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DIE ALPEN 10/2001 22 Wissenschaft und Bergwelt Scienza e mondo alpino Science et montagne Die Gletscher der Schweizer Alpen 1999/2000 1 Das 121. Berichtsjahr der Glaziolo- gischen Kommission, das letzte im ausgehenden Jahrhundert, war klima- tisch erneut durch Extreme (Hitze– Kälte, Dürre–Niederschläge) geprägt. Die global sich abzeichnende Klima- veränderung wirkt sich u. a. in der Längenänderung der Gletscher aus: 79 der 108 aktiv beobachteten Glet- scher in den Schweizer Alpen befin- den sich auf dem Rückzug. Im An- hang wird auf das Phänomen der kalbenden Gletscher eingegangen. Einleitung Der kürzlich erschienene IPCC-Bericht 2 bestätigt die sich abzeichnende globale Klimaerwärmung. Inzwischen ist allge- mein akzeptiert, dass die durch mensch- liche Aktivitäten verursachten Treib- hausgase dazu ihren Beitrag leisten. Die Auswirkungen dieser globalen Erwär- mung führen regional zu einem weiteren Rückzug der Gletscher. Die genaue Be- obachtung des Verhaltens der Gletscher bildet nach wie vor eine wichtige Grund- lage zur Erkennung und Überprüfung klimatischer Veränderungen. Jedoch sind nicht alle glaziologischen Phäno- mene direkt auf Veränderungen der kli- matischen Verhältnisse zurückzuführen. Neben dem langfristigen Monitoring der Vergletscherung sind deshalb wissen- schaftliche Grundlagenstudien notwen- dig, um das Verhalten der Gletscher und der daran beteiligten Prozesse besser zu verstehen. Die im Anhang vorgestellte Studie über kalbende Gletscher zeigt an- 1 Auszug aus dem 121. Bericht der Glaziologi- schen Kommission der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften (GK/SANW) und der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW/ETHZ) 2 IPCC = Intergovernmental Panel on Climate Change schaulich, wie neue Erkenntnisse von massgebenden Prozessen gewonnen werden konnten. Witterung und Klima Überblick über das hydrologische Jahr 1999/2000 Auch das letzte Jahr im zu Ende gehenden Jahrtausend zählte weltweit wiederum zu den wärmsten und zeich- nete sich erneut durch die gleichen klima- tischen Verhältnisse der Extreme (Wär- me, Kälte, Regenfälle, Dürren) aus. Das globale Mittel der oberflächennahen Lufttemperatur lag 0,3 °C über dem kli- matologischen Mittelwert der Periode 1961–1990. Die acht wärmsten Jahre seit Beginn der instrumentellen Messung im Jahre 1860 wurden in den letzten 10 Jah- ren registriert (WMO, 2000). Die Berichtsperiode war in der Schweiz einmal mehr überdurchschnitt- lich warm und im Osten und auf der Alpensüdseite – verursacht durch einige Extremereignisse – relativ niederschlags- reich. Einem warmen Oktober folgte ein abrupter Wintereinbruch im November mit viel Schnee bis in die Niederungen und mit tiefen Temperaturen in der zweiten Monatshälfte. Bereits im De- zember gab es reichlich Tauwetter. Die Monate Februar bis Juni waren durch- wegs zu warm, wobei besonders die Monate Mai und Juni mit mehr als 3 °C über dem Durchschnitt hervorstachen. Erst der Juli fiel überall in der Schweiz zu Tabelle 1: Titel der monatlichen Witterungsberichte der MeteoSchweiz Oktober 1999 bis September 2000 1999 Nass und doch warm – Lawinen, Überschwemmungen, Hagel, Orkan Oktober Mild und im Norden föhnig, im Süden Wolkenstau November Kräftiger Wintereinbruch nach Monatsmitte, im Mittelland sonnenarm Dezember Im Norden Stürme und nass, in den Bergen sonnenarm 2000 Aussergewöhnlich warm – extreme Herbstregen im Süden und Wallis Januar Sonniger als normal und niederschlagsarm – im Süden niederschlagsfrei Februar Deutlich zu mild – trocken im Süden, nass auf der Alpennordseite März Sonnig im Westen und Süden, nass und trüb im Osten. Endlich Regen im Süd- tessin. April Im Süden nass und trüb, im Norden mild und oft föhnig Mai Extrem warme erste Maihälfte – ungewöhnliche Frühlingswärme Juni Sehr warm, zu wenig Regen und ausserhalb der Alpen ungewöhnlich sonnig Juli Kühl, regnerisch und sonnenarm August Nach unfreundlichem Beginn hochsommerlich warm mit viel Sonnenschein September Etwas zu warm, im Westen und Nordwesten sonnig – einzelne ergiebige Regenfälle Triftgletscher 1969 Foto: A. Spieler Foto: Archiv VAW/E. Pfister

Die Gletscher der Schweizer Alpen - GLAMOS · 2019-08-13 · 79 der 108 aktiv beobachteten Glet-scher in den Schweizer Alpen befin-den sich auf dem Rückzug. Im An-hang wird auf

