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Weimarer Klassik 15 Schillers Essays Helmut Galle [email protected]

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Weimarer Klassik

15 Schillers Essays

Helmut Galle [email protected]

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• Seit 1791 Beschäftigung mit Kants „Kritik der Urteilskraft“ (1790)

• Rezeption von Shaftesbury, Lessing, M. Mendelssohn, Goethe

• Theoretische Schriften über Ästhetik (Auswahl):

Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (1784)

Über tragische Kunst (1792)

Über Anmut und Würde (1793)

Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)

Über naive und sentimentalische Dichtung (1795)

Vom Erhabenen (1801)

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• „Schönheit ist nichts anderes als Freiheit in der Erscheinung.“ (in den „Kallias-Briefen“ an seinen Freund Körner, 1793)

• Begriff von Freiheit:

politisch: Befreiung von Unterdrückung

moralisch: Zustimmung zur Freiheit des Vernunftgesetzes

anthropologisch: Aussöhnung des Menschen mit sich selbst

ästhetisch: zivilisatorischer Fortschritt im Durchgang durch ästhetische Autonomie

• Begriff der „Anmut“: moralische + physische Schönheit; unverstelltes Menschsein vor der Zivilisation; Einheit von schönem Körper und schöner Seele (eher bei Frauen)

• Begriff der „Würde“: im Ansturm der Affekte muss sich die schöne Seele gegen das Sinnliche wenden, verliert die Anmut aber gewinnt Würde (moralische Größe, eher bei Männern)

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„Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“

• 1793 als authentische Briefe an den Herzog von Augustenburg verfasst (dafür ein dreijähriges Stipendium)

• 1795 in Schillers Zeitschrift Die Horen publiziert

• Schillers wichtigster theoretischer Essay

• Zentralschrift des deutschen Idealismus

• Thema: Versöhnungspotential der Kunst angesichts der Trennung von Geist und Erfahrungswelt, der Entfremdung von äußerer und innerer Natur:

• Gegensatz Natur vs. Vernunft >>> versöhnt in Kunst

• Bilanz der Aufklärung:

Erfolg im Kampf für Wissen und gegen den Aberglauben

Stagnation des sozialen Fortschritts

Spezialisierung reduziert den Menschen

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• der einfache Mensch handelt triebhaft und egoistisch (Naturzwang)

• der entwickelte Mensch handelt vernünftig und egoistisch (seine Triebnatur unterdrückend)

• Ideal wäre: in Freiheit handeln aus Einsicht in das moralische Gesetz zum Wohle des Ganzen

• Kunst ist Spiel, daher frei vom Zwang der Realität

• in fiktiven Welten kann der Mensch sinnlich und vernünftig die Freiheit antizipieren

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• zivilisatorischer Fortschritt bedeutet Spezialisierung

• Spezialisierung bedeutet Entfremdung des Menschen von seinen natürlichen Anlagen

• im Kunstgenuss ist die Spezialisierung aufgehoben

• Herz (Affekt) und Verstand sind gleichermaßen beteiligt

• durch Kunst wird der natürliche Mensch vernünftig

• durch Kunst erhält der vernünftige Mensch Anschauung vom Idealen

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• Kunst ist „schöner Schein“ ohne Täuschung

• wahre (ideale) Kunst befreit die Wirklichkeit vom Schein

• wahre Kunst befreit den Schein von der Wirklichkeit

• wahre Kunst vermittelt das Wahre

• der schöne Schein schafft Genuss im Spiel ohne Interesse

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• Auseinandersetzung mit Kants drei Kritiken, insbesondere der Kritik der Urteilskraft: o Natur (theoretische Vernunft) und Freiheit (praktische

Vernunft) sind zentrale Kategorien zwischen denen das „Ästhetische“ (Urteilskraft) vermittelt

o Ästhetische Urteile sind subjektive Urteile, die nicht logisch begründet werden können

o Die Haltung des Menschen gegenüber der Kunst ist nicht von Zwecken bestimmt, sondern von „interesselosem Wohlgefallen“

o Der Künstler schafft das Werk nicht durch Nachahmung der Natur, sondern aus seiner imaginativen Naturbegabung heraus („Genie“)

• Auseinandersetzung mit der Revolution: Wie lässt sich der soziale Fortschritt der Menschheit ohne Gewalt erreichen?

