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Die Lebensversicherung in der Gesamtwirtschaft* VonRobert Schwebler, Karlsruhe Mein Thema hat vielfältige Aspekte. Hier die wichtigsten: Die Lebensversicherung trägt mit dem von ihr gebotenen Versicherungs- schutz zur sozialen Sicherung bei. Dieser Schutz beeinflußt das wirtschaft- liche Verhalten der Menschen positiv. Die Lebensversicherung ist Medium der Geldvermögensbildung der privaten Haushalte und damit Kapitalsam- melbecken. Sie versorgt die Volkswirtschaft mit langfristigem Kapital. Die Langfristigkeit und Stetigkeit, mit der sich die Ansammlung von Vorsorge- vermögen in der Lebensversicherung vollzieht, tragen zur Glättung von Konjunkturschwankungen und zur Förderung der Geldwertstabilität bei. Die Branche ist auch potenter Nachfrager auf Waren -, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten. Sie eröffnet selbständigen Kaufleuten Betätigungsmög- lichkeiten. Auch ihrerseits ist die Lebensversicherung von gesamtwirtschaftlichen Einflußfaktoren abhängig: z. B. von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit; von der Entwicklung der Einkommen, vor allem der verfügbaren Einkommen nach Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen; von der Geldwertstabilität und dem Verlauf der Kapitalmärkte. Jeder dieser Faktoren hat im Einzelnen große Bedeutung. Auf jeden Fak- tor hat die Politik erheblichen Einfluß, durch sie können Extremsituationen geschaffen, abgeschwächt, prinzipiell auch vermieden werden. Die von mir hier ganz kurz vorgenommene Inventur von gesamtwirt- schaftlichen Einflußgrößen, Implikationen und Interdependenzen ist nicht vollständig. In meinem Referat kann ich aber nicht alle diese und womöglich noch weitere Aspekte der Lebensversicherung in der Gesamtwirtschaft behandeln. Auch legt mir das Tagungsthema nahe, mich auf die Zukunft der Lebensversicherung als Alterssicherungssystem zu konzentrieren. Dement- sprechend möchte ich im folgenden einige gesamtwirtschaftliche Thesen erörtern, die sich auf die Lebensversicherung und ihre Rolle als privates, kapitalbildendes Alterssicherungssystem beziehen. Dabei hoffe ich, daß mir als letztem nach einer Reihe hochkompetenter Redner nicht allzu viele Wie- * Vortrag, gehalten vor dem Deutschen Verein für Versicherungswissenschaft im Rahmen einer Veranstaltung „Die Zukunft der Alterssicherung in der Gesamtwirt- schaft" am 6. November 1989 in Bonn. Die Vortragsform ist beibehalten.

Die Lebensversicherung in der Gesamtwirtschaft

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Die Lebensversicherung in der Gesamtwirtschaft*

VonRobert Schwebler, Karlsruhe

Mein Thema hat vielfältige Aspekte. Hier die wichtigsten:

Die Lebensversicherung trägt mit dem von ihr gebotenen Versicherungs-schutz zur sozialen Sicherung bei. Dieser Schutz beeinflußt das wirtschaft-liche Verhalten der Menschen positiv. Die Lebensversicherung ist Mediumder Geldvermögensbildung der privaten Haushalte und damit Kapitalsam-melbecken. Sie versorgt die Volkswirtschaft mit langfristigem Kapital. DieLangfristigkeit und Stetigkeit, mit der sich die Ansammlung von Vorsorge-vermögen in der Lebensversicherung vollzieht, tragen zur Glättung vonKonjunkturschwankungen und zur Förderung der Geldwertstabilität bei.Die Branche ist auch potenter Nachfrager auf Waren -, Dienstleistungs- undArbeitsmärkten. Sie eröffnet selbständigen Kaufleuten Betätigungsmög-lichkeiten.

Auch ihrerseits ist die Lebensversicherung von gesamtwirtschaftlichenEinflußfaktoren abhängig: z. B. von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit; vonder Entwicklung der Einkommen, vor allem der verfügbaren Einkommennach Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen; von der Geldwertstabilitätund dem Verlauf der Kapitalmärkte.

Jeder dieser Faktoren hat im Einzelnen große Bedeutung. Auf jeden Fak-tor hat die Politik erheblichen Einfluß, durch sie können Extremsituationengeschaffen, abgeschwächt, prinzipiell auch vermieden werden.

Die von mir hier ganz kurz vorgenommene Inventur von gesamtwirt-schaftlichen Einflußgrößen, Implikationen und Interdependenzen ist nichtvollständig. In meinem Referat kann ich aber nicht alle diese und womöglichnoch weitere Aspekte der Lebensversicherung in der Gesamtwirtschaftbehandeln. Auch legt mir das Tagungsthema nahe, mich auf die Zukunft derLebensversicherung als Alterssicherungssystem zu konzentrieren. Dement-sprechend möchte ich im folgenden einige gesamtwirtschaftliche Thesenerörtern, die sich auf die Lebensversicherung und ihre Rolle als privates,kapitalbildendes Alterssicherungssystem beziehen. Dabei hoffe ich, daß mirals letztem nach einer Reihe hochkompetenter Redner nicht allzu viele Wie-

* Vortrag, gehalten vor dem Deutschen Verein für Versicherungswissenschaft imRahmen einer Veranstaltung „Die Zukunft der Alterssicherung in der Gesamtwirt-schaft" am 6. November 1989 in Bonn. Die Vortragsform ist beibehalten.

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derholungen unterlaufen. Ausdrücklich beziehe ich mich auf das Referatmeines Kollegen Holzwarth, dessen einzelwirtschaftliche Betrachtung derLebensversicherung ich nunmehr aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ergän-zen möchte.

Das aktuelle Zahlenbild

Meine Darstellung beginnt mit einigen Zahlen, die als Basis für die wei-tere Argumentation benötigt werden. Im Jahre 1988 wurden knapp 6 Millio-nen neue Lebensversicherungsverträge abgeschlossen und rund 45 Milliar-den DM Beiträge gezahlt. Die Lebensversicherungsunternehmen zahlten anihre Versicherten oder deren Hinterbliebene 28 Milliarden DM aus underhöhten gleichzeitig ihre Rückstellungen für künftig fällig werdende Zah-lungen um 32 Milliarden DM. Dieser Betrag steht auch für die Geldvermö-gensbildung der privaten Haushalte bei den Lebensversicherungsunterneh-men im vergangenen Jahr. Etwa in dieser Höhe führten die Lebensversiche-rer dem Kapitalmarkt neue Mittel zu.

