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Michael Krupp Die Geschichte der Juden im Land Israel Vom Ende des Zweiten Tempels bis zum Zionismus Mit einem Geleitwort von Elazar Benyoetz Gütersloher Verlagshaus

Die Geschichte Der Juden Im Lande Israel (Nur Relevante Kapitel)

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Israel, Israil, Juden, Heiliges Land, Moslems, Muslime

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Michael Krupp

Die Geschichte der Juden im Land Israel Vom Ende des Zweiten Tempels bis zum Zionismus

Mit einem Geleitwort von Elazar Benyoetz

Gütersloher Verlagshaus

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Originalausgabe

Ein NES AMMIM Buch

Zum besseren Verständnis des Judentums und Israels

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Krupp, Michael Die Geschichte der Juden im Land Israel : vom Ende des Zweiten Tempels bis zum Zionismus / Michael Krupp. - Orig.-Ausg. - Güters­loh : Gütersloher Verl.-Haus Mohn, 1993

(Gütersloher Taschenbücher ; 765) ISBN 3-579-00765-3

NE:GT

ISBN 3-579-00765-3

©Güterioher Verlagshaus, Gütersloh 1993

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Rehder, Kelmis/Belgien, unter Verwendung der Farbradierung »Schawuot - Fest der Thora, Erntefest« von Hartmut R. Berli-nicke, Wildeshausen Satzherstellung: Michael Krupp und pagina GmbH, Tübingen Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Werkdruckpapier Printed in Germany

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Inhalt

5

(icleitwort . 7

Vorwort 10

Einleitung 12

Israels tausend Jahre im Land Kanaan 12

1. Unter Römern und Byzantinern 19

Judäa vor der Tempelzerstörung 19 Der »Große Aufstand« gegen Rom 30 Die Katastrophe der Tempelzerstörung im Urteil der Rabbinen 39 Die Zeit zwischen den Aufständen 42 Der Bar Kochba-Aufstand 47 Der Abschluß der Mischna und das Ende der römischen Herrschaft 55 Die christliche Herrschaft bis zur Auf­hebung des jüdischen Patriarchats 61 Der Talmud und die übrige rabbinische Literatur . 68 Das Ende der christlichen Herrschaft und die Eroberung durch die Perser 72

2. Araber, Kreuzfahrer und Mamelukken 77

Die Eroberung durch den Islam 77 Die jüdische Selbstbehauptung unter arabischer Herrschaft 85 Niedergang während der Kreuzzüge 99 Die Herrschaft der Mamelukken (1291-1516) . . 110

3. Die türkische Herrschaft 119

Die Zustände in Jerusalem und den kleinen Gemeinden 119 Das goldene Zeitalter in Zefat -Zentrum der jüdischen Welt 123 Niedergang und messianische Wirren

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- das 17. Jahrhundert 136 Aushalten und Erneuerung - das 18. Jahrhundert 144 Auf dem Weg zu einem jüdischen Gemeinwesen - das 19. Jahrhundert 152

Epilog 163

Von der Zionssehnsucht zum jüdischen Staat . . 163

Zeittafel 166

Abkürzungen der Quellenangaben 169

Namensregister 170

Orts- und Länderregister 174

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Das Land der Augen Gottes

Ein Geleitwort

Johannes der Täufer irrte sich, da er meinte, Gott könnte, wollte er nur, Abraham auch aus dern Steine Kinder hauen. Gott will nicht, was er kann, darum ist er Gott; seine Gedan­ken aber gehen durch Fleisch und Blut bis ins Mark, wo sie erhalten bleiben. Dem Stein ist nur das Feuer zu entnehmen, nicht die Glut, geschweige denn eine große Verheißung.

Hätte Gott gewollt, was Johannes ihm zugedacht hatte, dann müßte Abraham nicht in ein unbekanntes Land auf­brechen, nur, weil dort ihm ein Same verheißen wurde. Was diesen betrifft, war Abraham gerade bestens beraten: der ge­segnete Schoß war der weibliche f/r-Schoß. Isaak und Jakob, Kinder des verheißenen Landes beide, mußten sich ihre Frauen von dort holen.

Im Lande der Fruchtbarkeit blieb Abraham unfruchtbar. Wenn seine Unfruchtbarkeit dem Plan Gottes nicht hinder­lich wäre, wenn Gott also wie Johannes dächte, dann hätte ER ihn in Ur zu einem mächtigen Stamm gedeihen lassen. Gott aber sprach also zu Abraham:

Geh aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen, und will dich segnen, und dir einen großen Namen machen, und sollst ein Segen sein. Ich werde segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Abraham wurde aufgerufen, ins Unbekannte aufzubre­chen, das ihm Vertrauteste fahren zu lassen, und sich einer Verheißung hinzugeben, die nichts offenbart, aber wohl geeig­net ist, Unerschütterliches hervorzurufen und wortfest zu ma­chen.

Dies war der Ruf, den Abraham vernommen haben muß, denn Abram heißt: der große Mann, der bei sich nur eines weiß und darum nicht zu ergründen ist. Es ist ja auch so, daß wir nach wie vor nicht wissen, warum Abraham an Gott glaubte. Aber wir wissen, daß er in seinem Glauben selbst durch Gott nicht zu erschüttern war.

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So dürfen wir annehmen, daß er nicht des verheißenen Sa­mens wegen Vaterland und Freundschaft verlassen hatte. Er war alt genug, um sich mit seiner Unfruchtbarkeit längst abgefunden zu haben. Er wird sich später auch bereit zeigen, ohne Wimperzucken seinen spät geborenen Isaak zu opfern. Ferner dürfen wir annehmen, daß es ihm nicht um den gro­ßen Namen zu tun war. Wen Gott sucht und findet, ist groß genug, muß sich keinen Namen mehr machen. Gott hat sei­nen Namen auch oft genug ausgesprochen, das war die Freude seines Mundes, schließlich legte er ihm ein ganzes, göttliches H zu, so war ER ihm mit einem Hauch mehr zugewandt. Auch die Engel stritten um die Gunst, den Namen Abrahams aussprechen zu dürfen. Der eine konnte sich nicht enthalten, und rief den Namen, voll Bangen und Verzückung, gleich zweimal aus: »Abraham, Abraham!« (1 Mos 22,11). Sie wuß­ten, was Jesaja uns nur andeuten konnte: daß Abraham Got­tes einziger Freund war.

Aus der langen Liste der Verheißungen traf nur das letzte Wort auf Abraham zu: er wollte zum Segen werden, denn er kannte die verfluchte Welt und würde gern am Anfang einer neuen gestanden haben. Dahin also brach er auf, in das ver­heißene, nicht zu benennende Land, das ER ihm, dem neuen Adam, zeigen wollte. Es sollte kein zweites Paradies sein, Ab­raham kein Gärtner Gottes werden.

Gott hat ihm den Weg dahin nicht gewiesen, sein eigener Aufbruch gab ihm die Richtung unfehlbar ein.

Als er bereits hineingekommen und bis Sichern vorgedrun­gen war, erschien ihm Gott und sprach zu ihm: »Deinem Sa­men gebe ich dieses Land«. Das also war's. An Gottes Ziel angekommen stand er an seinem Anfang. Was darauf folgte, ist in der Bibel nachzulesen. Aber was geschrieben steht, bleibt doch nicht stehen.

Abraham wurde zum Segen, viele Völker der Erde ruhen nun »in Abrahams Schoß«. Aber fruchtbar konnte Abraham nur in diesem Land werden und auch nur in diesem war »der Segen Abrahams« wirksam und ließ sich übertragen, so pflanzte er sich bis auf Jakob fort. Kraft dieses Segens konnte Jakob dann den eigenen Kampf mit dem Engel aufnehmen

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und eine Nacht lang mit ihm ringen, auf daß er nicht mehr Jakob heiße, sondern Israel. Nun sollten die Völker in diesem Namen gesegnet werden.

Die Söhne Jakobs sind die Kinder Israel geworden, aber bis auf Benjamin wurde keiner von ihnen im Land Israel gebo­ren. Das Land der Verheißung, obzwar geschenkt, war nicht billig zu haben, mußte begehrt und eingenommen werden. Denn nun war es das »Land der Augen Gottes«, in das er seinen Blick zurückzog, nachdem er ihn vom Paradies ab­wandte und seine bittersten Tränen über Adam und seine sich gegen Ihn auftürmenden Nachkommenschaft als Sintflut über die Welt vergossen hatte.

Die erste uns bekannte Liebe Gottes gehörte dem Land, das er seinem einzigen Freund, Abraham, »zeigen wollte«.

Dem auserwählten Volk blieb kaum ein Fluch erspart, vom Land Israel durfte aber kein schlechtes Wort je gesagt werden.

