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161 DIE NEUE ORDNUNG begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP Nr. 3/2001 Juni 55. Jahrgang Sozialethische Erinnerung Editorial Wolfgang Ockenfels, Globalisierung oder wer hat Angst vor K. Marx? Hans Maier, Politische Religionen – ein Begriff und seine Grenzen Manfred Spieker, Zwischen Romantik und Revolution. Die Kirchen im 19. Jahrhundert Manfred Hermanns , Wo steht die Christliche Gesellschafslehre? Gerhard Kolb, Die Geschichtsvergessenheit der Volkswirtschaftslehre und ihre Folgen Bericht und Gespräch Giselher Schmidt, Die 68er Legende – Mythen und Tatsachen Klaus Kinkel , Der Grundwert Solidarität in der Europäischen Gemeinschaft Andreas M. Rauch, Ost-Timor: Engagement für eine neue Ordnung Karl-Heinz Peschke , Globaler Wettbewerb und nationale Sozialpolitik Besprechungen Herausgeber: Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V. Redaktion: Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Heinrich Basilius Streithofen OP Bernd Kettern Redaktionsbeirat: Stefan Heid Martin Lohmann Edgar Nawroth OP Herbert B. Schmidt Günter Triesch Rüdiger von Voss Redaktionsassistenz: Andrea und Hildegard Schramm Druck und Vertrieb: Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831 53708 Siegburg Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891 Die Neue Ordnung erscheint alle 2 Monate Bezug direkt vom Institut oder durch alle Buchhandlungen Jahresabonnement: 49,- DM Einzelheft 10,- DM zzgl. Versandkosten ISSN 09 32 – 76 65 Bankverbindungen: Sparkasse Bonn Konto-Nr.: 11704533 (BLZ 380 500 00) Postbank Köln Konto-Nr.: 13104 505 (BLZ 370 100 50) Anschrift der Redaktion und des Instituts: Simrockstr. 19 53113 Bonn Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323 Tel. Institut: 0228/21 68 52 Fax Institut: 0228/22 02 44 Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgesandt. Verlag und Redaktion übernehmen keine Haftung Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Nachdruck, elektronische oder photome- chanische Vervielfältigung nur mit besonderer Genehmigung der Redaktion 162 164 176 193 209 216 223 228 234 240

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DIE NEUE ORDNUNG

begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP

Nr. 3/2001 Juni 55. Jahrgang

Sozialethische Erinnerung

Editorial Wolfgang Ockenfels, Globalisierung oder wer hat Angst vor K. Marx? Hans Maier, Politische Religionen – ein Begriff und seine Grenzen

Manfred Spieker, Zwischen Romantik und Revolution. Die Kirchen im 19. Jahrhundert

Manfred Hermanns, Wo steht die Christliche Gesellschafslehre?

Gerhard Kolb, Die Geschichtsvergessenheit der Volkswirtschaftslehre und ihre Folgen

Bericht und Gespräch

Giselher Schmidt, Die 68er Legende – Mythen und Tatsachen

Klaus Kinkel, Der Grundwert Solidarität in der Europäischen Gemeinschaft

Andreas M. Rauch, Ost-Timor: Engagement für eine neue Ordnung

Karl-Heinz Peschke, Globaler Wettbewerb und nationale Sozialpolitik

Besprechungen

Herausgeber: Institut für

Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V.

Redaktion:

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Heinrich Basilius Streithofen OP

Bernd Kettern

Redaktionsbeirat: Stefan Heid

Martin Lohmann Edgar Nawroth OP Herbert B. Schmidt

Günter Triesch Rüdiger von Voss

Redaktionsassistenz:

Andrea und Hildegard Schramm

Druck und Vertrieb: Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831

53708 Siegburg Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891

Die Neue Ordnung erscheint alle

2 Monate Bezug direkt vom Institut

oder durch alle Buchhandlungen Jahresabonnement: 49,- DM

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Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgesandt.

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chanische Vervielfältigung nur mit besonderer

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Editorial

Globalisierung oder wer hat Angst vor K. Marx? Wer nicht im Wirtschaftswachstum sein Genüge sucht und sich auch nicht mit naturwissenschaftlich-technischen Neuerungen abspeisen läßt, gilt immer noch als konservativ. Auch dann, wenn er sich nach geistig-moralischen Fortschritten umschaut und sie tatkräftig fördert. Bleiben diese aus, kommt ihm die Gegenwart wie ein Plagiat der Vergangenheit vor, aus der man nichts gelernt hat.

Schrecklich originell ist das jedenfalls nicht, was wir heute als „Globalisierung“ bezeichnen. Dann schon eher schrecklich als originell, wenn man das Phänomen aus der Perspektive der Globalisierungsverlierer, d. h. der Entwicklungsländer betrachtet. Diesen kommt die „weltweit immer enger werdende wirtschaftliche Verflechtung“ (Norbert Walter) ziemlich bekannt vor. Denn sie bahnte sich be-reits im 16. Jahrhundert im Gefolge der spanischen Kolonisierung Amerikas an. Auf die sozialen Probleme dieser frühen Globalisierungsform reagierten die spa-nischen Kolonialethiker mit Forderungen der Menschenwürde und der Men-schenrechte. Im Schatten der Konquista entfaltete Franz von Vitoria überdies die Grundlagen des Völkerrechts, das auch Regeln für das ökonomische Handeln enthielt, die universal und reziprok gelten sollten. Dieses Wurzelgeflecht einer weltweiten Ordnung freigelegt zu haben, ist das bleibende Verdienst von Joseph Kardinal Höffner. Hingegen zeichnen sich die meisten modernen Globalisie-rungstheoretiker durch eine Originalität aus, die auf einen Mangel an Belesen-heit, auf eine souveräne Unkenntnis der Geschichte schließen läßt.

Einen weiteren Globalisierungsschub mit neuen sozialen Fragen brachte das 19. Jahrhundert. 1848 beschrieb einer – wer wird es wohl gewesen sein?, zu dessen Geburtshaus heute nur noch wenige chinesische Touristen nach Trier pilgern, die sich abzeichnende Lage folgendermaßen: „Das Bedürfnis nach einem stets aus-gedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erd-kugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Pro-duktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum gros-sen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird ... An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlos-senheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen von einander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. ... Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktions-Instru-mente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barba-rischsten Nationen in die Zivilisation. ... Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“

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Auf die Globalisierung des Kapitalismus, die Karl Marx nicht ohne Bewunde-rung beschrieb, zielt vor allem folgender Satz aus seinem „Manifest der Kom-munistischen Partei“: „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völ-ker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.“

Hier wie in anderen Punkten mag sich Marx zwar als weitsichtiger „Analyst“ erwiesen haben. Aber seine Diagnosen und Therapien enthalten ideologische Werturteile und Vorschläge zur revolutionären Neuordnung, die sich katastro-phal ausgewirkt haben. Dennoch wird man in „gefährlicher Erinnerung“ an ihn fragen müssen: Hat seine Kapitalismuskritik nicht eine neue Aktualität erhalten? Schon lange vor Marx haben katholische Intellektuelle den Kapitalismus kriti-siert. Und die spätere, inzwischen erlahmte katholische Sozialbewegung hat ihn sozialpolitisch einzuhegen versucht: nicht ohne Erfolg auf nationaler Ebene, auch zur Abwehr sozialistischer Reaktion. Holt uns nun die Geschichte ein?

Dieser Geschichte müssen sich gerade jene Marktwirtschaftler stellen, die noch das Attribut „sozial“ ernst nehmen und es auf internationaler Ebene neu auszu-legen haben. Gibt es weltweit eine neue Akkumulation und Monopolisierung des Kapitals, so daß der internationale Wettbewerb darunter leidet? Wird der „Mit-telstand“ langsam aufgerieben? Führt die Entkoppelung von Finanz- und Real-wirtschaft nicht zu wüsten Spekulationen und Preisverzerrungen? Wie ist es mit der Zuordnung von Wissen, Kapital und Arbeit in einer globalen Börsenwelt, in der das kurzfristige shareholder-value-Denken vorherrscht? Werden Politik und Kultur, soziale und ökologis che Regelungen immer mehr durch ökonomische Interessen überwuchert? Bilden sich neue Klassen heran innerhalb und zwischen den Nationalwirtschaften? Drohen demzufolge neue Klassenkonflikte zwischen den Habenichtsen und den privilegierten Eigentümern von Wis sen und Kapital? Droht nicht die weitere Verarmung ganzer Kontinente mit der Folge neuer Völ-kerwanderungen? Muß nicht eine „neue“ soziale Marktwirtschaft im Weltmaß-stab installiert werden, um das drohende Chaos abzuwenden und geordnete Ver-hältnisse zu schaffen, in denen verantwortliches Wirtschaftshandeln überhaupt erst möglich wird? Nicht die konkrete Geschäftsstrategie einzelner Unternehmen ist hier das sozial-ethische Hauptproblem, sondern die ordnungspolitische Gestaltung der Bedin-gungen, unter denen sie global operieren können. Und zwar im Sinne der Effi-zienz wie der moralischen Verantwortung. Daß hierbei die sogenannte Dritte Welt besondere Berücksichtigung verdient, geht schon daraus hervor, daß sie Dreiviertel der Weltbevölkerung stellt, aber bisher kaum an den Vorzügen der globalen Marktwirtschaft teilhaben kann. Der Mangel an Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder führt dazu, daß ihnen der Zugang zum Weltmarkt versperrt bleibt. Die Preisfrage lautet: Wie kann dieser Markt so geordnet werden, daß er sich als gerecht und armutsüberwindend zugunsten der Entwicklungsländer auswirkt? Zuweilen soll es sogar recht nützlich sein, den Standort der anderen zur Rettung des eigenen zu verteidigen. Man muß ja nicht gleich mit Marx drohen.

Wolfgang Ockenfels

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Hans Maier

Politische Religionen – ein Begriff und seine Grenzen*

Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus: das schienen bis vor kurzem aus-schließlich politische Phänomene zu sein. Und so war es ganz natürlich, daß sich vor-wiegend Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler, Juristen mit ihnen beschäftig-ten. Akten wurden ediert, Theorien entwickelt, Kongresse veranstaltet, ein Bild der Zeit von 1917 bis 1945 (und später bis 1989) entstand, ohne daß dabei der Gesichtspunkt Religion eine besondere Rolle gespielt hätte. Gewiß, es gab die kirchliche Zeitgeschich-te. Im Rahmen der Erforschung des Faschismus und Nationalsozialismus, später des Kommunismus wurden auch die kirchlichen und religiösen Verhältnisse untersucht. Aber das war eine – wenn auch wichtige – Nebenstimme im Konzert der Forschung. Das Schicksal der Kirchen im NS-Staat wie im Kommunismus war ein Sonderbereich, ebenso zu erforschen wie andere Bereiche, wie Wirtschaft, Kultur, Schule, Familie. Aber das Thema „Religion“ prägte nicht den methodischen Zugriff auf die NS-Zeit. Es lag am Rande, nicht im Zentrum. Das hat sich spätestens seit den siebziger Jahren geändert. Seitdem der Holocaust in den Vordergrund zeitgeschichtlicher Forschung trat und damit etwas, was schon dem Wortsinn nach in die religiöse Sphäre verwies – Holocaust gleich Brandopfer –, seither werden Religion, Kult, Fest, Feier, Glaube, Gläubigkeit, der Wahrheitsanspruch mo-derner Ideologien, ihr Zugriff auf den „ganzen Menschen“, ihr Ausschließlichkeitscha-rakter mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet und mit neuem Interesse untersucht. Das gilt nicht nur für die Faschismus- und Nationalsozialismus-Forschung, die dieses Phänomen nie ganz aus den Augen verloren hatte, es gilt auch für die Erforschung des Sowjet-Kommunismus. So war Solschenizyns Abrechnung mit Ideologie und Praxis des Kommunismus vom „Tag im Leben des Ivan Denissowitsch“ bis zum „Archipel GULAG“ und bis zum „Roten Rad“ begleitet von der ständigen Auseinandersetzung mit religiösen Fragen, insbesondere mit Vergangenheit und Gegenwart der russischen Orthodoxie. Der Archipel GULAG, das System der sowjetischen Konzentrations- und Vernichtungslager, die Massenvernichtung der ukrainischen Bauern, der millionenfa-che Mord an politischen Feinden durch Erfrieren- und Verhungernlassen oder durch permanente Schwerstarbeit, solches erklärt sich nach Meinung Solschenizyns nicht einfach aus politischem Kalkül oder aus Staatsräson. Säuberung wird hier vielmehr zu einem Prozeß der Menschenvernichtung, der bewußten und gewollten Annihilation. Daniel Suter1 hat die Bilder untersucht, die in den Säuberungsprozessen in der Sowjet-union und im kommunistischen Ostblock in der Nachkriegszeit immer wieder ge-braucht wurden – Ausrottung, Zerschmetterung, Auslöschung. Mit der leiblichen Zer-störung soll auch der Name und das Andenken des politischen Feindes ausgetilgt wer-den. Aber ebenso regelmäßig folgen auf die Bilder der ewigen Finsternis, des Dunkels und des Vergessens Bilder der Sonne und des Lichts. Ein Zitat aus einem Moskauer

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Prozeßbericht in den großen Säuberungen 1938: „Aber über uns, über unserem glückli-chen Land wird nach wie vor unsere Sonne mit ihren hellen Strahlen klar und freudig leuchten. Wir, unser Volk, werden nach wie vor, geführt von unserem geliebten Führer und Lehrer – dem großen Stalin, den vom letzten Schmutz und Unrat der Vergangen-heit gesäuberten Weg gehen, vorwärts und immer vorwärts, dem Kommunismus ent-gegen“.2 Der ewigen Finsternis, aus der der Feind auftaucht und in die er wieder hinab-gestoßen wird, stellen die Ankläger die lichte Zukunft der Getreuen und Rechtgläubi-gen gegenüber, die sich unter der Führung des „guten Hirten“ – auch diese Bezeich-nung taucht auf – Schritt für Schritt dem Paradiese nähern.