Aufgabe der Kapitalanlagen der Lebensversicherung ist die Überbrük-kung der Zeitdifferenz zwischen Beitragszahlung und Versicherungslei-stung. Der Bestand an Kapitalanlagen, die somit die künftigen Leistungs-verpflichtungen bedecken, belief sich Ende 1988 auf 380 Milliarden DM.Dieser Betrag repräsentiert das Geldvermögen der privaten Haushalte beiden Lebensversicherungsunternehmen. In ihm kommt der Charakter derLebensversicherung als kapitalgedecktes Alterssicherungssystem am deut-lichsten zum Ausdruck.

Die hiermit markierten Größenordnungen werden aussagefähiger, wennman sie zur gesamten Geldvermögensbildung der privaten Haushalte bzw.zu anderen Volumina der Alterssicherung in eine sinnvolle Beziehung setzt.Der Versuch allerdings, den Anteil der Lebensversicherung an der Geldver-mögensbildung exakt zu beziffern, stößt auf einige Schwierigkeiten undführte in der Vergangenheit immer wieder zu Fehleinschätzungen. Sie lie-gen im Aufbau der amtlichen Statistik begründet. So umfaßt die Kategorie„Versicherungen" neben der Lebensversicherung noch andere Einrichtun-gen der Alters- und Hinterbliebenenvorsorge, wie z. B. Pensionskassen undberufsständische Versorgungswerke. Früher waren darin sogar die Scha-denrückstellungen der Sachversicherungsunternehmen enthalten, die mangewiß nicht als Vorsorgevermögen bezeichnen kann.

Um die amtliche Statistik zu ergänzen, ermittelt der Verband der Lebens-versicherungs-Unternehmen selbst die Geldvermögensbildung bei der

Lebensversicherung, indem er alle Bilanzpositionen der Lebensversiche-rungsunternehmen, die Verpflichtungen gegenüber den Versicherungsneh-mern ausweisen, zu einer Gesamtzahl aggregiert. Die Methode ist in Veröf-

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fentlichungen des Verbandes im einzelnen beschrieben. Danach betrug imJahre 1988 der Anteil der Lebensversicherungsunternehmen am Geldver-mögen der privaten Haushalte 15 Prozent und an der neuen Geldvermögens

-bildung 21,4 Prozent. In der Öffentlichkeit kursieren auch höhere Zahlen,die aber auf die besagten Mängel der Statistik zurückzuführen und daherkorrekturbedürftig sind.

Für Beiträge und Leistungen der Lebensversicherung lassen sich zahlrei-che Relationen zu anderen Alterssicherungssystemen herstellen. Sinnvollerscheint im vorliegenden Zusammenhang ein Vergleich mit Systemen des

beitragsfinanzierten Umlageverfahrens. Diese sind im wesentlichen diegesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten. DieKnappschaft muß hier außer Betracht bleiben, weil ihre Einnahmen zu fast60 Prozent aus Bundeszuschuß bestehen.

Im Vergleich zwischen der Lebensversicherung einerseits und der Arbei-ter- und Angestelltenversicherung andererseits beträgt die Relation bei denBeitragseinnahmen 29 : 100. Das Verhältnis zwischen den Barauszahlungender Lebensversicherung und den vergleichbaren Ausgaben der gesetzlichenRentenversicherung, d. h. den Rentenausgaben, beträgt 17,4 : 100. In dieserRelation kommt allerdings die zusätzliche Leistung im Kapitaldeckungsver-fahren, nämlich die Erhöhung der Rückstellungen für künftige Leistungs-verpflichtungen, nicht zum Ausdruck. Wollte man diese mit einbeziehen,dann betrüge das Verhältnis zwischen den Leistungen der Lebensversiche-rung und den Rentenausgaben der Arbeiter- und Angestelltenversicherungrund 37 : 100. Damit soll nicht verschwiegen werden, daß die gesetzlicheRentenversicherung neben den Renten auch Leistungen erbringt, die dieLebensversicherung nicht kennt, wie z. B. die Zuschüsse zur Krankenversi-cherung der Rentner und Aufwendungen für Rehabilitationsmaßnahmen.

Die Entwicklung

Neben diesem statischen Zahlenbild für 1988 soll als weiteres Beurtei-lungskriterium der Lebensversicherung ihre Entwicklung in der Vergangen

-heit dienen, und zwar wiederum im Vergleich mit der gesamten Geldvermö-gensbildung und mit den Geldströmen der gesetzlichen Rentenversicherung.Dabei erscheint es für diese Analyse ausreichend, zunächst den Zeitraumvon 1980 bis heute zu betrachten.

Innerhalb dieser acht Jahre erhöhte sich das Geldvermögen der privatenHaushalte auf das 1,7fache, das Geldvermögen bei Lebensversicherungenauf das 2,2fache. Die Geldvermögensbildung per annum erhöhte sich aufdas 1,3fache, die Geldvermögensbildung bei der Lebensversicherung auf das1,8fache.

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Die eindrucksvolle Geldvermögensbildung der privaten Haushalte, diesich insgesamt seit der Währungs- und Wirtschaftsreform des Jahres 1948 inder Bundesrepublik Deutschland vollzogen hat und bis heute zu einemBestand von rund 2600 Milliarden DM aufgelaufen sein dürfte, ist ein sinn-fälliger Ausdruck für das ausgeprägte Vorsorgeverhalten der Bevölkerungin unserem Land. Der wachsende Anteil der Lebensversicherung an dieserGeldvermögensbildung, der an den genannten Zahlen deutlich wird, zeugtdavon, daß die Alters- und Hinterbliebenensicherung als Vorsorgemotivimmer wichtiger wird.

Ebenfalls zwischen 1980 und 1988 haben sich die Rentenleistungen derArbeiter- und Angestelltenversicherung auf das 1,5fache erhöht, die Bar-auszahlungen der Lebensversicherung auf das 3,5fache, deren Nettozufüh-rungen zu den Rückstellungen auf das 1,8fache und diese beiden Leistungs-formen zusammen auf das Doppelte.

