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Die Editionsreihe der Berliner Festspiele erscheint bis zu

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Die Editionsreihe der Berliner Festspiele erscheint bis zu sechsmal jährlich und präsentiert Originaltexte und Kunstpositionen. Bislang erschienen:

Edition 1 Hanns Zischler, Großer Bahnhof (2012) Christiane Baumgartner, Nachtfahrt (2009)

Edition 2 Mark Z. Danielewski, Only Revolutions Journals (2002 – 2004) Jorinde Voigt, Symphonic Area (2009)

Edition 3 Marcel van Eeden, The Photographer (1945 – 1947), (2011 – 2012)

Edition 4 Mark Greif, Thoreau Trailer Park (2012) Christian Riis Ruggaber, Contemplatio I–VII: The Act of Noting and Recording (2009 – 2010)

Edition 5 David Foster Wallace, Kirche, nicht von Menschenhand erbaut (1999) Brigitte Waldach, Flashfiction (2012)

Edition 6 Peter Kurzeck, Angehalten die Zeit (2013) Hans Könings, Spaziergang im Wald (2012)

Edition 7 Botho Strauß, Kleists Traum vom Prinzen Homburg (1972) Yehudit Sasportas, SHICHECHA (2012)

Edition 8 Phil Collins, my heart’s in my hand, and my hand is pierced, and my hand’s in the bag, and the bag is shut, and my heart is caught (2013)

Edition 9 Strawalde, Nebengekritzle (2013)

Edition 10 David Lynch, The Factory Photographs (1986–2000) Georg Klein, Der Wanderer (2014)

Edition 11 Mark Lammert, Dimiter Gotscheff – Fünf Sitzungen / Five Sessions (2013)

Edition 12 Tobias Rüther, Bowierise (2014) Esther Friedman, No Idiot (1976–1979)

Edition 13 Michelangelo Antonioni, Zwei Telegramme (1983) Vuk D. Karadžić, Persona (2013)

Edition 14 Patrick Ness, Every Age I Ever Was (2014) Clemens Krauss, Metabolizing History (2011 – 2014)

Edition 15 Herta Müller, Pepita (2015)

Edition 16 Tacita Dean, Event for a Stage (2015)

Edition 17 Angélica Liddell, Via Lucis (2015)

Edition 18 Karl Ove Knausgård, Die Rückseite des Gesichts (2014) Thomas Wågström, Nackar / Necks (2014)

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Edition 30 Berliner Festspiele 2021

Robert Crumb Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick

Mit einem Nachwort von Thomas Oberender

Die Edition ist eine Publikation der Berliner Festspiele.

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Biografien

ROBERT CRUMB Robert Dennis Crumb, geboren 1943 in Philadelphia, ist Künstler, Musiker und herausragender Comic-Zeichner. Er erfand seit seiner Kindheit Bildergeschichten, hielt sich aber finanziell zunächst mit dem Zeichnen von Grußkarten über Wasser. In den 1960er Jahren begann er seine Arbeiten in verschiedenen Counterculture-Zeitschriften zu publizieren. Er war Mitbegründer von „Zap-Comix“, des ersten erfolgreichen Underground-Comic-Magazins. 1965 begann Crumb mit LSD zu experimentieren. Er schuf in dieser Phase einige seiner bekanntesten Comic- Charaktere wie Angelfood MacSpade, Mr. Natural und Snoid. Von 1980 bis 1993 gab er neben anderen Comic-Büchern und Zeitschriften das alternative Comic-Magazin „Weirdo“ heraus, in dem seine Comic-Story von Philip K. Dicks Erweckungs-erlebnis erschien. Crumbs vielfältige Arbeiten und Kollaborationen erschienen sowohl in Serien wie „Excerpts from R. Crumb‘s Dream Diary“, als Plattencover für verschiedene Bands sowie als satirische Zeichnungen für den New Yorker und im Mineshaft Magazine. 1993 entstand „Robert Crumb’s Kafka“, eine Einleitung in das Werk Kafkas als Comic. 2009 veröffentlichte Crumb

„The Book of Genesis“ als graphic novel. Crumbs Arbeiten für das Britische Magazin „Nasty Tales“ wurden 1972 auch im Gerichtssaal verhandelt. Seine oft explizit pornographischen Werke und seine rassistische und frauen-feindliche Stereotypen haben zu einer kontroversen Rezeption seiner Arbeiten geführt. Crumb selbst sieht sich als jemand, der die in der American Culture existierende Misogynie und den ameri kanischen Rassismus nur verdichtet in seinen Comics nachzeichnet.

