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Die Katastrophen-Welt

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Seit der Veröffentlichung seiner ersten Stories überJames Retief, den Diplomaten der Galaxis, gehörtKeith Laumer zu den international erfolgreichsten SF-Autoren.

Sein vorliegender Roman hat die Erde der nahen Zu-kunft zum Schauplatz. Und diese Erde ist

DIE KATASTROPHENWELT

Tektonische und geologische Veränderungen habenden Planeten aus dem Gleichgewicht gebracht undauf allen Kontinenten Chaos und Vernichtung aus-gelöst.

Doch schlimmer noch: Die Überlebenden der Kata-strophe müssen sich einer Macht aus dem Dunkelerwehren, deren Sendboten gnadenlos vorgehen. Sietöten jeden, der ihrem Streben nach der Weltherr-schaft im Wege steht.

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TTB 284

KEITH LAUMER

DieKatastrophenwelt

ERICH PABEL VERLAG KG · RASTATT/BADEN

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

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Titel des Originals:CATASTROPHE PLANETAus dem Amerikanischen

von Lore Strassl

TERRA-Taschenbuch erscheint vierwöchentlichim Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt

Copyright © 1966 by Keith LaumerDeutscher Erstdruck

Redaktion: G. M. SchelwokatVertrieb: Erich Pabel Verlag KG

Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, LeckVerkaufspreis incl. gesetzl. MwSt.

Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehenund nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet

werden; der Wiederverkauf ist verboten.Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:

Waldbaur-Vertrieb, Franz-Josef-Straße 21, A-5020 SalzburgNACHDRUCKDIENST:

Edith Wöhlbier, Burchardstr. 11, 2000 Hamburg 1,Telefon 0 40/33 96 16 29, Telex: 02/161 024

Printed in GermanyFebruar 1977

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1.

Ich fuhr den Turbo gleichmäßig mit zweihundert-fünfundzwanzig Sachen über das, was einmal dieInterstate 10 gewesen war. Meine Augen klebten ander aufgebrochenen Straße, um durch den Staub undvulkanischen Smog nur ja keine Spalten zu überse-hen, die zu breit zum Überspringen waren. Ich hatteGlück gehabt in Dallas, als ich ihn fand. Er war so gutwie neu und brauste sanft auf seinem 70-Zentimeter-Luftkissen dahin. Der einzige Schönheitsfehler wardas aufgebrochene Türschloß, aber es war mir keineZeit geblieben, nach dem Eigentümer zu suchen. Dieselbsternannte Schutzwache, die sich Nationalgardenannte, hatte die unangenehme Angewohnheit, erstzu schießen und dann Fragen zu stellen. Sicher, ichhatte mich auf nicht ganz legale Weise in einem Waf-fengeschäft eingedeckt – aber dem Besitzer wäre esohnehin gleichgültig gewesen. Er und fast alle ande-ren Bürger hatten die Stadt vor meiner Ankunft be-reits verlassen, und ich brauchte unbedingt eineSchußwaffe. Ich wählte mir eine .38er Smith undWesson aus, die gut in der Hand lag.

Zu meiner Rechten dampften niedrige Vulkankegelund schienen sich auf die nächste Runde vorzuberei-ten. Ich hielt mich, so nahe die Straßen es erlaubten,an der Linie des tektonischen Aufruhrs, der entlangder Golfküste verlief, von der Stelle, wo New Orleansgestanden hatte, bis zur seichten See, die Nordfloridagewesen war. Ehe ich Atlanta erreichte, mußte ichmich entschieden haben, ob ich mich entweder in dierelative geologische Sicherheit der Appalachen – die

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allerdings von Flüchtlingen überlaufen und wo Nah-rung und Wasser bereits knapp waren – zurückzie-hen oder südwärts weiterfahren sollte, quer über dieFloridasee zu der großen Insel, Südflorida genannt,die Tampa, Miami, Key West und eine Menge stinki-gen Sandes umfaßte, der bis vor ein paar Monatennoch Meeresgrund gewesen war.

Ich war schon jetzt ziemlich sicher, daß ich michfür den Süden entscheiden würde, wo ein noch eini-germaßen unbeschwertes Leben herrschte und wovon Palm Beach sogar noch Tanzmusik zu empfan-gen war. Wenn der Planet schon auseinanderbrach –ich konnte doch nichts dagegen tun, also wollte ichdas Leben noch bis zur Neige auskosten.

Ein Städtchen kam in Sicht. Ich mußte den Ruineneines Farmhauses ausweichen, die der Wind mittenauf der Straße abgeladen hatte. Kurz danach ließ ichmeinen Turbo über einen gut einen Meter breitenSpalt springen, der sich in Schlangenlinien bis zurStadt hinzog.

Es war Spätnachmittag. Kein einziges Gebäudeüber zwei Stockwerk stand mehr, und die Straßenwaren mit allem möglichen bedeckt – von Stühlen,Tischen und Betten angefangen bis zu Säcken mit ver-faulten Kartoffeln. Es sah aus, als hätte eine der Flut-wellen zu Ende gebracht, was Erdbeben und Feuerangefangen hatten.

Drei Blocks östlich von der Hauptstraße fand ich,was ich suchte – einen Supermarkt. Ich senkte denWagen auf ein einigermaßen freies Fleckchen herabund wartete, bis der Staub sich gesetzt hatte. Ichschob mir die Atemmaske über das Gesicht, kletterteheraus und streckte meine steifen Beine aus.

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Als ich den Bürgersteig erreichte, hob sich der Bo-den unter mir und – sosehr ich auch mein Gleichge-wicht zu halten versuchte – ich fiel auf die Nase. EinKrach wie von einem Artilleriebeschuß, und dasStück Straße unter mir hüpfte einfach davon. Ichstützte mich auf Hände und Knie, aber schon lag ichwieder ausgestreckt auf dem Boden, der schwabbeltewie der Hüftspeck einer Negermama.

Endlich erstarb das Rumpeln und Grollen, obgleichimmer noch ein paar Häuser hinter mir wie im Zeit-lupentempo zusammenfielen.

Meine erste Sorge war der Wagen. Er stand auf deranderen Seite eines etwa zwei Meter breiten Spalts.Die Entfernung hätte ich durch einen Sprung schaffenkönnen, wenn meine Knie nicht weich wie Gummigewesen wären. Ich brauchte ein Brett, das ich alsSteg verwenden konnte. Durch den wirbelnden Staubkämpfte ich mich in ein Textilgeschäft, wo ich einbreites Holzregal noch mehr zerlegte, als es das Be-ben bereits getan hatte. Das Brett, das ich so gewann,war gerade richtig.

Ich schleifte es über den Bürgersteig, da hörte ichaus der glaslosen Tür eines Lebensmittelgeschäfts einStöhnen. Ich stellte das Brett ab und griff nach meiner.38er. Vorsichtig steckte ich den Kopf durch die Tür.Viel mehr als zerbrochene Regale, zersplitterte Fla-schen und volle Dosen konnte ich von hier aus jedochnicht sehen.

»Wer ist da?« rief ich. Etwas rührte sich in derDunkelheit des hinteren Raumes. Selbst durch meineAtemmaske schlug mir der Gestank verfaulter Le-bensmittel entgegen.

»Komm heraus!« brüllte ich, aber es tat sich nichts.

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Ich hörte keuchendes Atmen und stieß mit dem Fußdie ohnehin schon zerstörte Tür zum Hinterzimmerauf. Ein Mann saß auf dem Boden, mit dem Rückenzur Wand. Sein Schoß war mit Stücken von der Deckeund mit Glasscherben bedeckt. Ein schweres Spül-becken lag auf seinen Beinen unterhalb der Knie. SeinGesicht wirkte ölig-bleich, seine Augen waren weitaufgerissen und die Bartstoppeln bestimmt schon ei-nen halben Zentimeter lang. Einige Glieder fehltenvon mehreren Fingern seiner klauenähnlichen Lin-ken, die eine .45er genau auf mein Knie gerichtethielt. Ich stieß sie ihm mit dem Fuß aus der Hand.

»War nicht notwendig«, murmelte er kaum ver-ständlich.

Ich packte das Spülbecken und zerrte es mit größ-ter Mühe hoch. Wasser sickerte heraus. Der Mannwimmerte, und sein Kopf rutschte zur Seite. Ichbrauchte gut fünf Minuten, bis ich ihn frei hatte. Erstank, als sei er schon seit einer Woche tot.

Mit meinem Pfadfinderdolch schnitt ich ihm dieHose auf, um seine Beine zu untersuchen. Sie warenbeide mehrfach gebrochen, aber die Wunden warenauf jeden Fall bereits ein paar Tage alt. Es war alsonicht erst das letzte Beben gewesen, das ihn erwischthatte.

»Wie lange haben Sie schon hier gelegen?«»Ich weiß nicht. Vielleicht eine Woche.«»Ich hole Ihnen Wasser.«»Hatte genug – Wasser. Dosen auch – nur keinen

Öffner. Die Ratten waren das Schlimmste.«»Das ist jetzt vorbei. Wie wär's mit etwas Eßba-

rem?«»Sorgen Sie sich nicht um mich. Sehen Sie zu, daß

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Sie fortkommen. Es ist arg hier. Alle paar Stunden einBeben. Das letzte weckte mich auf ...«

»Sie brauchen etwas zu essen.«»Sinnlos, Mister. Ich habe auch innere Verletzun-

gen. Schmerzt zu sehr, wenn ich mich bewege. Ver-schwinden Sie, solange Sie es noch können.«

Ich öffnete die nächstbeste Dose – Bohneneintopf.Er schüttelte abwehrend den Kopf. »Gehen Sie jetzt.Aber lassen Sie mir meine Pistole da.«

»Sie werden sie nicht brauchen ...«»Ich werde es doch.« Seine Stimme klang nun

schneidend. »Ich hätte sie schon für mich benutzt –aber ich hoffte, sie würden mich finden. Dann hätteich ein paar von ihnen mitnehmen können.«

»Vergessen Sie es, Alter. Sie ...«»Keine Zeit zur langen Unterhaltung. Sie sind hier

– hier in Greenleaf. Ich habe sie kurz zuvor noch ge-sehen.« Seine Augen wirkten besorgt. »Haben Sie ei-nen Wagen?«

Ich nickte.»Sie werden ihn sehen. Haben es vielleicht schon.

Schnell! Fahren Sie weg!«Ich nahm die Messerklinge, um ihm Eintopf einzu-

flößen. Er wandte das Gesicht ab.»Essen Sie, Seemann, es wird Ihnen gut tun.«»Woher wissen Sie ...«Ich deutete auf den Wappenring der Marineaka-

demie.»Ich hätte ihn abnehmen und wegwerfen sollen«,

murmelte er, »aber ...« Wieder wandte er schnell dasGesicht ab, als ich ihn füttern wollte. »Ich kann nichtessen«, protestierte er. »O Gott, der Schmerz ...«

Ich warf die Dose zur Seite. »Ich schaue nach dem

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Wagen«, brummte ich. »Dann komme ich zurück undhole Sie.«

»Hören Sie«, krächzte er. »Sie glauben vielleicht,ich plappere im Fieberwahn, aber ich weiß genau,was ich sage. Sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen –sofort! Es ist keine Zeit, es Ihnen zu erklären. Ver-schwinden Sie!«

Ich achtete nicht mehr auf ihn, sondern trat auf dieStraße hinaus und schob mein Regalbrett über denSpalt. Es war eine wacklige Brücke, und ich wagtemich nur auf allen vieren darüber. Als ich mich gera-de aufrichten und auf festeren Boden steigen wollte,sah ich eine Bewegung geradeaus. Mein Wagen standetwa zehn Meter weiter und war dick mit Schutt undStaub bedeckt. Ein Mann schlich vorsichtig darumherum, dann wischte er ein Stück der Windschutz-scheibe frei und spähte ins Innere. Er fand denÖffnungsmechanismus und drückte darauf.

In diesem Augenblick entdeckte er mich. Er zog ei-nen Revolver aus der Tasche und feuerte auf mich.Die Kugel schlug irgendwo hinter mir ein. Zwei wei-tere Schüsse knallten, noch ehe das Echo des erstenSchusses verklungen war – und das alles in nichtganz einer Sekunde. Ich umarmte das Brett hinter mirmit der Linken und holte mit der Rechten meine .38erheraus, als ein vierter Schuß Zentimeter vor meinerNase einschlug. Ich blinzelte durch den Staub, nahmmir die schwarze Krawatte des Schießwütigen zumZiel und zog ab. Sein Revolver spuckte ein fünftesMal, gerade als meine Kugel traf. Er taumelte zu Bo-den und blieb tot neben dem Wagen liegen.

Ich steckte meine .38er wieder ein und sah ihn miraus der Nähe an. Ich schätzte den Kerl auf etwa vier-

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zig. Er trug überhaupt nichts bei sich.Der Seemann blickte mir mit stumpfen Augen ent-

gegen. »Ich hab' Ihren Freund getroffen«, erklärte ichihm heiser.

»Es ist Ihnen nichts geschehen?« keuchte er be-sorgt.

»Er war nicht gerade ein guter Schütze – und ichhatte keine Wahl«, brummte ich.

»Verschwinden Sie jetzt endlich«, drängte der Alte.»Es sind noch mehr ...«

»Ich habe ihn umgebracht«, murmelte ich. »EinSchuß, ein Toter.« Ich starrte auf die Pistole an meinerHüfte. »Die Welt bricht auseinander – und ich fangean, andere zu töten.« Ich blickte den Seemann an.»Wer war er?«

»Vergessen Sie ihn! Hauen Sie ab!«Ich fletschte die Zähne. »Ich werde keine Ruhe ge-

ben, bis ich es weiß. Was machte er hier? Weshalbwar er hinter Ihnen her? Warum schoß er auf mich?Wer war er?«

»Also gut«, ächzte der Alte. Sein Gesicht sah auswie das einer Mumie. »Ich sage es Ihnen. Aber Siewerden mir nicht glauben.«

Er machte eine Pause, um Atem zu holen, dann be-gann er. »Es war vor fast einem Jahr, im Herbst '90.Ich war im Satellitendienst, auf der Sheppard-Plattform, als die Beben anfingen. Wir haben es allesvon dort oben gesehen – den Rauch auf der Tagseiteund die Feuer der Nacht. Wir erhielten den Befehl,die Station zu räumen – ich weiß immer noch nicht,weshalb.«

»Druck von Moskau«, erklärte ich ihm. »Sie bilde-ten sich ein, wir wären schuld.«

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»Ja, überall war Panik ausgebrochen. Wir hattenPech bei der Landung. Nur drei überlebten, ich wareiner davon. Man brachte mich nach Washington –schrecklich, Ruinen, Feuer ...«

»Das ist mir alles bekannt. Wer war der Mann, denich erschoß?«

Er achtete gar nicht auf mich. »Ich erstattete Be-richt. Von Feindeinwirkungen keine Spur, MutterNatur schaffte es ganz allein. Es war ein Professordort, der alles genau darlegte. Die Erdkruste ver-schiebt sich. Die Eiskappe am Südpol wuchs an undbrachte das Ding ins Rollen. Erdstöße sorgten dafür,daß die Litosphäre zum Rutschen kam. Sie hatte sichbereits um mehr als siebzig Kilometer verschoben,sagte er, und schätzte, daß sie erst bei etwa sechzehn-hundert wieder einigermaßen ins Gleichgewicht kä-me. In etwa zwei Jahren ...«

»Ich lese auch die Zeitung«, brummte ich ungedul-dig. »Das heißt, ich tat es, solange es welche gab.«

»Admiral Conaghy schlug vor, daß wir die Eiskap-pe sprengen, fünfzig Super-H-Bomben würden dazugenügen. Protest der Russkis, natürlich. Viel mehrhab' ich nicht mehr mitgekriegt. Aber jedenfalls hieltder Wissenschaftler es für die einzige Lösung.« DerAlte keuchte heftig und wischte sich den Schweiß vonder Stirn. »Da kam Hayle mit seinem Plan – Operati-on Entfrostung. Ein Geheimkommando sollte die Eis-kappe in die Luft jagen. Trotz beträchtlichen Wider-stands setzte er sich durch. Ich gehörte zu seinemStab.«

»Aber Vizeadmiral Hayle kam doch Anfang '90von einer Orbitmission nicht zurück«, warf ich ein.

»Das Gerücht setzten wir selbst in Umlauf. Am

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Weihnachtsmorgen stachen wir mit zwei Schlacht-kreuzern in See, der Maine und der Pearl.«

»Sie gingen mit dem U-Boot-Stützpunkt Guamunter.«

»Nein, wir hatten sie, und dazu ein Dutzend klei-nere Schiffe mit insgesamt dreitausend Mann. Es warein Großeinsatz. New York existierte schon nichtmehr, genausowenig wie Boston, Philadelphia undder größte Teil der Ostküste.«

»Der Mann mit dem Revolver«, brachte ich mich inErinnerung. »Was hat er damit zu tun?«

Wieder ignorierte er mich völlig. »Unser Ziel wardie Pensacola Range im Königin-Maude-Land. Wirsollten Löcher ins Eis bohren und heiße Luft hinun-terpumpen, um in bestimmter Tiefe eine flüssigeSchicht zu schaffen. Wir bauten Lager auf und fingenan. Ich hatte den Nordteil – sechs Bohrstellen, dieüber fünfundsechzig Kilometer klarsten Eises verteiltwaren. Es ging alles gut voran, pro Tag schafften wiretwa achtzig Meter. Am einunddreißigsten Tag er-hielt ich einen dringenden Anruf von Station IV. Ichfuhr mit meiner Schneekatze hin. Trench, der dort dasKommando hatte, war furchtbar aufgeregt. Er sagte,sie hätten Gestalten im Eis gesehen. Er nahm mich imMinenlift mit, und ich sah es selbst, etwa fünfzigMeter vom Lift entfernt – es war etwas Größeres – einElefant, ein Mastodon ...«

»Na und? Was ist daran so aufregend?«Er blickte mich an. »Er trug ein Geschirr wie ein

Zirkuspferd.«

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2.

Ich glaubte ihm kein Wort, aber ich unterbrach ihnauch nicht, als er fortfuhr: »Das war erst der Anfang.In etwa zweitausend Meter Tiefe stießen wir auf eineSchicht, gegen die das Chicagoer Museum nichts war.Holz, Pflanzen, Papier, Stoffsachen, Kleider ausschwerer Wolle, in grellen Farben gewebt, Leder-schuhe, Möbelstücke, Geschirr ...« Er atmete schwer.»Dann fanden wir den Mann. Untersetzt, höchstenseinssechzig, bleichgelbes Haar am ganzen Körper –und ein Gesicht wie aus einem Alptraum, mit Schau-felzähnen und dünnen Lippen. Seine Kleidung be-stand hauptsächlich aus Riemen und Messingteilen,war aber sehr gut gearbeitet. Und er hatte eine ge-fährlich aussehende Schußwaffe in der Hand, wie ei-ne Strahlenpistole mit einer großen Kammer. Wir ha-ben sie später ausprobiert. Sie hat bei der niedrigstenEinstellung einen Zwölfmeterkrater ins Eis geschmol-zen. Von da an fanden wir immer mehr dieser Af-fenmenschen, und auch Tiere. Dann sahen wir etwasunter uns, das sich als Turm erwies. Wir haben unseinen Weg hinuntergeschmolzen und auch eine Türentdeckt. Es befand sich kein Eis im Innern.

Ich gehörte der Vorhut an. Ein scheußlicher Gestankim Turm. Merkwürdig aussehendes Mobiliar, zerfallenzum größten Teil, verfaulte Teppiche und Wandbehän-ge, ein paar Skelette von Menschen und Tieren. Es warauch eines von einem morderneren Typ dabei – mitgespaltenem Schädel. Wir nahmen an, daß die Nean-dertalerart die Sklaven gewesen sind. Vielleicht hatteeiner eine Rechnung mit seinem Herrn beglichen.

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Überall waren Gegenstände aus Metall und Kera-mik zu finden, regelrecht kunstvoll sogar. UnsereAufregung dürfte verständlich gewesen sein. Unddann – begann es. Wir hörten Geräusche und ent-deckten Spuren. Unsere Leute verschwanden plötz-lich. Einen fanden wir – tot, mit einem Loch in derBrust. Hayle rief nach Verstärkung. Keine Antwort.Er nahm an, daß das Kabel gerissen war. Er schicktemich mit zwei anderen hoch, um nach dem Rechtenzu sehen und zu berichten, was wir entdeckt hatten.

Oben angekommen, stiegen Bachmann und derandere aus. Ich blieb im Lift, um die Verbindung zuüberprüfen. Ich kam zu Hayle durch. Er brüllte ir-gend etwas, aber ich konnte es nicht verstehen. Eshörte sich an, als würden im Hintergrund Schüsseabgefeuert. Ich wollte mich den anderen anschließen,da gab es einen scheußlichen Krach, ein greller Blitzblendete mich, Eis peitschte mir ins Gesicht, und derLift stürzte in die Tiefe.

Als ich wieder zu mir kam, war ich immer noch inder Kabine. Sie lag schief, halb voll pulverisiertemEis. Ich hatte nicht allzuviel abgekriegt, aber meinlinker Handschuh war fort und meine Sichtscheibe.

Oben konnte ich ein schwaches Glühen sehen. Ichmachte mir am Eis zu schaffen. Es war wie lockererKies. Vielleicht hätte ich mich nach unten durchar-beiten sollen, um mich um den Admiral zu kümmern– aber ich habe es nicht getan. Ich sah zu, daß ichschnellstens nach oben kam. Außer Eis war nichts zusehen, weder das Lager, noch Bachmann, noch derandere. Nur ein Krater, wo der Tunneleingang gewe-sen war.

Es waren dreizehn Kilometer zur Station III. Meine

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Schneekatze war mit dem Rest verschwunden. Ichrichtete mich nach der Sonne und begann zu mar-schieren. Fünf Stunden habe ich gebraucht. Aber auchdort war nichts. Nur eine Menge zersplittertes Eis.

Ich machte Rast und stärkte mich mit einem Teilmeiner Anzugsration. Der Coverall hielt mich warmgenug, die Batterien würden noch etwa zweihundertStunden durchstehen. Ich machte mich auf den Wegzur nächste Station. Einen Kilometer außerhalb davonfand ich eine Schneekatze voll beladen und vollge-tankt. Blutige Fußspuren führten von ihr zu einerEisklippe. Ich folgte ihnen. Es war Hansen, tot. Ichnahm die Katze und fuhr weiter. Auch Station V gabes nicht mehr. Der Schacht war zugeschüttet. Ich be-nutzte das Radio in der Schneekatze, um das Haupt-quartier zu verständigen. Keine Antwort.

Fünf Tage brauchte ich, um nach den nicht mehrvorhandenen Stationen zu sehen und schließlich zurKüste zurückzugelangen. Wir hatten die Schiffe dortunter Wasser liegen. Ich schaffte es zum nächsten. Eswar geflutet. Wir hatten nur ein Minimum an Besat-zung zurückgelassen. Drei Männer fand ich – tot, oh-ne jegliche Spur von Gewalteinwirkung. Natürlichwäre es möglich gewesen, das Schiff freizubekom-men, aber wie hätte ich einen Zweitausendtonner al-lein bedienen sollen? Ich nahm mir ein motorisiertesRettungsboot, versorgte mich mit Konserven, undbrauste in nördlicher Richtung ab.

Sieben Tage war ich auf See, ehe ich in einer kleinenargentinischen Stadt anlegte. Sie wimmelte von Flücht-lingen. Ich versuchte einen Arzt zu finden, der sichmeiner Hand und meines Gesichts annehmen könnte– Frostbeulen, eine neben der anderen. Es gab keinen.

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Als ich zu meinem Boot zurückkehrte, mit einemArmvoll Früchten beladen, die ich für meine Arm-banduhr eingetauscht hatte, fielen sie über mich her.Das Messer des ersten verfehlte mich, und ich zahltees ihm mit dem Bootshaken heim. Den anderen er-schoß ich und sah zu, daß ich weiterkam.

Nach vier Tagen erreichte ich Baton Rouge. Ich ver-suchte, von dort eine Nachricht an einen Verbin-dungsmann in Washington zu schicken, kein Glück.Chaos in der Stadt. Alle Flüchtlinge von der Küsteund den gefährdeten Gebieten im Westen schienensich hier versammelt zu haben. Dabei erschüttertenauch hier täglich Beben die Stadt.

Ich verschaffte mir ein Auto und machte mich in öst-licher Richtung auf den Weg. In der Nähe von Vicks-burg versuchte ein Wagen, mich von der Straße zudrängen. Er ging aber an meiner Stelle über die Bö-schung. Ich kehrte um und sah mir den Wagen an.Zwei Männer waren herausgeschleudert worden. Siewaren etwa zwischen vierzig und fünfzig, tot natürlich,unauffällig gekleidet, ohne jegliche Ausweispapiere.

Jedes Nest, durch das ich kam, war so schlimm wiedas andere. Am dritten Tag landete ich hier – vor et-wa einer Woche. Sah etwas zu essen hier im Laden,da erwischte mich das Beben. Dachte zuerst, es seiensie – wie im Eisschacht.«

»Sie nehmen also an, daß die Polarexpedition vonden gleichen Leuten, die Sie verfolgen, ausgelöschtwurde?«

»Sie können Ihr Leben darauf wetten! Und sie sindjetzt hier in Greenleaf und suchen mich. Glücklicher-weise habe ich den Wagen einen halben Kilometervon hier geparkt, wollte zu Fuß zurück ...«

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Er tastete um sich. »Wo ist meine Pistole?«»Sie werden sie nicht brauchen«, beruhigte ich ihn.

»Ich trage Sie jetzt ...«»Sie haben sie«, murmelte er. »Müssen hier gewe-

sen sein, während ich schlief.«Ich erhob mich und zog mir wieder die Filtermaske

um. »Kommen Sie.« Ich schob meine Arme unter sei-ne Achseln und versuchte, ihn hochzubekommen. Erwinselte vor Schmerzen. »Nehmen Sie es«, sagte erdrängend. »Zeigen Sie – es ihnen! Sie müssen – Ihnenzuhören ...«

»Sicher. Aber jetzt müssen wir weg ...«»Tasche«, keuchte er. »Nehmen ... Zeigen ...« Sein

Kinn klappte herunter, er sackte zusammen. Er wartot.

Eine Minute blickte ich ihn stumm an und fragtemich, wieviel von seiner Geschichte stimmte undwieviel seinem Delirium entsprungen war. Taschehatte er gesagt. Außer Staub fand ich nichts, bis ichdas kleine Uhrentäschchen entdeckte. Eine Münzesteckte darin, sah aus wie Gold, ein wenig kleiner alsein Silberdollar. Ein stilisierter Vogel war auf einerSeite, und auf der anderen ein kunstvolles Gekritzel,das eine Schrift sein mochte, aber bestimmt keine, dieich kannte. Ich schob sie in meine Tasche – da hörteich Schritte draußen.

Die Sonne war inzwischen untergegangen, es warschon fast dunkel. Wie ich es durch die überall amBoden verstreuten Dosen geschafft habe, weiß ichnicht mehr. Jedenfalls erreichte ich unentdeckt denHintereingang. Ich schlich mich ums Haus undspähte um die Ecke. Wenig später trat ein Mann indunklem Anzug aus dem Laden. Er ging zu meinem

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Brett und kletterte vorsichtig darüber. Er mußte dentoten Seemann gefunden haben und zufrieden sein.Ich blickte ihm nach, bis er außer Sichtweite war.

Plötzlich schien es mir ungeheuer wichtig, ihnnicht aus den Augen zu verlieren. Ich mußte mir sei-ne Autonummer merken, ihn möglicherweise be-schatten ...

Ich hörte das Klicken und warf mich automatischauf den Boden. Ich rollte unter die Falten der herab-baumelnden Markise. Die Kugel schlug ganz in derNähe ein. Füße hasteten in meine Richtung. Ich hörteeinen fragenden Ruf und eine Antwort von irgendwooben. Die Füße blieben direkt vor mir stehen. Ich warfmich von meinem Versteck auf ihn und brachte ihnzu Fall. Er hämmerte mit den Fäusten auf mich ein,aber er hörte auf, als ich seinen Hinterkopf nicht ge-rade sanft auf ein Stück geborstene Straße stieß.

Sein Partner schien nichts bemerkt zu haben. Ichdurchsuchte hastig die Taschen des Toten. Er hatteüberhaupt keinen persönlichen Kram bei sich.

Wieder kamen Schritte in meine Richtung. Ich saheine Silhouette gegen den düsterroten Himmel. DerMann betrachtete die Planke, dann stieg er darauf. Indiesem Augenblick sah er mich. Er öffnete den Mund,da sprang ich. Ich packte das Regalbrett an meinerSeite und hob das Ende hoch, schüttelte es. Ohne ei-nen Ton herauszubringen, stürzte er. Es dauerte einelange Weile, bis er unten aufschlug.

Zehn Minuten später brauste ich müde und hung-rig ostwärts mit hundertsechzig Sachen davon.

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3.

Zwei Stunden später kam die See in Sicht. Bäume undHausdächer ragten aus dem Wasser. Es war früher,ehe der Ozean es sich zurückholte, ein leicht hügeli-ges Farmland gewesen. Ich ritt meine Luftkissen dar-über hinweg.

Die Fahrt über die ruhige Oberfläche war nicht un-übel. Einmal wollte ein Patrouillenboot, daß ich an-halte, aber ich schaltete die Lichter aus und braustedavon. Gegen Morgengrauen kam ich zu einem Ge-biet mit Baumgipfeln, zwischen denen Wildkadavertrieben. Ich wich aus, so gut ich konnte, und erreichtetrockenes Land, als die Sonne sich rotschwarz überden Horizont wagte.

Tampa war von einem Sumpf aus grauemSchlamm umgeben, nachdem der Golf sich von derStadt zurückgezogen hatte.

Am Frühnachmittag kam ich endlich in Miami an.Die Stadt glitzerte weiß neben einem Strand, derschwarz und grau von Bimsstein und Öl und ange-häuft mit Treibgut eines versunkenen Kontinentswar. Die Lage hier war besser. Nach den immer nochstehenden Türmen zu schließen, hatte es keine größe-ren Beben gegeben. Das Leben hier schien fast wieimmer. Die Läden waren geöffnet, der Verkehr nor-mal, allerdings war mehr Polizei als früher unter-wegs, von der Nationalgarde in ihrer Gefechtsausrü-stung ganz zu schweigen.

Ich trug mich im Golfstrom ein, einem Luxushotelvon hundertfünfzig Stockwerken, in dem ich schon inbesseren Zeiten des öfteren abgestiegen war. Anzio,

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der Portier, ein alter Freund aus den Spielhöllen Re-nos, schüttelte mir die Hände und grinste über dasganze Gesicht. »Mal Irish!« sagte er. »Was bringt dichhierher?«

»Im Süden ist es mir ein wenig zu ungemütlichgeworden«, erklärte ich ihm. »Wie sieht's hier aus?«

»Oh, es geht uns nicht schlecht. Wir hatten unsereFrühjahrsgäste hier, als es losging. Die meisten blie-ben daraufhin. Wir haben Strom, Wasser, ausrei-chend Vorräte. Jedes Hotel in der Stadt hatte seineKühlkammern für den Sommerbetrieb bereits aufge-füllt. Die nächsten sechs Monate können wir es rechtkomfortabel aushalten.«

Ich nahm den Schlüssel zu meiner Suite in derhundertzwölften Etage und fuhr mit dem Schnellifthinauf. Es waren schöne Zimmer und ein Bad, großgenug für ein Nilpferd. Ich weichte erst einmal denReisestaub der vergangenen fünf Tage auf, ließ mirfrische Sachen kommen und genoß dann einen Drei-stöckigen, ehe ich mich zum Abendessen ins Restau-rant hinunter begab.

Ich hatte gerade ein tolles Menü hinter mir undnippte an meinem Roséwein, als Anzio sich zu mirsetzte. Wir unterhielten uns über alte Zeiten, da kamein übertrieben unauffälliger Mann mittleren Altersvorbei. Irgendwie stellten sich mir die Haare amNacken auf. Ich stieß Anzio an. »Wer ist der Kerl?«fragte ich leise.

Er blickte ihm nach. »Ich glaube, einer von denmerkwürdigen Burschen, die hier ihre Tagung ab-halten.«

»Was für eine Tagung?«»Numismatiker oder so was«, brummte Anzio.

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»Haben das ganze achtundzwanzigste und neunund-zwanzigste Stockwerk gemietet. Komische Gesellen,wenn du mich fragst, Mal.«

»Münzensammler«, murmelte ich überlegend. Ichhatte eine ungewöhnliche Münze in meinem Zimmer,von der der Sterbende gewollt hatte, daß ich sie ir-gendwohin bringe und jemandem die Geschichte er-zähle. Wenn ich es täte, würde ich zweifellos entwe-der die Treppe hinunterfliegen oder im Irrenhauslanden. Mastodon im Harnisch ...! Aber vielleicht wardoch was dran?

Auf der achtundzwanzigsten Etage fand eine Mam-mutparty statt, trotzdem ging es erstaunlich ruhig zu.Als ich durch eine gläserne Flügeltür trat, eilte einKellner herbei und bot mir einen Cocktail an. Ichnahm ihn und ließ die Augen über die Anwesendenschweifen. Es waren seltsamerweise nur Männer, allefast gleich alt, etwa um die vierzig, alle in dunklenAbendanzügen. Unzählige Augen folgten mir, als ichdurch den Saal schlenderte. Ein hochgewachsenerTyp mit glatt zurückgestrichenem grauen Haar kamauf mich zu. Ich lächelte ihn unschuldig an. »Ich binnicht hier, um ein paar Drinks zu schnorren«, kam ichihm zuvor. »Ich gestehe auch, daß ich nicht zu IhrerGesellschaft gehöre, aber ich interessiere mich fürMünzen und hätte gern einen fachmännischen Rat ...«Ich fischte die Goldmünze des Seemanns heraus unddrehte sie in meinen Fingern. »Sie ist vermutlich oh-nehin nicht echt«, sagte ich leichthin. »Aber ichmöchte es eben gern genau wissen.« Ich hielt sie ihmunter die Nase. Er nahm sie nicht, sah sie aber an.Sein übertrieben höfliches Lächeln, mit dem er mich

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bisher bedacht hatte, war plötzlich verschwunden.»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte ich schnell.

»Ich will den Rat nicht umsonst. Ich dachte nur, hier...«

»Wenn Sie bitte mitkommen würden, Sir? Ich wer-de Sie zu Mr. Zablun bringen. Er wird Ihren Fund be-gutachten.« Er hatte eine winzige Spur von Akzent,eine eigenartige Betonung. Ich folgte ihm den Gangentlang zu einem kleinen Raum, der wie ein Warte-zimmer aussah.

»Wenn ich Sie noch um einen Augenblick Geduldbitten darf, Sir?« Er deutete auf einen weichen Sesselund verschwand durch eine Nebentür. Ich hielt dieMünze immer noch in der Hand. In einer Minuteoder so würde man mir sicher sagen, daß ich auf ei-nen Schwindler hereingefallen war. Ich machte dieZahnprobe und biß darauf. Tatsächlich, mein Zahnhatte einen Abdruck hinterlassen. Vielleicht war siedoch echt? Echt Gold, zumindest.

Die Nebentür öffnete sich, und mein höflicher Be-gleiter kam mit einem untersetzten Mann mit falschaussehendem schwarzen Haar und unruhigen Augenzurück.

»Darf ich Sie mit Mr. Zablun bekanntmachen?«sagte der Überhöfliche. »Er wird sich Ihre Münzegern ansehen, Mister ...?«

»Jimmy Philbert aus Butte, Montana«, sagte ich.Mr. Zablun streckte die Hand aus, und ich gab ihm

die Münze. Er betrachtete sie eingehend. Danntauschte er einen kurzen Blick mit dem Grauhaarigen.Ich wollte nach meiner Münze greifen, aber Mr.Zablun schritt damit bereits zur Nebentür.

»Bitte, kommen Sie mit, Mr. Philbert«, sagte der Grau-

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haarige. Wir betraten ein Zimmer mit einem Schreib-tisch, auf dem eine eingeschaltete Lampe stand.Zablun trat hinter den Schreibtisch und holte aus derLade ein schwarzes Tuch und ein elektronisches In-strument mit zwei Linsen. Damit begann er an mei-ner Münze herumzufummeln.

»Sie ist echt«, erklärte er schließlich. »ReinesMünzgold.«

»Ist Ihnen das Stück bekannt?« erkundigte ich michgespannt.

»Es ist keine Rarität«, erwiderte er. »In den letztenJahren wurde bei Kreta eine größere Zahl gefunden.Nicht so neu aussehend wie Ihre allerdings.«

»Eine griechische Münze also?«»Ihre Herkunft ist unbekannt. Wo haben Sie Ihre

bekommen?« Seine Stimme klang nicht einmal inter-essiert.

»In Potosi, vor etwa zwei Wochen«, behauptete ich.»Ich habe sie beim Pokern gewonnen. Ich hatte schonbefürchtet, ich hätte darauf bezahlt. Ach ja, was ist sieeigentlich wert?«

»Ich könnte Ihnen fünfhundert Dollar dafür bie-ten«, warf der Grauhaarige ein.

»Ich möchte sie im Augenblick eigentlich nichtverkaufen.« Ich griff nach meiner Münze, die auf demSchreibtisch lag.

»Vielleicht für tausend ...«»Es geht mir nicht um den Preis«, erklärte ich groß-

spurig. »Ich habe sie für einen Hundert-Dollar-Einsatz bekommen. Ich werde sie als Talisman be-halten.« Ich griff nach meiner Brieftasche. »Wasschulde ich Ihnen?«

Der Grauhaarige wehrte ab. »Aber, wenn Sie viel-

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leicht doch Ihre Meinung ändern, Mr. Philbert ...«»Sind Sie der erste, dem ich Sie anbieten werde«,

versicherte ich ihm. Ich verbeugte mich vor demschweigsamen Mr. Zablun und verließ von demGrauhaarigen begleitet das Zimmer. Als ich mein ei-genes erreichte, warf ich einen Blick auf mein wert-volles Goldstück. Es sah immer noch aus wie frischgeprägt – aber mein Zahnabdruck fehlte.

Zablun hatte die Münze ausgetauscht!

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4.

Für Geld stellte Anzio keine Fragen. Ich schob ihmeinen Fünfziger zu, und er sorgte dafür, daß ich michungestört in einer leeren Suite im neunundzwanzig-sten Stock aufhalten konnte, von wo aus sich mit ei-nem guten Fernglas die ganze Länge des Ostwest-blocks beobachten ließ. Ein Zehner verschaffte mirdie Hilfe eines Pagen, der für mich in der Nähe desSeiteneingangs Posten bezog. Er sollte mir sofort Be-scheid geben, wenn der Grauhaarige – er hatte sichals R. Sethys eingetragen – durch diesen Ausgang dasHotel verließ.

Der Zimmerkellner brachte mir einen Mitternacht-simbiß. Ich nahm ihn im Dunkeln ein und beobach-tete die Münzsammler hinter den Dutzenden be-leuchteten Fenstern auf ihren beiden Etagen. Mr.Zablun tauchte eine halbe Stunde, nachdem ich mei-ne Wache begonnen hatte, auf und unterhielt sich miteiner Gruppe Männer. Es war überhaupt ein ständi-ges Kommen und Gehen, doch ohne jegliche Eile.Auch jetzt waren keine Frauen zu sehen, und dieMänner schienen nicht einmal etwas zu trinken, ichsah auch keinen einzigen, der rauchte. Richtige Ab-stinenzler, diese Numismatiker. Aber mit Münzenbeschäftigten sie sich offenbar auch nicht.

Mich interessierte nur, weshalb Zablun mein Gold-stück ausgetauscht hatte. Aber langweilig wurde esmir jetzt doch. Nach drei Stunden gab ich es auf undkehrte in meine eigenen Räume zurück. Das Bett tatgut, doch kaum war ich eingeschlafen, läutete dasTelefon.

