert werden kann? Dies ist die Herausforderung der jüngsten designbasierten Schulentwicklung und -entwicklungsforschung in den Vereinigten Staaten. Schulen in sozialräumlich deprivierter Lage sind ganz be-sonders auf gute Designs angewiesen, die Handlungsorientierungen anbieten in ei-nem Kontext, in dem Zeit, Energie und Lernkapazität als Ressourcen oft mals knapp sind. In Deutschland kämen Ansätze der designbasierten Schulentwicklung der Professionalität von Lehrkräft en entgegen, die erwarten, dass sie eigene Ideen und ei-genes Wissen in Schulentwicklungsprozesse einbringen und gleichberechtigt mit an-deren Partnern und Partnerinnen zusammenarbeiten können.

Literatur

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Berwick, D. (2008): Th e Science of Improvement. In: Journal of the American Medical Association 299, H. 10, S. 1182-1184.

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Konzepte der organisationalen und designbasierten Schulentwicklung

411DDS, 108. Jg., 4(2016)Berichte zum Schwerpunktthema

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412 DDS, 108. Jg., 4(2016) Weiterer Beitrag

ZusammenfassungDer Beitrag analysiert eine Schulleiterbefragung zu wahrgenommenen Faktoren, die das Lernen am eigenen Schulstandort beeinträchtigen. Mittels off ener Fragen erhobe-ne Daten einer österreichischen Vollerhebung auf der Sekundarstufe I (N = 1.416) wer-den inhaltsanalytisch ausgewertet und mit Befunden geschlossen erhobener Schul-leiter angaben verglichen. Die Befunde zeigen, dass Schulleitungen die mangelnden Ein stiegs voraussetzungen der Schüler und Schülerinnen, die hohe Heterogenität der Lerngruppen und das wenig lernförderliche häusliche Umfeld der Schüler und Schülerinnen am häufi gsten als hemmende Faktoren für das schulische Lernen iden-tifi zieren. Überraschend häufi g wird auch die Beeinträchtigung des Lernens durch ad-ministrativen Aufwand genannt. Die Befunde werden vor dem Hintergrund aktueller Schulreformen in Österreich diskutiert. Schlüsselwörter: Belastungsfaktoren schulischen Lernens, Schulleiterbefragung, Qualita-tive Inhaltsanalyse

Obstacles to Learning in the Perspective of School LeadersSummaryWe analyze data from a school leader survey on perceived obstacles to learning at school. Data was collected in an Austrian complete survey at lower secondary lev-el (N  =  1,416), using open-ended questions, and was analyzed by means of a content an alysis and compared to fi ndings from closed items. Th e results show that school lead-ers most frequently identify lacking student abilities, heterogeneous classrooms and learning groups, and less supportive student family backgrounds as obstacles to learning

Robert Moosbrugger/Christoph Helm/David Kemethofer/Sandra Bröderbauer/Susanne Luthe

Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens – eine qualitative Analyse von Schulleiteraussagen

DDS – Die Deutsche Schule 108. Jahrgang 2016, Heft 4, S. 412-430

© 2016 Waxmann

WEITERER BEITRAG

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

413DDS, 108. Jg., 4(2016)Weiterer Beitrag

at school. Surprisingly oft en school leaders think that administrative work is hindering student learning. Th ese fi ndings are discussed against the background of recent school reforms in Austria.Keywords: obstacles to learning at school, school leader survey, qualitative content an alysis

1. Einleitung

Die vorliegende empirische Studie geht der Frage nach, worin zentrale, von Schul-leitungen wahrgenommene standortspezifi sche Hemmfaktoren für das Lernen der Schüler und Schülerinnen liegen. Traditionell werden Determinanten des Lernerfolgs meist anhand geschlossener Items, die oft an Lernende oder Lehrpersonen gerich-tet sind, operationalisiert (z.B. im Rahmen von Kontexterhebungen internationaler Leistungsvergleichsstudien). Dagegen stellen Forschungen, die mittels off ener Fragen an andere Akteure des Lehr-Lern-Prozesses, wie bspw. Schulleitungen, die Qualität verschiedener Aspekte der Lernumgebung zu erfassen versuchen, ein Desiderat dar.

Befunde der Forschung zur Schulqualität und -eff ektivität verweisen auf die wichti-ge Rolle der Schulleitung. Die Schulleitung ist für die Erziehungs- und Bildungsarbeit an der Schule verantwortlich und hat für die innere und äußere Ordnung des Schulalltags zu sorgen (vgl. Bonsen 2016). Als Schnittstelle zwischen Kollegium und übergeordneten Instanzen hat sie sich mit den Gegebenheiten der Schule auseinan-derzusetzen und weiß wie kaum ein anderer Akteur über die Bedingungen, die an ei-ner Schule herrschen, Bescheid. Schratz et al. (2016) zufolge hängt die Qualität ei-ner Schule stark mit den Fähigkeiten der Schulleitung, die Schule zu führen und bei Problemen angemessene Lösungen zu erkennen, zusammen. Darüber hinaus zeigt die Studie von Huber und Niederhuber (2004), dass das Schulleiterwissen über die Schwierigkeiten und die Leistungen, die für gute Erziehungs- und Unterrichtsprozesse notwendig sind, ein zentrales Qualitätsmerkmal von Schulleitung darstellt. Auch die in vielen empirischen Studien präsentierten Befunde zum Zusammenhang von Schulleiterhandeln und Schülerlernen heben die Bedeutung der Schulleitung für das Lehr-Lerngeschehen am Schulstandort hervor (vgl. Bonsen 2016). Es ist zu vermuten, dass Schulleitungen, die sich der standortspezifi schen Herausforderungen bewusst sind, auch eher adäquat darauf reagieren können.

Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass kaum Befunde zu lernförderlichen oder -hemmenden Faktoren am Schulstandort aus Schulleitersicht vorliegen. Wir neh-men dieses Desiderat auf und erheben die Schulleiterperspektive nicht nur durch ge-schlossene, sondern auch durch off ene Fragen. Dadurch soll verzerrten Antworten durch Vorgabe der Antwortkategorien entgegengesteuert werden. In den Analysen beziehen wir uns auf Selbsteinschätzungen von österreichischen Schulleiterinnen und

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

414 DDS, 108. Jg., 4(2016) Weiterer Beitrag

Schulleitern im Rahmen einer Vollerhebung der Sekundarstufe I. Dieser Zugang er-möglicht uns, eine neue Perspektive der Schul-/Unterrichtsqualitätsforschung aufzu-zeigen und so zu deren diff erenzierter Diskussion beizutragen.