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DIE ALPEN 10/200122

Wissenschaft undBergwelt

Scienza e mondo alpino

Science et montagne

Die Gletscher der Schweizer Alpen1999/20001

Das 121. Berichtsjahr der Glaziolo-gischen Kommission, das letzte imausgehenden Jahrhundert, war klima-tisch erneut durch Extreme (Hitze–Kälte, Dürre–Niederschläge) geprägt.Die global sich abzeichnende Klima-veränderung wirkt sich u. a. in derLängenänderung der Gletscher aus:79 der 108 aktiv beobachteten Glet-scher in den Schweizer Alpen befin-den sich auf dem Rückzug. Im An-hang wird auf das Phänomen derkalbenden Gletscher eingegangen.

EinleitungDer kürzlich erschienene IPCC-Bericht2

bestätigt die sich abzeichnende globaleKlimaerwärmung. Inzwischen ist allge-mein akzeptiert, dass die durch mensch-liche Aktivitäten verursachten Treib-hausgase dazu ihren Beitrag leisten. DieAuswirkungen dieser globalen Erwär-mung führen regional zu einem weiterenRückzug der Gletscher. Die genaue Be-obachtung des Verhaltens der Gletscherbildet nach wie vor eine wichtige Grund-lage zur Erkennung und Überprüfungklimatischer Veränderungen. Jedochsind nicht alle glaziologischen Phäno-mene direkt auf Veränderungen der kli-matischen Verhältnisse zurückzuführen.Neben dem langfristigen Monitoring derVergletscherung sind deshalb wissen-schaftliche Grundlagenstudien notwen-dig, um das Verhalten der Gletscher undder daran beteiligten Prozesse besser zuverstehen. Die im Anhang vorgestellteStudie über kalbende Gletscher zeigt an-

1 Auszug aus dem 121. Bericht der Glaziologi-schen Kommission der Schweizerischen Akademieder Naturwissenschaften (GK/SANW) und derVersuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie undGlaziologie (VAW/ETHZ)2 IPCC = Intergovernmental Panel on ClimateChange

schaulich, wie neue Erkenntnisse vonmassgebenden Prozessen gewonnenwerden konnten.

Witterung und KlimaÜberblick über das hydrologische Jahr1999/2000

Auch das letzte Jahr im zu Ende gehenden Jahrtausend zählte weltweitwiederum zu den wärmsten und zeich-nete sich erneut durch die gleichen klima-tischen Verhältnisse der Extreme (Wär-me, Kälte, Regenfälle, Dürren) aus. Dasglobale Mittel der oberflächennahenLufttemperatur lag 0,3 °C über dem kli-matologischen Mittelwert der Periode1961–1990. Die acht wärmsten Jahre seitBeginn der instrumentellen Messung imJahre 1860 wurden in den letzten 10 Jah-ren registriert (WMO, 2000).

Die Berichtsperiode war in derSchweiz einmal mehr überdurchschnitt-

lich warm und im Osten und auf der Alpensüdseite – verursacht durch einigeExtremereignisse – relativ niederschlags-reich. Einem warmen Oktober folgte einabrupter Wintereinbruch im Novembermit viel Schnee bis in die Niederungenund mit tiefen Temperaturen in derzweiten Monatshälfte. Bereits im De-zember gab es reichlich Tauwetter. DieMonate Februar bis Juni waren durch-wegs zu warm, wobei besonders die Monate Mai und Juni mit mehr als 3 °Cüber dem Durchschnitt hervorstachen.Erst der Juli fiel überall in der Schweiz zu

Tabelle 1: Titel der monatlichen Witterungsberichte der MeteoSchweiz Oktober 1999 bis September 2000

1999 Nass und doch warm – Lawinen, Überschwemmungen, Hagel, OrkanOktober Mild und im Norden föhnig, im Süden WolkenstauNovember Kräftiger Wintereinbruch nach Monatsmitte, im Mittelland sonnenarmDezember Im Norden Stürme und nass, in den Bergen sonnenarm

2000 Aussergewöhnlich warm – extreme Herbstregen im Süden und WallisJanuar Sonniger als normal und niederschlagsarm – im Süden niederschlagsfreiFebruar Deutlich zu mild – trocken im Süden, nass auf der AlpennordseiteMärz Sonnig im Westen und Süden, nass und trüb im Osten. Endlich Regen im Süd-

tessin.April Im Süden nass und trüb, im Norden mild und oft föhnigMai Extrem warme erste Maihälfte – ungewöhnliche FrühlingswärmeJuni Sehr warm, zu wenig Regen und ausserhalb der Alpen ungewöhnlich sonnigJuli Kühl, regnerisch und sonnenarmAugust Nach unfreundlichem Beginn hochsommerlich warm mit viel SonnenscheinSeptember Etwas zu warm, im Westen und Nordwesten sonnig – einzelne ergiebige

Regenfälle

Triftgletscher 1969

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Kalbungsfront des Griesglet-schers im Jahr 1968, zwei Jahrenach dem Stau des Griessees

Die Detailaufnahme des Zungen-endes vom Herbst 2000 zeigt denKontaktverlust zur Felsbarriereund den entstandenen See mitder Kalbungsfront. Es bestehenzudem Anzeichen, dass die Zungein einzelne Teile zerbricht.

