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oldenbourg DOI 10.1524/hzhz.2013.0198 593
Aufsätze
Die Goten in ItalienWandlungen und Zerfall einer Gewaltgemeinschaft
von Hans-Ulrich Wiemer
I. Einführung: Theoderichs Goten als Gewaltgemeinschaft
Die Geschichte der Goten wurde in Deutschland bis weit ins 20.Jahrhundert hin-
ein als Teil der deutschen Vorgeschichte behandelt. Die Goten galten als deutscher
Stamm und damit als Teil des deutschen Volkes in seiner frühesten, germanischen
Entwicklungsphase.1 Im Gefolge der Romantik ging man davon aus, dass das deut-
sche Volk einen uralten und unwandelbaren Wesenskern besitze, der sich lange vor
Christi Geburt ausgeprägt habe, zu einer Zeit, als die Germanen der Schrift noch un-
kundig waren und daher außerstande, der Nachwelt von ihrer Eigenart selbst Bericht
zu erstatten. Ein für das bürgerliche Lesepublikum bestimmtes Geschichtsbuch wie
Gustav Freytags zwischen 1859 und 1867 entstandene „Bilder aus der deutschen Ver-
gangenheit“ hebt nicht zufällig im germanischen Altertum an.2 Im Kaiserreich und
1 Das kommt schon im Titel des lange Zeit maßgeblichen Handbuchs zum Ausdruck: Ludwig Schmidt,
Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Bd.1: Die Ostgermanen. Berlin
1904–1910. Das Werk erschien 1934–1941 in einer zweiten, völlig neubearbeiteten Auflage (danach wird
im Folgenden zitiert) und wurde 1970 noch einmal nachgedruckt. Aufschlussreich für Schmidts Ge-
schichtsbild ist sein Aufsatz: Das germanische Volkstum in den Reichen der Völkerwanderung, in: Histo-
rische Vierteljahrschrift 29, 1935, 417–440.
2 Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit. 4 Bde. Leipzig 1859–1867. Zur modernen Re-
zeptionsgeschichte bis ins 19.Jahrhundert vgl. Hanno Helbling, Goten und Vandalen. Wandlung der histo-
rischen Realität. Zürich 1954, 53–95; Antonio Pizzi, Teoderico nella grande storiografia europea, in: Romano-
barbarica 13, 1994/95, 259–282.
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594 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
in der Weimarer Republik wurde Theoderich als eine Gestalt des deutschen Mittel-
alters betrachtet, als „Volkskönig“, der in Italien ein germanisches Reich begründet
habe.3 Der meistgelesene historische Roman der Zeit – Felix Dahns „Ein Kampf um
Rom“ (1876) – schilderte den Zusammenbruch des Gotenreichs in Italien als tragi-
schen Untergang eines Volkes, als grandiosen Kampf, in welchem germanische
Treue und Tapferkeit römischer Übermacht und Tücke nach heldenhaftem Ringen
unterliegen.4 Sein Autor war ordentlicher Professor an einer deutschen Universität;
neben seinen zahlreichen literarischen Werken verfasste er u.a. eine großangelegte
Strukturgeschichte der Völkerwanderungsreiche, die unter dem Titel „Die Könige
der Germanen“ von 1861 bis 1911 in 12 Bänden erschien.5 Die Auffassung, dass die
Wurzeln des deutschen Wesens in der germanischen Vorzeit zu suchen seien, war
allgemein verbreitet und wurde auch in der akademischen Geschichtswissenschaft
nur selten in Frage gestellt.6 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser völkische Ger-
manenmythos im Sinne rassistischer Lehren radikalisiert und diente im „Dritten
Reich“ zur Rechtfertigung einer mörderischen Politik7: Sowohl im Umkreis des „Am-
tes Rosenberg“ als auch in Heinrich Himmlers „Ahnenerbe“ ließ man sich die Pflege
3 Heinrich von Sybel behandelte das Königtum der Völkerwanderungsreiche unter dem Titel „Entstehung
des deutschen Königthums“ (Berlin 1844, nachfolgend wird zitiert nach der 2.Aufl. 1881). Karl Hampe plat-
zierte Theoderich am Anfang einer oftmals nachgedruckten Sammlung von Essays, die „Herrschergestal-
ten des deutschen Mittelalters“ (Leipzig 1927, 7.Aufl. Darmstadt 1967) porträtieren wollen. Wolfram von
den Steinen gab einer Studie über „Theoderich und Chlodwig“ gar den Untertitel „Ein Kapitel deutscher
Weltgeschichte“ (Tübingen 1933).
4 Dahns Bestseller ist in letzter Zeit mehrfach eingehend analysiert worden: Rainer Kipper, Der völkische
Mythos. „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn, in: ders., Der Germanenmythos im deutschen Kaiserreich.
Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung. Göttingen 2002, 118–150; Stefan Neuhaus, „Das
Höchste ist das Volk, das Vaterland!“: Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“ (1876), in: ders., Literatur und na-
tionale Einheit in Deutschland. Tübingen 2002, 230–243; Hans-Rudolf Wahl, Felix Dahn „Ein Kampf um
Rom“, in: ders., Die Religion des deutschen Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zur Lite-
ratur des Kaiserreichs: Felix Dahn, Ernst von Wildenbruch, Walter Flex. Heidelberg 2002, 31–148; Hans-Rü-
diger Schwab, Helden, hoffnungslos. Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“ als gründerzeitliche Schicksalstra-
gödie, in: Felix Dahn, Ein Kampf um Rom. Historischer Roman. München 2003, 1065–1129 (DTV-Ausgabe).
5 Felix Dahn, Die Könige der Germanen – Das Wesen des ältesten Königtums der germanischen Stämme
und seine Geschichte bis auf die Feudalzeit. Nach den Quellen dargestellt. 11 Bde. u. Registerbd. Würzburg/
Leipzig 1861–1911. Die „Verfassung des ostgothischen Reiches in Italien“ ist Gegenstand des dritten Ban-
des, erschienen Würzburg 1866, 2.Aufl. Leipzig 1911.
6 Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie. Frankfurt am Main 1972; ders., Barbar, Germane, Arier.
Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg 1994; Kipper, Germanenmythos (wie Anm.4).
7 Allan A. Lund, Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der „Germania“ im „Dritten
Reich“. Heidelberg 1995.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 595
des germanischen Altertums besonders angelegen sein.8 1938 erschien in der hoch-
angesehenen Reihe „Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte“ eine Arbeit,
in der die Rassenlehren eines Hans F. K. Günther auf Theoderich und seine Goten an-
gewandt wurden.9 Im Zuge der erstrebten „Regermanisierung“ Osteuropas erhielt
die polnische Hafenstadt Gdynia 1939 den Namen „Gotenhafen“, weil ja die Goten
einstmals an der Weichsel gesiedelt hätten; nach der Eroberung der Krim sollten
Simferopol in „Gotenburg“ und Sewastopol in „Theoderichshafen“ umbenannt wer-
den, weil auch dort einmal Goten ansässig gewesen seien.10
Diese Rezeption hat die Beschäftigung mit den Goten für lange Zeit belastet und
wirkt außerhalb der Wissenschaft bis heute nach. Dass man sich inzwischen auch in
Deutschland und Österreich wieder einigermaßen unbefangen mit ihnen beschäfti-
gen kann, verdanken wir dem deutschen Mediävisten Reinhard Wenskus, der 1961
ein damals aufsehenerregendes Buch mit dem heute altmodisch klingenden Titel
„Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes“ he-
rausbrachte.11 Wenskus verhalf der Erkenntnis Max Webers zum Durchbruch, dass
das konstituierende Merkmal ethnischer Identität in Antike und Mittelalter nicht
tatsächliche biologische Verwandtschaft, sondern der subjektive Glaube an eine sol-
che ist.12 Die gentes der Völkerwanderungszeit waren heterogene und instabile, häu-
fig ephemere Gebilde, die durch den Zusammenschluss verschiedener Gruppen un-
8 Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen
Herrschaftssystem. Stuttgart 1970, 2.Aufl. München 2006, bes. 153–235; Michael H.Kater, Das „Ahnenerbe“
der SS.Ein Beitrag zur Kulturpolitik im Dritten Reich 1935–1945. Stuttgart 1973, 4.Aufl. München 2006,
bes. 11–36, 191–226.
9 Gerhard Vetter, Die Ostgoten und Theoderich. (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, 15.)
Stuttgart 1938. Vetter berief sich auf Hans F. K. Günthers „Herkunft und Rassengeschichte der Germanen“
(München 1935).
10 Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte
für Zeitgeschichte, 4.) München 1962, 101.
11 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes.
Köln/Graz 1961, 2.Aufl. 1977. Wenskus führte dieses Konstruktionsprinzip auf eine Denkform zurück, die
er als „Gentilismus“ bezeichnete. Während sich dieses Modell in der deutschsprachigen Forschung rasch
durchsetzte, dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis es auch in der angelsächsischen Welt rezipiert wurde. Bei
diesem transatlantischen Wissenstransfer hat der nordamerikanische Mediävist Patrick Geary eine Vorrei-
terrolle gespielt: Ethnic Identity as a Situational Construct in the Early Middle Ages, in: Mitt. der Anthro-
pologischen Gesellschaft in Wien 113, 1983, 15–26; ders., Before France and Germany. The Creation and
Transformation of the Merovingian World. Oxford 1988.
12 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studienausgabe. Tü-
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ter gemeinsamen Anführern entstanden und in der Regel auch schnell wieder zer-
fielen. Dieser Paradigmenwechsel rückte die Frage ins Zentrum der Aufmerksam-
keit, wann, wo und vor allem wie es zur Entstehung eines solchen Stammesbewusst-
seins kam. Zwar sagte man bald nicht mehr Stammesbildung, sondern Ethnogenese,
aber die Fragestellung blieb dieselbe. Die Einsicht, dass ethnische Identität eine so-
ziale Konstruktion darstellt, hatte zur Folge, dass der Germanenbegriff seine Bedeu-
tung als heuristisches Konzept weitgehend einbüßte, denn es zeigte sich rasch, dass
das Germanische – die Germanizität, wenn man so will – für das Selbstverständnis
völkerwanderungszeitlicher gentes so gut wie keine Rolle spielte.13 Die Kanzlei
Theoderichs und seiner Nachfolger hat den Germanenbegriff niemals verwendet,
oströmische Geschichtsschreiber gebrauchten das Wort allenfalls als Synonym für
die Franken. Der Begriff des Germanischen ist für die moderne Forschung zum me-
tasprachlichen Ordnungsbegriff geworden, der keine Aussage über den Vorstel-
lungshorizont der Akteure mehr beinhaltet.14
Das bahnbrechende Werk von Wenskus hat mit dem Stammesbegriff des 19. und
früheren 20.Jahrhunderts gründlich aufgeräumt und dadurch einen neuen Blick auf
die Geschichte der Goten ermöglicht. Der Wiener Mediävist Herwig Wolfram
schrieb ihre Geschichte in den 1970er Jahren als eine Folge von Ethnogenesen, in de-
nen sich wechselnde Gruppen auf ihrem Weg von Skandinavien ans Schwarze Meer
des Gotennamens bedienten, bis diese Bezeichnung schließlich im 4.Jahrhundert
eine feste Verbindung mit den Großgruppen der West- und Ostgoten eingegangen
sei.15 Das kontinuitätsstiftende Element sah er dabei ganz im Sinne von Wenskus in
Adelsfamilien, die eine spezifische Erinnerung gepflegt und dadurch identitätsbil-
13 Für die Beibehaltung des Germanenbegriffs als Sammelbezeichnung für germanischsprachige Geg-
ner Roms plädiert jetzt Bruno Bleckmann, Die Germanen. Von Ariovist bis zu den Wikingern. München
2009, 11–47. Vgl. dagegen Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentral-
begriffes der Frühmittelalterforschung, in: Walter Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der
Bedeutung des frühen Mittelalters. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 8; Österreichische Aka-
demie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Denkschriften, 322.) Wien 2004, 107–113.
14 Dieter Timpe, Art.„Germanen, historisch“, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 2., völ-
lig neu bearb. u. stark erw.Aufl. Bd. 11. Berlin u.a. 1998, Sp.2–65; Walter Pohl, Der Germanenbegriff vom 3.
bis zum 8.Jahrhundert – Identifikationen und Abgrenzungen, in: Heinrich Beck u.a. (Hrsg.), Zur Geschich-
te der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. (Ergänzungs-
bände zum Reallexikon für Germanische Altertumskunde, 34.) Berlin/New York 2004, 163–183.
15 Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer
bingen 1976, 234–244. Ähnliche Thesen vertrat damals in England der Mediävist Hector Munro Chadwick,
The Origin of the English Nation. Cambridge 1907, bes. 153–191.
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dend gewirkt hätten. Diese Adelsfamilien hätten als „Traditionskerne“ das Selbst-
verständnis ihrer Gefolgschaften zu bestimmen vermocht. Goten sind dieser Auffas-
sung zufolge also Leute, die sich einem Anführer anschließen, der sie für gotisch er-
klärt. Diese Annahmen sind jedoch in der jüngeren Forschung einer berechtigten
Kritik unterzogen worden: Denn es muss als sehr fraglich gelten, ob einzelne Adels-
familien wie die ostgotischen Amaler tatsächlich schon vor der Ansiedlung auf
Reichsboden eine stabile Herrschaft ausübten und dadurch dynastische Loyalität er-
zeugen konnten, wie Wenskus und Wolfram meinen. Im Falle der Ostgoten hat sich
gezeigt, dass die Amaler-Genealogie nicht, wie die Forschung lange Zeit glaubte, ein
Stück authentischer Erinnerung ist, und sei es auch diejenige einer Adelsfamilie,
sondern ein Produkt dynastischer Propaganda, das erst aus der Zeit Theoderichs
stammt.16 Wenn es aber keinen tragfähigen Beleg dafür gibt, dass es vor der Väter-
generation Theoderichs gotische Könige aus der Familie der Amaler gab, lässt sich
auch die Annahme nicht länger aufrechterhalten, die Vorgeschichte der von ihnen
geführten Verbände reiche ins 4.Jahrhundert oder sogar noch weiter zurück. Denn
die Amaler bilden der herkömmlichen Auffassung zufolge ja eben diesen Traditi-
onskern, der Kontinuität trotz permanenten Wandels ermöglicht.17
Angesichts dieser Sachlage empfiehlt es sich, nicht die mangels aussagekräftiger
Selbstzeugnisse schwer zu fassende Kategorie der Ethnizität, sondern vielmehr die-
jenigen Aspekte der sozialen Existenz gotischer Verbände ins Zentrum der Analyse
zu stellen, die durch explizite Aussagen der Quellen erhellt werden.18 Bei den Goten,
die zur Zeit Theoderichs auf dem Balkan agierten, ist dies neben der hohen Mobilität
16 Peter J. Heather, Cassiodorus and the Rise of the Amals: Genealogy and the Goths under Hun Domina-
tion, in: JRS 79, 1989, 103–128; ders., Goths and Romans AD 332–489. Oxford 1991, 34–67; Arne Søby Chris-
tensen, Cassiodorus, Jordanes and the History of the Goths. Studies in a Migration Myth. Kopenhagen 2002,
124–157. Zu ähnlichen Ergebnissen war ein Jahrhundert zuvor bereits Heinrich von Sybel gelangt: Entste-
hung des deutschen Königthums (wie Anm.3), 184–208.
17 Auch Walter Pohl, Telling the Difference: Signs of Ethnic Identity, in: ders./Helmut Reimitz (Eds.),
Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800. (The Transformation of the
Roman World, 2.) Leiden 1998, 17–69, bes. 67, lehnt den Begriff „Traditionskern“ inzwischen ab: „The
image of a kernel implies a misleading sense of solidity and immutability. Rather, it was a loose set of
groups and networks more or less involved in ‚ethnic practices‘“. Solche Gruppen und Netzwerke lassen
sich freilich in den Quellen oft nur schwer nachweisen und kaum jemals über mehrere Generationen ver-
folgen.
18 Damit soll natürlich keineswegs bestritten werden, dass die Frage nach dem Selbstverständnis dieser
Gruppen legitim, ja unvermeidlich ist. Fraglich ist jedoch, welchen Stellenwert ethnische Kategorien dabei
historischen Ethnographie. München 1979, 5.Aufl. 2009 (danach wird im Folgenden zitiert). Das Buch ist
in mehrere Sprachen übersetzt worden.