Auch in der chinesischen Revolution unter Mao Tse-tung ging es nicht einfach um eine andere politische Ordnung – etwa darum, das Reich der Mitte in seiner alten Geltung wiederherzustellen. Die Führer des neuen China verstanden sich vielmehr als Werk-zeuge eines säkularen geschichtlichen Umbruchs, der die bisherige Herrschaft der Sippengewalten, der lokalen und regionalen Schutzgötter überwinden und eine klassen-lose Gesellschaft, einen paradiesischen Endzustand hervorbringen sollte. Schon seit dem „Langen Marsch“ wurde Mao in Bildern, Gedichten, gebetsähnlichen Anrufen zum neuen Messias stilisiert, unter dessen Führung die „finsteren Mächte“ vernichtet und „Himmel und Erde in Bewegung“ versetzt werden sollten. Wer sich dem neuen Über-Kaiser entgegenstellte, dem wurde der Prozeß gemacht. Im besten Fall hatte er unter einem Schandhut zu beichten und Besserung zu geloben. Die Ähnlichkeit solcher Zeugnisse mit religiösen Sprech- und Denkweisen ist offen-kundig. Ebenso klingen in den Worten der Angeklagten Gewissenserforschung, Sün-denbekenntnis, Reue und Zerknirschung an. Außenstehende dürften sich an Szenen aus dem kirchlichen Leben erinnert fühlen – an Vorgänge der Aufnahme in die Gemein-schaft der Gläubigen, der Katechese und Glaubensprüfung, der Einweihung in die Mysterien der Kirche, aber auch der Ausschließung unbußfertiger Kirchenmitglieder, der Exkommunikation von Renegaten und Ketzern. Erinnerungen an dunkle Kapitel der Geschichte werden wach, an Inquisition und Ketzerprozesse, an Glaubenszwang und Religionskriege. Hier möchte ich anknüpfen. Ich will versuchen, Ihnen Begriff und Konzept der Politi-schen Religionen als einer Methode des Diktaturvergleichs in gedrängter Kürze vorzu-stellen und zugleich nach den Grenzen dieser Konzeption zu fragen. Zuerst spreche ich von religiösen Elementen im Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus (I). Zweitens schildere ich, wie sich zur Deutung dieser Phänomene seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Begriff der Politischen Religionen entwickelt hat (II). Zum Schluß stelle ich die Frage, ob dieser Sprachgebrauch denn legitim sei. Darf man politische Phänomene mit religiösen Kategorien erklären oder erläutern? Verfehlt man damit nicht das Politische? Oder umgekehrt: Verzerrt man damit nicht die Religion (III)?

I.

Daß religionsähnliche Phänomene sowohl im russischen Kommunismus wie im italie-nischen Faschismus und im deutschen Nationalsozialismus vielfältig auftauchen, ist offenkundig und bedarf kaum der Nachweise. München mit seinem Marsch des 9. November, mit seinem ewigen Feuer an der Feldherrnhalle, aber auch das Nürnberg

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der Reichsparteitage, das Berlin der Sporthallen-Kundgebungen bieten Beispiele und Belege aus unserem Erfahrungsbereich für einen quasi-religiösen, jedenfalls mit religi-ösen Formen spielenden und experimentierenden öffentlichen Kult.

„Bei der Wahl der Formelemente“, hat Hans-Günter Hockerts geschrieben, „bediente sich der braune Kult im Repertoire sehr verschiedener Traditionen. Massenaufmarsch und Gedenkumzug, Chöre und Musik, Appell und Gelöbnis, Fahnen, Fackeln, Feuer-schalen, was immer Wirkung versprach, verleibte er sich ein. So entstand ein Ritual-gemisch, das Anleihen bei der christlichen Liturgie mit militärischen und folkloristi-schen Traditionen verband. Dazu kamen Übernahmen aus dem Formenkreis der Ju-gendbewegung, der Operndramaturgie (Richard Wagner) und der antiken Mythologie. Besonders eng verband sich der NS-Kult mit jener Traditionslinie nationaler Gedenk- und Feiertage, die – wie der ‚Sedanstag’ – im Zeichen der ‚Nationalisierung der Mas-sen’ (George L. Mosse) zur Verherrlichung von Kampf, Krieg und Heldentod entstan-den war. Aber man griff auch auf die vielfach pompöse Festkultur der Arbeiterbewe-gung und das Propaganda-Arsenal der politischen Linken zurück. Die Anverwandlung des 1. Mai als Feiertag der ‚nationalen Arbeit’ ist dafür das deutlichste Beispiel.“3 Am 9. November 1923 beendete eine Gewehrsalve der Bayerischen Landespolizei den sogenannten Hitlerputsch an der Feldherrnhalle. Drei Polizisten und 14 Putschisten wurden getötet. In panikartiger Flucht lief der Zug der Hitleranhänger auseinander. Zwei weitere Putschisten kamen bei der von Ernst Röhm angeführten Besetzung des Wehrbereichskommandos an der Ecke Schönfeldstraße/Ludwigstraße – heutiges Baye-risches Staatsarchiv – ums Leben. „Den Tod dieser Sechzehn machte Hitler zum Mysterium. Er stilisierte den 9. Novem-ber zum weihevollsten Tag und die Feldherrnhalle zum heiligsten Ort des braunen Kults... Anfangs konnte man von ihm noch umständliche Begründungen hören wie die, der Putsch sei eine notwendige Bedingung für den anschließenden Legalitätskurs der Partei gewesen, dieser wiederum eine Voraussetzung für den Erfolg von 1933. Die pompösen Feiern von 1935 an streifen solche Rechtfertigungen völlig ab. Seither rück-te der ‚Opfertod’ der 16 ‚Blutzeugen der Bewegung’ wie ein ‚Passionsspiel’ (Hans-Jochen Gamm) in das Zentrum der ‚nationalsozialistischen Heilsgeschichte’ (Klaus Vondung). An keinem anderen Feiertag treten die Züge einer ‚politischen Religion’ so deutlich hervor. Der 9. November wurde zum Angelpunkt einer Auferstehungs- und Erlösungsdramaturgie, deren Stoff die deutsche Geschichte war. Das Ritual entstand zwischen 1933 und 1935. Im November 1933 wurde an der zur Residenz gewandten Seite der Feldherrnhalle, wo der Zug 1923 gestoppt worden war, ein Mahnmal errichtet – eine schwere, von Hakenkreuz und Reichsadler überwölbte Bronzetafel mit den Namen der im ‚Glauben an die Wiedererstehung ihres Volks’ gefallenen Sechzehn. Seither hielt ein Doppelposten der SS hier ständig Ehrenwache. Alle Passanten spürten den Erwartungsdruck, den Arm zum Hitlergruß zu heben.“4 Diejenigen, die das nicht wollten, konnten durch die Viscardigasse gehen, das kleine Sträßchen, das in der NS-Zeit Drückeberger-Gäßchen hieß. Hermann Lenz hat das in seinem Buch „Neue Zeit“ (1975) sehr plastisch geschildert. In der Folgezeit entwickelte sich rings um den 9. November eine regelrechte politische Liturgie: die von Feuerpylonen erhellte Ludwigstraße, durch die Hitler um Mitternacht

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fuhr, die mit blutrotem Tuch ausgeschlagene Feldherrnhalle mit den in Sarkophagen aufgebahrten Toten, der Zug der „Alten Kämpfer“ hinter der „Blutfahne“, das Toten-gedenken mit Aufruf der Namen der Gefallenen, die Kranzniederlegung durch Hitler am Mahnmal, der zum „Altar“ ausgestalteten Feldherrnhalle. Seit 1935 wurde der Zug ausgeweitet. Zum Mittelpunkt wurde jetzt der Königsplatz. Dort wurde das Zeremo-niell des „Letzten Appells“ entfaltet. Die Toten bezogen in den für sie erbauten Ehren-tempeln die Ewige Wache. Hitler trat in die Tempel ein, um seine toten Kameraden mit dem Kranz der Unsterblichkeit zu schmü cken. Ein kurzer Blick nach Rußland. Hier hat sich die bolschewistische Religionspolitik früh gegen die orthodoxe Kirche gewandt, und die erste gewalttätige Reaktion, von der wir wissen, war die, daß man Gräber und Schreine öffnete und Reliquien vernichtete. Die Zerstörung und Zerstreuung der toten Gebeine sollte die Unhaltbarkeit der Religion erweisen. Seit jeher hatte in Rußland ja die Verehrung des unverwesten Heiligenkorpus eine große Bedeutung. „Diesen alten Glauben wollte man nun als einen besonders perversen Bestandteil der ohnehin unsinnigen Religion decouvrieren und zerstören. Die Gottlosen-Bewegung machte entsprechende Propaganda. In einer deutschsprachigen Radiosendung des Moskauer Gewerkschaftssenders Weihnachten 1930 wurde ein ‚Spaziergang durch das antireligiöse Museum’ gesendet und dabei folgendes beschrie-ben: Nun kamen wir in die Abteilung ‚Die Kirche in der Sowjetunion’. In der Ecke eines Saales befanden sich Reliquien, Totenreste. Dieses Wort wurde bei uns zum Symbol der allerekelhaftesten und gemeinsten Lüge, die die würdigen Kirchenväter zur nied-rigsten Ausbeutung der Menschheit gebraucht haben. Wir besichtigten diese Reliquien mit Ekel ... Auf dem Platz vor dem Museum atmete ich auf, ..., als hätte ich mich aus dem Reich der Finsternis entfernt. Der laute Lärm Moskaus, die bewegte Twerskaja, energische Menschen, das sind unsere Wirklichkeiten, in denen wir leben, in denen wir ohne Heilige, ohne Reliquien und ohne Weihrauch vorwärts schreiten.“5 Es entbehrt nicht der Ironie, daß die Bolschewisten, als sie daran gingen, das Gedenken an die Revolution zu verewigen, auf die Formen des Reliquienkults zurückgriffen, indem sie Lenin einbalsamierten und zur Verehrung ausstellten, am Roten Platz, in einem Mausoleum – übrigens bis zum heutigen Tag. „Von religionshistorischer Seite ist sofort auf diesen offenkundigen Widerspruch hingewiesen worden, daß man näm-lich mit aufklärerischen Argumenten gegen die Religion kämpfte, aber das Bekämpfte am Ende für die eigene Propaganda in Anspruch nahm – Lenin, der Gründer, ‚unver-west fortlebend’.“6 Schon 1918 hatte Sinowjew Lenin als „Apostel des Weltkommu-nismus“ bezeichnet – seine Schriften seien ein „Evangelium“ aller wahren Revolutio-näre. Auch im Alltag wurden Symbole der bekämpften Religion in neuen Formen weiterverwendet – so in der Überführung der Ikonenecke in eine „Friedensecke“ oder in den zu Gedächtnisstätten des Atheismus umfunktionierten Kirchen. Bis zu Formen säkularer Vergöttlichung steigert sich die Verehrung religiöser Führer im Maoismus. Hier erscheinen alle Elemente von Religion und Kult, aber auch von heiliger Lehre und systematischer Katechese gebündelt. Nicht nur, daß um Mao ein regelrechter Sonnenkult entstand, daß er im Osten – aber auch in den Kulturrevolutio-nen des Westens! – in Sprechchören, Festen und Prozessionen verherrlicht wurde, auch seine Schriften wurden früh verehrt und errangen im Lauf der Zeit kanonische Geltung.

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Das „Rote Buch“, 1964 für chinesische Soldaten aus Worten des „Großen Vorsitzen-den“ kompiliert, wurde zu einem förmlichen Katechismus der maoistischen Ideen; zwischen 1966 und 1968 wurde es in nicht weniger als 740 Millionen Exemplaren gedruckt (die vierbändigen „Ausgewählten Werke“ Maos in 150 Millionen, die Ge-dichte in 96 Millionen!).

II.

Ich komme zum zweiten Teil. Hier möchte ich Ihnen schildern, wie die erwähnten religiösen Phänomene – ich habe nur einige ausgewählt – für denkende Zeitgenossen Lenins, Mussolinis, Hitlers, zum Anlaß wurden, sich die neuen Despotien als Surrogate von Religion, als Religionsersatz oder Ersatzreligionen vorzustellen, sie als „säkulare“ oder als „politische“ Religionen zu bezeichnen. In dieser Perspektive erscheinen Bol-schewismus, Faschismus und Nationalsozialismus als Formen eines Glaubens – einer quasi-religiösen Unterwerfung unter eine höhere, ja absolute Autorität. Den Anfang macht Franz Werfel in Vorträgen, die er 1932 in Deutschland hielt. In ihnen entwirft er das Bild eines typischen „Mannes von der Straße“, eines vom Welt-krieg erschütterten, an Vernunft und Wissenschaft verzweifelnden Zeitgenossen. Der Mann hat zwei Söhne. Diese können nicht leben mit einem passiven Ich, das nur, wie Werfel sagt, das „Nichts auf Urlaub“ ist. Sie streben von ihrem Ich fort, suchen Anschluß an eine höhere Ordnung, „... an eine Überordnung, an eine Autorität, der sie sich leidenschaftlich unterwerfen, für die sie gegebenenfalls ihr Leben opfern werden ... Unsere Zeit bietet den jungen Leuten zwei radikale Glaubensarten an. Sie ahnen schon, daß der eine Sohn unseres Straßenmannes Kommunist ist und der andere Nationalsozi-alist. Der naturalistische Nihilismus spaltet sich gleichsam in zwei Äste. Die Jugend tut den Schritt vom hilflosen Ich fort. Kommunismus und Nationalsozialismus sind primi-tive Stufen der Ich-Überwindung. Sie sind Ersatz-Religionen, oder wenn Sie wollen, Religions-Ersatz.“7 Und dann etwas später: „Wir haben dargetan, daß die beiden größ-ten Bewegungen der Gegenwart, Kommunismus und Nationalismus, antireligiöse, jedoch religionssurrogierende Glaubensarten sind und keineswegs nur politische Ideale. Sie sind echte Kinder der nihilistischen Epoche und deshalb auch nicht weit vom Stamm gefallen. Wie ihr Vater kennen sie keine transzendente Verbundenheit, wie er hängen sie im Leeren. Sie geben sich aber mit dieser Leere nicht mehr zufrieden, son-dern veranstalten in ihr Exzesse, um sie zu überwinden.“8 Soweit Werfel – und man staunt, bei diesem expressionistischen Lyriker und Roman-Autor eine so präzise Schil-derung kollektiver seelischer Befindlichkeiten zu finden. Neben den Erzählungen und Essays von Kafka, Broch und Musil sind die Essays von Werfel aus den dreißiger Jah-ren die ersten genauen Beschreibungen des Kommenden. Den Begriff „Politische Religionen“ hat dann – wiederum in Wien! – Eric Voegelin 1938 in seinem gleichnamigen Buch entwickelt. Ein Jahr später taucht er bei Raymond Aron in Paris auf: „Religion politique“, später „religion séculière“. In Voegelins „Politi-schen Religionen“ werden Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus, wohl erstmals, in einen universal-historischen Zusammenhang gebracht. Sie sind für ihn Produkte von Säkularisierungsvorgängen in den typischen „verspäteten Nationen“ Europas – Nationen, die nicht mehr, wie die angelsächsischen, in christlichen Traditio-

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nen stehen, sondern ihren politischen Zusammenhalt aus massenwirksamen Ideologien der Klasse oder Rasse, der Ökonomie oder des Blutes zu gewinnen suchen. Das Bemü-hen um eine quasi-religiöse Dimension politischer Ordnung – in wie pervertierten Formen auch immer – verbindet die modernen Gewaltregime mit Modellen einer poli-tisch-religiösen Einheitskultur, die Voegelin geschichtlich bis zum alten Griechenland und zum alten Ägypten zurückverfolgt. Die modernen Diktaturen gründen nach seiner These in einer innerweltlichen Religiosität, die das Kollektiv der Rasse, der Klasse oder des Staates zum „Realissimum“ erhebt und damit „divinisiert“. Das Göttliche wird in „Teilinhalten der Welt“ gesucht und gefunden; es ist eng verbunden mit einem je-eigenen „Mythos der Erlösung“. Während Voegelins Position in einer christlichen Anthropologie wurzelt, die in späte-ren Werken weiterentwickelt und systematisiert wird, steht Raymond Arons Konzept in der Tradition liberaler Totaliarismuskritik. Aron verwendet den Religionsbegriff, an-ders als Voegelin, vorwiegend in religionskritischer, aufklärerischer Absicht: totalitäre Systeme sind „religiös“ insofern, als sie die moderne (und christliche!) Scheidung der zwei Gewalten Religion und Politik rückgängig zu machen streben. Ähnlich wie Reli-gion in früheren Gesellschaften universell verbreitet war, werden heute Ideologien in modernen „totalitären“ Gesellschaften „omnipräsent“. Auch politisches Handeln ist nun nicht mehr vom rechtsstaatlichen Gesetz bestimmt, es wird gerechtfertigt durch Berufung auf „absolute Werte“. Daß moderne politische Bewegungen mit Hilfe religiöser Kategorien beschrieben und analysiert werden können, ist ein Ergebnis der religionsphilosophischen und -phänomenologischen Forschung seit dem Ersten Weltkrieg – summarisch sei an die Arbeiten von Rudolf Otto, Heinrich Scholz, Gerardus van der Leeuw, Mircea Eliade, Friedrich Heiler, Romano Guardini und Roger Caillois erinnert. Hier tritt ein neuer umfassender Religionsbegriff hervor, der die individualistischen Engführungen des 19. Jahrhunderts überwindet: Religion gewinnt hier mit der sozialen Dimension auch die Züge des Numinosen, Faszinierend-Erschreckenden, Provozierenden zurück, die in einer Betrachtung der Religion „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ verloren gegangen waren. Das Schauervolle und Unheimliche, das Tremendum et Fascinosum werden als Momente religiöser Erfahrung neuentdeckt.

