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Universität Bremen Sommersemester 2009 Erstgutachterin: Prof. Dr. Sabine Schlickers Zweitgutachterin: Dr. Ana Luengo-Palomino Die literarische Aneignung der Militärdiktaturen in Uruguay und Argentinien am Beispiel von Primavera con una esquina rota von Mario Benedetti und A veinte años, Luz von Elsa Osorio Inwiefern lassen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede im Umgang mit den Diktaturen feststellen? vorgelegt von Dagmar Deutges Matrikelnr.: 2169401 Hispanistik (HF), Kulturwissenschaft (NF) Spittaler Straße 1 – 3.03 28359 Bremen [email protected] Abgabedatum: 01.08.2009

Die literarische Aneignung der Militärdiktaturen in …€¦ · am Beispiel von Primavera con una esquina rota von Mario Benedetti und A veinte años, Luz von Elsa Osorio Inwiefern

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Universität Bremen ● Sommersemester 2009

Erstgutachterin: Prof. Dr. Sabine Schlickers

Zweitgutachterin: Dr. Ana Luengo-Palomino

Die literarische Aneignung der

Militärdiktaturen in Uruguay und Argentinien

am Beispiel von Primavera con una esquina rota

von Mario Benedetti und A veinte años, Luz

von Elsa Osorio

Inwiefern lassen sich Ähnlichkeiten und

Unterschiede im Umgang mit den Diktaturen

feststellen?

vorgelegt von Dagmar Deutges

Matrikelnr.: 2169401

Hispanistik (HF), Kulturwissenschaft (NF)

Spittaler Straße 1 – 3.03

28359 Bremen

[email protected]

Abgabedatum: 01.08.2009

Danksagung

Matthias Dietz und Christian Agnischock sei hiermit herzlich gedankt.

Ihr Korrekturlesen und hilfreiche Verbesserungsvorschläge haben die Fertigstellung dieser

Arbeit besonders vorangetrieben.

INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung 1

2. Einordnung in den historischen Kontext 4

2.1 Uruguay 4

2.2 Argentinien 5

3. Primavera con una esquina rota 7

3.1 Forschungsstand 7

3.2 Entstehung 9

3.3 Sprache 10

3.4 Exilroman 14

3.5 Autofiktion? 14

4. A veinte años, Luz 16

4.1 Forschungsstand 16

4.2 Entstehung 17

4.3 Sprache 18

4.4 Perspektiven 20

4.5 Rezeptionsgeschichte 22

5. Vergleich 24

5.1 Ähnlichkeiten 24

5.1.1 Formale Ähnlichkeiten 24

5.1.2 Inhaltliche Ähnlichkeiten 26

5.2 Unterschiede 28

5.2.1 Formale Unterschiede 28

5.2.2 Inhaltliche Unterschiede 31

5.3 Vergleich im Überblick 34

6. Fazit 35

7. Literaturverzeichnis 38

7.1 Primärliteratur 38

7.2 Sekundärliteratur 38

Anhang

Erklärung

1. Einleitung

Der Begriff der literarischen Aneignung soll in dieser Arbeit in seiner hermeneu-

tischen Bedeutung verstanden werden. Demnach sind „Aneignungsprozesse

[...] Vorgänge des Verstehens“ (Metzler Lexikon Literatur 2007: 24). Nach Hei-

degger geht es um das „Zurückgewinnen des Ursprünglichen durch die wieder-

holende >Destruktion< des Überlieferten“ (ebenda).

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der literarischen Aneignung der Militärdikta-

turen in Uruguay und Argentinien. Die Romane Primavera con una esquina rota

von Mario Benedetti und A veinte años, Luz von Elsa Osorio werden exempla-

risch für die uruguayische und die argentinische Verarbeitung der Diktaturen

untersucht. Die Auswahl dieser beiden Bücher ist sinnvoll, da einerseits das

wichtige Thema Exil in Primavera con una esquina rota bearbeitet wird, ande-

rerseits liegt mit A veinte años, Luz ein Werk der jüngsten Verarbeitung der ar-

gentinischen Vergangenheit vor. Wie wird in diesen Romanen das sogenannte

Ursprüngliche zurückgewonnen? Welches Bild der Militärdiktaturen möchten die

Autoren in ihren Ländern vermitteln? Im Kern wird nach den Ähnlichkeiten und

Unterschieden im Umgang mit den Diktaturen gefragt und darüber hinaus ver-

sucht diese weitergehenden Fragen ansatzweise zu beantworten.

Beide Texte werden einer Einzelanalyse unterzogen, die sich aus den Aspekten

Forschungsstand, Entstehung und Sprache des jeweiligen Romans zusammen-

setzt. Außerdem werden je zwei Besonderheiten der Romane beleuchtet. Da-

rauf folgt ein Vergleich der Texte. Hier werden formale und inhaltliche Ähnlich-

keiten und Unterschiede im Umgang mit den Diktaturen erläutert. Darüber hi-

naus wird versucht, die Romane in einen größeren Kontext einzuordnen und

weitergreifende Schlussfolgerungen zu ziehen.

Theoretische literarische Konzepte, die in dieser Arbeit Verwendung finden,

sind die Autofiktion, Michael Bachtins Begriff der Polyphonie und die Rezep-

tionsästhetik. Außerdem wird eine Analyse zur Erzählweise Mario Benedettis

herangezogen.

1

Die Sekundärliteratur setzt sich aus Zeitschriftenartikeln und wissenschaftlichen

Aufsätzen über Primavera con una esquina rota und A veinte años, Luz zusam-

men. Für die historischen Fakten wird größtenteils auf Veit Straßners Die of-

fenen Wunden Lateinamerikas Bezug genommen. Des weiteren wurde von eini-

gen Standardwerken der Hispanistik Gebrauch gemacht.

Über den Forschungsstand zur literarischen Aneignung von Militärdiktaturen in-

formiert die Lateinamerikanische Literaturgeschichte von Michael Rössner be-

sonders anschaulich. Sabine Schlickers' Aufsatz Vivir entre la muerte und

Tiempo pasado von Beatriz Sarlo sind neuere Beiträge dazu.

Dem Terror und seiner Verarbeitung zwischen 1960 und 1990 im Cono Sur wid-

met sich Roland Spiller. Er weist auf eine neue Welle von Erzähltechniken in

den 80er Jahren hin: „Fragmentarisierung, Diskontinuität, Polyphonie, Vielfalt

der Sprachregister, Intermedialität [...], Hybridisierung der Gattungen“ (Spiller

2002: 469).

Auffällig [sei] besonders am Río de la Plata die Ambiguität des Erzählers gegenüber seiner Geschichte (ebenda: 470).

Spiller unterstreicht die Bedeutung, die das Exil während der Diktaturen für das

kulturelle Selbstverständnis hatte. Es war aus diesem Grund ein oftgewähltes

Thema in der Literatur (vgl. ebenda: 472). Nach dem Ende der Diktaturen hatte

die ökonomische Krisenbewältigung vor der historischen Verarbeitung Priorität.

Trotzdem gab es eine große literarische Vielfalt, die sich mit dem höchst kom-

plexen Prozess der Neubestimmung nationaler Identitäten auseinandersetzte

(vgl. ebenda: 477). Als jüngste Entwicklung erwähnt Spiller die „escritura femini-

na“ (ebenda: 479-481). Schreibende Frauen waren der Doppelbelastung ausge-

setzt, einerseits gegen die Diktatur, andererseits gegen den machismo kämpfen

zu müssen (vgl. ebenda: 479).

Die Literatur, die sich das Thema der Militärdiktaturen vorgenommen hat, lässt

sich laut Schlickers zeitlich und räumlich in vier Gruppen unterteilen. Es gibt die

'Literatura de proceso', also während der Diktatur verfasste Werke, sowie die Li-

teratur, die nach der Diktatur entstand. Dabei wurden die meisten Texte im Exil

2

geschrieben und ein kleinerer Teil im Inland (vgl. Schlickers 2008: 121). Schli-

ckers hebt hervor, dass sich das sogenannte „Unerzählbare“ (ebenda: 123; Über-

setzung der Verfasserin) in allen von ihr untersuchten Romanen in verschie-

denen subjektiven Perspektiven ausdrücke. Die meisten literarischen Texte wür-

den die Erzählstrategie verwenden, die Geschichte (historia1) gleichsam mit der

Erzählung (discurso¹) derselben darzustellen. Die Figuren selbst begreifen die

Realität und ihr Leben erst durch das Schreiben (vgl. ebenda: 123).

In Tiempo pasado von Beatriz Sarlo geht es um die auch für diese Arbeit rele-

vante textuelle Aufarbeitung der Militärdiktaturen mit besonderem Fokus auf Ar-

gentinien. Das Kapitel La retórica testimonial beschreibt, wie zunächst Zeugen-

und Opferaussagen veröffentlicht wurden.

Los crímenes de las dictaduras fueron exhibidos en un florecimiento de discursos testimoniales (Sarlo 2005: 61).

Später tauchten dann auch Erzählungen auf, die nicht mehr so 'unantastbar'

waren, wie die Berichte von persönlich Betroffenen (vgl. ebenda: 62). Beatriz

Sarlo hebt mit Annette Wieviorkas Worten kritisch hervor, dass die individuelle

Erzählung und die persönliche Meinung oft den Platz einer Analyse einnähmen

(vgl. ebenda: 70).

La dimensión intensamente subjetiva [...] caracteriza el presente (eben-da: 49-50).

Für Beatriz Sarlo ist das Verstehen wichtiger als das Erinnern, allerdings sei es

notwendig sich zu erinnern, um zu verstehen (vgl. ebenda: 69).

Dies ist nur ein kurzer Einblick in die derzeitige Forschung zum Thema. Spiller

gibt einen ausführlichen Überblick, der ein guter Ausgangspunkt für neue Unter-

suchungen bietet. Der Versuch einer Kategorisierung der Texte wurde von

Schlickers (2008: 121) vorgenommen und ein Trend zur subjektiven, wenig

selbstkritischen Erzählweise wurde von Sarlo (2005: 49-50) und Schlickers

(2008: 122) festgestellt. Ob dieser subjektive Trend negativ zu bewerten ist und

wirklich keine Selbstkritik aufkommt, sollte hinterfragt werden.

1 Unterscheidung nach Todorov (vgl. Pomino und Zepp 2004: 225-226)

3

2. Einordnung in den historischen Kontext

In diesem Kapitel werden in einem kurzen Überblick die für die vorliegende Ar-

beit interessanten Fakten über die Geschehnisse während der Militärdiktaturen

in Uruguay und Argentinien dargelegt.