Die Beiträge zu den betrachteten Alterssicherungssystemen lassen sichsinnvoll noch über einen viel längeren Zeitraum vergleichen. So sind dieBeiträge zur Arbeiter- und Angestelltenversicherung seit 1960 auf das11fache gestiegen, die Beiträge zur Lebensversicherung haben sich seit 1960auf das 15fache, also ebenfalls überproportional erhöht.

Diese Zahlen, mit denen ich ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmenmußte, dienen als Basis für einige Schlußfolgerungen: Bei der Betrachtungdes Status quo im Jahre 1988 hat die Lebensversicherung als Alterssiche-rungssystem im Vergleich mit dem Regelsicherungssystem der gesetzlichenRentenversicherung zwar ein relativ geringer scheinendes Volumen. Dabeisoll der Kapitalstock der Lebensversicherung, dem die gesetzliche Renten

-versicherung nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hat, außer Betrachtbleiben. Die Lebensversicherung hat aber ihre heutige Größenordnung ineiner Entwicklung erreicht, die dynamischer verlief als die Entwicklung derGeldvermögen insgesamt und auch die der Finanzvolumina der gesetzlichenRentenversicherung.

Kapitaldeckung der Alterssicherung

Nach heutigem Erkenntnisstand ist davon auszugehen, daß sich dieserProzeß in Zukunft fortsetzen wird, zumal durch die aktuellen Reformge-setze retardierende Elemente in die gesetzliche Rentenversicherung wieauch in die Beamtenversorgung eingefügt werden. Deswegen werden alsoaller Voraussicht nach die Bestände an Vorsorgevermögen schneller expan-dieren als die umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme. Dies hat zurFolge, daß der Anteil der kapitalgedeckten Alterssicherung an der Gesamt-alterssicherung langsam zunimmt, der Anteil der umlagefinanzierten

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Systeme entsprechend abnehmen wird. Diese Grenzverschiebung zwischenden Finanzierungsverfahren der Alterssicherung sehe ich übrigens grund-sätzlich unabhängig davon, ob das mit den Reformgesetzen angestrebteSicherungsniveau der umlagefinanzierten Systeme langfristig aufrechter-halten werden kann oder nicht. Allerdings dürften Tempo und Ausmaßdieser Grenzverschiebungen von den Erwartungen der Versicherten überdie Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung und ähnlicher Systemestark beeinflußt werden.

Aus der zunehmenden Kapitaldeckung der Alterssicherung ergeben sicheine Reihe gesamtwirtschaftlicher Fragen:

— Ist gesamtwirtschaftliche Altersvorsorge überhaupt möglich?

— Was geschieht während des Aufbaues eines Kapitalstocks?

— Gibt es eine Konsumphase mit gesamtwirtschaftlichem Entsparen?

— Gibt es dann inflatorische Prozesse?

— Wie wird ein erhöhtes Kapitalangebot die Ertragskraft der Lebensversi-cherung beeinflussen?

— Welche Verteilungswirkungen stellen sich bei einer Expansion kapitalge-deckter Alterssicherungssysteme ein?

— Wie wirken sich Abnahme und Altern der Bevölkerung aus?

Antworten auf diese und ähnliche Fragen interessieren die unmittelbarBetroffenen, also die Versicherten, und die verantwortlichen Politiker glei-chermaßen. Diese wollen und müssen sich insbesondere unter dem Eindruckder absehbaren Bevölkerungsentwicklung ein Bild davon machen,

— wie die Zukunft der Alterssicherung aussehen könnte,

— welche Anpassungsmaßnahmen bei den verschiedenen Alterssicherungs-systemen notwendig sein werden,

— mit welchen Förderungsmaßnahmen man einen Strukturwandel unter-stützen kann und

— welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen gegebenenfalls zur Flankie-rung eines Umstrukturierungsprozesses ergriffen werden müssen.

Tatsächlich hat sich die Bundesregierung bemüht, gesamtwirtschaftlicheZusammenhänge der Alterssicherungssysteme mit unterschiedlichen Finan-zierungsverfahren unter dem Einfluß einer abnehmenden und alterndenBevölkerung aufzuhellen. Diese Bemühungen haben im Zweiten Bericht derBundesregierung über die Bevölkerungsentwicklung in der BundesrepublikDeutschland, in dem Auswirkungen auf die verschiedenen Bereiche vonStaat und Gesellschaft untersucht werden, ihren Niederschlag gefunden'.

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Dieser Bericht enthält einen Abschnitt über „Kapitaldeckungsverfahren(private Lebensversicherung) ", in dem gewisse Besorgnisse hinsichtlichnegativer Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Gesamtwirt-schaft, damit auch auf die Lebensversicherung und ihre Leistungskraft, ins-besondere also auf den einzelnen Versicherten deutlich zum Ausdruck kom-men. Im folgenden möchte ich versuchen, an die Stelle etwaiger Besorgnisseüber die künftige Entwicklung der Lebensversicherung als Alterssiche-rungssystem positive Erwartung zu setzen.

Zum Aufbau eines Kapitalstocks

Ein kapitalgedecktes Alterssicherungssystem wie die Lebensversicherungverbinden manche mit der Vorstellung, ein Kapitalstock müsse zunächst ineiner Anwartschaftsphase aufgebaut und später in einer Konsumphase wie-der abgebaut werden. Aus dieser Vorstellung werden dann mehrere Beden-ken gegen das Kapitaldeckungsverfahren abgeleitet. Sie beziehen sichzunächst auf die Aufbauphase. Die zusätzliche Ersparnis, die zur Bildungdes Kapitalstocks erforderlich sei, produziere — so meint man — eine deflato-rische Lücke mit entsprechenden rezessiven Tendenzen der Gesamtwirt-schaft. Dies ist, soweit ich sehe, eine keynesianische Position, die heutekaum noch als herrschende Lehre bezeichnet werden kann.

Die These von der deflatorischen Lücke läßt sich in der Wirtschaftsge-schichte der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich nicht verifizieren. Inder Langzeitbetrachtung, die hier allein angemessen ist, ist statt dessen fest-zustellen: Alein durch die Geldvermögensbildung der privaten Haushalte istein Kapitalstock in Höhe von 2600 Milliarden DM über die Konjunkturzy-klen hinweg aufgebaut worden und die Gesamtwirtschaft ist dabei kräftiggewachsen. Von rezessiven Tendenzen ist in der langfristigen Betrachtungnichts zu erkennen und schon gar nicht in Verbindung mit einer deflatori-schen Lücke als Konsequenz des Kapitalstockaufbaues.

