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Verstoß gegen gute wissenschaftliche Praxis Die Mär vom Wasser mit Gedächtnis PAUL R ADEMACHER Ordensleute befand. In ihren medizinischen Schriften be- schrieb die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) nicht nur zahlreiche Heilkräuter, sondern stellte auch die Heilkraft der Edelsteine, der Tiere und Metalle dar. Sie brach- te das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit dem der Volksmedizin zusammen und be- nutzte erstmals die volkstümlichen Pflan- zennamen. Vor allem aber entwickelte sie eigene Ansichten über die Entstehung von Krankheiten, Körperlichkeit und Sexuali- tät. Durch die Klostermedizin wurde die Meditation Teil der europäischen Heilkun- de (Abbildung 1). Auch die Psychosomatik ist also Teil der TEM. Neben den heilkundigen Ordensleuten und den weisen Frauen gab es auch wis- senschaftlich ausgerichtete Ärzte. Berühmt war die medizinische Schule von Salerno (Schola Medica Salernitana) in Süditalien, die vom 10. bis 13. Jahrhundert ihre Blü- tezeit erlebte und auch Frauen zu Ärztin- nen ausbildete. Sie stand in der Tradition des griechischen Arztes Galenos von Per- gamon (deutsch: Galen, lateinisch: Claris- simus Galenus, um 129–um 216) und der Klostermedizin der Benediktiner. In Saler- no wurden auch die arabischen Elemente der europäischen Heilkunde sichtbar. Zu den Förderern der Schule gehörten die Landesherren Roger II. (1095–1154, seit 1130 König von Sizilien) und der Staufer- kaiser Friedrich II. (1194–1250, ab 1198 Wie spektakulär darf (oder muss?) ein Forschungsergebnis sein, das aller naturwissenschaftlichen Erfahrung widerspricht, um auch gegen das Urteil der Fachgutachter in einem der angesehensten Wissenschaftsjournale publiziert und damit wissenschaftlich aufgewertet zu werden? So geschehen in einem Fall, in dem es um extrem verdünnte Lösungen von Antikörpern ging, deren Wirkung durch das „Gedächtnis“ des Lösemittels erklärt wurde. Ein Fall, der pathologische Züge des modernen Forschungsbetriebs, zumindest aber Verstöße gegen gute wissenschaftliche Praxis erkennen lässt. E rst seit neuerer Zeit besinnen sich die europäischen Na- turheilkundler auf unser medizinisches Erbe, die Tra- ditionelle Europäische Medizin (TEM) [1–3]. Deren Ur- sprünge liegen in der Medizin der Antike, samt ihren Ein- flüssen aus dem alten Ägypten und Babylonien. Auch die Medizin der Druidenärzte und der kelti- schen, germanischen und slawischen Be- völkerung fließt hier ein. Daraus entwi- ckelte sich die Heilkunde der weisen Frau- en und Kräuterkundigen. Sie kannten auch Rauschdrogen und Giftpflanzen, Verhü- tungsmittel und Mittel zum Abtreiben. Sie mischten Liebestränke und Aphrodisiaka, und oft gingen magische Elemente in ihr Heilwirken ein. Das alles machte sie der Kirche suspekt, doch waren viele Men- schen von ihrem großen Heilwissen ab- hängig. Viel von diesem Wissen ging durch die Hexenverfolgung verloren. Die mittelalterliche Klostermedizin, al- so die Medizin der Mönche und Ordens- frauen, ist Teil der TEM. Das Kräuterbuch Macer floridus – de viribus herbarum von Odo von Meung, der im 11. Jahrhun- dert lebte, macht deutlich, auf welch ho- hem Niveau sich die Kräuterheilkunde der DOI: 10.1002/ciuz.201300580 24 © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Chem. Unserer Zeit, 2013, 47, 24 – 31 Abb. 1 Die Briefmarke von 1979 erschien zum 800. Todestag der Äbtissin Hildegard von Bingen. Die Sondermarke von 1998 anlässlich ihres 900. Geburtstages zeigt Hildegards Vision vom Lebenskreis. Die Briefmarke von 1991 750 Jahre Beruf des Apothe- kers zeigt eine Miniatur aus einem französischen Kodex aus dem 13. Jahrhundert.

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Verstoß gegen gute wissenschaftliche Praxis

Die Mär vom Wasser mit GedächtnisPAUL RADEMACHER

Ordensleute befand. In ihren medizinischen Schriften be-schrieb die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179)nicht nur zahlreiche Heilkräuter, sondern stellte auch dieHeilkraft der Edelsteine, der Tiere und Metalle dar. Sie brach-te das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus

der griechisch-lateinischen Tradition mitdem der Volksmedizin zusammen und be-nutzte erstmals die volkstümlichen Pflan-zennamen. Vor allem aber entwickelte sieeigene Ansichten über die Entstehung vonKrankheiten, Körperlichkeit und Sexuali-tät. Durch die Klostermedizin wurde dieMeditation Teil der europäischen Heilkun-de (Abbildung 1). Auch die Psychosomatikist also Teil der TEM.

Neben den heilkundigen Ordensleutenund den weisen Frauen gab es auch wis-senschaftlich ausgerichtete Ärzte. Berühmtwar die medizinische Schule von Salerno(Schola Medica Salernitana) in Süditalien,die vom 10. bis 13. Jahrhundert ihre Blü-tezeit erlebte und auch Frauen zu Ärztin-nen ausbildete. Sie stand in der Traditiondes griechischen Arztes Galenos von Per-gamon (deutsch: Galen, lateinisch: Claris-simus Galenus, um 129–um 216) und derKlostermedizin der Benediktiner. In Saler-no wurden auch die arabischen Elementeder europäischen Heilkunde sichtbar. Zuden Förderern der Schule gehörten dieLandesherren Roger II. (1095–1154, seit1130 König von Sizilien) und der Staufer-kaiser Friedrich II. (1194–1250, ab 1198

Wie spektakulär darf (oder muss?) ein Forschungsergebnis sein, das aller naturwissenschaftlichen Erfahrungwiderspricht, um auch gegen das Urteil der Fachgutachter in einem der angesehensten Wissenschaftsjournalepubliziert und damit wissenschaftlich aufgewertet zu werden? So geschehen in einem Fall, in dem es um extrem verdünnte Lösungen von Antikörpern ging, deren Wirkung durch das „Gedächtnis“ des Lösemittels erklärt wurde. Ein Fall, der pathologische Züge des modernen Forschungsbetriebs, zumindest aber Verstößegegen gute wissenschaftliche Praxis erkennen lässt.