2.1 Uruguay

Die Zahl der Uruguayer, die während der Militärdiktatur zwischen 1973 und

1985 ins Exil gingen, beläuft sich auf 350.000 bis eine halbe Million (vgl. Straß-

ner 2007: 164). Dies ist eine verhältnismäßig große Zahl, wenn man bedenkt,

dass die gesamte Bevölkerung damals etwa drei Millionen zählte und Uruguay

bis dahin eine Einwanderernation gewesen war (vgl. Straßner 2007: 173). Viele

uruguayische Exilgänger waren Intellektuelle, darunter der Schriftsteller Mario

Benedetti. Die Länder, in die ausgewandert wurde, waren hauptsächlich lateina-

merikanische, aber auch Nordamerika oder Europa. Dies wird in Primavera con

una esquina rota an den Beispielen der exilierten Freunde und Angehörigen

Santiagos deutlich. Seine Familie und Rolando sind im mexikanischen (vgl. Be-

nedetti 1982: 201) und Manolo ist im schwedischen Exil (vgl. ebenda: 38). Ma-

rio Benedetti bindet zusätzlich seine eigenen Exilerfahrungen in Argentinien

(vgl. ebenda: 83), Peru (vgl. ebenda: 40), Mexiko und Kuba (vgl. ebenda: 58) in

seinen Roman mit ein.

Die politischen Gefangenen der Militärdiktatur wurden zu einem großen Teil in

dem Männer-Gefängnis Libertad und dem Frauen-Gefängnis Punta de Rieles

inhaftiert. Die „Haft war stets mit Folter verbunden“ (Straßner 2007: 164). San-

tiago aus Primavera con una esquina rota ist Häftling im Gefängnis Libertad.

Zur Militärdiktatur in Uruguay gäbe es mehr zu sagen. Da in Primavera con una

esquina rota die historischen Fakten aber weit weniger Raum einnehmen als in

A veinte años, Luz, fällt dieser Unterpunkt kürzer aus als der folgende.

4

2.2 Argentinien

In der Militärdiktatur in Argentinien (1976-1983) verschwanden etwa 30.000

Menschen und etwa 500 Kinder wurden entführt. Den Familien wurde jedwede

Information über den Verbleib ihrer Angehörigen vorenthalten. Es herrschte die

Praktik schwangere Frauen in den Gefängnissen bis zur Entbindung am Leben

zu lassen, um sie dann zu töten und ihre Kinder an linientreue Militärfamilien zu

übergeben. Nicht selten war der Adoptivvater der, der die Mutter des Kindes zu-

vor gefoltert und ermordet hatte (vgl. Straßner 2007: 78). Die fiktive Geschichte

von Luz in Elsa Osorios Roman veranschaulicht das Schicksal dieser geraubten

Kinder.

Weiblichen Häftlingen ihre Kinder und Neugeborenen wegzunehmen, wurde da-

mit begründet, zu verhindern, dass diese Kinder mit extremistischen Ideen ver-

dorben würden (vgl. Scilingo 2005). In A veinte años, Luz wird das an der Über-

zeugung Marianas deutlich, Kinder würden nicht zu Subversiven, wenn sie rich-

tig erzogen und kontrolliert würden (vgl. Osorio 1998: 196). El Bestia betont au-

ßerdem:

Con nosotros el bebé va a estar bien, lo vamos a educar con buenos principios, en el orden y las buenas costumbres. (Osorio 1998: 28)

Aus Sicht der Militärs war dieser sogenannte schmutzige Krieg gerechtfertigt, weil

Argentinien von der Subversion befreit werden musste (vgl. Straßner 2007: 75).

Der staatliche Terror, der in Argentinien während der Militärdiktatur verübt wur-

de, basierte nicht auf Exzessen einzelner, sondern war systematisch und orga-

nisiert. Darauf weisen verschiedene Dokumente wie der Bericht Nunca más der

CONADEP2 hin. Personen wurden gezielt verschleppt und ihr Verbleiben im

Unklaren gelassen, um Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu schüren.

Dies zeigt sich in Elsa Osorios Roman am Bericht einer Bekannten von Eduar-

do und Mariana, den vermeintlichen Eltern von Luz. Carola Luccini erzählt von

Freunden, die spurlos verschwanden und deren Verwandte bei einer Reihe von

Anlaufstellen keine Auskünfte erhielten (vgl. Osorio 1998: 195). In Argentinien

2 Abkürzung für Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas

5

wurde eine große Zahl von geheimen Haftzentren angelegt, die sogenannten

centros clandestinos de detención, wo die Gefangenen gefoltert und viele auch

ermordet wurden. Die Militärdiktatur in Argentinien ist trotz ihrer kürzeren Dauer

weitaus blutiger als die Uruguays oder auch als die Diktatur in Chile gewesen,

da die „Zahlen der massiven Menschenrechtsverletzungen und der (Todes-)

Opfer [viel höher] liegen“ (Straßner 2007: 77).

Nach der Diktatur war eine Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit aus meh-

reren Gründen sehr schwer. Das Militär hatte noch immer großen Einfluss und

hielt die Befürchtung wach, es könnte erneut die Macht ergreifen. Der politische

Wille fehlte, mit umfassenden Untersuchungen über die begangenen Men-

schenrechtsverletzungen zu beginnen. Mit den Gesetzen des Schlusspunktes

und der Gehorsamspflicht sollte die Vergangenheit besiegelt werden (vgl. eben-

da: 92-93). Die Straflosigkeit der Täter wurde und wird noch heute von Men-

schenrechtsorganisationen wie den Madres de Plaza de Mayo scharf kritisiert

(vgl. ebenda: 79-80). General Alfonso Dufau aus Elsa Osorios Roman kann

sich trotz seiner hohen Stellung durch das Gesetz der „obediencia debida“ ret-

ten (Osorio 1998: 389). Es wird ihm kein Prozess gemacht, auch wenn er Be-

fehle zur Entführung und Folter erteilte.

Vergleichsweise ist die Aufarbeitung der Vergangenheit in Argentinien zu bes-

seren Ergebnissen gekommen als die anderer Länder, die unter Militärdikta-

turen zu leiden hatten. Das mag besonders daran liegen, dass angetrieben

durch die flächendeckende Grausamkeit der Protest und der Widerstand gegen

die Verdrängungspolitik auf Seiten von Opferorganisationen sehr hoch ausfiel

(vgl. Straßner 2007: 157). Am 20. Jahrestag des Putsches (1976-1996) gab es

Massendemonstrationen auf den Straßen von Buenos Aires (vgl. ebenda: 112-

113). Unter den Demonstranten waren auch Studenten, wie es in A veinte

años, Luz (vgl. Osorio 1998: 431-435) beschrieben wird.

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3. Primavera con una esquina rota

Im folgenden Teil wird Primavera con una esquina rota unter verschiedenen Ge-

sichtspunkten untersucht, um die Besonderheiten des Romans herauszuarbeiten.

Die Geschichte handelt von Santiago, der in politischer Gefangenschaft im Ge-

fängnis Libertad in Uruguay einsitzt, während seine Familie und Rolando, ein

Freund von ihm, im Exil - vermutlich in Mexiko3 - leben. Während seiner fünfjäh-

rigen Gefangenschaft entwickelt sich zwischen seiner Frau Graciela und seinem

Freund Rolando eine Liebesbeziehung, von der Santiago nichts erfährt. Der Ro-

man endet mit einem Gedankenfluss von Santiago, als der Flug aus Uruguay

hinter ihm liegt und er kurz davor steht, seine Familie im Exil wiederzusehen.

Unabhängig von dieser Geschichte wird in den mit EXILIOS betitelten Frag-

menten in kursiver Schrift von bestimmten Vorkommnissen berichtet, bei denen

Mario Benedetti eine zentrale Rolle spielt.

Das Buch gliedert sich in 45 Fragmente. Es gibt sechs verschiedene Typen von

Fragmenten, die die Überschriften INTRAMUROS (später EXTRAMUROS),

HERIDOS Y CONTUSOS, DON RAFAEL, EXILIOS, BEATRIZ und EL OTRO

tragen. Sie stehen für die Situationen und Perspektiven von Santiago, Graciela,

Rafael, Mario Benedetti, Beatriz und Rolando.

3.1 Forschungsstand

Es gibt mehrere wissenschaftliche Aufsätze, die sich mit Primavera con una

esquina rota beschäftigen.

Flora González stellt heraus, dass die Sprache des Buches der Zensur entkä-

me, aber gleichzeitig eine Anklage sei, indem im Werk das Leben in Unterdrü-

ckung und Leid gespiegelt würde.

Las palabras de Benedetti [...] manejan la posibilidad del lenguaje de

3 vgl. Benedetti 1982, S. 201: „el duque parece que está en méxico“Anmerkung: Mit „el duque“ ist Rolando gemeint. Im Folgenden wird von Mexiko als Exillandder Angehörigen von Santiago ausgegangen.

7

evadir la censura y de acusar mediante estrategias lúdicas [...] (González 1992: 47).

Außerdem werden sprachliche Besonderheiten und die „representación com-

prometida“ (González 1992: 46) angesprochen.

Ein anderer Aufsatz der Universität Alicante betrachtet die Aspekte der ver-

schiedenen Perspektiven und der Kontraste in Primavera con una esquina rota.

An den Figuren des Romans wird jeweils untersucht, für welche Perspektive sie

stehen und welche Kontraste sich bei ihnen zeigen. Bei Santiago spielen die

Kontraste des Ortes und der Zeit eine wichtige Rolle. Im Gefängnis hat er mehr

Zeit als zuvor. Außerdem bemerkt er, dass eine beeindruckende mentale Aktivi-

tät möglich ist, wenn der Körper gefangen und damit an einen Ort gebunden ist

(vgl. González 1998: 527).

Neben diesen beiden Aufsätzen gibt es eine Analyse, die die narrativen Tech-

niken von Mario Benedetti untersucht und damit eine Forschungslücke schließt.

Hierin wird Benedettis narratives Werk vom lateinamerikanischen Boom abge-

grenzt und herausgestellt, dass Benedetti traditionelle Erzählstile auf seine ihm

eigene Art verwendet. Alle fünf vor 1995 erschienenen Romane von Mario Be-

nedetti werden einer kurzen Analyse unterzogen. Der Autor des Aufsatzes be-

findet, dass die Struktur von Primavera con una esquina rota von vielen ver-

schiedenen Erzählperspektiven und Brüchen in der narrativen Einheit dominiert

sei (vgl. Weitzdörfer 1995: 444).

Alle drei Sekundärtexte konnten hilfreich verwendet werden. Besonders der zu-

erst genannte Aufsatz von Flora González weist inhaltlich einige Überschnei-

dungen mit dem Thema dieser Arbeit auf.

In der Forschungsliteratur zu Primavera con una esquina rota fehlt eine Unter-

suchung zur Bedeutung der Abschnitte, deren autofiktiver Charakter am Ende

dieses Kapitels noch zur Diskussion gestellt wird. Des weiteren wäre es interes-

8

sant, sich die Rezeptionsgeschichte von Primavera con una esquina rota ge-

nauer anzuschauen.