AufrufIm Zusammenhang mit den sicham Triftgletscher momentanabspielenden Veränderungenwerden die vorhandenen Infor-mationen und das bestehendeDatenmaterial wissenschaftlichaufgearbeitet. Dazu suchen wirdatierte Darstellungen (Fotos,

Gemälde), die frühere Glet-scherstände dokumentieren.Kontakt: Gletschermessnetz,Gloriastrasse 37/39, 8092 Zürich, Tel. 01/632 41 12,[email protected]

Zunge des Griesgletschers imJahr 1998. Der Gletscher hatden Kontakt zum See verloren.

2001. Der gewaltige Schwundder Zunge und ihr Rückzug aus der Felsbarriere heraus sinddeutlich zu erkennen.

Foto: E. StreichFoto: Archiv VAW

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WISSENSCHAFT UND BERGWELT

kalt aus. Der August war aber bereitswieder zu warm.

Neben dem Orkan «Lothar», dernach Weihnachten 1999 grosse Verwüs-tungen anrichtete, wird die extrem mildeerste Jahreshälfte in Erinnerung bleiben.Trotz langer Schlechtwetterperiodenwar der Sommer warm und trocken. DasBerichtsjahr 1999/2000 war – nach demsonnenarmen Jahr 1998/99 – sonnig(vgl. Tab. 1).

TemperaturIn der Beobachtungsperiode setzte

sich der anhaltende Trend von höherendurchschnittlichen Jahrestemperaturenfort. Die Monate Oktober, Dezember,Februar, April, Mai und Juni fielen deut-lich zu warm aus, in den höheren Lagenjedoch etwas weniger ausgeprägt. Einzigdie beiden Monate November und Juliwaren kälter als der langjährige Durch-schnitt. Die strahlungsintensiven Som-mermonate sind für die Schneeschmelze(Mai und Juni) und Ausaperung (Juli bisSeptember) von entscheidender Bedeu-tung. In dieser Periode lagen die Wertezwischen 1,0 und 2,5 °C über demDurchschnitt (vgl. Fig. 1).

NiederschlagNach 1998/99 mit überdurchschnitt-

lich viel und starkem Niederschlag folgte1999/2000 eine Periode auf normalemNiveau. Die östlichen Gebiete und dieAlpensüdseite waren jedoch deutlichnasser als der Rest der Schweiz. Wäh-rend in allen Regionen der Schweiz nurder Juli überdurchschnittlich nass aus-fiel, waren nach Oktober und November1999 auch der Januar, Mai, Juni und August 2000 überall zu trocken. Die Ab-weichungen lagen vorwiegend zwischen–10 und +30%, wobei Maximalbeträgebis über 40% auftraten. Im Oberwallis,Nordtessin und in den Bündner Süd-tälern wurde der nasseste Herbst desJahrhunderts verzeichnet (vgl. Fig. 2).

SonnenscheinNach dem vorangehenden sonnen-

armen Berichtsjahr lag die Sonnenschein-dauer 1999/2000 wieder über dem Durch-schnitt. Der Überschuss an Sonnen-schein fiel im Alpenraum weniger ausge-prägt aus als in den angrenzenden, nörd-licheren Gebieten. Überdurchschnittlichsonnig waren vor allem Januar, Juni,August und September, wirklich sonnen-arm war in den gesamten Schweizer Alpen einzig der Dezember 1999.

MassenhaushaltDer Massenhaushalt wurde an drei Glet-schern mit der direkten, glaziologischenMethode bestimmt. Daneben wurdeneinzelne punktuelle Messungen derMassenänderung an Jungfraufirn(Aletsch), Clariden, Giétro, Corbassièresowie im Mattmarkgebiet durchgeführt.

Die Bestimmung des Massenhaus-halts des gesamten Aletschgletschers an-hand der hydrologischen Methode wirddagegen in Zukunft nicht mehr weiter-geführt. Die verwendete Methode ist mitso grossen Unsicherheiten und Fehlernverbunden, dass ihr ein geringer Wertbeigemessen wird. Von wissenschaftlichweit gösserer Bedeutung im Hinblick aufdie Beantwortung von klimarelevantenFragestellungen sind hingegen die punk-tuellen Messungen der Massenände-rung.