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»Mal – deine Münzsammlerfreunde sind aufgeregtwie Provinzler in einer Spielhölle bei einer Razzia.Sethys ist vor einer Minute durch den Haupteingang.Er steht jetzt draußen im Regen und flucht, weil ihmder Garagenwärter den Wagen nicht schnell genugherausschaffen kann.«

»Ich bin sofort unten«, sagte ich. »Besorg mir einenfahrbaren Untersatz – irgendeinen – ehe er seinenhat.«

Sechs Minuten später saß ich in dem importiertenSportwagen, den Anzio mir in aller Eile organisierthatte. »Aber bring ihn um Himmels willen in einemStück zurück, Mal«, beschwor er mich. »Er gehört ei-nem Ölscheich in der Turmsuite ...«

»Wenn sie mich erwischen, kannst du sagen, ichhätte ihn gestohlen«, beruhigte ich ihn. Ein weitererFünfziger wechselte den Besitzer. Wenn das so wei-terging, durfte ich zusehen, daß ich ein paar Maha-radschas für ein nettes Pokerspielchen aufgabelte.

Die Turbos summten, als ich ganz leicht aufs Gasstieg. Sethys hatte auch eben seinen Wagen bekom-men und stieg mit drei anderen Numismatikern ein.Ich gab ihnen hundert Meter Vorsprung, dann folgteich dem hochtourigen Monojag.

Die Fahrt ging durch die Innenstadt westlich zuden Lagerhäusern. Der Monojag wurde langsamerund hielt an. Ich ebenfalls, hinter ihm im Schatten derHäuser. Zwei Männer sprangen aus Sethys Wagenund liefen in eine Seitengasse. Der Monojag fuhrweiter, um den Block herum, dann parkte er. Sethysund der vierte stiegen ebenfalls aus und verschwan-den plötzlich. Ich schätzte, daß sie sich genau am ent-gegengesetzten Ende der Gasse befanden, in die die

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beiden anderen gerannt waren. Beabsichtigten sie,jemandem den Weg zu versperren? Wenn ja, hattensie nicht an den Feuerausgang gedacht, den jedes derGebäude hier hatte und der gerade dort herausführte,wo ich meinen geborgten Humber geparkt hatte. Ichlief zurück, aber alles war ruhig. Niemand hatte bis-her versucht, durch den schmalen Spalt die Flucht zuergreifen. Außer mir war überhaupt niemand hier,und ich kam mir ein wenig komisch vor im strömen-den Regen, in meinem Trenchcoat über dem Schlaf-anzug und ohne Socken um drei Uhr früh.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch im Feuerausgangs-spalt – leise vorsichtige Schritte. Ich drückte mich andie Wand, meine .38er in der Rechten. Die Schrittekamen näher, und da waren nun auch laute von eili-gen Füßen, offenbar bereits recht dicht bei demFlüchtling.

Und schon hörte ich ein heftiges Keuchen, einenunterdrückten Schrei und etwas wie dumpfe Schläge.Wer immer auch zu entkommen versucht hatte, erwar von Sethys Ganoven erwischt worden. Aber wasging es mich an? Ich brauchte nur in mein Hotel zu-rückzukehren und die ganze Sache vergessen. Daswar das Klügste. Aber hatte ich mich je schon darumgekümmert, was das Klügste war?

Ich schlich auf Zehenspitzen in den sechzig Zenti-meter engen Spalt. Etwa drei Meter entfernt stand ei-ner der Sethys-Leute und hatte seine Arme von hin-ten um einen schmächtigen Burschen in einem viel zugroßen Mantel geschlungen. Mit ein paar lautlosenSchritten war ich dort. Ich packte den Sethys-Mannam Schlafittchen und hieb ihm meine Pistole gegendie Schläfe. Er kam nicht einmal mehr dazu, einen

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Laut von sich zu geben, ehe er ein Schläfchen machte.Aber trotzdem mußte einer der anderen mich be-

merkt haben, denn da zischte eine der Stahlkugelnvon oben herunter, wie man sie gewöhnlich zumHäuserzertrümmern verwendet. Sie streifte mich nur,doch das genügte. Ich ging zu Boden und hörte alleEnglein singen. Und dann brach auch noch die Wandein, und es regnete Ziegelstücke. Durch funkelndeSterne hindurch sah ich das schmale verängstigte Ge-sicht einer Frau.

Wie ich es schaffte, ist mir selbst nicht klar. Ich tor-kelte auf die Füße, griff nach dem Arm der Frau, densie ausgestreckt hatte, als wollte sie mich damit ab-wehren, und stieß schnaufend hervor: »Schnell – Wa-gen – dort. Kommen Sie mit.«

Blut sickerte über ihr schmales Gesicht. Sie sahnicht viel besser aus, als ich mich fühlte. »Schnell!«drängte ich erneut, und sie kam zögernd mit. Ichmußte den Humber erreichen, ehe meine Knie ver-sagten und mein Schädel platzte.

Es schien mir endlos, bis wir die paar Meter zurStraße hinter uns hatten. Ich war sicher, daß Sethys'Folterknechte auf uns warteten, aber wir konnten un-gestört einsteigen und davonbrausen.

Sie blockierten den Weg bei der Einfahrt zurHauptstraße, aber irgendwie gelang es mir, halbbe-täubt wie ich war, rechts durch einen Spalt, der nichtbreiter als mein Wagen war, auszuweichen.

Sechs Blocks vom Hotel parkte ich den Wagen. DieFrau auf dem Beifahrersitz blickte sich um, dann sahsie mich fragend an.

»Von hier aus geht's zu Fuß weiter«, erklärte ich ihrmühsam. Meine Zunge war viel zu dick für meinen

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Mund. Der Schmerz hatte ein wenig nachgelassen,aber die Straße drehte sich wie ein Karussell. Ich hieltmich an der Wagentür fest und wischte mir das Blutvom Kinn. Als die Straße sich beruhigt hatte, mar-schierten wir zu einer Bar auf der anderen Seite undsetzten uns an einen Tisch beim Hinterausgang. Einhagerer, sonnenverbrannter Kellner nahm meine Be-stellung für zwei doppelte Scotchs an. Meine hüb-sche, wenn auch im Augenblick ein wenig mitge-nommene Begleiterin hatte noch keinen Ton über dieLippen gebracht.

»Bis jetzt haben wir Glück gehabt«, wandte ichmich an sie, doch da kam der Hagere auch schon mitden Drinks. Ich goß meinen in einem Zug hinunter.Das Mädchen nahm ihr Glas mit beiden Händen undschluckte. Dann ließ sie das Glas fast fallen, und ichhatte schon Angst, sie würde ersticken. Offenbar warsie keine scharfen Sachen gewohnt.

»Nicht so hastig«, mahnte ich und hielt ihr das Glasmit Wasser hin. Sie roch daran und trank es in einemSitz aus.

»Sie haben bestimmt Hunger«, meinte ich. Da warauch schon der Kellner und gab mir ein Handtuch. Eswar feucht und kalt.

»Sie haben ein paar Kratzer auf der Stirn überse-hen«, erklärte er mir. »Und Ihre Freundin könnte esauch brauchen.« Er warf einen Blick auf das immernoch ein wenig blutige Gesicht, die klatschnassenHaare unter dem Schal, den viel zu großen Mantelund den hungrigen Ausdruck.

»Danke«, murmelte ich. »Haben Sie etwas zu essenfür uns? Heiße Suppe vielleicht?«

»Ich bringe Ihnen etwas«, versicherte er mir, ohne

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irgendwelche neugierigen Fragen zu stellen. Ich war-tete, bis der Fettwanst am Nebentisch sich schnau-fend wie ein Walroß erhob und davonwatschelte,dann beugte ich mich über den Tisch. Die dunklenAugen blickten mich immer noch ein wenig argwöh-nisch an.

»Wer sind Sie?« fragte ich leise. »Worum geht eseigentlich?«

Ihre Züge spannten sich. Sie hatte schöne regelmä-ßige Zähne, aber sie waren fest zusammengepreßt.

»Heh«, erinnerte ich sie. »Ich bin auf Ihrer Seite. Je-den Feind Sethys betrachte ich als Freund.«

Sie fröstelte, ihre Finger zitterten. Ich legte meineHand darüber. Sie waren kalt wie ein Putenschenkelim Tiefkühlschrank.

»Sie brauchen keine Angst mehr zu haben«, beru-higte ich sie. »Wir werden zur Polizei gehen. Selbst inZeiten wie diesen lassen sie einen Mordversuch nichtunter den Tisch fallen.«

Der Kellner kam mit zwei Riesentellern Fischsuppeund dazu noch ein paar Sandwiches zurück. DasMädchen wartete kaum, bis er ihren Teller abgestellthatte. Sie packte den Löffel und futterte gierig alles insich hinein, bis er so sauber wie von einer Katze aus-geschleckt war. Danach verschlang sie noch zweiSchinkensandwiches.

»Na, satt?« fragte ich. »Vielleicht können wir unsjetzt unterhalten. Sie haben mir immer noch nicht ge-sagt, wer Sie sind.«

Sie warf mir einen dankbaren Blick zu und ver-suchte sogar ein Lächeln, dann flüsterte sie etwas, dassich anhörte wie: »Ithat ottoc otacu.«

»Großartig«, brummte ich. »Das hilft. Die einzige

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Person, die Licht in das Dunkel bringen könnte,spricht Hinteroberchinesisch.«

»Ottoc oll Thitassa«, pflichtete sie mir bei.Ich kaute an meiner Lippe und starrte sie an. »Wir

brauchen ein stilles Kämmerlein, wo wir uns verkrie-chen können«, murmelte ich zu mir selbst. »Es wärevielleicht gut, aus Miami zu verschwinden, aber war-um, zum Teufel? Mir gefällt es hier. Mr. Sethys kannmich nicht vertreiben.«

Ein mittelgroßer Mann in dunklem Anzug rutschtevon seinem Barhocker und kam in unsere Richtung.Er blieb bei der Musikbox stehen und tat, als studiereer die Titel. Er war etwa fünfunddreißig, von unauf-fälligem Äußeren, mit hellbraunem Haar und flie-hendem Kinn. Er schien mir ein bißchen lange fürseine Auswahl zu brauchen.

»Warten Sie bitte hier«, sagte ich zu dem Mädchen.Ich hoffte, sie verstand mich. Ich schob meinen Stuhlzurück. Der Mann warf einen schnellen Blick in mei-ne Richtung, dann ging er eilig zur Tür. Ich folgte ihmin den Regen hinaus. Er rannte fast, und ich hinterihm her. Ich packte ihn an der Schulter und wirbelteihn herum. »Heraus mit der Sprache!« sagte ich dro-hend. »Und versuchen Sie keine Tricks. Ich habe mei-ne Pistole auf Ihren zweiten Mantelknopf gerichtet.«

Das Kinn klappte herunter, er hob die Hände.»Beeilen Sie sich, Mister.«Er blickte hilfesuchend die Straße auf und ab. »Hö-

ren Sie«, sagte er heiser. »Schießen Sie nicht, bitte. Siekönnen meine Brieftasche haben – und meine Uhr ...«Er fummelte an dem Metallband herum.

»Hören Sie auf mit der Komödie!« knurrte ich.»Wer ist Sethys? Und was bedeutet ihm die Münze?

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Wer waren die Männer, die den Seemann verfolgthaben? Und weshalb habt ihr das Mädchen zusam-mengeschlagen?«

»Hah?« Er hatte jetzt seine Uhr abgenommen undließ sie auf den Boden fallen. Er lehnte sich zitterndan die Hauswand. Sein Gesicht war fahl vor Angst.

»Letzte Chance.« Ich rammte ihm den Lauf in denMagen, und er quietschte wie ein Ferkel. »Die Briefta-sche!« befahl ich. »Ich will sie sehen.«

Er wühlte in der Tasche. Ich griff schnell zu undwarf einen Blick in seine Brieftasche. »Jim Ezzard,Miami, 319 S., Tulip Way« stand auf seiner Ausweis-karte. Ich ließ ihn seine Taschen umdrehen, aber ertrug nur die üblichen Sachen – Kleingeld, Zigaretten,Feuerzeug, zerfetzte Papiertaschentücher, verfalleneParkscheine und ähnliches – bei sich. Ich hatte michdemnach getäuscht.

»Sehen Sie zu, daß Sie heimkommen, Jim«,brummte ich finster.

Er hob seine Uhr auf und rannte, was er konnte.Aus sicherer Entfernung warf er noch einen ängstli-chen Blick zu mir zurück.

In der Bar wartete das Mädchen noch, wo ich sieverlassen hatte. »Falscher Alarm«, erklärte ich ihr.»Ich bin offenbar schon allergisch gegen unauffälligaussehende Burschen.«

Sie lächelte mich an, und ihr Lächeln gefiel mir.Man konnte gut mit ihr reden, sie widersprach einemnicht. »Gehen wir«, schlug ich vor und half ihr hoch.»Wir suchen uns ein Quartier ganz in der Nähe. Wirbrauchen beide ein wenig Schlaf. Morgen sehen wirdann weiter ...«

Der Kellner kam herbei, und während er unsere

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Zeche zusammenrechnete, flüsterte er: »Ich weißnicht, ob es etwas mit euch zu tun hat, aber da sindein paar Burschen, die ein Auge auf den Vorder- undHintereingang haben.«

Der Hinterausgang führte auf einen Hof mit über-quellenden Abfalltonnen, leeren Kisten und Kartons.Wir spähten vorsichtig die Gasse auf und ab, die zudem Hof führte, dann hielten wir uns rechts undschlichen auf Zehenspitzen ganz dicht an der Mauerentlang. Der Bursche, der nach Angabe des Kellnershier postiert war, machte offenbar einen kleinen Spa-ziergang. Wir glaubten uns schon fast in Sicherheit,da kam er uns entgegen. Er hielt eine Pistole in derRechten. Ich schnellte mich auf ihn und warf ihn zuBoden. Die Pistole schlug scheppernd auf. Ich um-klammerte seine Handgelenke. Er versuchte, nachmir zu beißen, und schlug mit den Beinen um sich.

»Nehmen Sie seine Krawatte«, zischte ich demMädchen zu und versuchte es ihr mit Kopfbewegun-gen klar zu machen. Sie zog den Gürtel ihres überdi-mensionalen Mantels aus den Schlingen, kniete sichneben den Burschen und verschnürte ihn wie ein Be-rufspacker.

»Und jetzt heraus mit der Sprache«, forderte ichihn auf. Er mahlte mit den Kiefern, als müßte er seinMehl für den Sonntagskuchen selbst herstellen. Dannverzerrte sein Gesicht sich plötzlich, er bäumte sichauf, und Schaum trat aus seinem Mund, ehe er schlaffzusammensank. Ich fühlte nach seinem Puls – einEisbein konnte nicht weniger haben.

Das Mädchen beobachtete mich mit großen Augen,als ich seine Taschen durchsuchte. Sie waren leer.

»Der Verein hat es offenbar nicht gern, wenn man

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zu indiskrete Fragen stellte«, brummte ich mißmutig.»Und an Menschenmaterial scheint er auch keinenMangel zu haben.«

»Im allak ottruru«, bedeutete mir das Mädchen undschritt mir voraus zum Ende der Gasse und auf diefreie Straße.

Zehn Minuten später fanden wir eine Pension, diefrüher vielleicht einmal respektabel gewesen seinmochte. Der schlampige Alte, der auf unser Klopfenöffnete, verlangte zehn Dollar. Ich drückte ihm fünf-zehn in die Hand. »Der Rest ist für Ihr freundlichesLächeln, Opa«, erklärte ich ihm. »Und Sie könnennoch ein Scheinchen haben, wenn Sie vergessen, daßes uns überhaupt gibt.«

»Sind die Bullen hinter euch her?« fragte er.»Aber nein«, tat ich erstaunt. »Ihr Bruder. Er will,

daß sie ihm ihr Leben lang den Haushalt führt. Aberwir wollen heiraten.«

Er zeigte seine gelben Zähne in einem breiten Grin-sen. »Geht mich nichts an«, brummte er. Er gab mirzwei Schlüssel an gewaltigen Holzeiern. »Wie langewollt ihr bleiben?«

»Ein paar Tage.« Ich blinzelte ihm verschwörerischzu. »Sie wissen schon ...«

»Vorauszahlung jeden Morgen«, erklärte er. Erdeutete auf die Treppe, machte jedoch keine Anstal-ten vorauszugehen, um uns die Zimmer zu zeigen.

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5.

Die zwei sogenannten Zimmer waren vermutlichfrüher einmal Großmamas Bügelkammer gewesen,die man dann durch eine provisorische Trennwand inzwei Gästezimmer verwandelt hatte. Ich nahm mirdas Verlies näher an der Treppe, falls jemand desNachts auf komische Ideen kommen sollte. Es hatteeine in der Mitte durchgelegene Matratze auf einemEisengestell, einen wackligen Metallstuhl und eineKommode, von der eine Lade fehlte, dafür lag einmaschinengehäkeltes Deckchen darauf.

»Ein Fürstenappartement«, versicherte ich meinerneuen Freundin. Ich führte sie, vorbei an der ver-hängten Duschkabine mit dem WC, zu ihrem Luxus-gemach, das an Komfort in etwa meinem glich. Siesetzte sich sofort auf das Bett. Ihr Gesicht war fastgrünlich bleich, und schwarze Ringe zeichneten sichum ihre Augen ab. Sie war total erschöpft.

»Komm, ziehen Sie Ihren nassen Mantel aus«, for-derte ich sie auf. Ich holte ein vergilbtes Leinen-handtuch, steif wie ein Brett, aus der Duschkabine,und hielt es ihr entgegen. Sie starrte mich nur an,konnte jedoch kaum noch die Augen offenhalten.

Sie rührte sich überhaupt nicht, als ich ihr denMantel aufknöpfte. Ich hob sie auf die Füße, um ihnihr abnehmen zu können. Es war ein uralter Trench-coat mit speckigem Kragen und voll Flecken. Er sahaus, als hätte sie ihn einer Vogelscheuche abgenom-men. Ich wollte eine entsprechende Bemerkung ma-chen und riß statt dessen unwillkürlich den Mundauf. Sie trug einen Bodysuit aus schwarzgrünem

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Metall, der wie eine zweite Haut anlag. Und ihre Fi-gur – sie hätte die première danseuse in den Folies-Bergère weit in den Schatten gestellt. Sie langte hochund zog den Schal vom Kopf. Seidige schwarze Lok-ken quollen herab. Dann gaben ihre Knie nach, siesank aufs Bett und war auch schon eingeschlafen.

Ich betrachtete sie nachdenklich. Ob sie Polynesie-rin war? Oder Mexikanerin? Oder Araberin? Aber sorecht paßte weder das eine noch das andere. Sie warvon einem Typus, der mir nie zuvor untergekommenwar. Auf jeden Fall war sie bildschön und höchstensfünfundzwanzig, und sie sah im Schlaf unwahr-scheinlich unschuldig aus.

Ich taumelte selbst todmüde in mein Kämmerleinund erinnere mich nicht einmal mehr, wie ich ins Bettgekommen bin.

Am nächsten Morgen regnete es immer noch. MeinHals war steif, mein rechtes Auge geschwollen, undmeine Lippen sahen aus, als gehörten sie einem Zulu.

Die Verbindungstür schwang auf. Ich packte meine.38er und richtete sie auf die gertenschlanke Gestaltim hautengen Coverall. Sie zuckte nicht einmal zu-sammen, sondern lächelte mich zögernd an und tratweiter ins Zimmer, ohne sich um die Pistole z u küm-mern. Ich hatte das komische Gefühl, daß sie keineAhnung hatte, was das Ding in meiner Hand war.

»Guten Morgen«, begrüßte ich sie. Ich legte dieWaffe aufs Bett und stand auf.

»Gunmorn.« Sie lächelte ein bißchen stärker. Dergehetzte Ausdruck auf ihrem Gesicht war ver-schwunden, doch sie sah immer noch wie jemandaus, der seit Tagen nichts gegessen hatte. Aber siewar große Klasse, auf ihre exotische Art. Da erst kam

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mir, was sie gesagt hatte. »Ah, dann sprechen Sie jadoch Englisch. Bin ich froh! So kommen wir wenig-stens weiter. Ich weiß nicht, was Sie getan haben, daßSethys Sie jagen ließ, aber ich bin auf jeden Fall aufIhrer Seite. Erzählen Sie es mir jetzt?«

»Ot ottroc atahru«, sagte sie sichtlich verlegen.»Fängt das wieder an! Ich hab' doch gehört, daß Sie

›guten Morgen‹ wie ein braves Mädchen sagten ...«»Gunmorn, braves Mechen«, echote sie.Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. »Wie ein Papa-

gei«, brummte ich.»Winpapagai.« Sie blickte mich erwartungsvoll an.»Ist vielleicht gar nicht so schlecht.« Ich legte eine

Hand auf ihren Arm. »Ich bin zwar sicher kein guterLehrer, aber möglicherweise kann ich Ihnen doch so-viel Amerikanisch beibringen, daß wir uns verständi-gen können.« Ich deutete auf mich. »Malcolm Irish.«

»Akmalcomairisch«, wiederholte sie.»Lassen Sie das Akk. Es heißt Malcolm – aber nen-

nen Sie mich lieber Mal.«»Akmal.« Sie schaute ein wenig verwirrt drein.»Na gut, und wie heißen Sie?« Ich deutete auf sie.»Akricia«, erwiderte sie sofort und neigte ihren

Kopf.»Akricia«, echote nun ich, und ihr Gesicht leuchtete

auf. »Wie wär's, wenn ich dich Ricia nenne?« Unwill-kürlich war ich zum Du übergegangen. »Das ist kür-zer und netter.«

Erneut spiegelte sich Verwirrung auf ihren Zügenab und dann noch ein paar andere Gefühlsregungen,die ich nicht zu deuten wußte. Dann neigte sie wiederden Kopf. »Ricia«, flüsterte sie. »Mal ...« Sie kaute ander Unterlippe, dann zog sie einen silberfarbigen

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Ring von ihrem Finger und hielt ihn mir mit gesenk-tem Blick entgegen. Ich nahm ihn, er war sehr breitund schwer. »Ein sehr schönes Stück«, lobte ich.

Sie schien offenbar auf irgend etwas zu warten. Al-so streifte ich den Ring über meinen kleinen Finger.Ich hatte das Gefühl, daß wir nun offizielle Freundewaren.

»Danke, Mädchen«, sagte ich. »Es ist ein reizendesGeschenk. Aber jetzt wollen wir mit unserem Unter-richt weitermachen.« Ich drückte ihre Hand – da fie-len mir plötzlich ihre nicht ganz sauberen Finger unddie abgebrochenen Nägel auf.

»Ricia, du brauchst ein heißes Bad.« Ich deutete aufdie Duschkabine. »Ich besorge dir inzwischen etwaszum Anziehen. Mir selbst würden frische Sockenauch nicht schaden.« Ich zog den Duschvorhang zu-rück und schaltete die Brause ein. Ricia nickte begei-stert und tastete nach einem unsichtbaren Verschlußan ihrem Bodysuit.

Ich gab dem Alten unten einen größeren Scheinund erklärte ihm, was wir benötigten. Er stapfte zu-frieden davon, als ich ihm zusätzlich noch einenFünfziger in die Hand gedrückt hatte.

In einer halben Stunde war er mit einem Riesenein-kaufsbeutel voll Fressalien, Toilettenartikeln und einpaar Kleidungsstücken zurück. Ich schob Ricia, wassie benötigen würde, durch den Vorhang und deckteuns die Kommode mit einem lukullischen Frühstück.Zehn Minuten später trat sie aus der Kabine, frischwie ein neugeborenes Baby und im gleichen Beklei-dungszustand. Ihr Haar war kunstvoll mit einemSchleifchen aus dem Kosmetikkästchen zusammen-gehalten, und ihre Nägel glänzten rosig.

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»Schön«, kommentierte ich. »Ein wenig unkonven-tionell, aber schön. Trotzdem wäre es vielleicht bes-ser, wenn du doch etwas überstreifen würdest, solan-ge mein Blut noch nicht überwallt.« Ich hielt ihr denEinteiler entgegen, den der Alte für sie besorgt hatte,und sie nahm ihn auch. Doch als sie die Essereiensah, ließ sie ihn achtlos fallen und schritt mit glän-zenden Augen darauf zu. Die geschlossenen Packun-gen schienen ihr nicht viel zu sagen, aber sie hob eineOrange auf, roch daran und biß hinein. Sie schmeckteihr offensichtlich, mit Schale und allem. Ich stand nurda und sah ihr zu, wie der Saft über ihre sanfte Hautmit dem leicht olivfarbigen Schimmer lief, und fragtemich, wer – und was – das zierliche Wesen war, dasich da unter meine Fittiche genommen hatte.

Ricia hatte eine phänomenale Begabung, die Wortezu behalten, die ich ihr beibrachte – und war unwahr-scheinlich unwissend, was die Sitten und Gebräucheunserer Gesellschaft betraf. Beim Kaffee rümpfte siedie Nase, vor dem Dosenfleisch ekelte sie sich. Aberihr schmeckte das Brot, nachdem sie es äußerst zö-gernd probiert hatte. Nur die Früchte waren ihr of-fenbar vage vertraut.

Nach einer Stunde konnte sie schon ein wenig mitmir reden – sie benutzte Worte wie: »Ricia essen, Malessen, gut, nein. Heute, morgen, gehen.«

»Wir müssen bis zum Einbruch der Dunkelheithierbleiben«, erklärte ich ihr.

Sie nickte, als hätte sie jedes Wort verstanden. Siesaß am Spiegel und probierte eine neue Frisur aus.

Inzwischen überlegte ich, was wir tun könnten, so-bald wir dieses Loch verließen. Zur Polizei zu gehen,würde uns bestimmt nicht viel einbringen. »Es gibt

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gewiß Boote hier. Eine kleine Jacht wäre genau dasRichtige für uns. Dieser Sethys ist offenbar noch ge-fährlicher, als ich annahm. Vielleicht hat der Seemanndoch nicht phantasiert. Vielleicht gibt es wirklichdressierte Elefanten unter dem Eis? Und dort könnensie auch bleiben. Wir verziehen uns in nördlichereGegenden und suchen uns ein hübsches Städtchen,wo der Boden nicht allzusehr wackelt und ...«

»Sethys, nein. Mal und Ricia gehen heute.« Sie sahaus, als hätte sie Angst, vielleicht war es aber nur einAusdruck der Anstrengung, weil sie meine Worte zuverstehen versuchte und sich selbst nicht wirklichverständlich machen konnte.

»Ich wollte, du könntest mir alles erklären, Ricia«,murmelte ich. »Wer ist Sethys? Warum hat er dir sei-ne Jungs auf den Hals gehetzt? Wie bist du überhauptin diesen Teil der Stadt gelangt? Woher kommst dueigentlich?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ein wenig eigen-sinnig aus. Sie verstand mich sehr wohl – sie wolltenur nicht reden. Ich drängte sie nicht.

»Ich gehe jetzt und sehe zu, daß ich ein Boot füruns finde«, erklärte ich ihr, als die Sonne endlich un-tertauchte. »Laß niemanden herein, solange ich nichtzurück bin. Und vergiß die Pistole nicht.« Ich drückteihr die .38er in die Hand. Ich hatte ihr bereits gezeigt,wie man damit umging.

»Hab keine Hemmungen. Wenn jemand ungebeteneindringt, dann schieß. Er hat es nicht besser ver-dient.«

Sie lächelte tapfer. Ich wußte, es gefiel ihr nicht,daß ich sie alleinließ, auch die Pistole mochte sienicht, aber sie sah offenbar ein, daß es so besser war.

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Der alte Bob, unser Zimmervermieter, blickte mirmißtrauisch entgegen, als ich die Treppe herunter-kam. »Sie wollten sich hier wohl einen Bart wachsenlassen, damit man Sie nicht wiedererkennt«, brummteer.

»Im Gegenteil«, erwiderte ich. »Damit man michwiedererkennt. Ich habe früher immer einen getra-gen. Ich wollte gestern einen alten Freund um einpaar Scheine anhauen, da hat er mich wie einenFremden behandelt?«

»Hah?« Bob starrte mich durchdringend an. »Ichwollte Ihnen ohnehin sagen, daß ich den Preis erhö-hen muß. Fünfzehn Dollar ab Montag.«

»Fünfzehn.« Ich nickte. Ich lehnte mich vertraulichüber das Pult. »Ich hätte es Ihnen vielleicht schoneher sagen sollen, aber ich war mir nicht sicher, ob Siedann nicht durchgedreht hätten.« Ich blickte michum, machte einen Schritt zurück und spähte hinterden Gummibaum. Bob ließ kein Auge von mir.

»Ich gehöre zum Bombenentschärfungskomman-do«, verriet ich ihm flüsternd. »Das Mädchen ist einMedium – zweites Gesicht, wissen Sie? Sie ist uns ei-ne große Hilfe bei unserer Arbeit. Es gibt jetzt vieleVerrückte, die nicht damit fertig werden, daß sie allesverloren haben.«

»Wa-as ist mit einer Bombe?« Bobs Adamsapfelhüpfte aufgeregt.

»Dachte mir schon, daß Sie kapieren würden. Klu-ges Köpfchen. Sie haben Feinde, Bob. Aber das hatwohl jeder so erfolgreiche Mann wie Sie. Es ist einevon diesen chinesischen Dingern, nicht viel größer alsein Pillenröhrchen, aber mit genug Saft, um das Hausüber ganz Florida zu verstreuen. Wir sind schon

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ziemlich sicher, daß sie in der Abstellkammer imzweiten Stock versteckt ist. Bis morgen abend müßtenwir sie gefunden haben. Also machen Sie sich keineSorgen, wir sind zu Ihrem Schutz hier. Also, dann bisspäter.«

Mit Mühe und Not brachte er einen Ton heraus.»Wo – wo gehen Sie denn hin? Sie können mich dochnicht mit der Bombe alleinlassen!«

»Tapfer, Bob, tapfer. Ich muß ja gestehen, daß mirauch ein bißchen mulmig ist. Aber ich brauche nochein paar Kleinigkeiten zum Entschärfen.«

Ich war bester Laune, als ich das heruntergekom-mene Haus verließ, weil ich Bobs Habgier ein wenigversalzen hatte und weil nirgends etwas Verdächtigeszu sehen war. Freund Sethys würde uns in dieserNachbarschaft gewiß nicht vermuten. Trotzdemschlug ich den Kragen von Ricias schmutzigemTrenchcoat hoch und hielt den ganzen Weg zum Ha-fen Ausschau nach unauffällig aussehenden Männernmittleren Alters.

Die meisten Anlegeplätze waren umzäunt und ver-sperrt. Ich spazierte weiter in nördlicher Richtung zuder weniger respektablen Gegend. Alles möglichewar hier angeschwemmt, und es stank auch entspre-chend. Ein großer Zementschuppen lag vor mir, miteinem Riesenschild: »Vermietung und Verkauf vonBooten.« Der Haupteingang war verschlossen, abereine Hintertür knarrte im Wind. Im Büro, zu der sieführte, lagen die Papiere auf dem Boden und denbeiden Schreibtischen, und die Schubladen des Ak-tenschranks waren herausgezogen. Eine unverschlos-sene Tür brachte mich hinaus auf den Kai. Drei Käh-ne dockten hier, einer davon eine seetüchtige Jacht,

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nicht mehr neu, aber ziemlich robust und mit starkemMotor. Das beste an ihr aber waren die Kisten undKartons, die am Heck verstaut waren, darunter Ar-meerationen, mit denen man ein ganzes Bataillon eineWoche lang hätte verpflegen können. Hinter denKartons entdeckte ich ein längliches Segeltuchbündel.Neugierig, wie ich nun mal bin, öffnete ich es. Es ent-hielt zwei Lederetuis, eines mit einer .375er Weather-by, das andere mit einem gefährlich aussehenden Au-tomatikgewehr mit Zusatzmagazin. Ich wußte, daß esdas neueste Armeemodell war und seine Tausendrun-dentrommel in zwei Sekunden vollautomatisch aus-spucken konnte – ein Stahlhagel, dem auch kein Nil-pferd gewachsen war. Jemand hatte sorgfältigsteVorbereitungen für eine schnelle Flucht getroffen.

Die Kajütentür war zugesperrt. Ich gestattete mir,sie mit einem rostigen Fischmesser zu öffnen, das aufdem Deck gelegen hatte. Die Tür schwang auf. DerGestank, der herausdrang, warf mich fast um. Aufdem Boden, zwischen den Kojen, lag das, was einmalein Mann gewesen war. Er war nicht so sehr verwest,als durch die ungeheuerliche Hitze in dem engen ge-schlossenen Raum mumifiziert. Zwei beachtliche Lö-cher in seinem teuren Blazer verrieten, wie er seinEnde gefunden hatte.

Er war erstaunlich leicht. Ich hob ihn über die Re-ling. Als er im Wasser verschwand, übergab ich mich.

Es fehlte nichts an Bord, er hatte an alles gedacht:einen kompakten Seewasserumwandler, Kleidung fürjedes Wetter, eine Bar wie im besten Hotel und sogarBücher gab es. Ich überprüfte die Maschinen, sie wa-ren bestens im Schuß, und als alter Marineinfanteristkonnte ich auch damit umgehen.

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Nun brauchte ich nur noch Ricia zu holen. Aufdem Heimweg brausten mehrere Wagen an mir vor-bei, und kurz darauf spürte ich die Schockwelle. DasPflaster schwankte unter meinen Füßen. Aber daswar erst der Anfang. Ich nahm die Beine in die Hand.Die nächste Welle legte mich flach. Die Häuser wak-kelten, Ziegel regneten herab. Überall rannten nunMenschen, einige auf mich zu, andere neben mir her.Schreie und der Krach einstürzender Mauern erfülltedie Luft. Die nächste Welle hob die Flüchtenden vonden Füßen, während ich sie wie ein Wellenreiter rittund über die Mauersteine sprang, die sie mir entge-genwarf.

Der nächste Stoß war noch schlimmer. Ich machteunliebsame Bekanntschaft mit dem Pflaster und rap-pelte mich wieder auf, während ringsum die Häuserzusammenfielen. Ich war nun unserer Pension schonganz nahe. Sie war vom Feuer im Haus gegenüberbeleuchtet. Die Haustür war aus den Angeln geho-ben. Ich nahm die Stufen in einem Satz. Ein Teil derDecke war eingebrochen. Bobs Hand ragte unter denTrümmern hervor. Die Treppe war nicht mehr. Ichstürmte durch den noch stehenden Teil des Erdge-schosses und fand die Hintertreppe.

Im ersten Stock sah es auch nicht viel besser aus.Der Gang war verschüttet. Ich kroch durch ein Lochin der Wand und kam etwa zwei Meter vor meinemZimmer heraus. Drinnen erwartete mich das umge-stürzte Mobiliar, Glasscherben und etwa ein Zenti-meter Wasser aus der geborstenen Leitung. Ich wa-tete hindurch und brüllte Ricias Namen.

Sie antwortete nicht. Das Bett war unter der herab-gefallenen Decke zusammengebrochen. Die Klei-

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dungsstücke, die Bob für sie besorgt hatte, warenmalerisch mit den Essensresten verstreut. Von demMädchen keine Spur. Ich atmete tief und versuchtemeine Gedanken zu ordnen. Ich hatte Ricia gebeten,im Zimmer zu bleiben, das hatte sie nicht getan. Zu-mindest war sie aber hier nicht gestorben. Sie befandsich demnach irgendwo draußen auf der Straße.Höchste Zeit, daß ich mich ihr anschloß. Ich kämpftemich durch die Trümmer und – starrte in den Laufeiner Pistole, die Sethys in der Hand hielt.

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6.

Er stand etwa zehn Schritt von mir entfernt, mit völ-lig ausdruckslosem Gesicht. Seine Schultern warenbemehlt vom Staub, sein sonst so geschniegeltes Haarwar zerzaust, und er hatte einen dunklen Streifen amKinn. Aber die Hand mit der Pistole zitterte nicht imgeringsten. Ich sah, wie sein Finger sich spannte – dahielt der Boden es für angebracht, tüchtig zu schau-keln.

Sethys schwankte, streckte eine Hand aus, um seinGleichgewicht wiederzugewinnen. Die Pistole ginglos, und der Heizkörper neben mir hallte wie eineGlocke. Staub stieg von den Ritzen zwischen denDielenbrettern auf. Sethys spreizte die Beine undzielte erneut ...

Ein Stück der Decke senkte sich und raubte ihm dieSicht. Er sprang zur Seite, zwischen das Hindernisund die Wand. Das Bersten von Metall war zu hören.Ein Teil des aufgerissenen Zwischenbodens unterdem Plafond schwang seitwärts, und ein herabhän-gendes spitzes Eisenstück drang Sethys in den Ma-gen. Er stand zuerst still, als begreife er es nicht. Dannruderte er mit den Armen, die Pistole entglitt seinenFingern und verschwand in einem Bodenspalt. Imgleichen Augenblick kam durch das Loch in der Dek-ke der verrostete Heizkörper von oben herab. Als derTrümmerstaub sich wieder gesetzt hatte, lag Sethysmit dem Gesicht zum Boden unter dem Heizkörperund ein zersplittertes Balkenstück ragte aus seinemRücken.

Es war kein Vergnügen, seine Taschen zu durchsu-

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chen, aber es schien mir notwendig. Ich fand eineklein zusammengefaltete Karte der Weltmeere mitTiefenangaben, die nun nicht mehr viel zutreffenderwaren als ein Almanach vom vergangenen Jahr. Eineangezeichnete Stelle fiel mir ins Auge: ein mit derHand eingetragener Kreis um Kreta – die Insel, dieZablun erwähnt hatte. Aber mir blieb keine Zeit, mirjetzt darüber Gedanken zu machen. Ein weiterer Teilder Decke krachte herab, und ich sah zu, daß ichwegkam.

Das Haus brach nun immer schneller ein. Ichschaffte es gerade noch rechtzeitig über unzähligeTrümmer nach unten. Ich kletterte über die Reste derTür und sah etwas Grünes im Holz eingeklemmt. Ichzog daran und erkannte das metallische Material vonRicias Bodysuit. Es war zweifellos abgeschnitten undnicht gerissen.

Hatte sie mir mit dem Stückchen Stoff einen Winkgeben wollen? Offenbar hatte sie doch folgsam ge-wartet, und dann waren Sethys und seine Knechtegekommen. Letztere hatten sie mitgenommen, und erwar geblieben, um mich bei meiner Rückkehr fertig-zumachen. Trotz meiner Bemühungen war sie nunalso wieder in der gleichen Lage wie vor meiner Ein-mischung. Ich ließ wütend den Fetzen fallen undstieg hinaus in den Weltuntergang.

Der Schuppen stand noch, und meine Jacht wiegtesich in den Wellen. Der Motor sprang sofort an. Ichfuhr rückwärts heraus und wendete zur offenen See.Die starken Scheinwerfer streiften über entwurzelteBäume, teilweise herausragende Dächer, deren Ziegelsich längst gelöst hatten, Tierkadaver und auch ein

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paar Leichen. Drei riesige Wellen holten mich ein undspülten über Deck. Sie ließen mich halbersäuft zu-rück, aber glücklicherweise hatte ich mich an der Re-ling festhalten können. Der Jacht schienen die Sturz-fluten nichts ausgemacht zu haben. Hinter mir ver-schwand Miami. Ich wußte nicht, ob die Stadt amHorizont versank oder von den Wellen verschlungenwurde. Ich hoffte nur, daß Ricia in Sicherheit war –frei oder auch gefangen. Ich erinnerte mich an ihrenvertrauensvollen Blick, als ich sie alleingelassen hatte– und jetzt ließ sie mich im Stich.

Aber verdammt, was kann man schon tun, wenndie Stadt um einen herum in Trümmer fällt? Ichdachte an den Ring, den sie mir geschenkt hatte –auch ein Beweis ihres Vertrauens. Zum Teufel damit!Ich zog an dem Silberreif. Er schien an meinem Fingerzu vibrieren, mich erinnern zu wollen, daß ich einVertrauen enttäuscht hatte. Je heftiger ich an ihmzerrte, desto weniger wollte er sich über meinen Knö-chel ziehen lassen. Also gut, ich würde mich späterseiner entledigen und das arme Ding vergessen, dasihn mir gegeben hatte.