3.2 Entstehung

Primavera con una esquina rota wurde 1982 publiziert. Mario Benedetti hatte zu

dieser Zeit schon mehrere Stationen seines Exils hinter sich. Primavera con

una esquina rota schrieb er in Spanien (vgl. Paoletti 1995: 226-227).

Es handelt sich um einen Exilroman, der während der Zeit der Diktatur entstand

und publiziert wurde. Flora González ordnet ihn der Gattung der „,novela auto-

rial de intención testimonial‛“ (González 1995: 48) zu, weil Primavera con una

esquina rota „un collage de voces en el exilio“ (ebenda) darstelle, „incluyendo la

voz del multiperspectivismo, el uso de diálogos y la participación del autor

como narrador“ (González 1995: 48). Mit dieser Gattungsbezeichnung werden

zwei für den Roman besonders wichtige Punkte genannt. Einerseits tritt Mario

Benedetti als eine erzählende Figur auf. Andererseits stellt Primavera con una

esquina rota keine Autobiographie dar, sondern bemüht sich ein Zeugnis der

damaligen Zeit im allgemeinen und der verschiedenen Exilsituationen im beson-

deren abzulegen. Beide Punkte werden in den folgenden Kapiteln noch ge-

nauer betrachtet werden.

Die Motivation Benedettis für diesen Roman kann in der Verarbeitung der eige-

nen Exilsituation in literarischer Weise gesehen werden. Benedetti berichtet

über die derzeitigen Vorgänge in seinem Land. Santiagos Vater Rafael dient als

Spiegelfigur Benedettis. Er fühlt sich verpflichtet, Missstände in seinem Land

aufzuzeigen, die er durch das rettende Exil nicht am eigenen Leib erleben

musste (vgl. González 1992: 42). Außerdem ist Rafael gleichzeitig Lehrer, was

als Metapher für Benedettis Schriftstellerei gesehen werden könnte, wenn man

den Beruf des Autors als Lehrer oder als eine moralische Instanz der Gesell-

schaft definiert. Es muss eine Auseinandersetzung mit den schlimmen Ge-

schehnissen der Diktatur stattfinden, um sie verarbeiten zu können und die spä-

tere Erinnerung daran wachzuhalten.

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3.3 Sprache

Die Sprache in Primavera con una esquina rota erweist sich als ein ergiebiger

Untersuchungsgegenstand, von dem nun einige Teilaspekte betrachtet werden.

Beatriz, die Tochter von Graciela und Santiago, legt in den Fragmenten, die ihren

Namen in der Überschrift tragen, in unschuldig-humorvoller Weise ihre Gedan-

kengänge und Erlebnisse dar. Dieser Humor kontrastiert mit den tragischen Um-

ständen, die im Roman erzählt werden. Durch Doppeldeutigkeiten und Wort-

spiele hindurch versucht Beatriz hinter die Bedeutung von Worten wie

„Libertad/libertad“ (Benedetti 1982: 109-111) und „amnistía/amnesia“ (ebenda:

173-176) zu kommen. Libertad/libertad sind Homophone, die eine gegenteilige

Bedeutung haben (vgl. González 1992: 46). Während Libertad ein uruguayisches

Gefängnis während der Diktatur bezeichnet, ist mit libertad die Freiheit gemeint.

Bei amnistía/amnesia ist es ähnlich. Die Worte sind nicht ganz gleichklingend,

birgen aber ebenso aufeinanderstoßende Bedeutungsunterschiede. Die Am-

nestie für die politischen Gefangenen bedeutet laut Beatriz' Wörterbuch, dass die

politischen Verbrechen der Häftlinge vergessen werden (vgl. Benedetti 1982:

174). Gleichzeitig stellt sie fest: „Cuando venga la amnistía se acabará la am-

nesia“ (ebenda: 176). Das Vergessen der politischen Delikte steht dem Verges-

sen der Menschenrechte (amnesia) durch Folter gegenüber, das mit der Entlas-

sung der Häftlinge ein Ende haben soll (vgl. González 1992: 46).

Benedetti verwendet oft Satz-Elemente, mit denen ein Fragment oder ein The-

ma beginnt und auch wieder abschließt. Das Kapitel „BEATRIZ (Una palabra

enorme)“ (Benedetti 1992: 109-111) wird von dem Eingangssatz „Libertad es

una palabra enorme“ (ebenda: 109) und der Frage auf der letzten Seite „¿Ven

como es enorme?“ (ebenda: 111) umrahmt. In dem Kapitel „EL OTRO (Turulato

y todo)“ (ebenda: 133-139) lässt sich Rolando über mehrere Seiten (ebenda:

136-139) in einer Art Bewusstseinsstrom in der dritten Person darüber aus, wie

Graciela und er sich ihre gegenseitige Zuneigung gestanden. In direkter Rede

und ohne typographische Markierungen findet ein Hin und Her zwischen él und

10

ella statt und Rolando lässt die Szene Revue passieren. Durch den Einsatz

dieses Stilmittels, dem sogenannten sainete porteño, das aus dem argenti-

nischen Drama stammt (vgl. Castro 1990: 51), wird die eigene Schuld Rolandos

gegenüber seinem Freund Santiago zu einem geteilten Gefühl zwischen Gra-

ciela und ihm (vgl. González 1992: 444). Die Phrase „sueño con vos“ markiert

den entscheidenden Punkt ihrer Unterhaltung und mit denselben Worten endet

das Kapitel.

In einem der Kapitel, die mit EXILIOS betitelt sind, spricht Mario Benedetti von

der Sprache, die von allen Repressionen der Welt verwendet wird (vgl. Bene-

detti 1992: 40). Anhand der Erfahrung, die Benedetti in Peru gemacht hat, als

man ihn des Landes verwies, gibt er dem Leser ein Beispiel, wie eine Abschie-

bung aus politischen Gründen abläuft. Mit bürokratischen Mitteln wird versucht,

einen Vorwand für eine Abschiebung zu erzielen. Zunächst erscheint jemand in

Zivil gekleidet, zeigt seinen Dienstausweis und möchte Benedetti mitteilen, dass

sein Visum abgelaufen sei. Als Benedetti sein rechtzeitig verlängertes Visum

vorzeigt, muss er trotzdem mit zum Polizeirevier kommen. Ihm wird vorgehal-

ten, er verdiene widerrechtlich Geld. Daraufhin erklärt Benedetti, dass er eine

Sondererlaubnis hat, um für eine Tageszeitung zu schreiben. Schließlich wird

ihm deutlich gesagt, worum es eigentlich geht: Die peruanische Regierung ver-

langt, dass er so schnell wie möglich das Land verlässt. Er soll sich ein Reise-

ziel aussuchen, hat aber letztendlich nur zwei Möglichkeiten und entscheidet

sich für den Rückflug nach Buenos Aires. Laut Flora González ist es „la ironía

[...] que desenmascara el supuesto lenguaje figurado de la represión“ (Gonzá-

lez 1992: 44).

An manchen Stellen des Romans tauchen lyrische Elemente auf. Ein zweisei-

tiges Gedicht auf den Seiten 143 und 144 berichtet von einem Besuch eines

griechischen Theaters, dessen Akustik besonders gut ist. Benedetti, der als Er-

4 In der angegebenen Quelle ist wiederholt von Orlando statt von Rolando die Rede (S. 44).Dies mag nur ein Tippfehler sein, lässt aber Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit dieserStelle der Quelle aufkommen.

11

zähler oder lyrisches Ich dieses Gedichtes fungiert, grüßt Líber, Héctor, Raúl

und Jaime. Dieser Gruß findet seinen Weg über viele Meere und das Heimweh

hinweg, um sich als Luftstrom zwischen den Gitterstäben niederzulassen. Wie

weit der Exilant Benedetti sich bereits von seinem Heimatland entfernt hat, wird

einerseits an den Meeren, die zwischen ihm und seinem Land liegen, und ande-

rerseits an der Antike Griechenlands deutlich, von der sich die Gegenwart un-

möglich erreichen lässt.

Die beiden Fragmente, die mit EXTRAMUROS betitelt sind, weisen lyrische

Merkmale auf. Alle Wörter sind kleingeschrieben, die Interpunktionszeichen

werden weggelassen und an ihrer Stelle Schrägstriche eingefügt. Hierin wird

die Aufregung Santiagos transportiert, als er kurz vor dem Wiedersehen mit sei-

ner Familie steht und die fünf Jahre seiner Gefangenenschaft vorbei sind.

Viele der Figuren sehen in der Sprache eine entscheidende Verbindung zu ih-

rem Heimatland.

Beatriz sagt beispielsweise: „Una de las diferencias es que en mi país hay ca-

bayos y aquí en cambio hay cabaios.“ (Benedetti 1982: 84).

Rolando fasst gerade die Überflüssigkeit von Worten als etwas Heimatver-

mittelndes auf. Die mexikanischen Frauen gefallen ihm gut, allerdings gebe es

Tage und Nächte, an denen ihm etwas an ihnen fehle. „Son los días y noches

en que echa de menos el sobrentendido“ (Benedetti 1982: 39). Einer Uruguaye-

rin als Geliebte muss Rolando nicht Dinge erklären, die sich für Uruguayer von

selbst verstehen.

Benedetti berichtet auf Seite 185 über ein Phänomen von Sprache und Heimat:

Uruguayische Kinder in Kuba wüchsen mit zwei Tonarten von Sprache, wenn

nicht sogar zweisprachig auf. Im Umgang mit kubanischen Freunden verwen-

den sie „un crudo acento cubano“ (Benedetti 1982: 185). Sobald sie aber nach

Hause kommen, wo die Eltern bewusst uruguayisches Spanisch sprechen,

seien sie wieder uruguayische „botijas“ (ebenda). Flora González resümiert:

„Para el escritor en el exilio el lenguaje se convierte en la más concreta

conciencia de lo que significa la palabra patria“ (González 1992: 45).