2. Das Angebots-Nutzungsmodell als Strukturierungshilfe für lernhemmende Faktoren

Um die angeführte Frage zu beantworten, werden die Angaben der Schulleitungen entlang des Angebots-Nutzungsmodells (vgl. Helmke 2009; siehe Abb. 1) in Inhalts-kategorien geordnet. Die Wahl dieses Modells ist auf die Fragestellung zurückzu-führen. Da nach Hemmfaktoren schulischen Lernens gefragt wurde, erscheint ein „Th eoriemodell“ für Lehr-Lernprozesse adäquat. Helmkes Modell gilt als eines der umfangreichsten und den aktuellen Forschungsstand einschließenden Modelle für Determinanten des Lehr-Lernprozesses (vgl. Helmke/Schrader 2006). Darüber hi-naus nimmt, wie bereits argumentiert, die Schulleiterrolle aufgrund ihres hohen Einfl ussbereiches am Schulstandort eine wesentliche Stellung für die Optimierung des Lehr-Lernprozesses im Unterricht konkret und in der Einzelschule allgemein ein. Sie kann als zentraler Akteur auf Schulebene angesehen werden (vgl. z.B. Fend 2008; Huber 2011) und ist gleichsam für Qualitätsentwicklung und -sicherung an der Einzelschule verantwortlich. Es ist zu erwarten, dass Schulleitungen sich intensiv mit den vorhandenen Gegebenheiten am Schulstandort auseinandersetzen (etwa im Zuge von Ergebnisrückmeldungen aus Standardüberprüfungen oder Schulinspektionen) und diese auch in entsprechender Qualität beurteilen können. Daher bildet die Angebots- und Nutzungsqualität aus Schulleitersicht eine wichtige Perspektive für die Vorhersage der Schülerleistungen.

Das Modell geht auf die amerikanischen „Produktionsmodelle“ schulischer Leistung zurück, die Lernerträge als eine Funktion von Angebot und Nutzung erklären (vgl. z.B. Haertel/Walberg/Weinstein 1983). Dabei wird Unterricht als ein Angebot an die Lernenden verstanden, das von diesen unterschiedlich intensiv genutzt werden kann. Die Qualität dieser Nutzung hängt von mehreren Faktoren ab, insbesonde-re von der Qualität und Quantität des Unterrichts, der Qualität des Lernmaterials, den Lernvoraussetzungen (Vorwissen, kognitive und metakognitive Fähigkeiten) so-wie den motivationalen und volitionalen, aber auch den sozialen Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen, dem häuslichen Umfeld, den Merkmalen der Lehr-personen (z.B. fachdidaktisches Wissen) und dem schulischen Kontext.

Mit Wild, Maller und Möller (vgl. 2009, S.  80) ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Angebots-Nutzungsmodell als ein abstraktes Rahmenmodell zu verstehen ist, das mit spezifi schen Konstrukten und theoriegeleiteten Hypothesen gefüllt werden muss. Wir kommen dem nach, indem wir dieses Modell nutzen, um die Schulleiterangaben

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

415DDS, 108. Jg., 4(2016)Weiterer Beitrag

zu belastenden Faktoren am Schulstandort zu kategorisieren, und so für unsere Untersuchung relevante Konstrukte im Sinne lernhemmender Faktoren der Lehr-Lernumgebung erarbeiten.

3. Schulleitungen als Informationsquelle

Für die Einnahme der Perspektive von Schulleitungen spricht, dass Schulleitungen als zentrale Akteure auf Schulebene identifi ziert werden (vgl. z.B. Fend 2008; Huber 2011). Studien, die auf Schulleitungen als Informationsquelle beruhen, beschäf-tigen sich u.a. mit der Wirkkraft von Schulleitung (Pietsch 2014), der Rolle von Schulleitung im Rahmen neuer Steuerung und damit verbundener Anforderungen (z.B. Brauckmann/Schwarz 2014), Schulleitungshandeln (z.B. Bonsen et al. 2002; Brauckmann 2012; Brauckmann/Schwarz 2015; Warwas 2015) oder den wahrge-nommenen Belastungen und Beanspruchungen (z.B. Huber 2013). Diesbezüglich verweist Warwas (2011) auf Einzelstudien, die Problemlagen aus der Perspektive von Schulleitungen thematisieren. Zu beachten ist, dass es dabei v.a. um solche Belastungsfaktoren geht, die die eigene Arbeit erschweren und weniger in Bezug auf das Lernen der Schüler und Schülerinnen am Schulstandort gedacht sind. Dennoch lassen sie sich auch im Zusammenhang mit der Fragestellung der vorliegenden Studie

Abb. 1: Das Angebot-Nutzungsmodell nach Helmke

Quelle: Helmke 2009, S. 73

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

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diskutieren: Die Wahrnehmung und Bewertung schulinterner Problemlagen (z.B. Schulausstattung, Disziplin und Motivation der Schülerschaft ) …

• hängt häufi g von der bildungspolitischen Einstellung der Schulleitung ab (Riedel 1998);

• diff eriert von der Bewertung der Lehrkräft e (Kischkel 1989);• wird häufi g auf defi zitäre Fähigkeiten und Arbeitsleistungen von Lehrkräft en zu-

rückgeführt (Wissinger 1996);• hängt mit der Schulgröße und dem Anteil ausländischer Schüler und Schülerinnen

zusammen (Behr/Valentin/Ramos-Weisser 2003; Rosenbusch/Braun-Bau/Warwas 2006);

• hängt von den Schülerleistungen, verfügbaren Ressourcen und dem Bild der Schulleitung in der Öff entlichkeit ab (Huber 2013);

• hängt mit der Schulart zusammen (Warwas 2011);• wird von der individuellen Einstellung der Schulleitung (z.B. Outputorientierung,

Prozessorientierung etc.) in Interaktion mit dem schulischen Kontext (bzw. mit si-tuationsspezifi schen Aspekten) beeinfl usst (Altrichter/Kemethofer 2015; Warwas 2015).

Neben den angeführten Studien zur Wahrnehmung schulinterner Problemlagen identifi zieren auch die Arbeiten von Brauckmann und Hermann (2012), Gerick (2014) und Rachenbäumer und van Ackeren (2014) Schulleitungen als jene Ak-teure, die bedeutend zur Schaff ung und Gewährleistung lernförderlicher Rahmen-bedingungen beitragen können. Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe sind aktuelle Reformkonzepte zu sehen, die in Richtung Erweiterung schulischer Eigen-verantwortung gehen und Schulleitungen eine tragende Rolle zuschreiben (Wissinger 2011). Diese befi nden sich „an wichtigen Gelenkstellen der Educational Governance [, wo sie] die konkurrierenden Interessen verschiedener An spruchsgruppen austarie-ren“ (ebd., S. 2). Pont, Nusche und Hopkins (2008) weisen u.a. darauf hin, dass sich das Anforderungsspektrum an und die Funktion von Schulleitung im Rahmen neu-er Steuerungsansätze verändert haben. Zwischen Anforderungen und Erwartungen einerseits und Kontext- und Arbeitsbedingungen von Schulleitungen anderer-seits besteht mitunter eine Diskrepanz (vgl. Brauckmann/Schwarz 2015). Der von Schulleitungen wahrgenommene Grad an Autonomie deckt sich dabei nicht unbe-dingt mit den konzeptuellen Hand lungs spielräumen.

Hierauf weisen bspw. auch Ergebnisse aus der Begleitforschung zum „Modellvorhaben eigenverantwortliche Schule“ im Land Berlin hin (Avenarius et al. 2006). Die im Rahmen des Projekts zugestandenen Verfügungsrechte über Ressourcen sowie Steuerungsinstrumente wurden hinsichtlich der Umsetzung von Schulentwicklung zwar in der Tendenz positiv, jedoch von Schulleitungen verschiedener Schultypen un-terschiedlich eingeschätzt. Auch deckt sich die Beurteilung der Schulleitungen nicht mit jener der Lehrkräft e.