Jetzt mußte ich erst einmal einen Kurs ausarbeiten.Ich konnte mich nordwärts entlang der Küste halten,bis ich einen geeigneten Hafen fand. Irgendwo in denBergen würde ich schon ein neues Heim finden, woes sich aushalten ließ, bis der Kataklysmus vorbei warund das Leben wieder einen normalen Lauf nahm ...

Unwillkürlich dachte ich erneut an das Mädchenund an die Männer mit den ausdruckslosen Gesich-tern, die sie davongezerrt hatten ...

Gott verdamme sie! Wo sie wohl jetzt waren? Ge-wiß nicht in Miami, dazu schienen sie mir zu ausge-

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kocht. Sicher, Sethys hatte Pech gehabt, aber seineFolterknechte waren bestimmt in Sicherheit. Und wosie sich hingewandt hatten ...

Dann dachte ich an Kreta. Sethys hatte die Insel aufseiner Karte angezeichnet. Zablun hatte sie erwähnt.Die Münze stammte von dort. Ich holte sie herausund hielt sie ins Kompaßlicht.

Kreta. Ich hatte nicht viel, wonach ich mich richtenkonnte. Aber irgendwie brannte der Name in mir. Eswürde ein langer Weg sein, doch mit der Ausrüstungan Bord konnte ich es schaffen.

Ich studierte die Nordatlantikkarte, überprüfte denKompaß und setzte den Kurs. Ich kam mir vor wieein Narr. Aber trotzdem war mir plötzlich wohler.

Die Route, die ich mir durch den Kanal nördlichder Great Abaco Insel ausgewählt hatte, stellte sichals ein einziger Schlamm heraus. Erst gegen Morgenfand ich einen freien Wasserweg im Norden derGrand Bahama Insel, die jetzt eine Bergkette auf ei-nem neuen Subkontinent war – eine Reihe von grü-nen Gipfeln über einem Hügelland aus stinkigemgrauen Sand.

Langgestreckte Wellen hoben das Heck meinesBootes in einem 15-Sekunden-Abstand und rolltenauf die Küste zu. Vier Stunden später befand ich michan einer Stelle, wo man eigentlich die Bermudainselnsehen müßte. Aber entweder taugte mein Fernglasnichts, oder mein Kurs stimmte nicht, oder ein weite-res schönes Stück Landschaft war unter dem Wasserversunken.

Ja, es war wirklich ein ordentlicher Weg beiHöchstgeschwindigkeit über freies Wasser unter ei-ner Sonne, die von einer hochliegenden Schicht Smog

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verschleiert war, während eine niedrigere Lage denjetzt nur allzu vertrauten Geruch von heißen Steinenund Schwefel mit sich trug. Fünfhundert Meilen aufoffener See mußte ich noch Ascheteilchen aus meinenAugen reiben.

Meine Verpflegung war bedeutend besser als dasDosenzeug, von dem ich mich in letzter Zeit hatte er-nähren müssen. Es gab geräucherten Truthahn, Arti-schockenherzen, schottisches Weizenbrot, eine größe-re Auswahl an tiefgekühltem Gemüse und Obst.Nicht einmal an Eiswürfeln für meinen Whisky fehltees. Und die Weine in den Kisten verrieten den Ge-schmack eines Kenners.

Das Schiffsradio gab nicht viel mehr als ein Kni-stern und Krachen her, aber das Tonbandgerät berie-selte mich mit klassischer Musik, sofern man beiWagner noch von Berieseln sprechen kann.

Der Luftzug durch die geöffneten Fenster hatte denGestank von Verwesung aus der Kajüte vertrieben,aber ich zog es vor, die erste Nacht auf einem Faltbettim Freien zu schlafen. Als ich beim Aufwachen je-doch den Ruß bemerkte, der mich dicht bedeckte,verzog ich mich doch lieber nach unten.

Am dritten Tag drehte sich der Wind, der Himmelverdunkelte sich mit Regenwolken, und dann goß eswie aus Kannen. Aber es schien die Luft zu reinigen.Am Spätnachmittag wagte sich die Sonne wiederheraus und sah mehr wie früher aus, als ich sie in denletzten Monaten gesehen hatte.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang kam Madeira inSicht, ein verschleiertes Grün weit nördlich meinesKurses. Bei Einbruch der Dämmerung tauchte dannauch die Nordwestküste Afrikas auf. Sie schien ziem-

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lich normal, wenn man von ein paar Schlammflächenabsah, die nicht auf der Karte eingezeichnet waren.

Während der Nacht hielt ich nördlichen Kurs, pas-sierte Lichter, die ich als Casablanca und Rabat iden-tifizierte, und erreichte Gibraltar im Morgengrauen.Der berühmte Stein war nicht mehr, dafür gab es ei-nen neuen, etwa dreißig Kilometer breiten Kanal. Ei-ne Strömung von gut fünfzehn Knoten ergoß sichdurch die Straße von Gibraltar. Ich kämpfte gut zweiStunden damit, bis ich endlich in ruhigeres Wasserunter dem Kap oberhalb von Tétuan kam.

Die Stadt sah recht friedlich aus – und nach vierTagen auf See mußte ich ganz einfach einen Drink anLand haben. Ich legte an und winkte einem hagerenMarokkaner zu, der mich groß anstarrte.

»Ich brauche etwas zu trinken«, erklärte ich ihm. Ernickte und führte mich einen Hang zu einem wind-schiefen Schuppen hinauf, den lediglich ein riesigesPepsi-Cola-Schild noch zusammenhielt. Im Innernschob mir eine fette Frau warmes spanisches Bierüber die Theke zu und wehrte die lästigen Fliegenmit einer roten Plastikklappe ab. Sie erzählte mir inschlechtem Spanisch ihre Sorgen. Sie hatte eine Men-ge, aber keine ärgeren als ich.

Der Mann kam mit zwei Jungen herein. »SchönesBoot, Señor«, sagte einer von ihnen bewundernd.»Wohin Sie fahren?«

Sie redeten eine Weile aufeinander ein und be-nutzten auch die Hände dazu. Mehrmals hörte ich»Kreta« und »Sizilien«. Dann schüttelte der ältereJunge den Kopf. »Nicht können fahren nach Kreta,Señor. Ist alles ...« Er überlegte und wedelte mit denHänden herum. »... trockenes Land dazwischen.«

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Ich fragte sie aus, so gut ich konnte und erhieltauch ein ziemlich klares Bild. Sizilien war nicht län-ger eine Insel. Die Südspitze war mit Kap Bon ver-bunden, und im Norden vereinte sie sich mit demitalienischen Festland. Na ja, was konnte ich machen?Ich gab der netten Familie eine Handvoll Geld undkehrte zu meiner Jacht zurück. Im letzten Augenblickkam Papa mir mit einem Krug Landwein nach. Ichschenkte ihm noch eine Schachtel Zigaretten undbrach auf.

Sie hatten recht gehabt. Ich schaffte es südlich ge-rade noch an Sardinien vorbei, aber mein Kiel streifteschon fast den Grund, und die Luft wurde mit jederMeile stickiger. Nach einem weiteren halben Tag überUntiefen kam ich im Hafen von Neapel an, der nochbrav in Meereshöhe lag. Durch die dichte Rauchdeckedort war der feuerspeiende Vesuv nicht mehr als einheller Schleier. Ich hatte mir die Atemmaske wiederumgebunden und legte um drei Uhr nachmittags ineiner Dunkelheit wie bei einer Sonnenfinsternis an.Innerhalb einer halben Stunde hatte ich meine Jachtan einen schnellentschlossenen Burschen verkauft,der wie ein Marsianer in einer antiken Gasmaske aus-sah und den dreckigsten weißen Anzug trug, den ichje gesehen hatte. Der Handel war für mich nicht derbeste, aber ich bekam zumindest, was ich brauchte –einen Turino, ein ziemlich neues Modell sogar. Ichhätte das Boot lieber untergestellt, aber das wäre inNeapel sogar in normalen Zeiten riskant gewesen.

Ich lud zwei Kisten Notrationen aus der Jacht inden Wagen und die verpackte Artillerie. Eine Stundespäter war ich schon auf der Straße nach Tarent. Vondort aus, so hatte mir jedenfalls mein neuer Ge-

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schäftsfreund versichert, konnte ich mit Luftkissenüber etwa hundert Kilometer ehemaligem Meeres-grund bis zum griechischen Festland fahren. Erwußte nichts über Kreta, nahm jedoch an, daß ichhinkommen könnte, ohne mir die Socken naß zu ma-chen.

Mitternachtsschwarzer Dunst verband den Vesuvmit dem Ätna. Leute sah ich die ganze Strecke kaum,selbst in Neapel waren nur wenige auf der Straßegewesen. Der Grund war leicht zu verstehen. Selbstmit geschlossenen Scheiben und der heftig arbeiten-den Filteranlage war die Luft zum Schneiden dick.Ich pflügte mich hindurch. Meine Neuerwerbungschaffte achtzig Sachen über die Apeninnen, undhundertvierzig auf der Ebene.

Die Annahme meines Geschäftsfreundes bestätigtesich: Die Straße von Otranto war eine sonnengehär-tete Strecke von mit Steinen gespicktem Lehm. DasLicht war hier besser. Die Berge hielten offenbar vielvom Rauch der Vulkane zurück. Die Überquerungdauerte zwei Stunden. Später, auf höherem Grund,schwenkte ich südwärts ab und schlängelte michdurch das gebirgige Land. Gegen Sonnenuntergangerreichte ich ein sumpfiges Terrain, von dessen ge-genüberliegendem Ende Kreta wie eine schwacheLichtlinie zu sehen war. Unter überhängenden Felsenam ehemaligen Strand machte ich Rast und schlief biszum Morgengrauen.

Die Küste Kretas war eine ausgedörrte Felsenland-schaft unter dem von Rauch verfärbten Sonnenauf-gang. Etwa einen Kilometer landeinwärts stieß ichauf eine Straße, der ich zu einer Stadt folgte, die aufmeiner Karte als Chania angegeben war und offen-

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sichtlich nicht allzusehr gelitten hatte, jedenfallsherrschte reges Treiben. Ich parkte auf einer breitenStraße, auf deren Bürgersteig Händler ihre Ware feil-boten. Einen halben Block von meinem Wagen ent-fernt leuchtete ein Neonzeichen – eine Bar. Ich tratein. Es war ruhig wie in einer Kirche. Ein gedrunge-ner dunkler Mann in sauberer weißer Weste poliertedie ohnehin blitzblanke Theke, als ich mich auf einenHocker schwang.

»Weinbrand«, bestellte ich. »Leisten Sie mir dochGesellschaft.«

Er füllte zwei Gläser und wir prosteten einanderzu. »Kommen Sie aus dem Süden?« fragte er. Ichschüttelte den Kopf, und er fragte nicht weiter. DieTür ging auf. Jemand setzte sich auf den nächstenHocker. Ich sah ihn mir im Barspiegel an. Er hatte einkantiges, sonnengebräuntes Gesicht, hellblondesHaar im Kennedyschnitt, und einen Nacken wie eineBulldogge. Ich spürte geradezu, wie sich mein Ge-sicht zu einem strahlenden Grinsen verzog. »EinenDrink für Mr. Carmody«, bat ich den Barkeeper.

Der Mann neben mir schwang herum. Eine Pranke,auf die ein Boxer stolz gewesen wäre, packte meineHand und schwenkte sie wie einen Pumpenschwen-gel.

Wir unterhielten uns zehn Minuten lang über dieguten alten Zeiten, als wir noch gemeinsam die Spiel-höllen Renos unsicher gemacht hatten, dann warf icheinen Blick aus dem Augenwinkel auf den Barkeeper,der am anderen Ende der Theke beschäftigt war. Wasich jetzt mit Carmody besprechen wollte, war nur fürihn bestimmt.

»Ich bin nicht zu meinem Vergnügen hier«, erklärte

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ich ihm. »Ich spiele ein bißchen Privatdetektiv.«»Muß ja was ziemlich Großes sein, wenn du dich

deswegen von den Vergnügungszentren losreißenkonntest.«

»Groß genug«, versicherte ich ihm. »Meine Freun-din wurde entführt – oder umgebracht.«

»Und weißt du, wer es getan hat?«»Ich glaube, ich weiß wer, aber nicht weshalb.«»Und du hoffst, es in Kreta herauszufinden?«Ich fischte die Goldmünze aus der Tasche und

schob sie ihm zu. Er hob sie hoch, betrachtete sie. DerBarkeeper kam zurück. »Nick ist in Ordnung«, sagteCarmody leise. »Stammt die Münze von hier?«

»Man behauptet es jedenfalls.«»Und wie hängt sie mit deiner Freundin zusam-

men?«»Das weiß ich nicht so recht. Hast du ein paar Mi-

nuten Zeit, dann erzähle ich dir alles.«Er kippte seinen Drink hinunter, und wir setzten

uns in eine Ecke, von der aus wir beide Türen im Au-ge behalten konnten. Der Barkeeper brachte zweineue Drinks. Zwischen den einzelnen Schlucken er-zählte ich ihm die ganze Geschichte, von Greenleafbis zu Setbys letztem Auftritt.

»Ich weiß nicht, ob sie von selbst weglief, oder obSethys Leute sie entführten«, schloß ich. »Wenn siesie erwischt haben, ist sie vermutlich schon tot, dennso arbeiten die. Aber vielleicht täusche ich michauch.«

»Dieser Seemann«, fragte Carmody. »Hat er seinenNamen und Dienstgrad angegeben?«

»Nein, aber er muß einen ziemlich hohen Rang ge-habt haben. Commander mindestens, nehme ich an.«

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»Und nach allem, was inzwischen geschehen ist,zweifelst du auch nicht mehr an seiner Geschichte?«

»Sie erscheint mir immer wahrscheinlicher«, ge-stand ich.

»Und dieser Sethys ist ziemlich schnell auf dichaufmerksam geworden. Meinst du, er hat irgendwieeinen Tip bekommen?«

»Wäre schon möglich.«»Könnte das Mädchen auf dich angesetzt gewesen

sein?«Ich dachte darüber nach. »Sie könnte es – aber ich

glaube es nicht.«»Irgendeine Ahnung, weshalb sie dein Goldstück

behalten und dir ein gleiches, beziehungsweise ähnli-ches gegeben haben?«

»Vielleicht ist das da gefälscht ...«»Gold ist es auf jeden Fall«, versicherte mir Car-

mody. Er nahm es wieder in die Hand und betrach-tete es noch genauer. »Ich glaube nicht, daß ich jemalsso eines gesehen habe. Der Vogel darauf ist jedenfallseine Wildgans. Sehr ungewöhnlich!«

Ich steckte die Münze wieder ein. Nick kam aufuns zu, um zu sehen, ob unsere Gläser schon leer wa-ren.

»Wer versteht etwas von alten Goldmünzen?«fragte ihn Carmody.

»Hurous. Er haust in einer alten Hütte, etwa dreiKilometer östlich von hier.«

Carmody blickte mich an. »Komm, Mal, statten wirihm einen Besuch ab.«

Die Straße endete etwa einen halben Kilometerunterhalb der Hütte. Es war eine ziemlich anstren-gende Kletterei – einen Ziegenpfad hoch. Hurous war

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zu Hause. Er war etwa sechzig, unrasiert, mit kleinenschwarzen Augen, einem runden kahlen Kopf undbeachtlichem Fett um die Mitte.

Er blickte uns mißtrauisch entgegen und richtetevorsichtshalber einen Revolver auf uns.

»Du kannst ihn ruhig wegstecken, Hurous«, versi-cherte ihm Carmody. »Wir wollen nur eine Auskunftvon dir. Das ist Mr. Smith. Er möchte gern wissen, woman antike Souvenirs bekommen kann. Alte Münzen,beispielsweise.«

»Bildet ihr euch vielleicht ein, ich hab' hier einenAndenkenstand?« Hurous senkte den Revolver.

»Er ist an größeren Münzen interessiert – etwa inder Größe eines 5-Drachmen-Stücks«, fuhr Carmodyfort.

Hurous musterte mich von oben bis unten. »Wer ister?«

»Mr. Smith, wie ich schon sagte. Er ist ein bedeu-tender Mann auf dem Geflügelmarkt. Ihm gefälltGeld mit Vögeln darauf. Er hat gehört, du wüßtestvielleicht, wo man es bekommen könnte.«

»Vögel, pah! Wo gibt es schon Geld mit Vögeln?Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?«

»Zeigen Sie ihm ein Muster, Mr. Smith.« Ich holtemeinen Talisman heraus. Hurous betrachtete ihn inseiner Handfläche. Sein feistes Gesicht wirkte, wiemir schien, ein wenig härter.

»Nie etwas Ähnliches gesehen«, behauptete er.»Nehmt es und verschwindet. Ihr habt euch an denFalschen gewandt.«

Carmody nahm das Goldstück und warf es in dieLuft. Die Augen des Fetten folgten ihm.

»Mr. Smith zahlt gut für eine zweite Münze wie

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diese. Genug, daß du ein ganzes Jahr davon lebenkannst.«

»Wo soll ich eine hernehmen? Ihr verschwendetnur meine Zeit. Verschwindet endlich!«

Carmody packte den Fettwanst am Kragen undhob ihn in die Höhe. Hurous hatte plötzlich einKlappmesser in der Hand. Mit einer blitzschnellenBewegung nahm Carmody es ihm ab. Er ließ den Al-ten herunter und hielt ihm beide Hände auf demRücken zusammen.

»Sehen Sie sich um, Mr. Smith«, wandte er sichzwinkernd an mich. Ich stöberte in der schmutzstar-renden Hütte herum, ohne etwas Nennenswertes zuentdecken.

»Letzte Chance, ehe ich dir die Knochen breche«,drohte Carmody und drehte dem Griechen einenArm um. Der Alte ging auf ein Knie.

»Rassias«, winselte er.Carmody gab ihm einen Stoß, daß er auf dem Bo-

den landete, und sah unbewegt zu, bis er sich müh-sam erhob. »Seine Adresse!«

Hurous betastete seinen Arm und bewegte ihn vor-sichtig. »Zehn Dollar«, brummte er schließlich.

Ich holte meine Brieftasche hervor und gab ihmden Schein.

»Er hat ein Haus außerhalb der Stadt, im Westen.Fragt die Fischer nach ihm, sie wissen, wo er zu fin-den ist.«

Carmody nahm vorsichtshalber den Revolver mit.»Du kannst ihn dir unten wieder holen«, sagte er zuHurous.

»Du bist ziemlich hart mit ihm umgesprungen«,meinte ich, als wir im Wagen saßen.

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Er feixte. »Hurous hatte mich an die Polizei verpfif-fen, aber sie konnte mir glücklicherweise nichts an-hängen. Seither hat er wohl darauf gewartet, daß ichihm die Kehle aufschlitze. Das ist alte griechischeSitte. Jetzt lacht er sich bestimmt ins Fäustchen überdie komischen Ausländer. Ich mußte ein bißchengrob sein, damit er glaubt, wir seien wieder quitt.«

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7.

Wir fuhren westwärts aus der Stadt heraus, amStrand entlang, und hielten an, als wir eine GruppeMänner um ein umgekipptes Boot versammelt sahen.Sie starrten uns mißtrauisch entgegen. Carmodygrüßte sie auf Griechisch und fragte nach Rassias. DasSchweigen, das nach der Nennung dieses Namensfolgte, ließ die bisherige Mundfaulheit geradezu lauterscheinen. Einer der Fischer bekreuzigte sich, als ersich unbeobachtet glaubte.

»Vielleicht hilft der Geruch von Geld ihrem Ge-dächtnis nach, Mr. Smith«, meinte Carmody undblickte mich an. Ich holte die übliche Zehnernote her-aus. Keiner griff danach. Carmody redete wie einWanderprediger auf sie ein. Die Männer blickten ein-ander an. Dann deutete einer mit dem Arm, ein ande-rer nahm mir den Schein aus der Hand. Danach zo-gen sie gemeinsam ab.

Carmody ging mir voraus um eine Biegung amStrand, hinter der ein einsames Häuschen verstecktlag. »Das muß es sein«, meinte er.

»Ich hatte das Gefühl, daß Rassias nicht sehr beliebtbei ihnen ist.«

»Sie haben Angst vor ihm. Warum, wollten sienicht sagen.«

Das Haus sah ziemlich stabil aus und hatte offen-bar sogar Elektrizität, nach dem Lichtmast davor zuschließen. Am Anlegeplatz dahinter war ein gut inSchuß gehaltener Zehnmeterkahn vertäut.

»Sieht aus, als brauchte Rassias nicht jeden Pennyumzudrehen«, bemerkte Carmody und klopfte an die

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Tür. Niemand machte auf. Er drückte die Klinke her-unter, öffnete die Tür und warf einen Blick ins Innere.»Er ist nicht zu Hause.«

»Da kommt er schon«, rief ich. Er folgte meinemBlick. Ein dünner, drahtiger Mann mit einem buntenTuch um den Kopf kam aus dem Boot. Er trug einenschwarzen Rollkragenpullover, eine enge Hose vonundefinierbarer Farbe, aber keine Schuhe.

»Was wollt ihr?« fragte er mit rauher Stimme.»Sind Sie Rassias?« erkundigte sich Carmody.»Allerdings.«»Mein Name ist Carmody ...«»Ich kenne Sie, Mister.«»Um so besser. Das hier ist mein Freund Smith. Er

sucht etwas, vielleicht können Sie ihm behilflichsein.«

»Hat er etwas verloren?«»Ich habe gehört, Sie könnten mir vielleicht sagen,

wo man Goldmünzen einer bestimmten Art bekom-men kann«, warf ich nun ein.

Rassias betrachtete mich eingehend. »Kommen Siemit ins Haus«, lud er uns schließlich ein.

Der Wohnraum war sehr sauber. An einer Wandstand eine Couch mit ordentlich glattgestrichenemBezug, auf einem großen Tisch lagen mehrere Zei-tungen, und eine Ecke wurde ganz von einem großen3-D-Farbfernseher ausgefüllt. Eine Neonleuchte hingvon der Holzdecke. Rassias deutete auf zwei beque-me Sessel und setzte sich uns gegenüber.

»Haben Sie mit denen gesprochen?« fragte er unddeutete mit dem Kopf in Richtung Stadt.

»Sie reden nicht viel«, sagte ich. »Vielleicht könntenSie mir ein bißchen mehr helfen.«

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»Helfen? Wie?«Ich holte mein Goldstück heraus und zeigte es ihm.

»Haben Sie schon einmal so eines gesehen?«Rassias warf nur einen flüchtigen Blick darauf.

»Was springt für mich dabei heraus?«»Ich brauche lediglich eine Auskunft«, erklärte ich

ihm. »Ich zahle gut dafür.«»Warum müssen alle Leute zu mir kommen, wenn

sie nicht mehr weiter wissen«, brummte Rassias. Erlehnte sich vor. »Ich verrate Ihnen, warum. Weil ichRassias bin und Rassias keine Angst hat. Darum.« Erlehnte sich wieder zurück.

»Sehr gut. Dann können Sie mir auch sagen, wasSie über diese Art von Münzen wissen.«

»Ich habe selbst ähnliche«, erklärte er mir.»Woher?« fragte ich aufgeregt.»Ich bekam sie als Bezahlung.«»Von wem?«»Von ein paar feinen Herren.« Rassias feixte. »Ich

fuhr sie mit meinem Boot auf das Meer hinaus. Ichkenne das Wasser hier wie meine Westentasche –auch jetzt noch.«

»Sie haben Sie zu einem bestimmten Ort gebracht?«»Natürlich.«»Wo ist er?«Rassias runzelte die Stirn. »Dort draußen.« Er deu-

tete mit dem Kinn.»Wie wäre es, wenn Sie ein bißchen deutlicher

würden, Mr. Rassias? Ich sagte Ihnen doch, daß ichgut bezahle.«

Rassias lachte nervös. »Ich beantworte alle IhreFragen, Mister. Vielleicht haben Sie bloß noch nichtdie richtigen gestellt.«

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»Sie wissen also, wohin Sie sie gebracht haben?«»Ja. Das weiß ich.«»Und?«»Sie werden es mir nicht glauben, darum fällt es

mir auch schwer, darüber zu reden.« Nun schien ermir tatsächlich beunruhigt.

»Weshalb sollte ich Ihnen nicht glauben – wenn Siedie Wahrheit sprechen?«

Rassias ruckte auf seinem Sessel und fuhr sich mitdem Handrücken über den Mund. »Okay«, brummteer schließlich. »Sie kamen zu mir und fragten, ob ichsie hinausfahren würde, etwa zwanzig, fünfund-zwanzig Kilometer. ›Natürlich‹, sagte ich, ›warumnicht?‹ Sie sahen wohlsituiert aus, Geschäftsleute ausAthen, vielleicht, dachte ich. Sie wollten noch in dergleichen Nacht hinaus.

Als wir etwa eine Stunde gefahren waren, kam ei-ner der feinen Herren zu mir ins Bootshaus und sagtemir, wie ich steuern soll. Ich hatte keine Ahnung,wohin er wollte, aber ich habe seine Anweisungen be-folgt. Nach einer halben Stunde sagte er: ›Halten Siehier.‹ Also hielt ich. Er sagte, ich solle hinunter inmeine Kabine gehen. Ich versuchte, es ihm auszure-den, aber schließlich tat ich doch, was er wollte. Siehaben mich sehr gut bezahlt. Aber ich wußte etwas,das sie nicht wußten. Manchmal fische ich weit drau-ßen nach Garnelen, dann stelle ich die Automatik-steuerung ein und mache es mir unten ein bißchenbequem. Aber ich möchte natürlich wissen, wasdraußen los ist, damit es nicht zu einem Zusammen-stoß kommt. Also habe ich Spiegel angebracht. Ichkann mich auf meine Koje legen und von dort aus dasVorderdeck und die See vor dem Bug sehen.

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Das tat ich auch. Ich habe unten auch eine Pistole,wissen Sie? Ich hielt sie bereit, falls die feinen Herrenirgend etwas im Schilde führten. Aber sie ließen sichnur über die Reling hinunter, alle vier in ihren gutenAnzügen. Ich lief schnell an Deck und holte den Ret-tungsring. Es ist doch unmöglich, in diesen Anzügenlänger zu schwimmen. Ich schaltete den großenScheinwerfer ein, aber außer schwarzem Wasser warnichts zu sehen, zumindest keine Passagiere. Und siesind auch nicht zurückgekommen.«

Carmody pfiff durch die Zähne. »Was ist das? Einverrückter Selbstmörderclub?«

»Ich weiß es nicht. Sie haben mich dafür bezahlt,daß ich sie hinausbringe, und das habe ich auch ge-tan. Wenn sie über Bord gehen wollen, ist das ihreSache.«

»Wie lange ist das her?«»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht einen Monat,

oder auch etwas länger.«»Und Sie haben sie früher nie zuvor gesehen ge-

habt?«»Nein – nicht zuvor.«»Was wollen Sie damit sagen?«»Danach habe ich einen von ihnen wiedergesehen.«»Wurde er am Strand angeschwemmt?«»Er kam durch die Tür.«»Das war, nachdem er ins Wasser gesprungen

war?«»Ja, es ist noch nicht lange her.«»Dann müssen sie ein Schiff dort draußen haben

...«»Kein Schiff. Nichts. Ein Mensch, gekleidet wie die,

schafft es keine zehn Meter. Ich habe damals die hal-

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be Nacht mit eingeschalteten Scheinwerfern gewartet.Keiner tauchte mehr auf.«

»Aber der eine kam zurück?«»Allerdings. Ich sollte ihn wieder hinausfahren.

Diesmal hatte er zwei Freunde bei sich. Er hat imvoraus bezahlt. Ich habe sie zur gleichen Stelle ge-bracht.«

»Woher wollen Sie wissen, daß es die gleiche war?Sie sagten doch selbst ...«

»Ich weiß es ganz einfach. Am Geruch des Wassers,am Wind, am Kräuseln der Wellen. Etwas hier ...«, erdeutete auf seine Brust, »sagt es mir. Nennen Sie es,wie Sie wollen.«

»Und was geschah diesmal?«»Das gleiche. Als ich auf meiner Koje lag, nachdem

sie mich in die Kabine verbannt hatten, gingen sieüber Bord. Diesmal suchte ich nicht nach ihnen, son-dern fuhr nach einer Weile heim.«

»Und Sie haben Ihnen in Münzen wie dieser be-zahlt?« Ich hielt mein Goldstück hoch.

»Ja. Ich sagte ihnen, ich nehme kein Papiergeld an.Beim zweitenmal habe ich auch den Preis erhöht.«

»Merkwürdige Geschichte«, brummte Carmody.»Ich möchte wissen, wieviel davon wahr ist.«

Rassias kniff die Augen zusammen. »Wollen Siemich einen Lügner nennen?«

»Ich frage mich nur, ob Sie es irgendwie beweisenkönnen.«

Rassias nahm eine kleine Holzkassette vom Regalund packte ein halbes Dutzend glänzender Gold-münzen aus. Ich lehnte mich vor und betrachtete sie,dann nahm ich eine in die Hand. Sie hatte links vomSchnabel des Vogels einen kleinen Abdruck – von

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meinem Zahn! Das war die Münze, die der Seemannmir gegeben und Mr. Zablun ausgetauscht hatte.

»Ich habe noch mehr davon gehabt«, erklärte Ras-sias. »Aber einige machte ich bereits zu gängigemGeld.«

Ich blickte ihn nachdenklich an. »Können Sie dieStelle wiederfinden?«

»Sicher. Bis auf hundert Meter genau.« Er sah michdurchdringend an. »Warum?«

»Ich will mich dort umsehen. Bringen Sie michhin?«

Er lachte. »Solange Sie mich dafür bezahlen. MeinBoot steht Ihnen zur Verfügung.«

»Wir brauchen es nicht«, erklärte Carmody. »Wirnehmen meines. Sie machen den Lotsen.«

»Ihr Boot, mein Boot, spielt keine Rolle. Es kostetSie hundert Dollar.«

»Einverstanden. Wir fahren noch heute nacht.«Carmody blickte ihn an. »Wir treffen uns um neunUhr in Stavros' Bar. Bis dahin.«

»Was erwartest du da draußen zu finden, Mal? Ei-ne Flasche mit einem Liebesbrief deiner Kleinen?«fragte Carmody, als wir uns von Rassias verabschie-det hatten.

»Ich hätte nichts dagegen.«»Finde dich damit ab, Mal. Diese Ricia ist sicher

längst tot.«»Wahrscheinlich. Aber trotzdem ...«»Wie du meinst.« Wir kehrten zum Wagen zurück

und fuhren in die Stadt.Carmodys Boot war eine wendige Zwölfmeterjacht

mit mehr elektronischen Spielereien als ein Versuchs-schiff der Marine. Rassias folgte uns an Bord und be-

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schnüffelte sie von einem Ende zum anderen, wäh-rend ich meine Waffenbündel verstaute.

»Großartiger Kahn«, wandte er sich anerkennendan Carmody. »Wie wär's, wenn Sie ihn mir in IhremTestament vermachten?«

»Können Sie mit den Segeln umgehen?«»Was glauben Sie? Halten Sie mich vielleicht für

einen dieser Benzinmatrosen?«»Wir fahren mit dem Diesel hinaus, aber etwa eine

halbe Meile vor unserem Ziel schalten wir den Motoraus und setzen die Segel.«

Über dem lauten Dröhnen der Maschine fragtemich Carmody: »Bist du überhaupt schon jemals ge-rätegetaucht?«

»Schon ein paarmal«, versicherte ich ihm.»Eine schöne Art zu ertrinken«, brummte er.»So gut wie jede andere auch«, murmelte ich. »Die

halbe Welt liegt unter Wasser, und die andere Hälfteerstickt an den vulkanischen Gasen. Spielt es da nocheine Rolle, wie man stirbt?«

»Du bist bitter. Das Mädchen muß dir eine Mengebedeutet haben.«

»Ich kannte sie kaum.«Eine steife Brise sprühte mir kühles Seewasser ins

Gesicht. Hier draußen war es fast möglich, sich vor-zustellen, daß auf dem Land das Leben seinen nor-malen Lauf nahm, daß die Musik spielte und dieMenschen sangen und lachten und Picknick irgend-wo auf grünen Wiesen oder im schattigen Waldmachten, und daß ihre Häuser noch standen, wennsie heimkehrten, und die schlimmste Naturkatastro-phe ein Gewitter auf dem Rückweg war.

Aber dieser Traum war ausgeträumt – während

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meiner Lebenszeit jedenfalls. Die Erde würde eineWeile brauchen, bis sie sich wieder beruhigt und ihrgegenwärtiges Entwicklungsstadium hinter sich ge-bracht hatte.

Vierzig Minuten ging es Kurs Ost, dann kam Rassi-as vom Bug, wo er bis jetzt gestanden hatte, zu uns.

»Zeit, die Segel zu setzen, Käpt'n«, erklärte er. Of-fenbar machte ihm unser Abenteuer großen Spaß.

»Sind Sie sicher?« fragte Carmody.»Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, warum

bezahlen Sie mich dann?« Er ging zur Takelung undzog das Öltuch herunter, dann winkte er. Carmodydrückte auf einen Knopf. Der Teleskopmast schoß indie Höhe, das Segel blähte sich auf. Das Motorenge-räusch verstummte. Ich konnte nun das Wasser gegenden Kiel schlagen hören und das Seufzen des Windesin der Takelung. Wir schalteten Scheinwerfer undLichter aus und fuhren völlig im Dunkeln.

»Ich geh hinunter und zieh mich um«, sagte ich zuCarmody. In der Kabine schlüpfte ich in eine langeUnterhose und stieg in den Klimaanzug. Dannschnallte ich mir die Halterung um und justierte dieRiemen so, daß die Sauerstoffflaschen bequem aufmeinem Rücken lagen. Die Atemmaske war dasneueste Modell, ein flexibler Plastikhelm mit einerHundertachtziggradsichtscheibe. Dann regulierte ichdie Luftzufuhr.

Kurz darauf kam Carmody herunter. Er überprüfteschnell noch einmal meine Geräte. »Nach RassiasSchätzung haben wir die Stelle erreicht. Ich habe denGyroanker ausgeworfen, damit wir nicht abgetriebenwerden. Das Wasser ist hier etwa fünfunddreißig Fa-den tief.«

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»Gut. Ich bin soweit.«An Deck erklärte mir Carmody noch einmal die

Kontrollen – ein paar einfachere Schaltknöpfe, die dieLuftmischung regulierten, und ein größerer für denAntrieb.

»Hier noch etwas Wichtiges.« Carmodys Fingertupfte auf einen flachen Hebel über meinem rechtenKnie. »Eine Spritze. Sie macht dich schnell wiedermunter, wenn du dort unten schläfrig werden soll-test.«

»Ich habe genug, das mich wachhält.«»Trotzdem. Denk daran, es ist ja nur für den Not-

fall.« Dann befestigte er eine kleine Öltuchtasche anmeinem Gürtel. »Werkzeug«, erklärte er. »Ein Mini-schneidbrenner und ein paar andere nützliche Klei-nigkeiten.«

»Ich habe nicht die Absicht, dort unten ein Safe zuknacken.«

»Warum willst du überhaupt hinunter, Mal? Waserwartest du zu finden?«

»Wenn ich es wüßte, brauchte ich ja nicht zu ge-hen.«

»Ich würde mitkommen, aber es ist wohl besser,ich behalte unseren Freund im Auge. Es wäre ziem-lich unangenehm, wenn er mit dem Boot verschwin-det, während wir lustig tauchen.«

»Ist schon gut.«»Weißt du, du könntest das Ganze vergessen. Ich

hätte nichts gegen einen Partner wie dich.«»Danke. Aber ich fürchte, ich muß zuerst einmal

die Karte spielen, die ich gezogen habe.«»Wie du meinst.« Carmody drückte wieder auf ei-

nen Knopf, und eine chromglänzende Leiter faltete

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sich aus dem Heck. Ich kletterte sie hinunter undspürte den Zug des Wassers um meine Füße.

»Melde dich hin und wieder«, mahnte Carmody,»damit wir uns keine unnötigen Sorgen machen.«

»Das werde ich. Fahrt nicht weg.«»Wir werden hier sein, wenn du zurückkommst.

Alles Gute.«Das Wasser schloß sich über meinem Kopf. Ich ließ

die Leiter los und sank in absolute Schwärze.

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8.

In meinen Ohren waren Geräusche: mein lauterAtem, das Summen des Umwandlers, das Reiben desGürtels gegen meinen Klimaanzug. Ich drückte aufden Antriebsknopf und spürte den Strahl der Was-serdüsen, die unter meinem Rückentank befestigt wa-ren. Die Leuchtzeiger der Tiefen- und Druckmesseran meinem Handgelenk waren durch das tintigeWasser kaum zu sehen. Ich hielt sie dicht an die Au-gen, dann manövrierte ich mich in die empfohleneStellung mit dem Gesicht nach unten.

Es herrschte hier eine ziemlich heftige Strömung.Carmody hatte erwähnt, daß das Mittelmeer immernoch einen Zentimeter pro Woche fiel und durch dieStraße von Gibraltar floß, um den Höhenunterschiedauszugleichen, der sich durch das Auftauchen derLandbrücke von Sizilien ergeben hatte.

Ich tauchte nun in einem Fünfundvierziggradwin-kel. Als ich eine Tiefe von etwa zwanzig Metern er-reicht hatte, studierte ich meine Umgebung. Es war,als starre man mit zusammengekniffenen Augen ineinen dunklen Raum. Das Wasser war kalt hier. Michfror in den bloßen Fingern. Ich schob sie in die war-men Taschen meines Klimaanzugs. Mein Positions-anzeiger verriet, daß ich bereits ungefähr hundertMeter vom Boot abgetrieben war. Ich schwamm etwafünf Minuten, bis ich mich wieder direkt darunter be-fand, dann tauchte ich erneut. Der Druck wurde all-mählich unangenehm, aber ich bemühte mich, nichtdarauf zu achten.

In fünfundvierzig Meter Tiefe mußte ich mir eine

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längere Rast gönnen. Gegen den Druck der See zuatmen, war äußerst anstrengend. Aber auch hier warnoch absolut nichts zu sehen. Dafür schossen mir umso unangenehmere Gedanken durch den Kopf – waswäre, wenn Haie auftauchten? Oder die Luftversor-gung versagte? Oder mir übel wurde?

Ich war wütend auf mich und riß mich zusammen.Die Leuchtnadel an meinem linken Handgelenk hattebereits die Fünfzigmeteranzeige überschritten. So tiefwar ich noch nie in meinem Leben getaucht. DasWasser schien mir nun wärmer, aber vielleicht hatteich auch nur kein Gefühl mehr in den Händen. Ichstarrte in die Tiefe. Fünfunddreißig Faden, hatteCarmody gesagt. Eigentlich müßte ich in einiger Zeitden Grund berühren. Ich strampelte mit den Füßenund tauchte noch ein paar Meter tiefer. IrgendeinPflanzenzeug wogte unter mir. Nun konnte ich es so-gar sehen, es leuchtete ein wenig. Es war ein bezau-bernder Anblick. Ewig könnte ich hierbleiben und diesanften Bewegungen beobachten. Ich fühlte mich soleicht und beschwingt, und das Wasser war wie einewarme weiche Decke.

Aber war da nicht etwas, das ich eigentlich tunsollte? Ich konnte mich nicht mehr so recht erinnern.Irgend etwas rieb gegen mein Knie, störte meine Be-schaulichkeit. Ich tastete danach, spürte einen kleinenHebel. Ich drückte darauf und empfand eine Erleich-terung, als hätte ich eine ungemein ermüdende Arbeithinter mich gebracht. Nun konnte ich mich wiederdem Tanz der graziösen Pflanzen widmen, und demSingen um mich, und den herrlichen Farben vor mei-nen Augen ...