Erst seit neuerer Zeit besinnen sich die europäischen Na-turheilkundler auf unser medizinisches Erbe, die Tra-

ditionelle Europäische Medizin (TEM) [1–3]. Deren Ur-sprünge liegen in der Medizin der Antike, samt ihren Ein-flüssen aus dem alten Ägypten und Babylonien. Auch dieMedizin der Druidenärzte und der kelti-schen, germanischen und slawischen Be-völkerung fließt hier ein. Daraus entwi-ckelte sich die Heilkunde der weisen Frau-en und Kräuterkundigen. Sie kannten auchRauschdrogen und Giftpflanzen, Verhü-tungsmittel und Mittel zum Abtreiben. Siemischten Liebestränke und Aphrodisiaka,und oft gingen magische Elemente in ihrHeilwirken ein. Das alles machte sie derKirche suspekt, doch waren viele Men-schen von ihrem großen Heilwissen ab-hängig. Viel von diesem Wissen ging durchdie Hexenverfolgung verloren.

Die mittelalterliche Klostermedizin, al-so die Medizin der Mönche und Ordens-frauen, ist Teil der TEM. Das KräuterbuchMacer floridus – de viribus herbarumvon Odo von Meung, der im 11. Jahrhun-dert lebte, macht deutlich, auf welch ho-hem Niveau sich die Kräuterheilkunde der

DOI: 10.1002/ciuz.201300580

24 © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Chem. Unserer Zeit, 2013, 47, 24 – 31

Abb. 1 Die Briefmarke von 1979 erschien zum 800. Todestag der Äbtissin Hildegard von Bingen. Die Sondermarke von 1998 anlässlich ihres 900. Geburtstages zeigt Hildegards Vision vomLebenskreis. Die Briefmarke von 1991 750 Jahre Beruf des Apothe-kers zeigt eine Miniatur aus einem französischen Kodex aus dem13. Jahr hundert.

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König von Sizilien, ab 1211/12 deutscherKönig und von 1220 bis zu seinem TodeKaiser des Heiligen Römischen Reiches)(Abbildung 2). Letzterer erließ 1240 eineVerordnung zur Regelung des medizini-schen Studiums. Der Lehrplan bestand ausLogik (drei Jahre), Medizin einschließlichChirurgie und Anatomie (fünf Jahre). DasStudium wurde mit einer einjährigen Pra-xis bei einem Arzt abgeschlossen.

In der spätmittelalterlichen und früh-neuzeitlichen Medizin gab es Ärzte, die inder Tradition der antiken Medizin standen.Paracelsus (Taufname: Theophrastus Bom-bastus von Hohenheim, um 1493–1541),der auch das Heilwissen der Volks- und He-xenmedizin studierte, brachte im 16. Jahr-hundert die Medizin nach langer Stagnati-on wieder voran. Die Natur und Gott stell-ten für ihn die Basis allen Heilwissens dar.Ein Arzt sollte aber auch Philosoph und As-tronom sein und sich mit der Alchemieauskennen. Alchemistische Konzepte dien-ten ihm zur Arzneimittelherstellung wieauch zur Erklärung von Körpervorgängenund Krankheiten. Damit übte er wesentli-chen Einfluss auf die Entwicklung der Phy-siologie und der Pharmazie aus. Er kriti-sierte die antike Viersäftelehre Galens unddie Bücherweisheit seiner medizinischenZeitgenossen. Als Krankheitsursache er-kannte er ein Ungleichgewicht von dreiden Körper bestimmenden Grundsubstan-zen: Schwefel (Sulphur), Quecksilber(Merkurius) und Salz (Sal), und die Hei-lung erfolgte durch die Wiederherstellungdieses Gleichgewichts. Vorlesungen, die erauch für die Allgemeinheit öffnete, hielt ererstmals auf Deutsch statt wie damals üb-lich auf Latein. Er entwickelte die Signa-turenlehre, also die Ansicht, dass sich ausdem Erscheinungsbild einer Pflanze Rück-schlüsse auf ihre Heilwirkung ziehen las-sen. Der Mediziner und Botaniker Leon-hart Fuchs (1501–1566) gehört zu den herausragenden Gelehrten des 16. Jahr-hunderts und ging als einer der deutschenVäter der Pflanzenkunde in die Ge-schichte ein (Abbildung 3).

Auch Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897) mit seinen fünf Säulen der Ge-sundheit ist in diesem Zusammenhang zunennen. Der britische Arzt Edward Bach(1880–1936) mit der von ihm entwickel-ten Bachblütentherapie und nicht zuletztdie Homöopathie sind Teil der TEM, auch

wenn sich hier das aus der Antike stam-mende Heilprinzip Contraria contrariiscurantur (Gegensätzliches wird mit Ge-gensätzlichem geheilt) und das Ähnlich-keitsprinzip der Homöopathie Similia si-milibus curentur (Ähnliches soll durchÄhnliches geheilt werden) gegenüberste-hen (Abbildung 4).

Homöopathie Die Homöopathie zählt zu den Alternati-ven der Schulmedizin. Nach der von demin Meißen geborenen Arzt Christian Fried-rich Samuel Hahnemann [4] (1755–1843)vor rund zweihundert Jahren propagiertenMethode sollen stark verdünnte Lösungeneiner medikamentösen Urtinktur (Grund-substanz) vor allem in aufsteigender Ver-dünnungsreihe wirken. Die verwendetenGrundsubstanzen sind zumeist pflanzli-cher, tierischer oder mineralischer Her-kunft. Homöopathische Mittel werden flüs-sig oder als Globuli, in tiefen Potenzenauch in Form von Tabletten angewendet.

