17
Philosophie Die Stärkung der menschlichen Würde Literatur Das Schicksal der Patienten Gesellschaft Sind wir vor Rassismus gefeit? die font ne zeitschrift für kultur, wissenschaft und dialog .. Januar-Februar-März 2013 fontaene.de Eine der Qualitäten, die uns zu Menschen machen, ist die Freiheit; oder anders ausgedrückt: Wir besitzen die Fähigkeit zu entscheiden, was wir tun. Wir verfügen über einen aktiven Verstand. Wir sind ‚autonom‘. Deutschland 4,60 € Österreich 4,90 € Schweiz CHF 5,80 NR.59 zeitschrift für kultur, wissenschaft und dialog

Die Fontäne Magazin 01 2013

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Die Fontäne Ihre Zeitschrift für Kultur Wissenschaft und Dialog

Citation preview

Page 1: Die Fontäne Magazin 01 2013

Philosophie

Die Stärkung der menschlichen Würde

Literatur

Das Schicksal der Patienten

Gesellschaft

Sind wir vor Rassismus gefeit?

diefont ne

zeitschrift für kultur, wissenschaft und dialog

..Januar-Februar-März 2013

fontaene.de

Eine der Qualitäten, die uns zu Menschen machen, ist die Freiheit; oder anders ausgedrückt:

Wir besitzen die Fähigkeit zu entscheiden, was wir tun. Wir verfügen über einen aktiven Verstand.

Wir sind ‚autonom‘.

Deutschland

4,60 €Ö

sterreich 4,90 € Schw

eiz CHF 5,80

NR.59

z e i t schr i f t f ü r ku l t u r , w i s s e n s c h a f t u n d d i a log

Page 2: Die Fontäne Magazin 01 2013

Nr.59 Januar - März 2013 www.fontaene.de

Liebe Leserinnen und Leser,

Das Schicksal der Patienten

Nachbarschaft

der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ gilt als das höchste Prinzip der deutschen sowie vieler europäischer Verfas-sungen. Diese Würde hat ihre Wurzeln nicht nur in der griechisch-

europäischen Philosophie, sondern auch im christlich-jüdischen sowie im islamischen Glauben. Normen speisen sich aus dem Glauben und aus Überzeugungen. Einige Verfassungsrechtler sind der Ansicht, dass das Adjektiv ‚unantastbar‘ in der Verfassung als säkulares Synonym für ‚heilig‘ verwendet wird. Mit dem Leitartikel dieser Ausgabe der Fontäne erklimmen wir den Gipfel der menschlichen Würde. Darüber hinaus wird hier einer der ärgsten Feinde der menschlichen Würde - nämlich der Ras-sismus - in seinen verschiedenen Ausdrucksformen angesprochen.

Die Nachbarschaftskultur, die nicht nur auf die häusliche Ebene redu-ziert werden sollte, ist ein wichtiger Bestandteil der Völkerverständi-gung. Ihr ist ebenfalls ein Artikel gewidmet, dessen Inhalt unsere Lese-rinnen und Leser vielleicht dazu anregen wird, einige gute Vorsätze für das neue Jahr umzusetzen.

In unserer Sparte „Momente der Besinnung“ erwartet Sie eine spannen-de Geschichte, die eine schwer erfassbare seelische Krankheit themati-siert, welche noch nicht in den Krankheitskatalogen aufgelistet ist. Diese Krankheit gilt es kontinuierlich mit friedlichen Mitteln zu bekämpfen, weil sie einem menschenwürdigen Leben entgegensteht.

Wie sehr wir unsere eigene Generation und die nachkommenden Gene-rationen achten und respektieren, spiegelt sich in unserem Umweltbe-wusstsein wider und als Konsequenz daraus in unserem umweltbewus-sten Handeln. Dieses Bewusstsein wird in dem Artikel Umweltbewusst-sein im Islam aus religiös-historischer Perspektive gestärkt.

Ein Perspektivenwechsel tut oft gut, so auch im Bereich der körperli-chen Krankheiten. Wie das funktionieren kann, verrät Ihnen der Beitrag Krankheit – Freund oder Feind. Dort werden das Wesen des Krankseins und die Position des Kranken analysiert. Eine Verschiebung des zurzeit vorherrschenden Blickwinkels könnte durchaus mehr Lebensqualität bringen.

Wie sieht ein perfektes Gedicht aus? Unser Gedichtwettbewerb hat drei Gewinner hervorgebracht. Aber auch wir als Zeitschrift haben gewonnen: Wir haben nicht nur verborgene Ta-lente entdecken können, sondern auch gleich mehrere Antworten auf diese Frage erhalten.

Unsere Autoren sind überwiegend im deutschsprachigen Kulturraum zu Hause. Wir hoffen, dass Ihnen das in dieser Ausgabe noch stärker auffal-len wird als in der Vergangenheit.

Abschließend wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein wür-diges und friedvolles Jahr 2013.