In der Tat operieren totalitäre Bewegungen in ihren Worten und Handlungen mit Mo-menten, die auch in religiösen Zusammenhängen vorkommen. Zum einen ist hier der Schrecken zu nennen. Nach Raymond Aron wie nach Hannah Arendt ist die totalitäre Herrschaft wesentlich durch das Moment des Terrors bestimmt. „Das eiserne Band des Terrors konstituiert den totalitären politischen Körper und macht ihn zu einem unver-gleichlichen Instrument, die Bewegung des Natur- oder des Geschichtsprozesses zu beschleunigen.“9 Der Terror ersetzt den „Zaun des Gesetzes“ durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, daß jede freie, unvorhersehbare Handlung ausge-schlossen ist. „Terror in diesem Sinne ist gleichsam das ‚Gesetz’, das nicht mehr über-treten werden kann.“10 Diese terroristische Stabilisierung soll der Befreiung der sich bewegenden Geschichte oder Natur dienen. Raymond Aron deutet den polizeilichen wie den ideologischen Terror der totalitären Bewegungen als Folge davon, daß jede Tätigkeit zur Staatstätigkeit geworden und von der Staatsideologie bestimmt ist; so

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werde eine Verfehlung im wirtschaftlichen oder beruflichen Bereich gleichzeitig zu einer ideologischen Verfehlung. Ein totalitäres System versucht seinen Einfluß auch in der Privatsphäre des Menschen geltend zu machen. Es darf keine noch so kleine Nische geben, in der die politische Ideologie nicht in irgendeiner Weise präsent ist. Auch Religionen neigen dazu, den Menschen detaillierte Vorschriften zu machen, ihnen für jede mögliche Situation Hand-lungsanweisungen zu geben, sie durch Initiationen, Symbole und Rituale aneinander zu ketten. Das nationalsozialistische Ritual der „Blutfahne“ etwa ist nach Hannah Arendt „das Erlebnis einer mysteriösen Handlung, das offenbar als solches Menschen besser und sicherer aneinanderkettet als das nüchterne Bewußtsein, ein Geheimnis miteinan-der zu teilen.“11 Hannah Arendt wie Eric Voegelin haben verdeutlicht, daß die totalitären Bewegungen mit Fiktionen arbeiten. Sie orientieren sich nicht an der Realität, sondern an einer selbsterfundenen Scheinordnung. Totalitäre Führer zeichnet nach Arendt die unbeirrba-re Sicherheit aus, „mit der sie sich aus bestehenden Ideologien die Elemente heraussu-chen, die sich für die Etablierung einer den Tatsachen entgegengesetzten, ganz und gar fiktiven Welt eignen.“12 Aus der erfahrbaren Welt werden geeignete Elemente für eine Fiktion herausgenommen und so verwendet, daß sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben; die „Weltverschwörung“ ist nach Arendt eine dieser Fikti-onen. Gewiß haben solche Einbildungswelten nur begrenzte Dauer; vor der Wirklich-keit muß das Kartenhaus der Lüge nach gewisser Zeit zusammenbrechen. „Die Seins-verfassung bleibt, was sie ist, jenseits der Machtbegierden des Denkers; sie wird nicht dadurch verändert, daß ein Denker ein Programm zu ihrer Änderung entwirft und sich einbildet, er könnte das Programm verwirklichen. Das Ergebnis ist also nicht Herr-schaft über das Sein, sondern eine Phantasiebefriedigung.“13 Eine weitere Parallele zwischen Religion und totalitären Bewegungen stellt die Verhei-ßung des Heils und die Gestalt des Heilbringers dar. Romano Guardini hat diesen Zusammenhang 1946 in seiner Schrift „Der Heilbringer“ herausgearbeitet. Die Weise, wie der Nationalsozialismus von Blut, Rasse und Erde spricht, enthüllt, daß eine religi-öse Dimension im Spiel ist. „Geheimnis des Blutes“, „ewiges Blut“, „heiliges Blut“ – Vokabeln dieser Art finden sich auf Schritt und Tritt. Der Mythos braucht einen Ver-künder und Verkörperer: Er wird gefunden in Adolf Hitler. Der „Meldegänger Gottes“, wie er zu Beginn der „Bewegung“ genannt wird, ist fähig, zu allem Kraft zu geben. Wo vorher im Hause der Herrgottswinkel mit dem Bild des Gekreuzigten gewesen war, soll jetzt der „Gotteswinkel“ eingerichtet werden; in ihm erscheint zusammen mit dem Hakenkreuz, das Bild Hitlers. In einer den „Deutschen Christen“ überlassenen Kapelle steht das Bild des „Führers“ auf dem Altar selbst. Der Gruß „Heil Hitler!“ kann nach Guardini zum einen so gedeutet werden, daß Hitler Heil gewünscht wird, zum anderen aber auch so, daß Hitlers Heil über den, dem man gerade begegnet, kommen möge. Eric Voegelin hat seine religionsphänomenologische Interpretation der modernen des-potischen Regime später zu der bekannten These verdichtet, die politischen Massen-bewegungen des 20. Jahrhunderts – Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus – wiesen allesamt einen „gnostischen“ Charakter auf. Sie beruhten auf der Annahme, der Mensch könne durch eigenes Handeln die Übel dieser Welt beseitigen. Die Gewiß-heit, die der Mensch vom Wesen her suche, böten ihm die gnostischen Systeme in einer

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Doktrin innerweltlicher Sinnerfüllung an. Der Mensch, der dieser Versuchung nachge-be, versinke immer mehr in die Falls tricke der Verweltlichung: in das „dämonisch-verstockte Beharren auf dem Handeln, zu dem die Leidenschaft treibt“.14

Von diesen religionsphänomenologischen Parallelismen (die besonders gut auf Fa-schismus und Nationalsozialismus passen!) möchte ich die kirchensoziologischen im engeren Sinne unterscheiden – die wiederum erstaunlich auf den Bolschewismus pas-sen. Ein Schlüsselthema ist die Frage der Zugehörigkeiten. Im Unterschied zum plura-listischen Vereins- und Parteiwesen in der Demokratie mit seinen lockeren, stets revi-dierbaren Formen der Mitgliedschaft schaffen totalitäre Parteien „existentiell riskante“ Zugehörigkeiten, deren Strukturen vielfältig auf die der Kirchenzugehörigkeit verwei-sen, mit den entsprechenden Ein- und Austrittsbedingungen, der zugehörigen Disziplin, den damit verbundenen Sanktionen. Die Bezeichnungen – obwohl meist „bewußtlos“ verwendet – sprechen eine deutliche Sprache. Es gibt vor allem im Kommunismus „reine Lehren“, „heilige“ (oder doch kanonische) Bücher und Testamente, es gibt Ket-zer und Ketzergerichte, es gibt strafbewehrte Sorge für Glaube und Sitte, es gibt Inqui-sition, aber natürlich auch Häresie und Ketzerei, Dissidenten und Renegaten, Apostaten und Proselyten. Die systematische Aufschlüsselung dieser Phänomene steckt noch in den Kinderschuhen. Ein erster Versuch der Analyse liegt seit 1991 mit Michael Rohr-wassers Buch über die „Renegatenliteratur!“ (Orwell, Koestler, Kantorowicz, Sperber, Sahl, Krebs, Glaser u.a.) vor.15 An die kirchensoziologischen Betrachtungen knüpft endlich eine Betrachtung der modernen Despotien unter kirchen- und universalgeschichtlichen Gesichtspunkten an. Sie sieht in diesen Bewegungen eine Negation der für die europäische Geschichte grundlegenden Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, ein Nachlassen des christlichen „Exorzismus am Staat“, eine Rückbewegung hin zur antiken Ungeschie-denheit von Polis und Religion, Kult und Politik. Klassisch formuliert ist dieser Zu-sammenhang schon 1929 bei Hermann Heller: „Der Staat kann nur totalitär werden, wenn er wieder Staat und Kirche in einem wird, welche Rückkehr zur Antike aber nur möglich ist durch eine radikale Absage an das Christentum.“16 Diese Forschungsper-spektive führt zur Neuentdeckung der antiken „politischen Theologie“ und zu ihrer Verwendung als Instrument der Analyse moderner Ideologien; Schlüsselfigur ist der Theologe Erik Peterson, dessen Untersuchungen – ursprünglich als Entgegnung auf Carl Schmitts „Politische Theologie“17 gedacht – auf Jacques Maritain, Jacob L. Tal-mon und John C. Murray eingewirkt haben.

III.

Aber nun die Frage: Darf man das überhaupt? Darf man politische Phänomene mit religiösen Kategorien beschreiben? Weiß man, was man damit tut? Wird hier nicht die Religion in eine zweifelhafte Sphäre, in einen Bereich der Zweideutigkeiten und Am-bivalenzen hineingezogen? Verwischen sich am Ende nicht die Grenzen zwischen Religion und Kriminalität? Sollte man daher nicht besser, wenn man schon eine religi-öse Terminologie verwenden will, von Anti-Religion, von Pseudo-Religion, von Reli-gionsersatz, von Ersatzreligionen sprechen? Dazu abschließend einige – durchaus vorläufige – Überlegungen und Erwägungen.

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1. Es ist natürlich richtig und wahr, daß Lenin, Mussolini und Hitler keine Religionsstif-ter waren. Ihr Verhältnis zur Religion war auf unterschiedliche Weise fremd, feindlich oder kühl. Lenin hat die sogenannten Gottsucher, die religiösen Sozialisten, die es ja zu Beginn der russischen Revolution durchaus gab (Lunatscharski, der erste Kultusminis-ter, war ursprünglich einer von ihnen), gehaßt und verachtet. Er versuchte sie auszu-schalten; denn er hielt jede religiöse Idee, „jede Idee von einem Gott“ für eine „unsag-bare Abscheulichkeit“ (Brief an Maxim Gorki vom 14.9.1913). Mussolini, der in seiner Jugend als Sozialist ein anti-kirchliches Drama von der Art der Machiavellischen „Mandragola“ geschrieben hatte, blieb zeitlebens, was die Religion anging, ein Prag-matiker und Ordnungspositivist; er hätte mit Maurras sagen können: „Je suis catholi-que mais je suis athée.“ Als solcher betrachtete er die Kirche als eine Organisation, eine öffentliche Macht – aber keineswegs als eine Institution des Glaubens und der Gläubi-gen. Mit Hitler dürfte es ähnlich stehen. Respekt vor der Institution Kirche, ihrem orga-nisatorischen Zusammenhalt, ihrer pädagogischen Formkraft, ihrer „Macht über die Seelen“ verbindet sich bei ihm mit der scharfen Ablehnung der „Pfaffen“ und mit einem Geschichtsbild, das in jüdisch-christlichen Traditionen geradezu den Sprengsatz des Abendlandes sieht – das Christentum ist in seinen Augen ein Ferment der Auflö-sung, eine Vorstufe des Bolschewismus. Für den religionsstiftenden Eifer eines Rosen-berg , für den Ritualismus eines Himmler, für alle diejenigen in der Partei, die die natio-nalsozialistische Weltanschauung religiös-kultisch ausformen wollten, hatte er nur Hohn und Spott übrig.

2. Das hindert nicht festzustellen, daß es unter den Anhängern Lenins, Mussolinis, Hitlers ohne Zweifel religiös bewegte Menschen von echter subjektiver Gläubigkeit gab, sei es, daß sie in diesen Diktatoren religiöse Figuren sahen, zu denen man auf-schaute, die man verehrte, sogar anbetete – es gibt viele Zeugnisse dafür –, sei es, daß die Lehren, die von den neuen Machtzentren, den Parteien und Bewegungen ausgin-gen, nun ihrerseits als religiöse Botschaften interpretiert wurden. Kein Zweifel, viele der Aktivisten, der Helfer und Mitläufer totalitärer Parteien verstanden ihren Dienst nicht als Anti-Religion, sondern durchaus als Religion. Sie waren Täuflinge einer neu-en Kirche, Adepten einer neuen Rechtgläubigkeit. Daraus erklärt sich ihr Eifer, ihre Dienstwilligkeit, ihre Leidenschaft, die über politische Erwägungen und Rationalitäten weit hinausging. Ohne diesen religiösen oder jedenfalls religionsähnlichen Eifer ist vieles nicht zu erklären, was der Geschichte der modernen Despotien ihr Gepräge gibt: Die hohe Loyalität und Gehorsamsbereitschaft vieler, die nicht allein aus Terror und Angst erklärt werden kann, die Unempfindlichkeit gegenüber Kritik und Zweifeln, das Gefühl, eine Mission zu erfüllen, die Gefolgschaftstreue und Leidensbereitschaft. 3. Welcher Art war diese Religiosität? Hier sind einige Unterscheidungen geboten. Zunächst treten Züge religiöser Dynamik mehr zu Beginn als im Fortgang moderner Revolutionen auf: das gilt schon für die Anfänge der Französischen Revolution, die ohne Zweifel von einem religiösen Enthusiasmus begleitet waren. Auch in Rußland äußerten sich 1917/18 die Hoffnungen auf Kriegsende, Frieden, Landerwerb, soziale Besserung nicht selten in religiösen Worten, Bildern und Symbolen: so sah Alexander Blok in seinem Gedicht „Die Zwölf“ Jesus im nächtlichen Petrograd den zwölf Rotgar-disten voranschreiten, „kugelfest, verratgefeit, schneeverhüllt ... lichtumstrahlt gleich einem Stern“. Selbst das kurzlebige Dritte Reich kannte zumindest in seinen Anfängen

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einen religiös unterströmten Führerkult mit messianischen Zügen: Helmuth Kiesel hat das an SA-Romanen und Weihespielen zwischen 1930 und 1934 gezeigt. Und wie sehr Lenin und Stalin, aber auch Mao, Fidel Castro, Kim il-Sung und andere kommunisti-sche Führer in Gedichten, Epen und Dramen zu heilandsähnlichen Gestalten verklärt wurden, dafür haben Gerd Koenen und Michael Rohrwasser eine Fülle sprechender (oft erschreckender) Zeugnisse gesammelt.