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

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4. Methodisches Vorgehen

Die Datenbasis zur Diskussion unserer Forschungsfrage stellt die Schulleiterbefragung dar, die im Rahmen der Überprüfung der österreichischen Bildungsstandards in Mathematik auf der 8. Schulstufe 2012 durchgeführt wurde.

Beschreibung des Datenmaterials

An der dieser Studie zugrundeliegenden Standardüberprüfung nahmen sämtliche Schulen mit gesetzlich geregelter Schulartbezeichnung und mit Öff entlichkeitsrecht teil. Das sind Hauptschulen, Neue Mittelschulen und allgemeinbildende höhere Schulen. In Summe wurden 1.416 Schulleitungen zu Kontextbedingungen an ihrer Schule (z.B. Charakteristika der Schule, Rahmenbedingungen des Unterrichts) be-fragt. Bei 1.145 Schulen handelt es sich um allgemeinbildende Pfl ichtschulen und bei 271 um allgemeinbildende höhere Schulen (vgl. Schreiner/Breit 2012). Die bei-den Schultypen unterscheiden sich bspw. hinsichtlich der sozialen Komposition der Schülerschaft und der unterschiedlichen Ausbildung der Lehrpersonen (für Zusammenhänge zwischen von Schulleitungen wahrgenommenen Belastungsfaktoren und Schulmerkmalen mit Schülerleistungen vgl. Helm/Kemethofer/Siegle, im Druck).

Die aus Schulleitersicht wahrgenommenen lernhemmenden Faktoren am Schul-stand ort wurden zunächst durch zwei geschlossene Fragen erfasst: Wird das Lernen im Allgemeinen an Ihrer Schule aus Ihrer Sicht durch die folgenden Faktoren be-einträchtigt? Und, da es sich um die Standardüberprüfung in Mathematik handelt: Wird das MATHEMATIK-Lernen an Ihrer Schule aus Ihrer Sicht durch die folgen-den Faktoren beeinträchtigt? Die im Anschluss an die jeweilige Frage zu bewertenden Kategorien sowie die Antwortkategorien sind Tabelle 1 zu entnehmen.

Zudem enthielt der Fragebogen drei off ene Items zu Hemmfaktoren, die über die in den geschlossenen Fragen angeführten Kategorien hinausgehen:

1. Falls das Lernen im Allgemeinen an Ihrer Schule aus Ihrer Sicht durch andere Faktoren beeinträchtigt wird: Welche Faktoren sind das?

Und, da es sich um die Standardüberprüfung in Mathematik handelt:2. Falls das Lernen in Mathematik an Ihrer Schule aus Ihrer Sicht durch andere

Faktoren beeinträchtigt wird: Welche Faktoren sind das?3. Falls es weitere wichtige Rahmenbedingungen gibt, die aus Ihrer Sicht die Schüler-

leistungen an Ihrer Schule beeinfl ussen, sind wir Ihnen dankbar, wenn Sie diese nachstehend notieren.

Entsprechend der hier analysierten Fragestellung wurden lediglich jene Angaben von Schulleitungen berücksichtigt, die sich auf hemmende Rahmenbedingungen bezogen.

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

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Ziel der Datenauswertung war es, das vorhandene Material zu strukturieren und Faktorenbündel herauszuarbeiten. Dies erfolgte unter Rückgriff auf die Methode der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2010, S. 94), um die „innere Struktur des Materials nach bestimmten formalen Strukturierungsprozessen heraus[zu]fi ltern“ und das „Material zu bestimmten Th emen, zu bestimmten Inhaltsbereichen [zu] ext-rahieren und zusammen[zu]fassen“.

In einem ersten Schritt wurde auf Basis der theoretischen Vorüberlegungen ein ers-tes Kategorienschema entwickelt und auf die vorliegenden Textantworten angewen-det, um eine erste Ordnung in das Datenmaterial zu bringen. Dadurch wurde das Kategorienschema auch auf Anwendbarkeit, Trennschärfe und Vollständigkeit über-prüft . In einem iterativen Prozess wurden Inhalt der Kategorien und Zuord nungs-regeln festgelegt, die defi nieren, ab wann eine Aussage in eine bestimmte Kategorie fällt. Auf Basis der so erarbeiteten Kodierregeln wurden die Textstellen den Kate-gorien entsprechend von zwei Ratern zugeordnet. Die Interraterreliabilität beträgt 80 Prozent, was auf ausreichende Übereinstimmung hinweist (vgl. Früh 2007). Letztlich konnten wir 13 lernhemmende Faktoren identifi zieren, die in Abschnitt 5 beschrie-ben sind.

5. Ergebnisse

5.1 Befunde der quantitativen Auswertung

Die deskriptive Auswertung zu den geschlossenen Fragen vermittelt einen ers-ten Eindruck davon, in welchem Ausmaß über lernhemmende Faktoren berich-tet wird. Am häufi gsten stimmen die Schulleitungen den Kategorien „administrati-ve Tätigkeiten“ sowie „fehlende Unterstützung der Schüler und Schülerinnen durch ihre Eltern“ zu (vgl. Tab. 1). Die Kategorien „Lehrpersonal“ (z.B. fehlende Motivation, Mangel an Fachkräft en) und „materielle Rahmenbedingungen“ (z.B. Ausstattung, Unterrichtsmaterial) werden selten als lernhemmend angesehen. Interessant erscheint, dass allgemeine Bedingungen deutlich häufi ger angegeben werden als jene Faktoren, die gezielt nach Einfl üssen auf das Mathematik-Lernen fragen.

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

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Tab. 1: Quantitativ erfasste hemmende Faktoren des schulischen Lernens am eigenen Schulstandort

Faktoren (N = 1396) ja (in %)

Allgemein

Administrativer Aufwand 61 ,3

Fehlende Unterstützung der Schüler und Schülerinnen durch ihre Eltern 43,5

Mathematik

Fehlende Disziplin der Schüler und Schülerinnen 23,1

Mangel an Unterstützungspersonal 22,0

Mangelnde Deutschkenntnisse der Schüler und Schülerinnen 15,2

Fehlende oder unzulängliche Computerausstattung 14,4

Fehlende oder unzulängliche Ausstattung 12,2

Fehlendes oder unzulängliches Unterrichtsmaterial 5,8

Mangelnde(s) Engagement/Motivation der Lehrkräfte 1,7

Mangel an geprüften Lehrkräften 1,6

Anm.: Skala: 1 = ja, sehr stark; 2 = ja, deutlich; 3 = ja, ein wenig; 4 = nein, gar nicht. Die Kategorien 1 und 2 wurden zusammengefasst; ihre relative Häufi gkeit ist in Tabelle 1 angeführt.

Quelle: eigene Darstellung

5.2 Befunde der qualitativen Analyse

Im Rahmen der qualitativen Analysen strukturieren wir die Kategorien in Anlehnung an das Angebots-Nutzungs-Modell anhand der Dimensionen außerschulische Fak-toren, Kon text faktoren, Lehrerpersönlichkeit, Unterricht und Lernende (siehe Abb.  2). Die Kategorien werden im Folgenden anhand von Zitaten näher erläutert. Die Häu-fi g keit der Nennung kann anschließend Abbildung 3 entnommen werden.