Im Gegenteil, dieser Kapitalstock macht die Bundesrepublik Deutsch-land, ihre Volkswirtschaft und die Glieder ihres Gemeinwesens vergleichs-weise unabhängiger als andere Nationalwirtschaften und Staaten. Dies istgewiß auch das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, die — unbeschadet man-cher Irrungen im einzelnen — doch immer wieder mit Erfolg bemüht war, dieVolkswirtschaft auf einem Gleichgewichtspfad zu halten. Eine wachsendeWirtschaft ist mit ausgeprägtem Vorsorgeverhalten der Bevölkerung nichtnur zu vereinbaren, in einer langfristig gesunden Entwicklung bedingen siesich gegenseitig.

1 Bericht der Bundesregierung über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesre-publik Deutschland, Zweiter Teil: Auswirkungen auf die verschiedenen Bereiche vonStaat und Gesellschaft, Bundestagsdrucksache 10/863 vom 5. Januar 1984, S. 63f.

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Nun ist es sicher richtig, daß nicht das gesamte Geldvermögen der priva-ten Haushalte der Altersvorsorge gewidmet ist. Manche Formen der Geld-vermögensbildung eignen sich auch gar nicht dafür. Doch ist schon dieLebensversicherung allein in den vergangenen Jahrzehnten in eine gesamt-wirtschaftlich relevante Größenordnung hineingewachsen, so daß man anihr die These von der deflatorischen Lücke testen könnte, wenn es dieseLücke überhaupt gäbe. Der Kapitalstock der Lebensversicherung hat sich inden vergangenen zwanzig Jahren etwa verzehnfacht und betrug Ende 1988— wie erwähnt — 380 Milliarden DM. Diese Entwicklung hat der Gesamt-wirtschaft nicht geschadet. Im Gegenteil! Ist es undenkbar, daß sich derKapitalstock der Lebensversicherung innerhalb der vor uns liegendenzwanzig Jahre erneut verzehnfacht, ohne daß eine deflatorische Lücke mitrezessiven Tendenzen der Gesamtwirtschaft entsteht?

Eine derartige Entwicklung muß ja nicht unbedingt mit einer generellenErhöhung der Sparquote verbunden sein. Näher liegt es vielleicht, daß dieprivaten Haushalte ihre Geldvermögensbildung zum Teil auf die Alters- undHinterbliebenenvorsorge hin umwidmen. Der kontinuierlich steigendeAnteil der Lebensversicherung an der Geldvermögensbildung deutet indiese Richtung. Mein Fazit aus diesen Überlegungen ist, daß kein Anlaßbesteht, einen wachsenden Anteil der kapitalgedeckten Alterssicherung ander Gesamtvorsorge unter dem Aspekt einer deflatorischen Lücke zubetrachten.

Zum Abbau eines Kapitalstocks

Eine weitere keynesianische Position besagt, daß der Abbau eines Kapi-talstocks zu inflatorischen Prozessen führe. Die Stichhaltigkeit dieser Thesehat zur Voraussetzung, daß ein Kapitalstock für die Alterssicherung in einerKonsumphase abgebaut werden muß. Dies trifft möglicherweise in der ein-zelwirtschaftlichen Betrachtung zu. Gilt es aber auch für die Gesamtwirt-schaft? Und gilt es insbesondere dann, wenn die Bevölkerung rückläufig ist?Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich zunächst wieder empirisch vor-gehen und Zusammenhänge zwischen dem Bevölkerungswachstum und derLebensversicherung in der Vergangenheit betrachten. Dabei lasse ich dieFünfzigerjahre außer Betracht, weil sie als Wiederaufbauphase im Anschlußan die Währungs- und Wirtschaftsreform ein untypisches Bild abgebenkönnten.

Zwischen 1960 und 1987 hat sich die Wohnbevölkerung der Bundesrepu-blik Deutschland von 55 Millionen auf 61 Millionen Personen erhöht. DieseGesamtbevölkerung läßt sich allerdings mit der Lebensversicherung nichtsinnvoll korrelieren. Deshalb soll im folgenden auf die erwerbsaktiven Jahr-gänge im Alter von 20 bis unter 60 Jahren abgestellt werden. Diese haben

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während der genannten 27 Jahre von 30 Millionen auf 35 Millionen Perso-nen und damit um rund 15 % zugenommen.

In demselben Zeitraum nahm die Anzahl der bestehenden Lebensversi-cherungsverträge um rund 67% zu. Die jährlichen Lebensversicherungsbei-träge erhöhten sich sogar auf das 14fache, die neu abgeschlossene Versiche-rungssumme auf das 16fache und der Bestand an Kapitalanlagen sogar aufdas 24fache2 . Hieraus wird deutlich, daß die Bevölkerungsentwicklung inder Vergangenheit allenfalls einen marginalen Einfluß auf die Entwicklungder Lebensversicherung gehabt hat. Dies ist plausibel, weil der Versiche-rungsbedarf im allgemeinen mit dem Einkommen wächst und die Einkom-mensdynamik weitaus stärker ist als Veränderungsraten der Bevölkerung.

Was die Zukunft betrifft, so haben wir vor einigen Jahren versucht, dieSensibilität der Kapitalbildung bei der Lebensversicherung in Bezug auf dieVeränderung wichtiger Einflußgrößen mit einfachen Modellrechnungen zutesten3 . Dabei wurde unter anderem mit je drei Varianten für die Geburten-häufigkeit, den Lohnfortschritt und die Lebensversicherungsneigunggerechnet. Die Ergebnisse waren eindeutig: Die Kapitalbildung reagiertestark auf Veränderungen im Lohnzuwachs und in der Versicherungsnei-gung, sie zeigte nur eine geringe Abhängigkeit von der demographischenEntwicklung. Insbesondere zeigte sich beim Bevölkerungsrückgang keinEntsparprozeß.

