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Gemäss Art. 859 Abs. 3 Obligationenrecht (OR) darf eine Genossenschaft Anteil- scheine nur mit dem «landesüblichen Zinsfuss für langfristige Darlehen ohne beson- dere Sicherheiten» verzinsen. Der Begriff wird unter Berücksichtigung der aktuellen Tiefzinspolitik ausgelegt. Dieser Artikel ist gleichzeitig ein Beitrag zum Internationa- len Jahr der Genossenschaften, zu dem die Generalversammlung der Vereinten Na- tionen das Jahr 2012 erklärt hat. DIE GEWINNVERWENDUNG DER GENOSSENSCHAFT Die Grenze von Art. 859 Abs. 3 OR in Zeiten der Nullzinspolitik THOMAS NOSBERGER THOMAS NÖSBERGER, DR. RER. POL., CPA, LEHRBEAUFTRAGTER UNIVERSITÄT FREIBURG, PARTNER, ERNST &YOUNG AG, BERN, THOMAS.NOES BERGER@ CH EY COM AUSGANGSLAGE Art. 859 Abs. 3 OR [1] definiert den landesüblichen Zinsfuss für langfristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten als Obergrenze für die Verzinsung des Anteilscheinkapitals. Eine Legal- definition enthält das Gesetz nicht. Auch in der Literatur oder in der Rechtsprechung finden sich keine näheren Er- läuterungen [2], was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Aktuell befindet sich die Schweiz in einer historischen Tief- zinsphase. Die Rendite von io-Jahres-Obligationen der Eid- genossenschaft betrug Ende August 2011 noch 413%; 5-jährige Obligationen rentierten noch 0,57% [3]. Verglichen mit der Durchschnittsrendite nach Fälligkeit von 4,03% der Jahre 1940 bis 1990 sind diese Zinsen einmalig tief und weniger als die Hälfte des Tiefstands des Jahrs 1953 (2,55%), ganz zu schweigen vom Höchststand von 7,12% im Jahre 1974 [4]. In der aktuellen Zinssituation stellt sich selbst für Ge- nossenschaften, die traditionellerweise das Anteilschein- kapital moderat mit 5% oder 6% verzinsen, die Frage, ob diese Verzinsung noch gesetzeskonform ist. ANWENDUNGSBEREICH VON ART. 859 ABS. 3 OR Art. 859 Abs. 3 OR ist zwingendes Recht [5] für alle Genos- senschaften und Genossenschaftsverbände, die über An- teilscheine verfügen. Einzig für Kreditgenossenschaften [6] sieht Art. 861 eine Ausnahme vor. Kreditgenossenschaften können Genossen- schaftsanteile über dem landesüblichen Zinsfuss für lang- fristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten verzinsen, wenn die Reserven mit einem Betrag in der Höhe von 10% der überschiessenden Verzinsung dotiert werden. Die be- kanntesten Kreditgenossenschaften die Raiffeisenban- ken verzinsen die Anteilscheine seit langem mit maximal 6%. Diese selbstgesetzte statutarische Grenze der Verzin- sung hat in der Praxis dazu geführt, dass andere Genossen- schaften (und vereinzelt auch Juristen) die 6% irrigerweise als quasi-gesetzlichen Zinsfuss betrachten, der unbesehen übernommen werden kann. AUSLEGUNG VON ART 859 ABS. 3 OR Was ist nun unter dem Begriff landesüblicher Zinsfuss für lang- fristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten zu verstehen, da eine Legaldefinition fehlt und dieser Referenzzinssatz auch nicht durch die Schweizerische Nationalbank berechnet wird? Selbsterklärend ist nur ohne besondere Sicherheiten, gleich- bedeutend mit ungesichert; ohne VerpftndungIHinterlegung von Aktiven. Wie ist aber landesüblich zu verstehen? Als allgemein geltender Zinsfuss den es nicht gibt oder zielt landesüblich auf die Art und Weise, wie Zinssätze für langfristige Darle- hen in der Praxis berechnet werden? Müssen in letzterem Fall dann Faktoren wie (eigenes) Kredit-Rating einbezogen wer- den? Ähnliche Fragen stellen sich im Zusammenhang mit langfristig. Ist ein Darlehen mit einer Laufzeit von 5 Jahren langfristig? Oder braucht es io und mehr Jahre? Könnte lang- fristig auch implizieren, dass es sich um eine durchschnitt- liche Verzinsung einer Reihe von verschieden lang laufenden Darlehen handelt? Die Antworten sind aus dem Sinn und Zweck von Art. 859 OR abzuleiten. Dies wird aber dadurch erschwert, dass es sich bei Art. 859 OR um eine bald loo-jährige Gesetzesnorm handelt, die Welt sich aber seit der Botschaft des Bundesrats Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Der Schweizer Treuhänder 8021 Zürich 044/ 267 75 75 www.treuhaender.ch Datum: 08.02.2012 Medienart: Print Medientyp: Fachpresse Auflage: 11'494 Erscheinungsweise: 10x jährlich Themen-Nr.: 660.4 Abo-Nr.: 1067777 Seite: 18 Fläche: 129'670 mm² Argus Ref.: 45071674 Ausschnitt Seite: 1/4