PHILIP K. DICK Philip K. Dick ist bis heute einer der wichtigsten Schriftsteller des Science Fiction Genres und der amerikanischen Counterculture. Er wurde 1928 in Chicago gemeinsam mit einer Zwillings schwester geboren. Seine Schwester starb wenige Wochen später, geistert aber als Motiv des „phantom twin“ oder Doppelgängermotivs durch seine Romane. Aufgewachsen in Kalifornien und Washington veröffentlichte Dick seine ersten Kurzgeschichten in den 1950er Jahren, die meisten seiner bis heute nachwirkenden Texte sind ab Ende der 1960er Jahre entstanden. Er hatte bei der Kritik durchaus Erfolg, die von ihm entworfenen Mainstream- Romane jedoch, von denen er sich ein Ende seiner finanziellen Not erhoffte, wurden von seinem Verleger abgelehnt, so dass Dick lange Zeit bei kleineren, schlecht zahlenden Verlagen publizierte. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens trotz ungeheurer Produktivität kaum kommerziellen Erfolg. Erst nach seinem frühen Tod 1982 wurden mehrere seiner Texte zu Filmen adaptiert, von denen einige Meilensteine der Filmgeschichte bilden, so etwa „Blade Runner“, der nur vier Monate nach Dicks Ableben im Kino zu sehen war. Philip K. Dick war abwechselnd manischen Schreibperioden und Schreib blockaden unterworfen. Er konsumierte legale wie illegale Rausch mittel und litt zuweilen an Wahnvorstellungen, unternahm Flucht- und Suizidversuche sowie Entziehungskuren. Außerdem hatte er visionäre spirituelle Erlebnisse. Die Charaktere seiner über 40 veröffentlichten Romane und an die 120 Kurzgeschichten sind oft ebenso fragil. Die in seinen Texten vorkommenden Schizophrenen, Drogenabhängigen, alternierenden Realitäten, Maschinen-Menschen und bedrohten Welten, kontrolliert von technisch hochge rüsteten Regimen, artikulieren nicht nur Ängste vor der Zukunft, sondern auch Zweifel an einer von Dick als brüchig und irreal emp fundenen Gegenwart, deren wachsende Technisierung sich in seinen Texten spiegelt.

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Wenige Monate vor seinem Tod erzählte Philip Kindred Dick einer Freundin, der Journalistin Gwen Lee, in einem ihrer mittels Ton-bandaufzeichnungen festgehaltenen Gespräche, dass er seit über acht Jahren in Kontakt stehe mit einer Art von Intelligenz, die, wie der Schriftsteller sich ausdrückte, „mir jeden erdenklichen Beweis geliefert hat, dass sie Gott ist.“ Die initialen Begegnungen fanden im Februar und März des Jahres 1974 statt, und er sprach fortan von ihnen als den 2-3-74 Ereignissen. Die letzten Lebens-jahre des Schriftstellers waren von seinem Versuch geprägt, diese Begegnung mit Gott, oder dem, was er dafür hielt, zu verstehen. Seine damit ver bundenen Studien der Religions- und Philosophie-geschichte, der Mathematik und der alten Sprachen fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Interviews, Reden, in seiner letzten Romantrilogie „Valis“ und einem Konvolut essayistischer Texte und Fragmente unter dem Titel „Exegesis“, die zunächst als gesprächsweise Ausdeutung seines Gotteserlebnis mit seinem Freund, dem Science-Fiction-Autor Kevin W. Jeter, entstanden und posthum veröffentlicht wurden.