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vor allem die große Bedeutung, die kollektive Gewaltpraktiken für die ökonomische
Subsistenz und soziale Integration hatten. Es handelte sich um mobile Kriegergrup-
pen und damit um eine Form der Gemeinschaftsbildung, die in vielen Kulturen und
Epochen begegnet; sie lässt sich dem Oberbegriff der Gewaltgemeinschaft subsu-
mieren, wenn man darunter soziale Gruppen versteht, für deren Konstitution und
Reproduktion Gewalt eine zentrale Rolle spielt.19Als solche wird der Verband, auf
den sich Theoderichs Goten später zurückführten, in unseren Quellen nicht vor der
Mitte des 5.Jahrhunderts fassbar: Nach dem Zerfall des Hunnenreichs Attilas agier-
ten in Pannonien, auf dem Boden des heutigen Ungarn, drei separate, aber zeitweise
kooperierende gotische Gruppen, die von drei Brüdern aus der Familie der Amaler
angeführt wurden; sie hießen Thiudimir, Valamir und Vidimir.20 Einer von ihnen –
Thiudimir – war der Vater Theoderichs. Durch einen Vertrag mit Kaiser Leo I. (457–
468) hatten sie Anspruch auf ein Jahrgeld in Höhe von 300 Pfund Gold.21 Nachdem
Valamir im Kampf gefallen war, trennten sich die beiden anderen. Der eine – Vidi-
mir – führte seine Gefolgsleute zunächst nach Italien und dann nach Gallien, wo der
Verband sich auflöste.22 Theoderichs Vater verließ 473 mit seinen Gefolgsleuten
Ungarn, zog nach Griechenland und verwüstete Makedonien. Dort ist er 474 gestor-
ben. Obwohl Thiudimir zwei Söhne hatte, konnte Theoderich, damals etwa 20 Jahre
alt, offenbar ohne Widerstand die alleinige Nachfolge antreten.23 Dabei dürfte der
19 Zu diesem Konzept vgl. Winfried Speitkamp, Gewaltgemeinschaften, in: Michaela Christ/Christian
Gudehus/Harald Welzer (Hrsg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, 184–190.
20 Für alle im Folgenden genannten Personen grundlegend, wenngleich nicht immer abschließend sind
die Einträge bei John R. Martindale (Ed.), The Prosopography of the Later Roman Empire. Vol.2: A.D. 395–
527. Vol.3: A.D. 527–640. Cambridge u.a. 1980/92. Personennamen erscheinen dort in einer Form, die
durch die lateinischen und/oder griechischen Quellen bezeugt ist; Thiudimir z.B. als Theodemer 2. Für die
zugrundeliegenden germanischen Namensformen vgl. Moritz Schönfeld, Wörterbuch der altgermanischen
Personen- und Völkernamen nach der Überlieferung des klassischen Altertums bearbeitet. Heidelberg
1911; Hermann Reichert, Lexikon der altgermanischen Namen. 2 Bde. Wien 1987–1990, sowie Nicoletta Fran-
covich Onesti, I nomi degli ostrogoti. Florenz 2007. Ergänzungen und Verbesserungen zum ersten und zwei-
ten Band der „Prosopography“ verzeichnet Ralph W. Mathisen, A Survey of Significant Addenda to P.L.R.E.,
in: Medieval Prosopography 8, 1997, 5–30.
21 Priskos, Fragment 28 Müller = 37 Blockley; vgl. Jordanes, Getica 270.
22 Jordanes, Getica 283–284.
23 Jordanes, Getica 288. Theoderichs Bruder Thiudimund wird nur von einer Quelle erwähnt (Malchos,
hatten. Scharfe, teilweise polemische Kritik am Modell der Ethnogenese üben die bei Andrew Gillett (Ed.),
On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages. (Studies in the Early Mid-
dle Ages, 4.) Turnhout 2002, versammelten Autoren; vgl. jedoch die brillante Replik von Walter Pohl, Eth-
nicity, Theory and Tradition: A Response, in: ebd.221–240.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 599
Umstand maßgeblich gewesen sein, dass er seine militärische Tüchtigkeit durch ei-
nen wenige Jahre zuvor (471) unter seinem Kommando errungenen Erfolg bereits
unter Beweis gestellt hatte.24
Wir haben keine genaue Vorstellung davon, wie groß der Verband war, dessen
Führung Theoderich 474 übernahm. Er muss jedenfalls bedeutend kleiner gewesen
sein als derjenige, mit dem er 488 nach Italien zog; vermutlich zählte er keine 10000
waffenfähigen Männer. Bis 481 nämlich konkurrierte Theoderich mit einem ande-
ren gotischen Anführer, der zu unserer Verwirrung ebenfalls Theoderich hieß und
deshalb in der modernen Forschung mit seinem Beinamen Strabon bezeichnet wird;
er hatte in Thrakien, auf dem Boden des heutigen Bulgarien, eine Gefolgschaft um
sich geschart, die es an Größe mit derjenigen des „pannonischen“ Theoderich durch-
aus aufnehmen konnte.25 Diese „thrakischen“ Goten waren dem Kaiser kraft eines
473 geschlossenen Vertrags zu militärischem Dienst verpflichtet und bezogen dafür
Jahrgelder; Strabon wurde mit dem höchsten militärischen Rang des Reiches, dem
Amt eines Heermeisters (magister militum), ausgezeichnet.26 Die „pannonischen“
Goten bedrohten diese privilegierte Stellung, indem sie Ähnliches für sich selbst er-
strebten. Die kaiserliche Regierung sah sich außerstande, die Ansprüche beider
Theoderiche zu befriedigen, und versuchte daher, die beiden Gruppen gegeneinan-
der auszuspielen. Aus dieser Dreieckskonstellation resultierte ein auf dem Rücken
24 Jordanes, Getica 282. Theoderich scheint den Beginn seines Königtums von diesem Sieg datiert zu ha-
ben, denn er feierte im Jahre 500 seine Tricennalien: Cassiodor, Chronica 1339 (Chronica Minora I, S.160);
Anonymus Valesianus 66–69; Ferrandus, Vita Fulgentii 9, S.54–57 Lapeyre. Vgl. dazu Dietrich Claude, Zur
Königserhebung Theoderichs des Großen, in: Karl Hauck/Hubert Mordek (Hrsg.), Geschichtsschreibung
und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, Köln/Wien 1978, 1–13,
hier 1f.
25 Nach Malchos, Fragment 18, 4 Blockley = 17 Cresci, Z. 13–20 versprach Kaiser Zenon 478, für 13000
Krieger, die Strabon bestimmen könne, Subsidien zu zahlen und Verpflegung zu liefern. Nach Johannes
Antiochenus, Fragment 211 Müller = 303, Z. 82–84 Roberto war Strabon mit 30000 Goten auf dem Weg
nach Griechenland, als er starb (481). „Unser“ Theoderich mobilisierte 471 6000 Krieger für den Feldzug ge-
gen den sarmatischen König Babai (Jordanes, Getica 282), 478 bot er dem Kaiser an, mit 6000 Kriegern nach
Thrakien zu ziehen; im selben Jahr fielen über 5000 Personen, die sich in seinem Tross befanden, dem kai-
serlichen Feldherrn Sabinianus in die Hände: Malchos, Fragment 20 Blockley = 18 Cresci, Z. 288–289.
26 Nach Malchos, Fragment 2 Blockley = 2 Cresci, Z. 25–33 sollte der „andere“ Theoderich 2000 Gold-
pfund jährlich erhalten. Über Strabon zuletzt Gereon Siebigs, Kaiser Leo I. Das oströmische Reich in den ers-
ten drei Jahren seiner Regierung (457–460 n.Chr.). Berlin/New York 2010, 915–929.
Fragment 20 Blockley = 18 Cresci, Z. 134; 271; 278) und in der modernen Literatur häufig (z.B. von Heather,
Goths and Romans [wie Anm.16]) ganz übersehen. Da er 479 die Nachhut von Theoderichs Heer komman-
dierte, war er vermutlich jünger als Theoderich und dürfte vor dessen Italienzug gestorben sein.
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600 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
der römischen Provinzialbevölkerung ausgetragener Machtkampf zwischen den
beiden Theoderichen, der bis 481 andauerte, als Strabon bei einem Reitunfall den
Tod fand. Der andere Theoderich vermochte in der Folge, die Anhänger seines toten
Widersachers für sich zu gewinnen, und konnte seine Gefolgschaft dadurch auf
etwa 20000 bis 25000 Krieger vergrößern. Eine dauerhafte Regelung des Verhältnis-
ses zum Imperium Romanum aber gelang auch danach nicht, obwohl er 483 das Heer-
meisteramt und im Jahre darauf sogar den Konsulat erlangt hatte. Theoderichs Go-
ten nahmen das Plündern bald wieder auf und erschienen 487 sogar vor Konstanti-
nopel; Kaiser Zenon musste ihren Abzug durch eine hohe Geldzahlung (und die
Freilassung von Theoderichs Schwester Amalafrida) erkaufen.27
Die verwickelten Ereignisse, die im zeitgenössischen Bericht des oströmischen
Geschichtsschreibers Malchos recht gut fassbar sind28, können und müssen an die-
ser Stelle nicht näher betrachtet werden.29 Entscheidend ist die Feststellung, dass
der Kriegerverband Theoderichs mit guten Gründen als eine Gewaltgemeinschaft
angesprochen werden kann; sein Kern bestand aus waffenfähigen und kampfgeüb-
ten Männern; der innere Zusammenhalt und zeitweise auch das Überleben der
Gruppe wurde durch Beute und Subsidien gesichert.30 Die Größe und Zusammen-
setzung dieser Gewaltgemeinschaft war starken Schwankungen unterworfen, weil
ihre Macht nicht ausreichte, um eine dauerhafte Anerkennung und ökonomische
Absicherung als reichsangehöriges Kriegervolk zu erreichen, und zwar auch dann
nicht, als Theoderich beide Gefolgschaften unter seiner Führung vereinigt hatte. Die
wirtschaftliche Existenz des Verbandes, den Theoderich anführte, blieb daher stets
27 Marcellinus Comes sub anno 487 (Chronica Minora II, S.93); Malalas 15, 9; Johannes Antiochenus
Fragment 214 Müller = 306 Roberto, Z. 65–69.
28 Zu Malchos ausführlich Hans-Ulrich Wiemer, Kaiserkritik und Gotenbild bei Malchos von Philadel-
pheia, in: Andreas Goltz/Hartmut Leppin/Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsg.), Jenseits der Grenzen.
Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung. (Millennium-Studien, 25.) Ber-
lin 2009, 25–60. Andere Rekonstruktion bei R. Malcolm Errington, Malchos von Philadelpheia, Kaiser Zenon
und die beiden Theoderiche, in: Museum Helveticum 40, 1983, 82–110.
29 Vgl. etwa Karl Martin, Theoderich der Große bis zur Eroberung Italiens. Diss. Freiburg im Breisgau
1888, 19ff.; Schmidt, Ostgermanen (wie Anm.1), 293–301; Wolfram, Goten (wie Anm.15), 259–268; Heather,
Goths and Romans (wie Anm.16), 225–308; ders., The Goths. Oxford 1996, 111–129, 151–169; Andreas
Schwarcz, Die Goten in Pannonien und auf dem Balkan nach dem Ende des Hunnenreiches bis zum Itali-
enzug Theoderichs des Großen, in: MIÖG 100, 1992, 50–83.
30 Guido M. Berndt, Beute, Schutzgeld und Subsidien. Formen der Aneignung materieller Güter in goti-
schen Kriegergruppen, in: Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hrsg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken
von der Antike bis zur Neuzeit. (Krieg in der Geschichte, 72.) Paderborn 2011, 121–148.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 601
prekär. Der Kaiser zahlte nur unregelmäßig Subsidien; Beute, Schutz- und Lösegel-
der brachten kurzzeitig hohe Einnahmen, hielten aber nie lange vor. Theoderichs
Gefolgsleute hatten selten ein festes Dach über dem Kopf und litten oftmals Hunger.
Die Raubwirtschaft war zugleich eine Mangelwirtschaft.
Die fünfzehnjährige Phase, in der Theoderich und seine Goten vergeblich ver-
suchten, sich auf dem Balkan durch Gewalt ein gesichertes Auskommen zu ver-
schaffen, soll uns an dieser Stelle jedoch nicht weiter beschäftigen. Im Zentrum die-
ses Aufsatzes stehen Entwicklungen, die sich abspielten, nachdem Theoderich zum
König in Italien geworden war. Aufgeworfen wird zum einen die Frage, wie es Theo-
derich gelang, seinen Kriegerverband in das Reich zu integrieren, das er in Italien er-
richtete. Es geht also um die Domestizierung einer Gewaltgemeinschaft. Zum ande-
ren soll der Frage nachgegangen werden, wie es kam, dass dieser gotische Krieger-
verband, der im Reich Theoderichs eine militärische Funktionselite bildete, sich
zwei Generationen später zunächst in eine Art Gewaltgemeinschaft zurückverwan-
delte, schließlich aber ganz auflöste. Um sie zu beantworten, müssen wir die Ereig-
nisse nach dem Tode Theoderichs in den Blick nehmen.
II. Die Domestizierung einer Gewaltgemeinschaft:
Theoderich in Italien31
Im Jahre 488 erhielt Theoderich von Kaiser Zenon den Auftrag, nach Italien zu
ziehen und den dort seit 476 regierenden Odovakar zu stürzen, der in den Augen
Zenons ein Tyrann war.32 Es dauerte volle vier Jahre, bis Theoderich seine Mission
31 Eine befriedigende moderne Gesamtdarstellung Theoderichs fehlt. Wilhelm Ensslin, Theoderich der
Große. München 1947, 2.Aufl. 1959 (danach wird im Folgenden zitiert), ist der Germanen-Ideologie des
19.Jahrhunderts verhaftet und schreibt die Selbstdarstellung Theoderichs fort. John Moorhead, Theoderic in
Italy. Oxford 1992, lässt eine Gesamtdeutung vermissen. Wichtige Anregungen verdanke ich dagegen dem
Aufsatz von Peter J. Heather, Theoderic, King of the Goths, in: Early Medieval Europe 4, 1995, 145–173; vgl.
auch ders., The Goths (wie Anm.29), 216–258. Das literarische Bild des Königs behandelt gründlich Andreas
Goltz, Barbar – König – Tyrann. Das Bild Theoderichs des Großen in der Überlieferung des 5. bis 9. Jahrhun-
derts. Berlin/New York 2008. Eine vorläufige Skizze meiner Interpretation: Hans-Ulrich Wiemer, Theode-
rich der Große und das ostgotische Italien. Integration durch Separation, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schu-
fen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 156–175.
32 Anonymus Valesianus 49; vgl. Jordanes, Getica 290–292; Romana 348; Prokopios, Gotenkriege 1, 1, 9–
10; 2, 6, 15–16.
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602 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
erfüllt hatte. Erst im August 492 gelang es Theoderich, seinen Widersacher, der sich
in Ravenna verschanzt hatte, auch von der Seeseite her einzuschließen, und es ver-
ging noch einmal ein halbes Jahr, bis er ihn und seine Anhänger vollständig aus-
schalten konnte.33 Seit Frühjahr 493 aber herrschte Theoderich alleine über ganz
Italien und Sizilien. Für Theoderich stellte sich nunmehr die Aufgabe, wie er diese
durch Gewalt errungene Herrschaft stabilisieren konnte. Das Problem hatte drei As-
pekte: erstens das Verhältnis zum Kaiser in Konstantinopel, zweitens das Verhältnis
zu den italischen Eliten und drittens das Verhältnis zu den gotischen Kriegern, de-
nen Theoderich seinen Erfolg verdankte. Betrachten wir zunächst das Verhältnis
zum Kaiser. Theoderichs Position war neu auszuhandeln, weil es in Konstantinopel
zu einem Herrscherwechsel gekommen war, während Theoderich gegen Odovakar
kämpfte. Anastasios, seit 491 Nachfolger Zenons, war zunächst nicht bereit, Theo-
derich ein Herrschaftsrecht über Goten und Römer zuzugestehen. Schließlich aber
kam ein Kompromiss zustande, der besagte, dass Theoderich die Zugehörigkeit sei-
nes Reiches zum Imperium Romanum anerkannte, dem Kaiser einen Ehrenvorrang
zugestand und für seine Person auf den Titel sowie einige Insignien und Prärogative
eines Kaisers verzichtete.34 Im Gegenzug wurde Theoderich als Herrscher im Rest
des ehemaligen Westreichs anerkannt. Theoderich nahm den Titel Flavius Theode-
ricus rex an. Dieser Titel beinhaltete den Verzicht auf die Stellung eines Kaisers im
Westreich, brachte aber zugleich zum Ausdruck, dass Theoderich nicht beabsich-
33 Zum Kriegsverlauf vgl. etwa Schmidt, Ostgermanen (wie Anm.1), 293–301; Moorhead, Theoderic (wie
Anm.31), 17–31.
