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Die größte empanada der Welt

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Die größte Empanada der Welt

Johannes Merkel

Erst einmal sollt ihr wissen, was eine Empanada ist. Empanadas gibt es auch in Chile oder in Argentinien,

das sind dort kleine Teigtaschen mit einer Füllung aus Gemüse und Fleisch. Aber ich meine hier die

Empanada, wie man sie in Galizien kennt. Galizien ist eine Landschaft in Spanien. Und die Empanada, die

man dort backt, müsst ihr euch vorstellen wie eine Art Pizza Calzone: Unten eine Schicht Teig, darüber

Thunfisch und Kraut oder auch Fleischstücke und Kraut, und oben drüber wieder eine Schicht Teig.

Gebacken wird die Empanada auf großen Blechen, man schneidet sie dann auf dem Blech in Stücke, um

sie zu verteilen.

In Galizien habe ich einen guten Freund in Galizien, der heißt José Lois, arbeitet als Lehrer und er hat mir

diese Geschichte erzählt. Ob sie wirklich so passiert ist, weiß ich nicht, aber ich denke, wenn sie nicht

wahr wäre, hätte er mir sie ja sicher nicht erzählt. Jedenfalls erzähle ich sie euch genau so, wie ich sie

von ihm gehört habe.

Die Geschichte, die er mir erzählte, geht so: Mein Freund hat eine Tante mit einem seltsamen Namen, sie

heißt nämlich Obtulia und wohnt in einem kleinen Dorf. Für das Dorffest backte die Tante jedes Jahr eine

große Empananda, um sie zusammen mit den Nachbarn zu essen. Und auch in dem Jahr, in dem die

Geschichte spielt, machte sich die Tante daran, eine Empanada backen. Und dazu muss ich euch noch

sagen, Obtulia hatte die Angewohnheit, mit allem und jedem zu reden, nicht nur mit Menschen, genauso

auch mit Tieren oder irgendwelchen Sachen. mit denen sie gerade hantiert. Ihr müsst euch das so

vorstellen: Während sie etwas Milch lauwarm macht, etwas Zucker dazu gibt und dann die Hefe

zerbröckelt und einstreut, tut sie, als würde sie die Hefe anreden: "Siehst du wohl, ich hab dir die Milch

gesüßt. Das wird dir schmecken. Damit du gleich etwas hast, um zu arbeiten." Wenn die Hefe zu arbeiten

beginnt, rührt sie mit Mehl einen Teig an, knetet ihn sorgfältig durch und sagt dabei: "Das weißt du ja,

mein Lieber, Kneten ist das Geheimnis jedes gelungenen Teiges. Und so wie du wird kaum ein Teig

durchgeknetet, das kannst du mir glauben. Du wirst dich wundern, wie rasch du jetzt gleich aufgehen

wirst." Und damit gibt sie den Bollen Teig in eine Schüssel, deckt ihn mit einem Küchentuch ab und stellt

die Schüssel auf einen Hocker neben dem Herd, der vom Kochen noch warm ist. "So mein Lieber, hier

hast du ein warmes Plätzchen. da kannst du schön aufgehen!"

So macht sie das schon seit vielen Jahren, und so hat sie es sicher auch in dem Jahr gemacht, in dem

unsere Geschcihte spielt.

Aber zum Dorffest gehört nicht nur eine Empanada, sondern auch ein sauberes Haus. Als gute Hausfrau

wollte sie die Zeit, bis der Teig gegangen war, zum Putzen nutzen. Aber was musste sie bemerken, als sie

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eine halbe Stunde später nach dem Teig schaute? Der war kein bisschen aufgegangen. "Hast du es

vielleicht nicht warm genug?" fragte sie und stellte den Teig auf die Herdplatte, die vom Kochen noch

warm war: "So, hier hast du es wärmer. Jetzt tu mir den Gefallen und geh schön auf!"

Aber von wegen! Als sie wieder nach dem Teig sah, war er kein bisschen aufgegangen. "Nun sag mir nur,

hast du es vielleicht auch auf dem Herd nicht warm genug?" fragte die Tante. "Möchtest du lieber vor

der Haustür in der warmen Sonne sitzen?" Der Teig blieb so stumm wie zuvor, aber das machte ihr nichts

aus. Sie stellte den Teig vor der Haustür in die pralle Sonne.