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Page 1: DIE GEWINNVERWENDUNG DER GENOSSENSCHAFT Die … · vom 21. Februar 1928 verändert hat. 3.1 Sinn und Zweck von Art. 859 OR. Aus der Botschaft des Bundesrats über die Revision der

Gemäss Art. 859 Abs. 3 Obligationenrecht (OR) darf eine Genossenschaft Anteil-scheine nur mit dem «landesüblichen Zinsfuss für langfristige Darlehen ohne beson-dere Sicherheiten» verzinsen. Der Begriff wird unter Berücksichtigung der aktuellenTiefzinspolitik ausgelegt. Dieser Artikel ist gleichzeitig ein Beitrag zum Internationa-len Jahr der Genossenschaften, zu dem die Generalversammlung der Vereinten Na-tionen das Jahr 2012 erklärt hat.

DIE GEWINNVERWENDUNG DER GENOSSENSCHAFTDie Grenze von Art. 859 Abs. 3 OR in Zeitender NullzinspolitikTHOMAS NOSBERGER

THOMAS NÖSBERGER,

DR. RER. POL.,

CPA, LEHRBEAUFTRAGTER

UNIVERSITÄT FREIBURG,

PARTNER,

ERNST &YOUNG AG,

BERN,

THOMAS.NOES BERGER@

CH EY COM

AUSGANGSLAGEArt. 859 Abs. 3 OR [1] definiert den landesüblichen Zinsfuss fürlangfristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten als Obergrenzefür die Verzinsung des Anteilscheinkapitals. Eine Legal-definition enthält das Gesetz nicht. Auch in der Literaturoder in der Rechtsprechung finden sich keine näheren Er-läuterungen [2], was unter diesem Begriff zu verstehen ist.

Aktuell befindet sich die Schweiz in einer historischen Tief-zinsphase. Die Rendite von io-Jahres-Obligationen der Eid-genossenschaft betrug Ende August 2011 noch 413%; 5-jährigeObligationen rentierten noch 0,57% [3]. Verglichen mit derDurchschnittsrendite nach Fälligkeit von 4,03% der Jahre1940 bis 1990 sind diese Zinsen einmalig tief und wenigerals die Hälfte des Tiefstands des Jahrs 1953 (2,55%), ganz zuschweigen vom Höchststand von 7,12% im Jahre 1974 [4].

In der aktuellen Zinssituation stellt sich selbst für Ge-nossenschaften, die traditionellerweise das Anteilschein-kapital moderat mit 5% oder 6% verzinsen, die Frage, obdiese Verzinsung noch gesetzeskonform ist.

ANWENDUNGSBEREICH VONART. 859 ABS. 3 ORArt. 859 Abs. 3 OR ist zwingendes Recht [5] für alle Genos-senschaften und Genossenschaftsverbände, die über An-teilscheine verfügen.

Einzig für Kreditgenossenschaften [6] sieht Art. 861 eine

Ausnahme vor. Kreditgenossenschaften können Genossen-schaftsanteile über dem landesüblichen Zinsfuss für lang-fristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten verzinsen,wenn die Reserven mit einem Betrag in der Höhe von 10%

der überschiessenden Verzinsung dotiert werden. Die be-kanntesten Kreditgenossenschaften die Raiffeisenban-ken verzinsen die Anteilscheine seit langem mit maximal6%. Diese selbstgesetzte statutarische Grenze der Verzin-sung hat in der Praxis dazu geführt, dass andere Genossen-schaften (und vereinzelt auch Juristen) die 6% irrigerweiseals quasi-gesetzlichen Zinsfuss betrachten, der unbesehenübernommen werden kann.