34 Die Belege für die Titulatur am vollständigsten bei Andrew Gillett, Was Ethnicity Politicised in the Ear-
liest Medieval Kingdoms?, in: ders. (Ed.), Barbarian Identity (wie Anm.18), 85–122, hier 98–100; die richtige
Deutung des praenomen Flavius findet sich bereits bei Ensslin, Theoderich (wie Anm.31), 154 mit Anm.12–
15 auf 366f.; anders Herwig Wolfram, Intitulatio. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des
8.Jahrhunderts. (MIÖG, Ergänzungsbd. 21.) Wien u.a. 1967, 58–62. Insignien: Anonymus Valesianus 53 (spe-
rans vestem se induere regiam); 64 (omnia ornamenta palatii quae Odoacar Constantinopolim remiserat; vgl. Cas-
siodor, Chronica 1303 [Chronica Minora I, S.159]); Jordanes, Getica 295 (regius amictus). Prärogative: Jor-
danes, Romana 349; Prokopios, Gotenkriege 1, 1, 26; 1, 6, 1–5 (Vertragsentwurf Theodahats); 2, 6, 13–22 (Rede
der gotischen Gesandten gegenüber Belisar). Theoderich prägte keine Münzen in eigenem Namen – das Ma-
terial bei Michael A. Metlich, The Ostrogothic Coinage in Italy from A.D. 476. London 2004 – und erließ keine
leges, sondern edicta. Zum Edictum Theoderici vgl. jetzt Sean Lafferty, Law and Society in Ostrogothic Italy:
Evidence from the Edictum Theoderici, in: Journal of Late Antiquity 3, 2010, 337–364. Auch ein Diadem
scheint Theoderich nicht getragen zu haben: Ennodius, Panegyricus 91 mit Jan Prostko-Prostynski, Utraeque
res publicae. The Emperor Anastasius I.’s Gothic Policy (491–518). Posen 1994, 164–167. Auf dem einzigen
zeitgenössischen Bildnis, dessen Zuschreibung gesichert ist – dem Medaillon von Senigallia –, fehlt es.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 603
tigte, als König eines gentilen Verbandes zu herrschen, wie es etwa die vandalischen
Herrscher in Nordafrika taten.35 Theoderich war König, aber sein Königtum war
nicht auf den Personenverband der Goten eingeschränkt, sondern erstreckte sich
gleichermaßen über Goten und Römer, soweit Letztere in Italien und den angren-
zenden Regionen lebten. Dadurch trat er in die Stellung ein, die zuvor der Kaiser des
Westreichs innegehabt hatte.36
Das führt zum zweiten Problem, das Theoderich lösen musste, wenn er seine
Herrschaft im Westreich auf Dauer stellen wollte: Er brauchte die Kooperation der
einheimischen Eliten. Theoderich, der seine Jugend als Geisel in der Kaiserstadt
Konstantinopel verbracht hatte, hatte erkannt, dass der spätrömische Staatsapparat
einem Herrscher Machtmittel zur Verfügung stellen konnte, wie sie keiner seiner
Vorfahren jemals besessen hatte: Als er Italien in Besitz nahm, besaß das Land noch
immer viele Städte, auch wenn die Zahl städtischer Gemeinwesen im südlichen Teil
der Halbinsel (nicht aber auf Sizilien) seit längerem rückläufig war.37 Es existierte
eine entwickelte Geldwirtschaft, und die durch Landwirtschaft und Gewerbe erziel-
35 Gillett, Ethnicity (wie Anm.34), hat gezeigt, dass der Gebrauch eines „ethnischen“ Königstitels im 5.
und 6.Jahrhundert keineswegs die Regel darstellte. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Theoderich sich
bewusst von den vandalischen Königen in Nordafrika absetzte, die sich als rex Vandalorum et Alanorum ti-
tulieren ließen: Victor Vitensis, Historia persecutionis 2, 13; 3, 2; CIL VIII 17412; vgl. dazu etwa Christian
Courtois, Les Vandales et l’Afrique. Paris 1955, 236f.; Wolfram, Intitulatio (wie Anm.34), 79–87; Gillett, Eth-
nicity (wie Anm.34), 92f. Zum Titel rex Burgundionum vgl. Wolfram, Intitulatio (wie Anm.34), 87–89; Gillett,
Ethnicity, 93f.; Reinhold Kaiser, Die Burgunder. Stuttgart 2004, 119.
36 Die von Theodor Mommsen, Ostgothische Studien, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde 14, 1889, 225–249, 453–544 mit Nachtrag in 15, 1890, 181–186, hier 536–544; auch in:
ders., Gesammelte Schriften. Bd.6 = Historische Schriften, Bd. 3. Berlin 1910, 362–484, hier 476–484, be-
gründete Auffassung, Theoderich habe als römischer magister militum über Soldaten geboten, die dem Kai-
ser als foederati galten, ist von Arnold Hugh Martin Jones, The Constitutional Position of Odoacer and Theo-
deric, in: JRS 52, 1962, 126–130, auch in: ders., The Roman Economy. Studies in Ancient Economic and Ad-
ministrative History. Oxford 1974, 365–374, mit Recht zurückgewiesen worden. Damit ist Theoderichs Kö-
nigtum freilich noch nicht charakterisiert. Dorothee Kohlhaas-Müller, Untersuchungen zur Rechtsstellung
Theoderichs des Großen. (Rechtshistorische Reihe, 119.) Frankfurt am Main u.a. 1995, kommt nach einge-
hender Untersuchung zu dem Ergebnis, Theoderich habe westliches Kaisertum und gotisches Königtum
in einer hybriden Mischung vereinigt.
37 Zum Städtewesen des spätantiken Italien in neuerer Zeit: Christian Witschel, Rom und die Städte Itali-
ens in Spätantike und Frühmittelalter, in: Bonner Jbb. 201, 2001 [2004], 113–162; Valérie Fauvinet-Ranson,
Decor civitatis, decor Italiae. Monuments, travaux publics et spectacles au VIe siècle d’après les Variae de Cas-
siodore. Bari 2006; Neil Christie, From Constantine to Charlemagne: An Archaeology of Italy, AD 300–800.
Aldershot 2006, 183–280; Gian Petro Briogolo, Dwellings and Settlements in Gothic Italy, in: Sam J. Barnish/
Federico Marazzi (Eds.), The Ostrogoths from the Migration Period to the Sixth Century: an Ethnographic
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604 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
ten Überschüsse reichten nach wie vor aus, um den kostspieligen Lebensstil stadt-
sässiger Eliten zu finanzieren.38 Der spätrömische Staatsapparat aber war eine für
vormoderne Verhältnisse außerordentlich effektive Maschinerie zur Extraktion
und Allokation dieser Ressourcen; er trieb Steuern und Abgaben von allen freien
Einwohnern des Landes ein und war in der Lage, den Transport von Gütern und Per-
sonen über große Entfernungen zu organisieren.39 Da dieser Apparat am Ende des
5.Jahrhunderts noch leidlich funktionierte, ergriff Theoderich die Chance, diese
Einnahmen in seine eigenen Kassen zu leiten. Er wurde damit zum reichsten Herr-
scher des Mittelmeerraumes – nach dem Kaiser natürlich, dessen Reichtum alles in
den Schatten stellte, was gentile Herrscher ihr Eigen nennen konnten. Theoderich
hat sich darum wohlweislich gehütet, die von ihm vorgefundenen Strukturen der
spätrömischen Zivilverwaltung zu zerstören; er übernahm sie weitgehend unver-
ändert mitsamt ihrem teilweise hochspezialisierten Personal.40 Diese Entscheidung
war die Grundlage des Kompromisses, den Theoderich mit den einheimischen Eli-
38 Noch immer lesenswert: Hans Geiss, Geld- und naturalwirtschaftliche Erscheinungsformen im staat-
lichen Aufbau Italiens während der Gotenzeit. (VSWG, Beih. 27.) Stuttgart 1931. Bestandsaufnahmen aus
neuerer Zeit: Sam J. B. Barnish, The Wealth of Julianus Argentarius: Late Antique Banking and the Mediter-
ranean Economy, in: Byzantion 55, 1985, 5–38; Dietrich Claude, Studien zu Handel und Wirtschaft im itali-
schen Ostgotenreich, in: Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 15, 1996, 42–75. Zur lang-
fristigen Entwicklung vgl. Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean,
400–800. Oxford 2005, 644–656, 729–741.
39 Das betont mit Recht Chris Wickham, The Other Transition: From the Ancient World to Feudalism, in:
P & P 103, 1984, 3–36; ders., Early Middle Ages (wie Anm.38), 56–153, bes. 62–80. Ähnlich bereits Ludo Mo-
ritz Hartmann, Ein Kapitel vom spätantiken und frühmittelalterlichen Staat. Berlin u.a. 1913.
40 Zum Doppelstaat Theoderichs nach wie vor grundlegend: Mommsen, Ostgothische Studien (wie
Anm.36); Ludo Moritz Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter. Bd.1: Das italienische Königreich.
2.Aufl. Stuttgart/Gotha 1923, 82–129; Ensslin, Theoderich (wie Anm.31), 152–207; vgl. auch Frank Ausbüt-
tel, Die Verwaltung der Städte und Provinzen im spätantiken Italien. Frankfurt am Main 1988, 204–227 (zur
Munizipal- und Provinzialverwaltung). Wegen des vergleichenden Ansatzes aufschlussreich sind die ein-
Perspective. San Marino 2007, 113–133 (mit der anschließenden Diskussion auf 133–142). „Ruralisierung“
im Süden: Ghislaine Noyé, Villes, économie et société dans la province de Bruttium-Lucanie du IVe au VIIe
siècle, in: Riccardo Francovich/Ghislaine Noyé (Eds.), La storia dell’alto medioevo italiano (VI–X secolo) alla
luce dell’archeologia. Florenz 1994, 693–733; dies., Le città calabresi dal IV al VII secolo, in: Andrea Augenti
(Ed.), Le città italiane tra tarda antichità e l’alto Medioevo. Atti del Convegno (Ravenna, 26–28 febbraio
2004). Florenz 2006, 477–518. Rom im 6.Jahrhundert: Federico Marazzi, L’ultima Roma antica, in: Andrea Gi-
ardina (Ed.), Storia di Roma dall’antichità ad oggi. Vol.1: Roma Antica. Rom/Bari 2000, 349–378. Ravenna
in der Spätantike: Friedrich Wilhelm Deichmann, Ravenna. Hauptstadt des spätantiken Abendlandes. 3 Bde.
in 5 Bden. Stuttgart 1958–1989; Antonio Carile (Ed.), Storia di Ravenna. Vol.2: Dall’età bizantina all’età otto-
niana. Venedig 1991/92; Deborah M. Deliyannis, Ravenna in Late Antiquity. Cambridge 2010.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 605
ten – und das heißt: dem Senatorenstand – schloss: Einerseits mussten die Senatoren
sich der Herrschaft eines nicht-römischen, in ihren Augen also barbarischen Herr-
schers unterwerfen41, dessen Macht auf einem aus der Fremde eingewanderten Krie-
gerverband beruhte; in diesem Zusammenhang mussten sie auch materielle Opfer
bringen, von denen noch die Rede sein wird. Andererseits aber garantierte Theode-
rich ihren Besitz und ihre Privilegien und respektierte die Traditionen, die das
Selbstverständnis und den Lebensstil dieses Standes bestimmten.42 Fast alle hohen
Posten der Zivilverwaltung wurden mit Senatoren besetzt. Für Römer und Goten
sollte gleichermaßen das römische Recht gelten. Die Macht des Königs wurde gegen-
über den Römern in Formen repräsentiert und kommuniziert, die spätrömischen
Usancen entsprachen.43 Für diese Politik stand das vom Hof des Königs verbreitete
Schlagwort civilitas.44 Theoderich ist es auf diese Weise gelungen, die Senatoren Ita-
liens für sich zu gewinnen; sie standen bis zum Ende seiner Herrschaft loyal auf sei-
ner Seite.
41 Natürlich wurde das unter gotischen Königen nur selten ausgesprochen: Gelasius, Epistula 6, 1, S.325
Thiel; Fragmentum 9, S.488 Thiel; Boethius, Consolatio philosophiae 1, 4, 10; vgl. Cassiodor, Variae 1, 18,
2; 3, 24.
42 Zum spätrömischen Senatorenstand vgl. Sam J. Barnish, Transformation and Survival in the Western
Senatorial Aristocracy, c. A.D. 400–700, in: PBSR 56, 1988, 120–155; Christoph Schäfer, Der weströmische Se-
nat als Träger antiker Kontinuität unter den Ostgotenkönigen (490–540 n.Chr.). St. Katharinen 1991; Beat
Näf, Senatorisches Standesbewußtsein in spätrömischer Zeit. (Paradosis, 40.) Freiburg, Schweiz 1995.
43 Bettina Pferschy, Cassiodors Variae. Individuelle Ausgestaltung eines spätrömischen Urkundenformu-
lars, in: AfD 32, 1986, 1–127; Peter J. Heather, The Historical Culture of Ostrogothic Italy, in: Teoderico il
Grande e i Goti d’Italia. (Atti del XIII Congresso internazionale di studi sull’Alto Medioevo, Milano 2–6 no-
vembre 1992). Vol.1. Spoleto 1993, 317–353; Christina Kakridi, Cassiodors Variae: Literatur und Politik im
ostgotischen Italien. (Beiträge zur Altertumskunde, 223.) München 2005, 16–156; Massimiliano Vitiello, Mo-
menti di Roma ostrogota: adventus, feste, politica. (Historia, Einzelschriften, 188.) Stuttgart 2005.
44 Vgl. dazu aus neuerer Zeit Marc Reydellet, Théoderic et la civilitas, in: Antonio Carile (Ed.), Teoderico il
Grande fra Oriente e Occidente (Ravenna, 28 settembre – 2 ottobre 1992). Ravenna 1995, 285–296; Patrick
Amory, People and Identity in Ostrogothic Italy, 489–554. (Cambridge Studies in Medieval Life and
Thought, 4th Series, 33.) Cambridge 1997, 43–85; Kakridi, Cassiodors Variae (wie Anm.43), 339–347.
schlägigen Abschnitte bei Gideon Maier, Amtsträger und Herrscher in der Gothia Romana. Vergleichende
Untersuchungen zu den Institutionen der ostgermanischen Völkerwanderungsreiche. (Historia, Einzel-
schriften, 181.) Stuttgart 2005, wo jedoch auf 216–218 die seit Mommsen übliche Identifikation der comitiva
Gothorum per singulas civitates (Cassiodor, Varien 7, 3) mit der comitiva diversarum civitatum (ebd.7, 26–28)
zu Unrecht abgelehnt wird. Das Amt des comes patrimonii, der den Privatbesitz des Königs einschließlich der
Provinzen Sizilien und Dalmatien verwaltete (ebd.6, 9), geht anscheinend auf die bereits von Odovakar ge-
schaffene Stellung eines comes et vicedominus zurück: Papyrus Italiae 11–11, I, Z. 10–II, Z. 7 (Schenkungsur-
kunde Odovakars von 489).
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606 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
Der „konfessionelle“ Gegensatz zwischen den „katholischen“ Römern Italiens
und den „arianischen“ – richtiger wäre: homöischen45 – Goten hat dieser Zusam-
menarbeit nicht im Wege gestanden. Zwar gehörte die große Mehrheit der mit Theo-
derich eingewanderten Krieger einer Kirche an, die ihren eigenen Klerus, ihre eige-
ne Liturgie, vor allem aber ein Glaubensbekenntnis besaß, das in den Augen der „ka-
tholischen“ Kirche als Irrlehre galt. Auch die Religion stand also trennend zwischen
Goten und Römern. Dessen ungeachtet hat der „katholische“ Klerus Italiens ein-
schließlich des Papstes Theoderich jedoch sogleich als Herrscher Italiens anerkannt
und sich ihm in der Folge nicht bloß in weltlichen Dingen willig untergeordnet: Der
König wurde zum Schiedsrichter angerufen, als es Ende 498 in Rom zur Doppelwahl
zweier Päpste kam, und wenige Jahre später von einem in Rom versammelten Kon-
zil sogar aufgefordert, über die Absetzung eines Papstes zu entscheiden.46 Dabei kam
Theoderich für lange Zeit (bis 519) der Umstand zugute, dass die Kirchengemein-
schaft mit der Reichskirche des Ostens seit 484 wegen dogmatischer Streitigkeiten
unterbrochen war: Der Kaiser Anastasios war für den Papst daher nicht weniger ein
Ketzer als der König Theoderich.47 Theoderich konnte unter diesen Umständen als
das kleinere Übel erscheinen, weil er die Koexistenz zweier christlicher Kirchen ak-
zeptierte, während der Kaiser sich verpflichtet glaubte, für die kirchliche Einheit
aller Christen zu sorgen.
45 Es ist in der Frühmittelalterforschung üblich, das religiöse Bekenntnis nicht-katholischer Christen
gotischer Herkunft mit der pejorativen Fremdbezeichnung „arianisch“ zu belegen. Das ist auch deswegen
irreführend, weil das durch die epistula Auxentii überlieferte Glaubensbekenntnis der ecclesia legis Gothorum
mit demjenigen des alexandrinischen Presbyters Areios wenig Ähnlichkeit aufweist; vgl. dazu die Klarstel-
lung bei Knut Schäferdieck, Die Anfänge des Christentums bei den Goten und der sog. Gotische Arianismus,
in: ZKiG 112, 2001, 295–310.