Diesmal machte sie sogar zwei Zimmer sauber, ehe sie wieder nach ihm schaute. Aber auch dann war

dieser Teig kein bisschen aufgegangen. Andere wären vielleicht sauer gewesen und hätten den faulen

Teig gegen die Wand geklatscht. Aber die Tante war eine gutmütige Person. Sie sagte nur: "Ach, mach

doch, was du willst! Wenn du keine Lust hast aufzugehen, bestell ich meine Empanada dieses Jahr eben

beim Bäcker". Und damit trug sie die Schüssel in die Küche zurück, stellte sie auf den Küchentisch und

ging zum Dorfbäcker, um ein Bleck Empanada zu bestellen.

Als sie zurückkam, hatte sie den faulen Teig schon fast vergessen. Sie wollte nur eben einen Putzeimer in

der Küche in den Abguss kippen, da bemerkte sie, dass der Teig inzwischen aufgegangen war und das

gar nicht wenig, er quoll sogar schon über den Schüsselrand. "Na, bittesehr! Es geht doch! Das hast du

großartig gemacht," staunte sie. "Aber jetzt ist es genug. Das reicht mir für gut drei Bleche. Jetzt darfst

du aufhören aufzugehen."

Aber glaubt ihr vielleicht, der Teig hätte jetzt damit aufgehört? Im Gegenteil! Die Tante lief nur rasch zum

Dorfbäcker, um die Bestellung wieder abzusagen Als sie in die Küche zurückkam, um den Teig auf die

Bleche zu breiten, da bedeckte der Teig schon den ganzen Tisch. "Ist ja schon gut! Aber man kann es

auch übertreiben," meinte die Tante. "Nun aber sei so lieb und hör auf, weiter aufzugehen!"

Was sollte sie mit diesen Mengen Teig anfangen? "Halb so schlimm," dachte sie, "ich kann ja meine

Nachbarin davon abgeben." Deshalb lief sie gleich los, der Nachbarin Teig anzubieten. Aber als sie in die

Küche zurückkam, kriegte sie kaum noch die Küchentür auf. Sie musste sich mit aller Kraft dagegen

stemmen, denn dieser Teig war inzwischen derart aufgegangen, dass er die ganze Küche ausfüllte. Bei

aller Gutmütigkeit, aber das fand Tante Obtulia doch etwas übertrieben: "Alles, was recht ist, aber du

verstopfst mir doch die ganze Küche! Wie soll ich denn noch an den Herd herankommen, um das Blech in

den Backofen zu schieben. Auf der Stelle hörst du auf, weiter aufzugehen!"

Aber der Teig dachte gar nicht dran aufzuhören. Da ging die Tante mit dem Küchenmesser auf den Teig

los und versuchte ihn zu zerschneiden. Aber der Teig ging viel schneller auf, als sie ihn zerschneiden

konnte. Er wuchs und wuchs, drängte sie schließlich sogar zur Küchentür hinaus.

Das wurde der Tante nun doch zu bunt. "Bist du denn vollkommen verrückt geworden? Wozu, glaubst

du, hab ich eben das ganze Haus geputzt? Nur dass du es mir jetzt wieder einsaust?" Aber meint ihr,

dieser verrückte Teig hätte wenigstens jetzt auf die Tante gehört? Keine Spur! Der ging auf, was er

aufgehen konnte, und vertrieb die arme Frau schließlich sogar aus ihrem eigenen Haus.

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Da stand sie auf der Straße und rief: "Hilfe! Mein Teig lässt mich nicht mehr in mein eigenes Haus rein!"

Das hörten die Nachbarn und dachten: "Was soll der Quatsch? Was ist nur in diese Obtulia gefahren?"

Aber dann sahen sie den Teig aus der Haustür quellen und kamen ihr zu Hilfe. Sie nahmen Hacken und

Schaufeln und versuchten, den Teig zu zerhacken und wegzuschaufeln. Aber der Teig ging schneller auf,

als sie hacken und schaufeln konnten, wälzte sich vors Haus hinaus und versperrte jetzt sogar die

Dorfstraße.

In diesem Augenblick kam mein Freund José Lois im Auto ins Dorf gefahren, um seine Tante zu besuchen.