AUSLEGUNG VON ART 859 ABS. 3 ORWas ist nun unter dem Begriff landesüblicher Zinsfuss für lang-fristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten zu verstehen, daeine Legaldefinition fehlt und dieser Referenzzinssatz auchnicht durch die Schweizerische Nationalbank berechnetwird?

Selbsterklärend ist nur ohne besondere Sicherheiten, gleich-bedeutend mit ungesichert; ohne VerpftndungIHinterlegung vonAktiven. Wie ist aber landesüblich zu verstehen? Als allgemeingeltender Zinsfuss den es nicht gibt oder zielt landesüblichauf die Art und Weise, wie Zinssätze für langfristige Darle-hen in der Praxis berechnet werden? Müssen in letzterem Falldann Faktoren wie (eigenes) Kredit-Rating einbezogen wer-den? Ähnliche Fragen stellen sich im Zusammenhang mitlangfristig. Ist ein Darlehen mit einer Laufzeit von 5 Jahrenlangfristig? Oder braucht es io und mehr Jahre? Könnte lang-fristig auch implizieren, dass es sich um eine durchschnitt-liche Verzinsung einer Reihe von verschieden lang laufendenDarlehen handelt?

Die Antworten sind aus dem Sinn und Zweck von Art. 859OR abzuleiten. Dies wird aber dadurch erschwert, dass essich bei Art. 859 OR um eine bald loo-jährige Gesetzesnormhandelt, die Welt sich aber seit der Botschaft des Bundesrats

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vom 21. Februar 1928 verändert hat.3.1 Sinn und Zweck von Art. 859 OR. Aus der Botschaft desBundesrats über die Revision der Titel XXIV bis XXXIII desschweizerischen Obligationenrechts vom 21. Februar 1928geht klar hervor, dass mit dem (seinerzeit neuen) Genossen-schaftsrecht unter anderem Missbräuche verhindert werdensollten. Die Form der Genossenschaft wurde missbraucht,um die strengeren Gründungsvorschriften von Aktienge-

sellschaften zu umgehen [7]. Die Gesetzesänderung beabsich-tigte, durch eine Stärkung des Genossenschaftsgedankens,dem vorzubeugen. Diese Intention wird sehr klar ersichtlichf Lir Art. 859 Abs. 3 OR. Die Botschaft des Bundesrats führtzum «landesüblichen Zinsfuss für langfristige Darlehenohne besondere Sicherheiten» aus:«Mit einer solchen Zinsbegrenzung wird es möglich sein, die so-genannten Pseudogenossenschaften und die verschiedenen Ent-artungen ferne zu halten, die im Laufe der Zeit den leitenden Ge-danken im Genossenschaftswesen verdunkelt haben» [8].

Art. 859 Abs. 3 OR verunmöglicht, Gewinne der personen-bezogenen Genossenschaft analog einer kapitalbezogenenAktiengesellschaft auszuschütten. Damit ist Art. 859 OR abernur eine Bestimmung, die gegen die missbräuchliche Ver-wendung der Genossenschaft wirkt. Ähnliche Wirkungenentfalten Art. 853 Abs. 3 OR, der den Anteilscheinen die Wert-papierqualität versagt oder Art. 866 OR zur Treuepflicht derGenossenschafter.

Die in Art. 859 OR vorgesehenen Verteilungsgrundsätzestützen voll und ganz den dominierenden Selbsthilfegedan-ken der Genossenschaft:- Abs. 1[9] fordert vorbehältlich anders lautender Statu-ten eine vollständige Thesaurierung der Gewinne. Einegestärkte Eigenkapitalbasis ermöglicht zukünftige In-vestitionen und dient als Sicherheit für schwierige Zeiten.