Plötzlich spürte ich den Schmerz in meiner Kehle,

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ein Gefühl, als stießen glühende Nadeln in mich.Mein Kopf zuckte zurück. Ich holte tief Atem, um zubrüllen, erstickte jedoch fast. Ich schlug mit den Bei-nen um mich und bemerkte, daß ich mit dem Kopfnach unten hing. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir,daß ich etwa fünfzehn Minuten bewußtlos gewesenwar.

Mein Herz klopfte wie verrückt. Ringsum war nurDunkelheit, keine strahlenden Farben mehr, ja selbstdie Pflanzen waren verschwunden, und von dembetörenden Singen war natürlich auch nichts zu hö-ren. Ich hatte noch einmal Glück gehabt, aber wieleicht hätte es schiefgehen können! Die ganze Sachewar Irrsinn. Es gab hier nichts zu entdecken. Es warZeit, zum Boot zurückzukehren und mir ein paar stei-fe Drinks zu genehmigen. Carmody war ein guterKerl. Ich könnte sein Angebot annehmen und diesehoffnungslose Suche aufgeben. Wir würden uns indie Südsee zurückziehen, dort war das Leben ange-nehmer.

Ich griff nach dem Antriebsknopf – und starrte aufein sanftes grünes Leuchten, das durch die Düsternisdrang.

Mein Tiefenmesser zeigte jetzt sechzig Meter an.Ich paddelte mit den Beinen auf das Glühen zu, aberdie Strömung trug mich daran vorbei. Das Wasserwar hier viel klarer. Ich benutzte die Düsen, um michzu der Lichtquelle zurückzukämpfen.

Das Leuchten kam aus einer runden Öffnung, wievon einem großen Abwasserrohr. Ungefähr drei Me-ter im Innern stand eine Verschlußplatte halb offen.Da heraus drang das Licht. Ich schwamm in dieÖffnung. Hinter der Platte, die den Weiterweg halb

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blockierte, verlor der beleuchtete Tunnel sich in derFerne. Es war gerade genug Platz, mich an der Plattevorbeizuzwängen.

Eine leichte Strömung warf mich an die Barrierezurück. Ich benutzte ein wenig mehr Saft und schoßvorwärts. Ich spürte ein schweres Pochen im Wasser.Der Tunnel machte eine Kurve nach links und führteschräg abwärts. Ich dachte an Carmody, der vermut-lich ungeduldig auf ein Lebenszeichen von mir war-tete. Immerhin waren schon fünfunddreißig Minutenverstrichen, seit ich ihn verlassen hatte.

Die Strömung erschien mir jetzt noch stärker. Ichstellte die Düsen auf Maximum und kam nun müh-sam gegen die Kraft an, die mich einmal links, dannrechts gegen die Wand drückte. Voraus wurde dasLicht heller. Ich sah vertikale Streifen, die sich gegenein grelles Strahlen abhoben.

Die Streifen stellten sich als zweiteiliges Gitter her-aus, das halb offen stand. Gegen den Druck des Was-sers versuchte ich, es weiter auseinanderzubekom-men, aber es war unmöglich. Ich konnte nur einestun: mich hindurchzwängen. Fast wäre ich stecken-geblieben, aber mit viel Mühe schaffte ich es schließ-lich doch. Unter meinen Füßen begannen sich dieschweren Gitter plötzlich zu bewegen und schnapp-ten zusammen wie ein Fangeisen. Hätte ich michnoch dazwischen befunden, wäre ich jetzt in zweiunansehnliche Hälften geteilt.

Ich zog mich durch das Luk hoch und blickte in ei-nen Raum von etwa der Größe des Hauptroulette-saals in Monte Carlo. Die Wände waren aus uraltemverfärbten Stein mit einem halben Dutzend rechtek-kiger Öffnungen, die früher einmal Fenster gewesen

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sein mochten, jetzt aber nicht gerade fachmännischzugemauert waren. Ich hielt Ausschau nach derLichtquelle und sah breite Röhren in der Decke, dieein kaltes Licht ausstrahlten. Mehrere Steinbänke be-fanden sich hier, ein Steintisch und etwas, das wie einVogelbad aussah, aus dem ein Rohr herausragte.Durch eine schwarze Schicht auf dem Boden war anmanchen Stellen ein Mosaik zu erkennen.

Das Pochen hatte aufgehört. Meine Sichtscheibewar beschlagen. Ich nahm den Helm ab, und ein Ge-stank von Fäulnis schlug mir entgegen, der fast zumGreifen war. Ich ging quer durch den Saal und ent-deckte eine Treppe mit glitschigen Stufen, die nachoben führte. Am Kopfende schwang, als ich dagegendrückte, eine Tür nach innen auf, und ich trat in et-was, das gut und gern das Abstellager eines Anti-quitätenhändlers sein konnte.

Es war ein quadratischer Raum, fast zum Berstenmit Urnen, Kommoden, prallen Leder- und Leinen-beuteln, zerbrechlichen Stühlen, und allem möglichenanderen gefüllt. Überall lagen Tonscherben und zer-splittertes Holz auf dem Boden.

Eine Art Pfad schlängelte sich durch diesenWunschtraum eines Sammlers zu einer weiterenTreppe, über die Wasser heruntersickerte. Eine mas-sive Tür mit Messingbeschlägen befand sich an ihremoberen Ende. Ich setzte gerade den Fuß auf die unter-ste Stufe, als die Tür knarrte und aufschwang.

Schnell huschte ich in eine Nische zwischen dieStatue einer kauernden Gottheit und einem umge-drehten zweirädrigen Karren. Die Beine eines Man-nes kamen zum Vorschein, der eine riesige Holztruheherunterschleppte. Er sah sich überlegend um, dann

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stellte er sie einfach auf dem nächsten Haufen ab. Alser sich umdrehte, entdeckte er mich. Ich umklam-merte den Griff meiner Harpunenpistole und warteteab. Er blieb ein paar Schritte vor mir stehen und sagteetwas, das vielleicht Griechisch sein mochte.

Ich schüttelte den Kopf. »Nix verstehen«, erklärteich ihm. »Ich warte auf den nächsten Bus.«

An seinem unbewegten Gesichtsausdruck ändertesich nichts. Irgendwie erinnerte er mich an einen höl-zernen Indianer. Er trug eine dicke olivfarbige Hoseund ein beiges Hemd, beides völlig verdreckt und mitLöchern verziert.

»Wer hat dich in diesen Sektor befohlen?« fragte er.»Ich bin von allein hierhergekommen«, erklärte ich

ihm.»Wo ist dein Führer?« Sein Englisch war gut. Er

hatte nur einen leichten Akzent, der mir jedoch nichtssagte.

»Ich bin der Führer.« Er stand ein wenig zu weitweg, als daß ich ihn mit einem Schritt hätte erreichenkönnen. Ich überlegte, ob ich mein Glück gleich ver-suchen oder warten sollte, bis er näherkam.

»Ich wurde davon nicht unterrichtet«, sagte er jetzt.»Das ist nicht meine Schuld. Du kannst jetzt ge-

hen.«»Diese Anweisung ist unzureichend«, bemerkte er.

»Wohin soll ich gehen?«»Wo möchtest du denn hingehen?« Schweiß perlte

auf meiner Stirn. Der komische Kerl ging mir auf dieNerven. Ich wünschte, er würde endlich etwas tun.

»Ich möchte gern in mein Zimmer zurückkehrenund schlafen«, erklärte er schließlich.

»Gut. Dann tu's doch.«

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Er drehte sich um und ging zur Treppe. Ich sahihm nach. Plötzlich fiel mir etwas ein. »Es wäre viel-leicht besser, du würdest mich erst herumführen,damit ich etwas zu sehen bekomme«, rief ich ihmnach. »Ich bin neu hier.«

Er blickte über die Schulter zurück. »Was willst dusehen?«

»Alles.«»Die Anweisung ist unzureichend«, erklärte er

wieder.»Führ mich nur herum, ich entscheide dann selbst,

was ich mir ansehen möchte.«Er zögerte. »Ich weiß«, sagte ich und kam ihm da-

mit sicher zuvor, »das ist unzureichend, aber tu'strotzdem.«

Die Tür führte in einen Gang, aus dessen Spaltenzwischen den Steinplatten Wasser sickerte. Wir ka-men an vielen ehemaligen Türen vorbei, die nun zu-gemauert waren, aber auch sie und die Wände schie-nen nicht ganz dicht zu sein. Wir erreichten schließ-lich eine Metallwand mit einer runden Tür, die somassiv wie ein Banksafe aussah. Mein Führer faßtemit beiden Händen nach einem Hebel, zog ihn herausund drehte ihn nach links. Die Tür schwang auf. Erduckte sich und trat, dicht gefolgt von mir, hindurch.

Wir befanden uns jetzt auf einem hell beleuchteten,breiten Korridor mit glatten trockenen Wänden undpoliertem Boden. Die Luft hier roch frisch. Ein paarMeter weiter traten wir in einen großen Raum mitMosaikfliesen und einer Wandmalerei, die jungeMänner und Frauen in kurzen weißen Röcken dar-stellte, die mit Stöcken nach aus einem Sumpf auf-steigenden Vögeln warfen. In der gegenüberliegen-

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den Ecke des Zimmers saß ein Mann hinter einemlangen Marmortisch über einen Stoß Papiere gebeugt.Wir gingen auf ihn zu.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte mein Führer zuihm. Der Mann blickte auf und sah mich. Er spranghoch und kam um den Tisch herum.

»Nimm ihn fest«, befahl er meinem Begleiter undgriff nach meinem Arm. Ich ließ ihn meine Hand-kante spüren und versetzte dem anderen einen Kinn-haken, der ihn auf den Tisch warf, von dem er lang-sam herunterglitt. Numero eins hatte sich inzwischenwieder gefangen und wollte ein Goldpfeifchen in denMund stecken. Ich packte es und stieß dabei seinenSchädel zurück. Gurgelnd sank er auf den Boden.

Ich atmete fast so laut wie die beiden, die sich nunauf dem Mosaikboden ausruhten. Aber ich solltenoch keine Ruhe finden. Schritte – von mehr als einerPerson – wurden auf dem Korridor laut.

Die goldverzierte Tür hinter dem Schreibtischschien mir die beste Chance. Sie ließ sich ohne weite-res öffnen, und ich schloß sie hastig wieder hintermir.

Dieser Korridor war noch breiter und höher. Aufeiner Seite reihten sich Säulenbögen aneinander, aberauch hier waren alle ehemaligen Öffnungen zuge-mauert. Ich lief ihn leise entlang und trat durch eineoffenstehende Tür in ein modern eingerichtetesZimmer mit billigen Fabrikmöbeln, in dem offenbardie treusorgende Hausfrau fehlte, denn überall standschmutziges Geschirr herum, und Kleidungsstückelagen verstreut auf Sesseln, dem Tisch und auf denzwei Stufen, die zu einem offenen Torbogen hinab-führten. Auf dem Teppichboden waren mehrere nas-

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se Flecken, und durch einen Sprung in der tapezier-ten Wand sickerten ein paar Tropfen Wasser.

Als ich Stimmen auf dem Korridor hörte, rannte ichhastig die beiden Stufen hinunter und durch dasnächste Zimmer. Ich erstickte fast an dem Gestankvon Knoblauch und ungelüftetem Bettzeug. An derlinken Wand war ein Himmelbett von der Größe ei-nes kleineren Fußballplatzes. Ein gräßlich aufgedun-sener Mann lag auf den goldbestickten Kissen. Erstarrte mich aus winzigen hervorstehenden Augen ineinem braunen Gesicht an, das viel zu klein für dengroßen kahlen Schädel wirkte.

»Halt dich ruhig!« befahl ich drohend. Ich holte dieHarpunenpistole aus dem Gürtel und lehnte mich andie Wand neben dem Bett, wo ich von der Tür ausnicht gesehen werden konnte.

»Wenn sie ihren Kopf hier hereinstecken, jage ichdir eine Harpune durch den Hals, kapiert?«

Die hervorstehenden Äuglein quollen noch weiterheraus, aber sonst gab er kein Zeichen von sich, daßer mich gehört hätte. Vielleicht war er taub, vielleichtverstand er auch kein Englisch. Aber die Waffe in derHand durfte eindeutig genug sein. Die Stimmen ka-men bereits aus dem vorderen Zimmer.

»Schick sie weg!« zischte ich ihm zu. »Auf Eng-lisch!«

Er hob die Brust und der Bauch schwabbelte wieseine Kinne. »Geht weg!« rief er mit einer Stimme wieMicky, die Maus.

Schritte näherten sich der Tür, kaum hörbar aufdem Teppichboden. Jemand sagte etwas, höchstenszwei Meter von mir entfernt. Ich schätzte die Entfer-nung zu den Fettpolstern am Hals des Dicken ab.

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»Verschwindet!« schrillte die Quietschstimme.»Verschwindet sofort!«

Die Stimme draußen machte eine letzte Bemer-kung, und die Schritte entfernten sich. Ich stieß dieLuft aus, die ich unwillkürlich angehalten hatte. DerDicke ließ kein Auge von mir.

»Du gehörst nicht zu uns«, piepste er plötzlich.»Wer ist ›uns‹?«»Wie bist du hierhergekommen?« fragte er zurück.»Ich folgte einer Spur, und sie endete hier.«»Unmöglich!« Der kahle Schädel wackelte aufge-

regt.»Jedenfalls bin ich hier. Und jetzt rede mal schön,

Dickerchen, ehe mein Finger juckt und die Pistolelosgeht.«

»Ich habe viel Geld«, versicherte mir dasStimmchen nun ruhig.

»In Goldstücken?«»Wie immer du es haben möchtest. Ich rufe ...«»Du wirst niemanden rufen. Wer waren die Bur-

schen, die Rassias bezahlten, damit er sie hierherbrachte?«

Der Mund verzog sich ein wenig ängstlich. »Ichkann dir Macht geben ...«

»Ich habe alle Macht, die ich brauche.« Ich trat nä-her an ihn heran und drückte ihm die dreieckigeSpitze der dreißig Zentimeter langen Harpune an dieKehle. »Wer bist du? Was ist das hier? Wer sind dieschweigsamen Ganoven, die so schnell mit demSchießprügel zur Hand sind?«

Er quietschte und preßte die Hand auf die schmut-zige Seidendecke.

»Kennst du einen Mann namens Sethys?« Falls der

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Name ihm etwas sagte, zeigte er es zumindest nicht.Seine Augen klebten an mir. Ich sah mich im Zimmerum. Es war genauso unordentlich wie das vordere.An einer Wand befand sich eine geschlossene Tür. Ichdrehte den Knopf, aber sie ließ sich nicht öffnen. Ichdurchsuchte den Kleiderschrank daneben, dann denInhalt des Schreibtischs, auf dem sich Zeitungenhäuften, dazwischen lagen Münzen verstreut – aberkeine einzige aus Gold –, und auch hier im Zimmerstand überall schmutziges Geschirr herum. Ich wußteselbst nicht, wonach ich suchte, aber was immer esauch sein sollte, ich fand es ohnehin nicht.

Der Fettwanst beobachtete jede meiner Bewegun-gen. Die Decke war von seiner Brust gerutscht undgab eine dicke braune Haut wie die eines haarlosenWalrosses frei. Er hatte eine Hand ausgestreckt undfummelte an einer geschnitzten Truhe neben demBett herum. Er zog sie schnell zurück, als er sah, daßich in seine Richtung blickte. Ich ging zu ihm hin undhob den Truhendeckel. Auf der ordentlich zusam-mengefalteten Bettwäsche lag ein Bündel aus metal-lisch grünschwarzem Stoff. Ich griff danach, als er ei-nen Laut ausstieß wie eine Henne, der man den Halsumdreht. Und dann sprang er mich an.

Ich wich seitlich aus, aber nicht schnell genug. Sei-ne fettgepolsterte Hand umklammerte bereits meineRechte wie ein Schraubstock und zog. Ich hatte nochsoviel Bewegungsfreiheit, daß ich ihm meinen Fuß inden Bauch, einen Ellbogen ins Auge und schließlichdie Faust ans Ohr rammte. Aber das genügte nicht. Ertrompetete wie ein aufgebrachter Elefant und langtenach meinem Hals. Seine Finger preßten sich in dieHaut. Ich biß die Zähne zusammen und legte alle

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Kraft in einen Kinnhaken. Seine Augen verschleiertensich, und er sackte zusammen.

Ich betastete meine Knochen und wunderte mich,daß sie offenbar noch alle heil waren. Erstaunlich,über welche Kraft der feiste Kerl verfügte.

Ich hob den grünen Stoff auf. Es war ein Coverallfür eine schlanke Mädchenfigur. Am Rücken war einRiß und ein weiterer am rechten Ärmel, von demauch ein kleines Stück fehlte – genau von der Größedes Flecks, den ich an der Pensionstür gefunden hat-te.

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9.

Fünf Minuten später kam er zu sich. Er machte einpaar zappelnde Bewegungen, hielt sich jedoch schnellruhig, als ich die scharfe Spitze der Harpune in seineSeite drückte.

»Wo ist sie?«Er blickte auf den Bodysuit in meiner Hand, und

seine Backen schwabbelten. »Das kann ich nicht sa-gen.«

»Zu dumm«, knurrte ich. Ich stieß ihm die Harpu-nenspitze ins Fleisch. Blut spritzte aus dem Schnitt. Erzuckte zurück, und ich ließ ihn die Waffe erneut ganzleicht spüren.

»Sieh sofort zu, daß du sie hierherschaffst, oder ichspieße dich auf deine Matratze und suche sie selbst.«

»Du darfst mich nicht töten«, quietschte er. Erschien es ernst zu meinen. »Ich darf nicht berührt undverwundet werden und man darf mir keinenSchmerz zufügen.«

»Ich fürchte, du mußt dich damit abfinden, daß dasLeben eine einzige Enttäuschung ist. Du hast fünfMinuten!«

»Ich gebe dir andere Frauen – so viele du willst ...«»Nur die eine, danke.«»Ich brauche diese Frau«, jammerte er.»Wofür? Weshalb habt ihr sie hierhergebracht?«»Ich brauche eine Frau – viele Frauen ...«»Bis von Miami?«»Sie erfreute mein Auge. Ich begehrte sie.«»Heraus mit der Wahrheit, ehe ich kribblig werde.«»Ich habe sie dir gesagt ...«

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Ich stieß ein wenig mit der Harpune zu. Er machteeine zögernde Bewegung zur Pistole. Ich schlug ihmdie Spitze auf die Hand, und er winselte wie ein ge-tretener Hund. Dann hielt er die Hand an den Mund,und ich hörte saugende Geräusche.

»Ruf einen deiner Boys und laß sie hierherbringen,dann schick deine Knechte wieder weg.«

Er deutete stöhnend auf einen großen Knopf amgeschnitzten Kopfende des Betts. »Ich muß daraufdrücken«, würgte er heraus.

»So tu's doch. Du weißt ja, wie du dich zu verhal-ten hast.«

Als er den Daumen auf den Knopf preßte, war zu-erst ein Knistern zu vernehmen, dann sagte eineStimme am anderen Zimmerende fragend: »Ja?« Ichwirbelte herum. Aus einem 3-D-Schirm starrte einMännergesicht.

»Er kann uns nicht sehen«, flüsterte der Fettwanstheiser.

Der Mann auf dem Schirm sagte etwas in einer ei-genartigen Stakkatosprache. Mein unfreiwilligerGastgeber antwortete in der gleichen. Ich drückte einbißchen auf die Harpune, um ihn an unsere Verein-barung zu erinnern. Das Gesicht verschwand, undder Schirm erlosch. Der Dicke wimmerte und krallteseine Finger in das Bettzeug. Ein paar beachtlicheBlutflecken färbten es bereits. Ich mußte fester zuge-stoßen haben, als ich beabsichtigte.

»Wenn die Frau hergebracht wurde, müßt ihr fortvon hier.«

»Laß sie erst einmal hier sein, um den Rest kümme-re ich mich dann schon.«

Er lag auf dem Bett und starrte mich an. Ab und zu

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hob seine Brust sich in einem heftigen Schluchzen. Ichblickte auf meine Uhr. Fünf Minuten waren seit derAnordnung vergangen. Endlich erklangen Schritte imvorderen Zimmer. Ich drückte mich gegen die Wand.»Nur das Mädchen«, zischte ich durch die Zähne.Fettwanst stieß ein paar Befehle aus. Geräusche wievon einem Handgemenge waren zu vernehmen, dannstolperte Ricia durch die Tür. Sie trug etwas, das wieein graues Büßergewand aussah, und war barfuß.Auf der Stirn hatte sie eine kleine Wunde, und ihreHände waren auf dem Rücken gefesselt. Sie blickteden Mann auf dem Bett voll Verachtung an und sagteetwas abfällig Klingendes in der gleichen Sprache, inder sie versucht hatte, zu mir zu reden. Fettwanststreckte den Arm aus und deutete auf mich. Riciamachte einen Schritt vorwärts, sah mich und bliebwie angewurzelt stehen – dann strahlte sie über dasganze Gesicht.

»Akmal!« Sie wollte auf mich zulaufen, doch dannwarf sie einen Blick auf den Fetten. Er sagte etwas zuihr.

»Ist schon gut, Ricia«, versicherte ich ihr. »Wir ver-schwinden von hier.« Ich durchschnitt den Strick, mitdem ihre Handgelenke gebunden waren. Fettwanstpiepste weiter auf sie ein, als wollte er sie zu etwasüberreden, und fächelte mit den Händen herum.

»Das reicht!« rief ich scharf. »Komm, Ricia, wir ge-hen.« Ich nahm ihre Hand. Sie blieb stehen und sagteetwas Schneidendes zu dem Fetten. Er antwortete. Siestieß etwas aus, das wie ein Befehl klang. Er rollte dieAugen.

»Ihr werdet nicht weit kommen. Man wird euchtöten. Die Frau befahl mir, dir das zu sagen.«

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»Sicher, sicher.« Ich blickte Ricia an. Sie lächelteschwach. »Es ist schön, dich wiederzusehen, Mäd-chen«, sagte ich. »Aber jetzt wollen wir uns lieber aufden Weg machen.« Ich ging zum Kopfende des Bet-tes, stach mit der Harpunenspitze den Bedienungs-knopf heraus und stieß die Drähte tief in das Holz.

»Ich brauche noch einen Taucheranzug für dasMädchen«, erklärte ich dem Dicken.

»Ich weiß nicht ...«»Denk lieber nach.« Ich stocherte ein bißchen. Er

jaulte.»Vielleicht – an der Schleuse. Ja – ich erinnere mich

jetzt. Es ist schon so lange her ...«»Wo ist der nächste Ausgang?«»Dort.« Er deutete auf die versperrte Tür neben

dem Kleiderschrank. »Die Schleuse ist am Ende desGanges dahinter.«

»Wo ist der Schlüssel?«»Du brauchst nur auf den Kopf des geschnitzten

Drachen zu drücken.«Ich versuchte es. Die Tür glitt zurück. Ich blickte

hinaus auf einen nassen Korridorboden, der sich indie Dunkelheit wand. Ricia war neben mir. »Mal –nicht gehen. Schlecht«, sagte sie.

»Mir gefällt es auch nicht besonders«, versicherteich ihr. »Aber wenn wir die Schleuse nicht finden,kehre ich um und schneide ihm einen zweiten Mundunter sein Doppeldoppelkinn.« Ich warf Fettwanstein letztes betont freundliches Lächeln zu, nahm Riciaam Arm und trat auf den Gang. Wir waren etwa dreiMeter gekommen, als das Licht erlosch. Ich schnelltemich zur langsam schließenden Tür zurück, kam je-doch eine Sekunde zu spät.

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»Mal!« stieß Ricia aus.»Ist schon gut, Mädchen. Ich muß wohl einen von

Fettwansts Knöpfen übersehen haben.« MeineHandlampe hing glücklicherweise noch am Gürtel.Ich strahlte damit die Tür an. Sie war auf dieser Seiteganz glatt, ohne einen hübschen Drachenkopf, denman drücken konnte. Ich warf mich mit ganzer Kraftdagegen, aber ein Panzerschrank hätte nicht stabilersein können.

»Nichts zu machen, Ricia. Dann müssen wir wohldoch unser Glück hier versuchen.« Hand in Handfolgten wir dem Korridor, der ein paar Kurvenmachte und zu guter Letzt vor einer zugemauertenTür endete.

»Großartig«, brummte ich. »Endstation. Aber viel-leicht haben wir irgendwo einen Ausgang überse-hen.« Wir kehrten den Gang zurück. Die Wände wa-ren glatt, von ein paar Rissen abgesehen, durch dieWasser sickerte.

»Hier kommen wir nie durch, Mädchen. Ich fürch-te, wir müssen uns doch noch einmal mit FettwanstsTür beschäftigen.« Ich sah sie mir genau an. Sie waraus einem Stück gefertigt.

Ricia hielt die Lampe für mich. Sie deutete auf denBeutel, den Carmody für mich am Gürtel befestigthatte. »Das?« fragte sie.

»Einbrecherausrüstung«, erklärte ich. »Aber ohneein Schloß oder Angeln, wo ich sie ansetzen könnte,nutzt sie mir nichts.« Ich öffnete den Beutel, da fielmein Blick auf den kleinen Schneidbrenner. Er sei et-was ganz Besonders, hatte Carmody gesagt. Na ja,was konnten wir schon verlieren, wenn ich es damitversuchte?

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Ich hielt die Flamme stetig an eine Stelle. »Hiermüßte auf der anderen Seite der Drachenschädelsein«, sagte ich zu Ricia. »Vielleicht schaffe ich einLoch, durch das ich meine Hand stecken kann. Aberdas kann Stunden dauern.«

Doch wir hatten Glück. Hinter der Stahlplatte be-fand sich offenbar eine weniger stabile Schicht. Fun-ken sprühten, und das geschmolzene Metall floß.

Ricia legte eine Hand auf meinen Arm. »Mal,horch!«

Ich lauschte, hörte jedoch nur das Zischen derFlamme.

»Böse Männer! Hier!« Sie deutete auf die Tür. Ichschaltete den Schneidbrenner aus. Dumpfes Pochenwar zu vernehmen. »Klingt, als ob sie gegen die Türschlagen.«

Ricia sah mich an, schwieg aber.»Warum, zum Teufel, tun sie das? Sie brauchen

doch nur auf den Knopf zu drücken.«Ricia deutete auf das glühende Loch in der Tür.

»Kaputt«, erklärte sie. »Kein Drachenkopf.«»Könnte sein«, überlegte ich laut. »Ich muß die

Drähte durchgeschmolzen haben.« Ich biß mir auf dieLippe. »Ich habe eigentlich gehofft, daß sie nicht soschnell auftauchen würden, aber Fettwanst hatte of-fenbar noch ein paar Trümpfe im Ärmel.«

Niemand widersprach mir. Ich starrte auf die Tür,wo das Glühen erlosch. Ricia schmiegte ihren Kopf anmeine Brust.

»Tut mir leid, Mädchen.« Ich strich ihr über dasHaar. »Deine Chance wäre vermutlich besser gewe-sen, wenn ich mich nicht eingemischt hätte ...«

»Besser hier, Mal.« Sie legte ihre Arme um meinen

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Hals und drückte die Lippen auf meine, dann mur-melte sie beruhigend auf mich ein, und es half wirk-lich. Mein Kopf war gleich wieder viel klarer.

»Wenn ich für diese verdammten Ganoven nur ir-gendeine Falle zusammenbasteln könnte. Irgend et-was, das sie in die Luft ...« Ich spürte plötzlich neueHoffnung in mir wachsen. Ich hatte eine Idee. Ich be-deutete Ricia, die Lampe auf das Loch im Stahl zubehalten. Die Tür dahinter war hohl. »Sehr gut«,brummte ich. Mit der Harpunenspitze säbelte ich ei-nen Fetzen von Ricias Sackgewand ab. Ich wickelteihn um die Düse des Schneidbrenners und schob dasGanze in das Loch, ehe ich auf Maximum drückte.Das Gasgemisch strömte sanft zischend in den Tür-hohlraum.

»Ich habe keine Ahnung, wieviel im Zylindersteckt, aber ein bißchen muß ich unbedingt zurück-behalten.« Ich wartete kurz, dann zog ich die umwik-kelte Düse zurück und verstopfte das Loch mit einemweiteren Stoffetzen von Ricas Büßergewand. DenSchneidbrenner stellte ich nun auf den Boden, dieDüse auf die Tür gerichtet, und schaltete ein.

»Wir werden sehen, was passiert, wenn das Metalldurchgeschmolzen ist«, sagte ich zu Ricia. »Vor-sichtshalber verziehen wir uns aber lieber.« Wirrannten hinter die Krümmung des Ganges. »Viel-leicht passiert aber auch gar nichts«, meinte ich dü-ster. »Vielleicht reicht das Gas nicht, um sich zu ent-zünden, oder vielleicht ist es so stark, daß es denStöpsel heraushaut.«

»Ja, Mal.« Ricia tätschelte beruhigend meinen Arm,dann nahm sie meine Hände und drückte sie an meineOhren. »Gute Idee«, murmelte ich, »falls wirklich ...«

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Der Knüppel eines Riesen schlug mir auf denSchädel und schleuderte mich gegen die Wand. Fun-kelnde Sterne schwirrten vor meinen Augen. Ich ta-stete um mich, spürte rauhe Mauerstücke unter mirund schluckte Blut von meiner aufgebissenen Zunge.

»Ricia!« Meine Stimmbänder vibrierten von demSchrei, aber ich konnte nur ein Schrillen wie von einerSirene in meinem Schädel hören. Ich fand ihre Hand,zog daran, dann tastete ich sie nach Verletzungen ab.Sie war schlaff, reglos. Ich stöhnte erleichtert, als ichihren Atem auf meiner Hand fühlte. Sie lebte!

Etwas Kaltes schwemmte gegen mich. Ich fum-melte nach meiner Lampe, schaltete sie ein. Schmut-ziges Wasser schäumte um die Gangkrümmung undtrug kleinere Trümmerstücke mit sich.

Ich kämpfte mich auf die Beine und hob Ricia übermeine Schulter. Wo die Tür gewesen war, drang Lichtdurch die ausgezackte Öffnung. Ich watete durch denWasserfall und kletterte in das Zimmer.

Fettwanst war nicht zu sehen. Das Bett sah aus wieein Bombentrichter. Matratzenfetzen und Holzsplittervom Bettgestell waren im Raum verteilt. Bei den Stu-fen lag ein Mann halb unter Wasser, das sich um ihnrosig färbte. Ein weiterer trieb auf dem Rücken nebendem Schrank, sein Gesicht war nicht mehr sehr an-sehnlich. Größere Teile von anderen Männern schau-kelten in der Strömung.

»Sie müssen direkt vor der Tür gestanden haben,als sie hochging«, murmelte ich und versuchte, mei-nen Mageninhalt zu behalten. Ich schleppte Riciadurch das kniehohe Wasser zu den Stufen zum Vor-derzimmer. Durch einen breiten Spalt in der linkenWand quoll das Wasser in hohem Schwall. Ich duckte

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mich darunter hinweg, stolperte über alles möglicheund erreichte schließlich die offene Tür zu der Hallemit dem Marmortisch. Die beiden Männer, die ichhier auf dem Boden zurückgelassen hatte, waren ver-schwunden. Der bunte Mosaikboden lag etwa dreißigZentimeter unter Wasser, und mehr drang durch un-zählige Risse in der Wandmalerei.

»Die Explosion dürfte dem Unterwasserpalast denRest gegeben haben«, murmelte ich.

Das Wasser reichte mir nun schon bis über dieKnie, als ich die Schleuse erreichte. Ich versuchtemich zu erinnern, wie mein Führer sie geöffnet hatte.Ich zog den Hebel heraus und drückte ihn nach links.Tatsächlich, sie öffnete sich und warf mir einen ge-waltigen Wasserschwall entgegen, der mich von denBeinen hob und gut fünf Meter mit sich schwemmte.Irgendwie gelang es mir, das Mädchen festzuhalten,wieder auf die Füße zu kommen, zurückzuwaten unddurch die Schleuse zu steigen. Das Wasser wirbeltehier um einen schweren Mahagonischreibtisch, derim Gang festgeklemmt war.

Ich kletterte darauf und sah etwa fünfzehn Metervoraus zwei Männer an einem Stahlluk zerren, ähn-lich dem, durch das wir gekommen waren. Einer vonihnen blickte in meine Richtung, der andere fuhr fort,sich mit der Schleuse zu beschäftigen. Der, der ge-deutet hatte, packte ihn am Arm, doch der anderestieß ihn zur Seite, ohne sich weiter stören zu lassen.Plötzlich leuchtete ein rotes Licht über dem Luk auf,und es schwang zurück. Mit Ricia auf dem Rückenwatete ich darauf zu. Die beiden Männer waren in-zwischen bereits dahinter verschwunden. Gerade alsich es erreichte, begann es sich zu schließen. Ich

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drückte dagegen und klemmte mich mit gespreiztenBeinen dazwischen.

Am liebsten hätte ich vor Schmerz aufgeheult, alseiner der Burschen auf meine Finger hämmerte. Ichfummelte mit meiner Linken, zog die Harpunenpi-stole und zielte damit am Lukrand vorbei. Ich hörteeinen Schrei und jemanden um sich schlagen. DasLuk gab nach. Ich sah einen hellbeleuchteten Schleu-senraum mit einem zweiten Luk am gegenüberlie-genden Ende. Ein Wandschrank stand offen und einMann, bereits halb in einem Froschmannanzug, kau-erte daneben. Die Harpune war genau durch seineKehle gedrungen.

Ich sah gerade noch das rotangelaufene, schon fastbläuliche Gesicht des anderen, der verzweifelt gegendas Luk drückte, als etwas Glänzendes auf mich her-unterschwang. Ich duckte mich. Mein Schädel fingden Schlag voll auf. Ich ging zu Boden und das wir-belnde Wasser wusch über mich hinweg.

Das Wasser brannte in meiner Lunge, und allesverschwamm vor meinen Augen. Ich weiß nicht, wieich es geschafft habe, auf jeden Fall kam ich irgend-wie wieder hoch, hielt Ausschau nach Ricia und sahihr dunkles Haar auf der Oberfläche treiben. Ichschwamm ihr eilig nach und hob ihr Gesicht aus demWasser.

Die Strömung schwemmte uns davon, um eineBiegung herum, dann zwischen dahintreibendenStühlen, Tischen, Papieren und halb herausragendenStatuen hindurch. Ich bekam einen tüchtigen Hiebauf den Schädel und eine recht ordentliche Abschür-fung an der Seite, ehe ich eine schwere Kiste zu fassenbekam und mich dagegenstemmen konnte. Ich

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kannte das Zimmer, in dem wir uns befanden, ob-wohl wir auf einem anderen Weg hierhergekommenwaren.

Das Wasser stieg erschreckend schnell. Bis zurDecke waren es höchstens noch siebzig Zentimeter.Mein Kopf brummte, als beherberge er einen ganzenBienenschwarm, und meine Arme schmerzten vonder Anstrengung, Ricias Kopf über Wasser zu halten.

Plötzlich änderte sich die Strömung um mich. Ichspürte, mehr als ich es hörte, das tiefe Dröhnen vonMaschinen. Eine neue Strömung zog mich zu einemerst jetzt entstandenen Wirbel in der Mitte des Rau-mes. Unter uns, von drei Meter schwarzem Wasserbedeckt, mußten die Gitter nun offen sein. Irgendwie,trotz der gespaltenen Wände, arbeiteten die Pumpenund zwangen das eindringende Wasser durch einenHundertmetertunnel zum offenen Meeresgrund. Wielange sie noch funktionieren würden, war eine andereFrage.

Es blieb mir keine Zeit, die Alternativen abzuschät-zen. Ich leerte das Wasser aus meinem Atemhelm,stülpte ihn über den Kopf und ließ ihn einrasten.Dann klemmte ich das bewußtlose Mädchen unterden Arm, ließ meinen Halt los und glitt unter dieOberfläche.

Der Sog rammte mich schmerzhaft gegen das offe-ne Gitter. Ich drehte mich auf den Rücken, tastete mitden Füßen durch den engen Spalt zwischen den bei-den Gitterteilen, und zog Ricia nach. Ich konnte ihrGesicht gespenstisch blau in dem trüben Wasser se-hen. Überall wirbelte Treibgut. Ein Helm trudelteganz in der Nähe. Ich bekam ihn zu fassen und zogihn über Ricias Kopf. Es würde noch ein weiter Weg

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an die Oberfläche werden – wenn wir es überhauptschafften.

Die Strömung zog mich unter die Krümmung derTunneldecke. Ich schaltete den Antrieb ein. Das Was-ser peitschte gegen uns, aber irgendwie erreichtenwir doch das Ende des Rohres und waren im freien,wenn auch hier noch stark aufgewühltem Wasser.

Ich versuchte Ricias Puls zu fühlen, aber meineHände waren steif vor Kälte. Im Strahl meinerHandlampe schwamm ein riesiger Fisch neugierignäher, ergriff aber die Flucht, als ich ihn mit derHand abwehrte. In fünfunddreißig Meter Tiefe spürteich einen scharfen Schmerz im Nacken. Der schnelleAufstieg mochte explosiven Unterdruck verursachenund einen innerhalb von Sekunden zum Krüppel ma-chen. Ich bremste die Geschwindigkeit ein wenig.Höher stiegen wir, fünfundzwanzig Meter, zwanzig,fünfzehn, zehn ...

Ein Stich wie von einer glühenden Klinge lähmtemein rechtes Bein. Ich biß die Zähne zusammen undzwang meine Augen gegen den Druck offenzuhalten,der sie aus den Höhlen quellen lassen wollte.

Ich schoß durch die Oberfläche und sank schmerz-gepeinigt zurück. Flüchtig sah ich Lichter auf demWasser, dann fand ich den Antriebsknopf. Ich steu-erte mit den Beinen auf die chromglänzende Leiteram Heck der Jacht zu, bekam sie zu fassen und hieltmich fest, während ein roter Schleier mein Gehirneinhüllte. Da faßte eine Hand nach meinem Arm undzog daran.

»Ricia – schnell – Dekompressionskammer ...«Dann drückte ihr Gewicht nicht länger gegen mich.Hände zogen mich über die Reling und auf Deck.

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Warme Luft schlug mir entgegen, als mir jemand denHelm abnahm, und alles in einer Stille, die nur vondem schrillen Summen unterbrochen wurde, das seitder Explosion meinen Schädel quälte. Meine Augenwaren Bälle weißglühender Pein – Stachel, die sich inmein Gehirn bohrten.

Ich wollte aufstehen, und die Hände hoben mich.Dann lag ich auf dem Rücken und spürte schwereLuft wie Hämmer auf mich einschlagen. Ich tasteteherum und berührte Ricias kühle Wange. Plötzlichließ der Schmerz nach, als hätte man einen Dorn ausder Wunde gezogen. Ich holte Atem, schmeckte denmetallischen Geruch der Luft und lachte fast, als ichdaran dachte, daß ich eine gute Stunde den Gestankder Vulkane vergessen hatte.

Dann sank ich in warme, wohlige Bewußtlosigkeit.

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10.

Es muß schier endlos gedauert haben, bis die Besin-nung wiederkehrte. Zuerst war ich mir der Schmer-zen in meinem Kopf bewußt, dann anderer Wehweh-chen. Meine Augen brannten vor purpurner Pein. Ichöffnete sie gegen den Druck und sah das Licht an derDecke des Dekompressionstanks wie einen ver-schwommenen Faustball. Ich probierte einen Armaus – er ließ sich bewegen. Ich benutzte ihn, michaufzustützen. Ricia lag auf dem Gesicht neben mir, ineine Decke gehüllt. Einen entsetzlichen Augenblicklang, während ich meine Hand an ihre Lippendrückte, spürte ich nichts, dann endlich einen war-men Atem. Sie lebte.