Mit feineren Instrumenten hat im vergangenen Jahr Burkhardt Müller dieEntwicklungschancen der Lebensversicherung im demographischen Wandelanalysiert4 . Seine empirische Grundlage war die sogenannte Lebenslagen-studie, eine von Infratest Sozialforschung im Auftrag der Bundesregierung(BMA) zu Beginn der Achtzigerjahre durchgeführte Erhebung zur Alterssi-cherung der erwerbstätigen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutsch-land. In seinen Modellrechnungen hat Müller die Bevölkerung mit der aktu-ellen Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit bis zum Jahre 2030 jahrgangs-weise fortgeschrieben und auf die einzelnen Jahrgänge alters- und ge-schlechtsspezifische Versicherungsquoten angewendet.

Die Ergebnisse dieser Modellrechnungen zeigen zunächst, daß mit derAnzahl der erwerbsaktiven Männer und Frauen die Anzahl der lebensversi-

2 Karl-Otto Körber: Demographische Entwicklung und Lebensversicherung, inArbeit und Sozialpolitik 1989, S. 284 ff.

3 Gerhard Laskowski: Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung in der Bundes-republik Deutschland auf die Lebensversicherung, ZVersWiss 1981, S. 73ff.; ders.:Die Lebensversicherung unter dem Einfluß demographischer und wirtschaftlicherVeränderungen, VW 1983, S. 952ff.

4 Burkhardt Müller: Die Bedeutung der Lebensversicherung im System der Alters-sicherung unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten beiwachsender Alterslast, Ifo-Studien zur Bevölkerungsökonomie Nr. 4, München 1988;ders.: Entwicklungschancen der Lebensversicherung im demographischen Wandel,VW 1988, S. 1402 ff.

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cherten Männer und Frauen zurückgeht, und zwar langfristig auch bei stei-gender Versicherungsdichte. Das ist nicht überraschend. Von größererBedeutung für die Position der Lebensversicherung in der Gesamtwirtschaftist aber die Entwicklung ihres Kapitalbestandes unter dem Einfluß derabnehmenden und alternden Bevölkerung.

Um die künftige Kapitalbildung bei der Lebensversicherung abschätzenzu können, hat Müller für die Lebensversicherungsbeiträge einen Dynami-sierungsfaktor eingeführt und diesen mit einem beobachteten durchschnitt-lichen Zuwachs der Nettolohn- und -gehaltssumme in Höhe von 3,1% proJahr gleichgesetzt.

Diese Annahme über die Dynamik der Lebensversicherungsbeiträge istm. E. zu vorsichtig, weil erfahrungsgemäß aus steigenden Einkommen über-proportional steigende Vorsorgeaufwendungen geleistet werden. Dennochführt sie zu dem Ergebnis, daß bis zum Jahr 2030 ein Rückgang des Kapital-bestandes der Lebensversicherungsunternehmen nicht stattfindet. DieKapitalbildung verliert zwar langfristig an Dynamik, sie wird aber nichtnegativ. Die vorgetragenen Untersuchungen zum Einfluß von Bevölke-rungsveränderungen auf die Kapitalbildung bei der Lebensversicherungzeigen, daß unter realistischen Annahmen der zu erwartende Bevölkerungs-rückgang auch langfristig nicht zu einem Abbau des Vorsorgevermögensführt.

Aus diesem Grunde scheint mir die Frage, wie sich der Abbau eines Kapi-talstocks auf die Gesamtwirtschaft auswirke, ob er insbesondere zu inflato-rischen Prozessen führe, von eher akademischem Interesse zu sein. DieFachwissenschaft hat sich mit dieser Frage vielfach beschäftigt. Sie hat u. a.gezeigt, daß die Verminderung eines gesamtwirtschaftlichen Kapitalstocksdurch das Unterlassen von Ersatzinvestitionen selbstverständlich möglichist. Sie hat aber auch gezeigt, daß dies inflationsfrei geschehen kann. Undsie hat bei dieser Gelegenheit Mackenroth widerlegt, der mit seinen bekann-ten Thesen aus dem Jahre 1952 vertieftes Nachdenken über die gesamtwirt-schaftlichen Zusammenhänge kapitalgedeckter Alterssicherung lange Zeitbehindert hat.

Mit dieser fachwissenschaftlichen Diskussion will ich mich nicht im einzel-nen beschäftigen. Statt dessen folge ich Hans K. Schneider, dem Vorsitzen-den des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung. Dieser hat kürzlich bei den Beratungen des Vereins fürSocialpolitik über „Bevölkerung und Wirtschaft" sinngemäß gesagt, dieMackenroth-These habe den Blick verstellt, doch die Diskussion darüber seijetzt glücklicherweise vorbei.

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Zur Ertragskraft des Kapitalstocks

Ich wende mich nun einer Frage von außerordentlich großer praktischerBedeutung zu. Sie lautet: Können die Lebensversicherungsunternehmenauch in fernerer Zukunft unter dem Einfluß der schrumpfenden und altern-den Bevölkerung mit ihren Kapitalanlagen die Erträge erwirtschaften, diezum Erreichen der Vorsorgeziele erforderlich sind? Oder anders formuliert:Wird sich das Preis-Leistungs-Verhältnis eines Lebensversicherungsvertra-ges verschlechtern, weil die Ertragskraft der Kapitalanlagen sinkt? Ursa-chen hierfür könnten nachlassende Kapitalnachfrage aus demographischenGründen oder zusätzliches Kapitalangebot durch vermehrtes Vorsorgespa-ren selbst sein.

Diese gesamtwirtschaftlichen orientierten Fragen sind für das Systemund die Versicherten von erheblicher Bedeutung, weil bei langlaufendenLebensversicherungsverträgen über die Hälfte der Versicherungsleistungaus gutgeschriebenen Überschußanteilen, insbesondere Zinsanteilen beste-hen kann. Der Zins ist mit entscheidend für die Attraktivität eines kapital-gedeckten Alterssicherungssystems und für dessen Beurteilung im Vergleichmit lohndynamischen Umlagesystemen. Deshalb wird der Zusammenhangzwischen gesamtwirtschaftlicher Zinsentwicklung und Lebensversiche-rungsleistung in der Literatur besonders hervorgehoben, u. a. in dem obenzitierten Zweiten Bevölkerungsbericht.