Während der Griesgletscher im Nufenengebiet und der Ghiacciaio delBasodino im Tessin einen grossen Mas-senverlust erfuhren, gestaltete sich dieBilanz beim Silvrettagletscher im hinte-ren Prättigau sogar leicht positiv. DieWerte der mittleren, spezifischen Mas-senbilanz in Metern Wasseräquivalentbetragen –0,91 m am Gries, –0,80 m amBasodino und schliesslich +0,15 m amSilvretta. Im Vergleich mit den vorange-henden Messungen fallen alle Werte tiefer aus als in der letzten Periode mitschneereichem Winter und höher als in

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Fig. 1Sommertemperatur 2000(Mittelwert 1.5.–30.9.2000):Abweichung vom langjährigenNormalwert (1901 bis 1960) in Grad Celsius

Fig. 2Jahresniederschlag 1999/2000(Summe 1.10.1999–30.9.2000):Abweichung vom langjährigenNormalwert (1901 bis 1960) in Prozent

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der vorletzten Periode mit massiverSchmelze im Sommer (vgl. Fig. 3). Dasabgelaufene Beobachtungsjahr weist je-doch eine analoge räumliche Charakte-ristik wie das vorangehende auf. Wäh-rend die beiden dem südlichen Wetter-einfluss ausgesetzten Gletscher Basodinound Gries weiterhin markante Massen-verluste erleiden, zeigt der nördlich vomAlpenhauptkamm liegende Silvrettazum zweiten Mal ein positives Ergebnis.Die punktuellen Messungen der Massen-änderung widerspiegeln diese Tendenzebenfalls. Feststellbar ist ein leichtes Ge-fälle von normalen, durchschnittlichenWerten im Norden zu eher tieferen imSüden (Wallis).

Die Bewegungsmessungen wider-spiegeln den allgemeinen Trend des Zurückschmelzens der Alpengletscher.Die jeweils an gleicher Lage wiederhol-ten Messungen weisen durchwegs rück-läufige horizontale Geschwindigkeitsbe-träge auf. Die Fliessgeschwindigkeit isthauptsächlich von Oberflächenneigungund Eismächtigkeit abhängig. Es bestehtdeshalb ein Zusammenhang mit Verän-derungen der Gletschergeometrie.

LängenänderungVon den im Beobachtungsnetz verzeich-neten 121 Gletschern werden momen-tan 108 aktiv beobachtet. Die restlichensind einerseits stark zusammenge-

schmolzen und oft auch schuttbedeckt,sodass eine sinnvolle Vermessung imJahresrhythmus vorderhand nicht mög-lich ist. Andererseits wurden einige nurin unregelmässigen Abständen beobach-tet, wobei die vereinzelten Messwerteerst noch sehr ungenau waren, was einBeibehalten in den Aufstellungen undAnalysen ebenso wenig rechtfertigt.

In der Berichtsperiode konnte bei 88der 95 besuchten Gletscher eine Längen-änderung bestimmt werden. Währendgerade noch 5 Zungen vorstiessen und 4 sich stationär (= ±1 m) verhielten, hatsich wiederum die grosse Mehrheit von79 Gletschern zurückgezogen (vgl. Fig. 4).Die grössten Beträge erreichte der Turt-mann mit +4,8 m Vorstoss einerseitsund der Allalin mit –218 m Rückzug an-dererseits.

Der sehr grosse Rückzugsbetrag desAllalin hat einen speziellen Grund: Am31. Juli 2000 stürzte mit etwa 1 Mio. Kubikmeter Eis fast die gesamte Zungeüber die vorgelagerte steile Felspartie insTal. Ein ähnliches Ereignis (rund drei-mal mehr Volumen), das damals 88 To-desopfer forderte, fand 1965 währendder Bauarbeiten der Mattmarkstaumauerstatt. Dank dem seither existierendenumfassenden Beobachtungsprogrammkonnte bereits Mitte der Neunzigerjahrefestgestellt werden, dass der Allalinglet-scher inzwischen wiederum eine ähnli-che Ausgangslage erreichte, sodass miteinem Absturzereignis gerechnet werden

musste. Die deshalb angeordnetenSchutzmassnahmen und Absperrungenerwiesen sich als angemessen und ver-hinderten ein erneutes Unglück.3

Nicht nur am Allalin, sondern aucham Trient war der Rückzug mit –180 mausserordentlich gross. Auf eine anhal-tende Vorstossperiode von Anfang derSechziger- bis Ende der Achtzigerjahrefolgte am Trient in den Neunzigerjahrenein massiver Schwund, wobei die letzteMessung sehr hoch ausfiel (vgl. Fig. 5).Die übrigen in der Berichtsperiode fest-gestellten grossen Längenänderungenbewegen sich um die –50 m. Die mehr-heitlich negativen Messwerte auch derkleineren und deshalb auf klimatischeVeränderungen rasch reagierendenGletscher zeigen, dass sich die einmali-gen, grossen Schneemengen des Winters1998/99 kaum positiv auswirken. DieResultate sind sehr uneinheitlich. Es istkaum anzunehmen, dass sich ein Trendfeststellen lassen wird, da ein allfälligesSignal in der Auflösung der Messunguntergehen wird.