46 Zum Laurentianischen Schisma vgl. etwa Erich Caspar, Geschichte des Papsttums. Bd.2: Das Papsttum
unter byzantinischer Herrschaft. Tübingen 1933, 84–114; Eckhard Wirbelauer, Zwei Päpste in Rom. Der
Konflikt zwischen Laurentius und Symmachus (498–514). München 1993; Claire Sotinel, Rom und Italien
am Übergang vom Römischen Reich zum Gotenreich, in: Luce Pietri (Hrsg.), Der lateinische Westen und
der Byzantinische Osten (431–642). (Die Geschichte des Christentums, 3.) Freiburg im Breisgau u.a. 2001,
300–342, bes. 311–316.
47 Zum Akakianischen Schisma vgl. etwa Caspar, Geschichte des Papsttums (wie Anm.46), Bd. 2, 10–81,
130–160; Eduard Schwartz, Publizistische Sammlungen zum Acacianischen Schisma, in: Abh. der Bayeri-
schen Akad. der Wiss., phil.-hist. Abt., NF., 10. München 1934, 171–262; William H.C. Frend, The Rise of the
Monophysite Movement. Chapters in the History of the Church in the Fifth and Sixth Centuries. Cam-
bridge 1972, 221–254; Pierre Maraval, Die Rezeption des Chalcedonense im Osten des Reiches, in: Pietri
(Hrsg.), Westen und Osten (wie Anm.46), 120–159.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 607
Das dritte und größte Problem, das Theoderich lösen musste, wenn er eine stabile
Herrschaftsordnung errichten wollte, bestand darin, dem mobilen Kriegerverband,
dem er seinen Erfolg verdankte, eine Aufgabe und Stellung zuzuweisen, die seinen
Fähigkeiten und Ansprüchen entsprach. Theoderich ist wohl mit etwa 100000 Men-
schen nach Italien gekommen, also Männern, Frauen und Kindern. Von ihnen dürf-
ten etwa 20000 bis 25000 erwachsene Männer gewesen sein, die meisten von ihnen
kampferprobte Krieger.48 Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat betont, dass die-
ser Personenverband in ethnischer Hinsicht keineswegs so homogen war, wie die
königliche Kanzlei vorgab. Für den König gab es nur Goten und Römer – die einen
waren Krieger, die anderen Zivilisten. Die Realität war komplexer: Nicht alle, die
dem Heer Theoderichs angehörten, waren ihrer Herkunft nach Goten, und nicht alle
Goten auf dem Balkan waren Theoderich nach Italien gefolgt.49 Eine der Gruppen,
die sich Theoderich auf dem Weg nach Italien angeschlossen hatten – die Rugier –,
sonderte sich sogar so weit gegen die anderen ab, dass sie Mischehen nicht zuließ.50
Gleichwohl war die offizielle Sprachregelung auch kein Konstrukt ohne jeden Rea-
litätsbezug, denn Theoderichs Gefolgsleute teilten mehrheitlich nicht bloß ihren
kriegerischen Lebensstil und die Loyalität gegenüber dem König, sondern auch die
gotische Sprache und die homöische Konfession.51
Nicht geringer als die ethnischen Differenzen waren wohl die sozialen Unter-
schiede. Der Kriegerverband Theoderichs war keine egalitäre Gemeinschaft und erst
48 Auf ca. 100000 schätzen die Gesamtzahl aufgrund der in Anm.25 genannten Angaben der Quellen z.B.
Schmidt, Ostgermanen (wie Anm.1), 293; Ensslin, Theoderich (wie Anm.31), 62f.; Moorhead, Theoderic (wie
Anm.31), 66–68. Dazu passen Prokopios’ Angaben zum römisch-gotischen Krieg, soweit sie nicht auf rö-
mischer Propaganda beruhen: Knud Hannestad, Les forces militaires d’après la Guerre Gothique de Procope,
in: CM 21, 1960, 136–183, hier 155–171, kalkuliert die Stärke des gotischen Heeres zu Beginn des römisch-
gotischen Krieges auf etwa 30000 Mann. Ein Zuwachs in dieser Größenordnung seit 489 ist gut vorstellbar.
49 Ennodius, Panegyricus 26; Marcellinus Comes sub anno 489 (Chronica Minora II, S.93); Jordanes, Geti-
ca 267; 292; Prokopios, Gotenkriege 1, 1, 12; 1, 16, 2; Perserkriege 1, 8, 3; Bauten 3, 7, 13; 4, 1, 5.
50 Prokopios, Gotenkriege 2, 14, 24; 3, 2, 1–2; vgl. Ennodius, Panegyricus 55; Vita Epiphanii 118–119. Über
die Rugier vgl. Peter J. Heather, Disappearing and Reappearing Tribes, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Eds.),
Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800. Leiden u.a. 1998, 95–111.
51 Gegen die Grundthese von Amory, Ostrogothic Italy (wie Anm.44), vgl. die überzeugende Kritik von
Peter J. Heather, Merely an Ideology? Gothic Identity in Ostrogothic Italy, in: Barnish/Marazzi (Eds.), Ostro-
goths (wie Anm.37), 31–59 (mit der anschließenden Diskussion, 60–80). Dass Hals- und Armringe Teil
einer gotischen Tracht gewesen seien, bestreitet jetzt mit guten Gründen Philipp von Rummel, Ambrosius,
Julianus Valens und die ‚gotische Kleidung‘. Eine Schlüsselstelle historisch-archäologischer Interpretati-
on, in: Sebastian Brather (Hrsg.), Zwischen Spätantike und Mittelalter. (Ergänzungsband zum Reallexikon
der Germanischen Altertumskunde, 57.) Berlin/New York 2008, 45–64.
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608 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
recht keine primitive Demokratie. Das kommt schon in der Bewaffnung und
Kampfesweise sinnfällig zum Ausdruck: Zwar hatten die Goten schon im 4. Jahr-
hundert gelernt, zu Pferde mit der Lanze zu kämpfen52, und zur Zeit Theoderichs wa-
ren die Reiter überdies in der Regel gepanzert.53 Aber keineswegs alle Goten verfüg-
ten über die Mittel, um sich selbst auf diese kostspielige Weise auszurüsten. Viele
kämpften zu Fuß mit Schwert oder Bogen.54 Andere waren darauf angewiesen, dass
ihnen Pferd und Waffen zur Verfügung gestellt wurden. Denn natürlich gab es so et-
was wie einen Adel, Männer, die selbst Gefolgsleute hinter sich scharten und sich
keineswegs als bloße Befehlsempfänger des Königs betrachteten, auch wenn sie in
der Überlieferung erst nach dem Tode des Königs deutlich hervortreten.55 Als Theo-
derich seine Schwester Amalafrida im Jahre 500 dem Vandalenkönig Thrasamund
zur Frau gab, folgten ihr 1000 Edle (dokimoi) und 5000 kampffähige Männer (andres
machimoi) als Dienstleute nach Karthago.56
52 Dazu Edward A. Thompson, Early Germanic Warfare, in: ders., The Early Germans. Oxford 1965, 109–
149, hier 111–117; Urs Müller, Der Einfluß der Sarmaten auf die Germanen. Frankfurt am Main u.a. 1993,
68–117.
53 Wolfram, Goten (wie Anm.15), 302–306. Gepanzerte Reiter: Prokopios, Gotenkriege 1, 16, 11; 1, 18, 9;
zur Kavallerie vgl. etwa Jordanes, Getica 261 (Schlacht am Nedao); Malchos, Fragment 18, 2 Blockley = 15
Cresci, Z. 60–62; Fragment 20 Blockley = 18 Cresci, Z. 121–122; Ennodius, Panegyricus 31–33 (Schlacht an
der Ulca); 42–45 (Schlacht bei Verona); Prokopios, Perserkriege 2, 18, 24 (Reiterangriff der Goten im Heer
Belisars); Gotenkriege 1, 18, 4–15; 1, 27, 16–23; 1, 29, 37; 2, 1, 20–22 (Reiterkämpfe vor Rom); 3, 4, 21 (Zwei-
kampf des Ualaris); 3, 28, 13 (3000 Reiter); 4, 29, 1 (2000 Reiter); 4, 31, 11–15 (Zweikampf des Kokkas); 4, 31,
18–20 (Reiterspiel Totilas); 4, 32, 6–21 (Schlacht von Tadinae); 4, 35, 18 (Schlacht am Vesuv).
54 Gotisches Fußvolk: Jordanes, Getica 300 (2000 Fußsoldaten, 500 Reiter); Prokopios, Gotenkriege 1, 16,
11; 1, 18, 16; 1, 29, 13; 2, 1, 2. Bogenschützen: Ennodius, Panegyricus 83–84; Cassiodor, Variae 5, 23; Proko-
pios, Gotenkriege 1, 27, 27; vgl. 1, 22, 10; 1, 22, 19–21; 2, 2, 16; 2, 5, 25.
55 Prokopios unterscheidet klar verschiedene Grade von Tüchtigkeit und Ehre unter den Goten, indem
er Begriffe wie „angesehen, namhaft“ (logimos), „tüchtig, geschätzt“ (dokimos) und „vorzüglich, edel“ (aristos)
für gotische Individuen und Gruppen verwendet: Gotenkriege 1, 2, 11; 1, 2, 21; 1, 3, 11; 1, 4, 13; 1, 13, 26; 3,
8, 24; 3, 24, 27; 4, 35, 33 (logimos); 2, 3, 36; 2, 20, 14; 2, 23, 8; 2, 29, 24 + 41; 3, 1, 1; 3, 8, 13; 3, 18, 26; 4, 23, 10; 4,
26, 4 + 21; Vandalenkrieg 3, 8, 12 (dokimos); Gotenkriege 1, 13, 15; 2, 9, 8; 2, 20, 2; 2, 28, 29; 3, 1, 46 (aristos).
Diese Adjektive erscheinen gelegentlich auch im Superlativ: ebd.1, 2, 21 (logimôtatos); 4, 23, 1 (dokimôtatos).
Daneben begegnen Wendungen wie „die Ersten unter den Goten“ (1, 7, 21), „berühmt“ (ouk aphanê) (1, 18,
39; 1, 23, 9; 2, 7, 13) oder „der makellose Teil“ (ei ti en autois katharon ên): 1, 13, 17; 2, 29, 18; 2, 30, 4. Im Einzelfall
ist oft schwer zu entscheiden, ob der Aspekt der Tüchtigkeit oder derjenige der Ehre betont wird. Heather,
The Goths (wie Anm.29), 322–328 deutet Stellen, an denen solche Adjektive auf große Gruppen angewandt
werden (Gotenkriege 1, 13, 15; 2, 20, 2; 2, 23, 8; 4, 23, 10; 4, 26, 21), als Hinweis auf die Existenz einer breiten
Schicht von „Gemeinfreien“, doch scheint gerade dort die militärische Tüchtigkeit im Vordergrund zu ste-
hen. Vgl. auch Malchos Fragment 20 Blockley = 18 Cresci, Z. 295–297; Jordanes, Getica 282; 304.
56 Prokopios, Vandalenkrieg 1, 8, 12.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 609
Dieser Kriegerverband also hatte es Theoderich ermöglicht, sich zum Herrscher
über den verbliebenen Rest des Westreichs aufzuschwingen. Etwa 20000 bis 25000
Männer mit ihren Familien. Die meisten hatten seit langem selten über längere Zeit
an einem Ort gelebt, viele waren jahrelang mit Theoderich kreuz und quer über den
Balkan gezogen. Sie hatten in dieser Zeit kaum jemals Ackerbau getrieben oder gar
ein Handwerk ausgeübt. Ihr Metier war das Kämpfen. Als sie in Italien ankamen, be-
stand ihr persönlicher Reichtum in Dingen, die man am Leib trägt oder auf Wagen
laden kann, in Kleidung und Bewaffnung, Gegenständen des täglichen Bedarfs,
Schmuck und anderen Wertgegenständen; wer etwas galt, besaß auch Pferde, Vieh
und Sklaven.57 Theoderich stand nun vor der Frage, wie er diesen mobilen Krieger-
verband in das Reich integrieren konnte, das er in Italien für sich zu schaffen ge-
dachte. Mit anderen Worten: Wie macht man aus einer Gewaltgemeinschaft eine
staatstragende Einrichtung? Die Antwort, die Theoderich auf diese Frage gab, klingt
verblüffend einfach: Man verwandelt sie in ein stehendes Heer. Aber ganz so ein-
fach lagen die Dinge denn doch nicht. Die Krieger Theoderichs waren nicht bereit,
sich für einen jährlich ausgezahlten Sold einem befristeten und kündbaren Dienst-
verhältnis zu unterstellen, wie es die Soldaten des Kaisers taten, die in dessen Auf-
trag mitunter über tausende von Kilometern versetzt wurden. Die Krieger Theode-
richs forderten ein komfortables und krisensicheres Auskommen für sich und ihre
Familien, und zwar auf Lebenszeit. Die beste materielle Existenzsicherung aber war
unter den Bedingungen der Zeit der Besitz von Land. Natürlich dachten Theode-
richs Krieger nicht daran, ihre Schwerter zu Pflugscharen zu machen, und das wäre
auch ganz und gar nicht im Sinne des Königs gewesen; sie wollten von Grundrenten
leben, wie es römische Aristokraten seit eh und je taten.58 Theoderich hat ihnen die-
57 Viehherden: Malchos, Fragment 18, 2 Blockley = 15 Cresci, Z. 33–35; Fragment 18, 4 Blockley = 17 Cres-
ci, Z. 5–7; Jordanes, Getica 274. Pferde: Malchos, Fragment 18, 2 Blockley = 15 Cresci, Z. 60–62; Fragment 20
Blockley = 18 Cresci, Z. 213–214. Wagen: Malchos, Fragment 20 Blockley = 18 Cresci, Z. 213–214; ebd.Z.
287–290 (etwa 2000 Wagen); Ennodius, Panegyricus 26–27; Prokopios, Gotenkriege 1, 1, 12; vgl. Marcelli-
nus Comes sub anno 481 (Chronica Minora II, S.92): Wagenburg des Theoderich Strabon.
58 Da die von Walter Goffart, Barbarians and Romans. The Techniques of Accomodation AD 418–584.
Princeton, N. J. 1980, aufgestellte und u.a. von Wolfram, Goten (wie Anm.15), 295–299, und Moorhead,
Theoderic (wie Anm.31), 32–35, übernommene These, die Goten hätten in Italien nicht ein Drittel des Lan-
des, sondern ein Drittel der Steuereinnahmen erhalten, bereits mehrfach widerlegt worden ist, begnüge ich
mich hier mit einem Verweis auf Sam J. B. Barnish, Taxation, Land and Barbarian Settlement in the Western
Empire, in: PBSR 54, 1986, 170–195, und J. H.Wolfgang G. Liebeschuetz, Cities, Taxes and the Accomodation
of the Barbarians. The Theories of Durliat and Goffart, in: Walter Pohl (Hrsg.), Kingdoms of the Empire. The
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610 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
sen Wunsch erfüllt, obwohl dies Eingriffe in die bestehenden Besitzverhältnisse er-
forderlich machte, die sicher auch zu Lasten der italischen Eliten gingen. Die Sena-
toren haben diese Opfer akzeptiert, weil ihnen nichts anderes übrig blieb und weil
sie es verschmerzen konnten: Es waren ja nur etwa 20000 bis 25000 Familien, die es
mit Land auszustatten galt. Ihre Einbußen dürften sich auch deshalb in erträglichen
Grenzen gehalten haben, weil Theoderich über das Land verfügen konnte, das sich
bis dahin im Besitz Odovakars und seiner Vertrauten befunden hatte.59 Einige Sena-
toren haben vielleicht auch begriffen, dass die Kosten für die Finanzierung des Hee-
res damit mittelfristig gesenkt wurden, was sich positiv auf das Steuerniveau aus-
wirken konnte, wenngleich natürlich nicht musste.60
Theoderich verwandelte also Krieger, deren Lebensunterhalt bisher hauptsäch-
lich aus Beute und Subsidien bestritten worden war, in Empfänger von Grundrenten.