Sieht man genauer zu, so entdeckt man freilich, daß diese Stilisierungen mehr von außen, von Betroffenen und Bewunderern kommen als von innen, aus dem Zentrum der Macht. Sie sind in erster Linie Herrscherlob aus Untertanenmund – nicht unbedingt eigene Selbstdarstellung der Herrschenden. Freilich haben die Führer der totalitären Regime Strömungen religiöser Inbrunst und Verehrung stets als Mittel zum Zweck benutzt und in Dienst genommen mit dem Ziel, die eigene, rein politische Legitimati-onsbasis zu verbreitern. Galt es doch Fremdlegitimationen religiöser Art, die man nicht kontrollieren konnte (und die sich vielleicht im Krisenfall als gefährliche Konkurrenz erwiesen!) tunlichst auszuschalten. In diesem Sinn hat Hermann Lübbe den modernen Totalitarismen zu Recht eine Tendenz zur „legitimatorischen Vollversorgung“ zuge-schrieben. Man wollte keine Kirche neben sich, man wollte Staat und Kirche in einem sein – siehe oben.

4. Gegen den Begriff der „politischen Religion“ ist immer wieder eingewendet worden, daß es sich bei den modernen „politischen Religionen“ um innerweltliche Schöpfungen handelt, um Reiche ganz und gar „von dieser Welt“. Ihre Gö tter seien höchst irdische und menschliche Wesen. Jeder Transzendenzbezug gehe ihnen ab. Das ist ohne Zwei-fel richtig. Religiösen Menschen fällt es daher schwer, die modernen Totalitarismen als Religionen – politische Religionen – zu bezeichnen. Sie sprechen lieber von Pseudo-Religionen, von Anti-Religionen. Das ist sehr begreiflich. Ich habe viel Sympathie für diese Haltung. Dennoch bleibt ein Einwand. Juan Linz hat ihn bezüglich des Faschis-mus wie folgt formuliert: „...man kann den Faschismus definieren als einen Anti-Liberalismus, Anti-Kommunismus, Anti-Klerikalismus, Anti-Internationalismus, es ist eine Anti-Bewegung schlechthin. Aber der Erfolg des Faschismus ist nicht nur auf seinem Anti-Charakter aufgebaut, sondern darauf, daß er auch gewisse positive Ele-mente verkaufen wollte und zum Teil sehr erfolgreich verkaufte an die jungen Leute und Intellektuellen in den 20er/30er Jahren in Europa. Und mit dem Anti, da verliert man etwas ... Ich erinnere mich immer an meine Kindheit, wie ich als Flüchtling vor dem spanischen Bürgerkrieg in Berlin war, eingeladen von Leuten, die die typischen ‚parents-teacher-association’-Mitglieder gewesen wären, nette, gute Leute, die mit so einem Flüchtling freundlich sein wollten. Wir waren eingeladen zum Mittagessen, und da wurde das Gebet vor dem Essen gesprochen: ‚Wir danken unserem Führer für unser täglich Brot.’ Da hat meine Mutter mir gesagt: ‚Hör dir das mal an und vergiß es nicht!’ – Ich habe es auch nicht vergessen, aber was interessant war, wenn man das subjektiv von diesen Leuten hörte, so hatte es für uns eine pseudoreligiöse, aber für sie eine reli-giöse Bedeutung ... Das ist natürlich eine auf religiöser Imitation aufgebaute Sache ... ich weiß noch nicht, wo die Lösung liegt.“18 Wir mögen uns alle mit gutem Grund gegen den religiösen Anspruch der modernen Totalitarismen sträuben – auch mir kommt es unheimlich vor, wenn Roland Freisler gegenüber Hellmuth Graf Moltke für den Nationalsozialismus eine Art absoluter, quasi

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„gottunmittelbarer“ Geltung in Anspruch nimmt: „... eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam, und nur dies eine: wir verlangen den ganzen Men-schen.“19 Aber wenn wir die Strukturen totalitärer Regime (und die Mentalität ihrer Führer) erkennen und verstehen wollen, mü ssen wir ihnen wohl oder übel in die Tiefen und Untiefen ihres Selbstverständnisses folgen. Zumindest ist das in der historischen Analyse der notwendige erste Schritt. Und daher empfiehlt es sich – einem Vorschlag Philippe Burrins entsprechend –, den Begriff „politische Religionen“ in dreifacher Hinsicht an Kommunismus-Faschismus-Nationalsozialismus zu erproben: bezüglich der durch die Totalitarismen (gegenüber dem Liberalismus) neu aufgeworfenen Wahr-heitsfrage; bezüglich der Rituale und Feiern, in denen sich eine „gläubige Gemein-schaft“ konstituiert; und endlich bezüglich des totalitären Politikverständnisses, in dem eine religiöse Dimension zumindest durchscheint.20 Das scheint mir ein realistisches Programm zu sein, das den Begriff nicht überfordert und verabsolutiert – das aber auch auf charakteristische Erscheinungen aufmerksam macht, die sich durch eine rein politi-sche Analyse nur schwer erklären lassen.

Wir wissen heute sehr viel über Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus im einzelnen. Aber wie benennt man das, was den despotischen Regimen des 20. Jahrhun-derts gemeinsam ist? Die bekanntesten Konzeptionen – heute unentbehrlicher denn je – sind die des „Totalitarismus“ und der „politischen Religionen“. Beide haben ihre Stär-ken und Schwächen, beide haben ihre spezifischen Grenzen. So ist der Totalitarismu s-begriff zwar umfassend; er „paßt“ auf alle Regime, welche die Grenzen autoritärer Herrschaft (oder einer zeitlich befristeten Notstandsdiktatur) in Richtung auf eine dau-erhafte, nicht mehr ablösbare Gewalt-Etablierung überschreiten. Aber zugleich ist er in hohem Maß formal und daher ausfüllungsbedürftig; immer neue Konkretisierungen und Varianten bieten sich an – bis hin zu Carl Joachim Friedrichs umständlich-genauer, fast bürokratischer checklist der Elemente totalitärer Herrschaft. Umgekehrt bezieht sich das Konzept der „politischen Religionen“ zwar unmittelbar auf die Logik der Rechtfertigung moderner Despotien und vermag sie mit Hilfe religionspsychologi-scher und –soziologischer Kategorien verständlicher zu machen; aber notwendigerwei-se treten in ihm die „technischen“ Aspekte des Machterwerbs und der Machtbehaup-tung vor den mentalen und psychologischen zurück – so daß sich die reale Geschichte manchmal in Geistes- und Religionsgeschichte aufzulösen droht. Bei der Analyse moderner Despotien müßte aber beides erklärt und interpretiert wer-den: die Maschinerie des Terrors ebenso wie die Psychologie der Täter, die Logik der Macht ebenso wie die sie überdeckende (und unsichtbar machende!) Logik der Recht-fertigung. Das ist bisher nur in Ansätzen gelungen – am beeindruckendsten wohl in den Arbeiten von Raymond Aron, Hannah Arendt und Eric Voegelin. Eine umfassende Theorie der Despotien des 20. Jahrhunderts steht trotz wichtiger Vorarbeiten noch aus. Sie wird nicht auskommen ohne ein Sensorium für die tiefen Erschütterungen der Zeit nach 1917, für den Zerfall liberaler Selbstverständlichkeiten, für die Selbstzweifel einer an sich irre werdenden Moderne, für die Sehnsucht nach neuer Einheit und Ganzheit, die den großen Vereinfachern den Weg bereitete – und sie wird nicht auskommen ohne einen Blick für List und Bosheit der Verführer, für das Versagen der Vernunft vor der Pompa diaboli, vor dem Bösen „in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschicht-lich Notwendigen“ (D. Bonhoeffer). Für all dies ist der Begriff der „politischen Religi-

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onen“ eine vielleicht unzulängliche, aber doch vorläufig – wie ich meine – unentbehrli-che Kennzeichnung. Erinnert er doch daran, daß sich Religion nicht beliebig aus der Gesellschaft vertreiben läßt, daß sie, wo es versucht wird, in oft unberechenbaren, pervertierten Gestalten zurückkommt. Insofern sind die modernen Totalitarismen ein Lehrstück über rechte und falsche Aufklärung und ein Appell von der schlecht infor-mierten an eine besser zu informierende Moderne. Es wäre gut, wenn diese Lektion verstanden und beherzigt würde; sonst droht die unbegriffene Geschichte sich zu wie-derholen, sobald sich neue Gelegenheiten bieten.

Anmerkungen

* Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den der Verf. am 25. Mai 2001 auf Einladung der Universität Trier und der Theologischen Fakultät Trier gehalten hat. 1) Vgl. D. Suter, Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken. Zur Dynamik des Terrors im totalitären Sy stem, Berlin 1983. 2) Suter, a. a. O. S. 134. 3) H.-G. Hockerts, Mythos, Kult und Feste. München im nationalsozialistischen „Feierjahr“, in: München – „Hauptstadt der Bewegung“, Münchner Stadtmuseum, 1993, S. 331-341 (332). 4) Hockerts, a. a. O. S. 334. 5) Zit. bei A. Angenendt, Heilige und Reliquien, München 1994, S. 327-330 („Die totalitären Ideologien“). 6) Angenendt, a. a. O. S. 329. 7) Franz Werfel, Können wir ohne Gottesglauben leben? in: ders., Zwischen oben und unten, Stockholm 1946, S. 65-148 (84f.). 8) Werfel, a. a. O. S. 98. 9) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1955, S. 714. 10) A. a. O. S. 711. 11) A. a. O. S. 594. 12) A. a. O. S. 572. 13) Eric Voegelin, Religionsersatz, in: Wort und Wahrheit 15 (1960), S. 15. 14) Voegelin, Religionsersatz, S. 18. 15) Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991. 16) Hermann Heller, Europa und der Faschismus, Berlin-Leipzig 1929, S. 56. 17) 1922,

21934.

18) Zit. bei H. Maier (Hrsg.), Totalitarismus und politische Religionen, Paderborn 1996, S. 169 f. 19) Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya 1939-1945, München 1988, S. 608. 20) Philippe Burrin, Statement bei der Tagung „Politische Religionen“ vom 24.-26.3.1996 in Tutzing. Prof. Dr. Dr. hc. Hans Maier war Bayerischer Kultusminister und Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken; er lehrt Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universität München.

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Manfred Spieker

Zwischen Romantik und Revolution

Die Kirchen und die Soziale Frage im 19. Jahrhundert

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in Deutschland eine Zeit tiefgreifender Umbrüche in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche. Die politis che Entwick-lung wurde geprägt von der kleindeutschen Reichsgründung 1871 und der Entfal-tung eines ungebremsten Nationalismus, der sich nicht nur in zahlreichen Sedan- und Germania-Denkmälern gefiel, sondern auch den Boden für den ersten Welt-krieg vorbereitete. Die ökonomische Entwicklung verwandelte Deutschland in dieser Zeit von einem Agrarstaat in einen mächtigen Industriestaat, dessen Produk-tion sich verfünffachte und von einem Aufschwung des Handels, der Banken und Versicherungen, der Eisenbahn sowie der Schiffahrt begleitet wurde. Widersprüch-lich war die gesellschaftliche Entwicklung: dem wachsenden Wohlstand einer sich rasch vermehrenden Bevölkerung stand die Marginalisierung zunächst des Land-proletariats, dann der Industriearbeiterschaft gegenüber, die im letzten Viertel des Jahrhunderts als „Soziale Frage“ ein vorrangiges politisches Problem wurde, das den Kaiser und Bismarck , die Parteien und den Reichstag, die Wirtschaft und die Kirchen herausforderte. Was die katholische Kirche betrifft, so war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Zeit großer Umbrüche. Die 60er Jahre waren noch geprägt von ihrer europa-weiten Distanz zur Industrialisierung und vom Syllabus Pius' IX, einer Auflistung aller wirklichen und vermeintlichen Irrtümer der politischen und kulturellen Ent-wicklung nach der Französischen Revolution. Nach dem 1. Vatikanischen Konzil 1869/70 und der Beilegung des Kulturkampfes, mit dem Bismarck in den 70er Jahren die Katholiken an den Rand des neuen, protestantisch geprägten Reiches drängen wollte, hat sich während des 25-jährigen Pontifikats Leos XIII (1878-1903) eine erstaunlich aufgeschlossene Haltung gegenüber den neuen Entwicklun-gen in Wirtschaft und Gesellschaft durchgesetzt, die in der ersten großen Sozialen-zyklika Rerum Novarum 1891 ihren bis heute aktuellen Ausdruck fand. Die evan-gelischen Kirchen hatten ihre großen Umbrucherfahrungen erst nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments und dem 15 Jahre später einsetzenden nationalsozialistischen Kirchenkampf, der wiederum beide Kirchen betraf und ihre ökumenische Verständigung förderte. In den Diskussionen darüber, wie die Soziale Frage zu lösen sei, stritten unver-söhnliche Positionen miteinander. Der romantischen Vision einer industriellen Ständegesellschaft stand der Aufruf zu einer sozialistischen Revolution gegenüber, den Marx und Engels im kommunistischen Manifest schon 1848 einprägsam und griffig der bürgerlichen Welt entgegengeschleudert hatten. Gemeinsam war Ro-mantikern und Revolutionären die Ablehnung des herrschenden Liberalismus, die Kritik an der Trennung von Arbeit und Kapital und der Kampf gegen den Kapita-

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lismus. Beide taugten nicht zur Lösung der Sozialen Frage, die in einem ersten Schritt näher zu beschreiben ist (I). In einem zweiten Schritt ist dann die Suche nach einer Lösung der Sozialen Frage zu erörtern, eine Suche, in der romantische und revolutionäre Rezepte eine besondere Rolle spielten (II). In einem dritten Schritt ist schließlich der Weg zu skizzieren, den die Christliche Gesellschaftslehre einschlug, um die Soziale Frage zu lösen, den liberalen Nachtwächterstaat zu ü-berwinden und die Sackgassen der Romantiker und der Revolutionäre zu vermei-den (III).