Ihr Fontäne Team

EDITORIAL

Page 3: Die Fontäne Magazin 01 2013

4Leitartikel

M. Fethullah Gülen

Numan Sarrac

Die vergessene

Philosophie15Philosophiegeschichte

Erdogan Karakaya

38Ethik

Kultur und Gesellschaft

Wissenschaft

Literatur

Leitartikel Philosophie Die Stärkung der menschlichen Würde Fethullah Gülen

Gesellschaft Sind wir vor Rassismus gefeit? Safak Öztürk

Philosophiegeschichte Die vergessene Geschichte der Philosophie Numan Sarrac

Sufismus Ghayba (Geistige Abwesenheit) Fethullah Gülen

GesellschaftNachbarschaft - ein Segen für die Gesellschaft? Yusuf Göker

Ethik Krankheit - Freund oder Feind?Erdogan Karakaya

Umwelt Umweltbewusstsein im Islam Nisa Nur Terzi

Biologie Hallo Markus, ich bin›s, deine Leber Irfan Yilmaz

Biologie Süßer als Zucker, schwarz wie die Nacht, heilsam wie MedizinSümeyra Dural Covakci

Wissenschaft Neues aus Wissenschaft und Forschung

LiteraturGoethe und der Koran Samet Er

LyrikDas perfekte Gedicht Meryem Akgün

Momente der Besinnung Das Schicksal der PatientenAyse Simsek

15

4

11

7

27

30

18

41

Samet Er

Koran18Literatur

48

INHALT

38

24

34

42

Page 4: Die Fontäne Magazin 01 2013

!"#$%&'()*+,$-#($.#+/012"01#+$34(-#

Deine Essenz ist erhabener noch als die der Engel.Verborgen in dir liegen Sphären und verdichtete Welten.

Mehmed Akif

Zentraler Gegenstand jeder philosophischen und wissen-schaftlichen Betrachtung ist

der Mensch. Keine Philosophie und auch keine Wissenschaft kommt ohne Bezug zum Menschen aus. Die physischen und die metaphy-sischen Aspekte des Menschen sind Dreh- und Angelpunkt aller Wissenschaften, und die Sinnhaf-tigkeit von Forschungen lässt sich danach bemessen, ob sie der Wür-de des Menschen zugutekommen.

In unterschiedlichen Disziplinen und in Büchern, deren Zahl stetig steigt, widmen sich die Wissen-

schaften der Entschlüsselung der menschlichen Qualitäten; sie lie-fern uns neue Erkenntnisse und machen sie allgemein zugänglich.

Gestalt und Funktion des mensch-lichen Körpers sind so perfekt auf-einander abgestimmt, dass sie ein vollendetes, ideales Gefüge bilden. Egal welches Organ man studiert, man wird kaum umhin kommen, seiner Anatomie Bewunderung zu zollen.

Die Tiefe der inneren Welt des Men-schen wiederum verfügt über ein so reiches Entwicklungspotential, dass ganz neue Dimensionen aus

ihr hervorgehen können. Zu ihr ge-hören ein komplexes Gehirn und ein Geist, dessen Essenz schwer fassbar und mit materiellen Maß-stäben nicht messbar ist. Diese beiden Phänomene harmonieren vortrefflich miteinander - das Phy-sische und das Spirituelle: geheim-nisvolle Einheiten, deren Bedeu-tungen sich aus den wechselnden Schattierungen der Krone dieses großartigen Kunstwerkes, des Men-schen und seiner Würde, heraus-kristallisieren.

Doch wollen wir uns hier weder mit der wunderbaren physischen Di-

Fethullah Gülen

LEITARTIKEL

4 JANUAR - MÄRZ 2013

Page 5: Die Fontäne Magazin 01 2013

In seinem zweiten Diskurs zur Gesellschaftskritik verkündet der französische Schriftsteller,

Philosoph, Pädagoge, Naturfor-scher und Komponist Jean J. Rous-seau (1712-1778), dass wir „durch den Anschein des Wirklichen ge-täuscht werden. Von Klatsch bis zur Schminke, von Streitschrift bis zu Tischgesprächen, von all dem wir denken, dass sie uns unterhal-ten und fördern, werden wir eigent-lich gelangweilt, belogen und von der Wirklichkeit abgelenkt.“

Zwar war auch Rousseau zu sei-ner Zeit mit Leid, Hungersnöten und Krieg konfrontiert und durch-schaute sehr wohl, dass die Men-schen durch viele Faktoren von

der Wirklichkeit bzw. von den Gründen des Leidens abgelenkt werden. Doch muss hervorgehoben werden, dass er das ‚industriali-sierte‘ Morden des Holocaust nicht kannte. Seit Rousseau haben sich die gesellschaftlichen Bedingun-gen enorm verändert. Im Zeitalter der Industrialisierung stellte sich heraus, dass die industrialisierte Kriegsführung mehr Menschenle-ben kostete als alle Kriege zusam-men, die zuvor in der Menschheits-geschichte geführt worden waren. Nicht nur die Mobilität und der Informationsaustausch hatten sich beschleunigt, auch das Töten wur-de so einfach wie nie. Was sich im Zuge dieser enormen Veränderung aber nicht verändert hatte, war die

menschliche Natur und die Bezie-hung und Abhängigkeit des Men-schen zu bzw. von der Gesellschaft.

In der Fortsetzung seiner Kulturkri-tik - verstehen wir sie auch als Zi-vilisationskritik - betont Rousseau, dass der Mensch ein Sklave der mo-dernen Gesellschaft sei, wenn auch ein glücklicher Sklave. Er sei frei geboren, dennoch liege er überall in Ketten. Die zivilisierte Gesell-schaft bringe den Menschen durch Wissenschaften, Schrifttum und Kunst in Abhängigkeit und hinde-re ihn gleichzeitig daran, diesen Selbstbetrug bzw. diese Wahrheit zu realisieren. Anschließend zielt seine Kritik auf die Eigendynamik von Wissenschaft und Zerstreuung,

!"#$%&"'%()'%*+,,",-.,%/010"23

11JANUAR - MÄRZ 2013

Safak Öztürk

GESELLSCHAFT

Page 6: Die Fontäne Magazin 01 2013

Batu saß am Esstisch und wartete. Während das Essen bereits auf dem Herd kochte,

schmierte sich Mikail, sein kleiner 2 Jahre alter Bruder, auf seinem Stuhl die Schüssel mit Joghurt ins Gesicht. Die Mutter rief nach Opa. Dieser jedoch suchte noch seine Zahnprothese für das Abendessen. Vater hatte sich soeben die Hände gewaschen und setzte sich nun an den Tisch. Mitten in all diesem Durcheinander saß Batu ruhig auf seinem Platz und dachte nach. Das Warten auf die Älteren vor dem Es-sen war ein Symbol der Wertschät-zung, und er nutzte diese Zeit oft zum Nachdenken. Noch nie hatte Batu erlebt, dass Vater vor Opa an-gefangen hatte zu essen, und das, obwohl Opa eigentlich jedes Mal seine Zahnprothese suchte und die Familie so manchmal bis zu zehn Minuten warten ließ. Einmal hatte die ganze Familie Opa bei der Suche geholfen, und Mutter hatte später gemeckert, weil das Essen kalt geworden war.