Die größten Fürsten Israels, die von Mose entsandt wurden, das Land auszukundschaften, mußten ihr Leben lassen, weil sie kleinmütig über das Land gesprochen hatten. Das war vor Gott ein noch größerer Frevel als der Tanz um das goldene Kalb.

Der Gedanke, das »Land der Augen Gottes« könnte von Ihm je verlassen werden, erschütterte noch den Exil-Prophe­ten Hesekiel derart, daß wir meinen, in seiner Rede das Beben eines jeden Worts Gottes zu vernehmen:

»Es ist die Missetat des Hauses Israel und Juda allzusehr groß; es ist eitel Blut­schuld im Lande und Unrecht in der Stadt. Denn sie sprechen: Der Herr hat das Land verlassen, und der Herr sieht uns nicht« (9,9).

Die Geschichte des Judentums und sein Denken dreht sich um dieses Wortpaar »Verlassen und Verlass«, beide haben sie ihren Ursprung in Abraham.

Das ist die Kehrseite der vorliegenden Geschichte, die Mi­chael Krupp uns hier zum ersten Mal, in großem Zusammen­hang und ohne Auslassungen erzählt.

Jerusalem, Rosch Chodesch Menachem Av 5753 Elazar Benyoetz

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Vorwort

Martin Noths angesehene »Geschichte Israels«, Lehrbuch aller deutschen Theologen und weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, endet mit dem Untergang des Tempels und dem nachfolgenden letzten großen Aufstand der Juden gegen die Fremdherrschaft der Römer:

Die Provinz aber vertauschte wahrscheinlich jetzt ihren bisherigen Namen Judaea mit dem neuen Namen Palaestina, den sie fortan führte und der von der älteren Bezeichnung des Küstenlandes als »Philisterlandes« herstammte; denn der Provinzname sollte nicht einmal mehr den Anschein erwecken, als ob es hier noch ein »Land der Juden« gäbe. So waren die Nachkommen des alten Israel in ihrem eigenen einstigen Heimatland zu Fremdlingen geworden, wie sie es sonst in der Diaspora auch waren; und ihre heilige Stadt war ihnen ver­schlossen. Damit endete das schauerliche Nachspiel der Geschichte Israels.

<Noth 406)

Der große deutsche Alttestamentier war hier einer christ­lichen idee fixe erlegen, daß nämlich die Verwerfung Jesu durch die Juden das Ende ihrer Geschichte bedeute. Mit der Tempelzerstörung und dem Bar Kochba-Aufstand war aber die Geschichte Israels nicht zu Ende, nicht einmal die Ge­schichte Israels in seinem Land. Noch Jahrhunderte lang wa­ren die Juden die Mehrheit in ihrem Lande. Erst mit dem Sieg des Christentums als Staatsreligion in der byzantinischen Zeit, als die Judenverfolgungen zunahmen und Vertreibung und Zwangsbekehrung zur Norm wurden, schwand die jüdische Mehrheit. Dennoch blieb das Land Mittelpunkt für Juden in aller Welt. Aus ihrem Land sind die Juden niemals ganz ver­trieben worden, nicht einmal in der Zeit des tiefsten Nieder­gangs, in der Zeit der Kreuzzüge. Es hat sogar Juden gegeben, in entlegenen Gegenden wie in einigen galiläischen Dörfern, die das Land Israel niemals verlassen haben, die niemals ins Exil gingen.

In diesem Buch wird der Kampf der Juden um das Ver­bleiben in ihrem Land geschildert. Es macht deutlich, wie vie­le Opfer es kostete, im Land der Väter und Mütter und beson­ders in Jerusalem auszuharren. Das Land Israel hat für die Juden niemals aufgehört, das besondere eigene Land zu sein. Es blieb die Sehnsucht aller Generationen, und jede Genera-

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tion war bereit, große Opfer auf sich zu nehmen, um wenig­stens einen Rest des Volkes in seinem Land zu bewahren.

In diesem Buch wird abwechselnd der Begriff »Land Israel« neben dem herkömmlichen Namen »Palästina« verwandt. »Land Israel« ist der jüdische Name für das Land, und er bezeichnet das Territorium, in dem das jüdische Volk zur Zeit seiner größten Ausdehnung wohnte. »Land Israel« ist im strengen Sinn ein religionsgesetzlicher Begriff und bezeichnet das Gebiet, in dem die biblischen Bodenbestimmungen, wie das Siebentjahr, die Verzehntung der Früchte und die Ar­menabgaben eingehalten werden müssen. Der Begriff »Palä­stina«, »Philisterland«, ist, wie der eingangs zitierte Alttesta-mentler richtig bemerkt, ein römischer Schimpfname. Als Landesbezeichnung wurde er in der englischen Mandatszeit verwandt, als das Land auf offiziellen Dokumenten den Dop­pelnamen »Palästina, Land Israel« trug. Geschichtlich hat dieser Raum seit dem Untergang der jüdischen Selbständig­keit in römischer Zeit bis zum Beginn des englischen Mandats mit der Ausnahme der hundert Jahre des »Königreichs Jeru­salem« der Kreuzfahrer keine politische Eigenständigkeit ge­habt. Es war immer Teil eines größeren Ganzen und zusätz­lich in verschiedene Gebiete unterteilt, die unterschiedlichen Verwaltungszentren unterstellt waren. So ist die Verwendung des Begriffes »Palästina« für die meiste Zeit anachronistisch und ein Zugeständnis an den allgemeinen Sprachgebrauch. Wenn der Begriff »Land Israel« verwandt wird, so um klar­zustellen, daß das Land für das Judentum niemals seine Ein­heit und seine religiöse wie existentielle Bedeutung verloren hatte.

Zum Schluß möchte ich denen danken, die bei der Her­stellung und Durchsicht des Buches maßgeblich beteiligt wa­ren: meiner Frau Daniele und Frau Astrid Fiehland van der Vegt für das kritische Lesen des Manuskripts, Herrn Schälkle, Familie Ott und der Firma Pagina für die Hilfe bei der Her­stellung des Computersatzes, dem Verlag für die Aufnahme in die »Gütersloher Taschenbücher« und Herrn Neidhardt für das Prädikat »Ein Nes Ammim Buch«.

Jerusalem, im Sommer 1993 Michael Krupp

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Einleitung

Israels tausend Jahre im Land Kanaan

Denn das Land, dahin du kommen wirst, es zu besetzen, ist nicht wie das Land Ägypten, aus dem ihr ausgezogen seid, das du, sooft du deinen Samen sätest, mit deinem Fuß (der die Pumpe bedient) bewässern mußtest wie einen Gemüsegar­ten. Das Land, dahin ihr ziehen werdet, es zu besetzen, ist ein Land mit Bergen und Tälern, das vom Regen des Himmels Wasser trinkt, ein Land, auf das der Herr, dein Gott, achthat, auf dem die Augen des Herrn, deines Gottes, allezeit ruhen, vom Anfang des Jahres bis zum Ende des Jahres. (5 Mose 11,10-12)

Das spröde Land mit Bergen und Tälern, in dem, wenn es einmal nicht regnete, die Menschen umkamen oder ihr Heil im Ausland suchen mußten, den Nomaden aus der Wüste er­schien es wie der Vorgarten zum Paradies. In dem Regen, der vom Himmel fiel und die Erde fruchtbar machte, erkannten sie die Liebe des Gottes der Väter, der ihnen dieses Land ver­heißen hatte. Es brauchte viele Jahre, bis sich die israeliti­schen Stämme gegen die hochgerüsteten Stadtstaaten der ka-naanäischen Ureinwohner durchsetzen konnten. König David gelang es schließlich, das erste Gesamtreich in diesem Raum aufzurichten. Unter seinem Nachfolger, König Salomo, konn­te es neben den traditionellen Großmächten der antiken Welt, Ägypten und Mesopotamien, seine Macht behaupten. Seine Herrschaft erstreckte sich sogar über viele Nachbarvölker.

Doch diese Einheit und Größe währte nicht lange. Die Bi­bel benennt als Ursache für den Verlust der Selbständigkeit die Sünde der Könige und des Volkes, die immer wieder von dem einen Gott Israels abfielen. So zerbrach die Großmacht Israel in ein Nord- und Südreich. Nach 300 Jahren fiel das Nordreich und die zehn Stämme zogen ins Exil, aus dem sie nie mehr zurückkamen. Seitdem spricht man von den »verlo­renen zehn Stämmen«, die wie ein Gespenst durch die Ge­schichte Israels geistern. Aber auch der Süden, die davidische Königsherrschaft, war von dem wahren Gott abgefallen und hatte »die Götzen aus Stein und Holz, die nicht helfen kön­nen«, angebetet. So waren nach 500 Jahren Selbständigkeit Jerusalem und der Tempel verlorengegangen und Juda war in

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Israels tausend Jahre im Land Kanaan 13

die Verbannung geführt worden. Erst nach 70 Jahren und nach vielen Opfern und Kämpfen entstand unter persischer Oberherrschaft wieder ein Kleinstaat Juda mit einem be­scheidenen Tempel; dieser Staat wurde immer wieder von den Nachbarn angefeindet.