Zurzeit zeichnet sich am Trift im Susten-/Grimselgebiet (Gadmertal) einkollapsartiger Schwund der Zunge ab. Eshandelt sich dabei um eine der am tiefs-ten hinunterreichenden Zungen in denSchweizer Alpen (ca. 1650 m ü. M.), diean einem Felsriegel anstand. In den letz-ten Jahren schmolz der Zungenbereichnicht nur gewaltig und verlor sehr viel

3 Vgl. ALPEN 9/2001, S. 33–37, Zur Geschichtedes Allalin

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Grosser Aletsch (Länge 23.3 km)

Allalin (Länge 6.3 km)

Turtmann (Länge 5.3 km)

Trient (Länge 4.7 km)

Kehlen (Länge 2.6 km)

Pizol (Länge 0.6 km)

Fig. 3Aufsummierte mittlere jährlicheMassenbilanz (in m Wasser-äquivalenten) von den Glet-schern Basodino, Gries undSilvretta

Fig. 4Aufsummierte jährliche Län-genänderungen (in m) für sechsausgewählte Gletscher des

Messnetzes mit unterschiedli-chem Reaktions- und Anpas-sungsverhalten auf das Klima

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WISSENSCHAFT UND BERGWELT

Masse, auch der Kontakt zum Felsriegelriss ab, wobei sich am Rand ein See bil-dete. In nächster Zukunft muss deshalbmit einem schnellen Verschwinden wei-ter Teile der Zunge gerechnet werden.Leider sind wegen des schwierigen Zu-gangs und den geringen Veränderungenentlang der aufstauenden Felsbarrierenur spärliche Messungen der Längenän-derung vorhanden.

DankDie langfristigen Beobachtungen derGletscher in den Schweizer Alpen durchdie Glaziologische Kommission derSANW ist ohne die tatkräftige und lang-jährige Unterstützung vieler freiwilligerHelfer undenkbar. Ein besonderer Dankgilt allen regelmässig im Gelände bei derAufnahme oder im Büro bei der Daten-bearbeitung mitwirkenden Privatperso-nen und Angehörigen der Forstdienstein den Gebirgskantonen, der KraftwerkeAegina, Mattmark und Mauvoisin, vonBundesämtern, Forschungsanstalten,Hochschulen und Universitäten. Einspezieller Dank richtet sich an die Abtei-lung Glaziologie und die Direktion derVAW an der ETH Zürich für ihre Unter-stützung.

Anhang: Von kalbenden GletschernGletscher, die in einem See oder im Meerenden und von deren Gletscherende Eis-berge abbrechen, werden als kalbendeGletscher bezeichnet. Die zeitliche Ver-änderung solcher Gletscher hängt nichtallein vom Klima beziehungsweise derMassenbilanz ab, sondern wird zusätz-lich vom Prozess der Eisbergkalbung amGletscherende beeinflusst. Die Kalbungist ein sehr effizienter Ablationsmecha-nismus und bewirkt einen viel schnelle-ren Massenverlust, als durch Oberflä-chenschmelze allein möglich ist. Von allen Gletschern und Eiskappen der Erdebeträgt der Anteil der Ablation durchKalbung 70% (Van der Veen, 1997), wo-von der grösste Teil auf Schelfeis undschwimmende Gletscherzungen in derAntarktis und Grönland entfällt. UnsereAusführungen beschränken sich auf kalbende Gletscher, die überall auf demUntergrund aufliegen, das heisst dieGletscherzunge schwimmt nicht auf.Neben den grösseren kalbenden Glet-schern in Alaska und Patagonien findensich auch vereinzelt kleinere in den Al-pen wie zum Beispiel der Roseggletscherim Engadin oder seit kurzem der Trift-gletscher im Berner Oberland.

Schneller Rückzug des Columbia GlacierBei verschiedenen kalbenden Gletschernin Alaska und in Patagonien wurdenplötzlich einsetzende, schnelle Rückzügeals Folge eines starken Anstiegs der Kal-bungsrate (Differenz zwischen Längen-änderung und Fliessgeschwindigkeit ander Kalbungsfront) beobachtet (Meierand Post, 1987; Warren, 1993; Naruseand Skvarca, 2000). Anfang der Achtzi-gerjahre setzte beim Columbia Glacierin Alaska nach einer längeren stabilenPhase plötzlich ein schneller Rückzug(vgl. Fig. 6, Seite 30) mit einer mittlerenRückzugsrate von 700 m/Jahr ein. Soliegt heute das Gletscherende etwa 12 kmhinter der Position von 1982. Da diestark erhöhte Eisbergproduktion desGletschers zu Beginn der Achtzigerjahreeine grosse Gefahr für die Öltanker aufder Route zum Hafen der Alaska-Pipelinedarstellte, wurden das Verhalten des Columbia Glacier – und kalbender Glet-scher im Allgemeinen – sowie der Pro-zess der Kalbung näher untersucht.Heute interessiert das Verhalten solcherGletscher vor allem im Zusammenhangmit der Klimaänderung.

wachsend

stationär (+/- 1.0 m)

schwindend

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Fig. 5Übersicht über die Längen-änderungen der Gletscherin den Schweizer Alpen1999/2000

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Tabelle 2: Gletscher der Schweizer Alpen – Längenänderung 1999/2000