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Der Titel Primavera con una esquina rota findet an mehreren Stellen des Ro-

mans Erwähnung. Dieser Frühling ist einerseits der Neuanfang, den Santiago

nach seiner Gefangenschaft erleben wird. Andererseits kann der Titel auch alle-

gorisch auf den Neuanfang bezogen werden, der dem Land Uruguay nach sei-

ner Gefangenschaft, der Militärdiktatur, bevorsteht (vgl. Benedetti 1982: 198-

199). Zur Zeit der Entstehung des Romans dauerte die Diktatur noch an, aber

es war absehbar, dass sie eines Tages enden würde und dass der Frühling, der

danach käme, nicht ohne Probleme sein würde. Die Beziehung von Santiago

und Graciela ist aufgrund der jahrelangen Trennung aus Sicht Gracielas nicht

mehr als eine Ehe weiterführbar. Santiago scheint zumindest zu ahnen, dass

Graciela sich verändert hat und es Schwierigkeiten bei ihrem Wiedersehen ge-

ben könnte (vgl. Benedetti 1982: 195-197). In Uruguay würden nach dem Ende

der Diktatur ebenfalls verschiedene Welten aufeinandertreffen: Exilierte und im

Land Verbliebene, politische Gefangene und Angehörige der Militärjunta, ältere

und jüngere Generationen. Die Wunden, die die Diktatur in Familien und in der

Gesellschaft hinterlassen hatte, würden nicht direkt verheilen können. Diese

Wunden - Verschwundene, Folter und Exilerfahrungen - kommen in dem Zusatz

„con una esquina rota“ zum Ausdruck. In dieser Allegorie, die vor allem die Uru-

guayer anspricht, liegt gleichzeitig die Sinnintention des Autors. In diesem Zu-

sammenhang ist von einem Spiegel die Rede. Santiago sagt: „la primavera es

como un espejo pero el mío tiene una esquina rota“ (Benedetti 1982: 196). San-

tiago bezieht den Frühling und den Spiegel auf seine persönliche Situation und

die seines Landes. Er fragt sich, zu welchem Uruguay er zurückkehren müssen

wird. Uruguay „también tendrá una esquina rota y sin embargo reflejará más

realidades que cuando el espejo estaba virgen“ (Benedetti 1982: 198). Das of-

fene Ende des Romans symbolisiert die offene Zukunft Uruguays nach der Mili-

tärdiktatur. Der implizite Autor fordert die Menschen auf, nach einer Krise mutig

etwas Neues zu schaffen, einen Neuanfang zu wagen. Der Roman vermittelt

Hoffnung, da trotz aller schlimmen Erfahrungen in der Vergangenheit - der

„abgebrochenen Ecke“ - der Frühling kommt und somit die Hoffnung auf eine

gute Zukunft in dieser Situation überwiegt.

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3.4 Exilroman

In Primavera con una esquina rota spielt das Exil eine entscheidende Rolle. Der

Protagonist Santiago verdeutlicht dies: „El exilio (interior, exterior) será una

palabra clave en este decenio“ (Benedetti 1982: 35). Das äußere Exil der Ange-

hörigen Santiagos steht seinem inneren Exil gegenüber. Somit wird deutlich,

dass die Erfahrung des Exils während der Diktatur sich nicht auf eine Gruppe

beschränkte, sondern äußerst vielschichtig war. Ein beachtlicher Teil der Bevöl-

kerung (350.000-500.000 von drei Millionen) verließ das Heimatland und viele

Tausend Uruguayer befanden sich in politischer Gefangenschaft und wurden

gefoltert (vgl. Straßner 2007: 164).

Primavera con una esquina rota ist auch ein ganz persönlicher Exilroman. Ma-

rio Benedetti teilt dem Leser bruchstückhaft Informationen über die verschie-

denen Stationen seines Exils mit. Nach dem Militärputsch 1973 war er zunächst

nach Buenos Aires emigriert. Weiter ging es nach Lima, La Habana und Alamar

auf Kuba. 1980 betrat er erstmals europäisches Exil: Palma de Mallorca, wo er

Primavera con una esquina rota schrieb, und später Madrid (vgl. Paoletti 1995:

183, 197, 202, 205, 223, 232). Erst nach dem Ende der Militärdiktatur sah er

1985 sein Land wieder (vgl. Universidad de Alicante 1999).

3.5 Autofiktion?

Mario Benedetti verarbeitet in seinem Roman Primavera con una esquina rota

nicht nur die Exilerfahrungen seiner Landsleute, sondern auch sein persön-

liches Schicksal. In den kursiv gedruckten Kapiteln, die die Überschrift EXILIOS

tragen, fällt sein Name. Nach einer Definition von Marie Darrieussecq handelt

es sich um das literarische Phänomen der Autofiktion, wenn der Leser vor einer

Unentscheidbarkeit zwischen faktischem Bericht und Fiktion steht. Der Text

ordnet sich beispielsweise durch die Gattungsbezeichnung Roman dem Bereich

der Fiktion zu. Einerseits wird der reale Autor namentlich genannt und gibt be-

stimmte Fakten als homodiegetischer Erzähler wieder, andererseits kann nicht

sicher gesagt werden, dass sich das Erzählte exakt so zugetragen hat (vgl. Zip-

14

fel 2002: 141-142). Außerdem bezeichnet Darrieussecq die Autofiktion als „un

genre pas sérieux“ (ebenda: 141). Aus diesem Grund kann bei Primavera con

una esquina rota nur mit Vorsicht von Autofiktion gesprochen werden, da sie

nicht wie üblich in spielerischer Art und nur am Rande (vgl. ebenda: 142), Ver-

wendung findet. Mario Benedetti benutzt diese Passagen nicht, um den Leser

zu verwirren, sondern um eine reale Geschichte neben die von Santiago und

seiner Familie zu stellen. Dies verleiht der fiktiven Geschichte mehr Glaubwür-

digkeit und lässt sie als Parallele zur Realität erscheinen. Demnach sollte eher

von autobiographischen Abschnitten als von Autofiktion gesprochen werden.

Die Fragmente in kursiver Schrift, in denen Mario Benedetti vorkommt, könnten

auch unabhängig von den anderen Fragmenten gelesen werden, da sie einen

separaten Erzählstrang bilden. Durch die Gegenüberstellung von Benedettis

Geschichte und dem Schicksal von Santiago und seinen Angehörigen wird der

Leser zum Nachdenken angeregt. Beispielsweise darüber, dass viele Uru-

guayer ins Exil gingen, was großen Einfluss auf ihre Lebensgeschichten hatte.

Intellektuelle, wie Mario Benedetti, und politisch Andersdenkende, wie Santia-

gos Familie, hatten im Exil gleichermaßen Probleme.

15

4. A veinte años, Luz

Im folgenden Teil wird A veinte años, Luz unter verschiedenen Gesichtspunkten

untersucht, um die Besonderheiten des Romans herauszuarbeiten.

In A veinte años, Luz wird das dunkle Kapitel der Kindesentführungen durch

das Militär während der Diktatur in Argentinien behandelt. Luz entdeckt im Alter

von zwanzig Jahren ihre wahre Identität. Sie ist nicht die Tochter von Eduardo

und Mariana, der Tochter eines ranghohen Militärs. Kurz nach ihrer Geburt wur-

de ihre leibliche Mutter Liliana ermordet und sie in die Familie der Tochter des

Verantwortlichen des Gefängnisses, in dem Liliana interniert war, gegeben. In

drei Abschnitten (in den Jahren 1976, 1983 und 1995-1998), einem Prolog und

einem Epilog (beide 1998) wird ihre Geschichte erzählt. Die Handlung wird aus-

gehend von einem Treffen von Luz und ihrem leiblichen Vater Carlos in Madrid

begonnen.

4.1 Forschungsstand

Zu A veinte años, Luz gibt es (bisher) kaum wissenschaftliche Aufsätze, aber

mehrere Artikel in Zeitschriften und eine Radio-Sendung. Außerdem enthält die

Homepage von Elsa Osorio (www.elsaosorio.com) weiterführende Links und

Rezensionen zu ihren Büchern.

Wissenschaftlich darf der Aufsatz von Anita Cassese, erschienen in der Zeit-

schrift Hispanorama, genannt werden. Er stellt als zentrales Thema des Buches

die Identitätssuche fest. Mit vielen Textbeispielen und Belegen werden die drei

Teile des Romans beleuchtet und am Ende wird kritisch hinterfragt, an wen sich

das Buch eigentlich richten soll. Dabei wird die Interpretation des Titels kurz an-

gerissen.

Auf den möglichen biographischen Bezug zum Buch geht ein Focus-Artikel ein,

der Osorios Schwangerschaft 1976 erwähnt. Auch die Schwierigkeiten bei der

Verbreitung von A veinte años, Luz werden thematisiert.

16

In einer Radiosendung des Rundfunks Berlin-Brandenburg wird ebenfalls auf

die ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte von A veinte años, Luz eingegangen.

Die Sekundärliteratur zu A veinte años, Luz fällt etwas spärlich aus. Aus vielen

kleinen Quellen konnten einzelne Informationen gesammelt werden und die ein

oder andere Rezension zum Buch war ebenfalls hilfreich. Insgesamt muss eine

umfassende wissenschaftliche Behandlung des Romans aber noch geleistet

werden, da das Thema nicht unbeachtet an der Literaturwissenschaft der His-

panistik vorbeigehen sollte. Die Aspekte Sprache und Perspektiven in A veinte

años, Luz werden in dieser Arbeit deshalb hauptsächlich in einer eigenen Ana-

lyse untersucht.

4.2 Entstehung

A veinte años, Luz erschien 1998. Das Buch wurde in Spanien verfasst und

erstmals veröffentlicht. Somit handelt es sich um einen Roman, der lange nach

der Diktatur entstand und im Exil geschrieben wurde.

Dieses Buch gehört zur Erinnerungskultur Argentiniens, da es literarisch auf

den Aspekt der systematischen Kindesentführungen während der argenti-

nischen Militärdiktatur eingeht. Somit trägt es zur kulturellen Auseinander-

setzung mit der Militärdiktatur bei.

Betrachtet man den Roman in Bezug auf Fiktion, kann er als fiktionaler Erzähl-

text, der eine fiktive Geschichte fingiert faktual erzählt, eingeordnet werden (vgl.

Zipfel 2002: 168). Elsa Osorio meint zur Fiktion in ihrem Buch:

Creo que hay un momento en que, desde la ficción, se pueden encarar los hechos verdaderos para que el lector sienta en lo individual una historia que, sólo en términos externos, no es la suya: hacer que el lectorencarne qué pasa en la vida de alguien a quien día a día se le oculta la verdad. La ficción tiene este alcance y yo quiero que lo que ocurrió con estos chicos no se olvide. (Bagnera 1999).

In dem Zitat lässt sich die Motivation der Autorin, ihr Buch zu schreiben, ablesen.

Sie möchte nicht, dass das Schicksal der Kinder, die ihren Eltern geraubt wur-

17

den, vergessen wird. Elsa Osorio war 1976 selbst schwanger und es hätte sie ein

Schicksal wie das ihrer Figur Liliana Ortiz im Roman ereilen können. Gespräche

mit den Madres de Plaza de Mayo führten ihr die Notwendigkeit der Aufarbeitung

dieses dunklen Kapitels der argentinischen Geschichte vor Augen und sie ent-

schloss sich, ein Buch über das Thema des Kinderraubs zu schreiben. Dazu

wählte sie das spanische Exil, um mit genügend Abstand von Argentinien ihr

Schreibprojekt durchführen zu können (vgl. Korff 2000: 75). Gerade aus der

Perspektive eines dieser geraubten Kinder zu schreiben, entsprang der Absicht

der Autorin, den jungen Menschen eine Stimme zu geben, die beispielsweise

nicht von den Abuelas de Plaza de Mayo gesucht werden (vgl. Pohl 2001: 56).