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420 DDS, 108. Jg., 4(2016) Weiterer Beitrag

Abb. 2: Wahrgenommene Hemmfaktoren aus Schulleitersicht

Quelle: eigene Darstellung

5.2.1 Außerschulische Faktoren

1. Bildungspolitischer Rahmen: Schulleitungen sehen ihren Handlungsspielraum als zu eingeschränkt an (bspw. was Sanktionsmöglichkeiten bei disziplinarischen Problemen, Lehrplaninhalte, Personalauswahl etc. betrifft ).

Dauernd neue Vorschrift en, Regelungen – dauernde Verunsicherungen durch die Behörden (BMUKK, Landesschulrat, Politik) (21a/70).1

Durch die starke Einmischung von außen, die Schulen dürfen nicht mehr in Ruhe arbeiten! Keine Schule wird sich auf diese Art und Weise günstig weiterentwickeln!! (21a/109)

2. Gesellschaft liche Einstellung: Der Schule, dem Lernen, aber auch der Lehrerschaft wird aus Sicht von Schulleitungen zu wenig Wertschätzung entgegengebracht.

So manche öff entliche Radiosender erziehen zur „Fun-Gesellschaft “. Am Montag wird schon vom verdienten Wochenende gesprochen. Weiters wird „Schule“ und damit „Lernen“ dauernd lächerlich gemacht (22/153).

1 Verweise auf Aussagen von Schulleitungen erfolgen nach dem Prinzip Frage/Fragebogen-nummer. Die Fragebögen wurden zufällig laufend durchnummeriert.

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

421DDS, 108. Jg., 4(2016)Weiterer Beitrag

5.2.2 Klassenkontext und fachlicher Kontext

3. Ausstattung/Ressourcen: Einem Mangel an personellen, fi nanziellen, materiellen Ressourcen, aber auch Raumnot und der Ausgestaltung der Lernräume ist die, aus Sicht vieler Schulleitungen, suboptimale Ausgestaltung von Lernangeboten geschul-det, bzw. es können deshalb Angebote, die als pädagogisch sinnvoll erachtet wer-den (bspw. Förderangebote und Betreuung), nicht im gewünschten Ausmaß oder gar nicht angeboten werden.

Die Ressourcen werden immer knapper (Wochenstunden der Lehrpersonen, die Gemeinden haben kein Geld für die Schulausstattung, psychologische Betreuung und soziale Betreuung – zu wenig Personal) (22/31).

4. Klassen-/Gruppengröße: Schulleitungen sehen in zu großen Lerngruppen einen wei-teren lernhemmenden Faktor. Es werden meist nur Schlagworte wie hohe Klassen-schüleranzahl (21a/363), große Schülergruppen (21c/84) oder zu viele Schüler und Schülerinnen pro Klasse (21c/226) genannt.

5. Zusammensetzung der Schülerschaft : Die Zusammensetzung der Schülerschaft wird als hemmender Faktor angeführt. Eine Konzentration von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Gruppen erscheint als ein für das Lernen hinderlicher Faktor.

Viele Familien stammen aus sozial niedrigen Schichten, haben kein Interesse an Schulbildung, sind selber arbeitslos, haben wenig Bezug zum österreichischen Bil-dungs system, viele Eltern sind Analphabeten, sprechen nicht Deutsch (21a/541).

Als besondere Herausforderung wird an den Standorten die Konkurrenz um gute Schüler und Schülerinnen erlebt:

Da neun allgemeinbildende höhere Schulen im Umkreis von 4 km von den VS-SchülerInnen [VolksschülerInnen] gestürmt werden, haben wir kaum Kinder mit aus ge sprochener AHS-Reife [Reife für den Besuch der allgemeinbildenden höheren Schule] in unseren 1. Klassen (22/23).

6. Wenig förderliches Umfeld: Die Prägung durch das Elternhaus und der fami-liäre Hintergrund der Schüler und Schülerinnen bilden einen Teil der Kontext-bedingungen, die aus der Perspektive vieler Schulleitungen auch das Lernen am Schulstandort beeinfl ussen. Dies gilt insbesondere für (1)  familiäre Probleme, die sich bis in die Schule ziehen, (2) die mangelnde elterliche Erziehung, (3) die fehlende Unterstützung der Schüler und Schülerinnen durch ihre Eltern, (4)  die mangelhaft e Kooperationsbereitschaft der Eltern mit der Schule und (5) Einstellungen der Eltern, die für das Lernen ihrer Kinder ungünstig sind. Ähnliche Aussagen betreff en auch die Peer-Group der Schüler und Schülerinnen.

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

422 DDS, 108. Jg., 4(2016) Weiterer Beitrag

Zur fehlenden Unterstützung durch das Elternhaus gesellen sich ein oft mals zerrüttetes soziales Umfeld in völliger Lieblosigkeit und Beziehungslosigkeit!! Außer dem ist Wissenserwerb leider immer öft er negativ besetzt (Streber) und uncool!! (21a/594)

5.2.3 Lehrerpersönlichkeit

7. Lehrende: Auch auf Ebene der Lehrpersonen werden hemmende Faktoren für das Lernen der Schüler und Schülerinnen verortet. Diesbezügliche Aussagen betreff en die allgemeine Überforderung der Lehrkräft e und Merkmale der Lehrpersonen, wie de-ren „eingefahrene“ Sichtweisen auf den Unterricht, das mangelnde Engagement oder auch mangelnde Qualifi kation und Fortbildung.

Die Kolleginnen und Kollegen der Fachgruppe Mathematik sind zwar alle voll geprüft , aber zu 50 Prozent unfähig. Maßnahmen zur Verbesserung der Unter-richts qualität fruchten nicht (21c/33).

Z.T. fehlendes Engagement und fehlende Bereitschaft mancher Lehr personen, sich generell auf Neues, auf Schulentwicklung einzulassen (21a/563).

5.2.4 Unterricht

8. Fehlende Lernzeit: In ihren Antworten sind Schulleitungen der Ansicht, dass die im Curriculum vorgesehene Anzahl an Stunden zu niedrig ist. Zudem besteht zwischen der nominalen Lernzeit und der tatsächlich zur Verfügung stehenden Lernzeit eine Diskrepanz. Der Anteil der tatsächlich abgehaltenen Unterrichtsstunden wird gemin-dert durch nicht lernbezogene Aufgaben, die innerhalb der Unterrichtszeit bewältigt werden müssen (bspw. administrative Aufgaben, externe Testungen), Stundenausfall aufgrund von Verhinderung der Lehrpersonen (z.B. Teilnahme an Fortbildungen, Krankheit etc.) oder zusätzliche Angebote/Maßnahmen seitens der Schule (z.B. sozia-le Aktivitäten, Auslandsreisen, Berufsorientierung, Projekte etc.).

Zahlreiche Projekte (Gewaltprävention, Suchtprävention, Mobbing prä vention, Energie projekt, Zivilschutz, Erste-Hilfe-Kurs, …) verringern auch die Anzahl an Mathe matikstunden (21c/216).

9. Schwierigkeiten in der Umsetzung von Diff erenzierung im Unterricht: Aus Schul-leitungs sicht ist die Umsetzung innerer Diff erenzierungsmaßnahmen an ihrer Schule mit Schwierigkeiten verbunden, da bspw. nicht ausreichend Lehrpersonen für Team-teaching vorhanden sind oder schlichtweg die Lerngruppen zu groß sind. Diese Form der Belastung wird auch durch den Wunsch nach äußerer Diff erenzierung im Sinne der ehemaligen Leistungsgruppen deutlich.