Einzugsgebiet der Rhone (II)1 Rhone VS –5,92 Mutt VS –111,86

3 Gries VS –13,14 Fiescher VS –8,45 Grosser Aletsch VS –18,57 Kaltwasser VS –9,8

10 Schwarzberg VS –1111 Allalin VS –21812 Kessjen VS –1313 Fee (Nord) VS –36,816 Findelen VS –58,517 Ried VS –26,318 Lang VS –3119 Turtmann VS +4,820 Brunegg (Turtmann Ost) VS –11,521 Bella Tola VS –2,322 Zinal VS –1823 Moming VS –2924 Moiry VS –525 Ferpècle VS –1526 Mont Miné VS –2027 Arolla (Mont Collon) VS –1428 Tsidjiore Nouve VS –1729 Cheillon VS –6,530 En Darrey VS st31 Grand Désert VS –13,432 Mont Fort (Tortin) VS –3,233 Tsanfleuron VS –534 Otemma VS –2435 Mont Durand VS +1,436 Breney VS –15,937 Giétro VS –2,938 Corbassière VS –9,543 Trient VS –18044 Paneyrosse VD st45 Grand Plan Névé VD –2,6

47 Sex Rouge VD x48 Prapio VD x

Einzugsgebiet der Aare (Ia)52 Gauli BE –1153 Stein BE –1654 Steinlimmi BE –1555 Trift (Gadmen) BE ca. –5057 Oberer Grindelwald BE ca. –5058 Unterer Grindelwald BE x59 Eiger BE –29,460 Tschingel BE –2,861 Gamchi BE –7,6

109 Alpetli BE –10,362 Schwarz VS x63 Lämmern VS –11,764 Blümlisalp BE –32111 Ammerten BE –1,565 Rätzli BE st

Einzugsgebiet der Reuss (Ib)66 Tiefen UR –16,667 Sankt Anna UR –11,168 Kehlen UR –33,269 Rotfirn (Nord) UR –12,470 Damma UR –20,871 Wallenbur UR –4,673 Hüfi UR –8,974 Griess UR –22,775 Firnalpeli (Ost) OW –2,576 Griess OW –83

Einzugsgebiet der Linth/Limmat (Ic)77 Biferten GL –9,879 Sulz GL +4,480 Glärnisch GL –8,681 Pizol SG st

Einzugsgebiet des Rheins/Bodensee (Id)84 Lenta GR –17,385 Vorab GR –4,82

86 Paradies GR –3,187 Suretta GR –12

115 Scaletta GR –588 Porchabella GR –6,689 Verstankla GR –1590 Silvretta GR –2.091 Sardona SG +1,1

Einzugsgebiet des Inns (V)92 Roseg GR –54,193 Tschierva GR –53,194 Morteratsch GR –29,695 Calderas GR –8,196 Tiatscha GR –18,997 Sesvenna GR –1,798 Lischana GR x (sn)

Einzugsgebiet der Adda (IV)99 Cambrena GR x

100 Palü GR –57101 Paradisino (Campo) GR x102 Forno GR –22,4

Einzugsgebiet des Tessins (III)120 Corno TI –3,3117 Valleggia TI –7,7118 Val Torta TI –19,1103 Bresciana TI –23,4119 Cavagnoli TI –11,2104 Basodino TI –19,6121 Croslina TI –3,6105 Rossboden VS +3,3

Nr. Gletscher Kt. Längen-ände-rung (m)

Abkürzungensn = eingeschneitx = Betrag nicht bestimmtst = stationär

Nr. Gletscher Kt. Längen-ände-rung (m)

Nr. Gletscher Kt. Längen-ände-rung (m)

BemerkungenGilt die Angabe für eine mehr-jährige Zeitspanne, ist die Zahlder Jahre angezeigt: –1186 =Schwund um 118 m in 6 Jahren.

Kalbung und basales GleitenAuf Grund von Beobachtungen an ver-schiedenen kalbenden Gletschern wurdefestgestellt, dass die Kalbungsrate nahe-zu linear mit der Wassertiefe zunimmt(Brown et al., 1982). Wenn sich dasGletscherende nun in tieferes Wasser zu-rückzieht, erwartet man einen beschleu-nigten Rückzug. Die Abhängigkeit derKalbungsrate von der Wassertiefe istrein empirisch und beschreibt nicht denphysikalischen Prozess der Eisbergkal-bung.

Basierend auf den Beobachtungenvom Columbia Glacier wurde ein alter-natives Konzept für die Kalbung vorge-schlagen (Van der Veen, 1996). JenerTeil einer dünner werdenden Gletscher-

zunge, der zu nahe ans Schwimmgleich-gewicht kommt, bricht ab als Folge derAuftriebskraft, die auf das Eis im Wasserwirkt. Das heisst, bevor die Gletscher-zunge aufschwimmt, kalbt sie weg. Manspricht hier von der «auftriebinduzier-ten Kalbung». Bei diesem Ansatz ist dieKalbungsrate vor allem ein Resultat derÄnderung der Gletschermächtigkeit imZungenbereich und damit eine Folge derDynamik des ganzen Gletschers.