Im Jahre 1988 erhöhten die Lebensversicherungsunternehmen ihrenKapitalbestand um knapp 32 Milliarden DM. Das waren mehr als 9%Zuwachs. Einschließlich der Rückflüsse aus früher getätigten Anlagenhatten sie fast 68 Milliarden DM für neue Engagements zur Verfügung.Etwa die Hälfte dieser Mittel diente der Refinanzierung der Kreditwirt-schaft und wurde von dort ihren endgültigen Verwendungszwecken zuge-führt. Mehr als zwei Fünftel der Neuanlagen gingen unmittelbar in Sektorenaußerhalb der Kreditwirtschaft, nämlich an öffentliche Haushalte, anUnternehmen und in den Wohnungsbau.

Der gesamte Anlagenbestand in Höhe von 380 Milliarden DM ist ähnlichstrukturiert. Er erbrachte 1988 eine laufende Bruttoverzinsung von 7,6%,eine ansehnliche Ziffer auch im Vergleich mit der Rendite festverzinslicherinländischer Wertpapiere in Höhe von damals 6 %. Auf eine außerordentlichgroße Stabilität der Ertragskraft der Kapitalanlagen von Lebensversiche-rungsunternehmen wurde schon hingewiesen. Die Struktur des Kapital-stocks und die Langfristigkeit der einzelnen Anlage machen die Rentabilitätder kapitalgedeckten Alterssicherung relativ resistent gegen kurzfristigeZinsschwankungen auf den Kapitalmärkten. Der Durchschnittszins derKapitalanlagen in langfristiger Betrachtung belegt dies. Allerdings würdendie Anlageinstrumente der Lebensversicherer kaum ausreichen, einen sehrlangfristig negativen Zinstrend zu kompensieren. So lautet die eigentliche

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Frage, ob ein solcher Zinstrend etwa aufgrund eines globalen Kapitalüber-

angebotes in Zukunft zu befürchten ist.

Manche Wissenschaftler meinen, daß die Abnahme der Bevölkerung die

von ihnen unterstellten Sättigungstendenzen auf Konsumgütermärkten ver-

stärken und daß sich beide Faktoren zusammen in einer drastischen

Schrumpfung der Volkswirtschaft auswirken würden. Zu diesem Katastro-phenszenario gehört selbstverständlich sinkender Kapitalertrag. Dochdieses Szenario ist zu Recht nicht Bestandteil der herrschenden Lehre derNationalökonomie geworden. Insbesondere wird bezweifelt, daß die Kon-

sumgüternachfrage, die ja nicht nur von der Menge, sondern auch von der

Qualität und der Art der Waren und Dienstleistungen bestimmt wird, an

relevante Sättigungsgrenzen stoßen könnte.

Eine andere kritische These ist modelltheoretisch abgeleitet. Sie besagt,

daß Bevölkerungs- und Zinsentwicklung immer gleichgerichtet seien. Wäre

diese These richtig, spräche sie für sinkenden Zins bei schrumpfenderBevölkerung. Richtig ist sie jedoch allenfalls im Rahmen ihres Modells undnach Maßgabe ihrer Prämissen. Zu diesen gehört vor allem die Annahme der

im übrigen gleichen Umstände — ceteris paribus. Wenn man unterstellt, daß

in der Gesamtwirtschaft die Kapitalausstattung pro Kopf der Erwerbstäti-gen gleich bleibt, dann nimmt selbstverständlich mit der Anzahl der

Erwerbstätigen auch der Kapitalstock ab, und zwar mit der Folge sinkender

Kapitalnachfrage und sinkender Zinsen.

Doch scheint mir diese Unterstellung nicht zutreffend zu sein. Nichts

spricht dagegen, daß sich die Vergrößerung des gesamtwirtschaftlichen

Kapitalstocks je Erwerbstätigen, die in der Vergangenheit eingetreten ist, in

Zukunft fortsetzen wird. Im Gegenteil — wenn der Faktor Arbeit infolge der

demographischen Entwicklung immer knapper wird, dann wird sich der

technische Fortschritt zunehmend in arbeitsparende Innovationen umset-

zen. Die Produktion wird kapitalintensiver, Investitionen sind gefragt.

Wenig plausibel erscheint daher die in der Literatur gelegentlich anzu-

treffende Auffassung, eine Verminderung der Bevölkerungszahl oder die

Veränderung der Altersstruktur lähme den technischen Fortschritt und die

Innovationskraft. Beide sind nicht von der Größe der geistig produktiven

Jahrgänge abhängig. Anderenfalls müßten kleine Völker grundsätzlichzurückgebliebene Völker sein. Das sind sie aber nicht. Seit jeher hat der

Mensch entweder spontan oder in Reaktion auf Veränderungen in seiner

Umwelt technischen Fortschritt und Innovationen hervorgebracht. So

könnte gerade die demographische Entwicklung spezifische Innovationen

anstoßen5 . Wenn bestimmte Konsumgütermärkte Sättigungstendenzen zei-

5 Hans K. Schneider: Folgen einer schrumpfenden Bevölkerung für die Wirt-schaftspolitik, Referat bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik 1989, unver-öffentlichtes Manuskript, S. 11.

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gen, wird die Innovation sich auf neue Konsumgüter konzentrieren. Undwenn Arbeitsmärkte erschöpft sind, wird mit verstärktem Kapitaleinsatzproduziert.

Auch aus diesen Überlegungen läßt sich ein gesamtwirtschaftliches Sze-nario entwickeln. Darin begegnet das steigende Kapitalangebot einer stei-genden Kapitalnachfrage. Und darin hat eine säkulare Zinssenkung keinenPlatz. Ich bin also optimistisch, daß die Ertragskraft des Kapitalstocks derLebensversicherung auch unter dem Einfluß einer abnehmenden und altern-den Bevölkerung ausreichen wird, um die angestrebten Vorsorgeziele zuerreichen. Eine Vergrößerung des Anteils kapitalgedeckter Alterssiche-rungssysteme an der Gesamtalterssicherung dürfte weder der Volkswirt-schaft insgesamt noch den einzelnen Versicherten zum Nachteil gereichen.

Zur Einkommensverteilung

Auch wer der Argumentation bis hierher gefolgt ist, wird möglicherweiseden Einwand erheben, eine Ausdehnung kapitalgedeckter Alterssicherungsei gerade dann verteilungspolitisch problematisch, wenn der Zins nichtsinke. Wenn der Anteil der Zinseinnahmen am Volkseinkommen steige,seien die Empfänger dieser Zinsen die Gewinner und zum Beispiel die Emp-fänger von Arbeitseinkommen die Verlierer. Durch personale Zuordnungder Einkommensarten wird somit ein verteilungspolitisches Argumentgegen die kapitalbildenden Alterssicherungssysteme geschmiedet.

