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Die Genealogie der Moral bei Nietzsche - 3 Essays

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Page 1: Die Genealogie der Moral bei Nietzsche - 3 Essays

LMU München Fakultät für Philosophie

WinterSemester 2006/07

Dozenten: Dr. Karsten Thiel Proseminar: Friedrich Nietzsche – Die Genealogie der Moral

Franz Lukas Hell

Die Figur des Kallikles und seine Vorstellungen vom Ursprung Moral Was ist das Gerechte? Auf diese Frage gibt es seit jeher viele verschiedene Antworten. Es wurden viele verschiedene Konzepte, Konventionen, ja Religionen erfunden, die eine Begründung liefern wollten. So entstanden vielerlei Überzeugungen und Bedürfnisse folgten. Davon abgesehen, stellt sich schon aufgrund der Pluralität der Vorstellungen von Gerechtigkeit, von Moral, die Frage, welchen Ursprung die Moral hat. Kommt sie auf „menschlichen Verkehrswegen“ zustande, ist es also eine rein künstliche Angelegenheit, entsteht Moral nur durch Setzung? Oder gibt es so etwas wie einen natürlichen Ort, an dem sich das Gerechte zeigt, etwa in einer, wie auch immer gearteten, kosmischen Ordnung? Um den Ursprung der Moral streiten sich im Gorgias auch Kallikles und Sokrates. Inhalt dieses Essays soll es sein, die Vorstellungen von Kallikles zum Ursprung der herrschenden Moral aufzuzeigen und welche eigene Auffassung von Gerechtigkeit Kallikles vertritt. Dabei wird Kallikles, ausgehend von der Antithesis zwischen nomos (formulierte, geschaffene Gesetze, Konventionen, Sitten) und physis (Natur) eine Rede über die Entstehung des herrschenden Gesetzes darlegen, um anschließend seine eigene Auffassung von Gerechtigkeit, das Naturrecht, zu vertreten. Abschließend soll versucht werden, die Figur Kallikles, im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Vorstellung, zu skizzieren. Zum ersten Mal zeigt sich die, auf die Sophistik zurückgehende, Antithesis zwischen physis und nomos, im Vorwurf von Kallikles an Sokrates, dessen Gesprächsführung mit Polos betreffend. Kallikles vertritt dabei die Thesis, dass es einen Unterschied zwischen dem Gerechten im Sinne Gesetzes und dem Gerechten im Sinne der Natur gibt. So unterstellt er Sokrates, dass dieser, die beiden Bedeutungen von „gerecht“ beliebig miteinander vertausche, um so seinen Gesprächspartner Polos in Widersprüche zu verwickeln und um ihn so von seiner eigenen, dem nomos entsprechenden Auffassung von Gerechtigkeit, zu überzeugen. Die Auffassung von Sokrates, nach der Unrecht tun übler sei als Unrecht leiden, gilt für Kallikles nur dem Gesetz nach, und nicht in der Natur, dort sei nämlich alles hässlicher, was auch übler ist, nämlich das Unrecht leiden. Warum nun das Gesetz nicht die „wahre“ Gerechtigkeit darstelle, versucht Kallikles durch eine Rede über die Entstehung des nomos darzustellen. Der nomos, wonach alle das Gleiche erhalten sollen, und Unrecht leiden als das kleinere Übel gilt, als Unrecht tun, erklärt Kallikles als Erfindung der Schwachen, des großen Haufens. Die Schwachen seien sehr wohl damit zufrieden, dass jeder das Gleiche erhalten würde, da ihnen wohl von Natur aus weniger zukommen würde. So erfanden sie das Gesetz und sprachen Lob und Tadel aus, für das was ihnen nützt und nannten forthin das Streben mehr zu haben als die meisten, Unrecht tun, und

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erklärten dies als Ungerecht. Die Herkunft des nomos, nachdem die Gleichheit gerecht sei, erklärt aus dem aggregierten Willen zur Macht der Schwachen, als deren Argument, deren Widerstand gegen das Naturrecht. Der Ursprung der Moral, die Nützlichkeit für die Schwachen. Während Kallikles bei der Erklärung des nomos als dem Gesetz der Schwachen noch von einem Gegensatz zwischen nomos und physis ausgeht, verliert sich dieser Gegensatz in seiner eigenen Vorstellung von Gerechtigkeit. Dort nämlich treffen im Naturgesetz, nomos und physis, zusammen. Nach dem Gesetz der Natur nämlich, würde sich wohl zeigen, dass der Stärkere mehr habe als der Schwächere und der Tüchtige mehr