Ich taumelte auf die Füße und kauerte mich unterder niedrigen Deckenkrümmung des Tanks zusam-men. Mein rechtes Knie war geschwollen und taub.Ich beugte mich ganz nahe an die Druckmesser. Wiedurch einen Schleier hindurch sah ich den langenZeiger, der über der Zahl 14.6 stillstand. Demnachkonnte ich den Tank nun ruhig öffnen. Ich torkeltezum Verschlußhebel und zerrte daran. Ich war soschwach wie verwässerter Whisky. Ich wollte gegendie Wand hämmern, um Carmody wissen zu lassen,daß ich wach war, aber irgend etwas hielt mich da-von ab. Ich überlegte.

Da kam es mir. Die Jacht war immer noch auf ho-her See. Meine Uhr zeigte zwanzig Minuten vor fünfUhr – also waren sieben Stunden vergangen, seit ichin die Tiefe tauchte. Weshalb war Carmody nicht zu-rückgefahren, hatte Ricia zu einem Arzt gebracht?

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Und weshalb trieb das Boot quer zum Wellengang?Ich zerrte noch einmal am Hebel. Diesmal gab er

nach. Ich drehte ihn voll herum, der Verschlußsprang etwa einen Zentimeter auf. Ich sah die graueDämmerung draußen, das gebleichte Teakholz desDecks – und die Waden und Füße eines Mannes, derauf dem Bauch etwa zwei Meter von mir entfernt lag.So leise ich konnte, schloß ich den Tankverschluß undtastete nach der Harpunenpistole. Sie war fort. Zwei-fellos hatte ich sie in dem Rohrtunnel verloren.

Ich wartete fünf Minuten, dann öffnete ich denTankdeckel erneut einen Spalt und betrachtete dieBeine. Meine Sicht war immer noch ziemlich ver-schleiert, trotzdem glaubte ich, daß es Carmodys Lei-nenschuhe waren, die ich da vor mir hatte. Auf demBoot herrschte völlige Stille, nur das Summendröhnte immer noch in meinem Schädel. Aber viel-leicht war ich taub? Ich hielt meine Finger ganz dichtans Ohr und schnalzte. Doch, das Geräusch hörte ichsehr wohl.

Mit weichen Knien trat ich hinaus und ducktemich, damit ich nicht über den Tank hinausragte.Dann schloß ich den Deckel hinter mir und sah mirden Mann auf dem Deck an. Es war wirklich Carmo-dy, und er war tot. Zwanzig Meilen vom Land ent-fernt hatten die Fliegen ihn schon aufgespürt.

Rassias war am Bug. Er lag auf dem Rücken mit ei-nem Loch durch die Stirn. In der Nähe war einbräunlicher Pfad verkrusteten Blutes, der zur Relingführte. Jemand mit einer größeren Verwundung warüber Bord gegangen.

Ich hatte mich ganz leise bewegt, barfuß – aberdoch nicht vorsichtig genug. Der Hinterkopf eines

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Mannes tauchte gerade von unten auf, als ich michumdrehte. Ich ließ mich lautlos auf alle viere fallenund robbte zurück, bis ich ein Auge riskieren konnte.Er stand etwa zwei Meter von mir entfernt undblickte in Richtung Heck. Gleich würde er sich um-drehen, das erkannte ich an der Haltung seinerSchultern. Ich sprang, ehe er es tat. Mein taubes Knieließ mich im Stich. Ich verfehlte seinen Rücken undstreifte seine Hüfte. Ich schlug hart auf dem Deck auf,rollte mich herum und starrte in einen Pistolenlauf.Sein Finger zuckte bereits am Abzug.

»Nein. Noch nicht!« hörte ich durch das Summenin meinem Schädel. Ein zweiter Mann trat aus derDüsternis der Kabine. Ich blinzelte, versuchte seinGesicht besser zu sehen. Ich war mir nicht sicher, aberich glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben – inMiami, vielleicht.

Der Bursche mit der Kanone steckte sie weg. Er sahaus wie ein Schullehrer, mittelgroß, etwa Vierzig, mitschütterem Haar und Bäuchlein. Der andere hatteden Weltschmerzausdruck eines Bestattungsunter-nehmers. Sie blickten mich einen Augenblick durch-dringend an, dann drehte der Pistolenschütze sichum. »Ich hole Stricke, um ihn zu binden.« Er sprachfehlerloses Englisch mit einem fremdartigen Akzent.Ich hatte das Gefühl, daß er sich in weiteren DutzendSprachen genausogut ausdrücken könnte.

Der Sarghändler blieb stehen und beobachtetemich. Er sah aus, als könnte ich ihn mit Leichtigkeitüberwältigen. Ich setzte mich langsam auf. SeineHand zuckte und brachte eine Pistole zum Vorschein.

»Nimm den Gürtel ab«, befahl er mit gleichgültigerStimme. Ich schnallte ihn auf. Mit dem ganzen Zeug

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daran war er verdammt schwer.»Wirf ihn über die Seite.« Die Pistole deutete genau

auf meine Stirnmitte. Er mußte der sein, der Rassiasumgelegt hatte. Ich tat wie geheißen.

»Anzug 'runter!«Ich öffnete den Reißverschluß des Klimaanzugs

und schlüpfte ächzend heraus. Meine Knochen fühl-ten sich an, als wären sie einzeln durch die Mangelgedreht worden.

»Über die Seite.«Ich knüllte ihn zusammen und ließ ihn über die

Reling fallen. Was mir blieb, war nur meine Unterho-se und die mir angeborene Würde.

Er steckte die Pistole weg, schließlich war ich jetzthilflos. Der andere Bursche kam zurück und hießmich niederlegen. Ich war heute ausnahmsweiseeinmal besonders folgsam. Er schnürte einen Nylon-strick um meine Fußgelenke und band danach meineHände auf dem Rücken zusammen. Ohne einen wei-teren Blick auf mich spazierten sie davon, währendich mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze unan-genehm kalten Wassers lag und es mich in meinerUnterhose scheußlich fror.

Ich rollte mich herum und stieß mich einen Meterzurück. Die beiden Ganoven standen nebeneinanderbeim Deckhaus und starrten über die Heckreling. DasBoot schaukelte und trieb im Wind. Carmody lag, wosie ihn umgebracht hatten. Nur die summenden Flie-gen kümmerten sich um ihn. Eine flog zu mir her-über, begutachtete mich und beschloß, noch ein we-nig zu warten.

Eine Eisenkiste war etwa einen halben Meter vonmir am Deck festgeschraubt. Ich stieß mich noch ein

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wenig weiter zurück, bis ich dahinter sehen konnte.Das Öltuchbündel, das ich an Bord gebracht hatte,war noch da. Ich probierte die Stricke um meineHandgelenke. Nylon eignet sich eben nicht für alles.Ich konnte einen der Knoten mit meinen Fingerspit-zen erreichen, und nach einer halben Minute hatte ichmeine Hände bereits frei. Ich rieb und massierte siehinter meinem Rücken, um die Kälte zu vertreiben.

Die Boys am Heck ignorierten mich. Einer deutete.Ich folgte seinem Finger und sah ein dunkelgestri-chenes Schiff auf die Jacht zukommen. Mehrere mitÖltuch bedeckte Deckgeschütze waren zu sehen. DieBurschen am Heck warteten offenbar darauf.

Ich tastete hinter die Kiste, zog das Bündel heran,öffnete das Etui und packte den Griff des Gewehrs.Ich erstarrte, als der Schullehrertyp in meine Rich-tung schaute. Dann zappelte ich und tat so, als ver-suchte ich vergebens mich aufzurichten. Er beobach-tete mich kurz, und widmete sich wieder dem heran-kommenden Schiff. Ich sah es nun besser. Es hatte be-stimmt gut seine fünfhundert BRT. Ein halbes Dut-zend Männer lehnte an der Reling. Einer rief herüber,und der Sargverkäufer winkte ein wenig steif zurück.

Meine beiden Wächter hatten mir nun den Rückenzugewandt. Ich zog die Weatherby ganz heraus. Vordem Aufbruch hatte ich sie erst geladen. Ich legtemich auf den Rücken, das Gewehr auf der Brust, ent-sicherte es und hob meinen Kopf weit genug, umzielen zu können. Ich richtete den Lauf auf den Rük-ken des Schullehrers und ließ eine Runde dahinor-geln. Der Rückstoß versetzte meiner rechten Wangeeinen Hieb wie mit einem Baseballschläger, und meinZiel verschwand über die Reling. Der andere wirbelte

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herum, zog seine Pistole. Ich schwang den Lauf her-um und feuerte erneut. Von seinem Kopf blieb nichtviel übrig.

Auf dem Kutter herrschte plötzlich lebhafter Be-trieb. Ich sah einen grellen Blitz, und eine zurück-prallende Kugel zischte über meinen Kopf hinweg.Ich legte die Weatherby hastig weg, packte die Neu-entwicklung des Militärs, stellte sie auf Automatikund spurtete hinter die Reling.

Überall um mich herum schlugen nun Schüsse ein.Ich spuckte fliegende Splitter, schob den Lauf meinesMGs durch ein Astloch, zielte auf die Wasserlinie desKanonenboots und drückte ab. Ich hörte ein Grollenwie von einem angeschossenen Tyrannosaurus, abermein MG war ein anständiges Mädchen, von einemheftigen Stoß gegen meine Schulter abgesehen, ver-hielt es sich so ruhig wie ein Kapselrevolver. Esspuckte sein Magazin in einem Stakkato aus, das ge-gen meine abgestumpften Ohren wie ein in Watteverpackter Wecker dröhnte, und schwieg schließlichabrupt. Ich ließ es fallen, rollte mich nach rechts undhörte Kugeln neben mir einschlagen. Ich drücktemich eng an das Deck und wartete ab. Die Weatherbylag etwa drei Meter von mir entfernt. Wenn meinVersuch mit der Automatik nichts genutzt hatte,würde der Kutter in wenigen Sekunden längsseitsgehen.

Ich paßte auf, wo die Kugeln einschlugen. Ich warmir nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, als kämensie von ständig weiter weg. Ich robbte zum Astlochzurück und riskierte ein Auge. Der Kutter war etwafünfunddreißig Meter entfernt, mit dem Bug inRichtung auf die Jacht. Ich konnte die Seite nicht se-

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hen, in die ich das Magazin des MGs geleert hatte,aber steuerbord schien mir das Schiff ein wenig abzu-fallen.

Die Schießerei hörte plötzlich auf. Ich beobachtete,wie etwa ein Dutzend Männer die Öltücher von denDeckgeschützen zogen. Es war Zeit, daß ich mir dasElefantengewehr wieder holte. Ich sprang, rollte michherum und nahm Deckung. Niemand feuerte.

Ich robbte wieder zu meinem Astloch zurück undzielte auf den Mann hinter der .88er. Er ging zu Bo-den wie eine von Wühlmäusen angenagte Vogel-scheuche. Eine Schulter tauchte links von der Kanoneauf. Ich schoß darauf, und sie verschwand. Jemandrannte über Deck. Ich verfehlte ihn. Ein anderer ver-suchte, den Abzugsbügel zu erreichen. Ich lehrte ihndas Fliegen. Der Kutter lag nun ohne alle Zweifelschräg. Er hatte gewendet und drehte mir jetzt dasHeck zu. Niemand bewegte sich in der Nähe der Ka-nonen.

Als der Kutter sich etwa hundert Meter entfernthatte, jagte ich ihm meine letzten zwei Runden nach,dann lief ich geduckt zum Cockpit und versuchte denStarter. Der Dieselmotor ächzte zuerst, dann legte erlos. Ich beschäftigte mich mit dem Ruder, drehte esrechts, dann links in hübschen Kurven. Es dauerte ei-ne ganze Minute, ehe die Geschütze des Kutters dieerste Runde ausspuckten – und weit daneben. Sieversuchten es noch zweimal ohne Erfolg, dann gabensie auf. Als ich zum Luftholen hochkam, war er be-reits eine Meile heckwärts, mit einer Seite ziemlichtief.

Die aufgehende Sonne malte rote Streifen über dieWellen. Ich korrigierte meinen Kurs und stellte die

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Steuerung auf Automatik. Dann ging ich zum Tank,um nach Ricia zu sehen.

Sie war wach und sah dünner und durchsichtigerdenn je aus, aber sie lächelte mich an und sagte etwasmit viel zu schwacher Stimme.

»Tut mir leid, Mädchen.« Meine Stimme hörte sichin meinen Ohren komisch an, wie eine schlechteSchallplatte, die der Wohnungsnachbar mit kratzen-der Nadel abspielt. »Ich kann dich nicht hören. Zuviele laute Geräusche in letzter Zeit zu dicht an mei-nen Ohren. Wie fühlst du dich?«

Sie schüttelte den Kopf und deutete auf ihre Ohren.Sie war so taub wie ich. Ich drückte meine Hand aufihre Stirn. Die Temperatur war richtig. Auch ihr Pulswar gut: stark und gleichmäßig.

»Ich bringe dir Suppe.« In der Kombüse öffnete icheine Dose, kochte Wasser und richtete ein Tablett her.Außer der Suppe gab es Toast und ein Glas Orangen-saft. Sie wollte sich aufsetzen, als sie die guten Dingesah, aber ich bemerkte, wie schwer es ihr fiel. Schnellholte ich Kissen aus der Kabine, stopfte sie ihr in denRücken und fütterte sie mit dem Löffel. Sie aß wie einausgehungertes Kätzchen. Dann hob sie einen Arm,der ihr viel zu schwer war, und berührte sanft meinGesicht. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten, aberich hörte nur »Mal«. Dann betastete sie ihre Augen.Dunkle Flecken ließen sie noch tiefer erscheinen –Blutergüsse von den Äderchen, die durch das plötzli-che Nachlassen des Drucks geplatzt waren, als wir andie Oberfläche stießen.

Wir hatten beide verdammtes Glück gehabt. Abge-sehen von noch ein paar Blutergüssen, die nicht vielschmerzhafter als Verrenkungen waren, hatten wir

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unser Abenteuer ohne größere Verletzungen über-standen. Ich wollte sie in die Kabine tragen. Aber imAugenblick war ich selbst noch zu schwach dazu. Ichdeckte sie gut zu, vergewisserte mich, daß der Venti-lator seine Pflicht tat, und verzog mich in die Kabineund auf meine Koje. Ich war sofort weg.

Als ich erwachte, war es Spätnachmittag. Ich standauf und torkelte zum Wandspiegel. Das Gesicht, dasmir entgegenblickte, wäre genau das Richtige für ei-nen Horrorfilm gewesen. Beide Augen waren pur-purschwarz und so stark geschwollen, daß ich die Li-der kaum bewegen konnte. In meinem Haar war ver-krustetes Blut, und zwischen meinen Bartstummelnebenfalls. Was vom Rest zu sehen war, war fahlgrau.

Ich tauchte meinen Kopf in kaltes Wasser, dann inheißes und nahm mir Carmodys Rasierapparat. DieDusche konnte warten, bis ich mich um Ricia ge-kümmert hatte. Sie war wach und ihre Wangen hat-ten wieder ein wenig Farbe angenommen. Ich kochtenoch einmal Suppe für sie, brachte ihr heißes Wasser,Seife und einen Kamm dann gönnte ich mir die ver-diente Brause. Carmodys Sachen waren mir ein we-nig groß, aber mit aufgerollten Hemdsärmeln undHosenbeinen ging es schon. Nun war Zeit, zu tun,was getan werden mußte.

Carmody war schwer. Ich brauchte fünf Minuten,ihn über die Reling zu hieven. Er war ein guter Manngewesen und war gestorben, weil er mir helfen woll-te. Er hätte eine bessere Bestattung verdient, aber eswar heiß hier, und Ricia würde bald an Deck kom-men.

Rassias war leichter. Hinterher spülte ich einen Ei-mer Salzwasser über die Planken und schrubbte nach.

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Die Fliegen schienen zutiefst beleidigt. Sie summtenwütend um meinen Kopf.

Ich überprüfte unseren Kurs und die Position. Wirfuhren genau westwärts und würden in etwa einerStunde die afrikanische Küste südlich von Tunis sich-ten – außer sie war inzwischen auch verschwunden.Ricia lag noch auf dem Boden im Tank. Es war derkühlste Ort auf der Jacht, und die Luft war sauber.

»Wir werden bald einen Hafen erreicht haben«,versicherte ich ihr. »Dort besorge ich dir einen Arzt,und in ein paar Tagen wirst du wieder auf den Bei-nen sein. Dann können wir hinfahren, wohin dumagst. Wir haben genügend Verpflegung und Ausrü-stung für eine lange Kreuzfahrt.« Ich kam mit keinemWort auf den zerfallenden Palast am Meeresboden zusprechen. Das Ganze schien mir ohnehin bereits wieetwas aus einem Fiebertraum. Soweit es mich betraf,war ich mit den Kerlen quitt. Ich hatte Ricia heraus-geholt und meinen eigenen Hals gerettet. Ich dachtebedauernd an Carmody – und Rassias. Aber sie wa-ren tot, genau wie diverse merkwürdige Männermittleren Alters, deren Rolle ich nun nicht mehr er-fahren würde – und ich wollte es auch gar nicht. Riciaund ich lebten. Mein bescheidener Wunsch war, esdabei zu belassen.

Etwa gegen ein Uhr mittags sichteten wir die Kü-ste, und fünfzehn Minuten später bahnten wir uns ei-nen Weg durch Treibgut, das dich an dichtschwamm, in einen Hafen voll havarierter Schiffe. Ei-ner der Wirbelstürme hatte hier ganz schön gehaust.Ich legte an einem Kai an, wo noch einigermaßen Le-ben herrschte. Dann versicherte ich Ricia, daß ich nurnach einem Arzt schauen und gleich mit ihm zurück-

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kommen würde. Sie sollte sich einstweilen nicht vonder Stelle rühren.

Auf dem Kai schwenkte ich eine Zehnernote undfragte, wer Englisch konnte. Ein Bursche mit einemSchnurrbart wie eine Schuhbürste griff nach demSchein und zeigte mir seine gelben Zähne in einemstrahlenden Lächeln.

»Ich sprechen Englisch. Willst du Frau?«»Ich brauche einen Arzt«, erklärte ich ihm.Er nickte heftig. »Bester Doktor hier. Du kommen

mit.« Er führte mich in eine Seitenstraße, die immerenger wurde und schließlich zu einer Steintreppezwischen mossbewachsenen Häusern führte. Bis ichhinter ihm oben angekommen war, verschwand erdurch eine Haustür. Auf halbem Weg wurde mir be-wußt, daß irgend etwas faul war.

Bis zu der Haustür waren noch etwa zwölf Meter.Links davon befand sich ein Torbogen. Ich ging wei-ter, als wäre alles in Ordnung. Im letzten Augenblickwirbelte ich herum und rannte. Aber ich hatte keinGlück. In meinem Torbogen stand ein kleiner Mannin schmutzigem braunen Anzug und breitete die Ar-me aus. Ich rannte ihn um, da spürte ich auch schonden Knüppel des Kerls, der mir hinter ihm aufgelau-ert hatte. Mein Schädel schien zu explodieren, undalles wurde schwarz um mich.

Das Erwachen war gar nicht angenehm. Ich hattemich schon vor dem Schlag auf den Schädel nichtrichtig wohl gefühlt, jetzt war ich völlig fertig. Es gabkeinen Zentimeter meines Körpers, der nichtschmerzte. Das Pochen in meinem Kopf schien mir solaut, daß man es noch in fünfzig Meter Entfernung

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hören müßte, und der Schmerz in meinem Magenverriet mir, daß ich mich übergeben hatte, ehe ich zumir kam. Ich lag auf einer Bank in einem viel zu hei-ßen, engen Zimmer.

»Wie fühlst du dich?« fragte eine gleichgültigeStimme von irgendwo her. Es gelang mir, ein Lid zuheben. Vor mir stand ein adrett gekleideter Burschemit schütterem Haar und Mittelscheitel, einem Ge-sicht wie eine Dörrpflaume und einem hageren Hals,den ich mit Vergnügen zugeschnürt hätte.

»Wie ein gezogener Zahn«, krächzte ich. MeineZunge war dick wie ein Schwamm, aber ich konntemich jetzt schon ein wenig besser hören. Vielleichtwürde ich mein Gehör rechtzeitig zurückbekommen,um meine eigenen letzten Worte zu vernehmen.

»Wo ist die Frau?« fragte Dörrpflaume. Ich hattedas Gefühl, daß es ihm völlig egal war, wie ich michfühlte.

»Welche Frau?«Jemand auf der anderen Zimmerseite machte eine

plötzliche Bewegung, wurde jedoch von einem ge-bellten Befehl meines Inquisitors zurückgehalten.

»Das ist die richtige Einstellung«, lobte ich ihn.»Noch ein paar Liebkosungen wie bisher, und ichsinge im himmlischen Chor und nicht in deine brau-nen Muschelohren.«

»Wenn du mir gesagt hast, wo die Frau ist, wirdman sich um deine Verletzungen kümmern.«

»Welche?«»Die Frau, die du entführt hast. Vergeude unsere

Zeit nicht.«»Ich meinte, welche Verletzungen? Ich habe eine

Auswahl davon zu bieten.«

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»Wir haben dein Boot durchsucht. Da sie nicht anBord ist, mußt du sie weggebracht haben. Es spartuns Zeit und Mühe, wenn du uns gleich sagst wo-hin.«

»Warum nicht? Weshalb sollte ich mich diesesMädchens wegen in Schwierigkeiten bringen? Ichmachte einen schnellen Trip nach Athen und warf sieüber Bord.«

»Du lügst.«»Wenn du es besser weißt!«»Warum hast du sie hinausgeworfen?«»Sie wollte nicht so, wie ich wollte.«»Was wollte sie nicht?«»Muß ich das wirklich so genau erklären?«»Zu diesem Zweck hast du die Frau entführt?«»Weshalb sonst?«Dörrpflaume konferierte mit den beiden anderen

Stimmen. Die Sprache klang wie Chinesisch in mei-nen Ohren. Vielleicht war es das auch.

»Ich werde es aus ihm herausbekommen«, meldetesich eine neue Stimme auf Englisch.

»Nein, nicht aus ihm. Er ist nicht der Typ. Er wirdeher sterben. Wir haben keine Zeit für Experimente.«

Jemand sagte etwas in einer anderen Sprache, aberDörrpflaume unterbrach ihn. »Nein, die Entschei-dung ist gefallen. Bringt ihn auf den Hof und schlitztihm die Kehle auf.«

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11.

Der Schlaf der Erschöpfung ist etwas Wundervolles.Sie mußten mich fünf Minuten später, oder vielleichtwar es sogar noch später, aufwecken, um mich hin-auszuschleifen. Sobald sie mich losließen, klappte ichzusammen. Sie zerrten mich wieder hoch. Offenbarschnitt man einem die Kehle nur durch, wenn erstand. Ich fragte mich, ob das Messer scharf sein undob es sehr weh tun würde. Aber so richtig interes-sierte es mich eigentlich gar nicht.

Die angenehme Gleichgültigkeit ließ plötzlich nach,und mir wurde entsetzlich übel. Ich mußte michübergeben. Dann zerrten die Hände wieder an mir,und es ging weiter. Ich mußte wohl im Gehen ge-schlafen haben, denn ich erwachte auf dem Hintersitzeines Wagens zwischen zwei fetten Männern, dienach Schweiß und Curry stanken. Eine Stimme, dieich schon einmal gehört hatte, sagte: »... ist die An-weisung des Primären.«

»Aber der Kerl da ist unwichtig. Der Platz ...«»Es ist mein Befehl!«Dann hüllte mich erneut wirbelnder Nebel ein, und

ich versank darin.Verschwommen bekam ich Hände mit, die schon

wieder an mir zerrten. Ich roch Salzwasser und Fäul-nis, spürte schwankendes Deck unter mir, und dasDröhnen von Maschinen. Stimmen redeten rund ummich, manchmal auf englisch, aber auch auf Deutsch,französisch und russisch, und hin und wieder inDialekten, die ich nie gehört hatte, und vermischtensich zu einem seltsamen Traum von Verfolgung und

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Rache. Und dann war ich an einem kühlen, schwach-beleuchteten Ort. Hände hoben mich. Ich lag auf demRücken. Weitere Hände betasteten mich. Ich spürteden Stich einer Nadel im Arm und schlief weiter.

Jemand stieß mich am Fuß. Mühsam hob ich dieLider. Ein bleicher Mann in sterilem Weiß stand übermich gebeugt. Er hatte weiche Züge, randlose Bril-lengläser und hellbraune Haarbüschel über den Oh-ren.

»Deine Mahlzeit ist hier«, sagte er brüsk. »Du wirstsie essen.«

Ein Duft des gebratenen Fleisches und der Gemüseauf einem Tablett auf dem Tischchen neben meinemBett stieg mir in die Nase. Dahinter waren die WeißenWände eines kleinen Zimmers, eine braune Kommo-de mit einem quadratischen Spiegel, die Ecke einerschmalen Tür und eine weitere halboffene Tür, die zueinem WC führte. Mir war schwindlig, das Bettwogte unter mir.

»Wo bin ich? In einem Krankenhaus?«»Setz dich auf«, befahl der Mann in Weiß. Er schob

Kissen in meinen Rücken, dann stellte er das vierfü-ßige Tablett über meinen Schoß. Ich aß, als hätte ichseit Tagen nichts mehr bekommen, was vermutlichauch der Fall war. Dann schlief ich wieder ein. Zurnächsten Mahlzeit weckte man mich erneut, undwieder schlief ich ein. So ging es mehrere Male, bisDörrpflaume mich besuchte.

»Wirst du mir jetzt sagen, wo die Frau ist?« fragteer kalt.

»Welche Frau?«»Die Frau, die du entführt hast. Du weißt genau,

wen ich meine.«

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»Dir fällt offenbar überhaupt nichts anderes ein«,brummte ich. »Ich dachte, du wolltest mir die Kehleaufschlitzen lassen. Was ist geschehen? Hast du dieNerven verloren?«

»Meine Anweisungen wurden von einem Höherenüberstimmt. Du sollst einer Sonderinquisition ausge-setzt werden. Du würdest dir viel Unannehmlichkei-ten ersparen, wenn du jetzt sprichst.«

»Jag' mir keine Angst ein, ich bin ein krankerMann.«

»Du hast dich von deiner Gehirnerschütterung be-reits erholt. Deine Schädelwunde ist, dank unsererMittel, fast geheilt. Du bist stark genug, ein längeresVerhör zu überstehen.«

»Wie lange bin ich schon hier?«»Ich stelle Fragen, nicht du.«»Aber du willst doch Antworten hören, nicht

wahr?«Er schien zu überlegen. »Drei Tage«, sagte er

schließlich.»Und wo bin ich?«»Auf einem Schiff.«»Wohin geht die Reise?«»Ich beantworte keine anderen Fragen. Wo ist die

Frau?«»Welche Frau?«»Du hast durchblicken lassen, daß du reden wür-

dest, wenn ich dir deine Fragen beantworte.«»Auf so was kannst du nicht gehen.« Ich grinste.Er drehte sich auf dem Absatz, und ich hörte das

scharfe Klicken des Schlosses hinter ihm. Er hatte mirmehr verraten, als er glaubte. Drei Tage waren ver-gangen, und sie hatten Ricia immer noch nicht ge-

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funden. Die Dekompressionskammer auf CarmodysJacht war Marke Eigenbau und sah auf den erstenBlick aus wie das, was es ursprünglich gewesen war:ein Dreitausendliterzusatztank. Wenn man nichts vondem unauffälligen Luk wußte, käme niemand auf dieIdee, darin nach einer kranken Frau zu suchen. So-weit ich die tödlichen Männer mittleren Alters bisherkennengelernt hatte, fehlte es ihnen völlig an Phanta-sie.

Aber selbst wenn sie sie nicht entdeckt hatten, be-deutete es leider noch lange nicht, daß Ricia in Si-cherheit war. Sie war hilflos wie ein neugeborenesRehkitz gewesen, als ich sie verließ. Angenommen,sie hatte sich ruhig verhalten, während der Suchenach ihr, und war dann aus dem Tank gestiegen. Wasweiter? Sie hatte nichts anzuziehen gehabt als einenCoverall, in den sie dreimal hineinpaßte, kein Geld,und beherrschte keine Sprache, die in Nordafrika be-nutzt wurde. Außerdem war sie noch krank.

Das waren Überlegungen, die einem den kaltenSchweiß ausbrechen ließen. Ich hatte mein Bestes ge-tan, aber es war eben nicht gut genug gewesen. Na ja,zumindest befand sie sich nicht in den Händen diesereiskalten Verbrecher.

Inzwischen hatte ich selbst beträchtliche Probleme.Ich stieg, noch etwas wacklig, aus dem Bett undstellte fest, daß ich noch weniger als Ricia anzuziehenhatte. Durch das Bullauge sah ich, daß Dörrpflaumenicht gelogen hatte, wir befanden uns tatsächlich aufSee. Einen größeren Ausflug schaffte ich nicht. Ichschleppte mich zum Bett zurück und schlief sofortwieder ein.

Mein Steward am nächsten Morgen war, o Wun-

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der, kein Mann mittleren Alters, sondern ein zer-brechlich dünner Jüngling von etwa achtzehn, mitkrankhaft blasser Haut und den Glotzaugen einesKarpfen.

»Ich will mehr zu essen«, erklärte ich, als ich meineRation gefuttert hatte. Er ging gar nicht darauf ein,sondern zog am Tablett, das ich festhielt.

»Wenn du mir nicht noch etwas bringst, brülle ichdas Schiff zusammen. Das würde dem Boß bestimmtnicht gefallen, eh? Er würde glauben, du hast irgendetwas falsch gemacht. Ah ja, ich werde sagen, wirhätten eine Abmachung getroffen, die du dann nichteinhalten wolltest.«

»Das ist eine Lüge!« Er schien so schwach zu sein,wie er aussah, denn selbst in meinem Zustand warich ihm überlegen.

»Das weißt du, und ich weiß es auch, aber der Boßnicht. Er wird mir glauben. Es würde mich nichtwundern, wenn er dir die Kehle aufschlitzen ließe.Das tut er nämlich mit Leuten, die er nicht braucht.Und du möchtest doch nicht gern sterben, eh?«

Der Junge schien zu überlegen. »Ich habe mich nochnicht fortgepflanzt«, erklärte er erstaunlicherweise.

»Zu dumm, und du wirst es nie, wenn du mir nichtsofort eine zweite Portion von diesem Frühstücksbreibringst.«

Wortlos verließ er die Kabine und brachte dasVerlangte.

Ich aß, dann grinste ich ihn an. »Wenn ich der altenDörrpflaume, deinem Boß, erzähle, daß du für michnachgefaßt hast, wird er dich über Bord werfen, ver-mutlich sogar, ohne dir die Kehle vorher aufzuschlit-zen.«

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»Du wirst es ihm sagen?« fragte der Junge mit gro-ßen Augen.

»Nur, wenn du mir nicht ein paar Fragen beant-wortest, wie beispielsweise: Wohin fährt dieserKahn?«

»Ich darf keine Fragen beantworten.« Er griff nachdem Tablett.

»Was schadet es schon? Tust du es nicht, brülle ichnach dem Boß. Er wird dafür sorgen, daß du nichtmehr zum Fortpflanzen kommst. Überleg es dir, bisdu Mittag wiederkommst.«

Er kam ein wenig spät mit dem frugalen Mahl.»Wir fahren nach Gonwondo«, erklärte er schließlichauf meine erneute Frage.

»Wo ist das, Junior? Irgendwo in Afrika?«»Wir fahren neun Tage lang in südlicher Richtung.«Ich überlegte. Er konnte nichts anderes als die Ant-

arktis meinen. »Wer befehligt eigentlich diesesSchiff?«

Er machte eine weitausholende Geste. »Wir.«»Wer ist ›wir‹?«»Du gehörst nicht zu uns.«»Das will ich auch hoffen. Aber wer seid ihr?«Er schwieg stur. Ich versuchte etwas anderes.

»Warum seid ihr hinter dem Mädchen her?«»Ich weiß nichts von einem Mädchen.«»Na gut. Was erwartet ihr dann, daß ich euch ver-

rate?«»Ich darf über diese Dinge nicht sprechen.«»Schön, dann muß ich Dörrpflaume erzählen, wo-

her ich weiß, daß wir in neun Tagen in der Antarktissein werden. Deine einzige Chance, noch zum Fort-pflanzen zu kommen, ist auszupacken.«

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Seine Augen blickten mich stumpf, resigniert an. Erdrehte sich um und schlürfte zur Tür.

»Halt«, rief ich ihm nach. »Überleg es dir lieber, ehedu den Kopf freiwillig in die Schlinge steckst. Was istdenn das große Geheimnis?«

Er blickte mich über die Schulter an. »Ich habeAnweisungen, nicht mehr zu sprechen als nötig.«

»Für dich, Junge, ist es aber nötig, zu mir zu spre-chen.«

Er dachte darüber nach. »Das stimmt«, murmelte erschließlich.

»Ich möchte wissen, weshalb sie mich um den hal-ben Erdball schleifen. Bestimmt nicht, um herauszufin-den, wo das Mädchen ist, denn das hätten sie aus mirherausprügeln können. Also, was weißt du darüber.«

»Nichts.«»Dann sieh zu, daß du es herausbekommst.«Er verschwand wortlos, aber als er den Nachmit-

tagskaffee brachte, sagte er zögernd: »Sie bringendich zur Befragung zum Nest.«

»Nest? Befragung? Weshalb befragen sie mich nichthier?«

»Du mußt ihnen sagen, woher du von unseremNest weißt. Es gibt dort Maschinen, die dich zumSprechen zwingen werden.«

»Maschinen, eh? Daumenschrauben? Streckbank?«Junior machte eine weitausholende Bewegung.

»Große Maschinen. Sie haben keinen Namen.«»Du machst deine Sache gut, Junge. Wenn es so

weitergeht, kommst du vielleicht doch noch dazu,dich fortzupflanzen. Nun will ich nur noch wissen,wo genau das Schiff anlegen wird, wie weit sie michins Landesinnere zu bringen beabsichtigen ...«

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»Ich weiß darüber nichts.«»Aber du kannst es herausfinden. Übrigens, du

mußt herumerzählen, daß ich schrecklich schwachbin und kaum allein für kleine Jungs gehen kann.«

Er nahm das Tablett und verschwand. Ich probierteein paar Armübungen. Meine Knochen schmerztenschon weniger. Am schlimmsten war noch meinrechtes Knie. Mein Kopf brummte zwar hin und wie-der und ich fühlte mich etwas zittrig, aber ansonstenging es mir ganz gut.

Beim Abendessen wußte Junior bereits mehr. Wirwürden vor der Küste Anker werfen und mit Lan-dungsbooten übersetzen. Dann hatten wir noch einehalbe Tagesfahrt bis zum Nest vor uns.

Als der Junge diesmal die Tür hinter sich ver-sperrte, begutachtete ich das Schloß. Mit einem dün-nen Stück Nußbaumfurnier, das ich mir von derKommode auslieh, gelang es mir ohne jeglicheSchwierigkeiten, es zu öffnen. Ich warf einen schnel-len Blick hinaus und sah einen engen Gang, düsterbeleuchtet, und geschlossene Türen. Außer fernemMotorendröhnen war nichts zu hören. Ich schlich bar-fuß hinaus, griff nach dem Knopf der nächsten Tür,doch dann schlug ich statt dessen gegen die Holztä-felung, bereit, beim geringsten Geräusch in meineKabine zurückzukehren. Aber es rührte sich nichts.Ich öffnete die Tür und trat ein.

Es war ein kleiner Raum, ähnlich wie meiner mö-bliert, mit leerem Wandschrank. Ich versuchte dennächsten und übernächsten. Erst in der vierten Kabi-ne fand ich einige nützliche Dinge wie Haarnadeln,Kaugummi, rostige Rasierklingen, einen Bleistift undeinen alten Hut, in den ich meine Beute verstaute.

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Zurück in meiner Kabine, schob ich, mangels einesbesseren Verstecks, alles unter die Matratze. Unddann mußte ich mich ausruhen. Ich war doch nochschwächer, als ich gedacht hatte.

Nach Mitternacht unternahm ich meinen zweitenBeutezug. Ich bekam einen ganz schönen Schrecken,als mir zehn Meter von meinem stillen Kämmerchenentfernt, Schritte entgegenkamen. Ich drückte michgegen die Wand einer Viermannskabine. Glückli-cherweise betrat, wer immer es war, schon vorher ei-nen Raum. Ich kämpfte gegen die Panik an undhuschte in die Viererkabine. Hier fand ich einenschweren, wasserfesten Mantel mit vielen Flecken. Erwar mir zwar ein paar Nummern zu klein, aber zu-mindest bedeckte er meine Blöße. Auch ihn verstauteich, ausgebreitet, unter meiner Matratze.

Am nächsten Morgen schien mir Junior noch lust-loser als sonst. »Kopf hoch, Junge«, munterte ich ihnauf. »Jetzt wirst du ganz sicher zu deiner Fortpflan-zung kommen. Ich stelle dir keine Fragen mehr, dubist wieder dir selbst überlassen.« Aber auch das halfnicht, seine Stimmung zu bessern. Ich drang nichtweiter in ihn ein.

In der kommenden Nacht wagte ich mich sogarüber den Korridor hinaus und den Niedergang hin-auf. Ich fand eine kleine Kammer, in der Kleidungs-stücke hingen. Ich eignete mir eine Wollmütze, einenfrüher einmal weißen Coverall und hohe Plastikstiefelan. In dem Augenblick hörte ich näherkommendeSchritte. Hinter dem Kleiderständer war eine dunkleEcke. Ich verzog mich dorthin, war mir allerdings nurallzu klar, daß meine weißen Füße unter dem Zeugzu sehen sein mußten.

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Die Tür öffnete sich, schwere Schritte stampftenherein. »Viel Eis«, erklärte eine Stimme. Eine zweiteantwortete in einer Sprache, die ich nicht verstand.»Der Primär befiehlt, das Landungsboot morgen anDeck zu bringen.«

Mehr Unverständliches. Dem Ton nach ein nichternstgemeinter Widerspruch.

»Es ist notwendig, auf dem Eisfeld umzusteigen.Die Fahrzeuge müssen zur prompten Landung bereitsein.«

Wieder eine unverständliche, unzufriedene Ant-wort, länger diesmal. Der Englischsprechende unter-brach sie im Befehlston. »Sieh zu, daß die Fahrzeugeinnerhalb der nächsten zwölf Stunden an der Zweier-schleuse sind.«

Kurz darauf entfernten sich die Schritte, die Türschloß sich von außen. Ich wartete fünf Minuten underreichte meine Kabine, gerade, als jemand den Gangentlangkam. Ich hatte keine Zeit mehr, meine Neuer-werbungen zu verstecken. Ich warf das Bündel in denWandschrank, sprang auf die Koje und zog die Deckebis zum Kinn hoch, als die Tür aufgerissen wurde.Junior kam mit einem fetten Mann mittleren Altersherein.

»Was hat er«, der Fremde deutete auf den Jungen,»dir erzählt?«

»Mir erzählt?« tat ich erstaunt. »Nichts. Er macht janicht einmal den Mund auf, um Guten Abend zu sa-gen. Ich hielt ihn schon für taub.«

»Er sagte nicht, wohin wir fahren?«»Ihr müßt ganz schön durcheinander sein. Ich habe

es ihm gesagt. Ich weiß genau, wohin die Reise geht.«»Wohin?«

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»Nach Australien«, erwiderte ich prompt. »Wohinsonst?«

»Und er hat auch nicht von – anderen Dingen ge-sprochen?«

»Wie sollte er? Er kann ja gar nicht Englisch.«»Du bist sicher, daß er nichts gesagt hat?«»Ich habe versucht, seinen Namen aus ihm heraus-

zubekommen, aber nicht einmal den hat er mir ver-raten.«

»Weshalb wolltest du seinen Namen wissen?«»Damit ich ihn rufen kann.«»Weshalb ist es nötig, ihn bei einem bestimmten

Namen zu rufen?«»Damit er weiß, daß ich ihn meine.«»Aber da er ja allein zu dir kam, konntest du doch

nur ihn meinen.«»Deshalb nenne ich ihn Junior.«»Erklär mir das.«»Da er allein zu mir kommt, weiß er, daß ich nur

ihn meinen kann.«Der Dicke blinzelte verwirrt. Jedenfalls machte er

kehrt und Junior mit ihm. Ich konnte nur den Kopfschütteln.

