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Die letzten Ostpreussen-Schweizer haben ihre alte Heimat nicht vergessen Die letzten lebenden Ostpreussen-Schweizer treffen sich regelmässig in Zürich und denken mit Wehmut zurück an ihre alte Heimat, die heute in Russland liegt. Denn zu den Vertriebenen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges 1944/45 Ostpreussen fluchtartig verlassen mussten, gehörten neben rund 2 Millionen Deutschen mehrere Tausend Schweizer Bürger. Von Markus Rohner / maiak.info Die Provinz Ostpreussen war im späten 19. Jahrhundert nicht nur für Deutsche ein beliebter Ort der Zuwanderung. Auch viele Tausend Schweizer fanden in der nördlichsten und östlichsten Provinz des damaligen Deutschen Reiches eine neue Heimat. Eine Heimat, so gross wie die Schweiz, aber ohne Berge mit fruchtbaren Böden und deshalb als die Kornkammer Deutschlands bekannt. Die Schweizer Melker und Käser brachten auf Wunsch der deutschen Reichsregierung die ostpreussische Milchverarbeitung auf Vordermann – und hinterliessen damit über alle politischen Umwälzungen einen bis in heutigen Tage bleibenden Eindruck: Noch im Jahre 2009 tragen hier Melker die Berufsbezeichnung Швейцарская * Schweizarskaja, denn seit 1945 wird in Ostpreussen Russisch gesprochen. Die Ostpreussen zahlten teuer für den Frieden in Europa Das Jahr 1945 brachte Europa den Frieden – und die deutschsprachigen Ostpreussen zahlten dafür teuer: Die Rote Armee ging rücksichtslos gegen wehrlose Zivilisten vor, während die nationalsozialistische Gauleitung Fluchtversuche der Zivilbevölkerung sinnlos hart bestrafte. Sprichwörtlich im letzten Augenblick konnten mit der grössten Seetransport-Operation in der Geschichte rund 2 Millionen Menschen ins heutige Deutschland in Sicherheit gebracht und so vor einem grauenhaften Schicksal bewahrt werden.

Die letzten Ostpreussen-Schweizer haben Ihre alte Heimat nicht vergessen

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Die letzten lebenden Ostpreussen-Schweizer treffen sich regelmässig in Zürich und denken mit Wehmut zurück an ihre alte Heimat, die heute in Russland liegt. Denn zu den Vertriebenen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges 1944/45 Ostpreussen fluchtartig verlassen mussten, gehörten neben rund 2 Millionen Deutschen mehrere Tausend Schweizer Bürger.Creative Commons Lizenz:http://creativecommons.org/licenses/...Dieser Beitrag von www.maiak.info – The Newsroom of Eastern Europe steht allen Medien, Weblogs und anderen Autoren nutzergenerierter Inhalte zur Verfügung.Sie dürfen das Werk honorarfrei vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen unter der Bedingung der Namensnennung (Autor / maiak.info) und Verlinkung:Von Markus Rohner / maiak.infoOriginal-Beitrag:http://www.maiak.info/ostpreussen-russland-schweizer-vertriebene-tilsit

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Page 1: Die letzten Ostpreussen-Schweizer haben Ihre alte Heimat nicht vergessen

Die letzten Ostpreussen-Schweizer haben ihre alte Heimat nicht vergessen

Die letzten lebenden Ostpreussen-Schweizer treffen sich regelmässig in Zürich und

denken mit Wehmut zurück an ihre alte Heimat, die heute in Russland liegt. Denn zu

den Vertriebenen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges 1944/45 Ostpreussen

fluchtartig verlassen mussten, gehörten neben rund 2 Millionen Deutschen mehrere

Tausend Schweizer Bürger.

Von Markus Rohner / maiak.info

Die Provinz  Ostpreussen war im späten 19. Jahrhundert nicht nur für Deutsche ein

beliebter Ort der Zuwanderung. Auch viele Tausend Schweizer fanden in der nördlichsten

und östlichsten Provinz des damaligen  Deutschen Reiches eine neue Heimat. Eine

Heimat, so gross wie die Schweiz, aber ohne Berge mit fruchtbaren Böden und deshalb

als die Kornkammer Deutschlands bekannt.