als der Untüchtige. Kallikles vertritt also die Auffassung, nachdem von Natur aus dem Stärkeren mehr zustehe als dem Schwachen und eben dies das Gerechte sei. Kallikles verweist als Begründung seiner Auffassung auf historische Realitäten, wie das Recht, mit dem Xerxes gegen Hellas gezogen war. Als weiteren Beleg für seine Vorstellung vom Recht des Stärkeren als Naturgesetz beruft sich Kallikles auf den Dichter Pindar. Anspielung und Einbindung von Dichterworten gehörten damals zum Stile einer gepflegten Unterhaltung und wurden auch von Sokrates oft als Referenzen für gewisse Vorstellungen angeführt. So interpretiert er das „Gesetz, der König von allen“, dass das Gewaltsame mit mächtiger Hand vollzieht und rechtfertigt, als eben jenes von ihm vertretene Naturrecht. Die Präferenz des Kallikles in Sachen Moralvorstellungen scheint also eindeutig das Naturrecht zu sein. Die bestehenden, von den Schwachen geschaffenen, Gesetze stehen dem Naturrecht radikal entgegen und werden deswegen von Kallikles als widernatürlich eingestuft und attackiert. In der folgenden Diskussion aber macht Kallikles dem Sokrates immer wieder Zugeständnisse. So gesteht er beispielsweise zu, dass die Masse von Natur aus mehr wert sei, als der Einzelne, und bietet dem Sokrates so, indem er beispielsweise auf eine Differenzierung zwischen Qualität und Quantität verzichtet, die Möglichkeit, den von ihm eingeführten Gegensatz zwischen nomos und physis, zu zerstören. So bekommt Sokrates immer wieder die Möglichkeit seine Vorstellung von nomos auf den Zugeständnissen von Kallikles aufzubauen. Kallikles muss sich daraufhin, wenigstens argumentativ, oft von seinen vertretenen Ansichten verabschieden. Kallikles ist zwar so einerseits als Figur gezeichnet, die konkrete Vorstellungen von Recht hat. Werden diese Vorstellungen von der Realität dann aber theoretisch verhandelt, verfängt sich Kallikles in Widersprüchen und verliert, durch seine „undifferenzierte Erkenntnis“, immer wieder den logischen Anspruch auf seine Sicht der Dinge und seine Standhaftigkeit. So kann er anderseits seiner Vorstellung von Recht und seinem Begriff des Starken, den er im Lauf des Gespräches auf erkenntnisreich und mannhaft ausdehnt, nicht gerecht werden. Dies trübt das Bild der klaren Präferenz des Kallikles für das Naturrecht, und vielleicht auch seinen Anspruch als starke Natur, wenigstens als erkenntnisreiche Natur. Das lässt sich, meiner Meinung nach, dadurch erklären, dass Kallikles zwar vor allem darauf aus ist seine individuelle Macht zu mehren, es aber gerade die Macht als Politiker ist, die er erreichen will. Dadurch wird er gezwungen, auch dem Volke nach dem Munde zu reden. So steht Kallikles also in einem Spannungsfeld zwischen seinen persönlichen Interessen und seinem Streben nach Macht und den Zwängen, die ihm als Politiker, vom Demos der Athener, auferlegt werden. Gerade so hat ihn auch Sokrates am Anfang des Streitgesprächs eingeführt, als er ihm zwei Lieblinge unterstellte, die ihn dazu trieben, wankelmütig zu werden. Es hat sich also gezeigt, dass Kallikles das herrschende Gesetz, als Erfindung der Schwachen und gleichsam als deren Waffe gegen die Starken deklariert hat, dass nur durch Willen der Schwachen und aufgrund dessen Nützlichkeit für den großen Haufen zustande kommt und

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bestehen bleibt. Dem entgegen hält Kallikles seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit, nämlich das Naturrecht, nachdem der Stärkere mehr habe als der Schwächere und dieser über den Schwachen herrsche. Im Laufe der Diskussion mit Sokrates hat sich aber ebenfalls herausgestellt, das Kallikles sich, wenigstens argumentativ, von einigen seiner Vorstellungen verabschieden muss. Inwieweit hier eine argumentative Schwäche oder Widersprüchlichkeit des Kallikles vorliegt oder aber, ob dies absichtlich vom Autor so konstruiert ist, um den Leser dorthin zu führen, wo er will, was ich persönlich für wahrscheinlicher halte, wäre eine von vielen Fragen, die sich hier eröffnen würden.