Als das Land unter die Herrschaft Alexander des Großen kam und später in den Diadochenkämpfen zwischen Ägypten und Syrien zerrissen wurde, drohte ihm, wie den meisten Län­dern und Völkern dieser Region, im Schmelztopf einer griechischen Kultur unterzugehen. Daß dies im zweiten vor­christlichen Jahrhundert nicht geschah, ist der entschlossenen Haltung einer kleinen Gruppe im Volk zu verdanken, die eher bereit war zu sterben, als den Glauben der Väter an den Einen Gott, der die Welt geschaffen und Israel erwählt hat, aufzu­geben.

Den Makkabäern gelang es, das jüdische Element im Land zu stärken, indem sie in ihrer Existenz gefährdete Juden aus den Randgebieten ins jüdische Kernland brachten und hier

' den griechischen Einfluß zurückdrängten, wenn auch griechi­sche Städte inmitten des Landes bestehenblieben. Mit den Ju­den verwandte Stämme wurden zwangsbekehrt. Die führende Macht im Land übernahm das religiös regierte Jerusalem.

Durch innerjüdische Streitigkeiten gelangte im ersten vor­christlichen Jahrhundert auch Judäa in den Machtbereich des aufstrebenden römischen Reiches. Der letzte Hasmonäer, der dieser neuen Macht in diesem Raum zu widerstehen wagte, Matatiah Antigonos, unterlag nach einer dreijährigen Be­lagerung Jerusalems dem Römervasallen Herodes, einem Nachkommen jener Volksstämme, die die Hasmonäer zum Judentum zwangsbekehrt hatten.

Herodes, den die christliche Geschichtsschreibung Herodes den Großen nennt, wurde von den Juden zeitlebens niemals als einer ihresgleichen angesehen, obwohl er wie kein anderer zur Verschönerung des Landes beigetragen hat. Einige Pracht­bauten geben noch heute Zeugnis seiner reichen und prunk­vollen Bauweise; größtes Glanzstück war der Tempel von Je­rusalem, den er völlig neu errichten ließ. Die riesigen Stütz­mauern des künstlichen Berges, der heute noch die Basis des

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14 Einleitung

moslemischen Tempelplatzes ist, begeistern noch jetzt Bau­meister aus aller Welt. Die Westmauer des Tempelplatzes, von den Christen Klagemauer genannt, gilt als heiligste Stätte des Judentums.

Herodes regierte von 37 bis 4 v.Chr. Nach seinem Tode übernahmen seine Söhne als Statthalter die Herrschaft; den Königstitel verloren sie. Da sie nicht weniger grausam als ihr Vater regierten, übernahmen allmählich die Römer etappen­weise selber die Macht und schufen die römische Provinz »Ju-däa«. Machthaber wurden römische Ritter, die sogenannten Prokuratoren, die aber über keine eigenen Truppen verfügten und im Bedarfsfall fremde Heere aus Syrien ins Land holen mußten.

Auch diese römischen Statthalter herrschten mit Strenge über das Land und waren als Fremdherrschaft von den Juden verachtet und gehaßt. Gerechügkeitshalber muß man aber sa­gen, daß sie klug genug waren, das Volk nicht allzusehr zu reizen. Auf ihren Münzen erscheinen keine heidnischen Sym­bole oder anstößigen Porträts, zum Beispiel der Kaiser, wie im gesamten sonstigen Reich, sondern harmlose Darstellungen, die die religiösen Gefühle der Juden nicht verletzten, oder sogar ausgesprochen jüdische Symbole wie die Palme, das Symbol für das fruchtbare Land Juda, wie Palmzweige, die beim Laubhüttenfest getragen wurden, oder Ähren, jüdisches Zeichen für die Fruchtbarkeit des Landes. Die einzige Aus­nahme sind die Münzen des Pontius Pilatus, die vermutlich römische Hoheitszeichen und Opfergeräte abbilden.

Zweifellos war Pontius Pilatus, der zehn Jahre das Land re­gierte und gleichzeitig mit dem Hohenpriester Kaiphas abge­setzt wurde, der grausamste Regent in der ersten Hälfte der römischen Herrschaft. Nach ihm setzten deshalb die Römer einen jüdischen König ein, König Agrippa, der beim Volk sehr beliebt war. Selber ein Nachkomme des Herodes und der Hasmonäerin Mariamne war er eher ein echter Nachkomme der Hasmonäer. Nach seinem Tode übernahmen die Römer aber wieder die Herrschaft, jetzt allerdings furchtbarer als in der ersten Herrschaftsperiode, weil die neuen Prokuratoren nicht mehr Römer waren, sondern Griechen, die die ihnen

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Die Gräber zur Zeit des Zweiten Tempels und das Ossuar des Hohenpriesters Kaiphas

Wie in der Zeit des Ersten Tempels, so bestattete man auch in der Zeit des Zweiten Tempels in der Jerusalemer Gegend die Toten in Familien­grüften, in Höhlen, die in den weichen Kalkstein der Jerusalem um­gebenden Berge geschlagen wurden. Die Toten wurden auf Simsen oder später in Nischen, die sich in den Grabhöhlen befanden, zur Ruhe gebettet. Nach der Verwesung wurden die Knochen in einer be­sonderen Vertiefung in der Höhle oder in einer Nebenhöhle gesam­melt, um Platz zu schaffen für neue Bestattungen. Kurz vor der Zei­tenwende kam der sonst nirgendwo bekannte Brauch auf, die Gebeine gesondert in Knochenkästen, die in den Höhlen abgestellt wurden, aufzubewahren. Dies ist wahrscheinlich auf den in dieser Zeit sich verfestigenden Glauben an die Auferstehung im pharisäischen Juden­tum zurückzuführen.

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Die Ossuarien sind aus demselben meist weichen Kalkstein ge­hauen, in den auch die Höhlen geschlagen sind. Viele Ossuarien sind verziert. Das beliebteste Motiv ist die Doppelrosette als Symbol für Vollendung und Ewigkeit.

Besonders interessant sind die hebräisch, aramäisch oder griechisch beschrifteten Ossuare. Einer der spektulärsten Ossuarienfunde der letzten Zeit ist die Entdeckung des Ossuars mit der Inschrift »Jehosef ben Kaipha«, der im Neuen Testament Kaiphas genannt wird und der z.Zt. Jesu Hoherpriester war. Er hat im ersten Jahrhundert am läng­sten dieses wichtigste Amt im Judentum innegehabt, nämlich 18 Jahre lang, und wurde erst im Jahre 36, vermutlich sechs Jahre nach dem Tod Jesu, von den Römern abgesetzt, zusammen mit dem römischen Prokurator Pontius Pilatus, von dem ebenso eine Inschrift vor einigen Jahrzehnten in Caesarea gefunden wurde.

Ossuar mit Aufschrift: Jeshua, Mattai (Jesus, Matthäus)

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Seiten­ansicht: Aramäisch­hebräische Inschrift: Jeschua und sein Vater und seine Mutter

Viele neutestamentliche Namen finden sich auf den Ossuarien in ihrer Originalform: Schila für Silas, den Reisegenossen des Paulus, oder Mattai für Matthäus. Auch der Name Jesus kommt auf den Ossuarien vor. Bis jetzt sind drei Ossuarien mit dem Namen Jeschua (Jesus) gefunden worden, auf einem zusammen mit dem Namen Mat­tai und dem Zusatz: »und sein Vater und seine Mutter«. Wenn manche Christen auch glaubten, hier einen Hinweis auf den historischen Jesus zu finden, so bedeutet dies doch nur, daß der Name Jesus in seiner Zeit recht verbreitet war. Auch einige Zeichen, die wie Kreuze ausse­hen, wollen eifrige Forscher als erste Kennzeichen des frühen Chri­stentums interpretieren, dabei sind es aber nur Zeichen, die Hinweise geben, wie Kasten und Deckel am besten zu schließen sind.

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18 Einleitung

geistesverwandte heidnische Bevölkerung im Land gegenüber den Juden stark begünstigten. Aber auch die Verhältnisse in Rom selbst wurden für die Juden schwieriger. Der Anspruch der römischen Kaiser, als Gott verehrt zu werden, war für die jüdische Bevölkerung unakzeptabel.

Ossuarfragment mit hebräischer Inschrift: »Schila«, auf Grie­chisch Silas.