• 3 Stufen des Menschseins: natürlicher – ästhetischer – sittlicher Mensch

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15. Brief: Griechenland vs. Rom

„Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nämlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns aus diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen.“

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Lebendige Schönheit ohne Zweck

„Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit sein; indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin tut sie auch den Ausspruch: der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen.“

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Spiel

Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden;

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Olympische Götter als Symbol des interesselosen Spiels

Von der Wahrheit desselben geleitet, ließen sie (die griechischen Künstler) sowohl den Ernst und die Arbeit, welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seligen Götter verschwinden, gaben die ewig Zufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frei und machten den Müßiggang und die Gleichgültigkeit zum beneideten Lose des Götterstandes: ein bloß menschlicherer Name für das freieste und erhabenste Sein.

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„Juno Ludovisi“

römisch 1. Jahrhundert n.

Chr.

(eine Replik befand sich in Goethes Sammlung in

Weimar)

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„In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung, und als wenn sie jenseits des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand; da ist keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit einbrechen könnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat.“

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Utopie der Kunst

• Durch die Kunst (die ideale Kunst) erfährt der Mensch (spielerisch) die Möglichkeit der Befreiung von der Natur und von Entfremdung durch den Verstand.

• Der Kunstgenuss ist ein Vorgeschmack auf ein glückliches und versöhntes Dasein.

• Der Dichter hat die Aufgabe, ideale Werke zu schaffen, an denen der Mensch sich fortentwickeln kann.

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“Über naive und sentimentalische Dichtung.“

• 1795/96 in der Zeitschrift Die Horen publiziert

• Letzter großer Essay Schillers

• Ortsbestimmung der „Moderne“

• Geistige Auseinandersetzung mit der Antike und mit Goethe

• Bestimmung von Schillers eigener ästhetischen Leistung

• „Naivetät“: das Naive ist das Naturhafte, Objektive, im Gegensatz zum Kulturhaften, Künstlichen,

• Sentimentalisch: das Künstliche, Reflexive, Abstrakte, Subjektive

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• naiv – sentimental / antik – modern / klassisch – romantisch / objektiv – subjektiv / Goethe - Schiller

• Antike: (glückliche) Einheit des Menschen mit der Natur

• Moderne: (unglückliche) Entzweiung von Natur und Geist, die Einheit kann nur auf dem Weg über die Zivilisation wiedergefunden werden

• Ziel der Kunst ist nicht Nachahmung der Natur, sondern das „Wahre“, das nur in der Idee aufscheint, im Idealen

• Notwendiger Dreischritt: Natur – Kultur – Ideal (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft)

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Naturgefühl

„Das Gefühl [Natur], von dem hier die Rede ist, ist also nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerlei mit demjenigen, welches wir für die Alten haben.

Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was Homers Seele füllte, als er seinen göttlichen Sauhirt den Ulysses bewirten ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer lästigen Gesellschaft diesen Gesang las.

Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.“

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Kunst und Natur

„Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein können und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß willkürlicher und künstlicher Formen erfahren oder doch mit demselben zu kämpfen gehabt haben, da werden sie als die Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten.

Sie werden entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen. Daraus entspringen zwei ganz verschiedene Dichtungsweisen, durch welche das ganze Gebiet der Poesie erschöpft und ausgemessen wird. Alle Dichter, die es wirklich sind, werden, je nachdem die Zeit beschaffen ist, in der sie blühen, oder zufällige Umstände auf ihre allgemeine Bildung und auf ihre vorübergehende Gemütsstimmung Einfluß haben, entweder zu den naiven oder zu den sentimentalischen gehören.“

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Antike und moderne Dichter: naive und sentimentalische Dichtung

„Wer aber nur irgend, dem Geiste nach und nicht bloß nach zufälligen Formen, eine Vergleichung zwischen alten und modernen Dichtern anzustellen versteht, wird sich leicht von der Wahrheit desselben überzeugen können. Jene rühren uns durch Natur, durch sinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegenwart; diese rühren uns durch Ideen.“

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Relativierung: naiv / sentimentalisch als Stilformen