Meine nächste Mahlzeit brachte ein Mann, der wieein Buchprüfer aussah, mittleren Alters, wohlge-merkt.

»Was ist mit Junior?« fragte ich ihn. Er tat, als hörteer mich gar nicht. Ich ließ es dabei beruhen. Vielleichtkam der Junge mit dem nächsten Essen. Aber dasbrachte wieder ein anderer. Ich fand, dieser sah auswie ein Briefträger. Ich sagte kein Wort zu ihm, under brach das Schweigen auch nicht.

Irgendwann während der Nacht weckte mich ein

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donnernder Krach und ich flog fast von der Koje. Icherwartete schon grünes Wasser durch die Tür strö-men zu sehen, aber von hastenden Schritten abgese-hen, tat sich nichts. Ich nahm an, daß wir mit einemEisberg zusammengerumpelt waren. Eine halbeStunde später erfolgte ein zweiter leichterer Zusam-menstoß. Nun erst wurde es lebendig auf dem Schiff.Offenbar waren wir irgendwo angekommen, zweiTage vor Juniors Berechnung. Es war Zeit, daß ichetwas unternahm.

Ich holte meine Beutestücke hervor und wickeltemeine Füße erst in ein Stück Decke vom Bett, ehe ichin die Stiefel schlüpfte. Dann stieg ich in den Cover-all, streifte den Mantel über und zog mir die Woll-mütze über die Ohren. Meine anderen Kostbarkeitenverstaute ich in den Taschen – die Haarnadeln, denLöffel, den ich von einem Frühstück unterschlagenhatte, die Rasierklingen, und nicht zu vergessen, denKaugummi. Ich lauschte an der Tür und, als nichts zuhören war, trat hinaus – geradewegs vor die Mün-dung einer Maschinenpistole in Dörrpflaumes Hand.

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12.

Er hatte zwei Begleiter. Alle drei trugen Klimaanzügeund Schneestiefel und blickten mich ausgesprochenunfreundlich an. »Vorwärts«, befahl Dörrpflaumebarsch und stieß mich mit der MP. Durch weiteresStupsen erfuhr ich die Richtung. Wir kamen zumOberdeck, wo ein Kran gerade ein Fahrzeug aus demLaderaum hob. Der eisige Wind schnitt durch meineKleidung. Ich wandte mich meinem Oberwächter zu.»Du willst mich doch lebend an Ort und Stelle brin-gen?« Mein Gesicht war schon ganz steif, und ichkonnte kaum noch die Lippen bewegen. »Es hat be-stimmt minus fünfunddreißig Grad, und ich bin fastnackt.«

Dörrpflaume sagte etwas zu einem der beiden. Erstieg unter Deck zurück und kam fünf Minuten spä-ter mit einer Decke an. Ich wickelte mich ein wie Sit-ting Bull, aber viel half es nicht.

Pfläumchen wartete, bis der letzte Mann über dieReling und im Landeboot war, dann bedeutete er mir,mich ebenfalls zu bewegen. Wir mußten um ein grö-ßeres Maschinengehäuse herum. Von dort aus sah ichJunior auf dem Rücken liegen und mit blicklosen Au-gen in den Himmel starren. Das Blut um eine Brust-wunde war gefroren.

»Dann ist er also doch nicht dazu gekommen, sichfortzupflanzen«, murmelte ich.

»Er war ein Verräter. Die Fortpflanzung wäre ihmin keinem Fall gestattet worden«, sagte Dörrpflaumefast indigniert.

Ein wenig Stupsen beschleunigte meine Klettertour

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in das Landeboot. Den letzten Meter oder so plump-ste ich hinunter, weil ich auf der gefrorenen Strick-leiter ausgerutscht war. Einer der freundlichen Her-ren stieß mich auf die Bank, dann quetschtenDörrpflaume und zwei seiner Untermänner sich ne-ben mich. Die häßliche Maschinenpistole ruhte aufden Knien meines linken Nachbarn. Die Mündungdeutete genau auf meine Hüfte, aber es interessiertemich nicht mehr. Ich versuchte nur, vergebens leider,mich zusammengekauert in meiner Decke warm zuhalten. Jemand würde sehr verärgert mit Dörrpflau-me sein, denn ehe wir unseren Weg durch acht Kilo-meter Eiswasser brachen, war ich erfroren. Ich wollteihn darauf aufmerksam machen, dabei stieß ich mitdem Ellbogen versehentlich gegen die MP. Sieplumpste auf den Boden und rutschte davon. DerKerl, der sie auf den Knien gehalten hatte, schlitterteihr nach. Dörrpflaume wirbelte zu mir herum, kamhalb auf die Beine ...

Ein verdächtiges Schleifen war zu hören. Das Bootschlingerte und glitt auf ein Eissims unter Wasser.Der Mann, der gerade die Maschinenpistole aufhebenwollte, torkelte weiter und stürzte, ohne einen Mucksvon sich zu geben, in das eisige Wasser. Pfläumchenwollte eben auf mich los. Ich lehnte mich ein wenigseitwärts zurück und gab ihm noch einen liebevollenStoß, damit er ein wenig tiefer tauchen würde. Derdritte griff nach seiner Pistole, zog sie und ...

Das Boot zitterte, rutschte vom Eissims, und eingewaltiger Wasserschwall schwemmte über die Seiteund den Mann mit der Pistole, daß er sich prustendauf seinem Allerwertesten ausruhte. Der gleicheSchwall warf mich in das Eiswasser, das über Bord

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gespült war, und auf die nächste Schneekatze zu. Ichzog mich an ihrem Türgriff in die Höhe und hineinins Innere, und schlug schnell die Tür hinter mir zu.Eine wundervolle Wärme stieg von dem dreißig Zen-timeter von meinem Gesicht entfernten Gitter auf: Einautomatisches Heizsystem, das sich aktivierte, wennjemand den Wagen betrat und die Tür schloß. Ichhatte verdammtes Glück, denn ich hätte es nicht biszum Fahrersitz geschafft, um auf einen Knopf zudrücken.

Eine lange Zeit lag ich reglos auf dem Bauch undhoffte nur, sie würden mich nicht in die Kälte hinaus-zerren, ehe sie ihre Männer aufgefischt hatten. Einbißchen Gefühl kehrte in meine Hände zurück. MeineOhren und die Nase fühlten sich an, als bearbeitetenkleine Männchen sie mit Zangen und Schürhaken. Ichsetzte mich auf. Die steifgefrorene Kleidung rieb.Meine Zehen begannen zu tauen. Ich zupfte dasschmelzende Eis von meiner Decke und wand meinsich langsam erwärmendes Zeug aus.

Sie hatten sich immer noch nicht um mich geküm-mert. Vermutlich nahmen sie an, ich sei ebenfallsüber Bord gespült worden. Ich wagte einen Blickdurch die Windschutzscheibe. Am Heck stand ledig-lich ein Mann, der mir bisher noch nicht aufgefallenwar, und blickte auf das verschwindende Schiff zu-rück. Ich studierte die Kontrollen. Die Schneekatzewar ein Standardmodell mit ein paar Megapferdestär-ken und einem Aktionsradius von fünfzehntausendKilometern. Sie war aufgetankt und einsatzbereit.

Ich kehrte zu meiner Heizung zurück und sog alleWärme auf, die ich konnte, ehe sie mich finden wür-den.

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Eine Stunde später verstummten die Maschinendes Landungsbootes – und immer noch hatte nie-mand die Tür aufgerissen und mich herausgeholt. Ichspähte durch die Scheibe hinaus. Eine Gruppe Män-ner ließ die Laderampe herunter. Die Schneekatze vormeiner rollte hinunter. Dann startete die zweite ne-ben mir. Jetzt erst kam mir die Idee!

Ich schob hastig den Schließhebel der Tür vor undkletterte auf den Fahrersitz. Glücklicherweise war mirdieses Modell von der Marine her bekannt. Ichdrückte auf den Startknopf. Der Motor heulte auf undberuhigte sich zu einem sanften Schnurren. Derzweite Wagen hatte Schwierigkeiten. Er schien zwi-schen der Rampe und dem Eis eingeklemmt zu sein.Ich gab Gas, als jemand am Türgriff rüttelte. Fäustehämmerten gegen die Seite. Ich steuerte meinen Wa-gen an der steckengebliebenen Katze vorbei und hin-aus aufs Eis. Die Sicht war nicht so sonderlich. Ich saheinen düsteren Streifen, der ein Pfad sein mochte.Immer noch hämmerte jemand an die Seite. Aber ergab es auf, als ich schneller wurde.

Der Pfad, es war wirklich einer, wand sich anhaushohen Eishügeln vorbei. An einer scharfen Kur-ve glitt ich vom Weg ab und prallte mit dem Heckder Schneekatze gegen eine Eiswand. Eisbrocken ha-gelten herab, eine Lawine löste sich. Gut für mich,freute ich mich, als ich weiterfuhr, aber nur, bis ichsah, daß sich die Schnauze einer Schwesterkatzedurch die Trümmer bohrte. Ich legte volle Geschwin-digkeit auf und widmete mich ganz der Lenkung.

Der Pfad wand sich steil zu einer unglaublichenHöhe empor. Drei Kilometer, hatte der Seemann vorundenklicher Zeit gesagt. Plötzlich tauchte ich ins

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Berginnere. Er hatte auch erwähnt, daß Hayles Expe-dition einen Tunnel bis zur Spitze geschmolzen hatte.Ich schätzte, das hier war er.

Ich kam nun schneller voran. Der Kilometerzeigerstand auf neunzig, aber mir schien es wie noch mehr.Der Spiegel reflektierte bereits die Scheinwerfer derKatze hinter mir. Mit einem Mal war ich wieder imFreien und raste über eine rotfleckige Leere, die biszum Horizont reichte.

Der Weg wurde immer unebener. Der Fahrer in derSchneekatze hinter mir, war mit seinem Vehikel bes-ser vertraut als ich, er holte auf. Der Weg führte linkssteil in die Tiefe und rechts in die Höhe. Ich konntemir entweder den Hals brechen, indem ich versuchte,ihm zu entkommen, oder er würde mich von hintenrammen und in den Abgrund stoßen. Ich entschloßmich, ihn herankommen zu lassen. Als er es schonfast war, stieg ich auf die Bremse und schwang nachrechts. Meine Katze rutschte, fing sich und prallte ge-gen einen riesigen Eisbrocken. Ich sah gerade noch,wie der andere Wagen auf mich zubrauste, dannschlug meine Katze Purzelbaum.

Ich mußte ziemlich schnell wieder zu mir gekom-men sein. Einen Moment verstand ich nicht, weshalbmein Schädel sich so schwer fühlte. Dann wurde mirbewußt, daß ich in meinem Sitzgurt mit dem Kopfnach unten hing. Als ich wieder einigermaßen klarwar, schnallte ich den Gurt auf und fiel nicht geradeelegant auf das, was einmal das Wagendach gewesenwar. Eine Tür war aufgesprungen. SchneidenderWind wirbelte Eiskristalle um mich herum. Ich klet-terte hinaus auf die poröse Oberfläche des gefrorenenSchnees. Zwanzig Meter entfernt, stand die andere

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Katze auf Rädern, aber mit völlig eingequetschtemDach. Blasse Flammen flackerten irgendwo im In-nern. Ich rannte hin, aber ich humpelte ganz schön.Zur Abwechslung hatte diesmal mein linkes Knie et-was abbekommen. Die Tür auf der Fahrerseite standoffen. Der Chauffeur war halb herausgeschleudert, seinBein völlig verdreht. E r war derjenige von Dörrpflau-mes Männern, der nicht über Bord gefallen war.

Ich zerrte ihn an den Armen zu meiner Katze undschloß die Tür, so gut es in ihrem deformierten Zu-stand ging. Es war zwar leider nicht mehr warmdarin, aber zumindest bot der Wagen Schutz vor demeisigen Wind.

Mein neuer Freund begann zu blinzeln. Ich warte-te, bis er völlig da war und mich erkannte.

»Weshalb hast du mich verfolgt?« fragte ich ihn.»Um dich zu fangen«, krächzte er kaum verständ-

lich.»Geht das schon wieder los!« Ich seufzte. »Hör mal.

Man hat mich eine ordentliche Strecke verschleppt.Ich möchte wissen, warum.«

»Es – ist so – befohlen ...« Seine Augen waren nochoffen, aber plötzlich verloren sie jeglichen Glanz. Ichpackte ihn an beiden Schultern, schüttelte ihn. »Ver-dammt! Antworte mir! Du darfst noch nicht sterben!Ich muß wissen ...« Sein Kopf rollte gegen meineBrust. Ich ließ ihn sinken. Er war tot – und ich alleinauf weiter Flur.

Nachdenklich betrachtete ich seinen Klimaanzug.Er war kleiner als ich, aber ich war gern zu Zuge-ständnissen bereit. Es war eine scheußliche Arbeit,ihn herauszuziehen, und mich hineinzuzwängen. DieStiefel paßten allerdings überhaupt nicht, ich mußte

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die billigen Plastikdinger anbehalten. Als ich fertigwar, steckte ich die eiserne Ration der Katze ein undkletterte aus dem Wrack. Ich kam mir wie eineKnackwurst in zu enger Haut vor. Aber von den Fü-ßen abgesehen, fühlte ich mich zumindest warm.

Der andere Wagen brannte noch. Soweit das Augein dem Zwielicht reichte, war es die einzige Ab-wechslung in der Eintönigkeit der Eislandschaft. Ander Küste würden die netten Männer mittleren Altersbereits meine Spur aufnehmen und ihr folgen, bis siemich erwischten. Und dann würden sie mich ohneGefühlsregung in ihr »Nest« bringen, genau wie siees schon die ganze Zeit beabsichtigten.

Das war es, was mich am meisten an diesen kal-täugigen Männern beunruhigte. Sie waren wie dieFlut am Strand – unaufhaltsam. Man konnte sie mitMaschinengewehren niedermähen, doch dann nah-men ganz einfach andere ihren Platz ein. Sie warennicht sehr gescheit, nicht sehr stark, aber am Endebekamen sie doch, was sie wollten.

Nein, nicht dieses Mal. Sollten sie doch der Spurfolgen. Sie würden den brennenden Wagen finden,und den anderen auf dem Kopf, und den Toten. Dochmich nicht. Ein Mann zu Fuß würde nicht mehr Spu-ren auf dem Eis hinterlassen als ein Fisch im Wasser.Wenn ich ein gutes Tempo vorlegte, konnte ich indrei Stunden bereits etwa vierzehn Kilometer hintermich gebracht haben. Und wenn sie mich danachnoch fanden, würde ich zu steif gefroren sein, als daßJuniors Maschinen noch die Antworten aus mir her-ausholen könnten.

Ich wählte aufs Geratewohl eine Richtung undmarschierte los.

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Ich weiß nicht, wie lange ich mich dahinschleppte.Ich konnte mich auch nicht erinnern, daß ich michhingelegt hatte. Aber es war jedenfalls angenehm, soausgestreckt zu liegen, nicht mehr laufen zu müssen,sondern mich angenehmen Träumen hinzugeben –Träumen von rosenüberwucherten Toren in Gärtenmit sonnenwarmem Gras, wo ich unter Blumen schla-fen konnte.

Ich erwachte mit einem mahnenden Gefühl. Ichhatte irgend etwas nicht zu Ende gebracht. EineStimme drängte mich – ja, wozu eigentlich? Einescheußliche Last drückte auf meine Brust. Ich ver-suchte, mich zu bewegen. Meine Arme und Beinerührten sich zögernd. Mir war fast, als wäre ich in ei-nem Eisblock festgefroren.

Eis. Ich erinnerte mich. Ich war gegangen, gestol-pert, gefallen, weitergetrampt, während der Himmelsich schwarz färbte und die Sterne vor mir funkelten.Dort strahlte ein Stern geradewegs über dem Eis. Ersah ganz nah aus. Ich mußte nur noch ein bißchenweitergehen – noch ein bißchen –, dann würde ichihn erreichen. Er war so nah, und ich hatte schon ei-nen so weiten Weg hinter mir, es wäre doch schade,wenn ich nicht das kleine Stück auch noch schaffte.Ich hob mich auf Hände und Füße, bemühte michganz aufzustehen, und stürzte aufs Gesicht. DerSchmerz schnitt durch den Schleier vor meinen Au-gen. Ich versuchte es noch einmal, zwinkerte wie derStern. Ich war jetzt wach, wußte wo ich war, was ichtat ...

Was tat ich denn?Stimmt. Ich erinnerte mich wieder. Ich war den

ganzen Tag schon gefahren und schrecklich müde,

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und dann kam die unerwartete Kurve. Der Wagenprallte gegen einen Baum, ich wurde herausge-schleudert. Dann steckten sie mich in einen Ret-tungswagen ...

Nein. Das lag schon viel länger zurück ...Jetzt erinnerte ich mich. Berge spuckten Feuer in

den Himmel – ein Sturm wie ein Bombardement ausder Hölle – eine Stadt, wo die Häuser zu Trümmernzerfallen auf den Straßen lagen – ein Toter, der mireine Münze gegeben hatte – und die Fliegen summ-ten und summten, als ich ihn über Bord warf ...

Aber das stimmte auch nicht. Ich konnte mich ein-fach nicht erinnern, was geschehen war. Doch daswar auch gar nicht so wichtig. Wichtig war das Licht,das durch die Dunkelheit schimmerte und mich rief –rief ...

Ich war auf den Beinen. Irgend etwas stimmt nichtmit ihnen. Aber ich mußte einen Fuß vor den anderensetzen und aufpassen, daß ich nicht fiel. Ich durftejetzt nicht denken, mußte nur gehen – gehen – auf dasflimmernde gelbe Licht zu, das einfach nicht näherkommen wollte, aber das ich erreichen mußte –mußte ...

Ich träumte, ich kroch über ein riesiges Eisfeld. Ichwar ganz allein auf einem fremden Planeten, derdurch Raum und Ewigkeit wirbelte. Meine Feindeverfolgten mich, aber sie lagen weit zurück. Ich krab-belte nun auf Händen und Füßen. Ich öffnete meineAugen und beobachtete das gelbe Licht, das vor miranschwoll und sich verzerrte. Ich lachte über diesenIrrsinn – schließlich lag ich in einem warmen, beque-men Bett, träumte von Eis und Schmerz und wußte,daß ich träumte, ohne in der Lage zu sein, diesen

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verdammten Traum zu beenden, während das Lichtmich lockte. Es war eigenartig, wie echt der Schmerzin diesem Traum schien. Vielleicht war aller Schmerz,ja das ganze Leben, ein Traum, ein endloses Kriechenzu einem Ziel, das nie zu erreichen war?

Aber das Licht sah nun so nah aus, so echt – einViereck, aus dem gelbes Leuchten einen goldenenPfad in den Schnee warf. Nur noch ein bißchen wei-ter, noch ein paar furchtbare Meter ...

Meine Arme bewegten sich ohne mein Zutun. Mei-ne Beine streikten. Ich zog sie hinter mir her, wie einHund mit gebrochenem Rückgrat. Einen Meter, dannnoch einen ... Das Licht hinter der Tür war nun schonganz nah, so nah, daß ich die Wärme spürte, die mirentgegenschlug, als sie sich für mich öffnete.

Einen flüchtigen Augenblick erwachte ein Teilmeines Bewußtseins und erkannte sie als Trugbild.Aber spielte es denn eine Rolle, ob meine goldene Türecht war oder nicht? Ich hatte sie erreicht und ihreSchwelle überschritten, und eine Wärme, herrlicherals alles andere, wusch wie eine gewaltige Woge übermich hinweg und trug mich hinaus auf eine endloseSee.

Ich hatte es mir in letzter Zeit angewöhnt, mein Ge-sicht vor Schmerz zu verzerren, wenn ich aufwachte,und meine neuesten Wunden und Brüche zu betastenund zu rekonstruieren, wie ich zu ihnen gekommenwar. Diesmal war es anders. Ein Wunschbild – eskonnte nichts anderes sein – beugte sich über mich:Ein bezauberndes schmales Gesicht, von glänzendemschwarzen Haar umrahmt, ein Gesicht, das lächelte,und eine sanfte Hand, die meine Wange streichelte.

»Akmal«, murmelte Ricia zärtlich.

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13.

Eine lange Weile achtete ich nicht darauf, wieviel Zeitverging. Ricia pflegte mich aufopfernd, während dasFieber wie Magnesiumfeuer in mir brannte. Nur ganzvage war ich mir bewußt, daß ich gefüttert, gebadetund mein Schmerz gelindert wurde, wenn er glühendvon meinen Füßen aufstieg, während ich vor ge-sichtlosen Männern davonrannte, die mich durchFlüsse geschmolzenen Bleis verfolgten.

Eines Tages konnte ich mich aufsetzen und meineSuppe selbst löffeln. Mit weiten Augen starrte ich aufdie beiden wuchtigen Bündel, die meine Füße waren.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte ich zuRicia. »Ich weiß nicht einmal, was Wirklichkeit und wasAlptraum und Fieberwahn waren. Ich weiß auch nicht,wo ich hier bin und wie ich hierhergekommen bin, janicht einmal, wer du bist. Und du weißt nicht, wasich sage.«

»Doch, Mal, wissen«, versicherte sie mir.»Du verstehst mich?«»Mal zuhören, viele englisse Wort lernen.«»Mädchen, du bist wundervoll!« Ich tastete nach

ihrer Hand. »In meinem Schädel geht es zwar nochrund, und ich weiß auch nicht, was alles fehlt, abermir ist, als hätte ich dich in einem Pensionszimmer inMiami zurückgelassen, und weniger als drei Wochenspäter fiel mir nichts Besseres ein, als dieser Gewalt-marsch quer über den Südpol. Und dann – das hier!«Ich machte eine weitausholende Geste. »Habe ich dasGanze nur geträumt? Bin ich noch in Miami mit Deli-rium tremens und wundgelaufenen Sohlen, weil ich

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zuviel im Regen getrampt bin?«»Nein, Mal, Gonwondo hier.«»Gonwondo – so hat es Junior genannt. Er sagte, sie

bringen mich zu ihrem Nest ...« Ich seufzte. »Aber ichmuß wirklich erst Wahrheit und Fieberträume sortie-ren. Was mich jetzt am meisten interessiert – wie hastdu mich gefunden?«

Sie lächelte, schüttelte den Kopf. »Nein, Mal. Ichnicht dich finden. Du mich finden.«

»Ich habe dich gefunden?«»Du kommen zu mir, Mal. Wir jetzt ganz nah.« Ihre

Augen blickten verträumt. Sie nahm meine Hand,hob sie und drehte am Ring, den sie mir gegebenhatte. »Das dich zu mir rufen, Mal.«

Ich blinzelte verwirrt. »Sicher, Mädchen, sicher.Wenn du es sagst.«

»Mal, du nicht glauben. Ring dich wirklich zu mirbringen. Du müssen glauben.« Sie blickte mich be-sorgt an.

Ich tätschelte ihre Hand. »Okay, Ricia, ich glaubedir.«

Nach ein paar Tagen – oder besser Schlafperioden,denn die Fenster blieben ein undurchsichtigesSchwarz – konnte ich schon in dem Apparat herum-humpeln. Die Erfrierungen kamen in etwa Verbren-nungen zweiten Grades gleich, aber Ricia hatte ver-schiedene Salben aufgetragen, und der Heilungspro-zeß schritt erstaunlich schnell voran.

Es gab hier vier größere Räume: Eine Art Wohn-zimmer, in dem ich nun mein Bett hatte, ein Speise-zimmer mit einem langen niedrigen Tisch, dasSchlafzimmer, anschließend daran ein Bad mit einemquadratischen Schwimmbecken von etwa vier Meter

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Kantenlänge, und die Bibliothek, das heißt, ichnannte sie so, obgleich keine Bücher zu sehen waren.Die Böden waren aus einem harten glänzenden Mate-rial, jedes Zimmer in einer anderen Farbe, und dieWände offenbar aus dem gleichen Material mit einemdünnen Überzug, der anscheinend beliebig die Farbewechselte.

Das Mobiliar war bequem, aber von eigenartigenProportionen, aus buntem Hartholz und hellen Stof-fen. Unser Essen kam aus einer Mulde in der Mittedes Eßtisches im Speisezimmer. Es gab keine Küche,keinen Ofen, keinen Kühlschrank, keine Türen. Vonirgendwoher nahm Ricia Kleidung für uns beide – ei-ne Art Sarong für sie, und einen kurzen Kittel mitweiten Ärmeln für mich. Beides war jeden Morgenwie neu aus der Schneiderwerkstatt. Ich fragte sie,und sie zeigte mir einen Schrank, der leer aussah, alsich hineinschaute. Aber am nächsten Morgen hingenwieder neue Sachen für uns darin – nicht daß Ricia sogroßen Wert darauf legte. Sie lief genauso gern imEvaskostüm herum.

Es war ein äußerst bequemes Leben: Ich schlief,erwachte, lag auf meinem Bett und studierte die Bil-der an der Wand, und aß die Speisen, die in derTischmulde auftauchten. Das Menü war reichhaltigund abwechslungsreich. »Woher kommt das alles?«Ich sah Ricia zu, wie sie den Muldendeckel öffneteund die dampfende Mahlzeit herausholte. »Wie wirdes zubereitet? Und was ist es eigentlich?« Sie lachteund versuchte, es mir mit Zeichensprache zu erklä-ren. Ich wurde nicht klug daraus.

An meinem ersten Tag außerhalb des Bettes, sahich mich überall im Apartment um und kam schließ-

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lich zu dem Raum, den ich Bibliothek getauft hatte.Es war ein einfaches Zimmer mit Sesseln an einerSeite. Ich stellte fest, daß sich kleine abgeschlosseneBehälter, wie Karteikästchen über und nebeneinanderan den Wänden reihten. Nirgends waren Griffe oderKnöpfe zu sehen, mit denen man sie aufklappen odervielleicht als Schubladen herausziehen konnte. Ichklopfte darauf, es klang hohl. Ricia, die mir gefolgtwar, wirkte nachdenklich.

»Wozu ist das alles?« fragte ich. »Ich kann mir kei-nen Reim darauf machen.«

Sie zupfte mich am Arm und wollte mich zu mei-nem Zimmer zurückführen. »Nein, Mal, nicht jetzt.Du noch müde.«

»Ich bin nicht zu müde, um neugierig zu sein.«»Nicht sprechen jetzt, Mal ...«Ich faßte sie an beiden Armen, sanft aber fest. »Hör

mir zu, Ricia. Du hast mich nun eine ganze Wochehingehalten, und ich ließ es zu, weil ich vielleichtselbst nichts von der bösen Welt ringsum wissenwollte. Aber wir dürfen uns nichts vormachen, es gibtSachen, die ich wissen muß, und die du mir erklärenkannst.«

»Mal – du krank. Du ausruhen.«»Als erstes«, fuhr ich fort, »möchte ich wissen, wel-

che Rolle du in der ganzen Geschichte spielst. Ricia,davon abgesehen, daß du mein rettender Engel bist.Woher kommst du? Was weißt du über sie?«

Sie schien zu erstarren. Schließlich murmelte sie:»Besser, Mal, du vergessen.« Sie blickte mich flehent-lich an.

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht, solange ich lebe.«Sie ließ die Schultern hängen und nickte zögernd.

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»Ich glaube, Mal, sie Männer von – von unser Legen-den sprechen. Untermänner, verstecken tief in Erde,aber wenn schlechte Zeiten, sie kommen. Einmal, siestehlen Frau, verkriechen mit ihr tief in Erde, tunschlimme Dinge mit ihr. Alter Mann sie nicht wieder-sehen.«

»Märchen sind keine ...«, begann ich.»Leben lange dort versteckt in Erde und warten.

Weise Männer sagen, kommen schlechte Zeiten, dannkommen auch Untermänner. Schlechte Zeiten jetzthier, Mal. Und sie hier.«

»Legenden«, brummte ich. »Sagen. Aber diese Kil-ler sind keine Märchenfiguren, Ricia! Sie sind hier,jetzt! Und sie haben ein besonderes Interesse an dir.Warum? Du mußt doch etwas wissen, das ein biß-chen Licht in die Sache bringen könnte.«

»Mal, Untermänner jetzt überall. Machen Men-schen Sklaven. Wir hierbleiben, ruhig, leben, verges-sen.«

»Ich würde keinen guten Sklaven abgeben, Mäd-chen. Ich hänge ein wenig zu sehr an meiner Unab-hängigkeit. Verschweig mir jetzt nichts, ich muß alleswissen. Was kannst du mir noch über sie sagen? Undüber dich?«

Ricia blickte mich betrübt an, aber sie gab nach.»Mal, du sitzen jetzt hier. Ich zeige viele Dinge.«

Ich setzte mich in den Sessel, auf den sie deutete.Sie schritt zur Wand und hantierte daran herum. DasLicht erlosch. In der Mitte des Raumes entstand einGlühen. Es war mir unmöglich, zu erkennen, woheres kam. Es wuchs, bildete schleierfeine Formen, diefester wurden und schließlich eine Landschaft son-nenbeschienener Ebenen bildete, die sich bis zu be-

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waldeten Hügeln erstreckte. Etwas begann sich in ih-rer Mitte zu bewegen – ein winziger, ferner Punkt,der wuchs und sich als galoppierendes Tier ent-puppte. Im Vordergrund kamen mit dem Schwenkender Kamera Bäume in Sicht. Aus ihren Schatten tratein Mann heraus. Er war hochgewachsen, dunkel-häutig, mit geschmeidigen Bewegungen, in hauten-gem schwarzen Anzug. Sein Haar war kurzgeschnit-ten. Er hielt etwas in der Hand, das eine Waffe seinmochte. Er rannte nun quer über den Pfad des heran-galoppierenden Tieres, das ich noch immer nicht er-kennen konnte. Jedenfalls aber war es groß, selbst ausder noch beträchtlichen Entfernung. Ein Pferd war essicher nicht, dazu waren die Beine im Verhältnis zumKörper zu kurz. Ah, jetzt sah ich es besser. Es war einschwarzer Elefant mit dem Rüssel eingerollt zwischenden beiden mächtigen Stoßzähnen.

Der Jäger wechselte die Richtung, er lief nun demgewaltigen Bullen entgegen. Als der Elefant ihn sah,wurde er langsamer und blieb schließlich stehen. Erhob den Rüssel und schien zu trompeten. Da ich mireinen Stummfilm ansah, konnte ich das natürlichnicht mit Sicherheit sagen. Der Mann, noch etwafünfzig Meter entfernt, wirkte entsetzlich winzig ge-gen das riesige Tier, das gar nicht schwarz war, wieich zuerst meinte. Es hatte nur ein so langes Zottelfell,das bis zu den Grasspitzen reichte und durch seineFülle schwarz wirkte.

Der Fleischberg stand immer noch mit erhobenemRüssel und offenem Maul und beobachtete den Nä-herkommenden aus kleinen rötlichen Augen.

Etwa fünfzehn Meter vor ihm blieb der Mann ste-hen. Er hob das Ding in seiner Hand an die Lippen,

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und ich sah, daß es ein Horn mit weiter Öffnung war.Der zottlige Elefant senkte den Rüssel ein wenig. DerJäger kam näher heran. Wieder stieß er ins Horn. DasMammut wiegte sich von Seite zu Seite, ohne einenBlick von dem Menschlein zu lassen, das möglicher-weise eine Art Wiegenlied blies, das das Ungeheuerbesänftigte, ja vielleicht gar hypnotisierte – nein,hypnotisiert wurde es auf andere Weise. Der Mannstand nun fest unmittelbar vor ihm. Er wiegte sichvon Seite zu Seite, und der Elefant folgte seinen Be-wegungen mit den Augen.

Plötzlich senkte der Jäger das Horn und machte ei-ne sanfte Geste mit der Rechten. Der Zottelelefant tateinen Schritt rückwärts. Der Mann trat auf ihn zu undstreckte die Hand aus. Der Rüssel rollte sich aus undberührte sie. Einen Augenblick später streichelte derMann das mächtige Organ, das mit einem Zug einehundert Jahre alte Eiche entwurzeln könnte. Danngriff er hoch, faßte nach einem Stoßzahn und zog sichdaran empor. Einen Augenblick später saß er direkthinter dem Schädel des Giganten.

Dem Mammut gefiel das nicht sonderlich. Esschüttelte den Kopf. Der Mann legte sich flach undhielt sich an den runden, nackt wirkenden Ohren fest.Eine halbe Minute tänzelte das schwere Tier herum,während sein Rüssel den Mann berührte, als sei essich nicht recht klar, was es von dem Ganzen haltensollte. Plötzlich setzte der Mann sich auf, stieß dieAbsätze in den Hals des Riesen, und das Zehnton-nenungeheuer machte sich in schaukelndem Trab aufden Weg, als hätte es das die ganze Zeit schon vorge-habt.

Das Bild verschwamm zu einem hellen Nebel und

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ich atmete lautstark ein. »Was, bei Barnum, Kroneund Busch, war das?« rief ich.

»Mal schauen. Mehr!«Der Nebel nahm wieder Form an. Diesmal zeigte sich

eine Szene, etwa fünf Meter über einer Prunkstraße, ausglänzenden farbigen Steinen, in Muster zusammenge-setzt, die mich an die Böden hier im Apartment erinner-ten. Geradeaus stapfte ein anderer – oder derselbe? –Zottelelefant bedächtig in der Straßenmitte daher. Einvergoldeter Turm war auf seinem Rücken befestigt, indem eine junge Frau mit verschränkten Armen saß. Ihrkerzengerader nackter Rücken war von einem leich-ten Olivton und glänzte in der Sonne. Perlenschnürehielten ihr blauschwarzes, hochgekämmtes Haar zu-sammen. Entlang der Straße jubelten Menschen mitdunkler Haut und barbarischen Kostümen ihr begei-stert zu. Die Bauwerke dahinter leuchteten in Pastell-farben auf weißem Hintergrund und sahen aus wieZuckerbäckerschlößchen. Die Prunkstraße verbreitetesich zu einem weiten Platz vor einem Palast, der wieein Wolkenkratzer in den blauen Himmel ragte. Aufdem breiten Treppenaufgang drängten sich dicht andicht Männer und Frauen mit kunstvollem Kopfputz.

Ein Stück vor den Stufen hielt der Elefant an undging in die Knie. Das Mädchen erhob sich und ließsich auf den Boden herunter. Sie trug nichts als Per-lenschnüre und weiße Seidenschleifchen vorne undhinten, aber sie hatte auch die Figur dazu. Sie hob dieArme, drehte sich der Kamera zu ...

»He ...«, rief ich. Sie ähnelte Ricia so sehr, daß sieleicht ihre Schwester sein konnte.

Die Szene verschwamm, eine neue nahm Form an –ein grasbewachsener Hang über Klippen mit schäu-

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mender Brandung. Ein Ding wie eine Libelle begannsich langsam den Hang hinunterzubewegen, wurdeschneller und hob ab, wo die Klippen steil in die Tiefefielen. Es segelte in einer weiten Kurve, und ich sahnun in einem Gerüst aus Latten und Draht einenMann, dessen Haar im Winde wehte, und der überdas ganze Gesicht grinste. Ein zweiter Segler begannherabzurollen und hob ab. Plötzlich knickte ein Flü-gel. Trudelnd stürzte der Segler in die Gischt.

Eine weitere Szene verdrängte diese. Ein farben-frohes Schiff lag an einem langen Steg. Es hatte einenkurzen Mast und ein offenes Deck mit einem kleinenAufbau. Männer standen an der Reling und winktenanderen an Land zu. Eine Planke war ausgelegt. Einpaar der Besatzungsmitglieder zerrten gerade etwasdarüber, das wie ein Gorilla aussah. Dann war esdeutlicher zu erkennen. Der Gefangene hatte einbreites bleiches Gesicht und unruhige hellblaue Au-gen. Zweifellos war es ein Mensch, wenn auch sohaarig wie eine Bergziege. Seine Hände waren überdem Bauch gefesselt.

Der Film nahm noch lange kein Ende. Ich sahMänner mit glänzenden Kurzschwertern in einerblumengeschmückten Arena gegeneinander kämp-fen; ein Mädchen, das die Zwillingsschwester derMammutreiterin sein konnte, einen riesigen Tiger aneiner Leine spazierenführen; das Innere eines großenRaumes, in dem sich Männer über einen langen Tischmit verschiedenen mir unbekannten Apparatenbeugten; ein Gewölbe, das einem Elektrizitätswerkverdammt ähnlich sah; eine malerische Stadt an ei-nem Berghang; und vieles mehr.

Als auch das letzte Bild erlosch und das Licht im

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Zimmer wieder aufleuchtete, tastete ich nach demnichtvorhandenen Zigarettenpäckchen, dem ichschon seit Wochen nachtrauerte. »Was ...«, ich mußteschlucken. »Was war das? Wo war das?« Ich blickteRicia an. »Wann war es?« Meine Stimme kam als hei-seres Keuchen.

»Mein Land«, erklärte sie stolz. »Mein Volk.« EinAusdruck der Trauer, des Verlassenseins, huschteüber ihr hübsches Gesicht. »Alle fort. Alle tot, meineLeute. Jetzt nur ich.«

Ich humpelte in das Speisezimmer, griff in dieMulde des Tischleindeckdich und schnappte mir dasGlas Wein, das wunschgemäß auftauchte. Ich leertees auf einen Zug.

»Jetzt schlafen, Mal«, mahnte Ricia. Sie mustertemich besorgt.

»Tut mir leid, Mädchen. Ich habe genug geschlafen.Jetzt unterhalten wir uns.« Ich führte sie in »mein«Zimmer und setzte mich neben sie in einen der brei-ten Sessel.

»Die Filme, die du mir gerade vorgeführt hast, zei-gen sie echte Szenen?«

»O ja, echt, Mal.«»Sie wurden hier – auf der Erde gedreht?«Sie schien überrascht. »Natürlich.«»Wo? In welchem Land?«»Gonwondo, hier, dieses Land.« Sie deutete auf

den Fußboden.»Ja, aber ...«»Kein Eis, damals, Mal. Schönes Land, mein Gon-

wondo.«»Die Antarktis – vor dem Eis.« Ich schüttelte den

Kopf.

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»Mal, wie lange Zeit?« Sie blickte mich gespannt an.»Ich weiß es nicht, Ricia.« Ich versuchte mich zu

erinnern, was ich in der Schule gelernt und späterdarüber gelesen hatte. »Ein paar Millionen Jahre,nimmt man an. Einige Theoretiker sind eher für einpaar hunderttausend Jahre, und manche glauben, nurzehn- bis zwanzigtausend Jahre. Aber von dem, wasdu mir gezeigt hast – Mammuts und Höhlenmen-schen ... Und wenn die Katze kein Säbelzahntigerwar, verschenke ich mein Pfadfinderabzeichen ...Hunderttausend Jahre würde ich auf jeden Fall sa-gen.«

»Was ist hunditausen?«Ich brauchte Minuten, bis ich ihr unser Zahlensy-

stem klargemacht hatte. Sie starrte auf ihre Hände,und dicke Tränen perlten über ihre Wangen. Siewischte sie ungeduldig fort. »Tausend, hunderttau-send, ist gleich. Alle tot.«

»Das waren deine Vorfahren?«»Nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Mein Volk,

meine Stadt, Ulmoc. Ich reiten Holgotha, ich spazierenmit – Tiger.«

Ich schüttelte fast ungläubig den Kopf. »Wie?«»Hier, Mal.« Sie deutete auf ihr Schlafzimmer.