Heute war es der Philosophieunter-richt in der Schule, der Batu nicht aus dem Kopf ging. In seiner Schule konnte man in der neunten Klasse Philosophie wählen, und das hatte er, genau wie viele seiner Freunde, gern getan. Allerdings war ihm nach einer Zeit aufgefallen, dass die Philosophen allesamt Europäer

waren. Sie hießen Sokrates, Pla-ton, Aristoteles, Descartes, Hume, Hegel oder Kant. Warum gab es denn keine morgenländischen Phi-losophen? Hatten sich denn seine Vorfahren nie mit so elementaren philosophischen Fragen auseinan-dergesetzt?

Opa war nun endlich da. Während Mutter sehr behutsam die brühend heiße Suppe verteilte, beschloss Batu, seinen Vater zu fragen. Vi-elleicht konnte er ihm ja weiter-helfen.

„Vater…“ setzte Batu vorsichtig an.

„Ja, Batu?“, antwortete der Vater, ohne von seiner Suppe aufzus-chauen.

„Da gibt es eine Sache, die will mir nicht aus dem Kopf gehen.“

Der Vater konzentrierte sich immer noch ganz auf seine Suppe: „Und die wäre?“

„Ich habe ja nun seit einem Jahr Philosophie in der Schule, aber wir besprechen ausschließlich Schrift-en von abendländischen Philoso-phen, keinen Philosophen aus dem Morgenland. Und nicht nur in un-serem Schulbuch, auch in anderen wichtigen Werken zur Philosophie habe ich nichts gefunden. Hat das Abendland denn das Denken er-funden? Warum haben wir denn

!"#$%#&'#((#)#$$*#(+,"+,-#$.#&$/,"01(12,"#

15JANUAR - MÄRZ 2013

Numan Sarrac

PHILOSOPHIEGESCHICHTE

Page 7: Die Fontäne Magazin 01 2013

Aus muslimischer wie auch aus nichtmuslimischer Per-spektive wurde schon un-

zählige Male versucht zu ergründen, ob Goethe Muslim war oder nicht. Da man keinen Konsens erzielen konnte, werden diese Diskussio-nen vermutlich auch in nächster Zeit kaum abebben. Im folgenden Beitrag soll es deshalb nicht darum gehen, welcher Religion Goethe zugehörte, sondern um die Frage, welchen Stellenwert der Koran bzw. der Islam für Goethe besaß. Dabei möchte ich mich auf die Spu-ren des Brückenbauers Goethe be-geben und den Okzident und den Orient - wie Goethe so schön sagt - einander näherbringen.

Es ist mittlerweile bekannt, dass es zwei Phasen gab, in denen Goe-the den Koran intensiv studierte, nämlich einmal im Zeitraum von 1771 bis 1772 und dann wieder von 1814 bis zu seinem Tod. Goethes Beziehung zum Islam gehört zu den bemerkenswertesten Phäno-menen der deutschen Literaturge-schichte. Auch wenn sie jahrzehn-telang nicht erforscht wurde, weiß man heute, dass der Islam im Le-ben Goethes eine besondere Rolle spielte. In seinen Gedichten ist die Inspiration durch den Koran deut-lich spürbar.

Natürlich stellt sich die Frage, wes-halb sich Goethe so intensiv mit dem Islam und dem Koran befas-ste. Warum hatten so bedeuten-de Persönlichkeiten wie Schiller,

Kant, Lessing, Herder, Rückerts und Goethe Interesse am Islam, ob-wohl dieser doch von vielen Seiten diffamiert wurde? Quellen verbür-gen, dass der Islam ab dem 7. Jahr-hundert zur ‚Hassreligion‘ wurde. Zahlreiche angesehene Persön-lichkeiten, unter anderem christ-liche Geistliche, verunglimpften den Islam in ihren Werken als eine fremde, beängstigende Religion. Diese negative Propaganda hin-derte Herder, Goethe und andere kritische Geister aber nicht daran, sich mit dieser Religion ausein-anderzusetzen. Nimmt man Goe-thes Koranstudien näher unter die Lupe, so stellt sich heraus, dass Goethe prägnante Auszüge aus dem Koran, die ihn faszinierten und begeisterten, notierte. Dazu werden wir später noch kommen. Zunächst jedoch zum historischen Aspekt der Beschäftigung Goethes mit dem Islam und insbesondere mit dem Koran.

Historischer AspektNach der französischen Revoluti-on, die ein Produkt der Aufklärung war, eröffneten sich den Menschen ganz neue Möglichkeiten. Neuar-tige Religionen tauchten auf, aber auch Bibelkritiker mischten sich unters Volk, die es wagten, die christliche Religion offen zu kri-tisieren. Parallel dazu begannen viele, sich auch für andere Gesell-

schaften und ihre Religionen zu interessieren. Zum Beispiel für den Islam, eine fremde Religion, die in der Öffentlichkeit als Feind darge-stellt wurde. Die Muslime galten als Heiden und der Islam als häretisch. Hauptgrund dafür war der bittere Nachgeschmack der ‚Türken-Krie-ge‘ gegen das Osmanische Reich, das im Mittelalter mit seinen Er-oberungen bis Wien die christliche Welt in Angst und Schrecken ver-setzt hatte.