Aber das allein reichte nicht aus, wenn diese Krieger künftig die Rolle eines stehen-
den Heeres spielen sollten. Theoderich musste auch Sorge dafür tragen, dass sie ihre
militärischen Kompetenzen nicht durch Akkulturation an ihre pazifizierte Umwelt
einbüßten. Der König dachte keineswegs daran, die Assimilation zwischen Goten
und Römern im Sinne einer multikulturellen Gesellschaft zu fördern, wie man vor
einigen Jahren argumentiert hat.61 Er wollte im Gegenteil eine soziale Scheidewand
zwischen diesen beiden Gruppen aufrichten, weil er die Goten nur als Krieger in
sein Herrschaftskonzept einbauen konnte. Integration durch Separation, wenn man
so will. Die königliche Kanzlei verkündete unaufhörlich, dass die Goten ein kriege-
59 Bereits Odovakar hatte seine Soldaten mit Land ausgestattet: Prokopios, Gotenkriege 1, 1, 27; vgl. 1, 1,
5–8. Theoderich ließ nicht alle Gefolgsleute Odovakars umbringen: Auctarium Havniense sub anno 493
(Chronica Minora I, S.321); Prokopios, Gotenkriege 1, 1, 25; vgl. Ennodius, Panegyricus 51–52; Anonymus
Valesianus 56. Die Überlebenden wurden vielleicht unter die Grenztruppen eingereiht, behielten aber
schwerlich ihr Land.
60 Die zuletzt im Jahre 444 belegte (Novella Valentiniani 6, 3, 1) Rekrutensteuer (aurum tironicum) wurde
im Reich Theoderichs ebenso wie die auf senatorischem Grundbesitz lastende Sondersteuer (collatio gleba-
lis) nicht mehr erhoben. Beide könnten freilich schon von Odovakar oder noch früher abgeschafft worden
sein. Die collatio glebalis wurde im Osten bereits von Kaiser Markian aufgehoben: Codex Justinianus 12, 2, 2.
61 Christoph Schäfer, Probleme einer multikulturellen Gesellschaft. Zur Integrationspolitik im Ostgoten-
reich, in: Klio 83, 2001, 182–197.
Integration of Barbarians in Late Antiquity. Leiden 1997, 142–151. Die retractatio bei Walter Goffart, Barba-
rian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire. Philadelphia, Pa. 2006, 119–186 mit Appendix
3 auf 257–262, bringt keine neuen Argumente, die einer Überprüfung standhalten. Die Aussagen eines En-
nodius (Epistula 9, 23, 5) oder Cassiodor (Variae 2, 16, 5) über die angebliche Schmerzlosigkeit von Besitz-
abtretungen sind selbstverständlich nicht für bare Münze zu nehmen.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 611
risches Volk seien, das man nur zu rufen brauche, wenn ein Kampf bevorstehe.62
Diese Propaganda hat ihren Eindruck bei den zivilen Eliten Italiens nicht verfehlt.
Ein katholischer Kleriker rühmt die Politik Theoderichs mit folgenden Worten:
„Was für ein Mund wäre freilich vonnöten, lobend die Tatsache zu erwähnen,
dass du in deiner Sorge um die Erhaltung unseres Friedens die Garanten goti-
scher Stärke behütest? Unter deiner Aufsicht lässt du die unbändige Jugend
schon in der glücklichen Friedenszeit für den Krieg üben. Noch sind deine
siegreichen Scharen im Vollbesitz ihrer Kräfte, und schon sind neue herange-
wachsen. Die Jugendlichen stählen ihre Muskeln im Training mit dem Wurf-
spieß und verrichten dieselben Aufgaben wie die tapferen Männer, während
sie noch spielen. Gleichsam als Schauspiel wird vorgeführt, was in der Folge-
zeit als Erweis der Tapferkeit dienen könnte. Wenn die Jünglinge ihre
geschmeidigen Speere noch mit Wurfriemen, wie es Knaben zu tun pflegen,
schleudern, wenn sie die Bogen, die täglich Menschen den Tod bringen kön-
nen, auf immer weitere Ziele richten, wird der ganze Bereich um die Stadt-
mauern bei einer nachgebildeten Schlacht zertrampelt.“63
Ob seine Goten tatsächlich stets so eifrig trainierten, musste der König freilich
weitgehend lokaler Initiative überlassen. Behörden, welche die Erziehung heran-
wachsender Goten reglementiert und den Lebenswandel der erwachsenen kontrol-
liert hätten, gab es nicht. Immerhin bestellte der König seine Goten einmal im Jahr
an den Hof und konnte sich bei dieser Gelegenheit auch einen Eindruck von ihrer
Dienstfähigkeit verschaffen. Zudem leistete ein Teil der Goten im Auftrag des Kö-
nigs Garnisonsdienste; ihre Standorte waren häufig weit von ihren Siedlungsgebie-
ten entfernt. Weiterhin stattete der König minder Begüterte mit Waffen und Pfer-
den aus, wenn ihm dies geboten erschien. Theoderich kaufte in großem Stil Pferde
für sein Heer und konnte zudem auf die staatlichen Waffenfabriken Italiens zurück-
greifen.64 Zehn Jahre nach Theoderichs Tod fand Witigis in Südwestgallien und in
62 Cassiodor, Variae 1, 24, 1; 1, 38, 2; 1, 40; 5, 23; vgl. 8, 10, 4–5 (Tuluin); 10, 31, 2; 12, 28, 3; Prokopios, Go-
tenkriege 1, 2, 5–15; dazu Pierre Riché, Éducation et culture dans l’Occident barbare, VIe–VIIIe siècles. 4.Aufl.
Paris 1995, 60–62.
63 Ennodius, Panegyricus 83: „Nam illud quo ore celebrandum est, quod Getici instrumenta roboris, dum
provides ne interpellentur otia nostra, custodis et pubem indomitam sub oculis tuis inter bona tranquilli-
tatis facis bella proludere? Adhuc manent in soliditate virium victricia agmina et alia iam creverunt. duran-
tur lacerti missilibus et inplent actionem fortium, dum iocantur; agitur vice spectaculi quod sequenti tem-
pore poterit satis esse virtuti. dum ammentis puerilibus hastilia lenta torquentur, dum arcus cottidianae
capitum neces longius dirigunt, urbis omne pomerium simulacro congressionis adteritur.“
64 Pferdekäufe: Cassiodor, Variae 1, 4, 17; vgl. Prokopios, Gotenkriege 1, 3, 22. Waffenfabriken: Cassiodor,
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612 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
Venetien umfangreiche Waffenlager vor und war in der Lage, ein Heer „angemes-
sen“ (kata logon) mit Waffen und Pferden auszurüsten.65
Die Rolle eines stehenden, nur gelegentlich in den Krieg geführten Heeres, die
den Goten im Reich Theoderichs zufiel, besaß für den König freilich auch eine be-
denkliche Seite, denn sie hatte zur Folge, dass seine Gefolgschaft, die vorher meist als
geschlossener Verband in Nähe zum König umhergezogen war, nun zerstreut wer-
den musste. Gotische Garnisonen gab es in ganz Italien einschließlich Siziliens, in
der Provence, in der Westschweiz und in Dalmatien, wenngleich ihr Siedlungs-
schwerpunkt eindeutig in Norditalien lag.66 Dort befanden sich auch die königli-
chen Residenzen, in Ravenna, Verona und Pavia. Aber selbst in diesem Teil des Rei-
ches waren die Entfernungen viel zu groß, als dass ein dauerhafter persönlicher Kon-
takt zwischen dem König und seinen Gefolgsleuten noch möglich gewesen wäre.
Für Theoderich kam es unter diesen Bedingungen darauf an zu verhindern, dass
sich lokale Machtkerne bildeten, die er nicht zu kontrollieren vermochte.67 Seine
Möglichkeiten, direkt auf seine Gefolgsleute zuzugreifen, waren freilich begrenzt.
Goten, die in Städten wohnten, unterstanden einem „Gotengrafen“, der für die
Rechtsprechung zuständig war. Dieser comes Gothorum wurde vom König ernannt;
aus welchen Kreisen er stammte und wie lange er im Amt blieb, wissen wir nicht.
In Grenzprovinzen setzte Theoderich „Provinzgrafen“ (comites provinciarum) ein, die
zivile und militärische Befugnisse vereinigten und für Goten und Römer gleicher-
maßen zuständig waren. Auch bei ihnen stehen wir vor dem Problem, dass die Quel-
len uns weder über die soziale Rekrutierung noch über die faktische Amtsführung
aufklären. Zudem setzte der König eine Art von Kommissaren, die saiones ein, die au-
ßerhalb der Ämterhierarchie standen und in seinem Namen überall eingreifen durf-
ten. Wenn Theoderich alle zum Kriegsdienst fähigen Goten einmal im Jahr an sei-
nen Hof beorderte, so sollte das gewiss nicht allein die militärische Tüchtigkeit der
65 Prokopios, Gotenkriege 1, 11, 16 + 28.
66 Volker Bierbrauer, Die ostgotischen Grab- und Schatzfunde in Italien. (Centro Italiano di Studi Sull’Al-
to Medioevo Spoleto, Biblioteca degli Studi medievali, 7.) Spoleto 1975, 23–39; ders., Archäologie und Ge-
schichte der Goten vom 1.–7.Jahrhundert, in: FMSt 28, 1994, 51–171, hier 140–152.
67 Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Königtum als Grundzug der gotischen Geschichte hat
Dietrich Claude, Adel, Kirche und Königtum im Westgotenreich. (VuF, Sonderbd. 8.) Sigmaringen 1971, he-
rausgearbeitet. Heather, Theoderic (wie Anm.31), 152–158, betont diesen Aspekt mit Recht auch für die
Herrschaft Theoderichs.
Variae 7, 18–19; Verteilung von Waffen durch den comes von Salona: Cassiodor, Variae 1, 40. Ausrüstung
eines Heeres für den Gallienfeldzug 508 mit Pferden und Waffen: Cassiodor, Variae 1, 24, 2.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 613
Goten sichern, sondern diese zugleich auch an seine Person binden. Nicht umsonst
wurde bei dieser Gelegenheit ein Geschenk von fünf Goldmünzen ausgezahlt.68
Größere Prämien waren für diejenigen ausgesetzt, die eines der oben genannten, be-
soldeten Ämter übernahmen und ihm deshalb in besonderer Weise verantwortlich
waren. Schließlich hat Theoderich auch dadurch eine Art von Kontrolle ausgeübt,
dass er an seinem Hof gotische Adlige um sich sammelte, die als „höhere Haus-
genossen“ (maiores domus) einen Kreis von Beratern und Helfern des Königs bilde-
ten, der neben dem traditionellen, mit Römern besetzten Kronrat (consistorium) be-
stand.69
Die Verwandlung eines mobilen Kriegerverbandes in ein stehendes Heer gelang
während der Herrschaft Theoderichs erstaunlich gut. Natürlich war das Verhältnis
zwischen gotischen Kriegern und römischen Zivilisten nicht spannungsfrei; die
Einquartierung von Garnisonen war unbeliebt und der Durchzug von Soldaten ge-
fürchtet.70 Aber das war im Imperium Romanum nicht anders. Obwohl es Ansätze zu
einer Verschmelzung zwischen gotischem Adel und römischem Senatorenstand
gab, blieb die militärische Schlagkraft der gotischen Krieger während Theoderichs
Herrschaft ebenso unvermindert wie ihre Loyalität gegenüber dem König. Theode-
rich konnte stets auf sie zählen, wenn er sie zu den Feldzeichen rief, in den Jahren
504 (gegen die Gepiden)71, 508 (gegen Chlodwigs Franken)72, 511 und 513 (gegen Ge-
68 Cassiodor, Variae 5, 26; 5, 27; 5, 36.
69 Zu den maiores domus vgl. Maier, Amtsträger und Herrscher (wie Anm.40), 146–159. Am Hof Theode-
richs wuchsen auch Kinder auf: Cassiodor, Variae 8, 21, 6–7; 8, 22, 5 (Kinder des Cyprianus); Prokopios, Go-
tenkriege 1, 2, 19 (Kumpane Athalarichs).
70 Plünderungen: Cassiodor, Variae 2, 8; 3, 42; 5, 10; 5, 26, 2; 12, 5. Mahnungen zur Disziplin: Cassiodor,
Variae 3, 38; 5, 10 + 11 (Gepiden); 6, 25; 7, 4, 3.
71 Ennodius, Panegyricus 60–69; Cassiodor, Chronica 1334 (Chronica Minora I, S.160); Cassiodor, Variae
8, 10, 4; 11, 1, 10; Marcellinus Comes sub anno 505 (Chronica Minora II, 96); Prokopios, Gotenkriege 1, 11,
5; Jordanes, Getica 300–301; vgl. Romana 356; vgl. dazu Walter Pohl, Die Gepiden und die gentes an der mitt-
leren Donau nach dem Zerfall des Attilareiches, in: Herwig Wolfram/Falko Daim (Hrsg.), Die Völker an der
unteren und der mittleren Donau im fünften und sechsten Jahrhundert. (Österreichische Akademie der
Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschriften, 145.) Wien 1980, 239–301, hier 288–294; Brian Croke, Mundo
the Gepid: From Freebooter to Roman General, in: Chiron 12, 1982, 125–135. Das Kommando führten Her-
duic und Pitzia, die von Ennodius, Panegyricus 62 als Gothorum nobilissimi bezeichnet werden.
72 Zu den Ereignissen vgl. z.B. Schmidt, Ostgermanen (wie Anm.1), 154–158; Justin Favrod, Histoire poli-
tique du royaume burgonde. Lausanne 1997, 386–406; Kaiser, Burgunder (wie Anm.35), 64–66; Matthias Be-
cher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011, 223–234.
Die Befehlsgewalt lag bei dem comes Ibba: Cassiodor, Variae 4, 17; Jordanes, Getica 302.
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salech)73 und noch einmal 524 (gegen die Burgunder)74. Diese Loyalität ist auch des-
wegen keineswegs selbstverständlich, weil Theoderich nach dem Sieg über Odova-
kar nicht mehr selbst in den Krieg zog, sondern gotische Adlige mit dem Oberkom-
mando betraute.75 Dass das nicht ohne Risiken war, beweist die Tatsache, dass Theo-
derich im Jahre 500 den comes Odoin hinrichten ließ und später (514) den comes Petia
offenbar eigenhändig tötete.76 Aber zu so drastischen Maßnahmen musste der Kö-
nig offenbar nur selten greifen.
Dass es Theoderich über mehr als 30 Jahre hinweg gelang, die zentrifugalen Kräf-
te, die seiner Herrschaft über die Goten innewohnten, zu bändigen, erklärt sich zum
Teil durch den Umfang der Ressourcen, die er an seine Anhänger verteilen konnte.
So wissen wir zufällig, dass der bewährte Heerführer Tuluin von Theoderich mit
Ländereien großzügig belohnt wurde.77 Wie wichtig die Redistribution von Res-
sourcen als Herrschaftsmittel war, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass Theoderich
die Steuereinnahmen, die er ab 511 aus dem spanischen Gotenreich zog, unter den
Goten Italiens und Spaniens verteilte.78 Aber er zehrte zweifellos auch von dem Pres-
tige, das er aufgrund seiner einzigartigen Erfolge bei seinen Gefolgsleuten besaß:
73 Prokopios, Gotenkriege 1, 12, 43–54; Jordanes, Getica 302; Chronica Caesaraugustana sub annis 507–
513 (Chronica Minora II, S.223); Chronica Gallica 688–691 (Chronica Minora I, S.665f.); Isidor von Sevilla,
Historia Gothorum 37–39 (Chronica Minora II, S.282f.); Laterculus regum Visigothorum 16–18 (Chronica
Minora III, S.465); Cassiodor, Variae 5, 35; 5, 39. Das Kommando führte erneut der comes Ibba, der von Tu-
luin unterstützt wurde: Cassiodor, Variae 8, 10, 6. Zur Integration Hispaniens ins Reich Theoderichs
Pablo C. Diaz/Rosario Valverde, Goths Confronting Goths: Ostrogothic Political Relations in Hispania, in:
Barnish/Marazzi (Eds.), Ostrogoths (wie Anm.37), 353–376 (mit der anschließenden Diskussion auf 376–
386).
74 Dazu in neuerer Zeit eingehend Favrod, Histoire politique (wie Anm.72), 430–443; Kaiser, Burgunder
(wie Anm.35), 68–71. Damals scheint die Führung bei Tuluin gelegen zu haben: Cassiodor, Variae 8, 10, 8;
vgl. auch die nächste Anmerkung.
75 Es sei denn, der von Gregor von Tours (Historiae 3, 6) als Anführer des Burgunderkriegs von 524 ge-
nannte rex Theudoricus ist tatsächlich mit dem Ostgoten und nicht mit dem gleichnamigen Franken iden-
tisch, wie Favrod, Histoire politique (wie Anm.72), 439–443, vermutet. Vgl. dagegen jedoch Kaiser, Burgun-
der (wie Anm.35), 70f.
76 Odoin: Anonymus Valesianus 68–69; vgl. Auctarium Havniense sub anno 504 (Chronica Minora I,
S.331: Odomum comitem); Marius Aventicus sub anno 500 (Chronica Minora II, S.234: Odoind). Petia: Auc-
tarium Havniense sub anno 514 (Chronica Minora I, S.331): „Theudoricus rex Mediolanium veniens Peti-
am comitem interfecit VII id. Iun.“ Die Identität dieses Petia mit dem aus Ennodius, Panegyricus 62–68; Jor-
danes, Getica 300–301 bekannten Heerführer Pitzia/Petza ist wahrscheinlich, aber nicht sicher; vgl. Cassi-
odor, Variae 5, 29 (Pitzias).