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1. Unter Römern und Byzantinern

Judäa vor der Tempelzerstörung

Das erste christliche Jahrhundert bis zur Zerstörung des Tempels im Jahre 70 war wirtschaftlich eine Blütezeit. Zwar befand sich das jüdische Land unter Fremdherrschaft, aber das jüdische Siedlungswerk war abgeschlossen. Die Zahl der jüdischen Bevölkerung war auf ihren Höhepunkt in der An­tike angelangt. Manche Schätzungen reden von vier Millio­nen Einwohnern. Die Juden waren Bauern, Handwerker und Händler und hatten ein gutes Auskommen. Die Juden mach­ten den größten Teil der Landbevölkerung aus. Sie lebten aber auch in den Städten, obwohl sie dort nicht immer die Mehr­heit bildeten. Hauptsiedlungsgebiet der Juden war das Kern­land Judäa mit dem Mittelpunkt Jerusalem. Jerusalem war durch den Tempel zugleich auch Mittelpunkt der Judenheit in aller Welt, das an Zahl vermutlich schon vor der Tempelzer­störung das Judentum im Land Israel überragte. Ein zweites Kerngebiet war Galiläa, ebenso fast rein jüdisch besiedelt mit den Städten Sephoris und Tiberias, lange Zeit miteinander rivalisierend um die Vormachtstellung in dieser Region. Ein drittes jüdisches Siedlungsgebiet war Ostjordanien, besonders die fruchtbare Jordanebene und die aufsteigenden Berge nach Rabbat Amnion, dem heutigen Amman, hin.

In der Mitte dieser drei Siedlungsräume lag das Gebiet der Samaritaner mit den Hauptstädten Sichern und Sebastie. Se-bastie ist das alte Samaria; es hatte von Herodes den Namen Sebastie zur Ehrung des Kaisers Augustus, griechisch Se-bastos, bekommen. Sebastie war die Hauptstadt, Sichern das religiöse Zentrum mit dem heiligen Berg Garizim, auf dem der Tempel der Samaritaner gestanden hatte, bevor er durch den Hasmonäer Hyrkanos zerstört wurde. Beide Städte waren von Herodes besonders prächtig ausgebaut worden.

Die Samaritaner waren ein den Juden verwandtes Volk. Sie bezeichneten sich als die Nachkommen der zehn Nordstäm­me Israels. Die Juden erkannten dies aber nicht an. Die Be-

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Münzen der Hasmonäer und des Agrippa

1. Hasmonäische Münze von Hyrkanos. Aufschrift: Griechisches »A«,

althebräische Inschrift: »Jehochanan, der Hohepriester, und der Senat

der Juden«. 2. Münze des Königs Agrippa aus dem Jahr 42 n.Chr..

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Samaritanische Öllampe und Torarolle. Die Öllampe zeigt diesselbe Torarolle, einige Jahrhunderte früher, mit

der althebräischen Inschrift: »Gepriesen sei sein Name in Ewigkeit«.

Die Öllampe stammt aus dem 4. Jahrhundert.

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22 1. Unter Römern und Byzantinern

Ziehungen zwischen beiden Völkern waren gespannt. In der Rechtssprechung unterschieden die Juden aber zwischen Sa-maritanern und Heiden. Mit Samaritanern waren auch Ehe­beziehungen möglich. Die Symbolik der Samaritaner, die sich auf Ollämpchen erhalten hat, zeigt keinen Unterschied zur jüdischen religiösen Symbolik. Auch ihr heiligstes Symbol war der siebenarmige Leuchter mit den Attributen der Aschenschaufel des Tempelaltars, dem Feststrauß des Laub­hüttenfestes und dergleichen. Ihre Lobsprüche, Segnungen und Gebetssprache waren ähnlich. Sie beteten zu demselben Gott, den sie mit denselben hebräischen Namen bezeugten. Im Gegensatz zu den Juden hielten sie an der althebräischen Schrift fest. Vielleicht gerade, weil sie sich so ähnlich waren, waren sie so verzankt. Jedenfalls machten Juden, die von Ga­liläa zum Tempel nach Jerusalem wollten, lieber den Umweg über das jüdische Gebiet in Transjordanien als durch sama-ritanisches Gelände zu ziehen. Von der Feindschaft und den Gegensätzen ist auch viel in den neutestamentlichen Evan­gelienberichten zu spüren. Jesus scheint ein besonders gutes Verhältnis zu den Samaritanern gehabt zu haben.

Neben Juden und Samaritanern wohnten noch zahlreiche Heiden im Land Israel. Sie waren zum Teil Nachkommen al­ter Volksreste, die nie zum Judentum übergetreten waren und die die sogenannten »Fremden« im Alten Testament ausma­chen. Viele waren mit den Hellenisierungswellen von Syrien her ins Land gekommen. Sie waren Nachkommen von pensio­nierten Legionären, die die verschiedenen Fremdherrschaften hier angesiedelt hatten. Sie lebten in den Städten an der Küste und in denen der Dekapolis diesseits und jenseits des Jordan, Städte, die sich zur besseren Selbstbehauptung zu einem Wirt­schafts- und Kultursystem zusammengeschlossen hatten. Auch in den neu gegründeten Verwaltungszentren, wie in Caesarea und Caesarea Philippi an den Jordanquellen, wohn­ten viele Heiden. In allen diesen Städten gab es auch eine jüdische Minderheit.

In den Städten hatte sich mit der griechischen Kultur auch die griechische Sprache durchgesetzt. Griechisch wurde zur lingua franca dieser Gegend und wurde von einem Großteil

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Wirte zur Zeit des Zweiten Tempels

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^Philadelphia (Amman)

Privatbesitz der römischen Kaiserinnen Herrschaftsgebiet des Philippus

HUI Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas W/A Halbautonome Städte, direkt Rom unterstellt t = t Vorwiegend jüdische Bevölkerung

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24 1. Unter Römern und Byzantinern

der Bevölkerung verstanden. Auch die römische Verwaltung bediente sich des Griechischen. Fast alle öffentlichen Auf­schriften aus dieser Zeit, die in diesem Raum gefunden wur­den, sind in Griechisch. Griechisch war auch die Sprache der Münzaufschriften seit Herodes dem Großen. Auch der jüdi­sche König Agrippas ließ seine Münzen in dieser Sprache prä­gen. Erst die jüdischen Aufständischen kehrten zum Hebräi­schen, und zwar zum Althebräischen, zurück. In Galiläa und wohl auch in den Städten Judäas wurde als Volkssprache Ara­mäisch gesprochen, das seit dem babylonischen Exil zur Hauptsprache auch im Land Israel geworden war. In ländli­chen judäischen Gebieten aber sprach man noch Hebräisch, und zwar das sogenannte mischnische Hebräisch, die Sprache, in der die Mischna, der Grundstock des Talmud, geschrieben wurde. Es ist ein Hebräisch, das wohl als Volkssprache auch früher, in biblischer Zeit, hier gesprochen wurde. Das heutige Neuhebräisch ist die Fortsetzung dieser Umgangssprache.

Das geistige Leben gegen Ende der Epoche des Zweiten Tempels war geprägt durch eine Verinnerlichung und Vertie­fung des Glaubens an den Einen Gott. Der Monotheismus, der zur Zeit des Ersten Tempels noch ein großes Problem dar­stellte, war in dieser Zeit uneingeschränkt anerkannt. Obwohl die heidnische Umwelt eine Vielzahl von Göttern verehrte, stellte der Polytheismus für Israel kein Problem mehr dar. In Israel gab es eine gewaltige Erweckungsbewegung, ein Ernst­nehmen der Bibel, vor allem der fünf Bücher Moses, der Tora, und den Versuch, nach ihr zu leben.