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Die Herkunft der Moral bei Nietzsche „Jenseits von Gut und Böse“ ist der Titel des Buches auf den die Genealogie der Moral folgt. Bereits in diesem Titel kann man ablesen, dass es etwas hinter einer, auf Gut und Böse fundierten Moral geben wird, ja gegeben hat. So schreibt Nietzsche auch in der Genealogie der Moral, dass „Jenseits von Gut und Böse“ zum mindesten nicht „Jenseits von Gut und Schlecht“ bedeuten soll. Es scheint also, als gäbe es zumindest zwei grundlegend verschiedene Perspektiven auf die Moral, bei Nietzsche. Einerseits scheint Nietzsche also das Gegensatzpaar gut und böse, als Grundlage für moralische Wertungsweisen zu kritisieren, andererseits hat er eine Vorstellung von einer ursprünglichen, zutiefst aristokratischen, vornehmen, wahrhaftigen Moral, wie sich zeigen wird, die sich im Gegensatzpaar gut und schlecht widerspiegelt. Die mit den Begriffen gut und böse operierende Moral bezeichnet er als Sklavenmoral und die, auf gut und schlecht basierende Moral, sei die Herrenmoral. Wie Nietzsche zu dieser Ansicht gelangt, zeigt er in seiner Genealogie der Moral. Im Folgenden sollen hierzu die Gedanken Nietzsches verfolgt werden, um anschließend zu erläutern ob er eine Präferenz für eine Wertungsweise hat. Die ursprüngliche Moral, von der die Begriffe gut und schlecht geprägt wurden, nennt Nietzsche die Herrenmoral. In dieser Vorstellung geht der Begriff gut auf eine, auf einer reinen actio beruhenden, spontanen Äußerung von Macht zurück. Der Wille zur Macht, der aus einem Pathos der Distanz, aus dem vornehmen wahrhaftigen Individuum herausquillt, benennt so sich selbst und sein Tun mit dem Werturteil gut. Ohne Macht keine Wertung, das „gut“ ist nicht abhängig von einem Nützlichkeitskriterium, sondern zutiefst subjektiv verwurzelt, ein Ausdruck der Lebensbejahung des Vornehmen. Die Wertung „schlecht“ dagegen sei nur ein nachgeborenes blasses Contrastbild im Verhältnis zum Begriff des Guten. Erst mit dem Niedergang und gleichsam als Reaktion auf diese aristokratischen Werturteile kann, so Nietzsche, die andere Moral zu Wort, ja zu Worten kommen. So sei es denn auch geschehen, und der Sklavenaufstand in der Moral habe begonnen und nach einer zweittausendjährigen Geschichte sei dieser siegreich gewesen. Zwar sieht Nietzsche auch Gebiete, in denen der Kampf zwischen Herrenmoral und Sklavenmoral unentschieden fortgekämpft wird, ja wo dieser Kampf immer weiter ins geistigere hinaufgetragen wurde, die Vorherrschende Moral im gegenwärtigen Europa sei aber nun die Sklavenmoral. Diese setzt moralisch mit unegoistisch gleich. Dies geht auf einen Irrtum zurück, dem unter anderem auch die von Nietzsche teils geschätzten, teils attackierten englischen Moralgenealogen unterliegen. Nach diesem Irrtum, wurden die egoistische Handlungen aufgrund ihrer Nützlichkeit