I. Die Soziale Frage

Die Soziale Frage war im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, vor allem in der Bismarck-Ära, ein vorrangiges, den Reichstag häufig beschäftigendes Problem. Aber von einzelnen Politikern, Wissenschaftlern, Priestern und Bischöfen, aber auch Unternehmern und Arbeitervertretern wurde sie schon wesentlich früher, d. h. seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts als belastend empfunden – zuerst in Eng-land, dem Mutterland der Industrialisierung, dann auch in Deutschland. Dabei standen zwei Aspekte im Vordergrund: zum einen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Industriearbeiter, vor allem der Frauen und Kinder, und zum anderen ihre Schutzlosigkeit und soziale Not im Falle des Lohnausfalls durch Krankheit, Invalidität, Alter oder Arbeitslosigkeit. Für England ist das Elend der Industriearbeiter schon 1845 von Friedrich Engels ausführlich beschrieben worden.1

In Deutschland hatte die Soziale Frage ihre Wurzeln zunächst jedoch nicht in der Industrialisierung, sondern in den liberalen Reformen, die Stein und Hardenberg mit der Bauernbefreiung in Preußen 1807 einleiteten. Zusammen mit der 1810 eingeführten Gewerbefreiheit und der erst um die Mitte des Jahrhunderts erreichten Zoll- und Handelsfreiheit war die Bauernbefreiung ihrerseits eine der politischen Voraussetzungen der Industrialisierung. Die Beseitigung der Leibeigenschaft und der Grundherrschaft ermöglichte den Bauern die Bewirtschaftung eigener Höfe, die Bewegungsfreiheit und ab 1850 den Zuzug in die Arbeit versprechenden indus-triellen Zentren, aber sie beseitigte mit den Bindungen an die Grundherren auch die sozialen Schutzverpflichtungen und sie führte, vor allem in Ostpreußen zu einem neuen Landproletariat. Die Hoffnung, daß die Bauernbefreiung aus schwer be-drückten Untertanen freie und arbeitsame Staatsbürger machen würde, war zwar nicht falsch, aber wenn die befreiten Bauern von ihren Höfen nicht leben konnten, weil sie zu klein waren oder gar keine Höfe hatten und sich als Landarbeiter ver-dingen mußten, und wenn die neuen Lohnarbeiter keine Arbeit fanden oder aus Krankheits-, Invaliditäts- oder Altersgründen keine mehr verrichten konnten, fehlte ihnen der soziale Schutz.2 Das daraus resultierende Elend konnte das der früheren Lage totaler Abhängigkeit von adeligen Gutsherren durchaus übertreffen. Auch die Gewerbefreiheit hatte diese doppelte Wirkung: sie beseitigte mit der Zunftordnung und den gewerblichen Beschränkungen der Zünfte auch die sozialen Sicherungen, die die Zunftgenossen schützten.

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Die Industrialisierung, in Gang gekommen durch die Umsetzung naturwissen-schaftlicher Entdeckungen in Technik, durch die Einführung von Maschinen im Textilgewerbe, im Bergbau und in der Hüttenindustrie sowie durch die explosions-artige Vernetzung der Produktionszentren durch Eisenbahn, Kanäle und Schiffahrt, spiegelte sich in Deutschland in folgenden Zahlen. Der Anteil der Landwirtschaft am Volkseinkommen halbierte sich von 1850 bis 1913 von 47% auf 23%, der Anteil des Gewerbes stieg von 20% auf 45%, darin der der Industrie von 3% auf 28%, während der Anteil der Dienstleistungen im wesentlichen gleich blieb (1850 33%, 1913 32%). Der Anteil der Beschäftigen in der Landwirtschaft fiel von 56% (1850) auf 34% (1913), im Gewerbe stieg er von 24% auf 38%, darin in der In-dustrie von 4% auf 23% und in den Dienstleistungen von 20% auf 28%. Die Ar-beitsproduktivität stieg im Ge werbe durch die Maschinen enorm an, ebenso die Gesamtproduktion, das Pro Kopf-Einkommen und der Verbrauch. Während das Pro Kopf-Einkommen von 1800 bis 1850 von DM 250,- auf DM 265,-, also nur um 6% gestiegen war, vermehrte es sich von 1850 bis 1914 um 175% auf DM 728,- bei einer gleichzeitigen Vermehrung der Bevölkerung von 35 Millionen auf 67 Millionen. Die Gesamtproduktion stieg dementsprechend wesentlich stärker, nämlich um rund 420% von 9,4 Mrd. DM (1850) auf 48,5 Mrd. DM (1913).3 Das Eisenbahnnetz, das 1850 erst 6.000 Kilometer umfaßte, wuchs bis 1910 auf über 63.000 Kilometer. Industrialisierung bedeutete auch Verstädterung. Der Anteil der Stadtbevölkerung verdoppelte sich zwischen 1850 und 1913 von einem Drittel auf zwei Drittel. Dementsprechend sank der Anteil der Landbevölkerung. Die industriellen Bal-lungsräume an der Ruhr, in Berlin, in Oberschlesien und in Sachsen zogen die Menschen vor allem aus den preußischen Ostprovinzen an. So stieg die Einwoh-nerzahl von Essen zwischen 1880 und 1910 von 57.000 auf 410.000, von Dort-mund von 66.500 auf 260.000. Gab es 1850 in Deutschland vier Großstädte (Ber-lin, Hamburg, München und Breslau), so waren es 1900 schon 33.

Die Soziale Frage war in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch nicht das Prob-lem der Industrialisierung, sondern das einer Agrargesellschaft mit einem rapide wachsenden Landproletariat und einem Überangebot an Arbeitskräften für die Manufakturen, für die Heimarbeit im Textilgewerbe und die ersten Fabriken. Das niedrige Lohnniveau führte dazu, daß auch Frauen und Kinder Lohnarbeit über-nahmen und somit die Löhne weiter nach unten drückten. Arbeit war zur Ware geworden, der Arbeiter zum Anbieter seiner Arbeitskraft, deren Entlohnung sich nach Marktgesetzen regelte. Rund die Hälfte der Bevölkerung lebte in den 40er Jahren sowohl auf dem Lande als auch in der Stadt in ungesicherten Verhältnissen und geriet bei jeder Krise an den Rand der Verelendung. Das war die Zeit, der Gerhard Hauptmann in seinem Drama über das Elend und den Aufstand der We-ber und Ferdinand von Freiligrath in seinem Gedicht „Aus dem schlesischen Ge-birge“ literarischen Ausdruck gaben und Karl Marx und Friedrich Engels den Anspruch erhoben, die Gesetze der Geschichte entdeckt zu haben, und mit ihrem Kommunistischen Manifest zur sozialistischen Revolution aufriefen.

Der weitere Verlauf der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nahm jedoch keine Rücksicht auf die historischen Gesetze von Marx und Engels, die den Sozialismus

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unausweichlich machen sollten. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung war zunächst einmal ein Ausweg aus der sozialen Not. Montan-industrie, Maschinenindustrie und Eisenbahnbau absorbierten einen großen Teil der Beschäftigung suchenden Arbeitskräfte. So stieg die Zahl der Beschäftigen im Bergbau von 98.000 (1846) auf 863.000 (1913) und im Maschinenbau von 51.000 (1861) auf 1,12 Millionen (1907). Typisch für diese Entwicklung war die Firma Krupp in Essen, die 1851 700 Arbeiter beschäftigte und 1902 43.000. Ein anderer, nicht weniger großer Teil der Beschäftigung suchenden Arbeitskräfte entwich dem Elend in Deutschland durch Auswanderung – vorwiegend in die USA. Insgesamt wählten im 19. Jahrhundert rund sechs Millionen diesen Weg. Die Industrialisierung milderte also das Beschäftigungsproblem, und auch die Ernährungsprobleme wurden um die Mitte des Jahrhunderts durch die wissen-schaftliche Entwicklung der Landwirtschaft und der Chemie, insbesondere der Agrarkulturchemie durch Justus von Liebig (1803-1873), deutlich gemildert. Aber die Soziale Frage wandelte nur ihr Gesicht. Die Gestalt, die sie nun annahm, wurde bereits erwähnt: unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen der Industriear-beiter einerseits, soziale Not bei Lohnausfall aufgrund von Krankheit, Invalidität, Alter oder Arbeitslosigkeit andererseits.

Die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen sind zwar schwer in Zahlen zu spiegeln. Aber einige Zahlen sind dennoch aufschlußreich. In Preußen waren 1850 rund 6-7% aller in Fabriken Arbeitenden Kinder, in der Kölner Tabakindust-rie sogar mehr als ein Drittel.4 Die Arbeit von Kindern unter neun Jahren wurde in Preußen zwar schon 1839 verboten und die Arbeit von Jugendlichen unter 16 Jah-ren auf täglich zehn Stunden beschränkt, aber solange es keine staatliche Gewerbe-aufsicht gab, blieb dieses Gesetz weithin ohne Erfolg, zumal die Eltern in ihrer Not oft an der Lohnarbeit der Kinder interessiert waren. Erst mit der Einsetzung staatli-cher Fabrikinspektoren ab 1853 konnte das Regulativ von 1839 durchgesetzt wer-den, ein Regulativ, das im übrigen nicht sozialpolitisch motiviert war, sondern auf die Klage des preußischen Generalleutnants von Horn im Jahre 1828 zurückging, der die körperliche Tauglichkeit der zum preußischen Militär eingezogenen Rekru-ten aufgrund der Fabrikarbeit im Kindesalter gefährdet gesehen hatte.5

Die Fabrikarbeiter litten nicht nur unter der Dauer der Arbeitszeit und dem Mangel an Sonntagsschutz, sondern auch unter den hygienischen Bedingungen der Arbeit, unter unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen an den Maschinen und unter der militärischen Arbeitsorganisation. Ihr Familienleben spielte sich vor allem in den Ballungsräumen oft unter unwürdigen Bedingungen ab. Mit Mietskasernen suchte man dem Wohnungselend zu begegnen. In Berlin gab es 1865 12.000 Kellerwoh-nungen mit 46.000 Bewohnern und 7.300 Mansardenwohnungen. Der Maler Hein-rich Zille hat diese Not in seinen Bildern festgehalten. Die Konsequenzen dieses Wohnungselends in den Ballungsräumen waren nicht nur hygienische und gesund-heitliche Probleme, sondern auch eine Gefährdung der Familie, soziale Entwurze-lung und kulturelle Verkümmerung. Der Staat sah sich zwar mit der Sozialen Frage konfrontiert. Aber zwei Gründe hinderten ihn bis in die 80er Jahre, sich konsequent um ihre Lösung zu bemühen. Erstens war das vorherrschende Staatsverständnis ungeachtet der monarchischen

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Staatsform liberal, d. h. der Staat sah es als seine zentrale Aufgabe an, die Freiheit der Bürger zu sichern.6 Er verstand sich als Nachtwächterstaat, d. h. er hatte allein für die Rechtsordnung sowie die innere und äußere Sicherheit zu sorgen. Produkti-on und Verteilung des Wohlstandes gingen ihn nichts an. Um ihre Wohlfahrt konn-ten und sollten die Bürger sich selbst kümmern. Die Wirtschaft war, von ihrem rechtlichen Rahmen abgesehen, deren Angelegenheit. Zweitens waren unter den herrschenden Eliten in Verwaltung und Industrie lange Zeit die Vorstellungen verbreitet, die kasernenähnlich organisierten Fabriken hätten eine erzieherische Funktion. Lange Arbeitszeiten würden die Arbeiter von Laster und Müßiggang fernhalten und niedrige Löhne seien ein Mittel zur Stärkung des Arbeitswillens und zur Verhinderung von Trägheit und Trunksucht.7

Zaghafte Ansätze zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen gab es in Preußen auch zwischen und nach jenen Regulativen von 1839 und 1853, mit denen Kinder-arbeit eingeschränkt bzw. verboten wurde. Die Preußische allgemeine Gewerbe-ordnung von 1845 verpflichtete die Gewerbetreibenden zur Rücksichtnahme auf Gesundheit und Sittlichkeit der Beschäftigten. Mit dem Verbot der Entlohnung der Arbeiter mit Waren anstelle von Bargeldzahlungen, dem sog. Truck-Verbot, be-gann 1849 der Lohnschutz. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 und später die des Deutschen Reiches von 1878 brachten erstmals einen besonderen Arbeitsschutz für Frauen. Aber verglichen mit den gesetzlichen Rege-lungen zum Arbeiterschutz in den industrialisierten westlichen und südlichen Nachbarländern sowie in England war die Arbeiterschutzgesetzgebung bis 1918 schwach und rückständig. Eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit für männli-che Arbeiter erfolgte erst Ende 1918.

Besser entwickelte sich die Sozialpolitik in Deutschland im Hinblick auf den zwei-ten Aspekt der Sozialen Frage, die soziale Sicherheit der Arbeiter bei Lohnausfall aufgrund von Krankheit, Invalidität und Alter. War die soziale Sicherheit bis in die 70er Jahre hinein vorwiegend eine Angelegenheit der kirchlichen und kommunalen Armenpflege oder besonders vorausblickenden Unternehmer, die ihre sozialen Verpflichtungen anerkannten, wie Alfred Krupp, Robert Bosch, Friedrich Harkort, Franz Haniel, Ernst Abbé und anderer, so erfolgte mit der Ankündigung der Sozi-alversicherungsgesetze in der „Kaiserlichen Botschaft“ von Wilhelm I. am 17. November 1881 eine bedeutende Wende. Sie führte zu den Bismarckschen Sozial-gesetzen, mit denen 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Renten- und Invaliditätsversicherung eingeführt wurde. Die Wurzeln dieser Wende waren weitverzweigt. Gewiß war Bismarck der Initia-tor dieser Gesetze. Aber die eigentlichen Triebkräfte, die aus dem liberalen Nacht-wächterstaat einen Sozialstaat formten, kamen weder von ihm noch von Wilhelm I. Sie hatten sehr verschiedene Quellen. Eine Quelle waren die christlichen Kirchen, die mit den Nöten der Sozialen Frage schon früh konfrontiert waren, sie mit ihren caritativen Werken zu mildern suchten und bald erkannten, daß ihre Überwindung nicht nur eine Angelegenheit der Kirchen und ihrer Caritas bzw. Diakonie, sondern eine Herausforderung für die staatliche Gesetzgebung war. In der Biographie von Bischof Ketteler (1811-1877) spiegelt sich dieser Weg von der Caritas zur Politik wie in keinem anderen Repräsentanten der christlichen Kirchen im 19. Jahrhun-

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dert. Eine weitere Quelle waren sozial orientierte Professoren der Staatswissen-schaften, allen voran Lorenz von Stein (1815-1890), der als Erfinder des Begriffes Sozialstaat gilt und schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Theorie des mo-dernen Sozialstaats begründete.8 Später speisten diese Quelle auch Wirtschaftswis-senschaftler wie Lujo Brentano (1844-1931), Wilhelm Roscher (1817-1894), Gus-tav Schmoller (1838-1917) und Adolph Wagner (1835-1917), die 1872 den „Ver-ein für Socialpolitik“ gründeten und eine große soziale Reformgesetzgebung for-derten.9

Last but not least gehörte die sozialistische Arbeiterbewegung zu den Quellen dieser Wende, nicht weil sie genau die Sozialversicherungsgesetze angestrebt hätte, die der Reichstag beschloß, sondern weil sie durch eben diese Gesetze be-kämpft und klein gehalten werden sollte. Ihr Anwachsen durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zunächst 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bun-des, dann 1871 in der Reichsverfassung ließ die Ängste vor dem Gespenst des Kommunismus und einem revolutionären Umsturz der Gesellschaftsordnung stei-gen. Dieses Anwachsen förderte bei Wilhelm I. und Bismarck aber auch die Er-kenntnis, daß diesem Gespenst mit repressiven Maßnahmen wie dem Sozialisten-gesetz allein nicht beizukommen war. Bismarck verstand die sozialpolitischen Gesetzesvorlagen in seiner Reichstagsrede vom 15.3.1884 deshalb ausdrücklich als „Komplement für das Sozialistengesetz“. Sie waren das „Zuckerbrot zur Peit-sche“.10 Wilhelm II meinte in seinen Memoiren 1922 trocken: „Fürsorge auf der einen, die Panzerfaust auf der anderen Seite, das war die Bis marcksche Sozialpoli-tik.“11