Die Schweizer Melker und Käser brachten auf Wunsch der deutschen Reichsregierung die

ostpreussische Milchverarbeitung auf Vordermann – und hinterliessen damit über alle

politischen Umwälzungen einen bis in heutigen Tage bleibenden Eindruck: Noch im Jahre

2009 tragen hier Melker die Berufsbezeichnung Швейцарская * Schweizarskaja, denn seit

1945 wird in Ostpreussen Russisch gesprochen.

Die Ostpreussen zahlten teuer für den Frieden in Europa

Das Jahr 1945 brachte Europa den Frieden – und die deutschsprachigen Ostpreussen

zahlten dafür teuer: Die Rote Armee ging rücksichtslos gegen wehrlose Zivilisten vor,

während die nationalsozialistische Gauleitung Fluchtversuche der Zivilbevölkerung sinnlos

hart bestrafte. Sprichwörtlich im letzten Augenblick konnten mit der grössten Seetransport-

Operation in der Geschichte rund 2 Millionen Menschen ins heutige Deutschland in

Sicherheit gebracht und so vor einem grauenhaften Schicksal bewahrt werden.

Die so genannten  Vertriebenen versammelten sich danach im deutschen Dachverband

Bund der Vertriebenen BdV und im österreichischen Verband der Volksdeutschen

Landsmannschaften VLÖ zu einflussreichen Organisationen – während die wenigen

Tausend Ostpreussen-Schweizer nie eine Lobby bilden konnten.

Die letzten lebenden Ostpreussen-Schweizer versammeln sich

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Erst 1985 wurde in Zürich der Freundeskreis Ostpreussen-Schweiz ins Leben gerufen,

eine lockere Verbindung von damals höchstens noch 100 übrig gebliebenen Vertriebenen.

Auf Initiative von Hildegard Hägi-Modersbach versammeln sich die immer weniger

werdenden Ostpreussen-Schweizer seither zwei Mal im Jahr zum Gedankenaustausch in

Zürich.

Eine aufgeweckte Seniorenrunde trifft sich im Gemeinschaftszentrum in Zürich-Seebach

zum Kaffeekränzchen. Fast keiner von den betagten Frauen und Männern ist unter 80

Jahren. Sie plaudern über vergangene Zeiten und reden über eine Heimat, die für sie

spätestens 1945, nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und dem Einmarsch

der Roten Armee in Teilen Ostpreussens, in weite Ferne gerückt ist.

“Menschen ohne Heimat sind wie Blätter im Wind”, sagt Hildegard Hägi-Modersbach zu

den Anwesenden Exil-Ostpreussen. Im Landkreis Insterburg ist sie auf die Welt

gekommen, seit bald 60 Jahren lebt die 82jährige Vereinspräsidentin in Zürich. Mit

grossem Engagement sorgt sie im Freundeskreis Ostpreussen-Schweiz dafür, dass die

Erinnerung an die alte Heimat nicht ganz erlischt.

Kurt Streit erkannte seine Heimat nach 63 Jahren nicht wieder

“Wir waren in der Milchwirtschaft gefragte Leute“, erklärt Kurt Streit. Der heute 93jährige

Mann aus dem Fricktal führte zusammen mit seinem Vater ausserhalb von Tilsit eine

Käserei und Molkerei. Bis er im Januar 1945 als letzter der Familie mit ein paar wenigen

Habseligkeiten das Land verlassen musste und erst sieben Monate später am 1. August in

St.Margrethen die Schweiz erreichte.

Erst 2008 ist er nach 63 Jahren erstmals wieder nach Ostpreussen zurückgekehrt. Ein

Land, das sich dramatisch verändert hat und das er nicht wieder erkannte. Von seinen

alten Besitztümern hat er fast nichts mehr vorgefunden. “Aber ich bin zufrieden, dass ich

meine frühere Heimat noch einmal sehen durfte, Jetzt weiss ich, woran ich bin.”