In der heutigen homöopathischen Arz-neimitteltherapie verwendet man zumeistNiedrigpotenzen von D6 bis D12 (D1 =1:10, D2 = 1:102 = 1:100 usw.). Neben denDezimalpotenzen gibt es noch die C-Po-tenzen (Centesimalpotenzen, C1 = 1:100usw.) und die Q-Potenzen/LM-Potenzen(Quinquaginta-Millesimal-Potenzen, Q1 =1:50 000 usw.).

Die Potenzierung erfolgt in einem cha-rakteristischen Schüttelungsvorgang mit einem Lösemittel wie Alkohol, destillier-tem Wasser oder Glycerin oder durch Ver-reiben mit einem Feststoff wie Milch -zucker, jeweils im Verhältnis 1:10, 1:100oder 1:50 000. In den Potenzen D24 undC12 wird ein Verdünnungsverhältnis von1:1024 erreicht, so dass gemäß der Avoga-dro-Zahl in einem Mol Endprodukt statis-

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Abb. 2 Die italienische Briefmarke von 2007 zeigt die Medizin-schule Salerno. Auf der deutschen Briefmarke von 1994 ist derFörderer dieser Schule, der Stauferkaiser Friedrich II., der auchKönig von Sizilien war, mit seinem Falken dargestellt. Die Abbil-dung stammt aus seinem Buch De arte venandi cum avibus.

Abb. 3 Die griechische Briefmarke von 1996 zeigt den Arzt Galenos von Pergamon. Die deutsche Briefmarke wurde 1993 zum 500. Geburtstag des Arztes und Alchemisten Paracelsus herausgegeben; die Vorlage bildete ein Stich von August Hirsch-vogel (1503–1553). Die deutsche Briefmarke von 2001 erschienzum 500. Geburtstag des Mediziners und Botanikers LeonhartFuchs. Die Abbildung entstammt seinem Kräuterbuch.

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tisch 0,6 Moleküle des Stoffes der Urtink-tur enthalten sind. Bei den LM- oder Q-Po-tenzen ist dieser Wert bei der 6. Potenzüberschritten. Mit jedem weiteren Poten-zierungsschritt vermindert sich die Wahr-scheinlichkeit der Anwesenheit von Mole-külen der Ausgangssubstanz um den Faktorder Verdünnung, das heißt 10-mal, 100-maloder 50 000-mal (Abbildung 5).

Nach dem von Hahnemann entwickel-ten Heilverfahren sollen Krankheiten inniedriger Dosierung mit eben denjenigenStoffen behandelt werden, die in höhererDosierung bei Gesunden vergleichbareSymptome hervorrufen. Hahnemann kamdiese Idee, als er sich in einem Selbstver-such, der allerdings nicht reproduziert wer-den konnte, das bereits bewährte Antima-lariamittel Chinarinde zuführte und ein derMalaria ähnliches Vergiftungsbild erlebte.Dieses Ähnlichkeitsprinzip ist in die Medi-zingeschichte unter der Formel Similia similibus curentur (Ähnliches soll durchÄhnliches geheilt werden) eingegangen,doch kann dem Vater der Homöopathienicht bewusst gewesen sein, dass die von ihm propagierten Potenzierungsreihendie chemische Verdünnungsgrenze über-schritten, so dass das hergestellte Präparatdas eigentliche Medikament evtl. nichtmehr enthält.

Die Wirkung homöopathischer Mittelist millionenfach bestätigt worden, der Me-chanismus ihrer Wirkung bislang allerdingsungeklärt. Das Hahnemannsche Ähnlich-keitsprinzip ist wissenschaftlich nicht halt-bar. Die behauptete selektive Steigerungerwünschter Wirkungen durch das Poten-zierungsverfahren widerspricht naturwis-senschaftlichen Erkenntnissen, nach denendie Wirkung mit der Verdünnung abneh-

men, aber nicht zunehmen sollte. Von Ver-tretern der medizinischen Lehrmeinungwird die Homöopathie als unwissen-schaftlich abgelehnt und als Pseudowis-senschaft oder Irrlehre bezeichnet.

Klinische Studien nach wissenschaftli-chen Standards konnten keine über denPlacebo-Effekt hinausgehende Wirksamkeithomöopathischer Arzneimittel nachwei-sen. Erfolge einer Behandlung werden so-mit ihrem Umfeld, nicht dem Mittel selbstzugeschrieben, etwa dem Glauben des Patienten an die Wirksamkeit der Behand-lung oder der Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Wahr-scheinlich handelt es sich wohl um einenPlaceboeffekt. Schon seit Hahnemann wirddem eingehenden Gespräch des Arztes mitdem Patienten bei der Anamnese große Be-deutung zugemessen, und Ziel ist einenachhaltige Heilung des Kranken, nicht dievordergründige Beseitigung der Sympto-me.

Auch kranke Haus- und Nutztiere wer-den immer häufiger mit unkonventionel-len Methoden und Arzneimitteln behan-delt. Homöopathische Behandlungserfolgesoll es auch bei Tieren geben [5], und die-se sind wohl ähnlich zu erklären wie beiMenschen: entweder durch eine direkteWechselwirkung Tierarzt/Tier oder überdie Kette Tierarzt/Betreuer/Tier. Große Me-taanalysen zur Beurteilung der Wirksam-keit der Homöopathie in der Veterinärme-dizin fehlen. Die wenigen bislang durch-geführten, methodisch gut gestaltetenklinischen Studien zeigten jedoch keinemedizinische Wirksamkeit der Veterinär-homöopathie.

Im Handel erhältlich sind auch Präpa-rate für eine homöopathische Pflanzen-pflege. Die Pflanzenhomöopathie [6] dürf-te aber bereits nahe bei der Esoterik an-gesiedelt sein. Denn wie sollte man sichhier einen Placeboeffekt erklären? Immer-hin ist aber bekannt, dass Pflanzen bei lie-bevoller Betreuung – insbesondere vonPersonen mit dem grünen Daumen, dieihnen auch gut zureden – besser gedeihenals ohne eine solche Hinwendung.

Antikörper in extrem hoher Verdünnung Hier sollten nun die Ergebnisse des fran-zösischen Biomediziners Jacques Benve-niste (1935–2004) von der Universität Pa-

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Abb. 4 Die Briefmarken von 1997 bzw. 1996 zeigen den PfarrerSebastian Kneipp und das Ähnlichkeitsprinzip der HomöopathieSimilia similibus curentur.