Der Islam diente als Feindbild, doch von vielen wurde er auch geschätzt und weiterempfohlen, beispielswei-se von Herder, wie wir noch sehen werden. Einige Schriftsteller wie Schiller, Kant oder auch Lessing setzten sich durchaus konstruktiv mit dem Islam auseinander.

Auch Goethe gehörte dieser Gruppe an. Hinter seinem Interesse steckte jedoch „mehr als das Toleranz-bestreben der Aufklärungsbewe-gung.“1 1814 standen muslimische Baschkiren aus der russischen Ar-mee des Zaren der Weimarer Armee im Krieg gegen Napoleon zur Seite. Zu jener Zeit kamen die Deutschen zum ersten Mal mit der Koranrezi-tation und dem Freitagsgebet in Be-rührung. Überlieferungen zufolge liehen sich damals viele Deutsche, vor allem Frauen2 aus der Weimari-schen Bibliothek den Koran aus.

!"#$%#&'()&)#*&+"*,(

!"#$%#&'()*&$)#+'')*&',"-.*&$/0)/1'2#-3)#4'5/*67%&$'#%#-'#*$$6/&7%#*08

18 JANUAR - MÄRZ 2013

Samet Er

LITERATUR

Page 8: Die Fontäne Magazin 01 2013

Goethe selbst war zuweilen am Frei-tagsgebet anwesend. Er lud musli-mische Gäste zu sich nach Hause ein und tauschte Geschenke mit ih-nen aus. Hierzu schrieb er in einem Brief an Friedrich von Trebra:

„Wer durfte wohl vor einigen Jahren verkünden, daß in dem Hörsaale unseres protestanti-schen Gymnasiums mahomeda-nischer Gottesdienst werde ge-halten und die Suren des Korans würden hergemurmelt werden, und doch ist es geschehen, wir haben der baschkirischen An-dacht beygewohnt, ihren Mulla geschaut, und ihren Prinzen im Theater bewillkommt. Aus be-sonderer Gunst hat man mir Bo-gen und Pfeile verehrt, die ich, zu ewigem Andenken, über mei-nen Kamin aufhängen werde, sobald Gott diesen lieben Gä-sten eine glückliche Rückkehr bestimmt hat.3“

Goethes erster Kontakt mit dem KoranGoethe kam erstmals während seines Jura-Studiums in Straßburg (April 1770 - August 1771) mit dem Koran in Kontakt. Hier schloss er Bekanntschaft mit dem um fünf Jahre älteren Gottfried Herder, des-sen Aufsätze er gelesen hatte und von denen er fasziniert gewesen war. In seinem ersten Treffen mit Herder regte dieser den noch jun-gen Goethe an, sich mit der For-schung zu beschäftigen. Er führte ihn in die Weltliteratur ein und be-lehrte ihn bezüglich der Vorurteile gegenüber dem Orient. Goethe war höchst beeindruckt von Herders Re-dekunst. Auf die Frage, wie er sich diese angeeignet habe, antwortete Herder mit einem Lächeln: „Willst du wirklich die Quelle meiner Re-dekunst wissen?“ worauf Goethe erwiderte: „Ja, denn Ihre Rede-kunst bindet mich an Sie.“ Herder zeigte ihm daraufhin ein altes Buch mit arabischen Buchstaben, die Goethe nicht entziffern konn-te, und verriet ihm: „Das ist meine Quelle der Redekunst: Der Koran.“ Und er fuhr fort: „Wenn die germanischen Über-winder Europas ein klassisches

19JANUAR - MÄRZ 2013

Page 9: Die Fontäne Magazin 01 2013

Mit dem Begriff Ghayba - verschwinden, nicht län-ger existent sein - wird im

Sufikontext ausgedrückt, dass das Herz alle Bindungen an die phy-sische Welt gelöst hat, um sich aus-schließlich der Anbetung Gottes hinzugeben. Ghayba (geistige Abwe-senheit) stammt zwar aus der glei-chen Wortwurzel wie Ghayb (Nicht- zugegensein), meint jedoch etwas anders: sich selbst aufzulösen und alle Verbindungen zur Außenwelt abzubrechen, während man jedoch sehr wohl noch zugegen ist.

Wahrheitssucher, die geistige Abwesenheit erfahren, bringen den Gesetzen, die das Leben und die Lebensbedingungen der Geschöpfe gestalten, kein Interesse mehr ent-gegen. Unter dem Einfluss des bre-iten Stroms der Geschenke Gottes, der sich seinen Weg in ihr Herz bahnt, haben sie sich ganz und gar von allen Zuständen, die mit dem sinnlichen Selbst verknüpft sind, losgesagt. In dem Zustand, in dem sie sich jetzt befinden, wissen sie nicht länger, wie es ihnen geht, wo sie sich befinden und ob sie über-haupt noch existieren. Die Inten-sität der von ihnen erfahrenen Man-ifestationen Gottes versperrt ihnen den Blick, selbst wenn sie genau hinschauen, versiegelt ihre Ohren, selbst wenn sie genau hinhören, und sorgt dafür, dass sie sich beim Denken in Gefühlen des Staunens verlieren. Zwischen Aufmerksam-keit und geistiger Abwesenheit existiert für sie kein Unterschied mehr. Dieser Zustand lässt sich am Beispiel der im Koran (12:31) er-wähnten Frauen veranschaulichen,

die sich in die Hände schnitten, weil sie von der Schönheit des Prophet-en Josef geblendet waren. Bei Josefs Schönheit muss es sich um einen Schatten des Schattens der Schön-heit Gottes gehandelt haben, die durch viele Schleier hindurch refle-ktiert wurde. Wenn der Anblick von Josefs Antlitz die Aufmerksamkeit der Frauen in geistige Abwesenheit verwandeln konnte, dann erübrigt sich wohl jede weitere Erklärung dafür, dass die brennenden Mani-festationen der Schönheit Gottes die Augen betören und den Ver-stand verwirren.