Er fuhr um die Kurve und raste direkt in den Teigberg. "Auf einmal höre ich ein dumpfes Geräusch und

plötzlich ist es stockdunkel," erzählte er. Er versuchte auszusteigen, aber er kriegte die Fahrertür gar

nicht mehr auf. Klug wie er ist, legte er den Rückwärtsgang ein. Zwar klebte der Teig am Auto und zog

sich in die Länge, aber schließlich kam er heraus und sah das Tageslicht wieder. Auch die Tür ließ sich

jetzt wieder öffnen, er stieg aus und fragte: "Was ist denn hier los?"

Tante Obtulia stand vor dem Teigberg und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Wenn ich das

nur wüsste! Ich wollte doch nur eine Portion Teig für die Empanada vorbereiten und ich sagte doch nur:

'Nun geh mal schön'. Aber der Teig wollte und wollte nicht gehen. Da sagte ich: 'Ach mach doch, was du

willst'. Aber seitdem geht der auf wie verrückt und hört mir einfach nicht mehr auf zu gehen."

"Na, so was!" meinte mein Freund. Als Lehrer hat der gelernt, mit Leuten umzugehen. "Der scheint ja

immer genau das zu machen, was du nicht willst. Vielleicht solltest du ihm mal das Gegenteil von dem

sagen, was du wirklich willst."

"Und du meinst, das hilft?" fragte die Tante. "Ich kann es ja mal probieren." Sie stellte sich vor den

Teigberg und rief: "Vielleicht hast du jetzt endlich die Güte ordentlich aufzugehen! Was soll ich denn mit

diesen drei Handvoll Teig anfangen?"

"Ob ihrs glaubt oder nicht," erzählt José Lois. "Augenblicklich hörte der Teig zu gehen auf und sackte

plötzlich in sich zusammen, als wenn die Luft draus entweichen würde." Da fiel der Tante und mit ihr

allen Nachbarn ein Stein vom Herzen. Die hatten ja schon gefürchtet, ihr ganzes Dorf könnte in einem

Hefeteig verschwinden. Aber so erleichert sie jetzt auch waren, so ratlos waren sie, was sie jetzt mit

diesem Teigberg anfangen sollten. Der versperrte die Durchfahrt durch ihr Dorf, und das konnte doch

nicht so bleiben.

Habt ihr einen Vorschlag, was sie damit machen könnten? Den Teig aufessen? Unmöglich, frischen Teig

essen macht Bauchweh. Den teig an die Nachbarn verteilen, um damit Empananda zu backen? Dazu war

es doch viel zu viel Teig. Auf die Müllhalde fahren? Dafür hätten die Nachbarn doch die Abfuhr bezahlen

müssen, das wollten sie lieber vermeiden.

Schließlich hatte mein Freund einen Vorschlag: Zwischen dem Dorf der Tante und der Nachbargemeinde

war doch gerade eine Brücke gebaut worden, die noch gar nicht freigegeben war. Aber die Bauarbeiter

waren da noch mit Baggern und Lastwagen am Arbeiten. Darum fuhren sie auf die Baustelle und

überredeten die Arbeiter, den Teigberg abzutragen. Mit einem Schaufelbagger beluden sie einen

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Lastwagen voll Teig und fuhren sie weg. Ja, aber wohin sollten sie diese Massen Teig bringen? Schließlich

fanden sie die Lösung: Sie packten eine Lage Teig auf die frisch gebaute Brücke, glätteten ihn mit der

Straßenwalze, kippten eine Ladung Thunfisch und eine Ladung Kraut drauf und oben drüber eine zweite

Lage Teig. Diese Brücke führte nur über einen kleinen Bach, daneben gab es Platz, um große Feuer

anzuzünden. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht schürten sie dort große Feuer. Das Feuer wärmte

die Brücke und am nächsten Tag gegen Abend begann die Empanada braun zu werden. Da luden sie die

Leute aus dem Nachbardorf und ein, und natürlich auch dioe Bauarbeiter, beschafften noch ein Fass

Wein und dann begannen die einen an einem, die andern am andern Ende der Straße zu essen.

Um mit der Empanada fertig zu werden, verlängerten sie in diesem Jahr das Dorffest. Es dauerte ganze

drei Tage, bis sie sich mitten auf der Brücke trafen und das letzte Stück Empanada verzehrten. Das hatte

aber eine Folge, die sie alle nicht bedachten: Sie hatten sich nämlich derart an Empananda übergessen,

dass dort bis heute dort kein Mensch mehr eine Empanada sehen, geschweige denn essen mag. Und

selbst die Tante hat seitdem zum Dorffest nie mehr eine Empanada g