Die Fülle von Schriften, die in den Höhlen am Toten Meer bei Qumran gefunden wurden, zeigt, wie verbreitet die Tora und die gesamte hebräische Bibel in schriftlicher Form war. Sie zeigt zusätzlich den Reichtum an sonstiger Literatur, die nur in Bruchstücken erhalten geblieben ist. Das Judentum, das die Katastrophe der Tempelzerstörung überlebte, das pha­risäische Judentum, hat alle diese Literatur nach der Kata­strophe abgestoßen und als gefährlich, zur Ketzerei ver­führend, abgetan; dies sicherlich auch im Kampf mit Strö­mungen im eigenen Lager, die es als problematisch ansah, wie vielleicht das junge Christentum, aber auch gnostische und

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Judäa vor der Tempelzerstörung 25

il 11,1 listische Strömungen, also Strömungen, die an mehrere ilu- Welt regierende Gewalten, wie das Gute und das Böse, nl.mbten. Auch dies konnte den strengen Monotheismus

gen. Vor der Tempelzerstörung gab es aber noch einen §roßen Reichtum an religiöser Literatur, wie die in Qumran erhaltenen Schriften und die apokryphe Literatur, die die Kir­ne auf Griechisch erhalten hat, zeigen. | Zu den geistigen Strömungen gehört auch ein geistesge-ichichtliches Phänomen, das sich in dieser Zeit langsam her­ausbildete. Bedingt durch die andauernde Fremdherrschaft und durch die Tatsache, daß der Gute nicht immer in dieser Welt die Früchte seines Tuns erntet und der Böse nicht immer für seine Ruchlosigkeit bestraft wird, setzte sich immer mehr der Glaube an eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tode durch, an eine Auferstehung der Toten, zur endgültigen Rechtfertigung oder Strafe, oder auch an ein Ende dieser kor­rupten Welt und die Aufrichtung einer gerechten Herrschaft, die für Israel auch das Ende der Fremdherrschaft mit allem Unrecht und Leid beinhaltete. Gedanken dieser Art finden sich schon in den späten Schriften der Bibel, in den Apokry­phen und in den Qumrantexten, werden hier aber noch ver­geistigter geäußert. Hatte man früher die ausgleichende Ge­rechtigkeit in dieser Welt sich verwirklichen sehen, so sah man diese Welt an ein Ende kommen und einer neuen Welt weichen. Damit war auch der Glaube an das Kommen des Messias verbunden, der diese neue Welt herbeiführen sollte. Die Vorstellungen darüber waren sehr vielfältig. Es gab Vor­stellungen von zwei Messiassen, oder auch nur von einer mes-sianischen Heilszeit, die keinen persönlichen Messias kannte. Gelegentlich wurde die Messiaserwartung auch ganz abge­lehnt, weil man nicht bereit war, die Souveränität Gottes durch irgend jemand anders einzuschränken. Wenn man an einen Messias glaubte, so dachte man gewöhnlich an einen menschlichen und weltlichen Herrscher. Es konnte aber auch eine übermenschliche Vorstellung mit dem Messias verbun­den werden, so wie die des Menschensohnes im Buch Daniel, der aus den Wolken kommt. Letzterer hat sicher in besonde­rer Weise Jesus oder zumindest das Neue Testament beein-

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flußt. Daß man hier von einem »Menschensohn« redet, soll doch wohl anzeigen, daß es sich um mehr als einen »Men­schensohn« gehandelt hat.

Die klassischen Strömungen im Judentum in dieser Zeit sind Sadduzäer, Pharisäer und Essener. Dies ist nur eine Grobgliederung, denn auch diese Gruppen teilen sich noch in eine Reihe von Untergruppierungen auf.

Die Sadduzäer waren eine aristokratische Partei. Es war deshalb immer eine sehr kleine, wenn auch bis zur Tempel­zerstörung sehr mächtige Gruppe. Da ihre Macht an den Tempel gebunden war, zum Beispiel durch die Verwaltung des Tempelschatzes, eine Art Volksbank, ging sie auch mit dem Tempel unter. Geführt wurden die Sadduzäer durch einige reiche Familien, die sich auch in der Bestellung des wichtig­sten Amtes zur Zeit des Tempels abwechselten, dem Amt der Hohen Priester. Sicherlich gab es Kreise unter den Saddu-zäern, die zu Assimilation und Angleichung an fremde Sitten neigten, dies war aber nicht bestimmend oder typisch für die­se Gruppe. Auch sie hielten die Tora und ihre Gesetze sehr hoch. Sie hatten allerdings eine andere Auslegung der Schrift als die Völkspartei, die Pharisäer. Bekanntlich lehnten sie die Auferstehung der Toten ab, deswegen stritt mit ihnen auch Jesus auf pharisäische Weise. Die Auferstehung der Toten war aber ein ganz neuer Glaube, der eine wirklich revolutionäre Neuerung der Pharisäer war, und der sich ausdrücklich nicht in der Bibel, im Alten Testament, findet. So vermochten die Sadduzäer den Pharisäern in diesem Punkt und vielen ande­ren nicht zu folgen, da sie konservativer dachten und buchsta­bengerechter mit der Schrift umzugehen suchten.

Eine Volkspartei waren wie gesagt die Pharisäer. Sie waren zusammen mit den Sadduzäern aus der Gruppe der »From­men«, der Chassidim, hervorgegangen, die sich mit den Mackabäern erfolgreich gegen die Überfremdung und die Aufgabe des Glaubens an den Gott Israels gestellt hatten. Sie verstanden sich als die eigentlichen Lehrer der Nation. Der Kreis der Pharisäer schloß sich in besonderen Zirkeln, so­genannten Genossenschaften, zusammen. Die einzelnen Ge­nossen verbürgten sich dafür, daß sie wenigstens zwei Bestim-

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imingen des mosaischen Gesetzes ernst nahmen, die bisher lehr lax befolgt worden waren, zum einen die komplizierten Hcstimmungen der Verzehntung der Ernte, zum anderen die noch verwickeiteren Gesetze der Reinheit. Nur reine Israeli-icn durften den Tempelbezirk betreten. Daß ihnen in man­chen dieser Bestimmungen die Kaste der Priester, die Saddu-Ifier, und besonders der Hohe Priester nicht folgten, war für sie besonders schmerzhaft. Durch einen Kompromiß Zwi­lchen Sadduzäeren und Pharisäern gelang es aber, wenigstens die unabdingbaren Bestimmungen, die mit der Reinheit für den Tempeldienst zusammenhingen, zu regeln, so daß die Ein­heit des Volkes nicht auseinanderbrach.

Diese Genossenschaften ermöglichten es den Pharisäern, bedenkenlos Ware einzukaufen und zu verkaufen, ohne ge­zwungen zu sein, zur Sicherheit auf alle Fälle nachzu-verzehnten, wie sie es bei zweifelhaften Geschäftspartnern zu tun pflegten. Die Pharisäer waren nicht daran interessiert, sich abzukapseln und einen Staat im Staat zu bilden. Sie wa­ren am Volk interessiert und trieben so etwas ähnliches wie »Volksmission«. Sie waren es, die als erste Schulen gründeten.

Der Name »Pharisäer« war vielleicht ein Schimpfwort der Gegner und heißt soviel wie »Abgesonderte«. Sie selber nann­ten sich »Genossen«, Chaverim. Auch im Talmud hat der Name »Pharisäer« einen negativen Unterton. Verschiedene Typen von Pharisäern werden dort als Repräsentanten einer falschen Frömmigkeit kritisiert.

Schon zur Zeit des Zweiten Tempels gab es große Unter­schiede zwischen den einzelnen Richtungen des Pharisäismus. Eine große Gegnerschaft bestand zweihundert Jahre hindurch bis zum Abschluß der Mischna durch Rabbi Jehuda ha-Nassi vor allem zwischen den Schulen von Hillel und Schammai, ein Gelehrtenpaar, das ca. vierzig Jahre vor Jesus lebte. Hillel erleichterte in der Regel die Gesetzesentscheidungen, Scham­mai erschwerte sie. Jesus, der zweifellos zur Partei der Phari­säer zu rechnen ist, war in innerpharisäischen Ausein­andersetzungen entschiedener Hillelit.

Geistiges Zentrum der Pharisäer war die Synagoge oder das Lehrhaus, welche meistens wohl identisch waren. Wenn auch

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nur vier Synagogenruinen aus der Zeit vor der Tempelzer­störung bekannt sind - in Massada, auf dem Herodeion in der Wüste Juda, nördlich von Jerusalem in Pisgat Zeev und in Gamla im Golan - so wird es schon vor der Tempelzerstörung zahlreiche Synagogen gegeben haben. Das Neue Testament läßt den Eindruck entstehen, als ob es in jeder Ortschaft, in die Jesus in Galiläa kam, eine Synagoge gegeben habe. Auch die rabbinischen Quellen sprechen von den Synagogen zur Zeit des Zweiten Tempels, ja, sie bezeugen sogar die Existenz einer Synagoge auf dem Gelände des Tempelplatzes selbst. Wenn auch die Entstehung der Synagogen im dunkeln liegt und sicher vorpharisäischen Datums ist, so sind es doch die Pharisäer, die diese Institution als Ort der Volkserziehung und religiösen Bildung und Frömmigkeit zu dem gemacht haben, was sie in späterer Zeit war. Die Verfestigung der Institution der Synagoge machte es den Pharisäern denn auch nach der Tempelzerstörung möglich, einen Neuanfang ohne Tempel zu versuchen.

Der Pharisäismus war eine sehr große Bewegung, die auch viele Randgruppen beherbergen konnte. Eine davon ist die der sogenannten Chassidim, »der Frommen«, Männer und Frauen der Tat. Diese Chassidim sind zu unterscheiden von der früheren Bewegung der Chassidim, sowie von späteren Bewegungen mit demselben Namen und teilweise ähnlichen Vorstellungen. In der rabbinischen Literatur werden ca. 600 Geschichten von solchen Frommen erzählt. Ob es sich dabei um eine Bewegung gehandelt hat oder nur um eine Gruppe von Einzelnen und Individualisten, ist nicht ganz klar. Deut­lich ist aber, daß diese Gruppe von Menschen, soweit wir sie namentlich kennen, in Galiläa zu Hause war und in der Zeit bis zur Tempelzerstörung gewirkt hat.