Dieses Argument erinnert an die gelegentlich aufkommende Diskussionüber die gesamtwirtschaftliche Lohnquote: Die Lohnquote sinkt, der Anteilder Vermögenseinkommen steigt und hieraus wird der Schluß gezogen, dieabhängig Beschäftigten seien verteilungspolitisch benachteiligt. Dies istjedoch ein Fehlschluß, weil die Lohnquote nichts über den Anteil derArbeitnehmerhaushalte am Volkseinkommen aussagt. Entscheidend hierfürist nämlich nicht die funktionale Einkommensverteilung, also die Relationder Faktoreinkommen Lohn, Zins usw., sondern die personale Einkommens-verteilung. Die privaten Geldvermögen haben sich ja nicht nur bei den Selb-ständigen gebildet, sondern in erheblichem Umfang auch in den Arbeitneh-merhaushalten. Diese beziehen immer größere Zinseinnahmen, wodurchihre einzelwirtschaftliche Lohnquote selbstverständlich sinkt. Sie werdensich dadurch kaum benachteiligt fühlen.

Was die künftige Entwicklung der Alterssicherungssysteme angeht, soscheint mir das oben beschriebene Argument gegen die Lebensversicherungauf einer schlichten Verwechslung von funktionaler und personaler Ein-kommensverteilung zu beruhen. Schon aus heutiger Sicht ist es kaum nochgerechtfertigt, von einer Personengruppe zu sprechen, die außerhalb kapi-

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talgedeckter Alterssicherungssysteme steht und folglich von einer Erhöhungdes Zinsanteils am Volkseinkommen benachteiligt würde. Die außerordent-lich weite Verbreitung der Lebensversicherung in allen Gruppen der Bevöl-kerung steht dagegen. Aus der amtlichen Statistik ist bekannt, daß rund80% der Arbeitnehmerhaushalte Lebensversicherungsverträge besitzen.Dabei hängt die Verteilung der Summen von mancherlei Einflüssen ab, z. B.vom Haushaltstyp und von der Familiengröße, doch ist eine recht enge posi-tive Korrelation mit der Verteilung der Haushaltseinkommen unverkenn-bar.

Für die Zukunft ist zu erwarten, daß die Versicherten quote unter demEindruck der Diskussion über die Alterssicherung eher größer als kleinerwird. Daß hierzu die finanziellen Voraussetzungen gegeben sind, ist in dereinzelwirtschaftlichen Betrachtung der Lebensversicherung gezeigt wor-den. Wenn also auch künftig die Lebensversicherung unter günstigengesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gute Erträge für ihre Versi-cherten erwirtschaftet, dann fließen diese auch den Arbeitnehmerhaushal-ten zu.

Es läßt sich wohl keine gesellschaftliche Gruppe identifizieren, diezwangsläufig von einer Erhöhung des Anteils kapitalgedeckter Alterssiche-rung an der Gesamtalterssicherung und damit von einer Erhöhung des Zins-anteils am Volkseinkommen ausgeschlossen wäre. Dies gilt sogar für dieRentnerhaushalte. Wenn diese ihre Lebensversicherungsleistung als Rentebeziehen, erhalten sie darauf Jahr für Jahr einen Zinsanteil, der die Rentedynamisiert. Wenn sie von der Lebensversicherung einen Kapitalbetragerhalten haben, können sie diesen bis zur Verwendung zinstragend anlegen.

Somit ist das Argument, eine Erhöhung des Anteils der Lebensversiche-rung an der Gesamtalterssicherung nütze bei gutem Zinsertrag nur den Ver-sicherten und benachteilige die anderen, inhaltsleer. Denn diese anderengibt es in einer relevanten Größenordnung nicht. Der verteilungspolitischeEinwand gegen kapitalgedeckte Alterssicherungssysteme ist nicht geeignet,die Lebensversicherung unter dem Aspekt der demographischen Entwick-lung zu problematisieren.

Hinweise zur Wirtschaftspolitik

Die gravierenden demographischen Veränderungen, die für die nächstenJahrzehnte zu erwarten sind, werden selbstverständlich nicht spurlos anWirtschaft und Gesellschaft vorübergehen. Ich will nicht den Eindruckerwecken, als könnten wir diese Entwicklung in Ruhe abwarten und aufschmerzlose Selbstregulierung vertrauen. Im Gegenteil — Wirtschafts- undGesellschaftspolitik sind aufgefordert, rechtzeitig zu handeln, um dieVolkswirtschaft und die Sozialsysteme auf die bevorstehenden Veränderun-

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gen der demographischen Rahmenbedingungen vorzubereiten. Ansätzehierzu sind vorhanden.

Die Wirtschaftswissenschaft hat das Thema in voller Breite aufgegriffen,wie die diesjährige Tagung des Vereins für Socialpolitik über „Bevölkerungund Wirtschaft" gezeigt hat. Auch die wirtschaftswissenschaftliche Politik-beratung trägt mit der Formulierung von Fragen, mit der Aufhellung vonZusammenhängen und mit Anregungen zur Lösung der anstehenden Pro-bleme bei. Sie hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung kapitalgedeck-ter Alterssicherungssysteme für die Zukunft der Alterssicherung unter ver-änderten demographischen Bedingungen immer wieder hervorgehoben.

So hat schon im Jahre 1980 der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesmi-nisterium für Wirtschaft in einem Gutachten über „WirtschaftspolitischeImplikationen eines Bevölkerungsrückgangs" auch zur AlterssicherungStellung genommen 6 .

Nach seiner Auffassung bietet eine martkwirtschaftliche Ordnung beson-ders günstige Voraussetzungen dafür, den technischen Fortschritt zu för-dern und die strukturellen Umstellungen zu erleichtern, die der Bevölke-rungsrückgang erfordert. Weiteres Wachstum des Realeinkommens erfor-dert eine Wirtschaftspolitik, die die marktwirtschaftliche Ordnung sichertund durch stabilitätspolitische, gegebenenfalls auch wachstumspolitischeMaßnahmen ergänzt. Zu den möglichen Anpassungsstrategien für die Alters-sicherung zählt der Beirat die rechtzeitige Kapitalakkumulation.