Meinrad Ebnöther hegt weder Groll noch Hass auf die Russen

Die meisten Ostpreussen-Schweizer waren Käser und Molkereibesitzer. Viele von ihnen

hatten es zu Wohlstand und Reichtum gebracht, als sie nach erfolglosen Versuchen mit

dem Emmentaler-Käse das Rezept für den Tilsiter erfanden. Dessen Name leitet sich ab

vom Flüsschen Tilse, das dem Städtchen Tilsit (heute Sowetsk) seinen Namen gab.

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Die Familie des heute 78jährigen Meinrad Ebnöther gehörte in Ostpreussen zu den

grossen Käseproduzenten. 1945 mussten auch sie das Land verlassen und in die Schweiz

zurückkehren. Groll oder Hass auf die Russen hegt der gebürtige Schwyzer keinen. Und

er will auch gar nicht nach Schuldigen suchen, weil er weiss, dass dies ihm die alte Heimat

nicht wieder zurückbringen kann.

Als er fast 50 Jahre nach seinem Exodus wieder nach Ostpreussen zurückkehrte, fand

auch er nämlich ein anderes Land vor. Aus der einstigen Kornkammer Deutschlands ist

Brachland geworden: “Viele Dörfer sind zerstört und verlottern, aus unserer Kirche ist eine

Mühle geworden.”

Hubertus Wach möchte noch einmal Heimaterde in den Händen halten

Einmal in seinem Leben will auch der 75jährige Hubertus Wach, ein in Luzern wohnhafter

Elektroingenieur, noch einmal nach Ostpreussen zurückkehren. “Ich werde nach dem

Spielweiher meiner Kindheit Ausschau halten und mit einem Kilo Heimaterde in die

Schweiz zurückkehren.”

Kitschige Nostalgie oder echte Heimatliebe? “Eine Heimat vergisst man nicht so einfach”,

erklärt die 84jährige Helga Ruosch-Lange, die als Deutsche mit einem St.Galler

verheiratet war.

Im August 1944 hatte sie als Schülerin auf dem Wachturm ihrer Schule miterleben

müssen, wie die Engländer zwei Drittel der Stadt Königsberg (heute Kaliningrad) in Schutt

und Asche legten. “Es war ein Wunder, dass ich aus dieser Hölle überhaupt heil

rausgekommen bin”, sagt sie. “Diese englischen Bombardements wären nicht mehr nötig

gewesen”.

Schon dreimal ist Helga Ruosch-Lange nach ihrer Flucht ins alte Ostpreussen

zurückgekehrt: “Die Sehnsucht nach meiner alten Heimat habe ich nie verloren.” Umso

grösser war jedes Mal ihre Trauer, als sie sah, was aus dem einst blühenden Land

geworden ist.

Schweizer mit einem Rest preussischer Mentalität

Aus den ostpreussischen Flüchtlingen sind bodenständige Schweizer geworden. “Wir sind

Schweizer, von denen manche vielleicht etwas von der preussischen Mentalität mit in die

Schweiz genommen haben”, lacht Kurt Streit. Den zackigen Militarismus und die

Staatsgläubigkeit hätten allerdings viele dort zurückgelassen.

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In Zürich werden auch an diesem Sonntag einmal mehr Erinnerungen an die Jugendzeit

wach und nostalgische Gefühle gepflegt. “Von Jahr zu Jahr werden es weniger”, sagt

Hildegard Hägi-Modersbach. Bald einmal wird der Zeitpunkt kommen, an dem der letzte

dieser Ostpreussen-Schweizer tot sein und ein Kapitel schweizerischer

Auswanderungspolitik endgültig geschlossen werden wird.

Über den Autor:

Markus Rohner (1957 im schweizerischen Altstätten/SG) ist Journalist und Autor. Nach

einem Studium der Geschichte und Germanistik ist Rohner seit 1983 Journalist. Zuerst

war er als Bundeshauskorrespondent für verschiedene Tageszeitungen tätig, seit 1989 als

freier Journalist. Seine Beiträge erscheinen quer durch die Schweiz in regionalen

Tageszeitungen, vom Berner "Bund" über die "Basler Zeitung" bis zur "Südostschweiz"

und dem "St.Galler Tagblatt". Markus Rohner ist zudem Autor für das "NZZ Folio" sowie

die "NZZ am Sonntag".

Creative Commons Lizenz:http://creativecommons.org/licenses/by/2.5/ch/

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