Diese Frommen waren geprägt durch ein besonders uner­schütterliches Gottvertrauen. Sie schienen eine Nähe zu Gott zu haben, die an Passagen im Neuen Testament erinnert. Sie fielen auf durch die Radikalität ihrer Entscheidungen in be­stimmten Lebenssituationen. Andererseits nahmen sie es wie­der mit einigen Geboten, besonders mit den Reinheitsbestim­mungen, nicht so genau. Sie hatten eine auffallend freundli-

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che Einstellung zu Frauen, die ebenfalls an Jesus erinnert. M;mche Evangelienberichte über Jesu Tun und Reden lesen •ich auf dem Hintergrund dieser Geschichten und Aussagen in einem neuen Licht. Die Nähe zur Welt Jesu macht diese Gruppen für Theologen so interessant.

Die dritte klassische Gruppe innerhalb des Judentums am Ende der Periode des Zweiten Tempels sind die Essener. Nach­dem man eine ihrer Siedlungen, Qumran am Toten Meer, ausgegraben und zahlreiche Originalschriften dieser Gruppe gefunden hat, fällt es leichter, klarere Aussagen über sie zu machen. Wahrscheinlich waren sie ein Zweig der ersten jüdi­schen Partei, der Sadduzäer. Wie diese gehörten sie wohl zur Priesterklasse. Sie nahmen es allerdings mit den Reinheits­vorschriften noch strenger als die Pharisäer. Aus Grauen vor der Unreinheit der Priester am Tempel hatten sie diesen ver­lassen und hofften auf einen endgültigen Kampf zwischen ih­nen und dem übrigen Israel, der ihnen den Sieg gewähren und die Möglichkeit eröffnen würde, den wahren Tempeldienst aufzunehmen. Viele Eigenschaften haben sie gemeinsam mit der späteren christlichen Gruppe, so das Armutsideal, For­men der Askese und die hohe Bewertung der Ehelosigkeit. Trotzdem ist es falsch und häufig geradezu abenteuerlich, wie manche Autoren versuchen, Jesus sensationell zum Essener zu machen. Die Schriften von Qumran geben ausgezeichneten Aufschluß über die Umstände zur Zeit Jesu und die Entste­hung des frühen Christentums, ähnlich wie das auch viele rabbinische, besonders die frühen Texte tun. Das Christen­tum, Jesus oder andere neutestamentliche Gestalten kommen aber in den Schriftrollen vom Toten Meer an keiner Stelle ausdrücklich oder auch nur in Andeutungen vor.

Zuletzt muß historisch hier auch die Gruppe der frühen Christen behandelt werden. Die Christenheit scheint sich schon in dem hier verhandelten Zeitraum, noch vor der Tem­pelzerstörung, in einen heidenchristlichen und in einen ju­denchristlichen Zweig aufgeteilt zu haben. Die Heidenchri­sten spielten für die Juden keinerlei Rolle. Sie waren für die Juden Heiden. Das Problem waren die Judenchristen. Diese scheinen sich in dieser Zeit durchaus als jüdische Gruppe ver-

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standen und den Tempel besucht zu haben, der für alle jüdi­schen Richtungen mit Ausnahme vielleicht der Essener der religiöse und nationale Mittelpunkt war. So gesehen waren die Judenchristen auch eine jüdische Gruppe, vermutlich eine Randgruppe innerhalb des Pharisäismus. Die Bedeutung des Christentums wird bis zum Jahr 70 aber nicht so groß gewe­sen sein, daß es unter den vielen anderen Randgruppen be­sonders aufgefallen wäre.

Der »Große Aufstand« gegen Rom

Es ist schwer zu sagen, wie die Geschichte der Menschheit und des Judentums weitergegangen wäre, wenn die Juden sich nicht auf den »Großen Aufstand« gegen die einzige Welt­macht der Zeit eingelassen hätten, einen Aufstand, wie ihn kein anderes Volk im römischen Imperium unternommen hat. Vielleicht ist es sogar umgekehrt so, daß die Katastrophe für die Weiterexistenz des jüdischen Volkes unentbehrlich ge­wesen ist, weil sonst das Judentum, wäre es weiterhin friedlich unter römischer Herrschaft geblieben, wie alle Völker der Gegend allmählich von der Bühne der Weltgeschichte ver­schwunden wäre. Daß das Judentum sich auf dieses Aben­teuer einließ, hängt sicher mit dem unerschütterlichen Glau­ben Israels zusammen, daß sein Gott es nicht verlassen werde. Die religiöse Deutung der Niederlage durch die antiken Rab-binen erinnert manchmal an den Versuch jüdischer Theolo­gen, mit der jüngsten Katastrophe des Judentums, dem Ho­locaust, fertig zu werden.

Um den Aufstand zu verstehen, ist es wichtig, auf ein Er­eignis hinzuweisen, das sich knapp dreißig Jahre vorher zuge­tragen hatte. Damals hatte der römische Kaiser Caius Cali-gula (37-41 n.Chr) göttliche Verehrung auch in Judäa ge­fordert, was die Juden zurückwiesen. Die heidnischen Bewoh­ner von Javne in der Nähe von Jaffa am Meer, die Minderheit der Stadt, hatten hingegen dem Kaiser zu Ehren einen Altar aufgestellt. Die Juden der Stadt betrachteten dies als Verun­reinigung des Landes Israel und zerstörten aus Furcht vor der

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Der Aufstand, der 66 n.Chr. ausbrach und 73 mit dem Fall von Massada endgültig niedergerungen war, begann als ein Volksaufstand. Er brach spontan los, ohne lange vorherige Planung und Koordination und sicher auch ohne nähere Überlegungen über seine Erfolgschancen. Einige verantwort­liche Führer scheinen aber mit gewissen Erfolgsmöglichkei­ten gerechnet zu haben. Der Geschichtsschreiber Jose-phus Flavius berichtet davon. Es gab einen großen Gegner der Römer, die Parther. Sie waren geographisch nicht sehr weit von Judäa entfernt. Ferner gab es andere unzufriedene Völker im römischen Reich, die die Gelegenheit des Aufstandes hät­ten benutzen können, selber eine Revolte zu beginnen, wozu die Schreckensherrschaft des halbverrückten römischen Kai­sers Nero geradezu herausforderte. Und dann gab es das Ju­dentum im römischen Reich, das eine einflußreiche Größe darstellte. Zehn Prozent der Bevölkerung waren auf die eine oder andere Weise mit der jüdischen Religion verbunden oder standen ihr sympathisierend gegenüber. Doch alle diese Hoff­nungen erfüllten sich für die Judäer nicht. Keine andere Pro­vinz erhob sich. Die Parther blieben ruhig und die Masse der Juden im römischen Reich kam ihren kämpfenden Brüdern nicht zu Hilfe.

Eine Schwäche des Aufstandes waren die internen Kämpfe der völlig unterschiedlichen jüdischen Aufstandsgruppen. Auch dieser Aufstand wurde von einem messianischen Fieber angefacht. Zwar gab es keine klare Messiasgestalt, aber es gab Messiasanwärter, wie man bei aufmerksamer Lektüre des Jo-sephus Flavius zwischen den Zeilen lesen kann. Daß der Auf­stand so lange dauerte, ist zum Teil auf den Kampfesmut der Verzweifelten zurückzuführen, die auch in auswegloser Lage erbitterten Widerstand leisteten und mit großer Verbissenheit bis zum letzten Mann kämpften. Aber auch die inneren Wir-

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ren des römischen Bürgerkriegs und das Ringen um die Herr­schaft verschaffte dem aufständischen Judäa Ruhepausen, in denen es sich auf die kommenden Entwicklungen vorbereiten konnte. Die Niederschlagung des Aufstandes war jedoch angesichts der gegebenen Machtkonstellation unausweichlich. Um so größer war der Zusammenbruch des Gottvertrauens in zelotischen Kreisen, die noch kurz vor dem Untergang fest mit dem unmittelbaren göttlichen Eingreifen gerechnet hat­ten.