DREISSIG SEKUNDEN WIRKLICHKEIT

Zu Philip K. Dicks Epiphanie in Robert Crumbs Comic „Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick“

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Einerseits weckt Philip K. Dicks Epiphanie-Erlebnis Erinnerungen an die Visionen von Paulus, Buddha, Hildegard von Bingen, Luther, Blaise Pascal oder Beckett, doch der Schriftsteller fürchtete auch, einen paranoiden oder schizophrenen Schub erlebt zu haben. Der öffentliche Umgang mit Dicks Erlebnis bleibt bis heute mit Zweifeln und Fragen verbunden – waren sie vielleicht drogen-induziert oder schlicht Wahnvorstellungen? Er finanzierte seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie mit zumeist miserabel bezahlten literarischen Texten und war jahrelang gezwungen, seine Werke in kürzester Zeit „am Stück“ zu schreiben. Viele von Dicks später weltberühmten Büchern entstanden in hyperintensiven Arbeitsphasen von fünf bis zehn Tagen, innerhalb derer er kaum aß und schlief und sich mit Amphetaminen aufputschte, um bis zu achtundsechzig Seiten am Tag zu schreiben.

Als Philip K. Dick 1982 starb, hinterließ er um die hundertzwanzig Kurzgeschichten und mehr als vierzig Romane. Viele von ihnen sind heute durch ihre Verfilmung zu Klassikern des Sci-Fi-Genres geworden und inspirieren noch immer ganze Industrien, allen voran Werke wie „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?” („Blade Runner”), „The Man in the High Castle”, „Total Recall”, „Paycheck”, „Minority Report” oder „A Scanner Darkly”, ebenso wirken auch Ideen des Schriftstellers nach, wie z.B. die Vorstellung von Tachyons genannten Partikeln, die sich in der Zeit rückwärts bewegen könnten und, so eine der Phantasien von Dick, von der Sowjetunion einst benützt würden, um auf die Vergangenheit mit wissenschaftlichen Informa tionen aus der Zukunft einzuwirken – eine Idee, die vielleicht auch Christopher Nolans Film „Tenet” (2020) beflügelt hat. Trotz seiner sich in den letzten acht Lebensjahren immer wieder ereignenden Visionen wurde Philip K. Dick nicht zum Kirchgänger, sondern integrierte die von ihm „geschauten“ Informationen in literarische Texte und mehr als zehntausend Seiten Notizen. In ihrem Zentrum steht gegen Dicks Lebensende die Überzeugung, dass eine extraterrestrische Lebensform auf der Erde existiert, die keinerlei Ähnlichkeit mit Menschen, sondern Insekten hat, mit Käfern oder einer Gottes anbeterin. Sie hätten keine Sprache und dächten in Farben und Mathematik. Seit dreitausend Jahren würden sie uns durch religiöse Praktiken auf die Begegnung mit ihnen vorbereiten, da sie davon ausgingen, dass ihr Aussehen

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für uns befremdlich wirken müsse. Sie hielten die Menschen, so Philip K. Dick, aufgrund ihrer Fähigkeit zu musizieren genau wie sich selbst für spirituelle Wesen, gleichwohl sie sich auf einer höheren Entwicklungsstufe befänden. Die von Dick beschriebenen Begegnungen mit einer anderen Lebensform klingen verstörend oder wie eine große Erzählung, die er sich zu schreiben anschickt. Zugleich besaß Philip K. Dick die kreativen und abstrakt-logischen Fähigkeiten hochbegabter Denker wie Ada Lovelace oder Alain Turing und schaute durch einen Vorhang, den die meisten Menschen nicht öffnen können.