Für kleinere und langsam fliessendekalbende Gletscher, wie sie auch in denAlpen vereinzelt vorkommen, spielenSchmelzprozesse an der Kontaktflächeder Kalbungsfront mit dem Wasser fürden Kalbungsprozess eine wichtige Rolle.Beim Beispiel des Hansbreen (Spitzber-gen) entsteht durch Schmelz- und Wel-

lenerosion eine Kerbe an der Wasser-linie, was zum Abbrechen des darüberliegenden Eises führt. In diesem Fall be-stimmt die Schmelzrate an der Wasser-linie die Kalbungsrate (Vieli, 2001).

Die hohen Fliessgeschwindigkeiten,die im Zungenbereich von kalbendenGletschern typischerweise beobachtetwerden, lassen sich durch stark erhöhtesGleiten am Gletscherbett erklären undstehen in Zusammenhang mit dem hohen basalen Wasserdruck, der bei sol-chen Gletschern im Zungenbereich auf-tritt. Basales Gleiten ist auch verantwort-lich für die Geschwindigkeitszunahmegegen die Kalbungsfront (vgl. Fig. 7).

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WISSENSCHAFT UND BERGWELT

Der Gleitprozess am Gletscherbett spieltdeshalb für die Dynamik von kalbendenGletschern eine wichtige Rolle.

Um das Verhalten von kalbendenGletschern verstehen zu können, reichtes nicht, die beteiligten Prozesse wie dieEisbergkalbung, das Gletscherfliessenoder basales Gleiten isoliert voneinanderzu untersuchen, da diese Prozesse einan-der gegenseitig beeinflussen.

Numerische Modell-ExperimenteIn einem numerischen Gletschermodellist es möglich, die wichtigsten Prozessezu verknüpfen. Anhand eines solchen

numerischen Modells (Vieli, 2001) kanndas Verhalten kalbender Gletscher, ins-besondere schneller Rückzüge, besserverstanden werden. Es berechnet die zeit-liche Evolution der Gletschergeometriesowie die Fliessgeschwindigkeiten undSpannungen entlang einer Fliesslinie.Für die Kalbung wird der Ansatz der«Auftrieb induzierten Kalbung» verwen-det. Als Beispiel werden hier Berechnun-gen eines Gletscherrückzugs durch einebasale Übertiefung gezeigt (vgl. Fig. 8).Die gewählte Gletscher- und Bettgeo-metrie mit der basalen Übertiefung im

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Hansbreengletscher

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Sicht auf die Gletscherzungedes Hansbreen, eines relativkleinen kalbenden Gletschersin Spitzbergen. Die Gletscher-zunge ist 2 km breit, die Höheder Kalbungsfront über demWasser liegt zwischen 30 und45 m, und die maximale Wasser-tiefe an der Front beträgt 70 m.

Frontalansicht der Kalbungs-front des Hansbreen (Spitzber-gen), aufgenommen bei Ebbe imJuli 1998. Die ausgeschmolzene

Kerbe an der Wasserlinie er-streckt sich entlang der ganzenFront und war während des gan-zen Sommers sichtbar.

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WISSENSCHAFT UND BERGWELT

Zungenbereich ist typisch für kalbendeGletscher.

Der Gletscher wird aus seinem klima-tischen Gleichgewicht gebracht, indemkünstlich eine leicht negativere Massen-bilanz vorgegeben wird. Das heisst, dieAkkumulation (Massenzunahme) wirdkleiner und die Ablation (Schmelze)nimmt zu. Der Gletscher wird deshalbdünner und die Kalbungsfront zieht sich

langsam zurück (vgl. Fig. 9). Mit demRückzug in weniger tiefes Wasser neh-men Kalbungsrate und Geschwindigkeitab. Wenn sich die Gletscherfront über

den höchsten Punkt des basalen Hügels(A) zurückgezogen hat, beschleunigtsich der Rückzug als Folge eines starkenAnsteigens der Kalbungsrate. Damitkommt die Kalbungsfront in immer tie-feres Wasser zu liegen, die Kalbungsratesteigt weiter stark an und der Rückzugwird noch schneller. Sobald aber dasGletscherende den tiefsten Punkt (B)überschritten hat und die Wassertiefe ander Front kleiner wird, nimmt die Kal-bungsrate ab und der Rückzug verlang-samt sich wieder. Das Rückzugsverhaltenist dann wieder jenem in der Anfangs-phase vergleichbar. Die Fliessgeschwin-digkeit am Gletscherende verhält sichmit der Zeit ähnlich wie die Kalbungs-rate: Mit dem Rückzug in tieferes Wassernimmt sie zu und wird geringer, wennsich die Wassertiefe reduziert. Da dieseÄnderungen kleiner als jene der Kal-bungsrate sind, resultiert durch die basale Übertiefung ein beschleunigterRückzug.