Die Fremdherrschaft durch die Prokuratoren, die nach dem kurzen Intermezzo der Herrschaft des jüdischen Königs eingesetzt wurden, war nicht weniger grausam als die des letz­ten Prokuratoren vor Agrippa, Pontius Pilatus. Die Korrup­tion nahm zu; alleinige Motivation der Herrschaft wurde die Habgier. Der letzte Prokurator, der über Judäa herrschte, Ges-sius Florus, war ein Grieche aus Kleinasien. Er war der schrecklichste Prokurator, der jemals die Juden regierte. Sel­ber Grieche, bevorzugte er noch mehr, als es die Prokuratoren vor ihm getan hatten, die heidnische griechische Bevölkerung im Lande. Die Truppen im Land rekrutierten sich, wenn es sich nicht um Ausländer handelte, ausschließlich aus der griechischen Bevölkerung. Die zunehmende Macht der griechischen Bevölkerung, die seit der hasmonäischen Erobe­rungspolitik eher zu leiden gehabt hatte, wurde für die Juden immer drückender. Es kam zu Auseinandersetzungen inner­halb der großen Ballungszentren der Mischbevölkerung, be­sonders in der Provinzhauptstadt Caesarea. Die römische Be­steuerung, die für das Unabhängigkeitsgefühl der Juden so­wieso schwer zu ertragen war, wurde immer erbarmungsloser. Die Verschuldung im Land nahm zu. Dadurch wuchs auch der Zorn der Armen gegen jüdische Kollaborateure, die in der Ausbeutung des Volkes gemeinsame Sache mit den Römern machten, und gegen die jüdische Oberschicht, die sich mit den Römern bereicherte. Der später ausbrechende Aufstand nahm denn teilweise auch die Form einer sozialen Revolution an. Nicht von ungefähr war die erste Tat der Aufständischen die Verbrennung der Archive in Jerusalem, in der alle Schuld­scheine der Nation aufgehoben waren.

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Unmittelbarer Anlaß des Aufstandes waren Unruhen in r Provinzhauptstadt Caesarea und verschärfte Maßnahmen

Prokuratoren Florus gegen die Juden. Nach Straßenkämp-war ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Caesareas

wungen, die Stadt zu verlassen. Das Maß jüdischer Zu-khaltung war endgültig voll, als Florus begann, den Tem-schatz in Jerusalem zu beschlagnahmen und zu rauben. *s brachte die Mehrheit der gemäßigten Pharisäer auf die 'te der auf standsbereiten Zeloten. Vermittlungsversuche rippas des Zweiten blieben erfolglos. Auch die priesterliche ' rung Jerusalems schloß sich den Aufständischen an. Ela-ben Hananja, Priesteroberer, befahl, die Opfer für das hl des Kaisers einzustellen. Dies war das eigentliche Zei-

cn für den Ausbruch des Aufstandes und wurde zum Auf-»umdsfanal für Juden in allen Teilen des Landes, von Galiläa bis zum Negev und vom Golan und Transjordanien bis zur Küste. Lediglich einige große jüdische Zentren im Norden des Landes beteiligten sich nicht daran, so Galiläas Hauptstädte •ephoris und Tiberias, beide mehrheitlich jüdisch besiedelte Metropolen. Tiberias gehörte zu dieser Zeit zum Herrschafts-•biet Agrippas des Zweiten, Sohn Agrippas des Ersten, der über Teile Galiläas regierte und ein Gegner des Aufstandes war.

Der Aufstand wurde zu Beginn von einer großen Volkswut getragen, die fast alle jüdischen Kreise ergriff, so daß die Ju­den in kurzer Zeit alle Hilfstruppen des Prokuratoren in die Flucht schlugen. Den Aufständischen fiel bald ganz Jerusalem in die Hand, daneben einige stark befestigte Burgen, darunter Massada am Toten Meer mit ungeheuren Waffenlagern und Essensvorräten, ebenso die von Herodes gebaute Burg jenseits des Toten Meeres in Transjordanien, Machärus. Aber auch außerhalb Jerusalems versuchten Juden die Herrschaft zu er­greifen. Auf der anderen Seite wurden Juden in vielen hel­lenistischen Städten vertrieben oder umgebracht wie in Beth Schean. Nur in einer Stadt der Dekapolis blieben die Juden verschont - im transjordanischen Gerasa.

Der Nachteil der Prokuratoren von Judäa war es, über kein eigenes ordentliches Heer zu verfügen. Sie waren auf die Hilfe

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der römischen Statthalter von Syrien angewiesen. Das Ein­treffen dieser Truppen in Judäa brauchte Zeit. Die Juden konnten sich militärisch inzwischen darauf vorbereiten, so daß es ihnen gelang, diese anrückenden Truppen, 6000 Mann, unter dem Kommando des syrischen Statthalters Cestius Gal-lus vernichtend zu schlagen. Dieser Sieg verwandelte den bis­herigen Guerillakampf in einen regulären Krieg.

Der Sieg schloß alle Juden im Kampf gegen die Römer zu­sammen. Daß die Römer diese Niederlage nicht hinnehmen würden, war zu erwarten, war doch die Provinz Judäa bedeu­tend und nicht weit entfernt vom Hauptfeind der Römer, der Parther. In Jerusalem entstand eine vereinigte Führung, die sich aus allen wichtigen Führungskreisen des Volkes zusam­mensetzte. Man begann, sich auf den römischen Angriff vor­zubereiten. Verschiedene Feldherren wurden in die Haupt­stützpunkte der jüdischen Bevölkerung geschickt, unter an­derem der Chronist des Krieges, Joseph ben Matitjahu, der später den Namen Flavius annahm, als Oberbefehlshaber der Truppen von Galiläa, wo er damit begann, die wichtigsten Ortschaften, die sich am Aufstand beteiligten, zu befestigen. Dies waren nicht nur Ortschaften in der ehemaligen römi­schen Provinz Judäa, sondern auch Städte im Königreich Agrippas des Zweiten, der inzwischen ganz auf römischer Sei­te engagiert war. Die römische Antwort ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Kaiser Nero schickte einen seiner be­sten Feldherren mit mehreren Armeen in das Aufstandsge­biet, Vespasian.

Cestius Gallus war im Herbst 66 geschlagen worden. Ves­pasian, der Eroberer Britanniens, traf im Frühsommer 67 im Norden des Landes mit ausgezeichneten Kommandeuren, darunter sein Sohn Titus, ein. Er stellte in Akko seine Heer­truppen sorgfältig zusammen, bewaffnete 60.000 Männer, zwei Legionen aus Syrien, eine aus Ägypten und Hilfstruppen, vorwiegend die König Agrippas des Zweiten. Das erste An­griffsziel war Jodphat in Galiläa, das der schon mehrfach er­wähnte jüdische Adlige Joseph ben Matitjahu, der außer sei­ner hohen Abkunft über keine militärische Erfahrung verfüg­te, selber befestigt hatte und kommandierte. Die Schlacht um

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•Jodphat, wie viele andere, zog sich durch den Kampfesmut •der Juden wie der Römer, will man Josephus Glauben schen-^Btn, in die Länge. Als Beispiel sei eine der Schilderungen von •Josephus zitiert, die den Moment beschreibt, als die Römer •d i e Eroberungsrampen an die Stadtmauern legen:

I Plötzlich schmetterten die Trompeten sämtlicher Legionen, das Heer erhob ein I fürchterliches Schlachtgeschrei, und auf ein gegebenes Zeichen wurden von I allen Seiten die Pfeile abgeschossen, so daß die Luft sich verfinsterte. Die Leute • des Josephus jedoch, eingedenk seiner Weisungen, schützten ihre Ohren vor

lern Geschrei, ihre Leiber vor den Geschossen, und als die Sturmbrücken ge-I «oifen wurden, stürzten sie sich auf ihnen den Feinden entgegen, bevor noch

I' die letzteren den Fuß darauf gesetzt hatten. So gerieten sie mit den anrückenden

Römern ins Handgemenge, wobei sie zahlreiche von Kraft und Mut zeugende Tbten verrichteten und sich bestrebten, trotz ihrer verzweifelten Lage den we­niger gefährdeten Feinden an Tapferkeit nicht nachzustehen. Sie ließen daher von den Römern nicht eher ab, als bis sie entweder selbst gefallen waren oder den Gegner getötet hatten. (Josephus, Der jüdische Krieg, Buch 3, Kap. 7,27) Nach 47 Tagen wurde Jodphat, das eine ähnlich stolze Vertei­digungsgeschichte wie später Gamla, Jerusalem und Massada

I aufzuweisen hat, erobert. Kommandeur Josephus ergab sich I den Römern, die ihn als Gefangenen mitführten, während die

übrigen Verteidiger den Selbstmord vorzogen. Die Römer waren in Jodphat mit ihrer bewährten Angriffs­

taktik vorgegangen. Zuerst umgaben sie das ganze einzuneh­mende Gebiet mit einer Mauer und legten feste ummauerte Lager an. Mit Sturmböcken, die durch Holztürme geschützt wurden, versuchten sie die Mauern der zu erobernden Städte zu erschüttern. Die Juden versuchten ihrerseits - recht häufig erfolgreich - diese Türme zu verbrennen und die Angreifer zurückzuschlagen. Während der Belagerung verstärkten die Juden die Mauern und erhöhten sie. Die Römer erbauten rie­sige Erddämme, um besser mit ihren Belagerungsmaschinen heranzukommen. Während der Belagerung beschossen sie die Stadt mit einem nicht aufhören wollenden Schwall von Ka­tapultgeschossen in Menschenkopfgröße. Zu Hunderten und Tausenden findet man sie heute bei den Ausgrabungen der betreffenden Städte.