- Sofern statutarisch eine Ausschüttung vorgesehen ist unddie Statuten nichts anderes bestimmen, werden gemässAbs. 2 [io] Gewinne nach dem Masse der Benützung der genossen-schaftlichen Einrichtungen durch die einzelnen Mitglieder an dieGenossenschafter verteilt. Damit ist die Gewinnverteilung

«Art. 859 Abs. 3 OR

ist zwingendes Recht für alleGenossenschaften undGenossenschaftsverbände, die überAnteilscheine verfügen.»

faktisch ein Korrektiv zur Entstehung des Gewinns. Gewinneentstehen unter anderem, weil die Benützung der genossen-schaftlichen Einrichtungen den einzelnen Genossenschaf-tern zu teuer verrechnet wurde. - Abs. 3 plafoniert letzt-endlich die Verzinsung des Anteilscheinkapitals auf denlandesüblichen Zinsfuss für langfristige Darlehen ohne besondereSicherheiten.Aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt sich, dass die An-ordnung der Absätze durchaus eine Wertung zur Wünsch-barkeit der Gewinnverteilung enthält: Thesaurierung wird

vom Gesetzgeber der Verteilung nach dem Masse der Benüt-zung der genossenschaftlichen Einrichtungen vorgezogen.Am Ende steht die Verzinsung des Anteilscheinkapitals.

Diese Verteilungsgrundsätze basieren auf einer Eigen-schaft der Genossenschaft, die in der heutigen Literaturunter den Begriff Member Value eingeordnet wird [11]. DerBegriff Member Value nach Theurl umfasst die verschiede-nen Nutzenarten, die den Mitgliedern der Genossenschaftzufliessen. Genossenschafter profitieren in mehrfacher Artund Weise von der Existenz der Genossenschaft:- Genossenschafter haben zuerst einen unmittelbaren Nut-zen in ihrer Eigenschaft als Kunden/Lieferanten/Benutzerder Genossenschaft, indem die Genossenschaft sich nachihren Wünschen und Bedürfnissen ausrichten muss, respek-tive ein Bedürfnis befriedigt, das sonst unbefriedigt bliebe.- Neben diesen unmittelbaren Nutzen tritt ein mittelbarerNutzen, der sich aus der Stellung der Genossenschafter alsEigentümer der Genossenschaft ergibt. Dieser mittelbareNutzen besteht aus Gewinnausschüttungs-, Mitwirkungs-und Organisationsrechten. - Der unmittelbare und dermittelbare Nutzen stellen für die Genossenschafter eineKooperationsrente dar. Die Sicherung dieser Kooperations-rente für die Zukunft ist der nachhaltige Member Value. Dernachhaltige Member Value entsteht dann, wenn der Genos-senschaft die Mittel für Investitionen in Sachanlagen, Pro-dukte, Prozesse, Organisationsstrukturen usw. zur Verfü-gung stehen.Es ist offensichtlich, dass die drei Aspekte des Member Valuezusammenhängen und nicht alle Mitglieder in gleichemMasse profitieren. Wenn beispielsweise die Eigentümer-stellung durch höhere Gewinnausschüttungen stärker hono-riert wird, stehen dementsprechend weniger Mittel für dieSicherung der Nachhaltigkeit zur Verfügung. AustretendeGenossenschafter haben wohl weniger Interesse am nach-haltigen Member Value und aktive Benützer der Genossen-schaft profitieren mehr vom unmittelbaren Nutzen als in-

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aktive Genossenschafter.Art. 859 Abs. 3 OR begrenzt den mittelbaren Nutzen für die

Eigentümer durch die Plafonierung der Verzinsung des An-teilscheinkapitals. Die Anteilscheininhaber sollen für dasGewähren von Eigenkapital maximal mit einer Verzinsunganalog einem Fremdkapitalgeber entschädigt werden [12].Weitere Beschränkungen der Eigentümerstellung findensich - anders lautende statutarische Bestimmungen vorbe-halten - in Art. 865 OR und Art. 913 OR. Gemäss Art. 865 ORsteht dem ausscheidenden Genossenschafter kein Abfin-dungsanspruch (nicht einmal die Rückzahlung des gezeich-neten Anteilscheins!) zu. Art. 913 OR fordert die Verwen-dung des Liquidationsüberschusses für genossenschaftlicheZwecke oder die Förderung gemeinnütziger Bestrebungen.3.2 Konsequenzen für die Auslegung von Art. 859 Abs. 3OR. Art. 859 Abs. 3 OR hat, wie oben festgehalten, in ersterLinie die Verhinderung der missbräuchlichen Verwendungder Genossenschaft zum Ziel. Dies wird dadurch erreicht,dass die Verzinsung des Anteilscheinkapitals plafoniert wird.Die gewählte Formel (landesüblicher Zinsfuss für langfris-

tige Darlehen ohne besondere Sicherheiten) stellt den Eigen-tümer der Genossenschaft einem Fremdkapitalgeber gleich.Der Gesetzgeber hält die Verzinsung des Anteilscheinkapi-tals für die am wenigsten gewünschte Form der Entschädi-gung der Genossenschafter.