4.3 Sprache

Die Sprache in A veinte años, Luz erweist sich auch hier als ein sinnvoller Un-

tersuchungsgegenstand, aus dem sich verschiedene Interpretationen ergeben.

Eine auffällige narrative Technik in A veinte años, Luz ist die Verwendung einer

„voz narrativa-omnipresente, que se dirige al personaje [d. h. Eduardo] en

segunda persona del singular“ (Cassese 2001: 16). Im zweiten Teil des Ro-

mans wird durch diese Erzähltechnik eine starke Empathie für Eduardo erzeugt,

der, als Luz sieben Jahre alt ist, endlich beginnt, nach Luz' Herkunft zu suchen.

In der zweiten Person werden Eduardos Gedanken und Gefühle wiedergege-

ben. Liebe und Zuneigung für Dolores (vgl. u. a. Osorio 1998: 262) und Luz

(vgl. u. a. ebenda: 276-277) und eine wachsende Abneigung gegen Mariana

(vgl. u. a. ebenda: 279-280) werden in diesen Passagen deutlich.

Elsa Osorio selbst meint zu den Erzähltechniken, die in A veinte años, Luz ver-

wendet werden, dass sie sich bewusst dafür entschieden hat, klar und deutlich

zu schreiben. Ihr war wichtig, dass ihre Geschichte bekannt würde und für je-

dermann verständlich sei (vgl. La Prensa 1999). Andererseits wird Kritik laut,

dass durch die vielen Argentinismos, die Sprache nur für in Argentinien Leben-

18

de verständlich sei. Beispiele sind die Ausdrücke „los rastis“ (Osorio 1998:

271)5, „Pilón, Pilón, qué grande sos“ (ebenda: 131)6 und „¡Miriam sola no más!“

(ebenda: 131)7. Außerdem werden teilweise Erläuterungen zu Abkürzungen in

Fußnoten gegeben (beispielsweise auf Seite 203: „PRT“ = Partido Revoluciona-

rio de los Trabajadores), die Abkürzung AAA8 wird aber nicht erklärt (vgl.

Cassese 2001: 17). So stellt sich die Frage, ob die Sprache, die stark argenti-

nisch geprägt ist, auch andere spanischsprechende Leser ansprechen soll,

oder nur die Argentinier. Elsa Osorio selbst hatte die Absicht, dass ihr Werk

eine möglichst weite Verbreitung findet und hat dieses Ziel auch erreicht. Ihr

Buch ist in Spanien, Deutschland, Frankreich, Italien und vielen weiteren Län-

dern erschienen (vgl. http://elsaosorio.com/Obras_publicadas.htm). Aus diesem

Grund können die sprachlichen Besonderheiten nicht als Ausschlusskriterium

für nicht-argentinische Leser angesehen werden. Sie vermitteln vielmehr den

regionalen und historischen Kontext und lassen das Werk authentisch wirken.

In Übersetzungen in andere Sprachen wird dieses regionale Kolorit nicht erhal-

ten bleiben können. Die Sprache ist eine Verbindung zu Elsa Osorios Heimat,

was auch an dem Kontrast zum spanischen Spanisch im Prolog deutlich wird:

-Soy yo -y esa <yo> sonó tanto a <io> que Luz se dijo que había sido una estúpida en ilusionarse así porque perfectamente podía haber un español que se llamara igual-. ¿Quién eres?<Eres> la convenció totalmente de que había sido un error (Osorio 1998: 9).

Dass sich allerdings statt mit dem „vos“ mit dem „tú“ an Eduardo gerichtet wird,

verwirrt. Für Eduardo, einen Argentinier, wäre die Verwendung des „vos“ ein-

leuchtender. Vielleicht liegt die Begründung darin, dass dieser innere Monolog

in der zweiten Person nicht nur zu Eduardo, sondern zu jedem spanischspra-

chigen Leser spricht und das „tú“ deshalb angebrachter erschien. Nicht nur den

Argentiniern, die diese Militärdiktatur erlebten, sondern allen, die in einer Dikta-

tur leben, soll bedeutet werden, dass es immer die Möglichkeit gibt, seine

Handlungen zu überdenken und zu versuchen, Fehler wieder gut zu machen.

5 „juguete de construcción“ (Cassese 2001: 16)6 „adapción del tema de la marcha peronista“ (Cassese 2001: 16)7 „adapción del tango Leguizamo“ (Cassese 2001: 16)8 AAA/Triple A = „Alianza Anticomunista Argentina“ (Straßner 2007: 75)

19

Die Militärs Dufau und Pitiotti werden einerseits privat als Alfonso und el Bestia

bezeichnet, gleichzeitig sind ihre Dienstbezeichnungen (teniente coronel, später

general Dufau und sargento, später sargento primero Pitiotti) wichtig, um dem

Leser ihren militärischen Rang deutlich zu machen. Diese Figuren, die sich in je

eine private und eine offizielle Bezeichnung spalten, können als Menschen mit

zwei Gesichtern interpretiert werden. Es wird klar, dass selbst die Verantwort-

lichen schlimmster Greueltaten und Folterer Emotionen besitzen und ein nor-

males Leben neben ihrem Beruf führen.

Der Titel A veinte años, Luz birgt ein Wortspiel, das die Übersetzer des Romans

vor Schwierigkeiten stellt, da sich die ambivalente Bedeutung so nicht überset-

zen lässt. Einerseits bezieht der Titel sich darauf, dass Luz zwanzig Jahre alt

ist, als sie hinter ihre wahre Identität kommt. Andererseits beinhaltet der Titel

die Aussage, dass mit zwanzig Jahren eine Art Erleuchtung kommen kann,

wenn man aus dem Schatten einer falschen Identität ins Licht der Wahrheit tritt.

Diese Bedeutung lässt es zu, das Buch nicht als eine isolierte Geschichte zu

betrachten, sondern als eine Aufforderung an alle, die zur Zeit des Erscheinens

des Romans zwanzig Jahre alt waren und Zweifel an ihrer Identität haben, sich

auf die Suche zu machen. Somit ist das Buch nicht nur als ein Teil argenti-

nischer Erinnerungskultur zu lesen, sondern besonders an die Generation der

mittlerweile Dreißigjährigen adressiert, die Zweifel über ihre Herkunft haben

(vgl. Cassese 2001: 17). Laut Elsa Osorio geben „die zuständigen Organisa-

tionen jungen Leuten [ihr] Buch, um sie zur Suche zu ermutigen“ (Pohl 2001:

56). Ihr „Buch soll[e] zeigen, dass auch der Weg der Wahrheit ein guter sein

kann“ (ebenda).

4.4 Perspektiven

Elsa Osorios Roman beschränkt sich nicht darauf, eine einzelne Sicht der Mili-

tärdiktatur in Argentinien darzustellen. Stattdessen werden mehrere und äu-

ßerst verschiedene Wahrnehmungen aufgezeigt.

Vor allem Frauen sind die starken, handlungstragenden Figuren inner-

20

halb eines Inventars, das als Fresko der zeitgenössischen bürgerlichen argentinischen Gesellschaft dient (Pohl 2001: 56).

Damit wird auf die Bedeutung des Kampfes von Frauen für Menschenrechte

aufmerksam gemacht und ihre Arbeit gewürdigt.

Außerdem gibt es sowohl Opfer- als auch Täterperspektiven. Die Perspektiven-

darstellung hängt stark mit den Erzählsituationen zusammen. Die Dufau-Familie

und el Bestia repräsentieren die Militärs und damit die Seite der Täter. El

Bestia, Alfonso, Amalia und Mariana sind keine Ich-Erzähler, sondern Figuren,

über die ein heterodiegetischer Erzähler spricht. Die Opferseite, die von Liliana,

Delia, Dolores und Carlos als Verschwundene, Angehörige und Exilierte vertre-

ten wird, wird ebenfalls von einem heterodiegetischen Erzähler beschrieben.

Anders verhält es sich bei den Figuren, die in der Mitte der Gesellschaft stehen

und keine radikalen politischen Ideologien verfechten: Miriam, Eduardo und Luz

werden von innen betrachtet und sind handlungstragend (vgl. Pohl 2001: 57).

Miriam erzählt als unpolitische Prostituierte aus der Ich-Perspektive von ihrem

Leben und ihrer Verstrickung in den Kinderraub durch das Militär. Ihre Wahr-

nehmung der Dinge als Ich-Erzählerin nimmt im ersten Teil den größten Platz

ein. Später taucht sie noch einmal als Ich-Erzählerin am Ende des dritten Teils

auf (siehe Osorio 1998: 479-484, 488-489, 499-501 und 504-505).

Im zweiten Teil ist Eduardos Suche nach Luz' Herkunft das zentrale Thema.

Durch die allgegenwärtige Erzählstimme9, die in der zweiten Person zu Eduardo

spricht, wird dem Leser Eduardos Innenleben vor Augen geführt und eine Iden-

tifikation mit ihm möglich gemacht.

Luz ist die wichtigste Erzählerin im dritten Teil. Sie tritt neben Miriam als zweite

Ich-Erzählerin auf. Durch die Wahl der Perspektive des geraubten Kindes

schafft Elsa Osorio sich die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die jemand anderes

als Luz nicht hätte stellen können. Luz wirft ihrem Vater, der ein Opfer der Dik-

9 Übersetzung der Verfasserin von „voz narrativa-omnipresente“ (Cassese 2001: 16)

21

tatur war, vor, dass er und Liliana sich in so einer gefährlichen Zeit dafür ent-

schieden, ein Kind zu bekommen und es somit der Gefahr aussetzten, ihren El-

tern weggenommen zu werden (vgl. Bagnera 1999). Den Dialog zwischen Luz

und ihrem Vater Carlos über das ganze Buch hinweg in kursiver Schrift fortlau-

fen zu lassen, hält beim Leser das Thema der Identitätssuche wach, das den

anderen Nebenhandlungen, wie Miriams Lebensgeschichte oder der Liebesge-

schichte von Eduardo und Dolores, übergeordnet ist.

Durch diese vielen verschiedenen Perspektiven gelingt es Elsa Osorio, ein

möglichst breit gefächertes Bild der argentinischen Gesellschaft unter der Mili-

tärdiktatur zu erstellen. Die Figuren haben Schattierungen und sind nicht in ei-

ner einfachen Schwarz-Weiß-Malerei unterzubringen.

4.5 Rezeptionsgeschichte

Eine neuere Disziplin in der Literaturwissenschaft ist die Rezeptionsästhetik.

Der Fokus liegt hier auf dem Leser, da „das Arrangement [eines] literarische[n]

Texte[s]“ (Haefner 2004: 107) seine Rezeption durch die Leser stark beein-

flusst, aber nicht festschreiben kann (vgl. ebenda). Außerdem ist die Rezeption

einem historischen Wandel unterworfen und an die eigene Situation des Le-

senden gebunden (vgl. ebenda: 109). Die Rezeptionsgeschichte von A veinte

años, Luz ist für die Interpretation des Werkes interessant, weil die Reaktionen

auf das Werk so unterschiedlich ausfielen.