Die Integration der Arbeiter in Staat und Gesellschaft des wilhelminischen Reiches sollte erkauft werden mit einer Unterdrückung der radikalen politischen Bestre-bungen der Sozialdemokratie. Auch dem politischen Katholizismus sollte nach einer vertraulichen Denkschrift des Geheimen Oberregierungsrats Hermann Wa-gener an Bismarck über die sozialen Probleme von 1872 der Wind aus den Segeln genommen werden.12 Beides mißlang. Das Neue an den Sozialversicherungsgesetzen der 80er Jahre war, daß sie dem einzelnen Versicherten einen Rechtsanspruch auf Hilfe der Versichertengemein-schaft in bestimmten sozialen Notlagen verliehen. Dieser Rechtsanspruch auf Un-terstützung unterschied die neue Sozialversicherung von der früheren Armenhilfe, auf die der Notleidende nicht nur keinen Rechtsanspruch hatte, sondern bei deren Inanspruchnahme er auch noch sein Wahlrecht verlor. In der Diskussion über die Krankenversicherung 1883/84 hatte sich der sozialpolitische Sprecher der Zent-rumsfraktion und spätere Reichskanzler Georg von Hertling (1843-1919) dafür eingesetzt, daß der Arbeiter auch einen eigenen Beitrag zur Krankenversicherung bezahlen sollte, weil er damit „ein Recht auf Krankenfürsorge erwirbt und diese nicht als eine ihm gespendete Wohltat aufzufassen hat“.13

Bei der Beschlußfassung über die Sozialversicherungsgesetze spielte die Zent-rumsfraktion eine wichtige Rolle. Sie hatte mit dem Antrag Galen im Reichstag bereits am 19.3.1877 Gesetze zum Schutz der in den Fabriken arbeitenden Perso-nen gefordert und sich seitdem kontinuierlich und systematisch mit der Sozialpoli-tik befaßt. Manche Bestimmungen der Bismarckschen Gesetzesvorlagen waren

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von ihr heftig kritisiert worden, so z. B. der Plan einer Reichsversicherungsanstalt in der Unfallversicherung, der gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen würde14, oder der für die Invaliden- und Rentenversicherung vorgesehene Staatszuschuß, in dem sie einen Schritt in den Staatssozialismus sah. Das Zentrum hätte es lieber gesehen, wenn diese Versicherung nur aus Beiträgen der Arbeitgeber und der Ar-beitnehmer finanziert worden wäre. Aber erst eine Minderheit von Zentrumsabge-ordneten verhalf dem Invaliden- und Rentenversicherungsgesetz 1889 zur Annah-me. Mit den Sozialversicherungsgesetzen der 80er Jahre wurde „das erste moderne System sozialer Sicherheit in der Welt aufgebaut“.15

Die deutsche Sozialversicherung führte den Versicherungszwang für relativ breite Kreise der Arbeiterschaft ein. Auch wenn nur eine Minderheit der Arbeiter den Eintritt in die erst bei 70 Jahren fällige Rentenversicherung erreichte – nur rund 27% der männlichen Neugeborenen hatten 1901-1910 eine Lebenserwartung von 70 Jahren, allerdings bezogen die meisten Arbeiter vorher eine Invalidenrente – so läßt sich als Fazit doch festhalten, daß durch die Sozialversicherung „eine wesent-liche Verbesserung der Lebensverhältnisse der erfaßten Bevölkerungsgruppen, vor allem der Arbeiter ein(trat).“16

II. Die Sackgassen

Der Weg zur Lösung der Sozialen Frage war in Theorie und Praxis lang und schwierig, reich an Windungen und Sackgassen. In der Politik war mit den Bis-marckschen Sozialgesetzen und der Novelle zur Reichsgewerbeordnung vom 6. Mai 1891 zwar die richtige Richtung eingeschlagen worden. Aber bis zur vollstän-digen Integration der Arbeiterschaft in die deutsche Gesellschaft unter den Bedin-gungen von Freiheit und Demokratie verging noch weit mehr als ein halbes Jahr-hundert. Der Weg führte über die großen sozialpolitischen Reformen der Weimarer Republik unter dem von 1921 bis 1928 amtierenden Reichsarbeitsminister und katholischen Priester Heinrich Brauns (1868-1939) und die Einführung der Sozia-len Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard (1897-1977) erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Erfolg. Die Soziale Frage kann heute trotz der Arbeitslosen-quote von rund 11% als gelöst gelten. Die Arbeiter sind in die Gesellschaft integ-riert; ihre soziale Sicherheit ist gewährleistet; die Arbeits- und Lebensbedingungen sind gut. Das heißt nicht, daß die Sozialpolitik seitdem und künftig nichts mehr zu tun hätte. Ihr Hauptproblem heute ist die Sicherung der Altersversicherung, die durch die demographische Entwicklung gefährdet ist. Das seit 1972 jedes Jahr neu zu verzeichnende Geburtendefizit stellt den Generationenvertrag, auf dem die Rentenversicherung beruht, in Frage. Seine Stabilisierung bedeutet für die Sozial-politik eine ähnlich große Herausforderung wie die Soziale Frage des 19. Jahrhun-derts, eine Herausforderung, auf die sie bisher nicht angemesssen reagiert hat.17

Bevor aber mit den Bismarckschen Sozialgesetzen der richtige Weg zur Lösung der Sozialen Frage eingeschlagen wurde, wurde in Kirchen, Wissenschaft und Politik ein halbes Jahrhundert lang über sehr verschiedene Lösungskonzepte ge-stritten und manche Sackgasse aufgetan. Eine erste Sackgasse war die der Roman-tik. In ihrer Kritik an der durch die Aufklärung, die Bauernbefreiung und die In-

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dustrialisierung geprägten gesellschaftlichen Entwicklung mischten sich zutreffen-de Diagnosen mit unbrauchbaren Therapievorschlägen zur Lösung der Sozialen Frage. Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit in Preußen führten, so die zutreffende Kritik, zu einer Atomisierung der Gesellschaft, die durch die Industrialisierung noch wesentlich verschärft wurde. Die von Adam Smith (1723-1790) begründete Philosophie einer liberalen Ökonomie vernachlässigte bestimmte nichtökonomi-sche geistige und soziale Bedürfnisse des Menschen. Diesen Bedürfnissen sollte nach Adam Müller (1779-1829), dem ersten Repräsentanten einer Christlichen Gesellschaftslehre im 19. Jahrhundert, in einer organischen Gesellschaftsordnung Rechnung getragen werden. Dem aufkommenden Proletariat sollte durch eine ständische Gliederung der Gesellschaft jene soziale Sicherheit gewährleistet wer-den, die der Gesellschaft des Mittelalters in einer idealisierenden Sicht eigen war und die es vor dem Abgrund des physischen und moralischen Elends bewahren sollte. Die sozialen Probleme, die aus dieser ökonomischen und gesellschaftlichen Ent-wicklung resultierten, erschienen der Romantik „weniger als Aufruf, den neuen wirtschaftlich-technischen Erfordernissen entsprechende Lösungen zu suchen, sondern vor allem als Strafe für das Aufgeben der alten Ordnungen“.18 Deshalb schwankten die Therapievorschläge auch zwischen Forderungen nach Wiederher-stellung einer ständischen Gesellschaft unter den Bedingungen der Industrialisie-rung und radikalen Verurteilungen der Industrialisierung selbst. Während führende Vertreter der romantischen Gesellschaftskritik, zu denen neben Adam Müller vor allem Franz von Baader (1765-1841) gehörte, die Industrialisierung durch die ständische Ordnung nur bändigen wollten, erhofften andere in völlig unrealisti-schen Träumen ihre völlige Beseitigung. In beiden Positionen spielten Glaube und Kirche eine zentrale Rolle, in beiden war die Soziale Frage auch und vorrangig ein religiöses Problem. Während Baader bei der Reintegration des Proletariats in die Gesellschaft dem Klerus die Rolle eines Advokaten zusprach, der sich auf seine diakonischen Verpflichtungen besinnen sollte und dem seiner Ansicht nach die Arbeiter viel mehr vertrauen würden als Rechtsanwälten und Polizisten, wurde auf dem Katholikentag 1859 in Breslau von der Kirche allen Ernstes erwartet, „sie werde der Industrialisierung als solcher ein Ende bereiten“.19 Die Mainzer Zeitschrift „Der Katholik“ schlug zur Lösung der Sozialen Frage 1846 die Ausweitung christlicher Mildtätigkeit, die Einführung des Zölibats in breiteren Kreisen und die Hebung der Sittlichkeit der Arbeiter vor. Noch 1857 war die Soziale Frage für sie allein ein moralisches Problem. Diese Vorstellung, die Soziale Frage sei in erster Linie eine Folge des Abfalls vom Glau-ben, weshalb ihre Lösung eine Erneuerung des Glaubens voraussetze, war weit verbreitet. Sie war eine weitere Sackgasse, die erst im letzten Drittel des 19. Jahr-hunderts verlassen wurde.

Anfang der 60er Jahre standen in beiden Kirchen noch sogenannte „christliche Fabriken“ in hohem Kurs. Der Graubündener Kapuzinerpater Theodosius Floren-tini (1808-1865) berichtete auf dem Katholikentag 1863 in Frankfurt über seine Genossenschaftsbetriebe (eine Baumwollweberei, eine Druckerei und Buchbinde-rei sowie eine Wolltuch- und Papierfabrik), die er in klösterlichem Geist von

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Barmherzigen Schwestern leiten ließ, weil die Fabrikdirektoren zu teuer seien. Auf Katholikentagen in den folgenden Jahren wurde gefordert, daß die Arbeiter in solchen Fabriken gemeinsam den Rosenkranz beten und in von Schwestern geleite-ten Häusern wohnen sollten und der Lohn direkt an die betreuenden Schwestern auszuzahlen sei. Florentinis Forderung „Es müssen die Fabriken zu Klöstern wer-den!“ fand damals viel Zustimmung. Aber keiner seiner Betriebe hat seinen Tod 1865 lange überlebt.20 Auch den christlichen Fabriken des evangelischen Pfarrers Gustav Werner (1809-1887) in Reutlingen war kein langfristiger Erfolg beschie-den.21 Waren die Versuche mit den christlichen Fabriken schon ein Eingeständnis, daß mit christlicher Mildtätigkeit allein der Sozialen Frage nicht beizukommen war, so waren sie selbst eine weitere Sackgasse. Eine erfolgreiche Fabrik erforderte im 19. Jahrhundert nicht anders als heute unternehmerisches Geschick, mithin die Fähigkeit, Arbeit und Kapital, technisches und kaufmännisches Know How zu kombinieren, Märkte und Bedürfnisse zu beobachten und sich am Gewinn zu ori-entieren. Klöster, Zölibat und Internat konnten diese Talente nicht ersetzen, mithin auch keine adäquate Antwort auf die Probleme der Industrialisierung sein. Auch die Forderungen nach einer ständischen Ordnung der Gesellschaft waren zunächst einmal ein Eingeständnis, daß die Soziale Frage nicht zuerst ein religiö-ses, sondern ein soziales und politisches Problem war. Unternehmer und Arbeiter sollten in jedem Berufsstand zu solidarischen Gemeinschaften verbunden werden. Durch derartige Korporationen bzw. Stände sollte die Soziale Frage gelöst werden. Während auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches solche Forderungen ab Mitte der 60er Jahre an Resonanz verloren, spielten sie in Österreich bis in die 90er Jahre hinein eine große Rolle. Vor allem Karl Freiherr von Vogelsang (1818-1890) propagierte eine mittelalterlichem Vorbild folgende, von einem Monarchen regierte Ständegesellschaft, ergänzt um den Stand der an der Großindustrie Betei-ligten, in dem das privatwirtschaftliche Gewinnstreben aber keine Rolle spielen dürfe.22 Für Vogelsang war sie das Modell einer christlichen Gesellschaftsordnung. An ihm orientierte sich auch noch der junge Franz Hitze (1851-1921), ab 1893 Inhaber der ersten Professur für Christliche Sozialwissenschaften an der Universi-tät Münster, der in seinem 1880 erschienenen Buch „Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft“ zur Lösung der Sozialen Frage eine Erneuerung der Berufsstände forderte, allerdings „auf erweiterter wirtschaftlicher und demo-kratischer Grundlage“. Georg von Hertling kritisierte Hitze heftig. Für ihn hatte die Zunftverfassung des Mittelalters mit dem Anwachsen der Bevölkerung und dem Aufschwung von Handel und gewerblicher Produktion versagt.23 Nach der Reichs-gründung spielte die Forderung nach einer Rekonstruktion der Ständegesellschaft jedoch im deutschen Katholizismus keine nennenswerte Rolle mehr. Daß sich der deutsche Katholizismus aus dieser Sackgasse schon lange vor der Enzyklika Rerum Novarum befreien konnte, war vor allem das Verdienst des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877, Bischof von Mainz ab 1850), der 1848 begann, sich als Mitglied der Frankfurter National-versammlung mit der Sozialen Frage zu beschäftigen. Aber auch für ihn war sie bis Mitte der 60er Jahre in erster Linie ein religiöses Problem. In einer Rede auf der ersten Versammlung des „Katholischen Vereins Deutschlands“, dem 1. Katholi-

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kentag, am 4.10.1848 in Mainz meinte er noch, die Lösung der Sozialen Frage sei der Kirche vorbehalten, da der Staat nicht die Kraft dazu habe, und in seinen be-rühmten Adventspredigten im Mainzer Dom 1848 – im folgenden Jahr unter dem Titel „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart“ veröffentlicht – sah er in der Sozialen Frage eine Folge des Abfalls vom christlichen Glauben, weshalb allein eine Rückkehr zur Religion helfen könne, sie zu lösen. Nur der Glaube könne die Gesinnung der Menschen, die Quelle aller Übel, bessern.24

Anfang 1864 liebäugelte er noch mit der Gründung von fünf Produktivassoziatio-nen, für die er 50.000 Gulden bereitstellen wollte und für die er sich bei Ferdinand Lassalle, der ähnliche Pläne hegte, Rat holte. In diesen Assoziationen, in denen die Arbeiter zugleich Unternehmer sein und neben ihrem Arbeitslohn noch Gewinnan-teile erhalten sollten, sah er in seiner im gleichen Jahr erschienenen Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ noch das wichtigste Instrument zur Lösung der Sozialen Frage. Die dafür notwendigen Kapitalien könne allein eine christliche Gesellschaft aufbringen.25