Abb. 5 Die Briefmarken zeigen Samuel Hahnemann, der als Begründer der Homöopathie weltweit bekannt war. Die deutscheBriefmarke erschien 1955 anlässlich seines 200. Geburtstages, dieindische 1977 zum XXXII. Internationalen Kongresses der Homöo-pathie in Neu Delhi. Die Inschrift unter Hahnemanns Portrait aufder indischen Marke lautet: Chinchona bark was to Hahnemannwhat the falling apple was to Newton and the swinging lamp toGalileo (Chinarinde war für Hahnemann, was der fallende Apfelfür Newton und die schwingende Lampe für Galileo waren, vgl.Abb. 7). Monaco ehrte Hahnemann 1990 zum 200. Jahrestag derHomöopathie und nahm dabei seinen Chinarindenversuch als Bezugspunkt.

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ris-Süd Abhilfe schaffen, die als der Wirkungsnachweis fürhomöopathische Medikamente interpretiert wurden [7–10].Angeblich beeinflussen Antikörper in sehr hoher Verdün-nung (102 bis 10120, entsprechend D2 bis D120!) über ei-nen Gedächtniseffekt des Wassers weiße Blutzellen (Leu-kozyten).

Obwohl das Wasser sehr gut untersucht wurde, gibt esimmer noch unverstandene (geheimnisvolle) Eigenschaf-ten. So können Biomoleküle in wässriger Lösung deutlichandere Eigenschaften besitzen als in anderer Umgebung.Über die zwischenmolekularen Wasserstoffbrücken könnenlange Ketten, Ringe, Netze und dreidimensionale Gebildeaus Wassermolekülen entstehen. Nach Meinung Benvenis-tes werden darin Informationen gespeichert, die dem Was-ser ein immunologisches Gedächtnis verleihen.

Ein Bericht über Benvenistes bahnbrechend erschei-nende Neuigkeit wurde unter dem Titel Human basophildegranulation triggered by very dilute antiserum againstIgE in der renommierten britischen Wis-senschaftszeitschrift Nature, Jahrgang1988, publiziert [11]. Beneviste ist derHauptautor neben zwölf Koautoren vonForschungsinstituten in Frankreich, Israelund Kanada. Der damit ausgelöste Wis-senschaftsskandal, an dem sich bedenkli-che Züge des modernen Wissenschaftsbe-triebs zeigen, kann aus medizinhistorischerPerspektive zweifellos als einer der bri-santesten Fälle der neuesten Zeit bezeich-net werden.

Bei detaillierter Betrachtung lässt sichder Fall aber nur schwer mit den vereinfa-chenden Begriffen des Betrugs oder derFälschung fassen. Vielmehr erfordert eine Bewertung auchdie Berücksichtigung von Selbsttäuschung und Leichtgläu-bigkeit. Ebenfalls einzubeziehen sind die Bedeutung vonwissenschaftlichen Publikationsorganen und die Rolle derHerausgeber für die Entwicklung des wissenschaftlichenFortschritts [8].

Die Arbeitsgruppe um Benveniste forschte an einemzentralen Mechanismus der körperlichen Immunantwort,der bis heute einen attraktiven Ansatzpunkt pharmakologi-scher Substanzen bildet. Antikörper (Immunoglobuline)sind besonders im Gammaglobulin des Blutserums enthal-tene spezifische Abwehrstoffe (z. B. gegen Viren und Bak-terien), deren Bildung durch Antigene, die der lebende Or-ganismus als fremd erkennt, hervorgerufen wird (Abbildung6). Bereits 1987 hatten Benveniste und Mitarbeiter über La-borexperimente berichtet, in denen eine biologische Wirk-samkeit von Antikörpern noch in so stark verdünnten Lö-sungen nachweisbar sei, dass sie keine derartigen Stoffemehr enthalten können. Nun stellte Benveniste zusammenmit seinem Mitarbeiterteam zahlreiche Testreihen vor, indenen untersucht wurde, ob Verdünnungen von Ziegen-An-tiserum gegen menschliche Immunoglobulin E (IgE)-Anti-körper noch in der Lage waren, eine besondere Gruppe

weißer Blutkörperchen – morphologisch als polymorph -kernige Leukozyten beschrieben – zu entladen. Dieser bio-logische Degranulationsmechanismus wird durch Allergeneoder Anti-IgE-Antikörper vermittelt, die Brücken zwischenden IgE-Antikörpern bilden. Sie können so eine Reaktions-kaskade auslösen, an deren Ende die Freisetzung biogenerAmine, beispielsweise von Histamin, steht.

Für die Wirkung machte die Gruppe eine mechanischeEigenschaft aus, da sich die Leukozytenentladung nur nachzehn Sekunden langem Schütteln der Proben – ähnlich derDynamisierung homöopathischer Medikamente – einstellenwollte. Benveniste schloss demzufolge, dass eine spezifischeInformation durch die IgE-Antikörper weitergegeben wür-de, wobei Wasser über ein Netzwerk von Wasserstoffbrü-cken oder über elektromagnetische Feldkräfte wirksam wer-den könnte. Dies gebe genug Grund zur Annahme einer me-tamolekularen Biologie. Eine solche Argumentation mussman zweifellos als pure Spekulation einstufen.

Mit der Publikation in einem der welt-weit renommiertesten naturwissenschaft-lichen Journale wurde diesen unwahr-scheinlichen Ergebnissen und den darausabgeleiteten Mutmaßungen ein Grad anGlaubwürdigkeit verliehen, der ihre Trag-weite – z. B. bezüglich der Erklärung derWirkungsweise homöopathischer Medika-mente – außerordentlich erweiterte. DerBericht erregte großes öffentliches Aufse-hen und zog einen jahrelangen Streit nachsich. In der Presse lösten die Befunde Ben-venistes schnell große Wellen der Entrüs-tung, aber auch der unvoreingenommenenZustimmung aus. In deutschen Magazinen

und Zeitungen wie Der Spiegel (11.07.1988, 01.08.1988),Die Zeit (22.07.1988), Frankfurter Allgemeine Zeitung(01.08.1988), aber auch in den internationalen Ausgabender New York Times (20.06.1988) und von Newsweek(25.07.1988) überwog eine kritische Haltung. In den Arti-keln wurde kontrovers über die Funktion der wissen-schaftlichen Begutachtung von Manuskripten vor der Veröffentlichung (Reviewverfahren), das Wesen biomedizi-nischer Forschung sowie über die Begrenztheit schulmedi-zinischer Annahmen gestritten.