A veinte años, Luz ist Elsa Osorios sechster Roman. Obwohl sie schon mehre-

re Romane in Argentinien veröffentlicht hatte und den Premio Nacional de Lite-

ratura erhalten hatte, wollte keiner ihrer argentinischen Verleger A veinte años,

Luz publizieren (vgl. Schumann 2004: 11). Die erste Auflage erschien deshalb

in Spanien. Dort hatte ihr Werk großen Erfolg. Später erreichte Elsa Osorio über

einen mexikanischen Verleger die Publikation in Argentinien mit „einer beacht-

lichen Auflage von 8.000 Exemplaren“ (Schumann 2004: 12). Der Roman fand

allerdings nie eine 'normale' Verbreitung in Argentinien. Elsa Osorio meint, dass

22

es „eine ganze Reihe von Leuten [gab], die das Buch boykottiert[en]“ (Schu-

mann 2004: 12). In vielen Buchhandlungen lag es unter dem Ladentisch und

stand nicht offen sichtbar in den Regalen. Trotzdem erlangte es einen relativ

großen Bekanntheitsgrad, weil die Menschen sich gegenseitig darüber aus-

tauschten (vgl. ebenda).

23

5. Vergleich

Die ausgewählten Romane werden im Folgenden in Bezug auf die Art der litera-

rischen Aneignung der Militärdiktaturen verglichen. Auf formaler und auf inhalt-

licher Ebene werden Ähnlichkeiten und Unterschiede gesammelt und analysiert.

Diese Einordnung sorgte bei einigen Aspekten für Schwierigkeiten, da es oft

Überschneidungen von Formalem und Inhaltlichem gibt.

Die Grundlage des literarischen Stoffes ist bei Benedetti der gegenwärtige poli-

tische Zustand Uruguays, während Osorio die junge Vergangenheit Argenti-

niens verarbeitet. Hieraus ergibt sich ein jeweils anderer Ausgangspunkt bezo-

gen auf die zeitliche und die räumliche Dimension der Romaninhalte. Dieser

grundsätzliche Unterschied der beiden Romane muss im Hinterkopf behalten

werden.

5.1 Ähnlichkeiten

Beiden Autoren geht es darum, dass die Zeit der Militärdiktatur und der darunter

begangenen Verbrechen nicht in Vergessen gerät. Dies erreichen sie auf der

formalen und der inhaltlichen Ebene in Teilen auf ähnliche Weise.

5.1.1 Formale Ähnlichkeiten

Beide Romane haben mehrere homodiegetische Erzähler und je einen hetero-

diegetischen Erzähler.

These: Die Verwendung von mehreren Erzählern dient in beiden Romanen

dazu, verschiedene Wahrnehmungen der Militärdiktatur aufzuzeigen.

Aus dieser formalen Ähnlichkeit lässt sich schließen, dass Benedetti und Osorio

ein ähnliches Ziel mit ihren Romanen verfolgen. Nicht ein einzelnes und eindeu-

tiges Urteil über die Militärdiktatur, sondern mehrere Stimmen sollen vermittelt

werden. Michael Bachtin verwendet für dieses Phänomen den Begriff der Poly-

phonie: Eine Idee wird durch mehrere eigenständige Stimmen konturiert (vgl.

Schmidt 2006: 121). Die Idee, die von verschiedenen Stimmen beleuchtet wird,

ist in diesem Fall die Militärdiktatur. Die Figuren entwerfen ihre Meinungen da-

24

rüber, die meistens nicht übereinstimmen.

Diese Darstellungsart bietet ein facettenreiches, vielseitigeres Bild der Militär-

diktatur als es Romane tun, die nur von einer Person erzählt werden. Genauso-

wenig könnte dies eine allwissende Erzählinstanz leisten. Sie würde von oben

herab urteilen müssen. Die Erzähler von Primavera con una esquina rota und A

veinte años, Luz stellen sich nicht über das Geschehen und der Leser bekommt

verschiedene Erzählermeinungen mitgeteilt.

These: In beiden Romanen stellt die Sprache eine zentrale Verbindung zur

Heimat dar und schafft Identifikation .

In Primavera con una esquina rota wird die Heimat zum großen Teil durch die

Reflexion der Figuren über Sprache dargestellt. Rolando denkt an uruguayische

Frauen, weil er mit ihnen nicht so viele Worte nötig hat, wie mit anderen Frauen.

Auch Benedetti erfährt Heimat am deutlichsten über Sprache, wenn er von den

uruguayischen Kindern im kubanischen Exil spricht. Beatriz macht den Unter-

schied zwischen Heimat und Exil schlicht an den Worten cabayos und cabaios

fest (Benedetti 1982: 84).

In A veinte años, Luz spielt die Sprache eine ebenso wichtige Rolle. Hier ist ihre

Verwendung interessant, weil die Sprache der Figuren ihre Identität betont. Das

wird besonders an der Ausdrucksweise von El Bestia deutlich. Seine Sprache

möglichst original zu gestalten, bedeutete für die Autorin, sich in verschiedenen

Dokumenten zu informieren, welche Ausdrücke die Militärs beispielsweise für

die geheimen Haftzentren verwendeten (Gandara 1999).

[...] el clima y la ambientación perfecta del libro de Osorio están logradospor un conocimiento exacto de las jergas y actitudes de los represores y sobre las situaciones que viven (Testori 1999).

Allgemein ist die Sprache in Elsa Osorios Roman stark argentinisch geprägt.

Der regionale Kontext ist demnach nicht unwichtig.

Bei diesem Punkt stellt sich die allgemeine Frage, ob in der südamerikanischen

Literatur über die Militärdiktaturen die sprachlichen Besonderheiten der Region

oder des jeweiligen Landes eine so wichtige Rolle spielen, dass ihr Adressaten-

25

kreis auf diese Region begrenzt ist. Da A veinte años, Luz beispielsweise auch

in Spanien eine große Leserschaft fand, wäre dem zu widersprechen. Die volle

Ausdruckskraft wird sich zwar nur mit dem nötigen Hintergrundwissen beim Le-

ser entfalten können, trotz allem ist die literarische Aufarbeitung der Militärdikta-

turen auch etwa für den deutschen Leser von Interesse.

5.1.2 Inhaltliche Ähnlichkeiten

Das übergeordnete Thema ist in beiden untersuchten Romanen die Militär-

diktatur . Welche inhaltlichen Überschneidungen es bei der literarischen Aus-

einandersetzung mit ihr gab, soll hier deutlich werden.

These: Die Gewaltdarstellung ist bei Primavera con una esquina rota und A

veinte años, Luz eher implizit.

Gewalt kommt bei Primavera con una esquina rota nur in Erzählungen der Fi-

guren, also auf der hypodiegetischen Ebene vor, sodass eine gewisse Distanz

geschaffen wird.

Rafael hofft, dass die Gefangenschaft und die Folter Santiago nicht um den

Verstand bringen. Er versucht sich in seinen Sohn hineinzuversetzen und be-

schreibt die Todesangst von Gefangenen:

[...] a veces me imagino que a Santiago le están aplicando la picana en los testículos y en ese mismo instante siento un dolor real (no imagi-nario) en mis testículos. O si pienso que le están aplicando el submarino,literalmente me ahogo yo también (Benedetti 1982: 51)

[...] se me ocurre (a mí que nunca pasé por ese riesgo) que no debe ser fácil, [...] uno [...] está solo con su capucha, [...] su asfixia o su angustia sin fin (Benedetti 1982: 95)

Außerdem ergäben sich aus der Folter nicht nur Folgen für den Gefangenen

selbst, sondern auch für seine Angehörigen:

Cuando suplician a un hombre, lo maten o no, martirizan también (aun-que no los encierren, aunque los dejen desamparados y atónitos en su casa violada) a su mujer, sus padres, sus hijos, su vida de relación (Benedetti 1982: 95-96).

In A veinte años, Luz kommt Folter ebenfalls kaum vor. Es kann aber festgehalten

26

werden, dass auf ein paar Seiten des Romans Folter explizit beschrieben wird:

Apenas llegó la prisionera, se la entregaron, y [...] la golpeó con fuerza porque se negaba a desvestirse. Y ellos la ataron de pies y manos a la camilla (Osorio 1998: 179).

Aus Sicht von El Bestia wird distanziert beschrieben, wie das Foltern mit la pi-

cana – einem elektrischen Knüppel am besten funktioniert:

Si bien había explicado varias veces (el sargento Pitiotti era considerado un experto) que lo mejor era aplicar la picana a los músculos largos, los del antebrazo, los de las piernas primero (llegar al umbral del dolor, pero no traspasarlo porque después se insensibiliza y ya no habla), esa tarde pareció olvidar tanta ciencia y pasó rápidamente de las piernas a la vagina (Osorio 1998: 179)

Demnach ging es beiden Autoren nicht darum, Gewalt detailliert darzustellen.

Diese wird nur zwischen den Zeilen oder wie bei Osorio nur an einzelnen Stel-

len deutlich. Gewalt nur implizit zu erwähnen, gibt dem Leser von Primavera

con una esquina rota eine bessere Vorstellung von den Lebensumständen zur

Zeit der Diktatur. Der Kontakt von Gefangenen nach außen war nur unter Zen-

sur möglich. Die Gefangenen konnten nicht offen und nicht über alle Themen

schreiben, sondern unterzogen sich zu ihrem Schutz einer Selbstzensur:

escribimos cartas, considerando simultáneamente al destinatario y al censor, o proyectos de cartas donde por costumbre seguimos autocen-surándonos (Benedetti 1982: 79)

Elsa Osorio sagt, dass sie auf Gewaltdarstellungen weitestgehend verzichtet

hat, um nicht in eine Schauergeschichte zu verfallen. Außerdem hält sie es für

ausreichend, den Schmerz der Opfer darzustellen (vgl. La voz del pueblo

1999).

Dass größenteils auf Gewaltdarstellungen verzichtet wird, ließe sich so interpre-

tieren, dass andere Aspekte, wie die Themen Exil und Kinderraub, in den Vor-

dergrund gerückt werden sollen. Möglicherweise würde eine ausführliche Be-

schreibung von Gewalt dazu führen, dass die Romane von den Lesern darauf

reduziert würden. Weder Benedetti noch Osorio skandalisieren die Umstände

zur Zeit der Militärdiktatur und sind deshalb in diesem Punkt nicht angreifbar,

weil ihnen keine Gewaltverherrlichung vorgeworfen werden kann. Gäbe es

27

mehr Szenen, in denen die Gedanken von Folterknechten, wie el Bestia ge-

schildert würden, bestünde die Gefahr, dass diese Szenen Gewalt implizit als

etwas Positives darstellen könnten.

5.2 Unterschiede

Die Romane haben unterschiedliche Aussagen und Sinnintentionen.