Nach Jodphat fielen Gusch Halav und im Spätsommer Gamla im Golan, das für die Römer besonders wichtig war, da es auf dem Weg der Juden zu ihren Glaubensbrüdern in

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Babylonien lag, die außerhalb des Herrschaftsbereiches der Römer wohnten. Mit dem Fall dieser Städte war ganz Galiläa in Feindeshand. Der Weg nach Judäa und Jerusalem stand Vespasian jetzt offen. Einige der jüdischen Heerführer der belagerten Städte hatten ein besseres Schicksal als Josephus und konnten vor dem Fall ihrer Städte nach Jerusalem ent­fliehen.

Aber Vespasian ließ sich mit der Eroberung Zeit. Er wollte keinen Fehler begehen. Zuerst eroberte er alle Gebiete um Judäa herum, schickte seine Truppen nach Samarien, wo er eine Beteiligung der Samaritaner am Aufstand zu verhindern wußte, nach Transjordanien, wo er zumindest die Verbin­dungsstraßen nach Judäa abschnitt, und zog dann vor allem den Küstenstreifen herunter, wo er die wichtigen Städte Jaffa, Javne und Aschdod eroberte. Vor der Küste von Jaffa vernich­tete er die jüdische Flotte, die bis dahin die römische Schiff­fahrt behindert hatte. Damit hatten die Juden auch keine Hil­fe von See mehr zu erwarten.

All dies geschah noch im Jahr 67. Die jüdische Führung sah den Feldzügen Vespasians tatenlos zu und begann sich in einem internen Führungsstreit aufzureiben. Hatte der Erfolg am Anfang die Führung geeint, drohte die Niederlage jetzt die Einheit zu sprengen. In einem Coup bemächtigte sich die zelotische Partei der Führung und entriß den Aristokraten, die bisher den Aufstand geleitet hatten, die Macht Viele ge­mäßigte Kreise, besonders unter den Pharisäern, begannen, am Erfolg des Unternehmens zu zweifeln und wehten einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden, um den Tempel und die Stadt zu retten.

Das ganze Jahr 68 benutzte Vespasian, um Judftfl und des­sen Mittelpunkt Jerusalem immer mehr einzukreisen. Bis auf Machärus fiel ganz Transjordanien in die I linde dei Römer, dazu auch das westliche Jordanufer mit Jericho und Qumran, dem Sitz der Essener. Auf der westlichen Seile von den K.Ü-stenstädten her kommend, nahm er das gan/e Niederland, die Schfela, mit den Städten Lod, Emmaus und Beth Guvrin ein. An den Hauptausfallstraßen aus dem Restgebiel fudia stell­ten die Römer Posten auf, die Juden daran hinderten das be­lagerte Gebiet zu verlassen.

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Münzen des Ersten Aufstands

Vorderseite: Granatäpfel. Aufschrift in Althebräisch: Heiliges Jerusa­

lem. Rückseite: Kelch, Aufschrift: Schekel Israels, A (Jahr 1).

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Im Sommer 68 nahm sich Kaiser Nero in den internen Streitigkeiten um die Macht das Leben. Die folgenden Wirren schwächten auch den Kampf der Römer gegen die Juden in Judäa. Der Belagerungszustand veränderte sich kaum, bis im Juli 69 Vespasian von großen Teilen des Heeres zum rö­mischen Kaiser ausgerufen wurde. Vespasian verließ darauf das Kampfgebiet, um diese neue Würde im gesamten römi­schen Reich durchzusetzen. Bei dieser Gelegenheit soll auch Josephus aus der Kriegsgefangenschaft befreit worden sein, weil er ihm schon beim Fall von Jodphat die Kaiserwürde vorausgesagt hatte. Eine ähnliche Geschichte erzählt auch der Talmud von Rabban Jochanan ben Sakkai, der sich, als Toter getarnt, aus dem belagerten Jerusalem ins römische Lager hat­te tragen lassen.

Vespasian wurde im Juli 70 dann tatsächlich uneinge­schränkter Herrscher in Rom. Schon vorher, im Frühling 70, hatte er seinen Sohn Titus beauftragt, den Krieg in Judäa zu beenden.

Fünf Monate brauchte Titus, um die Stadt Jerusalem und den Tempelberg endgültig einzunehmen und zu zerstören. Der Angriff erfolgte, wie so häufig in der Geschichte, vom Norden her, von wo aus Jerusalem am einfachsten zu erobern ist. Zuerst wurde die dritte Mauer überwunden, die die Vor­städte umfaßte und kurz zuvor hastig aufgebaut worden war, um dieses Gebiet, das einen großen Teil der Bevölkerung be­herbergte, besser schützen zu können. Danach bezwang Titus die zweite Mauer (die nördlichen Teile der heutigen Altstadt) und die von den Römern erbaute Burg Antonia nördlich des Tempelplatzes, dessen römische Truppen von den Juden be­reits in den ersten Tagen des Aufstandes vertrieben worden waren. Wer über die Burg verfügte, hatte auch die Kontrolle über den Tempelplatz. Zuvor aber eroberte Titus die Ober­stadt (das heutige jüdische Viertel). Am 9. des Monats Av, im Sommer des Jahres 70, fiel der Tempel. Das heiligste Symbol und die letzte Hoffnung für große Teile des jüdischen Volkes in aller Welt ging in Flammen auf. Nachdem auch die letzten Widerstandsnester in der Oberstadt ausgeräumt waren, konn­te der Aufstand der Juden als beendet angesehen werden. AI-

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lerdings dauerte es noch drei Jahre, bis die letzten Schlupf­winkel der Juden in Machärus und in der Wüste Juda am Toten Meer und besonders die schwer zugängliche Fluchtburg Massada von den Römer eingenommen waren.

Die Katastrophe der Tempelzerstörung im Urteil der Rabbinen

Rab Jitzhak ben Schmuel sagte im Namen Rabs: Die Nacht ist in drei Nacht­wachen geteilt, in jeder Nachtwache sitzt der Heilige, gepriesen sei Er, und brüllt wie ein Löwe, indem Er spricht: Wehe, daß ich mein Haus zerstört, mei­nen Tempel verbrannt und meine Kinder unter die Völker verbannt habe.

(Babylonischer Talmud Brachot 3a)

Die Rabbinen haben sich in vielen Geschichten den Kopf zerbrochen, warum der Tempel zerstört wurde und der lange Weg in die Verbannung begann. Warum das Leiden der vielen Unschuldigen? Wußte man doch, warum der Erste Tempel zerstört wurde. Weil das Volk Gott verlassen und andere Göt­ter angebetet hatte. Aber diesmal hatte es keinen Götzen­dienst gegeben. Viele talmudische Geschichten versuchen Antwort auf diese Frage zu geben. Dabei sind die Antworten manchmal ganz individuell. Das ganz private Unrecht kann eine nationale Katastrophe auslösen. So jedenfalls formuliert es die folgende Geschichte:

Die Geschichte von dem Lehrling und dem Meister und seiner Frau

Rab Jehuda sagte im Namen Rabs: Es heißt: sie üben Gewalt an dem Mann und an seinem Haus, an dem Menschen und seinem Besitz. Eine Erzählung von einem Mann, der sein Auge auf die Frau seines Meisters geworfen hatte, und er war ein Tischlerlehrling. Einmal brauchte sein Meister Geld. Sagte er: Schick deine Frau, ich will ihr das Geld geben. Er schickte zu ihm seine Frau, die blieb drei Tage. Da machte er sich auf, kam zu ihm und sprach: Meine Frau, die ich zu dir geschickt habe, wo ist sie? Sagte er: Ich habe sie gleich entlassen, aber ich habe gehört, daß sich an ihr auf dem Wege Tunichtsgute vergangen haben. Fragte er ihn: Was soll ich tun? Antwortete er: Hör auf meinen Rat, gib ihr den Scheidebrief. Sagte er: Die Eheverschreibung ist hoch. Sagte er: Ich werde dir leihen, gib ihr den Scheidebrief. Stand dieser auf und ließ sich scheiden, ging jener hin und ließ sich trauen. Als die Zeit kam, zurückzuzahlen, konnte er es nicht. Sprach er zu ihm: Komm, arbeite bei mir für deine Schuld. Und sie saßen, aßen und tranken, und er stand und schenkte ihnen ein und die Tränen