77 Cassiodor, Variae 8, 10, 8.
78 Prokopios, Gotenkriege 1, 12, 48.
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Theoderich hatte aus einer ebenso fluiden wie mobilen Kriegergruppe, die zeitweise
vom Zerfall bedroht gewesen war, die militärische Stütze eines großen Reiches ge-
macht und dabei denjenigen, die sich ihm angeschlossen hatten, zu Wohlstand und
Ansehen verholfen. Und die Serie seiner Erfolge war mit der Eroberung Italiens kei-
neswegs beendet. Durch eine geschickte Kombination von militärischer Macht und
diplomatischem Geschick gewann er vielmehr im Laufe seiner Regierung umfang-
reiche Gebiete hinzu, neben der prosperierenden Provence (508) vor allem Septima-
nien und Hispanien (511).79 Am Ende seines Lebens kontrollierte Theoderich ein
Reich, das vom Atlantik im Westen bis zur Save im Osten reichte. Auch im Falle
Theoderichs bewährt sich der Satz: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg.
III. Die Krise des Königtums nach dem Tode Theoderichs
Theoderich hat versucht, das Charisma, das er als erfolgreicher Herrscher besaß,
durch die Propagierung dynastischer Legitimität auf seinen Nachfolger zu übertra-
gen, doch dabei blieb ihm der Erfolg versagt. Eutharich, den er planvoll zum Thron-
folger aufgebaut hatte, starb vor dem König. Als Theoderich das Ende nahe fühlte, rief
er Goten und Römer am Hof zusammen und erklärte seinen Enkel Athalarich, ein
achtjähriges Kind, zum König80; kurz darauf verschied Theoderich am 30. August
526. Das Königtum eines zur Regierung unfähigen Kindes war ein Novum in der Ge-
schichte des Kriegerverbandes, den Theoderich angeführt hatte. Für den gotischen
Adel stellte diese Nachfolgeregelung auch deswegen eine Provokation dar, weil sie
mit der Regentschaft einer Frau verbunden war, denn für Athalarich sollte bis zum
Erreichen der Mündigkeit dessen Mutter Amalaswintha regieren. Tatsächlich deutet
manches darauf hin, dass der letzte Wille Theoderichs gegen erhebliche Widerstän-
de vollzogen wurde.81 Unter der Vormundschaftsregierung der Amalaswintha trat
der gotische Adel offen als oppositionelle Kraft hervor. Die Tochter Theoderichs
79 Theoderich verfügte nicht bloß über die Steuereinnahmen aus diesen Gebieten, sondern ließ auch den
westgotischen Königsschatz nach Italien überführen: Prokopios, Gotenkriege 1, 12, 69; vgl. 1, 13, 71–72;
dazu Matthias Hardt, Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtau-
send. (Europa im Mittelalter. Abhandlungen zur historischen Komparatistik, 6.) Berlin 2004, 32–37.
80 Cassiodor, Variae 8, 2, 4; 8, 3, 3; 8, 4, 2; 8, 5, 1; 8, 6, 2; vgl. Jordanes, Getica 367. Alter Athalarichs: Jordanes,
Romana 367 (anders Getica 304); Prokopios, Gotenkriege 1, 2, 1.
81 Widerstände gegen die Nachfolge Athalarichs: Cassiodor, Variae 8, 9–11 (Tuluin); 8, 23 (Theodahad);
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616 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
wusste sich nicht anders zu helfen als durch die Beseitigung dreier führender Männer
aus dem gotischen Adel und musste doch klein beigeben, als man von ihr verlangte,
dass der Thronfolger nicht, wie seine Mutter es wünschte, nach römischem, sondern
nach gotischem Brauch erzogen werde.82 Als Athalarich 534 starb, ohne jemals die
Regierung angetreten zu haben, drohte Amalaswinthas Stellung vollends unhaltbar
zu werden. Die Tochter Theoderichs trat die Flucht nach vorn an, indem sie sich
selbst zur Königin ernannte und einen weitläufigen Verwandten namens Theodahat
zum Mitkönig bestellte.83 Dieses einzigartige Experiment eines männlich-weibli-
chen Doppelkönigtums war nur von kurzer Dauer, denn Theodahat ließ seine Mit-
königin schon bald inhaftieren und schließlich töten.84
Dieses Verbrechen hat Theodahats Stellung jedoch keineswegs gestärkt. Im Ge-
genteil: Es lieferte Justinian einen Vorwand für die militärische Rückeroberung Ita-
liens. Der Beginn der römischen Offensive Ende des Jahres 535 stürzte das gotische
Königtum in eine akute Krise. Dass wir sie einigermaßen zu fassen vermögen, ver-
danken wir dem oströmischen Geschichtsschreiber Prokopios, einem gut informier-
ten Zeitgenossen, der am gotisch-römischen Krieg bis 540 selbst teilgenommen
hat.85 Als Theodahat den Vormarsch der kaiserlichen Truppen auf Rom nicht zu
hindern vermochte, versammelte sich Ende 536 in Regata (bei Tarracina) ein goti-
scher Heerhaufen und rief einen Mann namens Witigis, der wegen seiner kriegeri-
schen Tüchtigkeit hohes Ansehen genoss, an Stelle des regierenden Königs Theo-
dahat zum König aus.86 Theodahat wurde wenig später im Auftrag des Witigis getö-
82 Streit über die Erziehung des Athalarich: Prokopios, Gotenkriege 1, 2, 5–17. Ermordung dreier goti-
scher Adliger: ebd.1, 2, 18–29.
83 Cassiodor, Variae 10, 1–4; Jordanes, Getica 306; Prokopios, Gotenkriege 1, 4, 4–11.
84 Prokopios, Gotenkriege 1, 4, 25–31; Marcellinus Comes, Additamentum (Chronica Minora II, S.104).
85 Grundlegend Averil Cameron, Procopius and the Sixth Century. London 1985. Vor allem wegen des
Kommentars zur „Kriegsgeschichte“ noch immer nützlich ist Berthold Rubin, Prokopios von Kaisareia.
Stuttgart 1954 (Sonderausgabe des Artikels in „Pauly-Wissowas Realencyclopädie des Classischen Alter-
tums“), bes. Sp.87–252. Es fehlt jedoch eine eingehende Untersuchung der „Gotenkriege“ als Quelle für die
ostgotische Geschichte als Pendant zu Henning Börm, Prokop und die Perser. Untersuchungen zu den rö-
misch-sasanidischen Kontakten in der ausgehenden Spätantike. Stuttgart 2007.
86 Prokopios, Gotenkriege 1, 11, 5–9; Jordanes, Getica 310; Romana 372; Marcellinus Comes, Additamen-
tum sub anno 536 (Chronica Minora II, S.104); vgl. Cassiodor, Variae 10, 31. Vgl. dazu und zum Folgenden
Dietrich Claude, Die ostgotischen Königserhebungen, in: Wolfram/Daim (Hrsg.), Völker (wie Anm.71),
149–186.
vgl. 9, 25 (Cassiodor). Vgl. Sam J. B. Barnish, Maximian, Cassiodorus, Boethius, Theodahad: Literature, Phi-
losophy and Politics in Ostrogothic Italy, in: Nottingham Medieval Studies 34, 1990, 16–32, bes. 28–32.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 617
tet. Witigis fand darauf unter den Goten Italiens allgemeine Anerkennung, ent-
täuschte aber die Erwartungen, die man in ihn gesetzt hatte. Der Versuch, Rom zu-
rückzuerobern, musste im März 538 aufgegeben werden, als kaiserliche Truppen go-
tische Siedlungszentren in der Landschaft Picenum eroberten.87 Nach weiteren
Misserfolgen nahm Witigis Verhandlungen mit Kaiser Justinian auf und signalisier-
te die Bereitschaft, auf ganz Italien südlich des Po zu verzichten, ja dem Kaiser in Zu-
kunft sogar Tribut zu zahlen.88 Der gotische Adel indessen zögerte, sich dem fernen
Kaiser zu unterwerfen, und drängte Witigis, das Königtum zugunsten des kaiserli-
chen Feldherrn Belisar niederzulegen. Nachdem Witigis zugestimmt hatte und Be-
lisar zum Schein auf das Angebot eingegangen war, öffnete man im Mai 540 die Tore
der befestigten Stadt Ravenna und ließ die kaiserlichen Truppen herein; Belisar
nahm den Königsschatz in Besitz und schickte die Goten, deren Besitzungen südlich
des Po lagen, nach Hause; Witigis aber und die gotischen Adligen nahm er gefangen.
Prokopios, der dabei war, berichtet, die gotischen Krieger hätten in der Unterwer-
fung nichts Ehrenrühriges gesehen, seien aber von ihren eigenen Frauen bespuckt
und als Feiglinge beschimpft worden, weil sie sich einem zahlenmäßig unterlege-
nen Gegner ergeben hätten.89
Die Goten mussten freilich bald erkennen, dass Belisar keineswegs bereit war, ge-
gen den Willen des Kaisers in Italien zu herrschen, denn der Feldherr traf Anstalten,
Ravenna zu verlassen, um Witigis und seine Königin, den Königsschatz und die in
Ravenna befindlichen gotischen Adligen nach Konstantinopel zu überführen. Die
Aussicht, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, war nach dem Urteil des Prokopios der
Hauptgrund, weshalb viele Goten in Norditalien die Kapitulation vor Belisar schnell
bereuten.90 Gotische Adlige, die jenseits des Po zurückgeblieben waren, taten sich
87 Prokopios, Gotenkriege 2, 7, 28–29; 2, 10, 1.
88 Witigis und „die Goten“ nehmen das Friedensangebot Justinians mit Freude auf: Prokopios, Goten-
kriege 2, 29, 1–3. Erarich erklärte den Goten später, er wolle versuchen, auf dieser Grundlage zu einem Frie-
densschluss zu kommen: ebd.3, 2, 15.
89 Prokopios, Gotenkriege 2, 29, 17–35 (über die Reaktion der Frauen: 33–34); Marcellinus Comes, Addi-
tamentum sub anno 540 (Chronica Minora II, S.106): „Belisarius Ravenam ingreditur, regem Vitigis et re-
ginam cunctasque opes Gothosque nobiliores tollens secum ad imperatorem revertitur evocante se Mar-
cello comite.“ In der Forschung wird diskutiert, ob die Goten Ravennas Belisar das Königtum oder das Kai-
sertum anboten. Über das Kaisertum konnten die Goten indessen schwerlich verfügen.
90 Prokopios, Gotenkriege 2, 29, 17; 2, 30, 7–8; vgl. 1, 29, 8 (Rede des Witigis); Jordanes, Romana 378; Mar-
cellinus Comes, Additamentum sub anno 540 (Chronica Minora II, S.106): „Gothi trans padum residentes
Oraio Vitigis nepote et Heldebado ductantibus Vitigis regem cum regina opibusque palatii nec non et Go-
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618 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
zusammen, begaben sich nach Pavia und boten dort dem Neffen des Witigis, einem
Mann namens Uraias, die Königswürde an. Dieser lehnte ab und schlug vor, stattdes-
sen Hildebad zum König zu erheben, der ein Neffe des Theudis, des Königs des Go-
tenreichs in Spanien, war.91 Hildebad nahm an, doch unter der Bedingung, dass man
sich vorher noch einmal bei Belisar erkundigen solle, ob er tatsächlich entschlossen
sei, die gotische Königswürde auszuschlagen. Erst nachdem Belisar dies noch ein-
mal bekräftigt hatte, nahm jener die Wahl zum König an. Man versteht sein Zögern
besser, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich ihm anfangs nicht mehr als 1000
gotische Krieger zur Verfügung stellten. Hildebad gewann aber rasch neue Anhän-
ger hinzu und kontrollierte bald ganz Italien nördlich des Po. Genützt hat es ihm we-
nig, denn er fiel schon nach wenigen Monaten einem Anschlag zum Opfer; die Ver-
wandten des Uraias rächten sich auf diese Weise dafür, dass Hildebad den Mann,
dem er die Herrschaft verdankte, bald nach Regierungsantritt hatte töten lassen.92
Damit fehlte den Goten Norditaliens erneut eine politische und militärische Füh-
rung. Der gotische Kriegerverband, der einst mit Theoderich nach Italien gekom-
men war, stand in dieser Situation vor einer Zerreißprobe. Am schnellsten handel-
ten die Rugier, jene bereits erwähnte Ethnie, die sich trotz der Zugehörigkeit zu den
Goten Italiens ihre eigene Identität bewahren wollte. Die Rugier riefen nun einen
der ihren, einen gewissen Erarich, zum König aus.93 Dieser stieß jedoch auf erhebli-
chen Widerstand unter den anderen Goten. Gotische Adlige einigten sich zu Beginn
des Jahres 542 darauf, Totila, einem Neffen des Hildebad, die Königswürde anzubie-
ten. Der nahm unter der Bedingung an, dass man Erarich vorher umbringe. Das war
schnell getan, und die Goten Norditaliens hatten den vierten König innerhalb von
knapp zwei Jahren.94 Die historische Lehre aus diesen verwirrenden Ereignisfolgen
91 Prokopios, Gotenkriege 2, 30, 3–15. Nach Prokopios begründete Uraias seine Ablehnung damit, dass
er der Neffe des Witigis sei, denn 1) gehe Unglück nach allgemeiner Ansicht von einem Verwandten auf
einen anderen über, und 2) würde es als Frevel angesehen, wenn er sich die Herrschaft seines Onkels an-
maße. Den Hildebad soll er wegen seiner Tüchtigkeit und in der Hoffnung auf Hilfe von Theudis vorge-
schlagen haben: ebd.2, 30, 12–15.
92 Königserhebung des Hildebad: Prokopios, Gotenkriege 2, 30, 16–30. Anfangs nur 1000 Gefolgsleute
des Hildebad: ebd.3, 1, 27. Tod des Hildebad: ebd.3, 1, 41–49; Jordanes, Romana 379.
93 Prokopios, Gotenkriege 3, 2, 1–4.
94 Prokopios, Gotenkriege 3, 2, 10–18. Am Anfang 5000 Gefolgsleute: ebd.3, 4, 1. Totila hatte mit dem kai-
serlichen General Constantianus bereits vereinbart, mit seinen Truppen überzulaufen, als das Angebot der
Königswürde ihn erreichte: ebd.3, 4, 8–9.
thos audientes sedibus propriis pulsos Orientemque per Belisarium abductos rebellare disponunt, regem
sibi statuentes Heldebadum.“
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 619
ist leicht zu ziehen: Das Königtum als Institution wurde auch nach dem Tode Theo-
derichs akzeptiert, aber der König sah sich einem starken Adel gegenüber, dessen Lo-
yalität keineswegs unbedingt war; Herrscher, die versagten, wurden abgesetzt oder
beseitigt; andere aus persönlichen Motiven ermordet.
Auffallend ist bei alledem die geringe Bedeutung, welche die Zugehörigkeit zur
gens Gothica für politische Optionen hatte. Das kann man am besten an den Herr-
schern und ihren Familien zeigen. Als Amalaswintha befürchtete, der Opposition
gotischer Adliger nicht mehr standhalten zu können, ließ sie beim Kaiser anfragen,
ob er bereit sei, sie in Konstantinopel aufzunehmen.95 Ihr späterer Mitregent Theo-
dahat hatte sich schon vor seiner Thronbesteigung mit dem Gedanken getragen, Jus-
tinian die Landschaft Tuszien zu überlassen, wenn er dafür eine angemessene Abfin-
dung und den Rang eines Senators in Konstantinopel erhielte.96 Nachdem er Amal-
aswintha hatte beseitigen lassen, bot er dem Kaiser kurz nach Ausbruch des gotisch-
römischen Krieges in Geheimverhandlungen an, auf das Königtum zu verzichten,
wenn er dafür Ländereien erhalte, die ihm mindestens 1200 Pfund Gold jährlich ein-
brächten.97 Theodahats Schwiegersohn Evermud (Ebrimus) lief bei Kriegsbeginn
mit seiner Gefolgschaft zu den Kaiserlichen über; er wurde darauf am Kaiserhof in
allen Ehren empfangen und mit der Würde eines patricius ausgezeichnet.98 Witigis,
der abgesetzte König, beschloss seine Tage als hochrangiger Senator im Imperium Ro-
manum.99 Der kurzlebige Erarich bot Justinian kurz vor seiner Ermordung an, die
Königswürde niederzulegen, wenn er eine hohe Geldsumme und die Würde eines
patricius erhalte.100 Totila schließlich, der strahlende Held Felix Dahns, der vor der
Erhebung zum König Kommandant der Stadt Treviso war, hatte dem kaiserlichen
Feldherrn Constantianus bereits zugesagt, er werde sich, seine Goten und die Stadt
ausliefern, wenn man ihm nur Schonung gewähre; kurz danach erreichte ihn die
Aufforderung, er solle sich an die Spitze der Goten stellen.101 Die Bereitschaft, auf die
95 Prokopios, Gotenkriege 1, 2, 23–29.
96 Prokopios, Gotenkriege 1, 3, 4 + 1, 3, 9.
97 Prokopios, Gotenkriege 1, 6, 6–23. Brief Theodahats an Justinian: ebd.1, 6, 15–22.
98 Prokopios, Gotenkriege 1, 8, 3; Marcellinus Comes, Additamentum sub anno 536 (Chronica Minora II,
S.104); Jordanes, Getica 308–309; Romana 370.