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

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Zu wenig Individualisierung, da zu große Gruppen (21c/227).

Problematik der heterogenen Klassenzusammensetzung – motivierte und un-moti vierte Schülerinnen und Schüler; Entwicklung der Stärken und Talente bzw. Minimierung der Defi zite und Schwächen sind eine große Herausforderung (22/538).

10. Zusatzaufgaben: In den von außen an die Schule herangetragenen zusätzlichen Aufgaben sehen Schulleitungen eine immer stärker werdende Belastung. Speziell be-tont wird die Übernahme der elterlichen Erziehungsarbeit.

Wünsche von verschiedenen Institutionen und Gruppen werden immer stärker an die Schule herangetragen! (21a/561)

Vermittlung von Lebenskompetenzen verlagert sich immer mehr in den Aufgaben-bereich der Schule, erzieherische Aufgaben nehmen zu (21a/538).

5.2.5 Lernende

11. Mangelnde individuelle Eingangsvoraussetzungen: Den Schülerinnen und Schülern mangelt es an notwendigen Grundvoraussetzungen für die Nutzung des Angebots. Genannt werden sowohl ein Mangel an fachlichen Kompetenzen, Konzentrations-fähigkeit, sozialen sowie sprachlichen Kompetenzen als auch an Lesekompetenz und Selbstständigkeit.

Man kann auf Schlüsselkompetenzen leider nicht mehr aufb auen, sondern muss sie mühsam in der Sekundarstufe wieder erarbeiten (21a/277).

Fehlende Grundkompetenzen in Mathematik (Grundrechnungsarten, Um wand-lungen, …), die in der 1. Klasse wiederholt eingeübt werden müssen (21c/53).

Schwierigkeiten im Umgang mit Sachtexten, SchülerInnen verfügen nicht immer über die Lesekompetenz, die zur effi zienten Rezeption von Sach texten erforderlich ist (21a/395).

12. Disziplinarische Mängel: Das Verhalten von Schülerinnen und Schülern wird als negativer Einfl ussfaktor auf das Lernen angeführt: störende, verhaltensauff ällige, ori-ginelle Schüler und Schülerinnen, Mangel an Disziplin und Pünktlichkeit etc.

Mangelnde Disziplin der Schüler und Schülerinnen; einzelne Schüler und Schüle-rinnen stören massiv; keine Möglichkeit von Sanktionen (21a/290).

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

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Abb. 3: Häufi gkeit der Nennungen insgesamt

122153

235

2859

99

64

38128

157268

4351

Außerschulische Belastungsfaktorenbildungspolitischer Rahmengesellschaftliche Einstellung

KontextAusstattung/Ressourcenwenig förderliches UmfeldZusammensetzung der SchülerschaftKlassen-/Gruppengröße

LehrerpersönlichkeitLehrende

Unterrichtfehlende LernzeitZusatzaufgabenDifferenzierung

LernendeEinstellung und Motivationindividuelle Eingangsvoraussetzungendisziplinarische Mängel

Quelle: eigene Darstellung

13. Einstellung und Motivation: Seitens Schulleitungen besteht der Wunsch, dass die Schüler und Schülerinnen der Schule und dem Lernen allgemein eine höhe-re Bedeutung zumessen. Das Interesse der Schülerschaft für Inhalte, ihre Motivation und ihr Engagement sind aus Sicht der Schulleitungen nicht genügend ausgeprägt. Ein Problem wird auch darin gesehen, dass die Schule mit anderen Lebensbereichen – bspw. Freizeitaktivitäten, (neuen) Medien – um die Aufmerksamkeit der Schüler und Schülerinnen konkurrieren muss.

Schule wird nicht mehr als entscheidend für die Zukunft erlebt; viele außer-schulische Erlebnisse beherrschen die Interessen der jungen Menschen, besonders in der 4. Klasse (22/142).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass von Seiten der Schulleitungen ne-ben Ausstattung und Ressourcen v.a. bei den Schülerinnen und Schülern hinderli-che Faktoren verortet werden, welche die Nutzung des Lernangebots beeinträchtigen (vgl. Abb. 3). Konkret als hemmende Faktoren identifi ziert werden die Einstellung und Motivation der Schüler und Schülerinnen (235 Nennungen), deren Mangel an fachlichen und überfachlichen Kompetenzen (153) sowie disziplinarische Mängel (122). Dies deckt sich im Wesentlichen mit den Befunden aus der quantitativen Befragung zum Lernen in Mathematik; auch dort werden die fehlende Disziplin der Schüler und Schülerinnen und ihre mangelnden Deutschkenntnisse am häufi gsten als lernhemmend eingestuft . Des Weiteren wird in der off enen Befragung vermehrt

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

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die mangelnde Ausstattung mit Ressourcen (268 Nennungen) als hinderlich für das Lernen insgesamt erachtet. Auch Rahmenbedingungen wie die Zusammensetzung der Schülerschaft (128 Nennungen) und ein wenig förderliches Umfeld (157) stellen aus Sicht der Schulleitung zentrale, der Nutzung des Lernangebots abträgliche Faktoren dar. Das wenig förderliche Lernumfeld wird auch in der quantitativen Befragung von den Schulleitungen als besonders lernhemmend eingeschätzt. Im Gegensatz zur qua-litativen Befragung nimmt dort aber der Faktor „administrativer Aufwand“ den größ-ten Stellenwert ein.

Vergleicht man die beiden off en abgefragten Bereiche „Lernen in Mathematik“ und „Lernen allgemein“, so zeigt sich, dass beim Lernen in Mathematik Faktoren auf Ebene der Lernenden – deren Einstellung/Motivation sowie Mangel an fachlichen Kompetenzen – im Fokus stehen. Diese Faktoren werden zwar auch als hinderlich für das Lernen allgemein angesehen; relativ betrachtet überwiegen dabei aber die Kontextfaktoren – allen voran die Ausstattung am Schulstandort. Da die das Lernen in Mathematik belastenden Faktoren nach der Frage zu Faktoren für das Lernen all-gemein erhoben wurden, könnten diese Unterschiede darauf zurückzuführen sein, dass Schulleitungen ihrem „Leidensdruck“ – bspw. durch den Hinweis auf fehlende Ressourcen – gleich bei der ersten Gelegenheit Ausdruck verleihen, wo sie auch in-haltlich besser passen, da diese Aspekte nicht nur das Fach Mathematik betreff en.

6. Diskussion

Auf Ebene der Kontextbedingungen heben Schulleitungen die fehlenden Ressourcen am Schulstandort hervor. Dieses Ergebnis passt gut in das Bild der Studie von Altrichter und Kemethofer (2015), wonach Schulleitungen ressourcenorientierten An sätzen (z.B. Verbesserung der materiellen Ausstattung) das größte Potenzial zur Schul ent wicklung zuschreiben.

In Bezug auf den Bereich Lehr-Lernen des Helmke-Modells fokussieren die Schul-leitungen stark auf individuelle Merkmale der Schülerschaft . So empfi nden sie bspw. die mangelnden Einstiegsvoraussetzungen der Schüler und Schülerinnen sowie die hohe Heterogenität in den Lerngruppen und das wenig lernförderliche Umfeld der Schüler und Schülerinnen als zentrale Belastungen für das Lernen (siehe dazu bspw. die Diskussion zur Restschulproblematik; vgl. Specht 2011).