»Lange schlafen. Dort ist ...« Sie machte ein paarglättende Bewegungen. »... Dach. Atmen«, sie atmetetief. »Schlaf-Luft. Komm, zeigen ...«

Ich folgte ihr ins Schlafzimmer. Sie berührte eineStelle an der Wand, die für mich auch nicht andersaussah als der Rest, aber ein sarkophagähnlichesDing schob sich heraus. Ein grauer Stahldeckel waraufgeklappt, zu dem aus dem Innern eine Zahl vonRöhren führten.

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»Liegen hier, Mal. Dach kommen herunter. Schlaf-Luft innen, kalt, kalt. Schlafen lange.«

»Aber – warum?«Sie sah zerknirscht aus. »Schlimme Zeit kommen,

Mal. Himmel nicht mehr blau, schwarz jetzt. Sonnerot. Erde beben. Eis kommen von Himmel, viele Tage,tausend Tage. Mein ...« Sie schüttelte den Kopf. »Zuviele Wort, nein, Mal. Du warten, mir lernen mehr ...«

»Nur weiter, Mädchen. Du machst deine Sacherecht gut. Dein was?«

»Mann, Frau, alt – ich.« Sie deutete auf ihre Brust.Ich blickte sie verständnislos an. »Mach trotzdemweiter.«

»Mein – alter Mann. Bringen mich hier ...«Ich grinste trotz meiner Aufregung. »Dein Vater.«»Vater«, wiederholte sie. »Viele Leute gehen auf

Schiff, tausend Schiff. Aber mein Vater, nein. ErAngst – um mich. Ich müssen schlafen, warten. Ichmüssen, Mal. Wir Abschied nehmen. Ich liegen hier.Dunkelheit kommen.«

»Ich kann ihn verstehen. Mit diesen Booten wäreich auch nicht in See gestochen.«

»Haben mehr Schiff, Mal. Groß, groß. Aber vielschlecht Dinge, ander Land, Holgotha, Otucca, Tier-mann. Er Angst um mich, Mal.«

»So, du sagtest also deiner Familie Lebwohl und –bist gestorben.« Ich stellte mir vor, wie sie in derDunkelheit und Kälte ruhte, während neue Zivilisa-tionen auferstanden und wieder untergingen, unddas Eis sich immer mehr über ihr auftürmte.

»Nicht gestorben, Mal. Weiterleben und – aufwa-chen.«

»Und dann?«

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»Ich glauben, Vater bald kommen. Viel krank, Mal.Lange Zeit hier, so krank. Langer Schlaf nicht gut.Aber Haus gut, helfen mir. Sagen mir, was tun ...«

»Das Haus sagt dir, was du tun sollst?«»Ja, Haus. Viel weise, wissen alles. Sagen mir, tu

das, ich tun, bald gesund. Aber Vater ...«»Ich fürchte, ich verstehe nicht mehr ganz.«»Komm.« Sie führte mich zur Bibliothek zurück, zu

der kleinen Nische in einer Seite, mit dem Stuhl da-vor. Sie ließ sich darauf nieder und drückte ihreHandflächen auf die herausklappbare Tischplatte.

»Iklathu ottraha oppacu madhali att«, sagte sie, zu-mindest hörte es sich so an.

»Optu; imruhalo soronith tatrac ...«, erklang einehohle monotone Stimme. Sie fuhr fort, Worte herun-terzuleiern. Als sie schwieg, sagte Ricia, »accu«, undstand auf.

»Du sehen? Haus sagen, Eis fallen oben, morgenwärmer. Es werden Wasser.«

»Ist das eine Art automatisches Wettervorhersage-gerät?«

»Haus wissen alles, Mal. Nicht Haus hier – großesHaus – dort.« Sie deutete.

»Ah, es hängt an einer anderen Maschine. So etwaswie ein Abrufinformationsdienst?«

»Nicht so viele Wort, Mal. Du sehen, nicht spre-chen, jetzt.«

»Was hat dich aufgeweckt?« fragte ich.»Eis gehen, machen Wasser, oben.« Diesmal deu-

tete sie an die Decke.»Das Eis schmolz und die – Maschinerie – war so

eingestellt, daß sie dich aufwecken sollte, wenn dasEis auftaute?«

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»Vielleicht, Mal.« Sie wußte es nicht.»Achte nicht auf mich, Mädchen. Ich rede nur, um

mich selbst denken zu hören. Wie dem auch war, dubist aufgewacht, warst krank, hast dich aber wiedererholt. Was dann?«

»Ich müssen gehen, finden Vater. Nehmen Seeklei-dung, kleines Essen. Viel Eis oben – Haus machenWeg hindurch. Viel Wasser, weiches Eis, schwer mitSchlitten ...« Sie beschrieb etwas wie ein Gleitbrett mitAntrieb, mit dem sie über den Eismatsch zu der Stellefuhr, wo die Stadt gestanden hatte. Doch sie fandnichts als Eis dort. Dann hatte sie beschlossen, ihremVater und den anderen zu folgen. Nach ein paar Ta-gen, während derer sie an der Küste herumirrte, fandsie ein Boot, das aus dem Eis heraustaute. Sie machtees frei, setzte ein Segel und fuhr damit nordwärts.

Natürlich brauchte sie eine ganze Weile, ihre Ge-schichte zu erzählen, denn so manches Wort mußtesie mit Gesten beschreiben, aber ich erhielt doch einziemlich klares Bild. Sie war tagelang gesegelt undhatte von Nahrungskonzentraten und Fisch gelebt.Ihr Seeanzug – der grüne Bodysuit, den sie trug, alsich sie kennenlernte – hielt sie warm. Nach ihrer Be-schreibung leistete er bedeutend mehr und war vielweniger unförmig als mein Klimaanzug.

Sie steuerte genau nach Norden und verfehlte Süd-amerika um ein paar hundert Meilen. Sie hatte gün-stigen Wind und ruhiges Wetter, doch nirgends kamLand in Sicht. Sie hatte schon fast geglaubt, die ganzeWelt sei überflutet, als sie endlich Inseln entdeckte,die Azoren, vermutlich. Sie waren natürlich evaku-iert, sie stieß dort auf keine Menschenseele. Dannbrach sie wieder auf und folgte dem Wind. Er brachte

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sie etwa zehn Tage später an die Küste von Südflori-da. In Miami ging sie an Land, um Menschen zu fin-den. Das tat sie auch, aber keiner verstand ihre Spra-che. Alles war so fremd für sie: Die Leute, die Gebäu-de, die Tiere – Hunde und Katzen. Sie war hungrig,aber ohne Geld wollte ihr niemand zu essen geben.Dann begegnete sie eines Tages einem Mann, der siein ihrer Muttersprache anredete.

Sie war überglücklich und ging mit ihm. Er führtesie in eine dunkle Gasse, wo er sie zu töten versuchte.Es gelang ihr, ihm zu entkommen. Drei Tage später,wieder in einer dunklen Gasse, trafen wir uns.

»Eine wundervolle Welt haben wir da«, sagte ichzu ihr. »Du gingst schlafen, als die Erdkruste sichverschob, und bist aufgewacht, als sie begann, eineneue Schau abzuziehen. In der Zwischenzeit hattenwir ein paar tausend Jahre recht annehmbares Wetter,und das hast du verschlafen. Aber so ist es eben.Doch weiter. Was weißt du über die Männer, die dichumbringen wollten? Hast du keine Ahnung, wes-halb?«

»Nein, Mal. Zuerst denken, Freund, dann er michwürgen. Ich ...« Sie deutete einen Kinnhaken und ei-nen Hieb mit dem Knie in den Unterleib an. »... ren-nen weg.«

»Gut für dich, Mädchen. Aber überleg mal. Dumußt doch wenigstens einen Hauch einer Idee haben,wer sie sind, weshalb sie dich zu töten versuchten –und mich und den Seemann. Was ist mit Sethys? Sagtdir der Name etwas?«

»Nein, Mal, nichts. Seltsame Männer.«»Aber sie kannten deine Sprache.«»Ja. Komisch sprechen, aber ich verstehen.«

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»Also auf jeden Fall muß es eine Verbindung ge-ben. Der Seemann war in der Antarktis. Er schwor,die unauffälligen Männer hatten die Expedition sa-botiert und waren ihm gefolgt. Und du sagst, siekönnen sich in einer Sprache verständigen, die hiervor uralter Zeit benutzt wurde. Und weshalb ver-folgten sie mich? Weil ich in ihre Konferenz in Miamihineinplatzte und ihnen die Münze zeigte?«

»Münze?«»Ein Goldstück, Geld. Wie das.« Ich stöberte in ei-

ner Schublade, fand einen Stylus und Block undzeichnete die Münze nach meinem Gedächtnis.»Gold«, betonte ich. »Gelbes Metall.«

Ricia nickte plötzlich. Das war eine Geste, die siesich von mir angewöhnt hätte. »Das ist Grisp für ...«Sie wedelte mit den Händen herum, ohne sich jedochso recht verständlich machen zu können.

»Der Seemann hat sie vermutlich aus einem Bau-werk von hier, das im Eis eingefroren ist. Sethys er-kannte sie. Er hat sie ausgetauscht. Ich möchte wis-sen, weshalb.«

»Mal, ausgetauscht?«»Er hat meine behalten und mir eine ähnliche ge-

geben.«»Ja, ja!« Sie blickte mich aufgeregt an. »Münze wie

Ring, Mal. Nur bringen ihn zu dir!«»Was soll das nun schon wieder heißen?«»Mal, weise Männer, meine Leute, machen Ring,

machen kleine Dinge in Ring.« Sie suchte nach Wor-ten. »Du, ich, Ring – zusammen. Sethys haben glei-ches in Münze. Geben dir, rufen ihn zu dir.«

»Ah, solange ich die Münze bei mir hatte, wußte er,wo ich war.« Ich lachte bitter. »Und ich hielt uns in

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der Pension bei Bob für so sicher wie in AbrahamsSchoß.«

»Du haben Grisp jetzt?« Ricia starrte mich ängstlichan.

»Nein. Ich dürfte sie auf dem Schiff verloren haben.Aber jetzt verrat du mir, wie du freigekommen bist.Du warst krank ...«

»Ja, Mal, krank. Liegen, warten, zwei Tage, Nacht.Mir besser, warten bis dunkel, dann von Boot gehen.Will zurück, heim, fort von seltsamen Männern. Ichsuchen Mal, finden Mann – seltsamen Mann, kannmeine Sprache.«

»Du hast nach diesen Killern gesucht?«»Wie sonst ich erfahren, was ich müssen wissen?

Ich sie jetzt kennen, keine Angst. Sein allein mit ei-nem. Dummer Mann, lernen viele Dinge. Ich gehenzu Platz, wo Maschinen segeln in Luft ...«

»Flughafen?«»Ja. Finden anderen Mann, nehmen mich mit. Se-

geln lange Zeit.«Ricia machte eine Geste, die deutlich ein gebroche-

nes Genick ausdrückte. »Ich stark.«»Mein Gott, und ich machte mir Sorgen um dich.«»Kommen zu Ort«, fuhr sie fort. »Johannesburg.

Kaufen Boot.«»Womit?«»Toter Mann viel Grisp. Dann fahren Süden, kom-

men Gonwondo, kommen hier Haus.«»Zu Fuß?«»Schlitten noch gleicher Platz.«»Du mußt ja einen ganz schönen Orientierungssinn

haben, Mädchen.«»Nicht nötig, haben auch Ring.« Sie lächelte und

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hielt die Hand hoch. Sie trug einen Ring ähnlich mei-nem. »Leicht finden Schlitten, rufen Ring. Dann war-ten in Haus. Ich nicht wissen, vielleicht Mal – tot ...«Sie legte ihre Hand auf meine. »Aber wenn du leben,du kommen. Ich wissen, vielleicht müssen wartenlange Zeit. Ich denken, vielleicht zurück in Kaltbett,aber doch warten und bald du hier.«

»Lassen wir es im Augenblick dabei, aber einigegrößere Fragen sind noch unbeantwortet: Wer sindsie – Sethys und seine Bande? Was wollen sie? Wes-halb versuchten sie, dich zu töten, und entführtendich dann statt dessen? Der Palast unter dem Wasser...«

»Ja, Mal. Alter Ort. Vor langer Zeit Haus wie dashier, aber Wasser kommen, weise Männer richten,halten Wasser zurück, glauben ich.«

»Ja, es sah ganz wie überstürzte Arbeit aus. Aberdeine weisen Männer müssen erstklassige Ingenieuregewesen sein. Doch weshalb entführten sie dich vonMiami und brachten dich dorthin? Wenn sie dichhätten töten wollen, wäre es doch in der Pension ein-facher gewesen.«

»Nich wollten töten, Mal. Alter Mann, böse undhäßlich, wollen mich benutzen.«

»Benutzen? Wozu?«»Für Sohn.« Sie preßte kurz die Lippen aufeinan-

der. »Er sprechen viele Fragen. Ich sagen, nein. Danner sagen, ich machen Sohn für ihn, viele Sohn.«

»Der alte Lustmolch war ja zu fett, als daß er sichauch nur im Bett herumrollen hätte können.«

»Mal – sehr seltsam, alter Mann. Sohn sehr wichtig.Sagen viele seltsame Dinge ...« Sie schüttelte unge-duldig den Kopf. »Nein, zu viele Wort, Mal!«

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»Du machst deine Sache sehr gut, Mädchen. Vergißihn. Sein Freudenhaus ist längst schon in unzähligenTrümmern durch die Meere geschwemmt. Aber wirwissen immer noch nicht, was diese Burschen wol-len.«

»Mal, du sagen Seemann hier, Gonwondo, findenGrisp – in Haus!« Ihre Augen leuchteten vor Aufre-gung. »Welch Haus, wo?«

»In einer Stadt unter Eis.«Ihre Finger krallten sich in meinen Arm. »Mal,

Stadt – meine Stadt! Ulmoc! Noch da!«»Das ist unmöglich, diese Gletscher bewegen sich.

Sie können inzwischen keinen Stein mehr auf demanderen gelassen haben.«

»Aber, Mal, Seemann haben Grisp!«»Da hast du auch wieder recht.« Ich rieb mein

Kinn. »Vielleicht ist der gefallene Schnee schnell zuEis gefroren und die Berge hielten es fest, daß es nichtrutschen konnte.«

»Ja, Mal! Berge! Jede Seite! Ulmoc in ...« Sie hob ei-ne Schale vom Tisch auf. »So, Mal.«

»Vielleicht stimmt es doch, vielleicht hat er wirk-lich eine begrabene Stadt gefunden. Und möglicher-weise ist sie sogar mit dem Nest identisch, von demJunior redete.«

Ricia hing aufgeregt an meinen Lippen, als könntesie so besser verstehen. »Sie müssen schließlich einZiel gehabt haben, vielleicht, um sich dort zu sam-meln – es waren so viele auf dem Schiff. Wenn ja ...«,ich schlug die Faust in meine Hand. »Ricia, wie weitist diese Ulmoc von hier?«

»Warum, Mal?« Sie sah mich beunruhigt an.»Weil dort die Antworten zu finden sind.«

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»Mal, nein, bleiben hier, warm, sicher. Mal, dukrank, ausruhen!« Ihre Augen schienen so weit undtief, daß ich mich darin verlieren könnte.

»Du tust ja genauso, als wenn du dir etwas aus mirmachst.« Ich wollte möglichst gleichgültig klingen,aber meine Stimme verriet mich doch.

Ihre Hände krochen zu meinen Schultern empor.»Ja, Mal, viel aus dir machen.« Sie behielt die Augenweit offen, als ich sie küßte. Danach berührte sie mei-ne Lippen mit den Fingern. »Mal, du bleiben, verges-sen seltsame Männer.«

»Ich bin kein Invalide mehr, ich kann nicht untätighier herumsitzen und mich verkriechen wie ein ge-jagter Hase. Im Augenblick haben sie meine Spurverloren – aber eines Tages würden sie uns doch fin-den. Sie geben nicht auf. Meine Chance, möglicher-weise meine einzige, ist sie zu überraschen. Wenn dasder Ort ist, von dem der Seemann gesprochen hat ...«

»Du bleiben!« Sie warf ihre Arme um mich unddrückte mich so heftig, daß es schmerzte.

»Hör mir zu. Ich glaube, ich weiß, wie man in denTurm kommt – wenn der Schacht noch intakt ist, dendie Marine gebohrt hat. Ich nehme mir deinen Schlit-ten, steige während der Nacht ein, sehe mich schnellum und bin schon wieder draußen, ehe sie es über-haupt bemerkt haben.«

»Sie dich töten!«Ich nahm ihre Arme und schob sie so weit zurück,

daß ich in ihre Augen sehen konnte. Dicke Tränenglänzten in ihnen. »Denk doch einen Moment nach.Diese Männer mit den nichtssagenden Gesichternsind Killer, sie haben ein paar hundert Marineinfante-risten einfach ausgelöscht – Hayles ganze Einheit.

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Den einzigen Überlebenden jagten sie und hätten ihnauch getötet, wenn er nicht zuvor gestorben wäre.Dann sind sie hinter dir her. Ich nehme an, sie er-kannten, wer oder was du bist – und das bedeuteteihnen etwas. Schließlich brachten sie auch Carmodyund Rassias kaltblütig um – und bei mir versuchtensie es ebenfalls. Ich hatte bloß verdammtes Glück, daßich davonkam. Ich gehe gern Unannehmlichkeitenaus dem Weg, Ricia, aber davor kann ich nicht mehrdavonlaufen. Wenn diese Burschen sich ganz in derNähe verschanzt haben, muß ich einfach hin undnachsehen.«

»Mal, nehmen Boot, kehren zurück, deine Stadt. Sa-gen weisen Männern alles, bringen viel gute Männer.«

»Es gibt niemanden, dem ich es berichten könnte.Hayles Expedition war der letzte Atemzug einer or-ganisierten Regierung. Und selbst, wenn es noch einzuständiges Amt gäbe, würden sie mich nur ausla-chen und ins Irrenhaus stecken. Ich habe keine Be-weise – nicht einmal mehr die Münze. Nichts! Aberwenn es stimmt, daß die Burschen sich unter dem Eisverkrochen haben, könnte ich mir vielleicht Beweiseverschaffen. Und wer weiß, möglicherweise gelingt esmir sogar, von hier wegzukommen und irgendwoetwas zu organisieren. Vielleicht in Denver, ich habegehört, daß die Air-Force-Akademie noch besteht.«

Ricia beobachtete mich und schüttelte den Kopf.»Nein, Mal«, wisperte sie hoffnungslos. »Sicher hier.«

»Glaubst du, ich kann mit deinem Schlitten umge-hen?«

»Nein«, behauptete sie schmollend.»Dann muß ich mich eben zu Fuß auf den Weg ma-

chen.«

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Wir argumentierten noch eine gute Stunde, danngab sie mit starrem Gesicht nach und versprach, mirzu helfen.

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14.

Ganze acht Tage vergingen noch, ehe mich Riciadurch den schrägen Tunnel an die Oberfläche führte.Wir standen nebeneinander im purpurnen Zwielichtauf dem gefrorenen Matsch, etwa sechs Meter überdem vergrabenen Haus. Ich trug einen metallischenblauschwarzen Bodysuit, ähnlich ihrem grünen. Erwar leicht und bequem wie Baumwolle, aber ersperrte die Kälte aus wie ein Ziegelsteinbau. Riciahatte mich auch mit Stiefeln versorgt, die aus einemMaterial wie dicker Filz hergestellt waren. Meine Fü-ße darin waren immer noch empfindlich, aber wenig-stens mollig warm. Ich hatte Handschuhe und einenbreiten Schal, den ich wie eine Kapuze um meinenKopf gewunden hatte. Als Beispiel der Wissenschaftund Technik Gonwondos, war meine Ausstattungbeeindruckend. Ich nahm Ricias Hände zwischenmeine.

»Es wird mir schon nichts passieren, Mädchen. Ichschaue mich nur ganz schnell um und bringe irgendetwas mit zurück, damit ich ein Beweisstück habe,das überzeugender ist als meine Blessuren.«

»Es ist bald dunkel. Zeit aufzubrechen«, mahntesie.

»Gut. Du brauchst mir nur noch den Schlitten zuzeigen, dann bin ich schon weg.«

Sie nahm einen kleinen Eispickel und hieb damitauf den gefrorenen Matsch ein. Ich half ihr. In fünfMinuten war der Schlitten frei. Er war flach, ungefährvon der Größe einer Luftmatratze, mit einer über-dachten Armaturentafel an einem Ende. Nach viel

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sah er nicht aus. Ricia kniete sich darauf, fummelte ander Tafel herum, und das Ding hob sich etwa fünf-zehn Zentimeter vom Eis.

»Und wie geht man damit um?«»Setz dich herauf«, sagte sie mit tonloser Stimme.

Ich gehorchte. Sie beugte sich über die Armaturenta-fel.

»Ich kann von hier aus überhaupt nichts sehen. Laßmich lieber vor.«

»Ist nicht notwendig.« Sie drehte sich nicht einmalum. »Ich komme mit dir.« Ihr Englisch hatte in derkurzen Zeit erstaunliche Fortschritte gemacht. Viel-leicht war ich doch kein so schlechter Lehrer.

»Kommt nicht in Frage, Mädchen. Du gehst zurückin dein warmes Häuschen und wartest, bis ich wie-derkomme.«

Sie blickte über die Schulter zurück. »Ich habe kei-ne Angst, höchstens um dich. Ich komme mit, denndu wirst mich brauchen. Schau, was ich habe.« Siedeutete auf einen Knopf hinter ihrem rechten Ohr,der mich an ein Hörgerät erinnerte. »Damit bin ichmit der Hausbibliothek verbunden. Er registriert Ge-räusche, alles, was er sieht, auch Verstecktes, teilt esder Bibliothek mit, und die berät uns.« Sie legte denKopf schief und hörte nicht auf meine Proteste. »Ersagt mir schon etwas. Er sagt, Männer sind unter-wegs, zehn – Sarads von hier, dort ...« Sie deutete überdas dunkle Eis.

»Also schön, dann gib mir das Ding. Vielleichtführt es mich in eine gemütliche Bar.«

»Nein. Nur ich kann es benutzen.« Sie blickte michtriumphierend an. »Es spricht nur meine Sprache,nicht Englisch.«

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»Geh zurück, Ricia!« Ich versuchte, sie vom Schlit-ten zu heben. Sie wehrte sich, und sie war wirklichstark.

»Möchtest du, daß ich wieder allein warten muß,Malcolm?« fragte sie leise.

Ich hielt sie an beiden Schultern und stellte mir vor,wie sie dort unten warten würde, wenn ich nicht zu-rückkam, und wie aus den Tagen Wochen, Monate,Jahre wurden. Ich seufzte tief. »Also gut, Mädchen.Brechen wir auf. Ich hätte gern unser Abenteuer hin-ter uns, ehe die Sonne aufgeht.«

Ricia hielt den Schlitten zwei Meter über dem Eisund brauste dahin. Wir hatten gut sechzig Kilometerzurückzulegen und schafften es in nicht ganz einerStunde. Dann dauerte es noch fast eine halbe Stunde,bis wir mit Hilfe von Ricias Instrumenten einen Kra-ter wie den vom Seemann beschrieben fanden.

»Der Sonnenturm ist genau hier, Mal.« Sie sprangvom Schlitten und deutete auf das Eis unter ihren Fü-ßen. »Der Hauptkoordinator befindet sich in ihm.«

»Ist das das hohe Gebäude, das ich auf dem Bildsah?«

»Ja.« Sie hielt inne und lauschte. »Die Bibliotheksagt, sie sind hier«, flüsterte sie mit angespannterStimme. »Das also ist ihr Nest – mein Ulmoc!«

»Sehen wir zu, daß wir den Schacht freikriegen.«Ich hieb mit der Spitzhacke auf das Eis im Trichterein. Ricia kam mit einer Metallröhre an, die einer Ta-schenlampe ähnlich sah, und richtete sie auf das Eis.Wasser blubberte, sprudelte von dem Loch, das nunfreigelegt war. Nach einer Stunde war es so tief, daßwir die Ecken einer Metallkabine darunter sahen.

»Das ist es! Das ist der Lift, von dem der Seemann

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gesprochen hat!« Ricia schmolz den Rest des Eisesvom Dach der Kabine. Es gab einen Notausgangoben, der jedoch zugefroren war. Ich öffnete ihn mitdem Eispickel. Hintereinander ließen wir uns in denquadratischen Käfig mit einer Kantenlänge von etwazwei Metern hinunter. Er war halb voll Eis, das durchdie offene Tür hereingedrungen war. Ich benutzte Ri-cias Licht, stellte es auf einen nadeldünnen Strahl. Eszeigte mir einen geraden Fall in den blauschwarzenSchacht, der sich in der Dunkelheit weit in der Tiefeverlor. Die Kabel am Boden des Lifts hingen lose ab.

»Das ist die Endstation für dich, Mädchen«, sagteich. »Es gibt nur einen Weg hinunter – über die Kabel.Du wartest oben beim Schlitten.«

»Ich komme mit.«»Hör mir zu. Hinunterzurutschen ist vielleicht ein-

fach. Aber wieder hoch zu kommen, ist etwas ande-res. Ich kann mich nicht an einem Kabel hochziehenund dich dazu schleppen.«

»Ich kann sehr gut klettern. Wir gehen jetzt hinun-ter oder kehren beide um.«

»Du bist nicht so leicht zu entmutigen. Aber viel-leicht bin ich darüber sogar froh.« Ich zwängte michdurch die Tür, ließ mich hinab, bis ich nur noch mitden Händen an der Schwelle hing. Dann tastete ichmit den Beinen nach den Kabeln und hantelte michein paar Meter in die Tiefe. Die Kabel waren aussynthetischer Faser, nicht dicker als mein kleiner Fin-ger und glatt vom Eis. Sie zitterten, als Ricia sichebenfalls an ihnen herabließ.

»Bleib dicht über mir«, rief ich ihr zu. »Damit ichdich aufhalten kann, wenn du rutscht.«

»Ich werde nicht rutschen«, sagte sie kühl. Ich

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brummte nur, schlang mir eine Schleife als Bremseum mein Bein, und begann den Abstieg.

Nach den ersten fünfzig Metern gab ich auf, dieEntfernung zu schätzen. Jeden Augenblick erwarteteich den Rest des Schachts blockiert zu finden, oderauch plötzlich zum Ende des Kabels zu kommen.Meine Arme wurden müde, dann taub, dannschmerzten sie wieder. Ich rief nach Ricia. Sie ant-wortete und war ruhig und viel weniger außer Atemals ich. Meine Füße fanden plötzlich Halt auf losemEis, das eine leicht schräge Ebene bildete. Einen Au-genblick später stand Ricia neben mir in etwas, daswie eine kleine Höhle im Eis aussah. Sie leuchtete aufglasige schwarze Wände – und hielt den Strahl aufeine Oberfläche aus grauem Stein mit einer hohen,engen Nische vor einem winzigen Balkon mitschmiedeeisernem Geländer.

»Mal ...« Sie konnte kaum weitersprechen. »DerSonnenturm!«

Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und be-trachtete die uralte Mauer. »Wolkenkratzer unterdem Eis«, murmelte ich. »Ich habe es immer nochnicht wirklich geglaubt – bis jetzt.«

Sie ging zu der Nische, stieg über das Geländerund verschwand in der Dunkelheit. Ich folgte ihr. DasLicht zeigte uns ein kleines Zimmer mit einem ge-schnitzten Holzbett, einem niedrigen Tisch mit her-ausgezogener Schublade, verfaulten Fetzen einesTeppichs und einer türlosen Öffnung in der gegen-überliegenden Wand.

»Hier hat er die Münze gefunden«, erklärte ichaufgeregt. Ricia war bereits an der Öffnung undleuchtete hindurch. »Die Rampe ist in dieser Rich-

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tung.« Sie führte mich durch einen Korridor, an ge-schlossenen Türen vorbei.

Die Rampe war weit wie ein hochherrschaftlicherTreppenaufgang und schlängelte sich wie eine Wen-deltreppe in die Tiefe. Ein Geländer gab es nicht. Ichtastete mich vorsichtshalber an der Wand entlang.Fünf Stockwerke tiefer entdeckte ich die ersten Spu-ren einer noch nicht so lange zurückliegenden Besat-zung – ein leerer Karton Marinerationen. Dann sahich den Matrosen, der sie gegessen hatte.

Er lag auf dem Gesicht, zehn Meter weiter auf demKorridor. Ich drehte ihn vorsichtig um. Die Kältehatte ihn gut erhalten. Er trug einen schweren Parkaund dicke, bis zu den Knien geschnürte Stiefel. EineDose Fleischkonserven lag dicht neben ihm.

»An Hunger ist er nicht gestorben«, murmelte ich.Ricia deutete auf einen winzigen schwarzen Fleck

im Parka. »Brennwaffen«, sagte sie, offenbar nachenglischen Worten suchend. »Sie haben es getan.«

»Was ist eine Brennwaffe?«Sie streckte mir die Lampe entgegen. »Wie das, nur

stärker. Ihr Strahl tötet.«Ich nahm die .45er des Toten mitsamt Gürtel an

mich und schnallte ihn um. »Sie tötet auch.«Zwei Stockwerke tiefer stießen wir auf zwei weite-

re Tote. Einer war ein Marineoffizier mit sechsStrahlerwunden. Der andere war ein weichlich aus-sehender Kerl von etwa Fünfzig, mit leicht exoti-schem Einschlag. Er trug einen dicken abgestepptenAnzug und Filzstiefel. In seiner Brust war ein nicht zuübersehendes Loch von einer .45er. »Das war einervon ihnen«, sagte ich. Ich durchsuchte seine Taschen,sie waren leer. Dem Marineoffizier fehlte die Pistole.

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»Wie viele Stockwerke hat der Turm?« fragte ichRicia.

»Achtmal zehn und drei«, rechnete sie.»Wo, glaubst du, ist es am wahrscheinlichsten, daß

sie sich eingenistet haben?«»In den Räumen um die Küche, vermutlich.«»Außer sie ernähren sich von Konzentraten. Sie

kamen mir nicht so vor, als machten sie sich viel ausleiblichen Genüssen – von dem Fetten abgesehen, densie den Primär nannten.«

»Dann können sie überall sein. Es gibt vieleApartments hier. Nur in den untersten Stockwerkensind die Zimmer nicht zum Aufenthalt geeignet. Essind hauptsächlich Lager-, Heizungs-, und Maschi-nenräume.«

In der nächsten Etage berührte Ricia meinen Arm.»Von dort kommt Wärme«, flüsterte sie und deuteteeinen dunklen Korridor entlang.

»Ich fühle sie nicht.«»Die Bibliothek hat es mir mitgeteilt.«»Sehen wir nach!« Ich zog die Pistole aus dem

Gürtel. Ricia stellte die Lampe auf Minimum, daß sienur einen ganz schwachen Schein über den Bodenvor uns warf. Wir kamen an offenen Türen vorbei,durch die ich dunkle Schatten von Möbeln bemerkte.

»Ganz nah«, hauchte Ricia in mein Ohr.»Schalt lieber das Licht aus«, mahnte ich. Sie tat es.Etwas drückte gegen meine Hand. »Streif das über

deine Augen«, wisperte sie. Es war eine Art Schildaus glattem Plastik. Ich zog es mir über den Kopf.Nun sah ich einen breiten hellen Streifen auf dem Bo-den vor uns. Infrarot, dachte ich. »Ich komme mit diraus dem Staunen nicht heraus«, flüsterte ich Ricia zu.

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Wir schlichen noch ein paar Meter. Zwei Türenweiter griff Ricia nach meiner Hand. »Dort drinnen«,hauchte sie.

Ich drückte mich neben die Tür und lauschte. Aberaußer meinem eigenen Herzschlag hörte ich nichts.»Ich habe das Gefühl, deine Bibliothek übertreibt«,sagte ich. »Weshalb ...«

Ricia drückte eine Hand auf meinen Mund – zuspät. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit. Ichsprang zurück, schob Ricia hinter mich. EtwasSchweres schlug gegen die Wand, wo ich gerade nochgestanden hatte. Die Pistole war entsichert, aber ichwollte sie nur im Notfall benutzen. Ich trat in denRaum, schwang herum und stieß mit etwas Pelzigemzusammen. Es brummte und krallte nach mir. Ichschubste es zur Seite, da leuchtete Ricia darauf. Icherstarrte. Es war ein hagerer, bärtiger Mann inschmutziger grauer Arbeitsuniform und verfilztemPelz. Die Augen waren eingefallen, Blut sickerte seinKinn herab, und er hatte die Zähne gefletscht.

»Halt ...«, rief ich. Er hörte nicht auf mich. Er holteweit aus, aber seine Faust verfehlte mich. Beim zwei-ten Mal traf er mich. Es gelang mir, seine Hände zupacken und ihn gegen die Wand zu drücken. »Ver-dammt! Hören Sie auf!« knurrte ich. »Wir sind auf Ih-rer Seite!«

Ungläubig blinzelte er durch die Finsternis. Erkeuchte schwer. »Leuchte hierher, Ricia«, bat ich.Jetzt mußte er mein Gesicht sehen. Er entspannte sichund stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Gott sei Dank!« krächzte er. »Addison ist durch-gekommen ...«

In dem Zimmer, das er sich ein wenig wohnlich

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gemacht hatte, ließ er sich auf ein Lager aus halbver-faulten Wandbehängen fallen. Daneben standenübereinander Kisten mit eisernen Rationen der Mari-ne.

»Ich bin in letzter Zeit ein wenig unvorsichtig ge-worden«, er deutete auf seine Habseligkeiten. »Bisherhielt ich alles gut versteckt, aber sie kommen schonlange nicht mehr hier herauf. Sie halten mich für tot,glücklicherweise. Es war ein furchtbares Warten, bisSie gekommen sind.« Selbst Sprechen war eine unge-heure Anstrengung für ihn. Ich fragte mich, woher erdie Kraft genommen hatte, mich anzuspringen.

»Wie viele Mann haben Sie?« Er blickte Ricia einwenig verwirrt an, dann richtete er seinen Blick wie-der auf mich. »Ich hoffe, die Marine patrouilliert diegesamte Küste hier. Ich hatte nicht viel Zeit, Addisoneinen genauen Auftrag zu geben, aber ich glaube, erverstand ...« Er hielt inne, als ich den Kopf schüttelte.

»Tut mir leid, es sind keine Marinetruppen in derNähe.« Ich deutete auf Ricia. »Nur Ricia, die michhergeführt hat, und ich.«

Er setzte sich hoch, wollte aufstehen, aber Riciakniete sich schnell neben ihn. »Wir werden Ihnen hel-fen«, sagte sie sanft. »Wir nehmen sie mit uns an ei-nen Ort, wo Sie sicher sind.«

»Träume – träume ich nur?« Er berührte RiciasHand. »Nein, wohl doch nicht. Sie sind so echt wie –wie das Leben.« Er verbeugte sich, so gut es im Sitzenging. »Ich bin Rome Hayle.«

»Admiral Hayle!« Ich suchte eine Ähnlichkeit inden hageren Zügen mit dem forschen Offizier, denich einmal auf Guam kennengelernt hatte. »Sind Sieder einzige, der übriggeblieben ist?«

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Er nickte. »Aber wer sind Sie?« Er blickte von mirzu Ricia. »Wie haben Sie mich gefunden? Wie sieht esjetzt oben aus?«

»Halt, nicht so schnell, Admiral. Ich erzähle Ihnendie ganze Geschichte – soviel ich davon weiß.«

»... Ricia hatte recht gehabt«, schloß ich. »Als ich auf-wachte, lag ich in ihrem Haus, ziemlich mitgenom-men zwar, doch zumindest lebte ich noch. Das warvor etwa zwei Wochen.«

»Aber weshalb, in drei Teufels Namen, sind Siehierher gekommen? Sie wußten doch, daß sie hier ihr– wie nannten Sie es? – Nest errichtet hatten.«

»Wir brauchten Beweise, sonst würde uns niemandglauben.«

»Sie werden hier nicht mehr lebend herauskom-men. Jetzt sitzen wir zu dritt in der Falle.«

»Warum hat man Sie nicht getötet?«»Sie haben es mehrmals versucht. Aber ich habe da

oben ein Versteck gefunden.« Er deutete zur Decke.»Dort ist ein niedriger Zwischenboden, der zum Hei-zungsschacht führt. Über den Schrank kletterte ichhinauf.«

»Was ist mit Ihren Männern passiert?«»Die meisten haben die Bestien auf ihren Posten

niedergemetzelt, ehe wir überhaupt ahnten, daß wirangegriffen wurden. Sie kamen von unten hoch undüberfielen uns im siebzigsten Stock, von oben ge-rechnet. Ein Dutzend etwa überlebte die erste Attak-ke. Sie kamen in völliger Lautlosigkeit auf uns zu undschossen. Es gelang mir, einen niederzustrecken undDeckung zu finden. Ich sammelte, was von meinenJungs noch übriggeblieben war, um mich, und wir

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versuchten, uns zurückzuziehen, aber sie preßten vonbeiden Seiten auf uns ein. Nur zu viert erreichten wirdie höheren Stockwerke. In der Woche darauf er-wischten sie Hienemann, Drake und Ludcrow. Ichhatte Glück und konnte sie täuschen. Ich lehnteLudcrows Leiche gegen den Türrahmen. Als sieschossen, fiel er. Sie dachten, sie hätten mich er-wischt. Dann zogen sie sich zurück. Seitdem habe ichsie hier oben nicht mehr gesehen.«

»Hier oben?« meinte Ricia fragend.»Ich war mehrmals weiter unten. Im ersten Monat

war ich recht aktiv und spionierte herum. Aber dannwurde ich allmählich schwächer – keine Sonne, keinefrische Luft, und die verdammte Kälte. Aber zumin-dest hatte ich ausreichend zu essen ...« Er räuspertesich. »Sie sind nicht menschlich«, murmelte erschließlich kaum verständlich. »Sie nennen sich selbst– Schößlinge. Sie brauchen Menschen, um weiterzue-xistieren – ich weiß nicht wie, aber sie brauchen sie.Es ist ihnen egal, ob sie selbst leben oder sterben ...«Hayle wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.»... solange ihr Primär sicher ist. Sie verlangen nichtmehr, als Nahrung und einen Ort, an dem sie sichfortpflanzen können. Das letztere ist ungemein wich-tig für sie. Jene, die sich noch nicht fortgepflanzt ha-ben, sind in einer besonderen, geschützten Kategoriezusammengefaßt, soviel ich verstehen konnte. Auf ir-gendeine Weise testet man sie. Die, die den Test nichtbestehen, werden so gleichgültig umgebracht, wiewir eine Fliege totschlagen.«

»Wie konnten Sie das alles erfahren?«»Ich lauschte. Es gibt hier einen großen Saal, wo sie

zum Essen zusammenkommen ...« Er beschrieb ihn.