Aufmerksamkeit und geistige Abwesenheit wechseln aber nur dann die Plätze, verwandeln sich nur dann ineinander, wenn der Eingeweihte ausschließlich den Li-chtern Seiner Essenz folgt. Gelingt ihm dies, so spürt er nur noch Ihn, denkt an nichts anderes mehr und sieht überall nur noch Seine Mani-festationen. Er fühlt sich vollstän-dig von Gottes Gegenwart umhüllt und nimmt nicht länger wahr, was um ihn herum vorgeht oder gespro-chen wird. Wenn er dann aber unter dem Einfluss bestimmter menschli-cher Wesensmerkmale plötzlich wieder anderes sieht und hört - ein Phänomen, das man Rückkehr nennt -, schneidet ihn dies vom Licht des wahren Besitzers des Li-chtes ab und sein Herzen wird von einer Düsternis erfasst, die einer Mond- oder Sonnenfinsternis glei-cht. Diese Düsternis kann er jedoch durch vorbehaltlose Liebe zu Gott, grenzenlose Sehnsucht nach Ihm und resolute Entschlossenheit wie-der vertreiben.

Ebenso wie bei Anspannung und Entspannung (Qabd und Bast) kön-nen zwischen dem Gefühl, von der erhabenen Gegenwart Gottes um-hüllt zu sein, und dem Gefühl, von Ihm abgeschnitten zu sein, lange oder kurze Wellen liegen. Das Ge-fühl, von der erhabenen Gegenwart Gottes umhüllt zu sein, wird be-schrieben als das Schauen Gottes in Seinen Manifestationen, als das Schauen Seiner Zeichen oder auch als Selbst-Prüfung. Die Intensität von Gottes Manifestationen Seiner selbst mitsamt all Seinen Namen im gesamten Universum wie auch auf den einzelnen Objekten und Lebewesen birgt die Gefahr, dass der Eingeweihte auf dieser Station vom geraden Pfad abweicht. Umso wichtiger ist es, dass sowohl diese Station als auch die auf ihr empfan-genen Manifestationen im Lichte des Weges betrachtet werden, den der Prophet Muhammad aufgezeigt hat. Anderenfalls könnten Einge-weihte, die sich von diesen Mani-festationen durchdrungen fühlen, ihrer Überzeugung Ausdruck verlei-hen, sie hätten Gott selbst gesehen. Solange der Eingeweihte aber nicht die Essenz Gottes mit Seinen über-wältigenden Manifestationen ver-wechselt und aus falschem Stolz he-raus Dinge sagt, die die Gebote des Gesetzes verletzen, bedeutet sein Gefühl, von der erhabenen Gegen-wart Gottes umhüllt zu sein, dass er im Schatten der Sphäre der Geg-enwart Gottes lebt. Dieses Gefühl ist reine Spiritualität und hat praktisch keinerlei Bezug zu der physischen oder tierischen Dimension unseres Seins. Der berühmte Dichter Hafis von Schiraz1 sagte einmal:

!"#$%#&!'()*(+',-%.')'/"'(*0

!"#$%&'!($)%(*)*#+,*-#*

24 JANUAR - MÄRZ 2013

Page 10: Die Fontäne Magazin 01 2013

Lieber Markus, als eines deiner wichtigsten Organe habe auch ich dir ein paar Worte zu sagen. Ich mache keinerlei Geräusche,

so wie das Herz oder der Magen, und ich kann auch keine elektrischen Wellen produzieren wie das Gehirn. Deshalb bist du dir meiner Anwe-senheit meistens gar nicht bewusst. Trotzdem bin ich das zentrale Labor, das die chemischen Mechanismen deines Körpers steuert. Dein gan-zes Blut strömt durch mich hindurch, und ich überwache es dabei. Allerdings darfst du mich nicht falsch verstehen: Ich bin nichts weiter als ein Kontrollorgan; natürlich besitze ich we-der das Wissen noch den Willen, um einen so prächtig funktionierenden Organismus wie dei-nen Körper zu gestalten.

Alle Organe in deinem Körper stehen in einer direkten oder indirekten Verbindung zu mir. Ich bin so eine Art chemisches Gehirn. In meinen Aufgabenbereich fallen sämtliche Stoffwech- selaktivitäten, auch die Kontrolle von Ausschei-dung, Verdauung und Blutzusammensetzung. Wenn ich dir alle meine Funktionen einzeln auf-listen würde, kämest du aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Aber lass mich dir nur so viel sagen: Biochemiker haben herausgefunden, dass ich an über 80 verschiedenen Aktivitäten im Körper direkt beteiligt bin und mit mehr als 5.000 chemischen Reaktionen auf die eine oder andere Weise verknüpft. Überrascht dich das? Dabei geben diese Zahlen noch nicht einmal die volle Wahrheit wieder. Denn nach wie vor ken-nen die Forscher nicht alle Teile des Puzzles, das ich darstelle. Mein schlichtes Erscheinungs-bild steht in völligem Widerspruch zu meinen zahlreichen Funktionen. Schau dir nur mein