Auch die Deutsche Bundesbank hat immer wieder in diesem Sinne plä-diert. Beispielhaft zitiere ich Schlesinger aus einem Vortrag, den er bereits1985 gehalten hat7 . Eine teilweise Absicherung durch freiwillige Kapitalan-sammlung sei nicht nur für den einzelnen vorteilhaft, sondern habe auchgünstige gesamtwirtschaftliche Auswirkungen. Solle bei dem zunehmendknapper werdenden Arbeitskräfteangebot ein nachhaltiges Wachstum gesi-chert werden, erfordere dies einen vermehrten Kapitaleinsatz und damithohe Investitionen.

Schlesinger hält es freilich auch für eine unabdingbare Aufgabe derSozialpolitik, den Erwerbstätigen schon frühzeitg die grundlegendenZusammenhänge deutlich zu machen, damit die ergänzende private Alters-vorsorge funktionieren kann. Die Versicherten seien bereits dabei, der drit-ten Säule ihrer Altersvorsorge zunehmend Beachtung zu schenken. Aberdiese Notwendigkeit müsse noch klarer werden.

6 Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirt-schaft über Wirtschaftspolitische Implikationen eines Bevölkerungsrückgangs,BMWi-Studienreihe Nr. 28, 1980, S. 51 ff.

7 Helmut Schlesinger: Die Finanzierung der sozialen Sicherung unter verändertenwirtschaftlichen Bedingungen, Vortrag beim Pensions-Sicherungs-Verein VVaG am15. April 1985, Köln 1985, S. 21 ff.

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Im vorigen Jahr hat sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 1988/89ganz ähnlich geäußert8 . Die Situation der künftigen Rentner werde auchdann verbessert, wenn die aktive Generation mehr durch eigene Kapitalbil-dung für ihr Alter vorsorgt. Deshalb solle die Bevölkerung zu einem solchenVerhalten angeregt werden. Die Lösung der Probleme der Alterssicherungs-systeme dürfe nicht der Zukunft überlassen bleiben, weil es nur dann ver-tretbar erscheine, die jungen Bürger auf die Selbstvorsorge zu verweisen,wenn dies rechtzeitig geschehe.

Die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung sieht also weitgehend inder Erhöhung des Anteils kapitalgedeckter Alterssicherungssysteme, insbe-sondere der Lebensversicherung, eine taugliche Strategie für die Sicherheitder Zukunft der Alterssicherung unter veränderten demographischenBedingungen. Die Wissenschaft plädiert überzeugend dafür, daß der Bürgerrechtzeitig und in ausreichendem Umfang seine Altersvorsorge in der drit-ten Säule besorgt und daß die Politik den Bürger dabei nicht allein läßt.Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Literatur

Klaus Biermann und Theodor Brinkmann: Die Gesamtleistungsrechnung der Versi-cherungswirtschaft als Ausdruck ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung, ZVers-Wiss 1988, S. 29ff.

Bernhard Felderer: Wirtschaftliche Entwicklung bei schrumpfender Bevölkerung —eine empirische Untersuchung, Berlin — Heidelberg — New York — Tokyo 1983.

Bernhard Felderer (Hrsg.): Kapitaldeckungsverfahren versus Umlageverfahren —Demographische Entwicklung und Finanzierung von Altersversicherung undFamilienlastenausgleich, Schriften des Vereins für Socialpolitik N. F. Band 163,Berlin 1987.

Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (Hrsg.): Gesamtwirtschaft-liche Einflüsse auf die Lebensversicherung — Identifikation und Quantifizierung,Schriftenreihe des Ausschusses Volkswirtschaft Nr. 1, Karlsruhe 1983.

ders.: Marktentwicklung und Marktstruktur in der Lebensversicherung, Schriften-reihe des Ausschusses Volkswirtschaft Nr. 6, 2. Auflage, Karlsruhe 1989.

Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (Hrsg.): Kapitalbildungund Altersvorsorge, Schriftenreihe der GVG Band 4, Bergisch Gladbach 1983.

ders.: Gutachten zur Verteilung der Lasten einer ausreichenden künftigen Gesamt-versorgung auf die drei Säulen, Schriftenreihe der GVG Band 15, Bergisch Glad-

bach 1988.

8 Jahresgutachten 1988/89 des Sachverständigenrates zur Begutachtung dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Bundestagsdrucksache 11/3478 vom 24.November 1988, S. 177ff.

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ders.: Die private Altersvorsorge im gegliederten System der Alterssicherung, Schrif-tenreihe der GVG Band 17, Bergisch Gladbach 1988.

Stefan Homburg: Theorie der Alterssicherung, Studies in Contemporary Economics,Berlin — Heidelberg — New York — London — Paris — Tokyo 1988.

Gerhard Laskowski: Die Lebensversicherung als System der Alters-, Invaliditäts-und Hinterbliebenensicherung — Eine Skizze, in Staat, Wirtschaft, Assekuranzund Wissenschaft, Festschrift für Robert Schwebler, hrsg. von Rudolf Henn undWalter F. Schickinger, Karlsruhe 1986.

Willi Leibfritz u. a.: Sicherung der Altersvorsorge durch Aufgabenteilung zwischenIndividualversicherung und gesetzlicher Rentenversicherung — Möglichkeiteneiner Neuordnung und gesamtwirtschaftliche Auswirkungen, Ifo-Studien zurFinanzpolitik Nr. 37, München 1988.

Manfred Neumann: Möglichkeiten zur Entlastung der gesetzlichen Rentenversiche-rung durch kapitalbildende Vorsorgemaßnahmen, Walter Eucken Institut, Vor-träge und Aufsätze Nr. 107, Tübingen 1986.

Robert Schwebler: Sicherheit zwischen Sozial - und Individualversicherung, Karls-ruhe 1977.

ders.: Staatliche Sozialpolitik und private Daseinsvorsorge in Zeiten niedrigen Wirt-schaftswachstums. Vortrag vor der Friedrich-Ebert- Stiftung, 6.6.1984.

Verband der Lebensversicherungs-Unternehmen (Hrsg.): Die deutsche Lebensversi-cherung, Jahrbücher bis 1989, Karlsruhe.