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Ricia nickte. »Die Festhalle. Gleich anschließend sinddie Lagerräume, die Verpflegung für die ganze Stadtfür ein Jahr oder mehr enthielten. Es wurde alles dortuntergebracht, als der lange Winter begann.«

Hayle nickte. »Sie bringen auch Gefangene hierher,glaube ich. Sie sprachen davon, daß sie Frauenbrauchten. Nicht wie ein Mann von Frauen redenwürde – mißverstehen Sie mich nicht. Eher wie einFleischer, der auf Schlachtvieh wartet.«

»Sie sind doch nicht etwa Kannibalen!«»Nein, das nicht. Ich denke nicht gern daran, aber

ich glaube, sie benutzen die Frauen auf irgendeineunnatürliche Weise, um mehr ihrer eigenen Art her-anzuzüchten.«

»Wenn Sie sagen, daß sie nicht menschlich sind,Admiral, meinten Sie da ...«

»Ich meinte genau, was ich sagte! Sie sind nichtmenschlicher als ein Skorpion. Sicher, sie sehen auswie Menschen – sie mögen sogar in Menschenkör-pern herumspazieren, aber der Geist, der sie bewegt,ist so fremdartig wie der einer Boa constrictor.«

»Er hat recht.« Ricia schüttelte sich. »Ich habe esauch gefühlt.«

»Ich gebe zu, daß sie recht seltsame Burschen sind,aber das beweist doch noch nicht, daß sie keine Men-schen sind.« Ich blickte Ricia fragend an. »Gibt es ir-gendeinen Geheimgang oder etwas Ähnliches zu die-ser Festhalle? Einen, von dem sie vielleicht keine Ah-nung haben?«

»Es gibt Speiseschächte, die zu den Küchen führen.Es ist möglich, daß sie Sie noch nicht bemerkt haben.«

»Du brauchst eine Waffe. Ich nehme an, der Admi-ral wird dir seine borgen.«

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»Einen Augenblick«, protestierte Hayle. »Sie habendoch nicht die Absicht, sie anzugreifen? Es gibt Hun-derte von ihnen!«

»Nichts so Dramatisches. Ich brauche nur einenBeweis, daß diese ›Schößlinge‹ existieren – daß sie ei-ne Gefahr sind.«

»Spielen Sie nicht den Helden! Sehen Sie zu, daßSie verschwinden, bevor man Sie entdeckt. Ich gebeIhnen ein Schreiben für die Admiralität mit. Sie wer-den eine Streitmacht hierherschicken, die groß genugist, hier alles zu besetzen und keinen entkommen zulassen.«

»Tut mir leid, aber ich verschwinde nicht ohne ei-nen konkreten Beweis von hier. Ich soll der Admira-lität erklären, daß sie eine Bedrohung darstellen?Welcher Art? Vielleicht sind sie eine harmlose Ge-heimverbindung.«

»Harmlos? Sie haben meine ganzen Leute umge-bracht!«

»Ihre Leute drangen ungebeten hier ein, Admiral.Auch ich mischte mich in ihre Angelegenheiten. Esscheint mir nicht, als ob sie ihr Nest verlassen, umUnruhe zu stiften, oder sonst etwas.«

»Verdammt! Schlagen Sie sich vielleicht auf dieSeite dieser Teufel?« Hayle funkelte mich wütend an.

»Ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, wieschwer es sein wird, höhere Stellen zum Eingreifenzu bewegen, nur aufgrund einer persönlichen Mei-nung. Sie wissen, daß hier eine große Gefahr lauert.Ich weiß es. Ich kann sie in der Luft spüren, wie denSmog über Neapel. Aber wir brauchen Beweise!«

»Und mein Schreiben ...«»Das werden sie mit den Meldungen über UFOs

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ablegen. So, ich begebe mich jetzt hinunter. Ricia, dubleibst beim Admiral. Wenn ich in vierundzwanzigStunden nicht zurück bin ...«

»Rede keine Dummheiten, Mal. Ich komme mit!«»Ihr zwei wollt diese Schlangen in ihrem Nest auf-

suchen? Wenn ihr jede Chance hättet, von hier obenaus noch unbemerkt wegzukommen?«

»Sie werden es hier noch einen Tag aushalten kön-nen, Admiral«, meinte ich. »Dann verziehen wir unsgemeinsam.«

Hayle starrte mich an. Dann stand er müde auf.»Drei Monate war ich ohne Licht, ohne menschlicheStimmen«, sagte er schleppend. »Und wenn ich aufallen vieren kriechen muß, ich will nicht noch einmaldarauf verzichten müssen.«

»Also gut, Admiral«, erklärte ich mich nach eini-gem Zögern einverstanden. »Vergessen Sie Ihre Pi-stole nicht.«

Der Weg, den Ricia uns zeigte, war eine schmaleRampe, die in engen Spiralen nach unten führte. Wirkamen in jedem Stockwerk an bogenförmigenÖffnungen vorbei und erreichten schließlich ein Ge-wölbe so groß wie das Hauptschiff einer Kathedrale.Schwere Geräte standen in dunklen Reihen in derMitte des Raumes, der mir wie eine verlassene Fabrikvorkam.

»Das ist die obere Küche«, flüsterte Ricia.»Sie sind nicht hier.« Hayle schnupperte. »Ich

könnte sie riechen, wenn sie es wären. Wir sind nochnicht weit genug unten.«

»Unter dieser ist eine zweite Küche.« Ricia schienzu lauschen. »Aber sie waren hier – und sind auchjetzt sehr nah. Die Bibliothek fühlt ihre Wärme.«

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»Was ist diese Bibliothek?« fragte Hayle scharf. Icherklärte ihm, was ich selbst darüber wußte. »Unge-mein praktisch«, brummte der Admiral. »Wenn wir jedazu kommen, werde ich noch viel über Sie wissenwollen, Miß Ricia, und über die Menschen, die diesengroßartigen Turm gebaut haben.«

Wir kehrten auf die Rampe zurück und bewegtenuns nun noch vorsichtiger. Alle paar Meter bliebenwir stehen, um zu lauschen. Ein Hauch von Verwe-sung lag in der Luft. Die Wände waren hier wärmer.Ich spürte es sogar durch meine Handschuhe. Riciatupfte auf meinen Arm.

»Direkt geradeaus«, wisperte sie.»Gib mir das Licht.« Ich deutete ihr an zurückzu-

bleiben. Hayle machte Anstalten, mitzukommen.»Bleiben Sie hier!« flüsterte ich scharf. Er starrte michwütend an, gehorchte jedoch.

Zwei Meter, etwa eine halbe Rampenbiegung wei-ter, war rechts eine Bogenöffnung. Die Wärme undder Verwesungsgeruch waren hier stärker. Ich stecktemeinen Kopf durch die Öffnung und blickte hinausauf einen großen Raum, ähnlich der oberen Küche.Wenn sich jemand hier befand, hielt er sich ver-dammt still.

»Ich gehe hinaus«, flüsterte ich. »Wenn sich nichtsrührt, folgt ihr mir.« Ich schritt durch den schmalenGang zwischen den riesigen Kesseln hindurch. Bis zuder Tür an der gegenüberliegenden Seite waren esetwa hundert Meter. Ich schlich auf Zehenspitzen, die.45er in meiner Rechten. Es war so still wie in einerGruft.

An der Tür lehnte ich mich dicht an die Wand undlauschte. Es war mir, als hörte ich schwache Geräu-

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sche. Vorsichtig drückte ich auf einen der beiden Flü-gel. Er öffnete sich einen Spalt, und ein Schwall fauli-ger Luft, wie aus einem Sarg, schlug mir entgegen,aber auch ein Streifen Licht.

Zwanzig oder dreißig Männer saßen an denTischreihen in der hohen gewölbeähnlichen Halle.Einer blickte in meine Richtung.

Ich erstarrte und hielt die Tür fest, denn eine Be-wegung wäre sicher noch mehr aufgefallen als der of-fene Spalt. Er blickte noch einen Moment herüber,dann drehte er sich um. Ich glaube, er sprach zu je-mandem auf der anderen Tischseite, aber ich mochtemich auch täuschen. Er war etwa fünfzig Meter vonmir entfernt, und das Kerzenlicht war trügerisch.

Ein Mann betrat den Raum, bediente sich an einemBüfett, ehe er sich an einem Tisch niederließ. Ein an-derer erhob sich und ging durch die Tür, durch dieder andere hereingekommen war. Minuten vergin-gen, ohne daß sich etwas tat. Ich schloß lautlos dieTür und kehrte zur Rampe zurück, wo Ricia undHayle noch warteten. In diesem Augenblick zischteein blendender Stahl aus einer Energiewaffe auf. Ichwarf mich zu Boden und rollte hinter etwas, das einOfen sein mochte. Geräusche von Fäusten auf Fleischund das Scheppern einer Waffe, die auf den Bodengefallen war, waren deutlich zu vernehmen. Hayleknurrte etwas. Es wurde durch einen dumpfen Schlagunterbrochen. Dann herrschte Stille.

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15.

Ich wartete fünfzehn Minuten, dann kroch ich durchdie Dunkelheit. Füße scharrten, und Stimmen mur-melten in Türnähe. Lichtstrahlen huschten durch dieGänge in der Küche. Ich zog gerade noch rechtzeitigmeine Füße ein. Schwere Stiefel kamen an mir vorbei.Dann verloren sich Schritte und Stimmen am entge-gengesetzten Ende des Raumes.

Die Bogenöffnung, hinter der ich Ricia und Haylezurückgelassen hatte, war etwa zehn Meter entfernt.Wollte ich sie erreichen, mußte ich sozusagen durchoffenes Gelände. Ich hatte noch drei Meter bis zu ihr,als ich bemerkte, daß ein Mann direkt innerhalb derÖffnung, mit dem Rücken zu mir stand. Ich drücktemich gegen die Wand und wagte mich weder vornoch zurück. Dann verschwand er im Innern. Ichschaffte es zur Öffnung. Ricia und Hayle lagen aufdem Boden. Im ersten Augenblick befürchtete ichschon, sie seien tot. Da sah ich, daß sie sich glückli-cherweise schwach bewegten. Sie waren mit Drähtenumwickelt wie der Anker eines Generators. Ich glittum die Türkante, da bemerkte mich Ricia – derWächter glücklicherweise nicht. Er schien auf irgendetwas von oben zu lauschen. Ich hätte ihn leicht über-raschen können, aber in diesem Moment stieg er dieRampe hinauf und war auch schon außer Sicht.

Ich kniete mich neben Ricia. »Er hatte ein Signalge-rät«, warnte sie mich. »Laß dich nicht von ihm sehen.Schnell, verschwinde!«

Ich begutachtete ihre Fesselung. Die Drähteschnitten tief in ihre Arme und Beine. »Vergeude kei-

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ne Zeit mit mir, Mal! Hör zu. Sie unterhielten sich,und ich verstand, daß sie auf Instruktionen ihres Pri-mären warten. Sie ahnen nichts von dir. Sie glauben,der Admiral und ich seien allein.«

»Ich muß die Drähte aufkriegen.«»Nein! Such schnell den, den sie den Primär nen-

nen – er ist ihr schwacher Punkt! Sie sprachen vomDrachensaal. Ich weiß, wo er ist.«

»Die Drähte ...«»Keine Zeit dafür! Über der mittleren Ofenreihe ist

ein Lüftungsschacht, er dürfte groß genug für einenMenschen sein. Wenn du die obere Küche erreichthast, dann geh den Korridor auf der rechten Seite biszum Ende. Dort ist eine handgeschnitzte Tür. Dahin-ter findest du den Primär.«

Schritte näherten sich. Ich strich über Ricias Haar.»Ich komme zurück«, versicherte ich ihr und ver-schwand durch die Bogenöffnung.

Ich schaffte es, zu dem Lüftungsschacht über denÖfen. Ruß regnete auf mich herab. Es kostete michfast übermenschliche Anstrengung, nicht zu niesen.Ich war froh, daß Metallklammern an den Wändendie Kletterei erleichterten. Auch in der oberen Kücheschlich ich mich durch den Mittelgang und zu einemdüsteren, belebten Korridor. Glücklicherweise konnteich mich immer rechtzeitig in den Türnischen ver-stecken und spurtete eigentlich immer nur von Türzu Tür. Die, von der Ricia gesprochen hatte, warleicht genug zu erkennen. Ein geschnitzter Drachemit zwei Köpfen starrte mir von ihr entgegen.

Im Augenblick war alles ruhig. Ich überlegte nichtlange. Ich riß die Tür auf und stürmte ins darunter-liegende Zimmer. Einen Mann, der mir entgegenkam,

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schaltete ich mit einem hastigen Kinnhaken aus. Erschlug mit dem Hinterkopf auf, und ich stellte fest,daß er nie mehr atmen würde.

In der linken Wand war eine Türöffnung mit einemschweren Vorhang. Ich schob ihn zur Seite und trat inden grauenvoll stinkenden Raum, in dem ein riesigesBett stand, das das Zimmer fast ausfüllte. Ein nahezubis zur Unkenntlichkeit aufgeschwemmter Mann lagdarauf. Er blickte mir mit hervorquellenden Augenentgegen.

Ich richtete die .45er auf ihn und drückte mich ne-ben der Öffnung an die Wand. Es war fast die gleicheSzene wie im Palast unter dem Wasser.

»Bist du derselbe?« fragte ich heiser. Er schwieg. Ichpreßte die Pistole gegen den aufgeschwollenen Fuß.»Mach den Mund auf«, mahnte ich. »Ich weiß, daß dureden kannst.« Jetzt richtete ich die Waffe auf seinenWasserschädel. »Wer bist du? Was willst du von uns?«

»Ich will nur – meine Ruhe – und Stille.« SeineStimme war dünn, fast wie ein Pfeifen. »Warum tustdu mir weh?«

»Das weißt du genau. Dein Leben hängt an demseidenen Faden meiner Neugier. Also, 'raus mit derSprache.«

»Ich bin der Primär«, quietschte er. »Nichts darfmich verletzen.«

Ich zog ihm den Pistolenlauf über das Elefanten-bein. Ein roter Streifen blieb zurück. Er stieß einenpiepsigen Schrei aus, stöhnte.

»Warum habt ihr mich entführt? Was wollt ihr mitdem Mädchen?«

»Wir brauchen Frauen. Mehr Frauen. Bring mirFrauen, und ich bezahle dich gut!«

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Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Ein Ge-fühl der Unwirklichkeit ließ mir den Fettwanst wieeinen bösen Traum erscheinen. Diesmal stieß ich ihmden Lauf in die Seite. »Verdammt, red endlich. Werseid ihr? Weshalb tötet ihr ohne Warnung? Wie seidihr hierhergekommen? Was seid ihr?«

Ich hörte ein leises Geräusch hinter mir. Ich wir-belte herum, warf mich zu Boden, als ein dünnerFeuerstrahl über meinem Kopf vorbeizischte. Fastohne mein Zutun spuckte die Pistole in meiner Hand.Ein Mann am Türvorhang brach wie im Zeitlupen-tempo zusammen. Sein Strahler ging noch einmal los,ehe er seiner Hand entfiel. Hinter mir schrie Fett-wanst mit seinem dünnen Stimmchen, als würde erabgestochen.

Rauch stieg aus dem Bettzeug auf. Ein fauler Ge-stank raubte mir fast den Atem. Ich taumelte auf dieFüße und bemerkte die blutende Wunde mit der ver-sengten Haut, die sich quer über den Riesenwanstzog.

Während ich entgeistert zusah, schob sich etwasFeuchtglitzerndes aus der Wunde. Ein schwärzlichroter Wurmkopf drang heraus. Von Grauen erfüllt,leerte ich das ganze Magazin in den überquellendenBauch, aus dem sich Meter um Meter des gräßlichenDinges wand. Ich lud nach, ohne mir dessen über-haupt bewußt zu sein, und feuerte auf das schleimigeWurm-Schnecken-Ding, das unbeirrt weiter heraus-drängte und sich auf mich zuschlängelte. Ich wichzurück, bis die Wand mich aufhielt. Mit zitterndenHänden zerrte ich an einer schweren Kommode undkippte sie auf das gräßliche Ding.

Es war jetzt durch das schwere Möbelstück festge-

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nagelt, aber immer noch peitschte es links und rechtsdavon gegen den Boden. Der Mann auf dem Bett sahnun aus wie eine geplatzter Ballon – nicht längerschwabbelte und wölbte sich sein Bauch.

Die Zeit schien stillzustehen. Mir war übel. Ichlehnte mich gegen die Wand im äußeren Zimmer.Das Peitschen der Wurmschnecke hörte nicht auf. EinMann stand neben der Tür. Ich hob den Revolver.Der Abzug klickte leer. Der Bursche bewegte sichüberhaupt nicht. Sein Kinn hing schlaff herab, seineAugen stierten durch mich hindurch. Ich rannte anihm vorbei, stieß ihn zur Seite. Im Korridor standenweitere Männer. Einer kippte auf einmal um. Die an-deren kümmerten sich nicht um ihn; um mich glück-licherweise auch nicht. Ich bahnte mir einen Wegdurch sie hindurch und fand mich plötzlichDörrpflaume gegenüber. Er war also nicht ertrunken.

»Wer bist du?« zischte ich. Ich packte ihn am Kra-gen und schüttelte ihn. Seine Augen starrten in end-lose Fernen.

»Er ist tot«, sagte er tonlos.»Wer war er? Was bedeutet das alles? Was war das

– das Ding?«»Nun stirbt der alte Traum«, murmelte er. Seine Au-

gen wurden leer wie die der anderen. Sein Kinn klappteherunter. Ich schob ihn zur Seite, rannte weiter.

Ricia und der Admiral lagen noch, wo ich sie zu-rückgelassen hatte. Ihr Wächter war verschwunden.Die Drähte, die ich jetzt endlich lösen konnte, hinter-ließen tiefe Spuren in Ricias Haut, aber sie war in derLage, ohne Hilfe zu gehen. Hayle brauchte die erstenpaar hundert Meter meine starke Schulter, doch dannschaffte auch er es ohne Stütze.

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Wir kamen an vielen »Schößlingen« vorbei. Einigestanden nur herum, andere wanderten ziellos durchdie Gänge, doch die meisten lagen, wie die Opfer ei-nes Hinrichtungskommandos, reglos auf dem Boden.Sie waren tot, ohne jegliche Spur von Gewaltanwen-dung.

»Als ob sie einfach zu atmen vergessen hätten«,murmelte Hayle.

»Schon möglich«, meinte ich nachdenklich. »Ichglaube, daß sie irgendwie ihre Kraft aus dem – demDing auf dem Bett bezogen hatten.«

Wir durchforschten den ganzen Turm, und Riciaerzählte uns dabei von alten Zeiten. Nach einer hal-ben Stunde trafen wir schon keinen der Schößlingemehr lebend an. Schließlich kehrten wir an die Ober-fläche und zu Ricias Schlitten zurück.

»Wir fahren zuerst zum Haus, um uns mit demNötigsten zu versorgen, dann zur Küste, wo RiciasBoot noch vor Anker liegt. In zehn Tagen können wirzu Hause sein. Und danach?«

»Omaha«, sagte der Admiral. »Ich nehme Giftdrauf, daß unser Hauptquartier sich dort befindetund auch noch über einige Macht verfügt. WievielTruppen allerdings zur Verfügung stehen, weiß ichnicht. Aber sie werden bestimmt ausreichen.«

»Wenn man uns überhaupt glaubt!« unkte ich.»Sie werden mir glauben!« sagte Hayle überzeugt.

Wir schafften es in fünfzehn Tagen. Von den rauch-schwarzen Wolken und dem häufigen Vulkanasche-regen abgesehen, war das Wetter gut. Wir ruhten unsaus, aßen und unterhielten uns, und Ricia studierteeifrig die einbändige Enzyklopädie, die sie auf demBoot entdeckt hatte.

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»Ich verstehe jetzt, weshalb sie meine Leute töte-ten«, murmelte Hayle. Wir saßen auf dem winzigenAchterdeck und beobachteten den düsteren Sonnen-untergang. »Wir sind auf ihr Versteck gestoßen. Aberweshalb verfolgten sie Ricia? Sie bedeutete keine Ge-fahr für sie.«

»Ich nehme an, sie erkannten irgendwie, daß sie ei-ner uralten Rasse angehörte, und wollten sie ausquet-schen.«

»Aber dann müßten sie ja gewußt haben ...«»Natürlich. Der Primär bediente sich ihrer Mutter-

sprache.«»Ich glaube«, sagte Ricia zögernd, »daß er – einer

von meinem Volk war. Unter dem aufgeschwemmtenKörper erkannte ich doch die Ähnlichkeit.«

»Sie – sie meint, er – er als Mensch – war Gott weißwie viele Tausende von Jahren alt?« Hayle schnaubteabfällig. »Das ist doch lächerlich.«

»Er war nicht älter als Ricia.« Ich grinste.»Das ist doch etwas anderes. Sie überlebte im Käl-

teschlaf. Wir von der Marine experimentieren mitähnlichem schon seit Jahren.«

»Sie sind nicht menschlich, sagten Sie das nichtselbst, Admiral? Sie benutzten Menschen. Der Schnek-kenwurm – ich glaube, das war der Primär, nicht dasaufgeschwollene Ding, das ihm als Brutstätte diente.«

»Weshalb gaben die anderen ihren Geist auf, als erstarb?«

»Auf irgendeine Weise waren sie alle mit ihm ver-bunden. Sie lebten, um ihm zu dienen.«

»Und wofür lebte er?«»Für ihn galt der gleiche Überlebensinstinkt wie für

die Menschheit. In unserem Fall besteht die Rasse aus

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Milliarden Individuen. In seinem – nun, ich glaube, erwar die Rasse: Ein unsterbliches Einzelwesen, demdie Schößlinge dienten, wie die Arbeiterinnen derBienenkönigin.«

»Aber wozu? Sie lebten völlig abgeschlossen. Siemußten schon seit undenklichen Zeiten in diesem Turmhausen. Sie hatten keinerlei Bequemlichkeiten. Sie exi-stierten nur als Parasiten der menschlichen Rasse. Viel-leicht hätten wir sie nie entdeckt, wenn die Erdkrusten-verschiebungen nicht gewesen wären. Und wenn Riciaweitergeschlafen hätte, vielleicht nicht einmal dann.«

»Ja, sie müssen schon unendlich lange unter unssein«, murmelte ich. »Ich frage mich, woher sie kom-men. Wie ihr Parasitentum begann.«

»Vielleicht sind sie Invasoren von einer anderenWelt.« Hayle lächelte schwach. »Vielleicht landetenbereits vor einer halben Million Jahre Fliegende Un-tertassen auf der Erde. Aber vielleicht stammen sieauch von hier und sind ein Produkt des gleichen Ur-schlamms, aus dem wir gestiegen sind. Vielleicht be-nutzten sie uns bereits als Gastkörper, lange ehe wirwirklich zu Menschen wurden.«

»Seltsam, eine ganze Geschichte fand ihr Ende, nurweil ein einziges Wesen starb.«

Hayle verengte die Augen. Mit seinem gestutztenBart und der frischen Gesichtsfarbe sah er schon fastaus wie damals auf Guam. »Sie taten ja alles, um ihnam Leben zu erhalten. Sie starben wie die Fliegen,nur um ihn zu schützen. Merkwürdige Kreaturen –gleichzeitig so tödlich und doch so unfähig. Mit derso hochentwickelten Technik der Stadt im Eis sollteman meinen, sie hätten eine bessere Überleben-schance finden können.«

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»Ich glaube, sie hatten keine eigene Intelligenz«,vermutete ich. »Sie benutzten die Gehirne der Körper,in denen sie sich eingenistet hatten, genau wie ihreGliedmaßen. Und vergessen Sie nicht, Admiral, siewaren nicht menschlich, sie hatten andere Bedürfnis-se als wir und auch ihre Ambitionen unterschiedensich von unseren. Sie wollten nichts weiter, als ein ge-schütztes dunkles Nest für ihren Primär.«

»Und doch verließen sie es. Sie sahen sie dochselbst in Georgia, in Miami, im Mittelmeerraum.Dann der Palast unter Wasser – ich nehme an, siehausten schon seit langer Zeit dort.«

»Ricias Volk kannte sie«, erklärte ich ihm. »DasHaus wurde zweifellos auf dem Land gebaut und ir-gendwie versiegelt, ehe es versank.«

»Diese Gonwonder hatten eine erstaunliche Tech-nik.« Hayle schüttelte den Kopf. »Nicht wie unsere,aber in mancher Beziehung übertraf sie unsere sogar– die großartigen Miniaturkommunikationsinstru-mente, beispielsweise, die Ricia mir zeigte. Wiekonnte ein solches Wissen nur völlig verlorengehen?«

»Eine sehr lange Zeit verging, Admiral. Das Eissank herab und zermalmte alles. Das Wetter undKriege und Plünderungen sind vermutlich für denRest verantwortlich.«

»Und als die menschlichen Städte fielen«, warf Ri-cia ein, »erinnerten sich allein die Untermänner, dieso lange in ihren Schlupfwinkeln gelebt hatten, an dieuralte Weisheit – an das, was ihr Technik und Wis-senschaft nennt. Es machte sie zu Königen unter denprimitiven Völkern. Und zweifellos zerstörten sie al-les, was an die frühere Größe der Menschheit erin-nern konnte.«

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»Hmm ...« murmelte Hayle und sog an seiner Pfei-fe. »Was wir von den alten Herrschern wissen, paßtgenau in das Bild – sie kannten gewöhnlich keine Ge-fühle, außer der Grausamkeit, lebten lange, und wur-den als Götter verehrt – und alle hatten einen gewal-tigen Harem und betrachteten die Frauen als min-derwertig und nur zur Fortpflanzung brauchbar.«

»Eine Zivilisation, die Städte wie Ricias baute,müßte doch irgendeine Spur hinterlassen«, prote-stierte ich. »Zumindest irgendwelche Legenden müs-sen von ihr geblieben sein, irgendein Wissen, dasnicht in die Zeit der primitiven Völker paßte.«

Hayle runzelte überlegend die Stirn. »Es gibt An-omalien«, sagte er schließlich. »Die alten Araber be-nutzten Akkus, um ihren Schmuck zu vergolden; dieGriechen hatten Astronomiecomputer; und denkenSie an die Buschmänner und ihre Bumerangs.«

»Da ist noch etwas«, meinte Ricia. »Die Minerale,die ihr als kostbar erachtet – die Metalle und Steine.Ich glaube, das hängt mit der Rassenerinnerung aneine verlorene Technologie zusammen. Silber hatgute elektrische Leitfähigkeit, eine bessere als Kupfer.Der Diamant ist ein Schneidewerkzeug, und der Ru-bin ist für die Lasertechnik erforderlich. Ihr Wertkann nicht allein durch ihre Seltenheit erklärt wer-den.«

»Das ist alles Theorie«, brummte Hayle. »Wenn wirerst wieder einigermaßen Ordnung auf diesem vonKatastrophen heimgesuchten Planeten hergestellt ha-ben, werden wir die Stadt unter dem Eis sorgfältigunter die Lupe nehmen. Vielleicht erfahren wir danndie Antworten.«

»Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. In mancher

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Hinsicht ist es bedauerlich, daß der Primär tot ist undseine Schößlinge mit ihm. Wir hätten vielleicht docheinen Weg gefunden, ihn zum Sprechen zu bringen.«

»Es ist besser, wir sind das Ungeheuer mitsamt sei-ner Brut los«, sagte Hayle brüsk. »Wir haben genü-gend andere Probleme.« Er blickte zum zerrissenenHimmel hoch.

Zwei Tage später war die Küste Louisianas in Sicht.Wir landeten westlich einer kleinen Stadt namens Io-wa und eigneten uns einen herrenlosen Wagen an,nachdem wir ihn aus einem Sumpf gezogen hatten.Ein paar Stunden später erreichten wir die RuinenOmahas, von wo ab Hayle die Führung übernahm.Wir fuhren um die Innenstadt herum, hinaus auf eineEbene, wo ein Stacheldraht und Wachtürme ein Mi-litärlager umgaben. Ein Trupp Marineinfanteristenbeobachtete uns, als wir aus dem Wagen klettertenund zum Tor stapften. Hayle gab die Losung. Der Po-sten ließ einen Offizier herbeiholen, der uns unterBewachung zu der größten der Baracken brachte.

Hayle schien ungeduldig, behielt jedoch die Ruhe.Man hatte mir meine .45er gelassen, also war wohlalles Routine. In dem Gebäude kam ein fetter Kom-modore Hayle mit ausgestreckten Armen entgegen.Er schäumte vor Fragen geradezu über, aber Haylemeinte, er würde mit seinem Bericht warten, bis derStab vollständig sei, sonst müßte er noch einmal alleserzählen.

Der Kommodore nahm uns mit in ein komfortabelausgestattetes Büro, dann bot er uns Drinks an unddrückte auf einen Knopf. Kurz darauf betraten drei ho-he Offiziere den Raum. Sie waren alle schon älteren Jahr-gangs, grauhaarig und nicht ausgesprochen schlank.

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»Gentlemen«, begann der Kommodore und machteuns miteinander bekannt.

Ricia zwickte mich in den Arm. »Malcolm!« wis-perte sie mir ins Ohr. »Die Bibliothek sagt, der in derMitte ist einer – von ihnen!«

Ich zuckte zusammen wie von einer Wespe gesto-chen und dachte an den toten Primär. Offenbar gab esauch unter den Schößlingen verschiedene Arten.Vielleicht waren ihnen besondere Züchtungen gelun-gen, die einzelnen ermöglichten, unabhängig von ih-rem Primär zu existieren. Wie durch Watte hindurchhörte ich den Kommodore:

»... nach so vielen Monaten. Admiral Hayles Be-richt dürfte äußerst interessant sein ...«

Ich beobachtete den mittleren der drei Offiziere mitdem leicht orientalischen Einschlag. Er machte einenhalben Schritt zurück und tastete nach einer Seitenta-sche. Unauffällig hob er den Gegenstand in seiner Hand.

Ich riß die .45er aus dem Gürtel und schoß ihm indie Brust. Ich hörte den Knall seiner Pistole und feu-erte noch einmal und noch einmal, ehe sie sich aufmich stürzten. Ich versuchte zu brüllen. Hayle starrtemich an und sagte irgend etwas. Dann wurde die Türaufgerissen, und ein Trupp Marineinfanteristen warfsich auf mich. Da gingen die Lichter für mich aus.

Ein größeres Büro diente als Gerichtssaal. BewaffneteMarineinfanteristen standen an den Wänden, und Of-fiziere mit grimmigen Mienen hatten hinter einemlangen Tisch Platz genommen. Admiral Hayle saß aneiner Seite. Zwei Marineinfanteristen bezogen soebenPosten hinter ihm. Ihre Waffen ruhten schußbereit inihren Händen. Mir war noch entsetzlich übel und

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schwindlig. In meinem Schädel summte ein ganzerBienenschwarm.

Der Kommodore saß in der Mitte des langen Ti-sches und las die Anklage vor. Wenn ich recht ver-stand, hatte ich General Yin, den militärischen Beob-achter einer befreundeten Nation, vorsätzlich ermor-det. Außerdem hörte ich Worte wie Sabotage, Verlet-zung von Sicherheitsbestimmungen, Angabe falscherTatsachen, Entführung und Verrat. Aber mein Kopfbrannte wie Feuer und, wie gesagt, ich war nochnicht ganz da.

Ich blickte mich um. Ricia war nirgends zu sehen.»Wo ist sie?« Ich versuchte aufzustehen, wurde je-doch sofort heftig zurückgestoßen. Der Kommodoresagte etwas mit barscher Stimme. Die Beisitzer blick-ten mich mit unbewegten Gesichtern an.

»Aufstehen!« befahl eine Stimme hinter mir. Je-mand zerrte mich grob hoch. Ich warf einen Blick aufHayle. Er beobachtete mich mit zusammengebissenenZähnen.

»... brutaler Mord«, donnerte der Kommodore.»Haben Sie noch etwas zu sagen, ehe das Urteil ver-kündet wird?«

Hayle war hochgesprungen. »Der Mann ist in sei-nem gegenwärtigen Zustand nicht in der Lage, sichzu verteidigen. Ich warne Sie, Kommodore, dieses lä-cherliche Gerichtsver...«

»Wenn Sie sich nicht sofort setzen, muß ich Sie ausdem Gerichtssaal verweisen!« Das Gesicht des Kom-modores war rot wie eine Tomate. »Ich kenne IhreRolle in diesem Mordkomplott nicht, Admiral, aberich versichere Ihnen, daß wir hier mit Verrätern kur-zen Prozeß machen.«

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»Ich habe Ihnen doch deutlich genug erklärt, daßhinter diesem Fall mehr steckt, als es den Anscheinhat«, brüllte Hayle. »Sie müssen den Mann anhören!«

»Das ist auch unsere Absicht! Setzen Sie sich, Sir!«Hayle und der Kommodore maßen sich mit finst-

ren Blicken, dann setzte der Admiral sich.»Wo ist Ricia, Hayle?« rief ich. Schon drückte je-

mand eine Hand auf meinen Mund. »Maul halten«,drohte der Posten hinter mir.

»Sie liegt im Lazarett«, sagte der Kommodorebarsch.

»Was ist ihr passiert?« schrie ich.»Sie wurde verletzt.«»Verletzt? Wie schlimm?«»Schweigen Sie! Reden Sie nur, wenn Sie etwas zu

sagen haben, was diesen Fall betrifft.«»Ich habe ihn erschossen, weil er nicht menschlich

ist«, erklärte ich. Meine Stimme klang hohl in meinenOhren. Der Kommodore schlug mit dem Hammer aufden Tisch, als plötzlich alle durcheinanderredeten.

»Woher wußten Sie, daß er nicht menschlich war?«fragte einer der Beisitzenden. Seine Augen bohrtensich in meine.

»Ich – ich kann es Ihnen nicht sagen.« Irgendwieschien es mir wichtig, nichts über Ricias Bibliothek zuverraten.

»Woher wußten Sie von der Stadt unter dem Eis?«zischte ein anderer.

»Ich wurde – von ihnen dort hingebracht.«»Von wem? Wen meinen Sie mit ›ihnen‹?«»Die Schößlinge. Sie ...«»Woher wußten Sie von dem Haus unter dem

Wasser?« fragte ein dritter kalt.

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Ich öffnete den Mund, um zu antworten. Ich hieltinne, versuchte mich zu erinnern. Ich hatte nieman-dem gegenüber, vom Admiral abgesehen, den ver-sunkenen Palast erwähnt. Ich starrte Hayle an. Errunzelte die Stirn, schüttelte den Kopf. Ich betrachtetedie unbewegten Gesichter der Beisitzenden – undplötzlich wußte ich Bescheid.

Der Kommodore war menschlich. Alle anderenwaren Schößlinge.

Das Kreuzverhör dauerte etwa eine Stunde. Ich gabausweichende, vage Antworten. Ich wollte Zeit ge-winnen, denn insgeheim hoffte ich auf etwas – ohnemir klar zu sein, worauf. Mein Schädel brummte. Eswar heiß im Zimmer. Hayle hatte erneut Einspruchgegen das Verfahren erhoben und war zur Ordnunggerufen worden.

Die Schößlinge feuerten pausenlos ihre Fragen ab.Sie wollten herausbekommen, wieviel ich wußte undwie ich es erfahren hatte. Selbst der Kommodoreschien ein wenig verwirrt. Er hämmerte auf denTisch.

»Das Verhör nimmt einen Verlauf, der nichts mehrmit den Anklagen zu tun hat«, donnerte er. »DiesesGericht ist nicht an Phantastereien interessiert. DerAngeklagte ist entweder geistig nicht zurechnungsfä-hig oder beabsichtigt zumindest, diesen Eindruck zuerwecken. Die Frage ist einfach: ›Bestehen milderndeUmstände, oder eine Rechtfertigung für die Tat desAngeklagten?‹ Die Antwort ist ›nein‹!« Er blicktemich unter zusammengekniffenen Brauen an.

»Angeklagter, stehen Sie auf!«Ich tat es.»Das Hohe Gericht befindet Sie schuldig im Sinne

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der Anklage. Das Urteil lautet Tod durch Erschießen.Die Hinrichtung findet sofort statt.«

Die Tür schwang auf. Drei junge Offiziere – zweivon der Marine und einer von der Marineinfanterie –stürmten in den Raum. Jeder hielt eine Maschinenpi-stole im Anschlag. Ich starrte sie fast ungläubig anund bereitete mich auf das Kommando vor. Sie hobenihre MPs und feuerten. Ich taumelte zurück, alsSplitter des langen Tisches in die Höhe flogen und dieunbewegten Gesichter dahinter einen letzten unhör-baren Schrei ausstießen.

Das folgende Schweigen hallte von Echos wider.Der Kommodore saß noch. Sein Gesicht war so grauwie die Wand. Einige der Marineinfanteristen taste-ten nach den Pistolen, hoben jedoch die Hände, alsdie MPs sich auf sie richteten.

»Ich bitte um Ruhe«, sagte der Offizier der Ma-rineinfanterie. »Wir waren die Opfer eines Komplotts– aber nicht eines Komplotts des zu Unrecht Ange-klagten hier. Admiral Hayle, dürfte ich Sie bitten, dasKommando zu übernehmen?«

Ricia saß in einem sauberen weißen Bett mit einemKissen im Rücken. Sie sah ein wenig blaß aus, aberihre Augen strahlten mich an und sie lächelte. »Es istnichts passiert, Malcolm«, versicherte sie mir, als siemein besorgtes Gesicht bemerkte. »Die Kugel von derkleinen Pistole hat mich nur gestreift, und sie habenmich hier sofort versorgt.«

»Sie hätte dich töten können. Ich bin wütend aufmich, daß ich nicht gleich geschossen habe, ehe erabdrücken konnte.«

»Es macht nichts, Malcolm. Wir leben – und sind in

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Sicherheit. Das Geheimnis der Schößlinge ist nunaufgedeckt. Sie haben jetzt keine Macht mehr, unsSchaden zuzufügen.«

»Ja, aber wir wissen nicht, wie viele Nester es vonihnen gibt. Wir haben das in Gonwondo vernichtet,und ich denke, die meisten Schößlinge der Mittel-meergruppe mußten ebenfalls daran glauben. Aberjetzt tauchten auch noch die hier auf. Irgendwiescheinen sie untereinander in Verbindung zu stehenund werden jetzt also auf der Hut sein.«

»Wir kriegen sie schon«, versicherte mir Hayle.»Machen Sie sich deshalb keine Gedanken, Irish.«

»Wie hast du es eigentlich fertiggebracht, Ricia?«Ricia lächelte. »Ich überzeugte den Arzt, daß er ei-

ne gründliche Untersuchung des toten Offiziers vor-nehmen müßte.« Ihr Lächeln schwand. »Er stellteAnomalien fest. Die Bibliothek sagte mir, daß die Ge-richtsbeisitzer zu ihnen gehörten. Den Rest kennst duja.«

»Wirklich verblüffend«, warf Oberst Barker, derMilitärchirurg ein, der Ricia versorgt hatte und jetztgerade das Zimmer betrat, als Ricia zum Schluß kam.»Sein Herz schien völlig normal, bis ich nach der Ku-gel suchte.« Er verzog das Gesicht. »Ich fand einenriesigen Wurm darin – lebend, wohlgemerkt! Dasverdammte Ding hatte so was Ähnliches wie Wur-zeln, die durch den ganzen Körper verliefen. Mikro-skopisch dünn, natürlich. Ich hätte sie vermutlichübersehen, wenn die junge Dame hier mich nichtdarauf aufmerksam gemacht hätte.«

»Sie stecken voller Überraschungen, Ricia«, staunteHayle. »Wie ist es Ihnen nur gelungen, daß OberstBarker Ihnen zuhörte – noch dazu, wo Sie sich quasi

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in sein Handwerk mischten. Welche besonderen Fä-higkeiten Ihrer Rasse benutzten Sie?«

»Keine, Admiral. Nur den Charme, den alle Frauenhaben.« Sie lächelte mir glücklich zu.

»Eine Frau kann immer das bekommen, was siesich ersehnt, wenn ihr Verlangen nur groß genug ist.«

Ich blickte in ihre dunklen Augen und pflichtete ihrbei.

ENDE

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Als nächstes TERRA-Taschenbuch Nr. 285 erscheint:

Michael Shea

Reise in die Unterwelt

Ehe die Sonne erlischt –Abenteuer in fernster Zukunft

In den letzten Tagen der sterbenden Welt

Die Sonne flackert wie eine Kerze im Wind. Menschen-feindliche Wesen durchstreifen die Wälder, Berge, Täler,Wüsten und Ruinenstädte der Erde: Graus, Erbs, Leuko-morphen und Deodander – alptraumhafte Geschöpfebiologischer Experimente, die vor Jahrzehntausendenstattgefunden haben.

Die Macht der wissenschaftlichen Zauberer von einst istjetzt geschwunden, die meisten ihrer Werke sind schonvor Äonen zu Staub zerfallen.

Aber es lebt noch einer der Uralten, Mächtigen an einemunbekannten Ort. Der Name des Zauberers ist Simbilis.

Ihn suchen zwei Männer, die seine Hilfe in Anspruchnehmen wollen. Ihr Weg führt sie über Länder und Meere– und in die Unterwelt.

Die TERRA-Taschenbücher erscheinen vierwö-chentlich und sind überall im Zeitschriften- undBahnhofsbuchhandel erhältlich.