!"##$%&"'()*+%%,-.%/,01*+%23,03%43/3'5

27JANUAR - MÄRZ 2013

Irfan Yilmaz

BIOLOGIE

Page 11: Die Fontäne Magazin 01 2013

Wenn das Thema Nachbar-schaft in den Medien zur Sprache kommt, geht es

fast immer um Probleme. Der Gar-tenzaun sei zu hoch, der Nachbar höre zu laut Musik, die Äste des Nachbarsbaums ragten über die Grundstücksgrenze hinaus usw. Solche oder ähnliche Streitigkei-ten stehen häufig im Blickpunkt. Manchmal erleben wir Nachbar-schaftsstreitigkeiten auch am eige-nen Leibe oder in unserem näheren Umfeld. Meist stecken ziemlich banale Gründe dahinter. Besten-falls reden Nachbarn dann nicht mehr miteinander. Gelegentlich geht der Streit vor Gericht, im Ex-tremfall kommt es sogar zu Hand-greiflichkeiten. Später sehen die Streitenden möglicherweise ein, dass ihr Streit eigentlich unsinnig war, und möchten sich gern wieder vertragen, doch ist es schwierig, den eigenen Stolz zu überwinden und den ersten Schritt zu tun. Mit Sicherheit kostet es Zeit und Ner-ven. Natürlich gibt es auch Gegen-beispiele, wo Nachbarn einander unterstützen, sich gegenseitig be-suchen und einfach füreinander da sind. Aber diese sind naturgemäß weniger spektakulär und tauchen daher kaum in den Medien auf.

Aus der gesellschaftlichen Per-spektive betrachtet spielt das The-ma Nachbarschaft eine wichtige Rolle. Die Gesellschaft in der globa-lisierten Welt wandelt sich rasant, insbesondere in den Städten. Trei-bende Faktoren dafür sind z.B. In-dividualismus und Selbstverwirkli-chung. Die Institution Familie ver-liert an Bedeutung, Singlehaushal-te sind verbreitet, die soziale Un-gleichheit nimmt zu, immer mehr Menschen sind immer älter. Die Wirtschaft verlangt von den Arbeit-nehmern, sich ständig weiterzubil-den, permanent mehr Leistung zu erbringen. Wettbewerb findet aber nicht nur auf dem Arbeitsmarkt statt, sondern auch auf dem Kon-summarkt. Dieser ist extrem kurz-lebig, und die Verbraucher müssen immer auf dem aktuellsten Stand sein. Werte wie Solidarität, Näch-stenliebe, Gerechtigkeit, Mitgefühl oder Hilfsbereitschaft bleiben von alledem nicht unberührt.

Der stetige Wandel schlägt sich auch im Stadtbild nieder. In den Städten lebt ein Teil der Menschen in uniformierten Hochhäusern; Oberschicht und Unterschicht wohnen getrennt voneinander. Eine Extremform bilden die von der Außenwelt abgeschlossenen

sogenannten ‚gated communities‘. Nachbarschaft bedeutet dort, un-ter seinesgleichen zu bleiben. Die Armut und ihre Folgen sind gewis-sermaßen aus dem Auge, aus dem Sinn.

Zahlreiche Menschen vereinsa-men, die Kluft zwischen Arm und Reich wird breiter. Man hat das Gefühl, dass Ältere Menschen, Ge-ringqualifizierte, Sozialhilfeemp-fänger kaum noch als Menschen wahrgenommen werden, sondern als Lasten. Der Zusammenhalt in der Gesellschaft nimmt ab, Werte erodieren, soziale Kälte hält Ein-

!"#$%"&'#$"()*+,-.*/*,-(0&-1+*-2*'*33'#$"()4

34 JANUAR - MÄRZ 2013

Yusuf Göker

GESELLSCHAFT

Page 12: Die Fontäne Magazin 01 2013

zug. Viele Dinge werden rein aus der Kosten-Nutzen-Perspektive be-trachtet.

Um dieser Erosion des gesellschaft-lichen Zusammenhalts entgegen-zuwirken, dürfte es hilfreich sein, sich auf Altbewährtes zurückzube-sinnen. Gute nachbarschaftliche Beziehungen wären so ein Ansatz. Werfen wir daher nun einen Blick auf das Nachbarschaftsverständnis im Islam, dem zufolge gute Nach-barschaftsbeziehungen noch über die persönliche Unterstützung hin-ausgehen.

Nachbarschaftshilfe als Dienst an GottIm Koran heißt es:

Und (als Grundvoraussetzung für Zufriedenheit im persönlichen, Familien- und gesellschaftlichen Leben) dient Gott und setzt Ihm nichts zur Seite; und erweist den Eltern Wohltaten auf beste Wei-se, sowie den Verwandten, den Waisen, den Bedürftigen, den Nachbarn, die euch nahe stehen (als Angehörige, als Mitbewoh-ner oder im Glauben), und den Nachbarn, die euch fern sind (also weder mit euch verwandt

sind, noch den Glauben mit euch teilen), dem Gefährten an eurer Seite (unterwegs, innerhalb der Familie, am Arbeitsplatz und so weiter), dem Reisenden und denen, die in euren Diensten stehen. (Behandelt sie gut und erzieht euch selbst in dieser Hin-sicht, denn) Gott liebt nicht die, die eingebildet und überheblich sind. (4:36)

Hier werden die Gläubigen dazu aufgefordert, neben dem Dienst an ihrem Schöpfer auch den Nach-barn auf beste Weise Wohltaten zu erweisen. Die Pflege der Nachbar-