Aus der Konzeption von Art. 859 OR lässt sich ableiten, dassan die Bestimmung des landesüblichen Zinsfusses für lang-fristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten keine über-triebenen Anforderungen gestellt werden müssen, um imEinklang mit dem Gesetz zu stehen. Eine summarische Be-stimmung des Zinsfusses ist ausreichend, wenn sie folgendePunkte respektiert:-- Es ist ein Fremdkapitalzins zu bestimmen. Entschädigun-gen für das Tragen des Unternehmerrisikos dürfen darinnicht abgegolten werden. Dies stände auch im Widerspruchzur Grundkonzeption der Genossenschaft. - Es handelt sichnicht um einen unternehmensspezifischen, sondern umeinen landesüblichen Zinssatz. Die Bestimmung des Zinssat-zes darf daher das individuelle Kredit-Rating der Genossen-schaft nicht berücksichtigen. Art. 859 OR zieht eine abstrakte,allgemein gültige Grenze. - Langfristige Darlehen sind imSinne von langfristigem Gewähren von Kapital zu verstehen.Daher sind primär Zinssätze von sehr langfristigem Fremd-kapital (beispielsweise auf 20 Jahre gewährt) zu verwenden.

3.3 Der landesübliche Zinsfuss für langfristige Darlehenohne besondere Sicherheiten. Die oben formulierten An-

forderungen an eine pragmatische Ermittlung des landes-üblichen Zinsfusses für langfristige Darlehen ohne beson-dere Sicherheiten lassen sich durch den folgenden Gedanken-gang erfüllen:

Die Eidg. Steuerverwaltung (ESTV) publiziert jährlich einRundschreiben zu den Zinssätzen für die Berechnung dergeldwerten Leistungen [13]. In diesem Rundschreiben äussertsich die ESTV zur Frage, welche Zinsen für Guthaben von/anAktionäre(n)/Gesellschafter(n) marktkonform sind und nichtals geldwerte Leistung qualifizieren. Dabei wird unter ande-rem auch für Handels- und Fabrikationsunternehmen einHöchstzinssatz für erhaltene Betriebskredite festgesetzt.Dieser Höchstzinssatz wurde für zon auf 4,5% fixiert, hataber in den letzten 20 Jahren auch schon 9% (1992) erreicht.Der Mittelwert der letzten 2o Jahre betrug 5,8% [14]. Dervon der ESTV publizierte Höchstzinssatz war in den letzten20 Jahren jeweils zwischen 1,2% und 2,5% über der durch-schnittlichen Rendite von Industrieobligationen [15].

Dieser Höchstzinssatz der ESTV erfüllt mehrere Anforde-rungen, die oben für den landesüblichen Zinsfuss für lang-fristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten formuliertwurden:

Es handelt sich um einen Fremdkapitalzinssatz für un-gesicherte Darlehen. Der Zinssatz enthält keine Abgel-tung für das Unternehmerrisiko. Die ESTV bestimmt kei-nen unternehmensspezifischen, sondern einen generell gül-tigen Zinssatz.Einzig das Kriterium langfristig ist nicht berücksichtigt, daein Betriebskredit offensichtlich kurzfristiger Natur ist. Dienotwendige Anpassung des Zinssatzes lässt sich aus der Zins-

strukturkurve ableiten. Beispielsweise rentierten gegen EndeOktober zon Obligationen der Eidgenossenschaft mit einerRestlaufzeit von zo Jahren 1,5%, solche mit zwei JahrenRestlaufzeit noch o,o8% und solche mit zwei Monaten Rest-laufzeit noch 9,02% [16]. Diese Situation - für längere Fris-ten werden höhere Zinsen bezahlt - ist der Normalfall. Seit1993 bewegte sich die Renditedifferenz zwischen den Rest-laufzeiten zwei Jahre und zo Jahre im Bereich von 0,5% bis2,7% [17]. Inverse Zinsstrukturkurven sind möglich, aberdie Ausnahme [18].