5.2.1 Formale Unterschiede

In der von Schlickers (2008: 121) vorgeschlagenen Einteilung würde der Ro-

man Primavera con una esquina rota unter die Kategorie der im Exil entstan-

denen „Literatura de proceso“ fallen. A veinte años, Luz dagegen gehört zur

„Postdiktatur-Literatur“ , wurde aber ebenfalls im Exil verfasst.

These: Beispielhaft für die meisten Romane, die die Militärdiktaturen in Süda-

merika behandeln, sind auch die in dieser Arbeit untersuchten Romane im Exil

entstanden.

Die Gründe hierfür sind leicht zu bestimmen. Bei Primavera con una esquina

rota wird aus dem Roman selbst und aus Mario Benedettis Biographie deutlich,

dass es während der Diktatur für Benedetti sehr gefährlich gewesen wäre, in

seinem Land zu verbleiben. Bei A veinte años, Luz lässt sich aus der Rezep-

tionsgeschichte ablesen, dass eine öffentliche Diskussion über das Thema der

Kindesentführungen unter der Diktatur von vielen Seiten nicht erwünscht war.

Um genügend Distanz zu Argentinien zu haben (vgl. Korff 2000: 75), aber auch

aus persönlichen Gründen ging Elsa Osorio ins spanische Exil, um ihren Ro-

man zu verfassen (vgl. La voz del pueblo 1999).

Primavera con una esquina rota und A veinte años, Luz beachten beide die

chronologische Reihenfolge des Erzählten. Die Geschichte von Santiago und

seinen Angehörigen wird im Präsenz erzählt, die von Benedetti in der Vergan-

genheit. Es sind zwei Erzählströme, die chronologisch, aber getrennt voneinan-

der ablaufen. Der Ausgangspunkt von Luz' Identitätssuche ist die Gegenwart

von 1998, dann beginnt ein Rückblick, der über die drei Teile des Buches in drei

28

chronologisch aufeinanderfolgende Abschnitte geteilt ist und wieder mit dem

Jahr 1998 abschließt.

These: In dieser unterschiedlichen Struktur spiegeln sich auch die unter-

schiedlichen Ausgangspunkte der beiden Romane wider.

Mario Benedetti hat nicht die Möglichkeit, die Osorio hat, aus der Rückschau zu

berichten. Deshalb wählt er eine Geschichte, die mit der Gefangenschaft und

dem Exil beginnt und offen endet und stellt ihr seine persönlichen Rückblicke

auf einzelne Episoden seines Lebens gegenüber. Das schafft ihm die Möglich-

keit, zu kommentieren und zu analysieren. Als A veinte años, Luz geschrieben

wurde, war die Diktatur schon fünfzehn Jahre vorbei und somit eine gewisse

Distanz zu den damaligen Ereignissen entstanden. Aus der Gegenwart heraus

auf die Diktatur zurückzublicken und den Rückblick bis in die Gegenwart fortzu-

führen, betont die Aktualität, die das Thema immer noch hat. Somit ist A veinte

años, Luz nicht nur ein historischer, sondern auch ein politischer Roman.

These: Mario Benedetti verarbeitet eigene Exilerfahrungen (betroffen ), wäh-

rend sich Elsa Osorio eines Themas annimmt, zu dem sie keine persönlichen

Verbindungen hat (distanziert ).

Dies verdeutlicht, dass es für Elsa Osorio wesentlich einfacher gewesen sein

muss, aus einer gewissen Distanz auf die Diktatur in ihrem Land zu blicken, als

es für Mario Benedetti war, der auch darüber berichtet, was ihm am eigenen

Leib geschehen ist.

Grob betrachtet stellt es eine formale Ähnlichkeit dar, dass beide Romane meh-

rere Erzähler aufweisen. Schaut man jedoch genauer hin, werden unterschied-

liche Perspektiven deutlich.

These: Während Benedetti sich auf die Darstellung einer gesellschaftlichen

Gruppe (Exilanten) beschränkt, versucht Osorio ein breit gefächertes Bild der

Gesellschaft darzustellen.

Bei Benedetti wird die Situation des inneren und des äußeren Exils, über drei

Generationen verteilt, in der Fiktion sowie in Teilstücken einer Autobiographie

29

dargestellt. Es gibt vier homodiegetische intern fokalisierte Erzähler, die die drei

Generationen (Rafael = Großvater, Santiago = Vater, Beatriz = Tochter), das in-

nere (Santiago) und das äußere Exil (Rafael, Beatriz, Benedetti) und autobio-

graphische Fragmente Benedettis repräsentieren. Diese Perspektiven sind nicht

völlig einseitig, dennoch ist es nur die eine, wenn auch heterogene, gesell-

schaftliche Gruppe der Exilanten, die in Benedettis Roman Erwähnung findet.

Bei Osorio dagegen gibt es verschiedenste Gesellschaftsschichten, die reprä-

sentiert werden. Es reicht von Opferperspektiven zu Täterperspektiven. Mariana

ist in gewissem Maß auch Täterin, obwohl sie nicht direkt an Verbrechen mit-

wirkt und die ersten sieben Jahre nicht weiß, dass Luz nicht ihre Tochter ist. Als

sie es jedoch erfährt, sieht sie nichts Falsches in dem Verbrechen, einer Mutter

ihr Kind wegzunehmen und heißt die Vorgehensweise ihres Vaters gut. Die Ver-

drängung des Verlustes ihres leiblichen Kindes und dass sie Luz nicht verlieren

will, können Ursachen dafür sein. Außerdem will Mariana keine Schuld auf ihre

Familie kommen lassen, schließlich wurde sie in dieser Militärfamilie sozialisiert.

Außerdem gibt es Sichtweisen, die sich keiner der beiden verfeindeten Seiten

zuordnen lassen. Besonders diese Menschen, die ein normales Leben in der

Gesellschaft führen, sind Elsa Osorio wichtig. Die Prostituierte Miriam, Eduardo

und Luz stehen für diese mittlere Perspektive und gleichzeitig für eine breite

Masse in der argentinischen Bevölkerung (vgl. Pohl 2001: 57).

Hinsichtlich der Fokalisierung ist es interessant, dass die Opfer und Täter eher

von außen dargestellt werden, während von Miriam, Eduardo und Luz eine In-

nensicht gegeben wird. Außerdem betrachten diese drei Figuren die Opfer und

Täter jeweils subjektiv, was dem Leser auch genügend Eindrücke der anderen

Figuren verschafft.

Das Handlungskonzept der Figuren von Primavera con una esquina rota und

von A veinte años, Luz ist völlig verschieden.

These: In Primavera con una esquina rota spielen politische Ideen und Ideolo-

gien eine Rolle, während sich die Handlungsmotive der Figuren in A veinte

años, Luz als emotional und zutiefst menschlich darstellen.

30

Während Elsa Osorio politische Ideologien außen vorlässt, werden die poli-

tischen Einstellungen der Figuren und Mario Benedettis in Primavera con una

esquina rota erkennbar. Zwar fällt das Wort Tupamaros nicht im Roman, es ist

aber anzunehmen, dass Santiago zu ihnen gehört. Auch die Begeisterung Be-

nedettis für die kubanische Revolution, seiner politischen Wahlheimat (vgl. Pao-

letti 1995: 202), wird ersichtlich. Trotzdem ist der Ton des Erzählten bei Bene-

detti nicht so stürmisch wie bei Elsa Osorio. Bei der Autorin bewegt die Liebe

die Menschen zur Suche nach der Wahrheit. Miriam liebt Lili, wie sie Luz nennt,

und Liliana ist ihr die erste richtige Freundin geworden, obwohl ihre Lebens-

welten andere sind. Aus diesen Gefühlen heraus beginnt Miriam für Luz zu

kämpfen, indem sie versucht, sie zu entführen und ihr die Wahrheit über ihre El-

tern mitzuteilen. Dolores wiederzusehen und seine Liebe für sie neu zu entde-

cken, entfacht in Eduardo die Kraft, einen Konflikt mit Alfonso zu provozieren

und nach Luz' Herkunft zu fragen und zu suchen. Durch die Liebe zu Ramiro

und Juans Geburt beginnt Luz mit ihren Nachforschungen.

Hier lässt sich erkennen, dass die beiden Romane in unterschiedlichen Er-

zähltraditionen stehen. Bei Primavera con una esquina rota stehen die poli-

tischen Einstellungen, bei A veinte años, Luz die Emotionen im Vordergrund.

5.2.2 Inhaltliche Unterschiede

Auch wenn der thematische Rahmen für beide Bücher die Militärdiktaturen in

Südamerika sind, so unterscheiden sich die speziell behandelten Themen .

Während in Primavera con una esquina rota das Thema des Exils im Mittel-

punkt steht, behandelt A veinte años, Luz das Thema des Kinderraubs und der

Identitätssuche.

Ebenso wie die spezifischen Themen unterscheiden sich auch die Aussagen

der beiden Romane. Primavera con una esquina rota bietet uns heute einen

Einblick in die damalige Situation und kann als Frage nach der Zukunft des

Landes Uruguay verstanden werden. Außerdem wird durch Santiagos Worte in

seinem vorletzten Monolog (vgl. Benedetti 1982: 193-209) versucht, Hoffnung

31

zu vermitteln. Der Titel versinnbildlicht diese Hoffnung mit dem Frühling der

über die abgebrochene Ecke – die Diktatur – hinweghilft. Die Diktatur hat Uru-

guay gebrandmarkt, aber unter ihrem Schatten ist das Land, das vorher war

und das sich jetzt neu schaffen muss, noch zu erkennen. Santiagos Worte auf

dem Flug zu seiner Familie unterstreichen nochmals die hoffnungsvolle Aussa-

ge des Buches:

no importa en qué estado calamitoso esté pero yo quiero recuperar mi primavera / ellos la taparon con hojas secas [...] pero lo que ignoran es que bajo esas capas de mierda siguien estando la vieja y la nueva primavera (Benedetti 1982: 198-199)

A veinte años, Luz entwirft einen ganz anderen Blickwinkel. Es wird eine ent-

scheidende Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart in Argentinien auf-

gezeigt. Die Auswirkungen der Diktatur sind noch heute spürbar. So erklärt sich

auch die ungewöhnliche Rezeption des Romans und die ablehnende Haltung

von argentinischen Verlegern und Buchhändlern. Das Buch ruft zur öffentlichen

Diskussion über das Thema Kinderraub auf und versucht Menschen zu ermuti-

gen, sich auf die Suche nach ihrer Identität zu machen. Außerdem sorgt(e) es

für Aufregung in der argentinischen Gesellschaft, wie Elsa Osorio erläutert:

Eine Frau wie Miriam, ohne große Bildung oder Kultur, [durchschaut die Dinge] und handelt, und jede(r) Leser(in) muss sich fragen: Warum hast du nichts gemerkt? (Pohl 2001: 57)