(Fußnote) „Es ist vielleicht nicht überflüssig zu erinnern, daß, wenn hier die neuen Dichter den alten entgegengesetzt werden, nicht sowohl der Unterschied der Zeit als der Unterschied der Manier zu verstehen ist. Wir haben auch in neuern, ja sogar in neuesten Zeiten naive Dichtungen in allen Klassen, wenngleich nicht mehr ganz reiner Art, und unter den alten lateinischen, ja selbst griechischen Dichtern fehlt es nicht an sentimentalischen. Nicht nur in demselben Dichter, auch in demselben Werke trifft man häufig beide Gattungen vereinigt an; wie z.B. in »Werthers Leiden«, und der gleichen Produkte werden immer den größern Effekt machen.“

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Teleologie des Gangs der Geschichte: Abstraktion und Entfremdung

„Dieser Weg, den die neueren Dichter gehen, ist übrigens derselbe, den der Mensch überhaupt sowohl im einzelnen als im ganzen einschlagen muß. Die Natur macht ihn mit sich eins, die Kunst trennt und entzweiet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück. Weil aber das Ideal ein Unendliches ist, das er niemals erreicht, so kann der kultivierte Mensch in seiner Art niemals vollkommen werden, wie doch der natürliche Mensch es in der seinigen zu werden vermag.“

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Wert des naiven und des sentimentalischen

„Er [der sentimentalische Dichter] müßte also dem letzteren [dem naiven] an Vollkommenheit unendlich nachstehen, wenn bloß auf das Verhältnis, in welchem beide zu ihrer Art und zu ihrem Maximum stehen, geachtet wird. Vergleicht man hingegen die Arten selbst miteinander, so zeigt sich, daß das Ziel, zu welchem der Mensch durch Kultur strebt, demjenigen, welches er durch Natur erreicht, unendlich vorzuziehen ist. Der eine erhält also seinen Wert durch absolute Erreichung einer endlichen, der andre erlangt ihn durch Annäherung zu einer unendlichen Größe.“

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Moderne ist der Antike letztlich überlegen, weil unendlich fortschreitend

„Weil aber nur die letztere Grade und einen Fortschritt hat, so ist der relative Wert des Menschen, der in der Kultur begriffen ist, im ganzen genommen niemals bestimmbar, obgleich derselbe im einzelnen betrachtet sich in einem notwendigen Nachteil gegen denjenigen befindet, in welchem die Natur in ihrer ganzen Vollkommenheit wirkt.

Insofern aber das letzte Ziel der Menschheit nicht anders als durch jene Fortschreitung zu erreichen ist und der letztere nicht anders fortschreiten kann, als indem er sich kultiviert und folglich in den erstern übergeht, so ist keine Frage, welchem von beiden in Rücksicht auf jenes letzte Ziel der Vorzug gebühre.“

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Überlegenheit des unvollkommenen Modernen

„Dem naiven Dichter hat die Natur die Gunst erzeigt, immer als eine ungeteilte Einheit zu wirken, in jedem Moment ein selbständiges und vollendetes Ganze zu sein und die Menschheit, ihrem vollen Gehalt nach, in der Wirklichkeit darzustellen.

Dem sentimentalischen hat sie die Macht verliehen oder vielmehr einen lebendigen Trieb eingeprägt, jene Einheit, die durch Abstraktion in ihm aufgehoben worden, aus sich selbst wiederherzustellen, die Menschheit in sich vollständig zu machen und aus einem beschränkten Zustande zu einem unendlichen überzugehen.“

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Ziel der naiven und sentimentalischen Kunst

„Der menschlichen Natur ihren völligen Ausdruck zu geben, ist aber die gemeinschaftliche Aufgabe beider, und ohne das würden sie gar nicht Dichter heißen können; aber der naive Dichter hat vor dem sentimentalischen immer die sinnliche Realität voraus, indem er dasjenige als eine wirkliche Tatsache ausführt, was der andere nur zu erreichen strebt.“

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Bibliographie

• SCHILLER, FRIEDRICH. Friedrich Schiller: Theoretische Schriften. JANZ, R.-P. (Ed.). Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2008.

• SCHILLER, FRIEDRICH. A educação estética do homem: numa serie de cartas. Trad. Marcio Suzuki. São Paulo: Iluminuras, 1995.

• SCHILLER, FRIEDRICH. Poesia ingenua e sentimental. Trad. Marcio Suzuki. São Paulo: Iluminuras, 1991.

• SAFRANSKI, RÜDIGER. Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2004.