von Seiten derer, denen Güte erwiesen wurden, als gut gelobt und aus Gewohnheit als gut empfunden, um schlussendlich, aus Vergesslichkeit als gut zu gelten. Aufgrund dieses Irrtums galten imFolgenden unegoistische Handlungen als gut, egoistische Handlungen als böse. Dieser Gegensatz, unegoistisch und egoistisch – gut und böse, drängte sich von nun an dem menschlichen Gewissen immer mehr auf und wurde schließlich als Instinkt verinnerlicht, zum Heerdeninstinkt. Diese Moral steht der Herrenmoral diametral entgegen, so dass ihr Urteil böse genau auf den zutrifft, der sich in der ursprünglichen Moral als gut bezeichnete. In der Herrenmoral war es ja gerade der Mensch der seinem Willen zur Macht Ausdruck verlieh, um so, mag man sagen in egoistischer Manier, seinem Sein und Tun das Siegel gut zu geben. Und genau dieses „egoistische Handeln“ gilt nun in der Sklavenmoral als das Böse. Zusätzlich zu diesem Irrtum erfand sich nun das Heerdentier die Willensfreiheit. Es trennte die Substanz der Stärke von ihrem Akzidenz, der Äußerung der Stärke ab. Mit diesem Kunstgriff konnten die Starken, da sie egoistisch handelten, als böse gebrandmarkt werden, um ihnen im Folgenden die Verantwortung zuzuschreiben und sie aufgrund dieses

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Rechtes auch zu bestrafen. Die Sklavenmoral, basierend auf dem Irrtum gut gleich Nützlich, kam also mit einer Art Trick, einem psychologischen Kunstgriff zur Macht. Nun, da die zwei Arten der Moral dargestellt wurden, bleibt noch zu klären, ob und wenn ja, warum Nietzsche eine Präferenz für eine Art Moral hat. Neben der Kritik an der Gleichsetzung von Nützlichkeit und moralisch Gutem und Nietzsches Widerstand gegen den Gedanken der Willensfreiheit, sieht, so denke ich, er auch in der Sklavenmoral den Egoismus walten, den Egoismus der Schwachen, der Sklaven. Dieser Egoismus aber verbirgt sich hinter dem Schutze des Guten, des Unegoistischen, und kommt so, über den Umweg dieses Ideal und mit Hilfe der anderen Sklaven zur Macht und ist so wiederum auch nur Egoismus, wenn auch hinter dem Mantel des Unegoistischen. Handeln nämlich alle unegoistisch, so ist allen geholfen in ihren egoistisch Bedürfnissen. Im Gegensatz zur Sklavenmoral benötigt aber der Vornehme nicht diesen Kunstgriff der Verkleidung und ein Ausser-sich, zusammen mit dem, er sich zur Macht aufschwingt. Der Vornehme ist von vorn herein wahrhaftig und muss die Wahrheit nicht verhehlen, in dem er sich als das gebiert, was er in Wirklichkeit gar nicht ist, nämlich unegoistisch. Zwar hat die Herrenmoral, so gesehen, die Wahrhaftigkeit klar auf Ihrer Seite, das hilft ihr aber im Kampf um die Macht wenig. So sieht Nietzsche auch, dass die Sklavenmoral über alle vornehmeren Ideale immer wieder triumphirt hat. Und vielleicht ist auch gerade die Überwältigung der Herrenmoral durch die