Allerdings findet sich zu Beginn des Heftes von Naturemit dem genannten Artikel ein ungewöhnlicher Hinweisdes verantwortlichen Herausgebers Sir John Royden Mad-dox (1925–2009) [12], und dem Artikel selbst ist eine No-tiz (Editorial reservation) angefügt. Hier werden Vorbehal-te gegen die unglaublichen Befunde, für die es keine phy-sikalische Erklärung gebe, geäußert. Dennoch legten eseinzelne gute Gründe nahe, dass umsichtige Personen vonvorschnellen Urteilen Abstand nehmen sollten. BenvenistesBeobachtungen seien nicht deshalb atemberaubend, weilsie ein neues Phänomen beschrieben, sondern weil sie dasFundament von zwei Jahrhunderten der Beobachtung unddes Verständnisses physikalischer Phänomene erschütter-

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Abb. 6 Die Briefmarke derDeutschen Post erschien 2004zum 150. Geburtstag der Begründer der Chemo- und derSerumtherapie, Paul Ehrlichund Emil von Behring. Beidewurden mit dem Nobelpreisfür Medizin ausgezeichnet.

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ten. „Was wird etwa aus den elementaren Prinzipien, wiedem Massenwirkungsgesetz, wenn Benveniste nachweis-lich Recht behält?“ [12] Nach dieser Auffassung des He-rausgebers genießen offenbar unglaubwürdige Ergebnisse,wenn sie nur genügend revolutionär erscheinen, einen ge-wissen Vorrang bei der Publikation.

Mit Zustimmung von Benveniste kün-digt der Herausgeber eine Wiederholungder Experimente durch unabhängige Wis-senschaftler und einen Bericht darüber inNature an, der in Kürze erscheinen solle.Offenbar hatte der Artikel einen so nach-haltigen Eindruck auf ihn gemacht, dass ersich zu diesem ungewöhnlichen Schrittnach einem außergewöhnlich langen Re-viewprozess, der annähernd ein Jahr dau-erte, veranlasst fühlte. Über die Verläss-lichkeit der Benvenisteschen Ergebnissestellte der Herausgeber keine Mutmaßun-gen an. Offenbar wollte Nature die ersteinternationale Wissenschaftszeitschriftsein, die den spektakulären Artikel veröf-fentlichte.

Maddox, der als überaus kompetentund gewissenhaft galt, studierte Chemieund Physik, verfügte also durchaus überdie erforderliche Sachkenntnis. 22 Jahrelang (1966–1973, 1980–1995) war er He-rausgeber von Nature. 1994 wurde er fürseine publizistischen Verdienste von Kö-nigin Elisabeth II. geadelt. Sein Verhalten indiesem Fall muss jedoch zumindest als kri-tikwürdig, wenn nicht sogar als unprofes-sionell bezeichnet werden. Denn nur mitseiner Unterstützung konnte es zu dieserbühnenreifen Posse kommen.

Der von Nature angekündigten Prü-fungskommission, die von Benvenistenachträglich als inquisitorisch diffamiertwurde, gehörten neben Maddox der ame-rikanische Biologe Walter Stewart und derinternational bekannte Magier James Ran-di (Geburtsname: Randall James Hamil-ton Zwinge) an. Letzterer wurde zugezo-gen, um Tricksereien bei den Versuchen zuerkennen. Er hatte bereits für Furore ge-sorgt, als er Uri Gellers Gabelexperimenteentlarvte.

Der Kommission gelang es, etliche Un-gereimtheiten im Pariser Laboratorium auf-zuklären, und in keiner der Versuchsrei-hen ließ sich nunmehr ein IgE-Wirkeffekt bei höchsten Ver-dünnungsstufen nachweisen. Ihr Bericht mit dem Titel HighDilution Experiments a Delusion erschien in Nature, Jahr-gang 1988 [13], bereits vier Wochen nach der Veröffentli-chung der Arbeit von Benveniste et al. Hierin wird u. a.

festgestellt, dass die aufgestellten Behauptungen unglaub-würdig sind und dass die Sorgfalt, mit der die Experimen-te durchgeführt wurden, nicht den außergewöhnlichenSchlussfolgerungen, die aus ihnen gezogen wurden, ent-sprach.

Nach dem Urteil der Kommission lässtsich der 1988 von Benveniste publizierteArtikel aber kaum als ein gewöhnlicher Be-trugsfall verstehen. Es handelte sich wohleher um einen Fall individueller bzw. kol-lektiver Selbsttäuschung, der zu falschenSchlussfolgerungen führte. Im Sinne einerSelf-fulfilling Prophecy hatte die Arbeits-gruppe diejenigen Ergebnisse produziert,die sie sich wünschte, und dabei auf schär-fere Kontrollmaßnahmen verzichtet, dieden Ausgang ihrer Ergebnisse eventuell inZweifel gezogen hätten [13].

Auch Forschern auf der ganzen Weltgelang es nicht, den von Benveniste an-geblich gefundenen Effekt im Experimentzu bestätigen. Benveniste gab zwar schließ-lich zu, dass die experimentelle Vorge-hensweise nicht fehlerfrei war. Dies seiaber im internationalen Wissenschaftsbe-trieb völlig normal, und der Nachweis derFalschheit experimenteller Ergebnisse kön-ne nur durch eine adäquate wissenschaft-liche Reproduktion geführt werden.Gleichwohl lehnte er es ab, seine Publika-tion aufgrund der Resultate der Prüfungs-kommission zurückzuziehen, da diese fürihn aus Personen bestand, die „keine sub-stantielle wissenschaftliche Publikations-liste“ aufwiesen und die er ferner bezich-tigte, ohne wissenschaftlichen Anspruchgewesen zu sein.