99 Jordanes, Getica 313; Liber pontificalis 61, 1. Witigis’ Frau Mathasuenta, die Tochter Amalaswinthas,
verhandelte nach Prokopios, Gotenkriege 2, 10, 11–12 im Jahre 538 mit dem kaiserlichen Feldherrn Johan-
nes über die Übergabe Ravennas. Sie heiratete später einen Cousin Justinians.
100 Prokopios, Gotenkriege 3, 2, 17–18.
101 Prokopios, Gotenkriege 3, 2, 8–9.
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620 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
Seite des Kaisers überzugehen, war aber keineswegs auf den Adel beschränkt, denn
während des Krieges, vor allem in seiner Anfangsphase, gingen immer wieder ganze
Truppenteile zu den Kaiserlichen über, wo man sie gerne aufnahm.102 Deutsch-na-
tionale Historiker haben hier einen Mangel an Patriotismus beklagt103; wir können
uns mit der Feststellung begnügen, dass der Faktor Ethnizität unter den Goten Itali-
ens keine starke Bindewirkung entfaltet hat.
Der innere Zusammenhalt des gotischen Kriegerverbands war also nach dem
Tode Theoderichs durch adlige Machtansprüche bedroht und seine militärische
Handlungsfähigkeit durch schwache Herrscher beeinträchtigt. Diese Feststellung
macht es leichter zu verstehen, weshalb die Gegenwehr der Goten gegen die kaiser-
liche Offensive bis zur Wahl des Totila so schwach war. Hinzu kommt ein weiterer
Umstand: Die Goten rechneten lange Zeit nicht mit der Möglichkeit, dass der Kaiser
versuchen würde, ihnen alle Privilegien, die sie während der Herrschaft gotischer
Könige in Italien genossen hatten, wieder zu entziehen, wodurch sie gewöhnliche
Soldaten geworden wären. Als ihnen jedoch die Gefahr einer Deportation in den Ori-
ent bewusst wurde, begannen sie, entschiedenen Widerstand zu leisten, und zeig-
ten, dass sie sich gegen die Elitesoldaten des Kaisers durchaus zu wehren wussten.
IV. Der Zerfall einer Gewaltgemeinschaft: Die Goten unter
Totila und Teja
Mit der Erhebung Totilas zum König begann 542 die zweite Phase des gotisch-rö-
mischen Krieges, in der sich das Heer gotischer Könige allmählich wieder in eine Ge-
waltgemeinschaft verwandelte, deren materielle Existenz zunehmend durch Requi-
102 Prokopios, Gotenkriege 1, 15, 1–2 (Samnium); 1, 7, 36 (Dalmatien); 2, 11, 19–20 (Petra); 2, 13, 3–4
(Chiusi und Todi); 2, 19, 17 (Urbino); 2, 27, 25–26 (Fiesole); 2, 27, 31–34 (Osimo); 2, 28, 28–34 (Burgen in den
Cottischen Alpen); 2, 29, 40–41 (Treviso). Vgl. den aus Papyrus Italiae 49 bekannten Fall des Gundila, ana-
lysiert von Amory, Ostrogothic Italy (wie Anm.44), 321–325.
103 Z.B. Sybel, Entstehung des deutschen Königthums (wie Anm.3), 294: „Von der moralischen Kraft
volksthümlicher Zusammengehörigkeit ist bei Theoderich’s Schaaren noch weniger als bei Odoachar’s
Truppen zu spüren; weder der Eine noch der Andere vermag ein innerlich gesundes und dauerndes Staats-
wesen zu gründen. Die Ostgothen sind ebenso wie ihre Vorgänger ein aus mannichfaltigen Völkertrüm-
mern militärisch zusammengesetztes Conglomerat; so wenig wie jene kennen sie das Bewußtsein, die Fort-
setzer eines altnationalen Staates zu sein.“
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 621
sitionen und Beute gesichert wurde.104 Anfangs waren es wohl kaum mehr als 5000
Krieger, die Totila Gefolgschaft leisteten. Als dem jungen und tatkräftigen König je-
doch rasch Erfolge gelangen, schlossen sich ihm mehr Krieger an. Nach wenigen Jah-
ren hatte er große Teile Italiens einschließlich Roms zurückerobert, und sein Heer
war kaum kleiner, als dasjenige Theoderichs gewesen war – etwa 20000 Männer un-
ter Waffen. Dieses Heer aber bestand noch immer überwiegend aus Goten, die sich
den in aller Welt rekrutierten Elitesoldaten des Kaisers als ebenbürtig, in manchen
Situationen sogar als überlegen erwiesen.105 Natürlich waren es nicht allein die krie-
gerische Tüchtigkeit der Goten oder die Führungsstärke Totilas, die es möglich
machten, dass die kaiserlichen Truppen erst ein gutes Jahrzehnt später, im Jahre 552,
entscheidende Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen konnten: Justinian hatte im
Glauben, dass Italien für ihn bereits zurückgewonnen sei, die Zahlungen an sein ita-
lisches Heer stark reduziert, weil er im Osten mit den Persern alle Hände voll zu tun
hatte; hinzu kamen die Auswirkungen der großen Pest.106 Das Ausbleiben der Sold-
104 Sehr ausführliche narrative Rekonstruktionen des Kriegsverlaufs findet man bei John B. Bury, Histo-
ry of the Later Roman Empire from the Death of Theodosius I. to the Death of Justinian. 2 Vols. London
1923, Ndr. 1958, Vol.2, 151–291, und Berthold Rubin, Der Untergang der Goten, in: ders., Das Zeitalter Iusti-
nians. Bd. 2. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Carmelo Capizzi. Berlin/New York 1995, 59–248 (geschrieben im
„Dritten Reich“). Kürzer und analytisch ergiebiger sind die Abschnitte bei Hartmann, Geschichte Italiens
(wie Anm.40), Bd. 1, 242–334, und bei Ernest Stein, Histoire du Bas Empire. Vol.2: De la disparition de l’em-
pire d’occident à la mort de Justinien (476–565). Paris u.a. 1949, 328–368, 564–611.
105 J. H.Wolfgang G. Liebeschuetz, The Romans Demilitarized: The Evidence from Procopius, in: Scripta
Classica Israelica 15, 1996, 230–239, hier 236f., meint, die Goten hätten in erheblichem Umfang aus der ita-
lischen Bevölkerung rekrutiert. Die von ihm zitierten Beispiele (Prokopios, Gotenkriege 2, 28, 31; 3, 1, 27)
sind dem Kontext zufolge jedoch auf Goten zu beziehen. Richtig ist hingegen, dass vor allem in der zweiten
Kriegsphase mehrfach Soldaten des Kaisers zu den Goten überliefen: Prokopios, Gotenkriege 3, 1, 25; 3, 5,
19; 3, 12, 8 (Brief Belisars); 3, 18, 26 (Garnison von Bruttium); 3, 20, 1–13 (vier Isaurer); 3, 23, 3 (Garnison von
Spoleto); 3, 26, 10 (70 Überläufer); 3, 30, 19–21 (Garnison von Rusciane); 3, 36, 7 (isaurische Besatzung
Roms); 3, 36, 19–27 (700 Überläufer); 4, 26, 6; 4, 32, 20 (Überläufer bei Tadinae). Einzelfälle: z.B. Gotenkriege
3, 11, 27 (Anonymus); 3, 12, 18 (Uliph); 3, 15, 7 (Anonymus); 3, 21, 15–16; Geheimgeschichte 5, 56 (Herodi-
anus); Gotenkriege 3, 23, 3 (Martinianus); 3, 35, 23 + 4, 23, 1 (Gundulf/Indulf); 4, 31, 11 (Kokkas); 4, 33, 10
(Uliph und Meliged); vgl. dazu Edward A. Thompson, The Byzantine Conquest of Italy: Public Opinion, in:
ders., Barbarians and Romans. The Decline of the Western Empire. Madison, Wis. 1982, 92–109, bes. 98–
100; Heather, The Goths (wie Anm.29), 327f.
106 Vgl. dazu neben den in Anm.104 genannten Monographien auch James A. S.Evans, The Age of Justi-
nian. The Circumstances of Imperial Power. London/New York 1996, 151–182; Mischa Meier, Das andere
Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6.Jahrhundert n.Chr. (Hypom-
nemata, 147.) Göttingen 2003, bes. 307–342; Hartmut Leppin, Justinian. Das christliche Experiment. Stutt-
gart 2011, 206–230.
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622 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
zahlungen ließ die Kampfmoral der kaiserlichen Soldaten schnell in die Tiefe sin-
ken; hinzu kamen dauernde Querelen unter den Befehlshabern, die sich nicht auf
einen gemeinsamen Kriegsplan einigen konnten. Dennoch beweist der langanhal-
tende, zähe Widerstand der Goten gegen die römische Reconquista, dass sie das
Kämpfen auch unter Theoderichs unkriegerischen Nachfolgern nicht verlernt hat-
ten. Freilich kämpften sie in den 540er Jahren unter erschwerten Bedingungen, weil
Totila bald nicht mehr auf einen funktionierenden Apparat zur Erhebung von Steu-
ern und Abgaben zurückgreifen konnte.107 Totilas Goten folgten ihrem König auf
seinen Kriegszügen quer durch Italien und lebten von dem, was sie vor Ort vorfan-
den und sich gewaltsam aneigneten. So wurde aus einem stehenden Heer wieder
eine mobile Kriegergruppe, die ihre Umwelt wie Feindesland behandelte.
Die Endphase des gotisch-römischen Krieges hält aber noch eine andere Ein-
sicht bereit: Sie bestätigt die Annahme, dass die Stabilität dieser Gewaltgemein-
schaft wesentlich vom Erfolg und seinen Prämien abhängig war. Totila hielt sich
länger als alle anderen Könige seit Theoderich und verfügte über nicht weniger Ge-
folgsleute als dieser. Er fiel im Sommer 552 in der Schlacht bei Tadinae (in den
Apenninen). Mit ihm sollen etwa 6000 Goten den Tod gefunden, viele gefangen ge-
nommen worden sein.108 Auch damit freilich war der Widerstandswille auf goti-
scher Seite noch nicht endgültig gebrochen, denn die gotische Besatzung von Pavia
rief anschließend einen Mann namens Teja zum König aus. Teja sammelte in kur-
zer Zeit noch einmal ein Heer, verlor jedoch nur wenige Monate später am Mons
Lactarius (Milchberg) bei Neapel gegen den kaiserlichen Feldherrn Narses Schlacht
und Leben.109 Die überlebenden Goten vereinbarten mit Narses, dass sie auf ihre
107 Für die Herrschaft des Totila ist kein einziges Amt der Provinzial- oder Präfekturverwaltung mehr
nachweisbar; nur die zentralen Hofämter bestanden offenbar bis zuletzt fort: Prokopios, Gotenkriege 3, 40,
2 + 23 (quaestor palatii).
108 Schlacht von Tadinae: Prokopios, Gotenkriege 4, 29–32; vgl. Bury, History (wie Anm.104), Vol.2, 261–
269; Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. T.2: Die Germanen.
3.Aufl. Berlin 1921, Ndr. Berlin 1966, 374–386; Hans Norbert Roisl, Totila und die Schlacht bei den Busta Gal-
lorum, Ende Juni/Anfang Juli 552, in: Jb. der Österreichischen Byzantinistik 30, 1981, 25–50; Philip Rance,
Narses and the Battle of Taginae (Busta Gallorum) 552: Procopius and Sixth Century Warfare, in: Historia
54, 2005, 424–472. 6000 Gefallene: Prokopios, Gotenkriege 4, 32, 20.
109 Schlacht am Vesuv: Prokopios, Gotenkriege 4, 35; vgl. Bury, History (wie Anm.104), Vol.2, 270–274;
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst (wie Anm.108), T.2, 387–392; Hans Norbert Roisl, Theia und die ver-
suchte Durchbruchsschlacht in der Ebene des Sarno im Oktober 552, in: Jb. der Österreichischen Byzanti-
nistik 40, 1990, 69–82.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 623
Güter zurückkehren durften, um dort als Untertanen des Kaisers friedlich zu le-
ben.110 Diese Übereinkunft hielt freilich nicht lange: Als im folgenden Frühjahr ein
alemannisch-fränkisches Heer, angelockt durch die Aussicht auf Beute, die Alpen
überquerte, sagten sich die Goten Norditaliens vom Kaiser wieder los und schlos-
sen sich der Führung des Butilin und Leuthari an. Der Kriegerverband zog plün-
dernd bis zur Südküste Italiens und spaltete sich auf dem Rückweg; der eine Teil
wurde durch Seuchen dezimiert, der andere stellte sich Narses bei Capua zur
Schlacht und wurde vollständig besiegt (554).111 Im Jahr darauf ergab sich ein Teil
der Goten, der an diesem Plünderungszug teilgenommen hatte, Narses und trat an-
schließend in kaiserliche Dienste.112
Die Frage drängt sich auf, weshalb die Goten Justinian am Ende unterlagen. Pro-
kopios attestiert den Goten gravierende Defizite im Bereich militärischer Ausrüs-
tung und Taktik. Seiner Auffassung zufolge waren sie den kaiserlichen Truppen in
allen entscheidenden Belangen – in der offenen Feldschlacht, im Belagerungskampf
und im Seekrieg – aufgrund mangelnden Know-hows unterlegen.113 Der von ihm
geschilderte Verlauf des Krieges bestätigt dieses Urteil jedoch nur zum Teil, denn
Feldschlachten waren in diesem Krieg eine große Ausnahme. Auch wurden Städte
damals nur selten erstürmt, viel öfter ausgehungert oder durch List oder Verrat ein-
genommen. Das Fehlen einer schlagkräftigen Flotte war dagegen in der Tat ein gra-
vierendes Manko. Dass die Goten bis weit in die 540er Jahre hinein nicht über nen-
nenswerte Seestreitkräfte verfügten, war einer der Gründe, weshalb sie es lange Zeit
nicht vermochten, den Krieg in Feindesland zu tragen; erst Ende der 540er Jahre grif-
fen ihre Operationen über die italische Halbinsel hinaus nach Dalmatien, Sizilien,
Sardinien und Korsika, einmal nach sogar nach Korfu und Epirus.114 Vor allem aber
110 Agathias, Historien 1, 1, 1, dem hier gegenüber Prokopios, Gotenkriege 4, 35, 33–39 der Vorzug ge-
bührt; vgl. 1, 15, 7.
111 Agathias, Historien 2, 4–10; vgl. dazu Delbrück, Geschichte der Kriegskunst (wie Anm.108), T.2, 393–
399.
112 Agathias, Historien 2, 13–14. Vgl. dazu noch immer den freilich teilweise überholten Aufsatz von
Ludwig Schmidt, Die letzten Ostgoten, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften,
Jg. 1943, phil.-hist. Kl., Nr.10. Berlin 1943, 1–15; auch in: Ernst Schwarz (Hrsg.), Zur germanischen Stam-
meskunde. Aufsätze zum neuen Forschungsstand. (Wege der Forschung, 249.) Darmstadt 1972, 87–103.
113 Prokopios, Gotenkriege 1, 21–22, bes. 22, 1–9 (erste Belagerung Roms, 537); 1, 27, 24–29 (Goten haben
keine berittenen Bogenschützen); 2, 12, 1–24 (Belagerung von Rimini, 538); 4, 23, 29–40 (Seeschlacht bei
Ancona, 550).