Ende der 60er Jahre reiften bei Ketteler dann jene Vorstellungen, die nicht nur die Sozialpolitik des Zentrums im Deutschen Reichstag prägten, sondern für die Sozi-allehre der katholischen Kirche schlechthin bestimmend wurden: der Kirche und der Selbsthilfe der Betroffenen komme bei der Lösung der Sozialen Frage zwar eine wichtige Rolle zu, aber den wichtigsten Beitrag habe der Staat zu leisten, der die Sackgasse des Liberalismus verlassen und sozialpolitische Reformen in Angriff nehmen müsse. Bevor diese Wende von der Caritas zur Politik näher betrachtet wird, ist jedoch noch ein Blick auf die Sackgasse der Revolution zu werfen. Die Sackgasse der Revolution ist untrennbar mit Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) verbunden. Nicht erst im Kommunistischen Mani-fest 1848 propagierten sie „den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesell-schaftsordnung“.26 Schon in seinen Frühschriften träumt Marx von der allgemeinen menschlichen Emanzipation durch eine radikale Revolution. Die Waffe der Kritik könne die Kritik der Waffen nicht ersetzen; die materielle Gewalt müsse „gestürzt werden durch materielle Gewalt“27, die zu einer Diktatur des Proletariats führen und alle Eigentumsverhältnisse umstürzen müsse.28 Da Marx in den Eigentums-verhältnissen die Ursache aller Übel sah, erwartete er von ihrer revolutionären Veränderung auch die Aufhebung aller Übel. Mit der Eroberung der politischen Herrschaft durch das Proletariat und der Sozialisierung des Produktiveigentums war für ihn deshalb nicht nur die Soziale Frage gelöst, sondern der Weg zu einem neuen, gottähnlichen Menschen mit „absoluter Disponibilität ... für wechselnde Arbeitserfordernisse“ eröffnet29, einem Menschen, der heute dies, morgen jenes tun könne, morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden, wie er gerade Lust habe.30 Konse-quenterweise war die Religion für diese prometheische Perspektive Opium des Volkes, der Atheismus also eine zwingende Voraussetzung des revolutionären Kampfes.31

Es hat rund ein Jahrhundert gedauert, bis diese Sackgasse in der Arbeiterbewegung weltweit als Sackgasse erkannt und verlassen worden ist – trotz des Kampfes von Eduard Bernstein, der bereits am Ende des 19. Jahrhunderts der Meinung war, das

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Proletariat könne seine Ziele nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts auf parlamentarischem Weg viel besser erreichen als auf dem einer gewaltsamen Re-volution, mit der sich komplizierte Produktionsprozesse nicht organisieren ließen. Deshalb forderte er seine Sozialdemokratische Partei 1899 auf, „die Phrase von der Diktatur des Proletariats“ zu verabschieden und als „eine demokratisch-sozialistische Reformpartei“ aufzutreten.32

In den christlichen Kirchen spielte die Revolution zur Lösung sozialer Probleme zumindest im 19. Jahrhundert keine nennenswerte Rolle. Erst in den vorwiegend protestantischen Positionen eines christlichen Sozialismus in der Weimarer Repu-blik und jüngst in einigen radikalen Strömungen der Befreiungstheologie, insbe-sondere bei den „Christen für den Sozialismus“ wurde sie etwas vernehmbarer als christlicher Weg zur Lösung sozialer Probleme empfohlen – im einen Fall so er-folglos wie im anderen.33

III. Die Lösung

Der Weg zur Lösung der Sozialen Frage war der Weg der sozialpolitischen Refor-men, ein Weg, der drei Sackgassen zu vermeiden hatte: 1. die Sackgasse des Manchesterliberalismus, der den Staat auf die Rolle des Nachtwächters oder des Minimalstaates reduzieren wollte, der sich weder in die Betriebe noch in den Arbeitsmarkt noch in die soziale Absicherung der Arbeiter einzumischen habe;

2. die Sackgasse der Romantik, deren gemäßigte Vertreter die sozialen Folgen der Industrialisierung durch die Rekonstruktion einer Ständegesellschaft auffangen zu können glaubten und deren radikale Vertreter die Industrialisierung selbst stoppen wollten; 3. die Sackgasse der Revolution, die durch den gewaltsamen Umsturz der Eigen-tums - und Gesellschaftsverhältnisse erst die Diktatur des Proletariats herbeiführen und dann ein kommunistisches Reich hervorzaubern sollte, in dem der Mensch von keiner Entfremdung mehr geplagt werden könne. Der Weg zu den sozialpolitischen Reformen zeichnete sich Ende der 60er Jahre ab. Im Bereich der katholischen Kirche ist er untrennbar mit dem Namen von Bischof Ketteler verbunden. Unübersehbare Wegweiser in diese Richtung gab es aber auch schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Ein solcher Wegweiser war Franz Joseph von Buß (1803-1878), der als Professor für Staatswissenschaften und Vö l-kerrecht in Freiburg auch Abgeordneter im Badischen Landtag war und dort am 25.4.1837, also elf Jahre vor dem Kommunistischen Manifest, eine berühmte „Fab-rikrede“ hielt, in der er zwar in der Landwirtschaft noch die Hauptquelle des Wohlstandes sah und zur Milderung des Pauperismus die Erneuerung einer korpo-rativen Gesellschaftsordnung empfahl, in der er aber auch ausführlich über die Unaufhaltsamkeit und die Vorzüge der Industrialisierung sprach, ihre problemati-schen Konsequenzen für die Fabrikarbeiter schilderte und vom Staat Gesetze for-derte – eine Fabrikpolizeiordnung, ein Ackerbaugesetz, eine Gewerbeordnung und eine Handelspolizeiordnung –, für die er eine Fülle von Vorschlägen zur Abwehr von gesundheitlichen und sittlichen Gefahren für die Fabrikarbeiter und zur Ve r-

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besserung ihrer ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Lage mach-te.34

Zu den Wegweisern müssen auch jene Gestalten gezählt werden, die sich der drän-genden sozialen Nöte annahmen und sie durch die Gründung bis heute existieren-der wichtiger Einrichtungen linderten, ohne schon Vorschläge für die notwendigen Reformen gesellschaftlicher Strukturen zu machen. Dies waren auf katholischer Seite Adolf Kolping (1813-1856), der die Handwerkergesellen in Gesellenvereinen sammelte und ihnen neben einer menschenwürdigen Unterkunft in den später so genannten Kolpinghäusern auch eine sittliche, religiöse und soziale Bildung ver-mittelte, und auf evangelischer Seite Johann Hinrich Wichern (1808-1881), der mit der Errichtung des „Rauhen Hauses“ in Hamburg, einer Erziehungsanstalt für verwahrloste Jugendliche, 1833 ein diakonisches Werk begann, das die Not der Fabrikarbeiter linderte, 1848 zur Gründung der Inneren Mission führte und bis heute Bestand hat. Wichern forderte eine Kirche, die nicht wartet, bis die Proleta-rier zu ihr kommen, sondern die selbst zu ihnen hingeht, die „mit ihnen in ihren Häusern, an ihren öffentlichen Arbeitsstätten, bei Eisenbahnen, Erd- und Wasser-arbeiten“ verkehrt.35 Er war davon überzeugt, daß zur Lösung der Sozialen Frage über die Caritas hinaus die Selbsthilfe der Betroffenen in Form „Christlicher Asso-ziationen“ und sozialpolitische Maßnahmen des Staates notwendig sind. Aber es blieb beim Appell an den Staat. Praktische Vorschläge für sozialpolitische Refor-men hat er nicht gemacht. Seine Neigung zu einem patriarchalischen Staats- und Gesellschaftsbild einerseits und einer Art Nationaltheologie andererseits, in der Nation und Konfession vermengt wurden36, ließen ihn darüber hinaus in der Res-taurationsphase der 50er Jahre zu einem Repräsentanten eines Thron und Altar vermischenden, konservativen Nationalprotestantismus werden, dem die säkulare Welt, die Trennung von Staat und Kirche und eine eigenständige Arbeiterbewe-gung fremd blieben.37 Hier war Viktor Aimé Huber (1800-1869) ein besserer Wegweiser. Er trat für selbständige Assoziationen der Arbeiter, für Konsum-, Bau- und Kreditgenossenschaften und ein subsidiäres Eingreifen des Staates ein.38 Er war im Bereich des deutschen Protetantismus „der Bahnbrecher für eine Gesell-schaftsreform, die beides in sich schließt: Veränderungen der Menschen und Ve r-änderung der Strukturen (Gesinnungs- und Zuständereform)“, auch wenn seine öffentliche Wirkung vergleichsweise schwach war.39

Wesentlich größer war die Wirkung von Bischof Ketteler, der auf katholischer Seite jener Bahnbrecher war, der den dualen Ansatz der Christlichen Gesellschafts-lehre prägte, jenen Ansatz, der zur Lösung der Sozialen Frage auf die Reform der Strukturen genauso Wert legt wie auf die der Gesinnungen. In seiner Ansprache auf der Liebfrauen-Heide bei Offenbach anläßlich einer Arbeiterwallfahrt am 25.7.1869 sowie in einem Vortrag vor der Fuldaer Bischofskonferenz im gleichen Sommer machte er deutlich, daß die Industrialisierung nicht aufzuhalten und den Arbeitern durch eine Verteufelung der Industrie und des Kapitalismus nicht zu helfen sei. Nicht gegen, sondern innerhalb des kapitalistischen Systems sollten die Christen Wirtschaft und Gesellschaft gestalten. Er forderte für die Arbeiter höhere Löhne, eine Verkürzung der Arbeitszeit, Sonn- und Feiertagsschutz, ein Verbot der Kinderarbeit während der Schulpflicht, einen besonderen Schutz der Frauen, Müt-

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ter und Mädchen sowie ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern. Auch den Streik als letztes Mittel zur Verteidigung der Arbeitneh-merinteressen hat er bejaht.40

Seinen Mitbrüdern in der Fuldaer Bischofskonferenz versuchte er klar zu machen, daß man die Lösung der Sozialen Frage nicht damit beginnen könne, daß man die Arbeiter auffordert, zur Religion zurückzukehren. „Es müssen zuerst Einrichtun-gen zur Humanisierung dieser verwilderten Massen geschaffen werden, bevor man an deren Christianisierung denken kann.“41 Der Industrialisierung könne keine irdische Macht Einhalt gebieten. Die Kirche müsse aber erkennen, daß die Soziale Frage den Glauben selbst betrifft, weil das Elend der Arbeiter „mit der Würde des Menschen, geschweige denn des Christen, mit der von Gott gewollten Bestim-mung der Güter dieser Welt zum Unterhalt des Menschengeschlechts ... und am meisten mit den Geboten der Nächstenliebe, welche nicht nur dem Handeln des einzelnen Menschen, sondern auch der Organisation des sozialen Lebens im gro-ßen und ganzen zur Richtschnur dienen müssen, ... in offenem Widerspruch steht.“42 Er forderte die Bischöfe u. a. dazu auf, die Verbreitung von Arbeiterverei-nen zu fördern, im Klerus Interesse für die Arbeiter zu wecken, einzelne Geistliche zum Studium der Nationalökonomie frei zu stellen, bei der Anstellung von Geistli-chen in Industrieorten auf deren Willen und Fähigkeit, sich um das Wohl der Ar-beiter zu kümmern, Rücksicht zu nehmen, Diözesanbeauftragte für die Arbeiter-frage zu bestellen und für ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Kapitel und Arbeit einzutreten.43

Sucht man auf evangelischer Seite Gestalten, die Ketteler im Ansatz wie in der Wirkung vergleichbar waren, so sucht man nahezu vergebens. Die 70er Jahre wa-ren die Zeit einer ungebremsten Nationalisierung der protestantischen Theologie bzw. einer religiösen Überhöhung der Reichsgründung. Die politische Einigung Deutschlands unter Preußens Führung sollte mit einer religiös-kulturellen Einigung unter protestantischen Vorzeichen zusammenfallen. Der Kulturprotestantismus war auf Initiative des Protestantenvereins mehr an der Erhebung des am 2. September begangenen Sedantages zum Nationalfeiertag als an der Sozialen Frage interes-siert. Eine von ihm geforderte an diesem Tag feierlich zu begehende „Bürgerweihe oder politische Confirmation“ sollte die Einheit von Nation und Konfession festi-gen und die ultramontanen Katholiken ebenso ausgrenzen wie die Sozialdemokra-ten.44 Auch wenn sich weder Wilhelm I. und Bismarck noch die konservativen Lutheraner von diesen Plänen einnehmen ließen, der Geist des Protestantenvereins bereitete den Kulturkampf vor, mit dem die Katholiken zwischen 1873 und 1877 schwer bedrängt wurden.

Eine gewisse Ähnlichkeit im Ansatz, wenn auch nicht in der Wirkung läßt sich bei Adolf Stöcker (1835-1909) zumindest für die 70er und 80er Jahre feststellen. Er vollzog wie auch Rudolf Todt (1839-1887) mehr als Wichern und Huber den Schritt von der Einzeldiakonie der Inneren Mission zur Sozialpolitik und er grün-dete 1878 sogar selbst eine „Christlich-soziale Arbeiterpartei“. Seine Bindung an die Hohenzollernmonarchie, an das Bündnis von Thron und Altar und seine Ve r-teidigung des Sozialistengesetzes brachten ihn jedoch um jede Wirkung bei den Arbeitern. Sein Eintreten für die Arbeiter wiederum brachte ihn um jede Wirkung

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am Hofe des Kaisers, an dem er als Hofprediger tätig war. Dem protestantischen Bürgertum war er zu radikal, den Arbeitern zu reaktionär. Er wollte „beides sein: Volkstribun und Hofprediger, Politiker und Seelsorger. Weil er beides wollte, hat er beides verloren.“45 Die nationale Fessel des Protestantismus hat er nicht ge-sprengt.46 In Kooperaton mit Stöcker bemühte sich auch Friedrich Naumann (1860-1919) um eine Aussöhnung zwischen Kirche und Arbeiterschaft und im Unterschied zu Stöcker war ihm auch die Demokratie ein zentrales Anliegen. Aus Untertanen sollten Staatsbürger und aus Arbeitern Industriebürger werden. Aber eine radikale theologische Neuorientierung Mitte der 90er Jahre ließ Naumann immer mehr zum nationalliberalen Politiker werden, der in den Dualismus von Welt und Kirche, von Politik und Religion zurückfiel und zum Fürsprecher eines deutschen Militarismus und einer Expansion des deutschen Reiches in fernen Ko-lonien wurde. Auch Naumann konnte die nationale Fessel des deutschen Protestan-tismus nicht sprengen. Er „hat das Problem Christentum und Politik, Kirche und Staat, christliche und politische Existenz unbeantwortet gelassen. Denn der Weg in den Dualismus ist keine Lösung.“47