Bei der Frage, ob Benveniste Betrugoder zumindest unwissenschaftliches Ver-halten vorzuwerfen ist, muss berücksich-tigt werden, dass er die entscheidendenExperimente nicht selbst durchgeführt hat.Es war vielmehr seine Mitarbeiterin Elisa-beth Davenas, die sich sehr für Homöopa-thie interessierte und offenbar die Ver-suchsergebnisse einseitig auswertete bzw.manipulierte. Allerdings trifft ihn als denLeiter der Arbeitsgruppe die Hauptschuld.Hinzu kommt, dass Benveniste sich späternoch weiter exponierte, indem er be-hauptete, die Informationen des Wassers

könnten auch via Telefon oder Internet übertragen werden. Benveniste erhielt zweimal den Ig-Nobelpreis: 1991 (für

Chemie) und 1998 (für Informatik). Die Abkürzung Ig stehtfür ignoble (englisch unwürdig, schmachvoll, schändlich).Diese Parodie eines Nobelpreises wird auch als Anti-No-

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Abb. 7a Die Briefmarken zei-gen Portraits von Claudius Ptolemäus (Burundi 1973), Galileo Galilei (Ecuador 1964)und Albert Einstein (DDR1979). Neben Ptolemäus istsein geozentrischer Kosmosdargestellt. Galilei ist zusam-men mit der schwingendenLampe abgebildet, an der erdie Pendelbewegung unter-sucht haben soll.

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belpreis bezeichnet und ist eine satirische Auszeichnung,die von der Harvard University in Cambridge (USA) jähr-lich in zehn Disziplinen für unnütze, unwichtige oder skur-rile wissenschaftliche Arbeiten verliehen wird [14]. Damitwurden die Benvenisteschen Ergebnisse als abwegige For-schung klassifiziert.

Die Zeitschrift Nature hat den umstrittenen Bericht niezurückgezogen, beschreibt jedoch im Oktober 2004 in einem Nachruf, dass die fragliche Arbeitvon Wissenschaftlern weitgehend nichternst genommen wurde und nirgends re-produziert werden konnte [15]. Die Rolledes damaligen Herausgebers muss auch imNachhinein als unprofessionell bezeichnetwerden, denn erst durch sein Verhaltenwurde dem überspannten Wahn eines Wis-senschaftlers zu weltweitem Aufsehen ver-holfen. Vor allem ist zu fragen, warum dieÜberprüfung der Experimente durch un-abhängige Experten nicht zur Vorbedin-gung für die Publikation gemacht wurde.

Im Hinblick auf homöopathische Me-dikamente ist noch anzumerken, dass ein allgemeiner Wir-kungsnachweis selbst bei der Richtigkeit der Ergebnissevon Benveniste keineswegs erbracht worden wäre, da siesich lediglich auf Wasser als Potenzierungsmittel beziehenkönnten.

Unethisches Verhalten in Wissenschaft undForschung – Bedenkliche Züge des modernenWissenschaftsbetriebs

Dass Wissenschaftler versuchen, ihre Forschungsergebnis-se zu verbessern, der Wirklichkeit nachzuhelfen oder aucheinfach nur von Kollegen abschreiben, ohne die Quelle zunennen, ist keineswegs neu. Ähnliches wird auch demÄgypter Claudius Ptolemäus (um 100–um 175) nachgesagt,der um 144 einen Sternenkatalog aufstellte, in dem er ein-fach die Berechnungen des Hipparchos von Nicaea (um190–um 120 v. Chr.) verwendete – ohne Angabe der Quelle.

Bei seinen berühmten Fallversuchen am schiefen Turmvon Pisa will Galileo Galilei (1564–1642) gemessen haben,dass zwei unterschiedlich schwere Gewichte genau gleichschnell zu Boden fallen. Spätere Messungen haben jedochUnterschiede gefunden: Das schwerere Gewicht war immer deutlich schneller. Galilei muss also geschummelthaben.

Isaac Newton (1643–1727) ist bekannt für seinen fudgefactor (Mogelfaktor): Bei vielen Berechnungen korrigierteer die gemessenen Werte so lange, bis sie richtige Ergeb-nisse lieferten. Auch Albert Einstein (1879–1955) soll Mess-werte angepasst haben [16, 17] (Abbildung 7).

Die zunehmende Kommerzialisierung sämtlicher Berei-che unseres privaten und des öffentlichen Lebens machtauch vor Wissenschaft und Forschung nicht Halt. Die anHochschulen und Forschungsinstituten im Bereich derGrundlagenforschung tätigen Wissenschaftler werden im-

mer mehr zum Einwerben von Drittmitteln für ihre For-schungsprojekte gezwungen. Heute erfordert das Abfassenvon Forschungsanträgen und -berichten bereits mehr Zeitals die Forschung selbst. Außerdem sollen sich die Forscherum die Verwertung ihrer Ergebnisse in Form von Patenten,Firmengründungen und dergleichen bemühen. Damit ge-rät die eigentliche Grundlagenforschung, bei der kommer-zielle Aspekte keine Rolle spielen, gegenüber der ange-

wandten Forschung immer mehr ins Hintertreffen. Hinzu kommt, dass die Lei-tung der Hochschule oder der For-schungseinrichtung ein gutes Bild in derÖffentlichkeit, d. h. in den Medien, abge-ben möchte, indem sie ihren Nutzen fürdie Gesellschaft herausstellt. Deshalb ist eskeineswegs unüblich, dass ganz normaleForschungsresultate, mit denen die Öf-fentlichkeit eigentlich wenig anfangenkönnte, oft unter zögerlicher Mithilfe desForschers, in spektakulär aufgebauschter,also unseriöser Form an die Presse ver-mittelt werden. Das Renommee eines For-

schers wird heute eher mit Erfolgen auf diesen Gebieten alsin seiner eigentlichen wissenschaftlichen Leistung gemes-sen. Dass diese Praktiken sich auf Dauer nicht nur negativfür ihn, sondern insgesamt für Wissenschaft und Forschungauswirken müssen, wird von den Akteuren kaum berück-sichtigt.