Primavera con una esquina rota und A veinte años, Luz sind aufgrund ihrer un-

terschiedlichen Entstehungszeit verständlicherweise nicht mit einer ähnlichen

Aussage versehen. Allerdings lässt sich an ihnen beispielhaft eine Entwicklung

des literarischen Umgangs mit den Militärdiktaturen feststellen. 1982 zeich-

nete sich das Ende der Diktatur(en) schon ab, aber eine Prognose für die Zu-

kunft konnte nicht getroffen werden. Aus Sicht der 90er Jahre oder auch der

heutigen Zeit kann die Militärdiktatur anders dargestellt werden als noch in den

80er Jahren. Die Distanz zum damaligen Geschehenen von A veinte años, Luz

kann Primavera con una esquina rota noch nicht besitzen. Bei Erscheinen von

Benedettis Roman ist die Militärdiktatur noch im Gange und aus diesem Grund

werden die politischen Fronten relativ deutlich. Es entspannte sich ein breiter

32

Diskurs, der einerseits Texte von Tätern enthielt, andererseits Berichte von

Opfern über ihre persönliche Leidensgeschichte. Elsa Osorio meint, „die

Gegenüberstellung vom Folterer und dem Militanten [sei] ein mehr oder weniger

bekanntes Thema“ (Pohl 2001: 57). Nach dem sich dieses Thema abgenutzt

hat, kann ein neuer Trend ausgemacht werden. Der damalige Konflikt von

militanten Guerrillas und dem Militär ist nicht mehr aktuell, dennoch bleiben die

Nachwirkungen der Diktatur bestehen. Um das Thema neu zu beleben, entwirft

Elsa Osorio einen spannungsgeladenen Roman voller Emotionen, der oftmals

mit einem Kriminalroman verglichen wird.

La novela [...] es un thriller de suspenso casi policial que resulta imposi-ble abandonar (Maruja Torres, zitiert nach DyN 2000).

Neue Perspektiven und Themen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung

nicht vorkommen, werden bearbeitet (vgl. Schlickers 2008: 124). A veinte años,

Luz lässt sich der subjektiven Welle von Erzählungen über die Diktatur zuord-

nen. Der Roman nimmt sich kritisch und distanziert der argentinischen Vergan-

genheit und Gegenwart an. Nunca más, die Ley de Punto Final und die Ley de

Obediencia Debida werden erwähnt. Dies sind für Argentinien drei wichtige

Eckpunkte des Umgangs mit der Vergangenheit. Luz verschlingt die Berichte

der Opfer, die in Nunca más aufgezeichnet wurden. Sie ist erschüttert über die-

se Erkenntnisse, die sie vorher nicht hatte. Dies widerspricht Beatriz Sarlos An-

nahme einer wenig selbstkritischen Verarbeitung der Diktatur in Argentinien.

Bei der Wahl der Protagonisten ist interessant zu beobachten, dass in A

veinte años, Luz meistens Frauen entscheidende Rollen spielen. Die Identifika-

tion mit Miriam und Luz ist über große Teile des Romans gegeben. Elsa Osorio

betont, dass es in Argentinien Frauen - wie die Mütter und Großmütter der Pla-

za de Mayo - waren, die während der Militärdiktatur Widerstand leisteten. Des-

halb sei es kein Zufall, dass sie in ihrem Buch viele weibliche Charaktere auftre-

ten lässt (vgl. Mallo 1998). Die einzige männliche Figur, über dessen Innenle-

ben der Leser etwas erfährt, ist Eduardo.

Bei Primavera con una esquina rota ist es schwieriger sich auf wenige Protago-

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nisten festzulegen. Sicher nimmt Santiago eine besondere Rolle ein. Dennoch

sind alle anderen Figuren und Mario Benedetti ebenfalls wichtig.

5.3 Vergleich im Überblick

Die folgende Tabelle weist in aller Kürze alle zuvor behandelten Vergleichs-

punkte aus und ordnet ihnen die Entsprechungen in den beiden Romanen zu.

Vergleichspunkt Primavera con unaesquina rota

A veinte años, Luz

Formale Ähnlichkeiten

mehrere Erzähler Benedetti, Santiago, Rafael,Beatriz, heterod. Erzähler

Miriam, Eduardo (tú),Luz, heterod. Erzähler

Heimat & Identität über Sprache dargestellt über Sprache dargestellt

Inhaltliche Ähnlichkeiten

übergeordnetes Thema Militärdiktatur Militärdiktatur

Gewaltdarstellung eher implizit eher implizit

Formale Unterschiede

Einteilung (Schlickers) Exil, literatura de proceso Exil, Post-Diktatur-Literatur

Erzählstruktur damalige Gegenwart +Ungewissheit über Zukunft

Rückblick + Distanz

Perspektiven Gruppe (inneres &äußeres Exil, Benedetti)+ betroffen

Gesellschaft(Täter, Opfer, Mitte)+ distanziert

Handlungskonzept (Figuren) politisch, Ideen menschlich, Emotionen

Erzählweise ruhig stürmisch

Inhaltliche Unterschiede

spezifisches Thema &Sinnintention

Exil; Allegorie Identitätssuche;Diskussion anregen

Protagonisten heterogen, gleichgewichtet zwei Frauen, ein Mann

34

6. Fazit

Welches Verständnis der Militärdiktaturen die Autoren vermitteln möchten, soll

an dieser Stelle auf den Punkt gebracht werden.

Mario Benedettis Roman gewährt einen guten Einblick in die neuen Erzähl-

techniken der 80er Jahre, die Spiller (2002: 469) erwähnt. Fragmentiert und po-

lyphon werden traditionelle Erzählstile virtuos eingesetzt. Obwohl Benedetti exi-

liert war, gibt sein Roman in verschlüsselter Weise und nur zwischen den Zeilen

(wie in Santiagos Briefen) seine Botschaft an den Leser weiter. Die Allegorie

mithilfe derer sich das Schicksal einer Familie auf die Geschichte eines Landes

übertragen lässt, steht im Mittelpunkt von Primavera con una esquina rota. In

einer poetischen ruhigen Sprache, aber auch mit etwas Humor wird die Unge-

wissheit über die Zukunft der uruguayischen Gesellschaft für den Leser nach-

vollziehbar. Das Gefühl der Hoffnung und eine positiv gesinnte Aufbruchstim-

mung sind besonders am Ende des Romans zu spüren. Hierin manifestiert sich

ein Ausdruck der damaligen Stimmung und Situation der uruguayischen Bevöl-

kerung oder zumindest der Exil-Uruguayer.

Elsa Osorios Roman lässt sich dem von Beatriz Sarlo (2005: 49-50) ge-

schilderten Trend subjektiver Erzähltexte zuordnen. Mit A veinte años, Luz wer-

den neue Impulse zum Nachdenken gegeben und zur Diskussion über die ar-

gentinische Gesellschaft und ihre jüngste Geschichte angeregt. Aber auch au-

ßerhalb Argentiniens wird dem Buch Aufmerksamkeit geschenkt, da auch Men-

schen anderer Länder durch Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung der eigenen

Vergangenheit für das Thema sensibilisiert sind. Ohne politische Handlungen in

den Vordergrund zu stellen, sondern mit einer spannenden Sprache voller Emo-

tionen wird Erinnerungskultur gestaltet. Handlungen, die aus rein menschlichen

Motiven geschehen, sollen das Thema für möglichst viele Leser zugänglich ma-

chen. Der escritura femenina verbunden, verweist A veinte años, Luz mit seinen

vielen Frauenfiguren auf die zentrale Rolle von Frauengruppen wie den Madres

und Abuelas de Plaza de Mayo.

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Der Roman legt es sehr wohl darauf an, verständlich zu machen, was damals

geschah und fordert kein blindes Erinnern. Damit wäre Beatriz Sarlos Forde-

rung nachgekommen, ein Begreifen zu fördern und etwas mehr Analyse als nur

Meinungen über die Militärdiktatur zu produzieren. Das Bild, das von der Militär-

diktatur bisher vorherrschte, war eventuell sehr einseitig und soll mit diesem

Roman überdacht und differenzierter werden.

Beim Vergleich der beiden Romane wurden besonders viele formale Unter-

schiede deutlich. Für die literaturwissenschaftliche Untersuchung helfen die for-

malen Charakteristika sehr, um unterschiedliche Erzählweisen festzumachen.

Mario Benedettis Erzähltechniken in Primavera con una esquina rota sind sehr

ausgefeilt, der Roman ist in Fragmente gegliedert und verwendet teilweise eine

lyrische Sprache. Elsa Osorio glänzt dagegen mit ihrer einfachen Sprache, die

distanziert ist und gerade deshalb mehrere Perspektiven aufzeigen kann, ohne

an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Es wäre zu vermuten, dass Primavera con una

esquina rota sich eher an ein intellektuelles Publikum richtet, während A veinte

años, Luz für eine breite Masse an Lesern geschrieben wurde.

Als ein Ergebnis dieser Arbeit lässt sich ein Trend in der Literatur über die Mili-

tärdiktaturen feststellen, der auch von Spillers literaturgeschichtlicher Analyse

gestützt wird. Er reicht von politisch motivierter Literatur der 80er Jahre über

Texte von Militärs, die sich ihrer Verbrechen rühmen und Texte von Opfern, die

ihr persönliches Leid und Schicksal schildern bis hin zu verschiedensten sub-

jektiven Perspektiven auf die Diktatur.

Des weiteren ergibt sich aus dieser Arbeit ein Widerspruch zu Beatriz Sarlos

Annahme einer wenig selbstkritischen Aneignung der Militärdiktaturen. In A

veinte años, Luz wird sehr wohl eine Kritik einerseits am Regime der Militärs

und andererseits an der gesellschaftlichen Aufarbeitung dieses geschichtlichen

Kapitels Argentiniens deutlich. Die Erwähnung vergangenheitsverdrängender

Gesetze und die Beschäftigung von Luz mit Nunca más soll dem Leser begreif-

36

lich machen, dass es besser ist, die Wahrheit zu kennen, auch wenn es schwer

fällt. Es wird außerdem aufgezeigt, dass Gesetze für das Vergessen und Verge-

ben ohne Gerechtigkeit, Wunden nicht heilen können, sondern nur zu einer grö-

ßeren Kluft in der Gesellschaft führen.

Wie die literarische Aneignung der Militärdiktaturen – beispielsweise in einer

neuen Auflage der Lateinamerikanischen Literaturgeschichte von Michael Röss-

ner – weiter diskutiert wird, bleibt abzuwarten. Werden die Militärdiktaturen

auch in Zukunft ein Thema der Literatur im Cono Sur bleiben? Da es noch viele

Menschen gibt, die diese Epoche persönlich erlebt haben und dieses Thema in

Teilen der Gesellschaft noch tabuisiert wird, ist sicher damit zu rechnen, dass

es weiterhin Aktualität behält.

37

7. Literaturverzeichnis

7.1 Primärliteratur

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