114 Die gotische Seepolitik ist bislang nicht näher untersucht worden. Von einer gotischen Flotte wird
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624 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
hatte die Unterlegenheit zur See auch Auswirkungen auf die Kriegführung in Italien
selbst, weil die Goten für den Transport von Menschen und Gütern auf den Landweg
angewiesen waren. Die Truppen des Kaisers dagegen konnten mit Hilfe der Flotte
verhältnismäßig rasch über große Entfernungen verlegt und in Küstenstädten zu-
mindest zeitweise auch versorgt werden, wenn sie von der Landseite her einge-
schlossen wurden.115
Die tieferen Ursachen für die gotische Niederlage sind indessen in dem Umstand
zu finden, dass der Kaiser über ungleich größere Ressourcen verfügen konnte, weil
das Steueraufkommen Italiens zu jeder Zeit um ein Vielfaches geringer gewesen
sein dürfte als dasjenige des Imperium Romanum mit den reichen Provinzen Ägyp-
tens, Syriens und Kleinasiens.116 Gewiss hat Justinian zwischen 540 und 550 nur ei-
nen geringen Teil seiner Ressourcen in den Gotenkrieg investieren können, weil der
Perserkrieg eine Konzentration der Kräfte an der Ostgrenze des Reiches erzwang. So-
bald er jedoch im Osten wieder freie Hand bekam, erhielt der westliche Kriegsschau-
platz wieder die erste Priorität.117 Die Goten konnten zu keiner Zeit mehr als etwa
30000 Mann mobilisieren.118 Da die Anwerbung von Truppen außerhalb des eige-
nen Herrschaftsgebiets aus Geldmangel unmöglich und die Rekrutierung der im
Waffengebrauch ungeübten Bevölkerung militärisch sinnlos war – und zwar für
beide Seiten119 –, blieb das Heer der gotischen Könige trotz zahlreicher Überläufer
mit der gens Gothica im Wesentlichen identisch. Diese Streitkräfte reichten niemals
115 Dazu Delbrück, Geschichte der Kriegskunst (wie Anm.108), T.2, 399–410; Edward E. Thompson, The
Byzantine Conquest of Italy: Military Problems, in: ders., Barbarians and Romans (wie Anm.105), 77–91.
116 Zur wirtschaftlichen Leistungskraft dieser Regionen vgl. Wickham, Early Middle Ages (wie Anm.38),
759–824. Ob der Fiskus in Nordafrika schon in den 540er Jahren wieder mehr einnahm, als er ausgab, bleibt
schon wegen der unruhigen Ereignisgeschichte dieser Region ungewiss, die sich mittelfristig auf reduzier-
tem Niveau stabilisierte: ebd.720–728.
117 Prokopios, Gotenkriege 4, 26, 1–17.
118 So Hannestad, Forces militaires (wie Anm.48), 155–171. Liebeschuetz, The Romans Demilitarized (wie
Anm.105), 234f., kalkuliert das gotische Rekrutierungspotential zu Kriegsbeginn auf 40000 Mann.
119 Mit Recht betont von Liebeschuetz, Romans Demilitarized (wie Anm.105), 230–234. Belisar hielt Mi-
lizen für militärisch wertlos: Prokopios, Gotenkriege 1, 28, 18 + 29; 2, 3, 12–32, bes. 26–28. Bauernmilizen
ohne Wirkung: ebd.3, 22, 1–4; 20–21. Sklaven im Heer Totilas: ebd.3, 16, 14–15; 25 (Rede Totilas); vgl. Jus-
tinians „Pragmatische Sanktion“ für Italien: Novellarum Appendix 7, 15.
erstmals anlässlich der Belagerung Neapels (542) berichtet: Prokopios, Gotenkriege 3, 6, 24–26; vgl. 3, 13,
4–6 (2. Belagerung Roms, 546). 550 soll Totila eine Flotte von 400 kleinen und vielen großen Schiffen be-
sessen haben (ebd.3, 37, 7); in der Seeschlacht bei Ancona (551) setzten die Goten 37 große Schiffe ein. Am-
phibische Operationen nach Dalmatien (549): ebd.3, 35, 26–30; nach Sizilien (550): ebd.3, 37, 18–23 + 39,
1–5; nach Griechenland (550): ebd.4, 22, 17–30; nach Korsika und Sardinien (551): 4, 23, 9–42, bes. 8–12.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 625
aus, um den kaiserlichen Truppen entscheidende Schläge zu versetzen, zumal die
Goten im Nordwesten von den Franken bedrängt wurden: Totila hat die fränkische
Okkupation Venetiens anerkannt, weil er zu schwach war, sie zu verhindern oder
gar rückgängig zu machen.120 Schließlich musste sich auch die Tatsache, dass der
Krieg fast ausschließlich in Italien geführt wurde, zum Nachteil der Goten auswir-
ken, weil das Land durch die Kriegshandlungen verwüstet wurde und eine geregelte
Steuererhebung daher in vielen Provinzen wohl kaum noch möglich war. Die Ein-
nahmen Totilas dürften daher im Laufe der Jahre erheblich zurückgegangen sein.
Die Enteignung der Senatoren hat diesen Einnahmeausfall schwerlich kompensie-
ren können, zumal es schließlich gar keinen Apparat mehr gab, der diesen riesigen
Besitz hätte verwalten und dadurch für den König nutzbar machen können121; im
Übrigen bedeutete diese Maßnahme den Bankrott aller Versuche, die einheimi-
schen Eliten an den gotischen König zu binden.122 Eine Raubwirtschaft, wie sie von
Totilas Goten praktiziert wurde, zerstört die Grundlagen, von denen ein politischer
Verband zehrt, desto gründlicher, je länger sie andauert. Am Ende des römisch-goti-
schen Krieges waren weite Teile des Landes verödet, viele Städte verwüstet, Metro-
polen wie Mailand und Rom auf einen Bruchteil ihrer früheren Größe ge-
schrumpft.123 Der mobile Kriegerverband, der einst mit Theoderich nach Italien ge-
120 Prokopios, Gotenkriege 4, 24, 6–10; vgl. 3, 33, 7–8. Die gotische Provence war bereits 536 von Witigis
an die Franken abgetreten worden: ebd.1, 13, 14–29.
121 Konfiskationen: Prokopios, Gotenkriege 3, 6, 5; 13, 1; 22, 20. Die Tragweite dieser Maßnahmen haben
Hartmann, Geschichte Italiens (wie Anm.40), Bd. 1, 296–298, und Stein, Histoire du Bas Empire (wie
Anm.104), Vol.2, 568–571, besser erfasst als John Moorhead, Totila the Revolutionary, in: Historia 49, 2000,
382–386.
122 Massaker des Witigis an senatorischen Geiseln in Ravenna (536): Prokopios, Gotenkriege 1, 26, 1–2;
praefectus praetorio Reparatus bei der Eroberung Mailands getötet: ebd.3, 22, 39. Totila lässt Senatorinnen
frei, die ihm in Neapel in die Hände fallen (542): Prokopios, Gotenkriege 3, 6, 3. Nach der Eroberung Roms
(17. Dezember 546) begnadigt er die in Rom verbliebenen Senatoren: ebd.3, 20, 18–19; 21, 12–17. Beim Ab-
zug aus Rom zwingt er die Senatoren, ihn zu begleiten: ebd.3, 22, 18–19. Senatorische Geiseln in Kampani-
en 548 durch den kaiserlichen Feldherrn Johannes befreit: Prokopios, Gotenkriege 3, 26, 1–14; Marcellinus
Comes sub anno 548 (Chronica Minora II, S.108). Totila zwingt 550 die in Kampanien festgehaltenen Se-
natoren zur Rückkehr nach Rom: Prokopios, Gotenkriege 3, 37, 3; noch einmal: ebd.4, 22, 2–4. Teja bringt
die senatorischen Geiseln 552 um: ebd.4, 34, 1–8. Römische Senatoren in Konstantinopel: Cameron, Proco-
pius (wie Anm.85), 193–195. Die Politik des Witigis und seiner Nachfolger gegenüber dem Senat bedarf
weiterer Untersuchung; vgl. einstweilen Thompson, Byzantine Conquest of Italy: Public Opinion (wie
Anm.105), 104–109; Schäfer, Senat (wie Anm.42), 263–285.
123 Plünderung Mailands (539): Prokopios, Gotenkriege 2, 21, 1–42, bes. 39–40; Marcellinus Comes sub
anno 539 (Chronica Minora II, S.106); Marius Aventicus sub anno 538 (Chronica Minora II, S.236); dazu
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626 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
kommen war, hatte sich aufgelöst. Die Zahl der gefallenen Goten dürfte am Ende
10000 überstiegen haben. Wohl kaum weniger traten während des Krieges in den
Dienst des Kaisers und wurden darauf in den Osten des Reiches verlegt. Nach Been-
digung des Krieges sollen im Jahre 555 noch einmal 7000 gefangene Goten nach
Konstantinopel verbracht worden sein.124 Der Rest blieb in Italien und kehrte auf
seine Güter zurück. Ihre Spuren verlieren sich im Hochmittelalter.
V. Resümee
Theoderich übernahm im Jahre 474 von seinem Vater Thiudimir einen mobi-
len Kriegerverband. Dieser Kriegerverband war eine Gewaltgemeinschaft im
strengen Sinne. Sein Kern bestand aus kampfgeübten und kampfbereiten Män-
nern, sein innerer Zusammenhalt und sein wirtschaftliches Auskommen wurde
durch permanente Gewaltausübung gewährleistet; Beute und erpresste Zahlun-
gen waren die wichtigsten Einnahmequellen. Die Größe und Zusammensetzung
dieser Gewaltgemeinschaft war in dieser Phase starken Schwankungen unterwor-
fen, weil ihre Macht nicht ausreichte, um eine dauerhafte Anerkennung und öko-
nomische Absicherung durch den Kaiser zu erreichen. Ihre wirtschaftliche Exis-
tenz blieb daher stets prekär. Der Kaiser zahlte nur unregelmäßig Subsidien; Beu-
te, Schutz- und Lösegelder brachten kurzzeitig hohe Einnahmen, hielten aber nie
lange vor. Erst der Auftrag, den „Tyrannen“ Odovakar zu stürzen, verschaffte
Theoderich die Möglichkeit, die Ansprüche seiner Gefolgsleute dauerhaft zu be-
friedigen und zugleich sich selbst aus der Abhängigkeit vom übermächtigen Kai-
ser zu befreien.
In Italien gelang Theoderich die Umwandlung eines mobilen Kriegerverbands in
ein stehendes Heer. Seine Goten wurden durch Landbesitz wirtschaftlich abge-
sichert, blieben aber Krieger, deren Sozialisation und Ethos durch die Fähigkeit zur
124 Vgl. oben Anm.98. In Osimo, das sich Belisar 540 ergab (Prokopios, Gotenkriege 2, 27, 34), lagen 4000
auserwählte Goten (ebd.2, 11, 2). 7000 Goten in Campsae: Agathias, Historien 2, 13, 14. Goten im Gefolge
Belisars: ebd.2, 14, 1; 18, 24; 21, 4; 28, 35; 30, 30; 3, 1, 1.
Bury, History (wie Anm.104), Vol.2, 203–205. Rückeroberung Roms (546): Prokopios, Gotenkriege 3, 13–22,
bes. 3, 17, 9–25; 20, 14–31 (nur 500 Einwohner); 22, 19 (totale Entvölkerung); Marcellinus Comes, Addita-
mentum sub anno 547 (Chronica Minora II, S.108); Liber Pontificalis 61, 7 mit Bury, History (wie Anm.104),
Vol.2, 236–244; Stein, Histoire du Bas Empire (wie Anm.104), Vol.2, 578–584.
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H.-U. WIEMER, DIE GOTEN IN ITALIEN 627
wirksamen Gewaltanwendung bestimmt wurde. Nach dem Willen Theoderichs, der
sein Königtum als eine Herrschaft über zwei Völker deklarierte, sollte die Assimila-
tion der gotischen Krieger an ihre weitgehend kriegsuntüchtige Umwelt verhindert
und nicht etwa gefördert werden: Integration durch Separation. Diese Politik ermög-
lichte Theoderich den Kompromiss mit den einheimischen, in hohem Maße demi-
litarisierten Eliten, namentlich dem Senatorenstand, dessen Privilegien er konser-
vierte. Dank ihrer keineswegs uneigennützigen Mithilfe verfügte er über die wohl
effektivste Maschinerie zur Aneignung und Verteilung von Ressourcen, die Europa
vor dem 17.Jahrhundert gekannt hat: die spätrömische Steuerverwaltung, die ihn
zum reichsten Herrscher barbarischer Herkunft machte. Die Umwandlung des goti-
schen Kriegerverbandes in ein stehendes Heer eröffnete freilich ein weites Feld für
die Entstehung rivalisierender Gefolgschaften und Machtansprüche. Wie es
scheint, hat Theoderich diese zentrifugalen Kräfte jedoch bis zu seinem Lebensende
zu bändigen vermocht, wofür neben seinem Reichtum vor allem sein alles überra-
gender Erfolg verantwortlich sein dürfte.
Theoderich versuchte vergeblich, das Charisma, das er aufgrund seines Erfolgs
besaß, auf seine Nachfolger zu übertragen. Nach seinem Tode gewann der gotische
Adel zeitweilig die Oberhand über das Königtum: Unter dem Druck der römischen
Invasion wurden in den Jahren 535 bis 541 nicht weniger als vier Könige abgesetzt
oder beseitigt. Als sich unter König Totila erneut militärische Erfolge einstellten,
stabilisierte sich auch das Königtum wieder. In der ersten Phase des Krieges ver-
mochten die Goten den Truppen des Kaisers keinen entschiedenen Widerstand zu
leisten; viele waren bereit, den Frieden durch die Abtretung Italiens südlich des Po
zu erkaufen. Als sich jedoch abzeichnete, dass ihnen dasselbe Schicksal drohte, das
fünf Jahre zuvor die Vandalen getroffen hatte – ohne ihre Familien in den Orient
deportiert zu werden –, besannen sie sich auf ihre alten Tugenden, wählten mit To-
tila einen fähigen Anführer zum König und leisteten den kaiserlichen Truppen für
mehr als ein Jahrzehnt erbitterten Widerstand. Auf die Dauer jedoch war es un-
möglich, die strukturelle Unterlegenheit im Bereich der Ressourcen gegenüber
dem Imperium Romanum zu kompensieren. Das stehende Heer Theoderichs ver-
wandelte sich unter Totila zurück in einen mobilen Kriegerverband, der für seine
Versorgung zunehmend auf Requisitionen angewiesen war; die eigene Bevölke-
rung wurde behandelt, als befinde man sich in Feindesland. Diese Raubwirtschaft
bedeutete das Ende der Kooperation mit den einheimischen Eliten und war auf die
Dauer auch ökonomisch dysfunktional. Als die gotischen Krieger erkennen muss-
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628 Historische Zeitschrift // BAND 296 / 2013
ten, dass der Krieg gegen den Kaiser nicht zu gewinnen war, trat ein Teil von ihnen
in den Dienst des Kaisers, ein anderer zog sich auf seine Güter zurück.
Zusammenfassung
Die Geschichte Theoderichs und seiner Goten wird in der Geschichtswissen-
schaft seit den 1960er Jahren vor allem unter dem Aspekt der Ethnogenese und Eth-
nizität betrachtet; wie andere Ethnien der Völkerwanderungszeit gelten sie als sozi-
ale Gruppen, für die ein spezifisches Identitätsbewusstsein konstitutiv war. Der vor-
liegende Aufsatz nimmt eine andere Perspektive ein: Er betrachtet die Goten, als de-
ren Anführer Theoderich sich zum Herrscher über Italien aufschwang, als eine Ge-
waltgemeinschaft: als einen Verband, der nicht bloß im Kern aus waffenfähigen und
kampfgeübten Männern bestand, sondern durch die kollektive Ausübung und/oder
Androhung von Gewalt entstanden war und zusammengehalten wurde. Beute und
Subsidien waren unabdingbar für die soziale Kohäsion und ökonomische Subsis-
tenz der Gruppe. Untersucht wird zum einen die Frage, wie es Theoderich gelang,
diese Gewaltgemeinschaft in sein Königreich zu integrieren: Er verwandelte sie in
eine Klasse von Grundeigentümern, welche die Aufgabe eines stehenden Heeres er-
füllte, aber von der Zivilbevölkerung getrennt bleiben sollte – Integration durch Se-
paration. Zum anderen wird analysiert, wie dieses ethnisch definierte Heer im Laufe
des römisch-gotischen Krieges wieder zu einer Gewaltgemeinschaft wurde und sich
in dessen Verlauf schließlich auflöste.
Die vorstehenenden Ausführungen stellen die überarbeitete und um Anmerkungen erweiterte Fassung
des Vortrags dar, den ich im April 2011 in der Gießener Ringvorlesung „Gewaltgemeinschaften“ gehalten
habe. Ich danke dem Auditorium, insbesondere Stefan Tebruck, für die anregende Diskussion, Guido M.
Berndt für Hilfe bei der Ausarbeitung der Druckfassung, Hartmut Leppin und Uwe Walter für konstruk-
tive Kritik sowie Agnes Luk für die sorgfältige Korrektur des Manuskripts.
Prof. Dr. Hans-Ulrich Wiemer, Friedrich-Alexander-Universität, Historisches Institut, Lehrstuhl für Alte
Geschichte, Kochstraße 4/BK 8, 91054 Erlangen
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