„Was“, so der Titel der Sammlung seiner letzten Interviews, „wenn unsere Welt ihr Himmel ist?“ Wenn man Dicks letzte Gespräche liest, zeigen sie ihn als einen Menschen, der im Hinblick auf die eigene Person mit Distanz und Humor spricht. Er vergleicht Drogen mit dem Knusperhäuschen aus Hänsel und Gretel. Sie schmeckten, sagt er, köstlich und wenn man sie entdeckt hat, möchte man kräftig zulangen, aber im Handumdrehen sei man drin in diesem Häuschen und werde in den Ofen geschoben. Philip K. Dick kannte dieses Häuschen von innen und außen und so ist nicht anzunehmen, dass seine über Jahre anhaltenden Visionen, die auch ein anderes Zeitkonzept und die Verbindung zu anderen Sprach- und Wissensformen umfassen, unmittelbar auf Drogen-konsum oder Psychosen zurückzuführen sind. Philip K. Dicks ontologischer Zweifel und Erkenntnisdrang waren die zentralen Motive seines Schreibens – die Suche nach der wirklichen Natur der Realität trieb ihn über vierzig Arbeitsjahre um. Viele seiner Helden sind Personen mit falschen Erinnerungen, sind nicht, was sie von sich selbst glauben zu sein, ebensowenig wie die Welt, die sie umgibt. Die Grundlage seiner Romane, sagte Dick in einem Gespräch mit seinem Übersetzer Uwe Anton und dem Sci-Fi-Experten Werner Fuchs 1977, bestünde „aus einer in sozialer Realität verkörperten Idee, in der manche Charaktere Opfer und manche die Machthaber des Systems darstellen, und immer sind die Herren manipuliert. Sie glauben an das System, weil es ihnen Privilegien einräumt. Daher haben sie auch keine Wahrheit verdient.“ Der amerikanische Comic-Künstler und Musiker Robert Crumb hat Dicks Begegnung mit Gott, oder dem, was er dafür hielt, 1986 in

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einer Bildgeschichte umgesetzt, die veröffentlicht wurde, als „Blade Runner“ nach anfänglichem Misserfolg an der Kinokasse langsam zum Kult wurde. Für den Cartoonisten, der mit seiner Zeitschriften serie „Weirdo“ eine Ikone der Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre war, muss Philip K. Dicks detailliert beschriebene Erleuchtung weitaus phantastischer gewirkt haben als dessen phantastische Literatur selbst. Über seine 2-3-74 Visionen berichtete Philip K. Dick 1977: „In den letzten dreieinhalb Jahren bin ich aus Gründen, die ich nicht kenne, zu einem Wahrnehmungsdurchbruch gelangt, der – wie ich meine – mir die wirkliche Welt zeigt, in einem Sinne, wie Platon die wirk liche von der nur augenscheinlichen Welt unterschieden hat. Ich weiß nicht, wie mir dieser phantastische Durchbruch gelungen ist, was ihn ver ursacht hat, doch seither habe ich nichts anderes getan als zu versuchen, eine kohärente Erklärung für das, was ich gesehen habe, zu entwickeln. Man kann es am besten mit einem Modell erklären: Wir sitzen im Theater bei einer Premiere. Aus irgendeinem Grund – aus welchem, spielt keine Rolle – sind wir alle so naiv zu glauben, die Aufführung sei kein Spiel, sondern Wirklichkeit. Zwei Akte lang sitzen wir da und glauben, die Schauspieler seien die Charaktere, die sie darstellen. Sagen wir, wir wohnen einem Stück über die Ermordung Abraham Lincolns bei, und glauben, ein Schauspieler mit Bart sei Lincoln, und ein anderer John Booth. Wir sitzen da und schauen zu und glauben, alles ist wahr. Und plötzlich fällt die ganze Kulisse um; wir sehen die Leute hinter der Bühne, den Regisseur, den Requisiteur, Schauspieler, die sich ihre Kostüme erst halbwegs angelegt haben und noch ihren Text lernen. Die Scheinwerfer und die Haltevorrichtung des Vorhangs. Für dreißig Sekunden sehen wir es, und sechzehnhundert Leute springen von den Sitzen hoch. Die Bühnenleute hoffen, dass alle Zuschauer geschlafen haben, doch diese dreißig Sekunden haben die Wirklichkeit enthüllt. So etwas ist mir in Bezug auf die wahre Welt zugestoßen. Drei-einhalb Tage lang wurde die Szenerie durchschaubar und enthüllte mir die dahinterliegende Wirklichkeit. Doch sie unterschied sich von der augenscheinlichen so sehr, dass die Sprache nicht aus-reicht, sie zu beschreiben. Ich kann nicht einfach sagen: »X, Y, Z«