Für die Interpretation der dargestellten Befunde ist einschränkend anzumerken, dass den Schulleitungen zuerst geschlossene und dann off ene Fragen vorgelegt wurden. Der Hinweis, dass in den off enen Fragen nur Faktoren genannt werden sollen, die über jene der geschlossenen Fragen hinausgehen, dürft e die Schulleiterangaben be-einfl usst haben. Zudem sind die Gründe für ausbleibende Angaben nicht feststellbar:

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

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Einerseits könnte es sich um ein Nicht-Beantworten des Items handeln. Andererseits könnte es sein, dass die betreff enden Schulleitungen keine (zusätzlichen) lernhem-menden Faktoren wahrnehmen und durch Auslassen/Überspringen des Items diese Antwort geben. Darüber hinaus zeigen Studien (vgl. z.B. Warwas 2015), dass die sub-jektive Wahrnehmung von belastenden Faktoren u.a. durch individuelle Merkmale der Schulleitungen und den Kontext beeinfl usst ist; so hängt sie bspw. mit der bil-dungspolitischen Einstellung und der Schulgröße zusammen. Mit Blick auf diese Aspekte sind die hier dargestellten Befunde mit einer gewissen Vorsicht zu interpre-tieren.

Vor dem Hintergrund der in Österreich in den letzten Jahren umgesetzten Schul-reform maßnahmen, wie der Abschaff ung der äußeren Diff erenzierung in Form von Leistungs gruppen sowie der verstärkten Outputorientierung, sind folgende Be-funde besonders interessant: Die Umsetzung von innerer Diff erenzierung scheint – aufgrund mangelnden Zusatzpersonals oder der hohen Heterogenität – eine große Herausforderung darzustellen. Die „ständigen Reformen“ der Bildungspolitik sowie die nicht für Lernen genutzte Unterrichtszeit werden als lernhemmend erlebt.

Aktuelle Lehr-Lernforschung nimmt häufi g Merkmale der Lehrperson (z.B. fachdi-daktisches Wissen), der Schüler und Schülerinnen (z.B. Lernmotivation) und Unter-richtsqualitätsmerkmale (z.B. kognitive Aktivierung) in den Blick. Das geschieht zu Recht, da diese Merkmale das Kerngeschäft von Schule, die Kompetenzvermittlung, beeinfl ussen. Allzu oft werden dabei aber die Rahmenbedingungen des Lernens, v.a. Aspekte wie der administrative Aufwand, die Ausstattung der Schule, die Unter-stützung der Eltern etc., ausgeblendet, die off enbar wiederum besondere Aufmerk-sam keit von Schulleitungen fi nden.

Auff allend bei den vorliegenden Ergebnissen ist, dass Schulleitungen, wenn man sie nach den das Lernen der Schüler und Schülerinnen hemmenden Faktoren befragt, den administrativen Aufwand stark betonen und weniger den Bereich curricula-rer und didaktischer Gestaltung thematisieren. Dies könnte daran liegen, dass nach Brauckmann und Schwarz (2015) administrative Tätigkeiten jenen Bereich bilden, mit dem sich Schulleitungen am häufi gsten auseinandersetzen müssen. Gleichzeitig werden diese insgesamt als belastend wahrgenommen (vgl. Huber/Wolfgramm/Kilic 2013).

Auch überraschen die widersprüchlichen Befunde bei den quantitativen und quali-tativen Analysen. Augenfällig ist der Unterschied bzgl. der bereits angesprochenen Ein schätzung der Beeinträchtigung pädagogischer Arbeit durch einen hohen admi-nistrativen Aufwand. Während diese Kategorie in der geschlossenen Befragung von 61 Prozent als deutlich oder sehr stark das Lernen beeinträchtigend beurteilt wird, spielt diese Kategorie in der qualitativen Befragung nur eine untergeordnete Rolle. Dies könnte an der off enen Fragestellung liegen, die erhebt, welche zusätzlichen

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Standortspezifi sche Hemmfaktoren des schulischen Lernens

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Faktoren über den administrativen Aufwand hinaus das Lernen allgemein beein-trächtigen. Vergleicht man diesen widersprüchlichen Befund mit Ergebnissen zu an-deren Kategorien, scheint diese Argumentation allerdings nicht haltbar: (1)  Für die Kategorie „Ausstattung/Ressourcen“ ist eine gegensätzliche Ausprägung beobachtbar: Die Nennungen dieser Kategorie sind in der off enen Befragung am stärksten ausge-prägt, während diese Aspekte in der geschlossenen Befragung eher selten als lern-hemmend eingeschätzt werden. (2)  Zudem wird die Kategorie „fehlende Disziplin“ bei beiden Fragetypen häufi g genannt. Demnach könnte durchaus auch die Kategorie „administrativer Aufwand“ in beiden Befragungstypen hohe Ausprägungen besit-zen. Vergleichsweise wenige Schulleitungen weisen aber bei den off enen Fragen dar-auf hin, dass während des Unterrichts durchzuführende administrative Aufgaben die Lernzeit mindern.

Als Teilaspekt aktueller Reformen, der die tägliche Arbeit von Schulen vereinfa-chen soll, wird die Erhöhung der Schulautonomie diskutiert (vgl. Altrichter/Rürup/Schuchart 2016). Auch wenn Schulleitungen als zentrale Akteure bei der Aus-gestaltung eines lernförderlichen Klimas gelten, so bleibt in Anbetracht der seitens der Schulleitung wahrgenommenen lernhemmenden Faktoren die Frage off en, inwie-weit diesen – selbst unter zunehmender schulischer Eigenverantwortung – auf Ebene der Einzelschule begegnet werden kann. Da primär externe Ursachen genannt wer-den, ist einzelschulischer Gestaltungsspielraum nur dann als geeignete Option zur Begegnung von Hemmfaktoren zu sehen, wenn Schulen über die hierfür nötigen Ressourcen verfügen und diese entsprechend einzusetzen wissen. Aufgrund der ex-ternalen Attribuierung muss zudem kritisch hinterfragt werden, ob die vorhandenen Informationen alleine eine geeignete Basis für Reformvorschläge darstellen.

Mit Blick auf die unterschiedliche Gewichtung von Hemmfaktoren in Bezug auf das Lernen im Allgemeinen und das Lernen in Mathematik off enbart sich eine weite-re Herausforderung für Schulen und Schulleitungen: teilweise konkurrierende Ziele (z.B. ein Angebot zur Berufsorientierung für die Schülerschaft vs. dafür notwendiger Entfall von regulären Unterrichtseinheiten) miteinander zu vereinen.