35JANUAR - MÄRZ 2013

Page 13: Die Fontäne Magazin 01 2013

Eine Substanz, die 50-mal süßer ist als Zucker und so biegsam, dass man sie als Schnürsenkel

oder Springseil verwenden könnte? Die sich formen lässt wie Kunststoff, beispielsweise zu Schnecken, zu Kätzchen, Drops oder Talern? Die im Gegensatz zu Kunststoff aber auch noch gut schmeckt, die man kauen und schlucken kann? Nein, die Rede ist nicht vom Bonbon der Zukunft, sondern vom Wurzelextrakt einer uralten Pflanzenart, die sogar König Tutanchamun schon mit ins Grab gelegt wurde. Ihr Name ist Süßholz, besser bekannt ist sie jedoch unter einem anderen Namen: Lakritze. Aus dem Saft ihrer Wurzel werden die gleichnamigen Süßigkeiten her-gestellt. Seit Jahrtausenden schon benutzt man Süßholz unter ande-

rem zur Verfeinerung von Speisen und auch in der Heilkunde.

Das Süßholz (Glycyrrhiza glabra) ist in der Mittelmeerregion beheima-tet. In vielen Ländern des Nahen Ostens, Europas und Westasiens gedeiht es in freier Wildbahn. Es braucht viel Sonne und ist emp-findlich gegen Frost, hat bläulich-violette Blüten, gefiederte Laub-blätter und wächst bis zu 1,5 Meter hoch. Sein Gattungsname Glycyr-rhiza leitet sich aus den altgriechi-schen Wörtern Glycos riza ab - süße Wurzel.1 Die Wurzeln sind gelblich, holzig, etwa fingerdick und haben mehrere Meter lange Ausläufer.

Seine unglaubliche Süße verdankt das Süßholz seinem Hauptwirk-stoff Glycyrrhizinsäure, die eine 50-mal stärkere Süßkraft als Haus-haltszucker besitzt; einige Forscher sprechen ihm sogar eine 150-mal stärkere Süßkraft als Rohrzucker zu. Auch die Heilkraft der Pflan-ze wird auf die Glycyrrhizinsäure zurückgeführt. Aufgrund der viel-fältigen Eigenschaften dieses Mo-leküls finden sich Süßholzextrakte heute in höchst unterschiedlichen Produkten wieder: in Medikamen-ten, Nahrungsergänzungsmitteln, Gummi, Getränken und natürlich in Süßigkeiten.

!"#$%&'()&*+,-$%.&),/0'%1&02$&32$&4',/5./$2()'6&02$&7$32128

Das Süßholz als HeilkrautDie Süßholzwurzel wird im Westen seit den Zeiten der alten Ägypter, Griechen und Römer genutzt, im Osten seit dem zweiten und drit-ten Jahrhundert v.Chr. Hindus, Chinesen, Sumerer, Assyrer, Ba-bylonier, Ägypter, Griechen und Römer - sie alle wussten ihren sü-ßen Geschmack zu schätzen. Die Ägypter stellten aus der Wurzel ein Getränk namens Mai Sus2 her, das auch heute noch sehr populär ist. In Japan wird das älteste Exemplar einer Süßholzpflanze, die Mitte des 8. Jahrhunderts aus China einge-führt wurde, bis heue in der Kaiser-lichen Schatzkammer aufbewahrt.

30 JANUAR - MÄRZ 2013

Sümeyra Dural Cokavci

BIOLOGIE

Page 14: Die Fontäne Magazin 01 2013

Leben, Krankheit und Tod werden als elementare Gege-benheiten für den Menschen

aufgefasst. Welche Sinnzuschrei-bungen aber letzteren Phänome-nen verliehen werden, ist eine sehr individuelle Entscheidung, die in-folgedessen die Verhaltensmuster des menschlichen Lebens bestim-men. Diese Affinität kann subjektiv gesehen religiös, nationalistisch, pluralistisch, atheistisch oder aus der Symbiose mehrerer Denkarten resultieren.

Die Erfahrung aus zahlreichen Fortbildungen von medizinischem Fachpersonal und in öffentlichen Vorträgen zeigte, welches negative Bild mit Krankheit verbunden wird.

Krankheit als Synonym für jegli-che körperliche und seelische Be-schwerden ist in diesem Verständ-nis mit negativen Eigenschaften be-setzt, sodass sie ein dichotomisches Schwarz gegenüber einem Weiß der Gesundheit zu sein scheint.

Aufgrund dessen haben sich The-rapieformen in der modernen Medizin entwickelt, die nicht un-bedingt versuchen, die Ursachen einer Krankheit zu diagnostizieren, sondern jenen Feind, in Form der Krankheit, zu bekämpfen. Dafür werden hochdosierte Medikamen-te, Strahlen und andere Therapie-methoden angewandt, die die De-vise vertreten - Angriff ist die beste Verteidigung!Der seelische Zustand von Kranken verfestigt sich zu einer betrübten Stimmung, weil gerade der Krank-heitszustand als unnatürlicher Ausnahmezustand verstanden wird.

Infolgedessen kommt der Gedan-ke einer Unüberwindbarkeit des Krankseins aus, die die Lebensqua-lität des Kranken drastisch verrin-gert.

An dieser Stelle sollen die Schriften für Kranke von Said Nursi heran-gezogen werden, die in ihrer Art

und Weise, wie Krankheit rezipiert wird, neu sind.

Nursi erläutert in seiner Schrift für Kranke1 25 verschiedene Perspek-tiven (türk. deva)2 auf das Phäno-men der Krankheit, die in diesen Breitengraden so nicht aufgefasst werden.