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und ein paar semantische Assoziationen hinzufügen. Ich habe 300 000 Worte an Notizen verfasst und umfangreiche Nach-forschungen betrieben, denn das muss wohl noch jemandem passiert sein. Ich kann nicht der einzige in der gesamten Geschichte der Menschheit sein (lacht), der die Welt so gesehen hat, wie sie wirklich ist. Ich entdeckte, dass Alotinus, der Neoplatoniker, dieses Erlebnis auch hatte, wie auch einige Sufi und einige der christlichen Mystiker, wie Origenes. Und Hans Driesch, der deutsche Philosoph, und Bergson. Ich fand Andeutungen davon in Indien, in der Hindu- Religion, im Brahmaismus. Emerson und Wordsworth scheinen diese Erfahrungen gemacht zu haben. Es ist ein wenig so wie bei Platon. Deshalb habe ich das Ereignis auch wie eine Theater-aufführung beschrieben. Man kann es mit Platons Beschreibung von den Bildern auf der Höhlenwand vergleichen. Das Erlebnis ähnelt wirklich eher einer kleinen Aufführung als einem Film. In den dreieinhalb Jahren, in denen ich darüber Nachforschungen angestellt und nachgedacht habe, wurde mir nur klar, dass es etwas mit der Zeit zu tun hat. Wie ich es verstehe – niemand wird es je völlig verstehen –, ist die Zeit eine Illusion. Unsere Wahr-nehmung von ihr ist unangemessen. Es gibt andere Möglichkeiten sie wahrzunehmen, als nur jene, mit der wir das gewöhnlich tun, genauso wie es andere Arten der Zeit geben mag. Die Rede, die ich morgen halten werde, beschäftigt sich mit einer speziellen Form der Zeit. Was nicht meine Erfindung ist; es geht darum, dass wir uns im rechten Winkel durch die lineare Zeit bewegen. Doch meine Erfahrungen bestätigen, dass es einen Zeit-fluss gibt – innerhalb der linearen Zeit –, der sich entgegengesetzt oder in einem Winkel zum normalen Zeitstrom bewegt. Dieser Strom erzeugt um uns herum Umwandlungen. Doch das im meta-physischen Sinne Interessante daran ist, dass diese Umwandlungen für uns nicht wahrnehmbar sind, denn sobald sie auftreten, glauben wir, es hätte sich schon immer gegeben. Nehmen wir z. B. diesen Fernseher dort: Im linearen Zeitstrom wissen wir, dass der irgendwann einmal dorthin gebracht worden ist, doch in dem anderen Zeitfluss glauben wir, er sei schon immer dort gewesen, weil er nun hier steht. Wir erinnern uns nicht mehr daran, wie er entstanden ist, denn das Existentwerden ist in der linearen Zeit der

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Fluss von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft. In jenem anderen Zeitstrom findet jedoch die gesamte lineare Zeit gleichzeitig statt, haben also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine Beziehung, keine Auswirkungen aufeinander. In diesem Falle sind wir zu dieser Dreiteilung nicht mehr fähig. Von der Vergangenheit besitzen wir nur innere Hinweise wie Erinnerungen und äußere Hinweise wie geologische Formationen. Doch das sind nur sekundäre Hinweise, und sie beweisen nichts.“ Philip K. Dick fühlte sich von der Polizei verfolgt, weil er langes Haar trug, Dope rauchte, Rockmusik hörte und mit jungen Leuten in einem Haus wohnte, die das Gleiche machten. Vielleicht ist die 2-3-74 Episode – und alles, was ihr an Eingebungen folgte – nicht das, wofür es Philip K. Dick selbst sie hielt, aber diese Epiphanien zählen zu den am besten dokumentierten und öffentlich reflektierten Revelations-Erfahrungen des Abendlandes und sind Teil der Arbeitsgeschichte eines der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Robert Crumb hat interes-santerweise keinen literarischen Text von Dick illustriert, sondern diese Epiphanie-Episode aus dessen Leben. Crumbs stilistisch zwischen Doku und Halluzination changierendes Comic erzählt Dicks Erlebnis mit der Präzision eines Detektivs, der die Details in stringente Zusammenhänge bringt und die Wucht der Visionen in leuchtende Zeichnungen übersetzt, in Bilder des Staunens und dramatischer Kontraste. Es ist, als sei auch für den Zeichner eine Welt nicht genug. Für alle, die mit Philip K. Dicks Texten etwas vertraut sind, vermittelt Crumbs Comic eine sehr persön liche Seite im Schaffen dieses Autors, die es nahelegt, die in sozialer Realität inkorporierte Idee seiner Werke von jenem Punkt aus zu betrachten. Thomas Oberender

Der Autor ist seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele.