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

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Anschrift : Abteilung für Pädagogik und Pädagogische Psychologie, Altenberger Straße 69, 4040 Linz, Österreich

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R. Moosbrugger/C. Helm/D. Kemethofer/S. Bröderbauer/S. Luthe

430 DDS, 108. Jg., 4(2016) Weiterer Beitrag

David Kemethofer, Dr., geb. 1983, Researcher am Bundesinstitut für Bildungs-forschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens.E-Mail: d.kemethofer@bifi e.at

Sandra Bröderbauer, MA, geb. 1988, Researcher am Bundesinstitut für Bildungs-forschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens.E-Mail: s.broederbauer@bifi e.at

Susanne Luthe, Dipl.-Psych., geb. 1985, Researcher am Bundesinstitut für Bildungs-forschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens.E-Mail: s.luthe@bifi e.at

Anschrift : Alpenstraße 121, 5020 Salzburg, Österreich

Julia Claire Prieß-Buchheit

Testfolgen im BildungsbereichAktionen und Reaktionen im deutsch-amerikanischen Vergleich

In diesem Buch werden Testfolgen von Large Scale Assessments mit einem deontischen Cha- rakter untersucht, also Testfolgen, bei denen jemand aufgefordert wird, etwas zu tun. Sys-tematisch wird der Frage nachgegangen: Was geschieht nach dem Test? Vorgestellt wird die Studie „Testfolgen im Bildungsbereich“, die ei-nen neuen Zugriff auf das Phänomen der Test-folgen zeigt. In einem US-amerikanisch-deut-schen Vergleich werden die Umgangsweisen mit Tests und die sich an Test anschließenden Aktionen und Reaktionen durchleuchtet.

UNSERE BUCHEMPFEHLUNG

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431DDS, 108. Jg., 4(2016)Rezension

REZENSION / BOOK REVIEW

El-Mafaalani, Aladin/Kurtenbach, Sebastian/Strohmeier, Klaus Peter (Hrsg.) (2015): Auf die Adresse kommt es an … Weinheim/Basel: Juventa, 372 S., 39,95 €

Die räumliche Trennung von verschiede-nen Bevölkerungsgruppen ist ein wesent-liches Kennzeichen der Struktur unserer Städte. Insbesondere, wenn sich einkom-mensschwache Haushalte und ethni-sche Minderheiten konzentrieren, sehen Politik und Öff entlichkeit diese räumli-che Segregation als problematisch an (vgl. Farwick 2009; Häußermann 2012). Dieser Th ematik nehmen sich die Herausgeber des Sammelbandes an und eröff nen zu-gleich eine andere, nicht zu negativ be-haftete Perspektive auf residentielle Segregation: „Was kann auch gut sein an der Segregation? Was und wem nützt sie?“ (S. 11)

Der Sammelband ist in vier Abschnitte un-terteilt, in denen die Herausgeber viele von Segregation betroff ene Th emenbereiche aus unterschiedlichen Disziplinen zu-sammenführen, ohne Anspruch auf Voll-ständigkeit erheben zu können. Diese Mischung bietet den Leserinnen und Lesern einen guten Einblick in die Kom-plexität und Vielschichtigkeit der Th e-matik.

Im ersten Abschnitt widmen sich drei Beiträge der Klärung allgemeiner Fragen der soziologischen Stadtforschung in der Segregationsdebatte. Nach einer Einführung in den Segregationsbegriff ließe sich mit Friedrichs zusammenfas-

sen, dass bislang viel zu wenig empirisch belastbares Wissen über die möglichen Eff ekte sozialer Mischung vorliegt, um dem Problem städteplanerisch gerecht werden zu können. Um die Grenzen zwi-schen segregierten Stadtteilen und dem urbanen Umfeld aufzubrechen, müssten die städtebaulich, diskursiv, sozial, kul-turell und leiblich vorhandenen Grenzen überwunden werden. Hierzu wird statt destruktivem Kampf und Gleichgültigkeit konstruktiver Streit als Lösungsansatz an die Leser und Leserinnen herangetragen.

Der zweite Abschnitt umfasst Beiträge, die sich mit dem Gefährdungspotenzial von Segregation und potenziellen In-ter ventionsinstrumenten auseinander-setzen. Schwerpunkte der Diskussion stellen Kinderarmut, Delinquenz und Formen der Jugendhilfe dar. Während Groos und Kersting darauf verweisen, dass das Ausmaß von Kinderarmut vor allem in Großstädten ein besorgniserre-gendes Maß angenommen hat, scheint nach Baier und Prätor delinquentes Ver-halten von Jugendlichen kaum mit Segregation in Zusammenhang zu stehen. Für die Jugendhilfeplanung sieht Merchel noch starken Forschungs- und Hand-lungsbedarf.

Schule, soziale Netzwerke, Gangsta-Rap und das Raumparadoxon der Bil dung s-politik sind Gegenstand des dritten thema-tischen Abschnitts, in dem es darum geht, segregierte Gebiete als Chancenräume zu erkennen. Die Erkenntnisse der Beiträge lassen sich folgendermaßen zusammen-fassen: Schule wirkt als Sozialraum, der

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Rezension

432 DDS, 108. Jg., 4(2016) Rezension

in der Gesellschaft verortet ist und zu-gleich selbst eine verortende Funktion hat. In der Funktion als Machtraum spricht Schule bestimmte Milieus an und wehrt andere ab. Darüber hinaus übt ethnische und sozialökonomische Segregation ei-nen Einfl uss auf Bildungsangebote aus. In Bezug auf Bildungsaspiration wer-den vor allem der Familie und den Peerkontakten einfl ussreiche Rollen zu-geschrieben, die als „relevante Andere“ (S. 209) den Bildungsweg beeinfl ussen. Steigen Bildungsbenachteiligte dann zu Bildungsaufsteigerinnen und -aufstei-gern auf, wird durch das Raumparadoxon deutlich, dass Bildungsinvestitionen der sozialräumlichen Segregation nicht ent-gegenwirken können: Bildungsaufsteiger und -aufsteigerinnen aus benachteilig-ten Milieus verlassen das Quartier und an deren Stelle treten neue arme/ärme-re Bewohner und Bewohnerinnen in die Räume ein.

Dietrich präsentiert hier einen thematisch überraschenden Beitrag. Er zeigt, dass sich im Milieu des Gangsta-Raps alltagswelt-lich existente städtische Räume in medi-al inszenierten Räumen niederschlagen. Anhand einer exemplarischen Analyse des Songs „Meine Stadt Frankfurt“ der Gruppe Haft befehl macht er deutlich, wie Räume in sozial benachteiligten Milieus nach Außen dargestellt werden und da-bei nur von Personen präsentiert werden können, die diesen entstammen. Mit die-sem Beitrag wird Segregation aus einer bisher nicht berücksichtigten Perspektive behandelt, die verdeutlicht, wie weit sich Segregation auf Alltagspraxis auswirkt.