Sklavenmoral, aus der auch der Wille zur Macht spricht, ja zur wirklichen Macht gekommen ist, einer der Gründe dafür, warum Nietzsche keine endgültige Präferenz für eine Moral gibt, sondern dies in fremde Hände gibt. Die Zukunfts-Aufgabe des Philosophen und der vorarbeitenden Wissenschaften sei es nun, das Problem vom Werthe zu lösen, die Rangordnung der Werthe zu bestimmen. Vielleicht ist es aber auch nur die historische Genauigkeit, die Nietzsche gewahrt haben will, in dem er die verschiedenen Perspektiven zur Moral aufzeigt, damit nicht nur die Geschichte der siegreichen Moral erzählt wird, sondern auch derjenigen, die warum auch immer, unterlegen gewesen war. Womöglich eignete sich ja gerade die Sklavenmoral so vorzügig für gewisse Interessen und wurde darum auch in diesem Maße gefördert. Es hat sich also gezeigt, dass Nietzsche zwei verschiedene Vorstellungen von Moral beschrieben hat. Einmal die ursprüngliche Herrenmoral, bei der der Begriff gut ein zutiefst subjektiver Ausdruck ist, den der Vornehme von sich heraus, aus einer reinen actio, für sich und sein Tun konzipiert. Dem gegenüber, bzw. dem nachfolgend, gleichsam als Reaktion auf die Herrenmoral, steht die Sklavenmoral. Diese leitet den Begriff gut aus der Nützlichkeit ab, und verbindet schlussendlich, aus Vergesslichkeit und Gewohnheit gut mit unegoistisch und böse mit egoistisch. Mit diesem Irrtum und dem psychologischen Kunstgriff der Willensfreiheit konnte sie so die Vorherrschaft erringen. Welche Präferenz nun Nietzsche hat, scheint in seiner Ausdrucksweise und dem Attribut der Wahrhaftigkeit für die Herrenmoral hervor zu scheinen. Eine endgültige Antwort gibt er aber nicht. Womöglich ist die krasse Begriffsfärbung aber auch nur ein Stilmittel, mit dem Nietzsche die Herrenmoral, die der herrschenden Meinung entgegensteht, hervorheben will. So ist ja auch der Untertitel der Genealogie der Moral: Eine Streitschrift. Aus welchen Gründen er auf eine endgültige Antwort verzichtet, womöglich aufgrund einer versuchten Objektivität, wäre eine Frage, die sich hieranschließen würde.

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Nietzsche – ein Wiedergänger des Kallikles? In seiner Schrift über Nietzsche als Philosoph fühlt sich Hans Vaihinger – und nicht mit Unrecht – an die griechischen Sophisten, insbesondere an jenen Kallikles, der (in Platons „Gorgias“) ganz ähnliche Lehren wie Nietzsche entwickelt haben soll, erinnert. Die These, Nietzsche sei ein Wiedergänger des Kallikles, findet nun, im Anschluss an Vaihinger, Einzug in die Geschichte der Philosophie und hält sich dort, bis heute, mit einer gewissen Vehemenz. Im Folgenden möchte ich näher auf diese These eingehen und dabei erst aufzeigen, in welchen Punkten diese These durchaus zutreffend erscheint. Im Anschluss daran versuche ich darzulegen, dass sich die These bei näherem Hinsehen als