Die weiter oben aus dem Zweck von Art. 859 OR abgelei-tete Forderung der summarischen und pragmatischen Bestim-mung des landesüblichen Zinsfusses für langfristige Darlehenohne besondere Sicherheiten legt es nahe, den Aspekt Lang-fristigkeit pauschal mit einer normal steigenden Zinsstruk-turkurve zu berücksichtigen. Ein Zuschlag in der Grüssen-

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ordnung von 1% bis 2% auf den von der ESTV bestimmtenHöchstzinssatz für erhaltene Betriebskredite berücksichtigtdie notwendige Langfristigkeit der Darlehensgewährung ineinem vertretbaren Mass.

Angewandt auf die konkrete Situation des Jahres 2on re-sultiert folgedessen ein landesüblicher Zinsfuss für lang-fristige Darlehen ohne besondere Sicherheiten von 5,5% bis6,5%. Dieser Zinsfuss schwankt mit der jeweiligen Zinssitu-ation und hat im Jahr 1992 10% bis 11% erreicht. Damalsstand der von der ESTV bestimmte Höchstzinssatz für er-haltene Betriebskredite bei 9%. Im Mittel der letzten 2o Jahrebeträgt der landesübliche Zinsfuss für langfristige Darle-hen ohne besondere Sicherheiten gerundet 7% bis 8%.

En der Praxis versuchen Genossenschaften häufig, die Ver-zinsung des Anteilscheinkapitals über lange Jahre konstant

zuhalten, ohne dass dazu eine gesetzliche Verpflichtung [19]bestünde. Eine konstante Verzinsung des Anteilschein-kapitals ist de facto eine Grundsatzentscheidung zur Höhedes mittelbaren Nutzens, der den Genossenschaftern ausihrer Eigentümerstellung erwachsen soll und daher durch-

«Die Verzinsung des Miteilschein-

Anmerkungen: 1) «Bestehen Anteilscheine, sodarf die auf sie entfallende Quote des Reinertragsder. landesüblichen Zinsfuss für langfristige Dar-lehen ohne besondere Sicherheiten nicht (Iberstei-gen.» 2) Gutzwiller konstatiert zumindest, dassder Sinn von Art. 859 Abs. 3 OR «keineswegs eindeu-tig>. sei. Zürcher Kommentar zum SchweizerischenZiv lgesetzbuch, V. Band: Obligationenrecht, Ge-nossenschaft, Handelsregister und kaufmänni-sche Buchführung, Zürich 1972 (zit.: ZK-Bearbei-ter) Gutzwiller, Art. 859 N to. 3) SchweizerischeNationalbank (SNB): Zinssätze und DevisenkurseOktober ton, Geld- und Kapitalmarktsätze (Mo-natsende), unter: http://www.snb.ch/de/iabout/stat'statpub/akziwe/stats/akziwe/akziwe_St_Zins,abgerufen am t2. 1o. am. 4) SNB: Historische Zeit-reihen, Zinssätze und Renditen, November 2007,S.3 (eigene Berechnungen für Durchschnitt). DieDurchschnittsrendite nach Fälligkeit wurde abdem Jahr 1924 durch die SNB publiziert. Die SNBstellte dazu einen Korb aus rund einem Dutzendrepräsentativer Bundes- und SBB-Anleihen zu-sammen, die alle mindestens eine Restlaufzeit von5 Jahren aufwiesen. Vgl. S. ii. 5) ZK-Gutzwiller,Art. 859 N 9. 6) Zum Begriff «Kreditgenossen-schaft» vgl. ZK-Gutzwiller, Art. 861, N iff. 7) Vgl.Bots :haft des Bundesrats an die Bundesversamm-lung zu einem Gesetzesentwurf über die Revisionder Titel XXIV bis XXXIII des schweizerischenObligationenrechts vom 21. Februar 1928, Bun-desblatt vom 29. Februar 1928, Band 1 (zit.: Bot-