Im letzten Abschnitt werden Potenziale und Realität der ethnischen Segregation

definiert und hinterfragt. Zunächst scheint der Begriff von „guten Räumen“ und „guten Quartieren“ nicht ganz tref-fend, weil diese zum einen nicht defi -niert sind und zum anderen laut Bukow als Maßstab missbraucht und als Räume „gewissermaßen gegen den Rest der Welt ausgespielt werden“ (S. 270) können. Für Neuankömmlinge seien ethnisch homo-gene Quartiere hingegen von Vorteil, um Kontakte zu Menschen gleicher Ethnie zu knüpfen. Die Analyse famili-ärer Netzwerke von Migrantinnen und Migranten im Ruhrgebiet von Citlak und Schwegmann zeigt, dass soziale Netzwerke den Zugang zu sozialem Kapital auf per-soneller und struktureller Ebene ermög-lichen und als Folge Chancen- wie auch Verteilungsungleichheiten entstehen. Der Beitrag von Kurtenbach, der sowohl das Potenzial von Segregation als auch ihre Konsequenzen kritisch den aktuellen Praktiken der Städtebauförderung gegen-überstellt, weist darauf hin, dass auch die „Sockelgesellschaft “ gefördert werden soll-te, da sich bislang „integrationsfördernde gebietsbezogene Funktionen nicht wegen, sondern trotz wohlfahrtsstaatlicher und integrierter Interventionsprogramme“ (S.  326) entwickeln. Schließlich würde laut Yildiz eine „unverkrampft e, entdra-matisierende Sicht“ (S. 294) auf den ur-banen Kontext und die soziale Praxis die Debatte um den Segregationsdiskurs be-ruhigen. Nicht die soziale Praxis der Menschen mit Migrationshintergrund, sondern gesellschaft liche Zuschreibungen, politisches und planerisches Handeln de-fi nierten Migranten und Migrantinnen als problembehaft et. Mobilität in Form von Migration und Nichtsesshaft igkeit „stellt historisch gesehen den Normalfall dar“ (S. 302).

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Rezension

433DDS, 108. Jg., 4(2016)Rezension

Die Stärken dieses Bandes werden in dem Vorwort der Herausgeber deutlich, die alle Beiträge skizzieren und in Verbindung zueinander setzen. Ihre Forderung nach einer „Perspektiverweiterung“ (S.  11) wird durch die Vorstellung der einzel-nen Beiträge bereits hier deutlich. Die Herangehensweise, den Diskurs um eine positive Sicht auf Segregation zu erweitern, ist lohnenswert. Zugleich entsteht hier-durch die Gefahr, dass ein – im Grunde nicht wünschenswertes – Phänomen po-sitiv umgedeutet wird, weil es sich als schwer aufzubrechen erweist. Denn noch immer kommt es oft mals auf die Adresse an …

Der Sammelband eignet sich aufgrund sei-ner Vielschichtigkeit nicht zum Einstieg in die Thematik, auch wenn einzelne

Beiträge einführenden Charakter haben. Empfehlenswert ist er hingegen für alle, die sich an der Debatte um Segregation beteiligen. Er hilft, einer einseitigen Bewertung des Phänomens der räumli-chen Ungleichverteilung vorzubeugen.

Literatur und InternetquelleFarwick, A. (2009): Segregation. In: Eckard, F. (Hrsg.): Handbuch der Stadt-soziologie. Wiesbaden: Springer Fach-medien, S. 382-420.Häußermann, H. (2012): Segregation. URL: http://www.bpb.de/politik/grund fragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-so zialkunde/138640/segregation; Zugriff s-datum: 03.03.2015.

Nina Hogrebe/Anna Pomykaj, Münster

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Annelies Kreis, Jeannette Wick, Carmen Kosorok Labhart (Hrsg.)

Kooperation im Kontext schulischer HeterogenitätNetzwerke im Bildungsbereich, Band 9, 2016, 246 Seiten, br., 29,90 €, ISBN 978-3-8309-3521-6E-Book: 26,99 €, ISBN 978-3-8309-8521-1

Kooperative schulische Prozesse sind in den letzten Jahren zunehmend ins Blickfeld geraten, dies nicht nur in Bezug auf Schul- und Unter-

richtsentwicklung, sondern besonders auch in Zusammenhang mit der Umsetzung der Forderung nach Inklusion und Chancengerechtigkeit. So werden kooperative Prozesse als unumgänglich für eine professionelle und für das Lernen der Schülerinnen und Schüler wirksame Praxis er-achtet.

Der Band „Kooperation im Kontext schulischer Heterogenität“ greift zen-trale aktuelle Fragen bezüglich schulischer Kooperation insbesondere in Verbindung mit Inklusion auf. Aktuelle Forschungsarbeiten, Theorien und Modelle von Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum bieten Impulse für schulische Kooperation im Kontext der gestiegenen Komplexität und Diversität von Schule und Unterricht. Zudem werden Aspekte der Ausgestaltung von Praxis, kooperative Arbeit unterstützen-der Instrumente sowie der Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals dargestellt und reflektiert.

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UNSERE BUCHEMPFEHLUNG

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Kurt Edler

DEMOKRATISCHE RESILIENZ auf den Punkt gebracht

Kann sich schon bei einem Kind eine Widerstandsfähigkeit gegen Ra-

dikalisierung entwickeln? Diese Frage beantwortet Klaus Edler, langjäh-

riger Referatsleiter der Hamburger Lehrerbildung, vor dem Hintergrund

der Bedrohung von Menschenrechten und Demokratie. Er skizziert in

aller Kürze die vorpolitischen Formen der Beeinfl ussung und greift auf

seine langjährigen Erfahrungen in der Extremismusprävention zurück.

ISBN 978-3-95414-079-4 (Buch), 48 Seiten, ¤ 9,80ISBN 978-3-95414-080-0 (PDF), ¤ 9,80

Hans-Günter Rolff

SCHULLEITUNG auf den Punkt gebracht

Dieses Buch fasst kompakt zusammen, was wir über Aufgaben, Rollen-

profi l und Wirkung von Schulleitung wissen. Die Leitidee besteht darin,

analog der Quadratur des Kreises, nicht das Bild einer perfekten Schul-

leitung zu konstruieren, sondern Konzepte von guter und sogar sehr

guter Schulleitung darzustellen. Nicht das Unmögliche soll versucht

werden – aber ohne zu überfordern der Perfektion nahe zu kommen.

Gemäß der Erfahrung: „Keine gute Schule ohne gute Schulleitung“.

ISBN 978-3-95414-073-2 (Buch), 56 Seiten, ¤ 9,80ISBN 978-3-95414-074-9 (PDF), ¤ 9,80

auch alseBook

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Adolf-Damaschke-Str. 10, 65824 Schwalbach/Ts. Tel.: 06196/86065, Fax: 06196/86060

[email protected]

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UNSERE BUCHEMPFEHLUNG

Petra Stanat, Katrin Böhme, Stefan Schipolowski, Nicole Haag (Hrsg.)

IQB-Bildungstrend 2015Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich2016, 544 Seiten, br., 44,90 €, ISBN 978-3-8309-3535-3

 Im IQB-Bildungstrend 2015 wird über die Ergebnisse des zweiten Län-dervergleichs des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

(IQB) in den sprachlichen Fächern berichtet. Untersucht werden Kom- petenzen von Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe im Jahr 2015 in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch. Ein Fokus liegt dabei auf Trendanalysen, die zeigen, inwieweit sich das erreichte Kom- petenzniveau in den sprachlichen Fächern seit dem IQB-Ländervergleich 2009 verändert hat. Die Referenzgröße bilden die länderübergreifenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, die fächerspezifisch festlegen, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einem bestimmten Punkt in ihrer Schullaufbahn entwickelt haben sollen.

Neben der Untersuchung der sprachlichen Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Zuhören und Orthografie im Fach Deutsch sowie im Lese- und Hörverstehen in den fremdsprachlichen Fächern werden in diesem Bericht auch geschlechtsbezogene, soziale und zuwanderungsbezogene Disparitäten analysiert und ebenfalls überprüft, inwieweit hierfür seit dem Jahr 2009 Veränderungen festzustellen sind. Ergänzend werden Befunde zur Aus- und Fortbildung von Deutsch- und Englischlehrkräften berichtet.