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Das Zitat von Philip K. Dick stammt aus einem Interview, das Uwe Anton und Werner Fuchs mit ihm geführt und in dem Buch „Kosmische Puppen und andere Lebensformen“ (1986, Heyne Verlag) veröffentlicht haben. Die erwähnten

„Letzte Gespräche“ wurden von Gwen Lee und Doris Elaine Sauter herausgegeben und erschienen 2006 in der Edition Phantasia. Die deutsche Erstausgabe der

„Valis Trilogie“ erschien 1992 im Pabel-Moewig Verlag. Auszüge aus Philip K. Dicks „Exegesis“ erschienen erstmals 1995 in dem von Lawrence Sutin herausgegebenen Sammelband „The shifting realities of Philip K. Dick. Selected Literary and philosophical writings“ (Vintage Book / Random House). Der Comic „Die Erleuch-tung des Philip K. Dick“ erschien 1986 in dem von Robert Crumb gegründeten Magazin „Weirdo“ in der Ausgabe Nr. 17.

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Impressum

Herausgeber: Berliner Festspiele, ein Geschäftsbereich der KBB

Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien

Intendant: Dr. Thomas Oberender Kaufmännische Geschäftsführung: Charlotte Sieben Kontakt: Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin, T +49 30 25489-0 berlinerfestspiele.de, [email protected] Redaktion: Tania Hron, Jeroen Versteele Grafik: Christine Berkenhoff, Berliner Festspiele,

nach einem Entwurf von Studio CRR, Christian Riis Ruggaber, Zürich Druck: Elbe Druckerei Wittenberg GmbH Papier: Focus Art Natural naturweiß 135 g/m² / Graukarton 300 g/m² Schrift: LL Brown Regular 1. Auflage: 2500, Februar 2021

© 2021. Berliner Festspiele, die Künstler*innen und Autor*innen. Alle Rechte vorbehalten. Abdruck (auch auszugsweise) nur mit Genehmigung der Herausgeber*innen, Künstler*innen und Autor*innen.

Bildnachweis:

"The Religious Experience of Philip K. Dick" Copyright © Robert Crumb, 1986 Reprinted by permission of the author. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt | Handlettering von Michael Hau

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Edition 19 Jens Ullrich, Refugees In A State Apartment (2015)

Edition 20 Tankred Dorst, Die Bilder an meiner Wand (2015)

Edition 21 John Berger, Ein Selbstportrait (2016)

Edition 22 Isa Genzken, Skizzen für einen Spielfilm ( 1993 )

Edition 23 Will Alexander, CAConrad, Monika Rinck, Lisa Robertson, HERE! HERE! THERE! (2016)

Edition 24 Arnon Grünberg, Zerlegt! (2016) Anton Henning, Some Day My Prince Will Come (1997)

Edition 25 Taiye Selasi, Afrikanische Literatur gibt es nicht (2013) Matana Roberts, Coin Coin (2011–15)

Edition 26 Rebecca Saunders & Ed Atkins, Opening a Possible Wound (2017) Ed Atkins, Stills from “Old Food” (2017)

Edition 27 Milo Rau & Fabian Hinrichs & Benny Claessens, Drei Reden (2018) Andro Wekua, Works (2006–2014)

Edition 28 Naika Foroutan & Thomas Krüger & Thomas Oberender HEIMAT ist nicht immer die Antwort. Was haben Migrant*innen und Ostdeutsche gemeinsam? (2019) Mit Photographien des verschwundenen Palasts der Republik (1976–1990) und seines Remakes als Kunstaktion im Haus der Berliner Festspiele 2019.

Edition 29 Das Gewicht der Stimmen: Wie die Bürgerbewegungen 1990 einen Verfassungsentwurf und neue Öffentlichkeiten schufen Ein Gespräch zwischen Klaus Wolfram, Elske Rosenfeld und Jan Wenzel (2020)

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Hg.

Berliner Festspiele

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