Dies ist der Versuch alle 25 Per-spektiven von Nursi zu beleuchten und in den neuen sozio-kulturellen Raum hineinzuprojizieren. Zum Auftakt werden die ersten fünf Per-spektiven analysiert, die vom Autor religiös intentioniert waren, aber in diesem Zusammenhang versuchen sollen, einen Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität kranker und ge-sunder Menschen zu verleihen. Wie soll dies geschehen?

Nursis Perspektiven ermöglichen einen neuen Ansatz, der dazu bei-tragen könnte, das negative Bild von Krankheit in ein positives zu wandeln. Man könnte an dieser Stelle fragen, warum solch eine

!"#$%&'()*"'+$,-.,'"-*'($,/

38 JANUAR - MÄRZ 2013

Erdogan Karakaya

ETHIK

Page 15: Die Fontäne Magazin 01 2013

Im Januar des Jahres 1922 stand ein Mann in einem dicken Man-tel vor einem großen, unauffäl-

ligen Gebäude, dessen äußerer An-schein nichts von den Eigenarten seiner Bewohner preisgab. Es war ein stockfinsterer Winterabend, und der Wind trieb ihm dicke Schneeflocken ins Gesicht, sodass er sich den Schal über Wangen und Nase ziehen musste. Rudolf We-gener, der Journalist, interessierte sich für das berufliche Schaffen von Psychiatern; und was wäre da pas-sender gewesen, als seinen Freund Bernd, den er schon von Kindesbei-nen an kannte, zu fragen, ob er ihm nicht an dessen Arbeitsplatz, einer psychiatrischen Anstalt, einen Be-such abstatten dürfe.

Nach kurzem Klopfen öffnete ihm ein Angestellter die Tür und ge-währte ihm sogleich Einlass in das Gebäude. Offensichtlich hatte man ihm den Besucher von Bernd schon angekündigt. Die Gänge und Räu-me, durch die Rudolf Wegener nun geführt wurde, erwiesen sich als völlig normal und uninteressant, und so legte er seine anfängliche Scheu allmählich ab. Zuletzt führ-te ihn der Angestellte in das Büro seines Freundes und machte sich dann flugs aus dem Staub, weil - unüberhörbar - zum Abendessen gerufen wurde.

Die beiden Freunde ließen es sich nicht nehmen, einander herzlich

zu begrüßen und nach dem Wohl-befinden ihres Gegenübers zu fra-gen. Offensichtlich ging es ihnen beiden gut. Einzig Bernd fügte leicht bekümmert hinzu, dass er die nahe bevorstehende Verlobung mit seiner Maria nicht in vollen Zügen genießen könne, denn ...ach weh... die geistige Verfassung einiger Pati-enten der Anstalt lasse doch sehr zu wünschen übrig. Mehr dazu werde er ihm beim Abendbrot verraten.

So hakte sich der eine beim ande-ren unter, und gemeinsam begaben sie sich an den kärglich gedeck-ten Tisch. Die ganze Belegschaft saß dort beisammen und löffelte Suppe, aber Rudolf machte sich recht wenig aus dem Essen. Ihm lag mehr daran, den neuesten Anstaltsklatsch aufzuschnappen, denn die Bediensteten waren red-seliger Stimmung; hauptsächlich unterhielten sie sich allerdings über Politik. Wann immer der Be-sucher das Gespräch auf die Pati-enten lenken wollte, schauten sich alle nur schweigend an, so als ob sie dieses Thema peinlich berühre.

„Nun“, sagte Bernd nachsichtig, „die meisten von uns mögen es nicht gern, wenn in den Pausen über solche Dinge geredet wird. Aber ich kann dir ja kurz erzählen,

warum sich die Stimmung hier in der letzten Zeit verdüstert hat. Vor einer Woche wurde ein neuer Pati-ent eingeliefert, den man auf den ersten Blick für ziemlich normal gehalten hätte. Ein junger Mann, ungefähr so alt wie du und ich. Wenn man mit ihm redet, wirkt er erst sehr interessiert, doch schon nach kurzer Zeit schaut er immer zorniger zu Boden, bis er schließ-lich einfach den Raum verlässt, ohne dass man den Grund dafür erraten könnte. An den Nachmit-tagen, wenn einige Patienten ihren Freilauf im Parkgelände genießen wollen, buddelt er mit den Hän-den in der Erde herum und zitiert unablässig ein Zitat von Wilhelm Busch - und zwar so lange, bis ihn kein Mensch mehr ertragen kann. Als wir merkten, dass er von sei-nem seltsamen Ritual nicht abzu-bringen war, isolierten wir ihn von den anderen Patienten, weil sein Einfluss sie nicht betrüben sollte. Dann aber passierte es....“ „Pas-sierte was?“, fragte Rudolf erregt. Ein Angestellter namens Thomas, der sein Kinn auf die rechte Faust stützte, beendete den Satz: „Er füg-te sich selbst mehrere körperliche Verletzungen zu, deshalb ließen wir ihn schließlich doch wieder zu den anderen. Sonst hätte sich

!"#$%&'(&)#"*$+,-$."/(,0/,0

!"#$%&'())"&*+%,-.&%(/&0#,)"/1"&2"#/3#"4'"$&0"0"5"$6&7'$&&87)&%"$&7$)"#"//($)"/)"$&/"7$"#&9()7"$)"$&5"1($$)&:+&8(4'"$;&&

42 JANUAR - MÄRZ 2013

Ayse Simsek

MOMENTE DER BESINNUNG

Page 16: Die Fontäne Magazin 01 2013

43JANUAR - MÄRZ 2013

Page 17: Die Fontäne Magazin 01 2013

Zentraler Gegenstand jeder philosophischen und wissenscha!lichen Betrachtung ist der Mensch. Keine Philosophie und auch keine Wissenscha!

kommt ohne Bezug zum Menschen aus.