schaft-1928), S. 285. 8) Botschaft-1928, S. 292.9) «Ein Reinertrag aus dem Betriebe der Genos-senschaft fällt, wenn die Statuten es nicht andersbestimmen, in seinem ganzen Umfange in dasGenossenschaftsvermögen.» 10) «Ist eine Vertei-lung des Reinertrags unter die Genossenschaftervorgesehen, so erfolgt sie, soweit die Statuten esnicht anders ordnen, nach dem Masse der Benüt-zung der genossenschaftlichen Einrichtungendurch die einzelnen Mitglieder.» 11) Vgl. dazukurz und gut lesbar: Theresia Theurl: Das aktuelleStichwort, Genossenschaftlicher Member Value,in Newsletter des Instituts für Genossenschafts-wesen der Universität Münster, 1/2011, S. 86-90.12) Andere Grenzwerte wie Höchstzinssätze wur-den in der parlamentarischen Beratung verwor-fen. Vgl. ZK-Gutzwiller, Art. 859 N to. 13) Vgl.ESTV: Rundschreiben, Zinssätze für die Berech-nung der geldwerten Leistungen, unter: http://www.estv.admin.ch/verrechnungssteuer/doku-mentation/00207/00441/index.html?lanrde, ab-gerufen am 12.1o. 2011. 14) Eigene Berechnungdes Durchschnitts der Jahre 1992 bis 2011. 15) Fürdiesen Vergleich wurden für die Jahre 1991 bis2000 die Renditen von Obligationen von Indust-rieunternehmen (Rendite nach Kündbarkeit undFälligkeit über alle Laufzeiten, berechnet auf Wo-chenbasis) verwendet. SNB: Historische Zeitrei-hen 4: Zinssätze und Renditen, unter: http://www.snb.ch/de/iabout/stat/statpub/histz/id/statpub_histz_actual, abgerufen am 12.10.2011. Für die

kapitals ist unabhängig von denverfolgten Motiven jährlich daraufhinzu prüfen, ob der Zinssatz unter demGrenzwert des landesüblichenZinsfusses für langfristige Darlehenohne besondere Sicherheiten liegt.»aus sachgerecht. Die konstante Verzinsung des Anteilschein-kapitals ist aber unabhängig von den verfolgten Motivenjährlich daraufhin zu prüfen, ob der Zinssatz unter demGrenzwert des landesüblichen Zinsfusses für langfristigeDarlehen ohne besondere Sicherheiten liegt. Aus den obigenAusführungen ergibt sich, dass eine jährliche Verzinsungdes Anteilscheinkapitals von 5% bis 6% wohl immer geset-zeskonform sein wird [2o]. Dies weil einerseits 5% bis 6% imheutigen Umfeld mit historisch tiefen Zinsen angemessensind die Zinsen können nicht viel mehr sinken und an-dererseits weil das langjährige Mittel mit 7% bis 8% dochbeträchtlich höher ist.

Jahre 2001 bis 2010 wurde die Rendite von CHF-Anleihen mit einer Laufzeit von 8 Jahren von In-dustrie (inkl. Kraftwerke) und Handel verwendet.SNB: Statistisches Monatsheft September 2011, E 4Renditen von Obligationen, unter: http://www.snb.ch/de/iabout/stat/statpub/statmon/stats/stat-mon/statmonE4, abgerufen am 12. 10. 2011.16) Vgl. SIX Swiss Exchange: ZinsstrukturkurvenSchweizer Staatsanleihen, unter: http://www.six-swiss-exchange.com/services/yield_curves_de.html#, abgerufen am 26.1o. 2011. 17) Vgl. SNB:Statistisches Monatsheft September zon, E 4 Ren-diten von Obligationen, Kassazinssätze bei ver-schiedenen Laufzeiten für Obligationen der Eid-genossenschaft, Staatsanleihen in Euro- und US-Treasury Bonds (jährlich), unter: http://www.snb.ch/de/iabout/stat/statpub/statmon/stats/statmon/statmon_E4, abgerufen am 12.10.2011 (zit.: SNB-September 2011). 18) So rentierten in den Jahren1989 bis 1992 Obligationen der Eidgenossenschaftmit einer Restlaufzeit von zwei Jahren bis zu 1%besser als solche mit einer Restlaufzeit von 20 Jah-ren. Vgl. SNB-September 2011. 19) Grenzwerte wieHöchstzinssätze wurden in der parlamentari-schen Beratung verworfen. Vgl. ZK-Gutzwiller,Art. 859 N to. Daraus lässt sich ableiten, dass einevariable Verzinsung dem Willen des Gesetzgebersentspricht. 20) Entsprechende Gewinne werdenstillschweigend vorausgesetzt.

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