zu Oberflächlich entpuppt. Dabei soll der Kallikles, so wie er aus Platons „Gorgias“ bekannt ist, mit dem Nietzsche aus der „Genealogie der Moral“ verglichen werden. Sowohl Kallikles als auch Nietzsche lehnen in ihrer Vorstellung die Gebundenheit des Willens an ein „vom Schwachen“ geschaffenes Ideal ab. So sieht Kallikles in dem vom Schwachen geschaffenen nomos der Gleichheit das Herrschaftsinstrument der Schwachen, mit dem sie sich zusammen zur Macht aufschwingen, und nur unter und mit dem sie die Starken im Zaum halten können. Ganz ähnlich scheint da die Sklavenmoral bei Nietzsche zu sein, die dieser genauso ablehnt wie Kallikles den nomos. Die Schwachen haben bei Nietzsche den Irrtum, dass unegoistisch gleich gut und egoistisch gleich böse, zum Ideal umgebogen um den ursprünglich „Guten“ als böse zu brandmarken und um so die Herrschaft über ihn zu erlangen. Beide, Kallikles und Nietzsche sehen den nomos bzw. die Sklavenmoral also als Wille zur Macht der Schwachen bzw. Sklaven, mit und unter dem die Masse Herr wurde. Auch sehen beiden darin einen Irrtum. So geht Kallikles davon aus, dass dieser nomos der Natur und somit der wahren Gerechtigkeit, dem Naturrecht, wonach der Stärkere mehr habe als der Schwache, der die wahre Gerechtigkeit darstellte, entgegenstehe. Auch bei Nietzsche ist die Sklavenmoral ein Irrtum, aber weniger wie bei Kallikles deswegen, weil es der wahren Gerechtigkeit entgegenstünde, sondern vielmehr deswegen, da sie sich aus einem Irrtum heraus abgeleitet habe. Dem Irrtum nämlich, wonach durch Gewohnheit und Vergesslichkeit gut mit unegoistisch und böse mit egoistisch gleichgesetzt wurde. So ist hier auch bereits ein Unterschied zwischen beiden zu sehen, nämlich dass beide die Irrtümlichkeit der Sklavenmoral anders begründen. Aber dazu erst später. Neben der Opposition gegen den nomos bzw. die Sklavenmoral scheinen beide eine andere, bei dem einen eine wahre, bei dem anderen eine wahrhaftige Moralvorstellung zu haben. Kallikles nennt es das Naturrecht, die wahre Gerechtigkeit, wonach dem Stärkeren mehr zustehe als dem Schwachen, da dieser sich jeglichen Gutes durch seine Macht bedienen könne, und dies nach der Natur auch dürfe, ja solle und eben dies gut sei. Nietzsches Herrenmoral scheint dem wenigstens begrifflich nahe zu stehen. So gilt auch in der Herrenmoral das Prädikat gut für den Mächtigen, ja er gibt sich dieses für sein Sein und Tun. Im Gegensatz zu Kallikles aber, der das Naturrecht als die absolute und wahre Gerechtigkeit verkauft, ist Nietzsches Herrenmoral weit weniger fundamental begründet und er gibt ihr auch nicht das Prädikat der Wahrheit, vielmehr ist sie die wahrhaftigere Moral im Gegensatz zur Sklavenmoral. Es zeigt sich also schon in der Vorstellung der, dem nomos bzw. der Sklavenmoral entgegensetzten, Moral ein weiterer Unterschied zwischen Kallikles und Nietzsche.