Da in den Modellrechnungen dieMassenbilanz nur am Anfang geändertund damit ein konstantes Klima ange-nommen wurde, ist der schnelle Rück-zug kein direktes Klimasignal, sondernein Effekt der basalen Übertiefung. DasDünnerwerden des Gletschers als Folgeder negativen Massenbilanz spielt aller-dings als Auslöser für den drastischenRückzug eine entscheidende Rolle. DieseModellrechnungen zeigen, dass Längen-änderungen bei kalbenden Gletschernstark von der Gletscherbetttopografiebeeinflusst werden. Für kalbende Glet-scher sind Bettübertiefungen im Zun-genbereich typisch, und drastische Glet-scherrückzüge können demzufolge be-reits bei einer leichten Erwärmung des

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Fig. 6Längenänderung des Columbia Glacier (Alaska) seit 1957 (Daten: R. Krimmel, U.S. GeologicalSurvey)

Fig. 7Zunahme der Fliessgeschwindigkeitgegen die Kalbungsfront am Hans-breen (Spitzbergen): (a) Oberfläche-und Bettgeometrie entlang einesLängsprofils. (b) Oberflächenge-schwindigkeit entlang des gleichenLängsprofils, gemessen über ver-schiedene Zeitperioden.

Fig. 8Modellierter Gletscherrückzugdurch eine basale Übertiefung:Dargestellt ist ein Längsprofildes Gletschers mit dem Glet-scherbett und der Oberfläche inzeitlichen Abständen von zwei

Jahren. Die rote Linie bezeich-net die Anfangs-Oberflächen-geometrie und A und B den Ortder untiefsten bzw. tiefstenStelle des Gletscherbettes imZungengebiet.

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Klimas auftreten. Im Gegensatz zumRückzug durch eine Bettübertiefungbraucht es für einen Vorstoss neben einer stark positiven Massenbilanz vielZeit (Hunderte von Jahren), sodassmittelfristig ein solch schneller Rückzugein irreversibler Prozess ist.

Kalbende Gletscher in den AlpenKalbende Gletscher sind in den Alpenrelativ selten. Die Kalbungsraten sindverglichen mit den Beispielen aus Alaskaund Patagonien relativ gering. Einewichtige Rolle für die Kalbung spielt dieSchmelze an der Front. Als sich beimRückzug des Roseggletschers (Engadin)an der Front ein See bildete, begann derGletscher zu kalben. Auf Grund der ge-ringen Wassertiefe kann der Einfluss derKalbung auf den Rückzug kaum ausge-macht werden (vgl. Fig. 10). Auch beim

Triftgletscher hat sich beim Rückzug inden letzten zwei Jahren ein See mit einerKalbungsfront gebildet, weshalb in dennächsten Jahren eine Zunahme desRückzugs erwartet wird.

Als beim Bau von Wasserkraftwerkenverschiedene Gletscherzungen einge-staut wurden, entstanden künstlich kal-bende Gletscher wie 1933 beim Unter-aar, 1953 beim Oberaar und 1966 beimGries. Die Kalbung beschleunigte dabeiden Rückzug kurzfristig deutlich (vgl.Fig. 10), alle drei Gletscher haben sichseither aus dem See zurückgezogen. a

Andreas Bauder , Andreas V ie l i

und Mart in Hoelz le , VAW-ETHZ

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Meier M. F. and Post A. (1987): Fast tidewaterglaciers. Journal of Geophysical Research 92 (B 9): 9051–9058.

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Van der Veen C. J., editor (1997): Calving Gla-ciers: Report of a Workshop, BPRC Report No. 15,Byrd Polar Research Center, Ohio State University,Columbus, Ohio.

Vieli A. (2001): On the Dynamics of TidewaterGlaciers. PhD thesis, ETH Zürich. No. 14100.

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WMO (2000): WMO Statement of the Statusof the Global Climate in 2000. World Meteorolo-gical Organization WMO Press Releases(http://www.wmo.ch), No. 657.

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Unteraar (Länge 12.4 km)

Oberaar (Länge 4.7 km)

Gries (Länge 5.4 km)

Roseg (Länge 4.3 km)Fig. 9Modellierter Gletscherrückzug durcheine basale Übertiefung: Änderungder Gletscherlänge (a), der Kal-bungsrate, der Geschwindigkeit ander Gletscherfront und der Rückzugs-rate (b) und der Wassertiefe an derKalbungsfront (c) mit der Zeit.

Fig. 10Aufsummierte jährliche Längen-änderungen (in m) für denUnteraar, Oberaar, Gries undRoseg mit zeitweise in einemSee endender Zunge. Die Pfeilemarkieren den Beginn des Ein-staus.

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WISSENSCHAFT UND BERGWELT

Ansicht des Columbia Glacier(Alaska) von 1961. Die Gletscher-zunge ist etwa 4 km breit, unddie Wassertiefe an der Front beträgt etwa 100 m.

Ansicht des Columbia Glaciervon 1994 während der Phasedes drastischen Rückzugs,der Anfang der Achtziger-jahre begonnen hat. Die un-zähligen Eisberge, die denFjord bedecken, deuten aufeine hohe Kalbungsrate hin.Seit 1961 (vgl. S. 26) hat sichder Gletscher um etwa 10 kmzurückgezogen. Der Fjord istan der Kalbungsfront bis ge-gen 350 m tief.

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