In den experimentellen Naturwissenschaften gibt es zu-weilen Erscheinungen, die man als Forschungsexzesse be-zeichnen muss. Wie aus heiterem Himmel steht urplötzlichauf Tagungen und Kongressen ein Thema im Mittelpunkt,über das ganz aufregende und abenteuerliche Dinge be-richtet werden, die man kaum glauben kann – und besserauch nicht geglaubt hätte, denn nach einiger Zeit zerplatztdas Ganze wie eine Seifenblase. Beispiele dafür sind das Po-lywasser [18], das in den 1960er Jahren, und die kalte Kern-fusion [19], die ab 1989 für einige Jahre für Aufsehen sorg-te. Auch der molekulare Transistor [20] und geklontemenschliche embryonale Stammzellen [20] können hier er-wähnt werden. Das Peinliche daran für die Wissenschaft istnicht nur, dass sich einige ihrer führenden Protagonistenblamiert haben. Blamiert haben sich auch ehrenwerte In-stitutionen, die leichtfertig große Summen ihrer knappenFördermitteln an Scharlatane vergeudet haben. Gleiches giltauch für Herausgeber, Redakteure und Gutachter renom-mierter wissenschaftlicher Journale, die sich um der ver-meintlichen Aktualität halber nicht um ihre hehren Grund-sätze geschert haben, als sie die fragwürdigen Manuskriptezur Publikation annahmen oder empfahlen. Häufig habensie, evtl. zusammen mit den entsprechenden Urhebern, ge-kürzte und simplifizierte Erfolgsmeldungen an die Medienweitergegeben, um Aufsehen zu erregen. Durch derartigeEreignisse kann vor allem das Bild der wissenschaftlichenForschung in der Öffentlichkeit dauerhaften Schaden erlei-den.

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Abb. 7b Die Briefmarke vonNicaragua (1971) stellt dasGravitationsgesetz dar, zu dem Isaac Newton von einemfallenden Apfel angeregt wurde.

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Wohl nicht zuletzt wegen einiger spektakulärer Fälledes Versagens des kritischen Begutachtens von wissen-schaftlichen Manuskripten vor ihrer Veröffentlichung wur-den z. B. für Chemiker die Aufgaben von Herausgebern, Au-toren und Gutachtern im Jahre 2006 von der European As-sociation for Chemical and Molecular Sciences inEthischen Richtlinien (Ethical Guidelines) festgelegt [21].Ähnliche Ziele verfolgt auch das 1997 gegründete Com-mittee on Publication Ethics (COPE) [22]. COPE berät He-rausgeber und Verleger in allen Fragen guter wissenschaft-licher Praxis (Code of Conduct) und vor allem dabei, wieman Fälle von Fehlverhalten in der Forschung und bei Pu-blikationen behandeln soll.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat imJahr 1998 Empfehlungen mit detaillierten Vorschlägen zurSicherung guter wissenschaftlicher Praxis verabschiedet, indenen auch die Anfälligkeiten des Wissenschaftssystems ge-genüber Unredlichkeit in ihren verschiedenen Formen bishin zur Psychopathologie geschildert werden [23]. Bei derInanspruchnahme von Mitteln der DFG sind diese Grund-sätze einzuhalten. Hochschulen und andere Forschungs-einrichtungen, die DFG-Mittel in Anspruch nehmen möch-ten, müssen an ihrer Einrichtung Regeln zur Sicherung gu-ter wissenschaftlicher Praxis etablieren.

Die Ursachen und Motivation für Betrug und Fälschungin der Wissenschaft werden in der Regel individuell zu su-chen sein. In Betracht kommen dabei häufig Aufsehen,Ruhm und Ehre, die Forscher mit der Publikation neuerund sensationeller Erkenntnisse zu gewinnen suchen. Aufder anderen Seite können auch persönlicher (krankhafter)Ehrgeiz und der Konkurrenzkampf – um Personalstellen,Forschungsmittel und Anzahl der Publikationen – dazu füh-ren, dass Versuchsdaten und Ergebnisse erfunden oder „ge-schönt“ werden. Dem gegenüber sind Geld und Gewinn-streben praktisch nie Motive für derartiges Fehlverhalten.Festzuhalten ist allerdings auch, dass solche Fälle in denexakten Naturwissenschaften relativ selten vorkommen[24].

Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Uni-versitätsprofessor Dr. Bernhard Kempen, fordert einenEthikunterricht für alle Studierenden. Diese müssten früh-zeitig und umfassend mit ethischen Fragestellungen ihres Fa-ches vertraut gemacht werden. Die weltweite Wirtschafts-und Finanzkrise von 2009 könne auch als ein Versagen ei-ner wissenschaftlichen Ausbildung verstanden werden, dieihre ethischen Wurzeln verloren hat. An die Politik appel-liert er, sich mit den Zusammenhängen von wissenschaft-lich unethischem Verhalten und zunehmendem Wettbe-werbsdruck auseinanderzusetzen. Die Mitarbeiter in derForschung an Hochschulen und Forschungsinstituten müs-sen sich zu ethischem Verhalten verpflichten und ihre ex-perimentellen Daten gewissenhaft dokumentieren und auf-bewahren.

Zum Umgang mit dem Verdacht wissenschaftlichenFehlverhaltens verabschiedete der Deutsche Hochschul-verband am 12. April 2011 eine Resolution [25], in der u. a.

die Einhaltung wissenschaftsimmanenter ethischer Grund-sätze, der redliche Umgang mit Methoden, Quellen und Da-ten sowie dem geistigen Eigentum Dritter gefordert werden.Jeder Wissenschaftler sei verpflichtet, den Verdacht wis-senschaftlichen Fehlverhaltens zu prüfen. Hochschulen undFakultäten haben umfassende Vorkehrungen für den Um-gang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten zu treffen.

ZusammenfassungObwohl es immer wieder aufsehenerregende Fälle gibt, ist Be-trug in der naturwissenschaftlichen Forschung wohl eher sel-ten, auch wenn es vermutlich eine beträchtliche Dunkelziffergeben dürfte. Früher oder später werden eklatante Beispieleunethischen Verhaltens oder Verstöße gegen gute wissen-schaftliche Praxis von den im System wirksamen Kontrollenaufgedeckt. Zur Verhütung derartiger Fälle ist im Wissen-schaftsbetrieb die Beachtung der strengen Leitlinien guter wis-senschaftlicher Praxis erforderlich. Ein Ethikunterricht für al-le Studierenden und eine Verpflichtung von Wissenschaftlernzur Beachtung ethischer Grundsätze erscheint als eine uner-lässliche Voraussetzung.