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So kommen wir nun zu den weiteren Kritikpunkten an der Wiedergängerthesis. Ein grundlegender Unterschied zwischen beiden scheint mir deren Motivation und Ziel zu sein, das beide, mit dem Naturrecht bzw. der Herrenmoral, verfolgen. Kallikles benutzt das Naturrecht nämlich dazu, um sein eigenes Machtstreben zu rechtfertigen. Er setzt dieses, gleichsam in protektionistischer Manier als „die absolute Gerechtigkeit“, um auf dieser Basis sein Handeln und Streben zu legitimieren. Im Gegensatz dazu steht Nietzsche. Zwar scheint es so als würde auch Nietzsche mit der immensen Färbung seiner Begrifflichkeiten eine klare Präferenz für die Herrenmoral zeigen. Am Ende lässt er aber das Problem vom Wert der Werte offen, und entscheidet sich, nicht etwa wie Kallikles in naturalistischer Weise, für eine Moral. So könnte man in der Färbung durchaus nur ein rhetorisches Kunstmittel sehen, mit dem Nietzsche versucht, die Position der Herrenmoral zu stärken, da sich diese stark von der herrschenden Meinung – der Sklavenmoral, unterscheidet. Nicht umsonst lautet der Untertitel der Genealogie der Moral: Eine Streitschrift. Ob die krasse Überzeichnung nur als Stilmittel zu werten ist, oder ob sich darin doch eine persönliche Präferenz Nietzsches zeigt, will ich hier aber offen lassen. Als Wissenschaftler ist er aber auf einen immoralistischen Standpunkt angewiesen, sonst würde die Glaubwürdigkeit und versuchte Objektivität definitiv flöten gehen. Eine naturalistische Position aber vertritt Nietzsche nicht. Nietzsche geht es also eher um ein „in-Frage-stellen“ des Problems vom Werte und nicht um ein „ausser-Frage-ziehen“, wie es Kallikles versucht. Während Nietzsche noch nach der Wahrheit sucht, ja so etwas wie Wahrheit im Sinne Kallikles ablehnt, meint Kallikles diese bereits gefunden zu haben. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Unterschied „in der Tiefe“. So postuliert Kallikles lediglich seine Vorstellung in Abgrenzung zum nomos und verweist als Begründung auf Augenscheinlichkeiten und historische Beispiele. Nietzsche hingegen begründet die Zurückweisung der Sklavenmoral. Er weist der Sklavenmoral ihre Irrtümlichkeit nach, in dem er die Entstehungsgeschichte des Irrtums aufzeigt, auf dem diese ihr Ideal errichtet hat. Außerdem entlarvt er die Sklavenmoral, in dem er ihre Verlogenheit aufzeigt. So ist die Sklavenmoral in ihrem Kern ebenso egoistisch veranlagt: Handeln nämlich alle unegoistisch, ist allen in ihren egoistischen Bedürfnissen geholfen. Aber gerade die egoistischen Bedürfnisse werden ja in der Sklavenmoral als böse hingestellt. Einen weiteren Grund für die Zurückweisung, sieht Nietzsche in der verkleinernden Wirkung der Sklavenmoral. Darauf möchte ich aber nicht mehr detaillierter eingehen und komme nun zum Schluss. Es hat sich also herausgestellt, dass Kallikles und Nietzsche durchaus einige Parallelen aufweisen. So lehnen beide die Bindung des Willens an ein vom schwachen geschaffenes Ideal ab, wenn auch mit unterschiedlichen Gründen. So ist Kallikles Ablehnung mehr persönlich motiviert und äußert sich, mehr oder weniger, als Postulat. Nietzsche hingegen führt Gründe, wie die Irrtümlichkeit, die Verlogenheit und die verkleinernde Wirkung gegen die Sklavenmoral ins Feld. Daneben haben auch beide eine andere Vorstellung von Moral zu bieten. Diese scheinen auf den ersten Blick auch sehr ähnlich, entpuppen sich aber bei näherem Hinblicken wiederum als unterschiedlich. Kallikles naturalistische Begründung und seine Motivation, das Naturrecht als Rechtfertigungsbasis seines eigenen Machtstrebens, differieren doch sehr von Nietzsches Begründung und Motivation. So rekonstruiert Nietzsche lediglich die Herrenmoral als ursprünglichere Moral und zeigt Gründe, wie die Wahrhaftigkeit, auf, die für diese sprechen. Auch verkauft Nietzsche die Herrenmoral nicht als „die absolute Gerechtigkeit“, wie Kallikles dies versuchte. Es hat sich also gezeigt, dass sich die Wiedergängerthesis als sehr oberflächlich entpuppt hat, die bei näherem Hinsehen leicht ins Wanken gerät. Das Werk Nietzsches, aus dem die Ansichten in diesem Essay entnommen waren, ist die Genealogie der Moral. Inwieweit sich Nietzsches Ansichten in der Gesamtheit seines Werkes mit Kallikles vergleichen lassen, wäre eine weitere Untersuchung wert.