SummaryAlthough repeatedly there are worrying cases, fraud in sci-ence is rather rare; however, probably there are a considerablenumber of unreported cases. Sooner or later blatant examplesof unethical behavior are revealed by the controls in the sys-tem. The prevention of such situations requires compliancewith strict ethical principles in the academia. An ethics edu-cation for all students and a commitment from scientists toobserve ethical principles appears as an essential condition.

SchlagwörterTraditionelle Europäische Medizin, Homöopathie, Antikör-per, Sensationsgier, Betrug, Gute wissenschaftliche Praxis,Ethikunterricht

Literatur[1] H. Achner, Ärzte in der Antike, Verlag Philipp von Zabern, Mainz,

2009.[2] G. J. Dobos, Die Kräfte der Selbstheilung aktivieren! Mein erfolgreiches

Therapiekonzept bei chronischen Erkrankungen, 2. Aufl., ZabertSandmann, München, 2009.

[3] K. P. Jankrift, Mit Gott und schwarzer Magie: Medizin im Mittelalter,Theiss Verlag, Stuttgart, 2005.

[4] R. Jütte, Samuel Hahnemann, Begründer der Homöopathie, dtvpremium, München, 2005.

[5] E. de Beukelaer, Homöopathie in der Tiermedizin – was können wirerwarten? Eine grundlegende Einführung und 101 Fallbeispiele, VerlagGrundlagen und Praxis, Leer, 2008.

[6] C. Maute, Homöopathie für Pflanzen. Ein praktischer Leitfaden fürZimmer-, Balkon- und Gartenpflanzen. Mit Hinweisen zur Dosierung,Anwendung und Potenzwahl, 3. Aufl., Narayana Verlag, Kandern,2011.

[7] M. Finetti und A. Himmelrath, Der Sündenfall. Betrug und Fälschungin der Deutschen Wissenschaft, Raabe, Stuttgart, 1999.

[8] F. Stahnisch, Ber. Wissenschaftsgesch., 2004, 27, 205–224.[9] G. Watts, Brit. Med. J., 2004, 329, 1290.

[10] C. Richmond, The Guardian, 21 October 2004.

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[11] E. Davenas, F. Beauvais, J. Amara, M. Oberbaum, B. Robinzon, A.Miadonna, A. Tedeschi, B. Pomeranz, P. Fortner, P. Belun, J. Sainte-Laudy, B. Poitevin und J. Benveniste, Nature, 1988, 333, 816–818.

[12] Nature, 1988, 333, 787.[13] J. Maddox, J. Randi und W. Stewart, Nature, 1988, 334, 287–290.[14] K. Roth, Chem. unserer Zeit, 2007, 41, 118–126.[15] P. Ball, Nature, 2004, 431, 729.[16] T. Beck, U. Grünewald, M. Rosenberg, T. Winkler und T. Wolff, WDR-

Fernsehen, Quarks & Co, Lügen, 2004, Internet: http://www.wdr.de/tv/quarks/global/pdf/Q_Luegen.pdf, 25.02.2011.

[17] H. Zankl, Fälscher, Schwindler, Scharlatane. Betrug in Forschung undWissenschaft, Wiley-VCH, Weinheim, 2003.

[18] M. Herberhold, Chem. unserer Zeit, 1971, 5, 154–159.[19] J. R. Huizenga, Kalte Kernfusion. Das Wunder, das nie stattfand,

Vieweg+Teubner, Wiesbaden, 1994.[20] L. Odling-Smee, J. Giles, I. Fuyuno, D. Cyranoski und E. Marris,

Nature, 2007, 445, 244–245.[21] EuCheMS, European Association for Chemical and Molecular Sciences:

Ethical Guidelines for Publication in Journals and Reviews, Internet:http://www.euchems.eu/fileadmin/user_upload/binaries/Ethicalguidelines_tcm23-54057.pdf, 09.02.2012.

[22] Committee on Publication Ethics (COPE): Promoting integrity inresearch publication, Internet: http://publicationethics.org/,09.02.2012.

[23] Deutsche Forschungsgemeinschaft: Vorschläge zur Sicherung guterwissenschaftlicher Praxis, Wiley-VCH, Weinheim, 1998, Internet:http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellung-nahmen/download/empfehlung_wiss_praxis_0198.pdf,09.02.2012.

[24] D. Goodstein, On Fact and Fraud: Cautionary Tales from the Front Linesof Science, Princeton University Press, Princeton, New Jersey/USA,2010.

[25] DHV-Jahresbericht 2010. Bilanz und Ausblick, 2011, 35.

Der AutorPaul Rademacher, Jahrgang 1940, studierte Chemiean den Universitäten Saarbrücken und Göttingen.Die Promotion erfolgte im Jahre 1968. Nach einemeinjährigen Aufenthalt als Postdoktorand im Institutfür Physikalische Chemie der Universität Oslo/Nor-wegen habilitierte er sich 1974 an der UniversitätMünster für das Fach Organische Chemie. 1977wurde er als Professor für Organische Chemie an dieUniversität-Gesamthochschule Essen berufen, die2003 mit der Nachbarhochschule zur UniversitätDuisburg-Essen fusionierte. 2005 wurde P. Radema-cher pensioniert. Seine Forschungsarbeiten liegenauf den Gebieten der Heterocyclenchemie, derMolekülspektroskopie, insbesondere der Photoelek-tronenspektroskopie, der Gasphasenpyrolyse undder organischen Strukturchemie.

Der vorstehende Beitrag entstammt dem Buch„Wahn und Wissenschaft“ des Autors, das im November 2012 als E-Book erschienen ist.

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Korrespondenz -adresse:Prof. Dr. P. RademacherInstitut für OrganischeChemie, Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Universitätsstr. 5–7,45117 Essen,E-Mail: [email protected]