Ketteler dagegen ist trotz adeliger Abstammung zu großer Volkstümlichkeit ge-langt. Als Arbeiterbischof gehörte er zu den „führenden Gestalten des politischen Katholizismus im 19. Jahrhundert und zu den großen Deutschen.“48 Papst Leo XIII (1810-1903, Papst ab 1878), der ihn seinen „großen Vorläufer und Initiator“ nann-te49, folgte ihm in seiner Sozialenzyklika Rerum Novarum 1891, mit der für die katholische Kirche nicht nur in Deutschland, sondern weltweit der Streit um die Lösung der Sozialen Frage zwischen dem restaurativen Weg zu einer Ständegesell-schaft und dem modernen Weg zu einem sozialen Rechtsstaat zugunsten des letzte-ren entschieden wurde. Leo XIII verstand es, in seinen Vorschlägen zur Lösung der Sozialen Frage die Ziele der Gerechtigkeit und der Freiheit miteinander zu verbinden. Um der Gerech-tigkeit willen plädierte er gegen den Nachtwächterstaat und für eine sozialpoliti-sche und arbeitsrechtliche Gesetzgebung. Weil der Staat für alle da sei, „für die Niederen wie für die Hohen“, für die Besitzlosen wie für die Besitzenden, hat er sich ebenso „durch öffentliche Maßnahmen ... des Schutzes der Arbeiter an(zu)-nehmen“, wie er das Privateigentum zu respektieren und zu schützen hat.50 Um der Gerechtigkeit willen haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammenzuarbeiten, haben vor allem die Arbeitgeber ihrer Pflicht nachzukommen, den Arbeitnehmer nicht nur als Produktionsfaktor, sondern als Person mit eigener Würde zu achten und den Grundsatz einzuhalten, jedem das Seine, d. h. den gerechten Lohn, zu geben.51 Um der Freiheit willen habe der Staat die Grenzen seiner legislativen und exekutiven Funktionen und den Vorrang der Familien zu beachten sowie eine allgemeine Staatsfürsorge zu vermeiden52 und die Koalitionsfreiheit der Arbeit-nehmer, d. h. ihr Recht, Gewerkschaften zu bilden, zu respektieren.53 Um der Ge-rechtigkeit und der Freiheit willen habe einerseits der Staat das Gemeinwohl zu fördern und hätten andererseits die Bürger, vor allem die Arbeitnehmer, ihre Frei-heit zu aktivieren und ihren Glauben zu bilden und zu festigen.54

Leo XIII hat in Rerum Novarum also mehrere Weichen für die Entwicklung der Christlichen Gesellschaftslehre gestellt: er hat

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- den sozialen Auftrag der Kirche und die sittliche Relevanz, ja mehr noch die Heilsbedeutung sozialer Strukturen deutlich gemacht, - den Zusammenhang von Gesinnungsreform und Strukturreform betont, ohne dessen Beachtung soziale und politische Probleme nicht zu lösen sind; - am Beispiel des Privateigentums und der Koalitionsfreiheit gezeigt, daß ein Staat seine Legitimität aus der Beachtung natürlicher, vorstaatlicher Rechte bezieht.

Leo XIII hat der Christlichen Gesellschaftslehre so den Weg gewiesen, bei allem Bemühen um soziale Gerechtigkeit die Freiheit des Menschen und bei allem Be-mühen um den Schutz der Freiheit die soziale Gerechtigkeit im Auge zu behalten. Er hat ihr den Weg gewiesen, auf den engen Zusammenhang von Solidarität und Subsidiarität zu achten. Er hat somit ein Fundament gelegt, auf dem die Christliche Gesellschaftslehre ein Jahrhundert lang gebaut hat, auf dem sie die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls immer wieder neu für Problem-lösungen in Wirtschaft und Gesellschaft, Staat und internationalen Beziehungen fruchtbar zu machen versuchte. Die Tatsache, daß die meisten Sozialenzykliken dieses Jahrhunderts nicht nur inhaltlich, sondern auch im Erscheinungsdatum an Rerum Novarum anknüpfen55, zeigt, daß fast alle Päpste nach Leo XIII sich der Bedeutung dieses Fundaments bewußt waren.

Anmerkungen 1) Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845, Neudruck Berlin 1947. 2) Georg Droege, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Frankfurt/Berlin 1972, S. 149ff. 3) Karl Heinrich Kaufhold, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland seit der Industriali-sierung (1800-1963), in: Anton Rauscher, Hrsg., Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, Bd. 2, München 1982, S. 24. 4) Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, 8. Aufl., Bd. 3, Stuttgart 1962, S. 388. 5) Das Regulativ vom 16.5.1853 erhöhte das Alter der Kinder, für die Lohnarbeit verboten war, auf 12 Jahre und begrenzte die Arbeitszeit von Kindern zwischen 12 und 14 Jahren auf täglich sechs Stunden. 6) Typisch für diese Position sind Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792, Neudruck in: W. von Hum-boldt, Werke in 5 Bänden, Bd. I, 2. Aufl. Darmstadt 1969, S. 56ff.. 7) Vgl. Heinz Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 5. Aufl. Berlin/Heidelberg 1998, S. 40. 8) G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, S. 68ff. 9) H. Lampert, a. a. O., S. 48f. 10) Alexander Rüstow, Sozialpolitik diesseits und jenseits des Klassenkampfes, 1959, zitiert in: H. Lampert, a. a. O., S. 69. 11) Wilhelm II, Ereignisse und Gestalten, Leipzig/Berlin 1922, S. 32f., zitiert in: Friedrich Karrenberg, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus, in: Helga Grebing, Hrsg., Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, München 1969, S. 594. 12) Lothar Roos, Kapitalismus, Sozialreform, Sozialpolitik, in: A. Rauscher, a.a.O., S. 94.

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13) Georg von Hertling 1843-1919, hrsg. und erläutert von Winfried Becker, Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 8, Paderborn 1993, S. 130. 14) G. von Hertling, a. a. O., S. 128. Vgl. auch Horstwalter Heitzer, Hrsg., Deutscher Katho-lizismus und Sozialpolitik bis zum Beginn der Weimarer Republik, Paderborn 1991, S. 113ff. 15) G. A. Ritter, a. a. O., S. 61. 16) G. A. Ritter, Der deutsche Sozialstaat. Anfänge, historische Weichenstellungen, Ent-wicklungstendenzen, in: A. Rauscher, Hrsg., Grundlagen des Sozialstaats, Köln 1998, S. 22. 17) Sie provozierte selbst eine Illustrierte wie den Stern, Heft 2/99, S. 58ff. zu der dramati-schen, aber gut begründeten Titelgeschichte „Absturz in die Pleite. Der deutsche Wohl-fahrtsstaat ist am Ende“. 18) Franz Josef Stegmann, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, in: H. Grebing, Hrsg., a. a. O., S. 340. 19) F. J. Stegmann, a. a. O., S. 342. 20) Zu Florentinis „christlichen Fabriken“ und den Gründen ihres Scheiterns vgl. Dirk Len-schen, Produktionsgenossenschaften und katholische Soziallehre. Diss. Paderborn 1997, S. 165ff. 21) F. J. Stegmann, a. a. O., S. 358f. 22) F. J. Stegmann, a. a. O., S. 369f. Vgl. auch Oskar Köhler, Die Ausbildung der Katholi-zismen in der modernen Gesellschaft, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. von Hubert Jedin, Bd. VI, 2. Halbband, S. 210f. 23) G. von Hertling, a. a. O., S. 139. 24) Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Predigt vom 3.12.1848, in: Erwin Iserloh, Hrsg., Willhelm Emmanuel von Ketteler 1811-1877, Quellentexte zur Geschichte des Katholizis-mus, Bd. 4, Paderborn 1990, S. 42f. 25) W. E. Frhr. von Ketteler, Die Arbeiterfrage und das Christentum, in: E. Iserloh, Hrsg, a. a. O., S. 91f. 26) Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Dies., Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1972, S. 493. 27) K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844), in: MEW, Bd. 1, S. 385ff. 28) K. Marx, Kritik des Gothaer Programms (1875), in: K. Marx/F. Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, Berlin 1968, S. 24. 29) K. Marx, Das Kapital, Bd. 1 (1867), Frankfurt 1968, S. 512. 30) K. Marx, Die deutsche Ideologie (1845/46), in: ders., Die Frühschriften, hrsg. von Sieg-fried Landshut, Stuttgart 1964, S. 361. 31) K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, a. a. O., S. 378f. 32) Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial-demokratie (1899), Reinbek 1969, S. 156 und 196. 33) Vgl. Manfred Spieker, Religiöser Sozialismus und Marxismus, in: Internationale Katho-lische Zeitschrift „Communio“, 5. Jg. (1976), Heft 1, S. 57ff.; ders. Politik und Ökonomie in der Theologie der Befreiung, in: Rupert Hofmann, Hrsg., Gottesreich und Revolution, Zur Vermengung von Christentum und Marxismus in politischen Theologien der Gegenwart, Münster 1987, S. 93ff. 34) Franz Joseph von Buß, Rede vom 25. April 1837 über das soziale Problem, in: Texte zur katholischen Soziallehre II, 1. Halbbd., hrsg. vom Bundesverband der katholischen Arbeit-nehmerbewegung Deutschands 1976, S. 54ff., auch abgedruckt in: Franz Joseph von Buß 1803-1878, hrsg. von Franz J. Stegmann, Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 13, Paderborn 1994, S. 27ff. 35) Johann Hinrich Wichern, Kommunismus und die Hilfe gegen ihn (1848), in: ders. Sämt-liche Werke, hrsg. von Peter Meinold, Bd. 1, Hamburg 1962, S. 149.

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36) Rolf Kramer, Nation und Theologie bei Johann Hinrich Wichern, Hamburg 1959, S. 119. 37) Günter Brakelmann, Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, 6. Aufl., Bielefeld 1979, S. 138ff. 38) Friedrich Karrenberg, a. a. O., S. 573. 39) G. Brakelmann, a. a. O., S. 150. 40) W. E. von Ketteler, Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zu Religion und Sittlichkeit, Ansprache vom 25.7.1869, in: Texte zur katholischen Soziallehre II, 1. Halbbd., a. a. O., S. 241ff., gekürzt auch in der Textausgabe von E. Iserloh, Hrsg., a. a. O., S. 117ff. 41) W. E. von Ketteler, Fürsorge der Kirche für die Fabrikarbeiter, in: E. Iserloh, Hrsg., a. a. O., S. 110. 42) A. a. O., S. 112. 43) A. a. O., S. 114ff. 44) Claudia Lepp, Protestanten feiern ihre Nation. Die kulturprotestantischen Ursprünge des Sedantages, in: Historisches Jahrbuch, Bd. 118 (1998), S. 201ff. Vgl. auch M. Spieker, Nation und Konfession. Eine katholische Perspektive, in: Internationale katholische Zeit-schrift Communio, 23. Jg. (1994), S. 128ff. 45) G. Brakelmann, a. a. O., S. 174. 46) F. Karrenberg, a. a. O., S. 585. 47) G. Brakelmann, a. a. O., S. 185; F. Karrenberg, a. a. O., S. 612f. 48) Rudolf Morsey, Ketteler, in: Katholisches Soziallexikon, hrsg. von Alfred Klose u. a., 2. Aufl., Graz 1980, Sp. 1328. Vgl. auch L. Roos, Wilhelm Emmanuel Frhr. von Ketteler (1811-1877), in: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher, Hrsg., Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4, März 1980, S. 22ff. 49) Josef Schmidlin, Papstgeschichte der neuesten Zeit, Bd. 2 Papsttum und Päpste gegen-über den modernen Strömungen. Pius IX und Leo XIII (1846-1903), München 1934, S. 369. 50) Leo XIII, Rerum Novarum (1891), Ziffer 27. 51) A. a. O. 16. 52) A. a. O. 6 und 11. 53) A. a. O. 38 und 39. 54) A. a. O. 42. 55) Pius XI, Quadragesimo Anno 15.5.1931; Pius XII, Pfingstbotschaft La Solennità 1.6.1941; Johannes XXIII, Mater et Magistra 15.5.1961; Paul VI, Octogesima Adveniens 14.5.1971 und Johannes Paul II, Laborem Exercens 14.9.1981 (das Attentat am 13.5.1981 verhinderte eine Publikation zum 15.5.), sowie Centesimus Annus 1.5.1991. Prof. Dr. Manfred Spieker lehrt Christliche Sozialwissenschaften an der Univer-sität Osnabrück.

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Manfred Hermanns

Wo steht die Christliche Gesellschaftslehre?

Von Heinrich Weber über Josef Höffner bis zur Gegenwart

I. Einleitung und Anfänge

Das vorliegende Thema läßt sich als ein Beitrag zur Geschichte dieser Disziplin, insbe-sondere zu ihrer Standortsuche und ihrer wissenschaftstheoretischen Reflexion anse-hen. Bei der komplexen Thematik ist eine Selbstbeschränkung erforderlich. Es können nicht alle bedeutenden Sozialethiker in der gleichen Weise berücksichtigt werden. Dies würde ein ganzes Buch füllen. Vor allem in den letzten drei Jahrzehnten hat das Fach eine Ausweitung erfahren, die nur schwer noch zu überblicken ist. Deshalb konzentriert sich der Beitrag vor allem auf die Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Gesellschafts-lehre an der Universität Münster, der seit 1893 besteht. In diesem Jahr wurde der Gene-ralsekretär des Verbandes „Arbeiterwohl“ und Reichstags- wie Preußischer Landtags-abgeordnete Franz Hitze1 auf die erste Professur dieser akademischen Disziplin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster berufen, nachdem ihm diese zwei Monate zuvor den Dr. theol. ehrenhalber als Voraussetzung seiner Berufung verliehen hatte. Hitze war als führender katholischer Sozialpolitiker seiner Zeit so sehr mit praktischen politischen Fragen der Sozialversicherung, der Arbeiterschutzgesetzge-bung, der Gewerbeordnung wie mit sozialen Fragen des Handwerks und der Landwirt-schaft beschäftigt, daß er sich mit theoretischen Fragen der ‚Ortsbestimmung’ seines Faches, erst recht mit Wissenschaftstheorie nicht auseinandersetzen konnte und wohl auch nicht wollte. Die von Hitze verfolgte pragmatisch-sozialpolitische Orientierung, die für eine Sozialreform auf der Basis des modernen ökonomischen und politischen Systems eintrat, kann als „sozialrealistische Linie“ interpretiert werden.2

II. Induktive Sozialethik bei Heinrich Weber

1. Webers interdisziplinäre Lehre und Forschung Auch bei Heinrich Weber, der 1922 als Nachfolger von Franz Hitze berufen wurde, standen praktische Fragen der Sozialpolitik und vor allem der Caritas und der Wohl-fahrtspflege im Vordergrund seiner Forschung und seiner Lehre, zumal Weber aus der praktischen Caritasarbeit kam und ihr als erster Vorsitzender des Diözesan-Caritas-verbandes Münster während seiner professoralen Tätigkeit eng verbunden blieb. Außer der theologischen Ausbildung hatte er seine sozial- und staatswissenschaftliche Quali-fikation durch eine Promotion bei dem Soziologen und Nationalökonomen Johann Plenge erworben. In der Rechts- und Staatswissenschaft lichen Fakultät hatte er sich auch habilitiert. Aufgrund einer in der Universitätsgeschichte sehr seltenen interfakulta-tiven Vereinbarung zwischen der Katholisch-Theologischen Fakultät und der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster wurde Webers Lehrstuhl in die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät verlegt mit der Zuständigkeit für

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soziales Fürsorgewesen und Gesellschaftslehre, die 1924 auf wirtschaftliche Staatswis-senschaften ausgeweitet wurde. In der Katholisch-Theologischen Fakultät behielt We-ber einen Lehrauftrag für Christliche Gesellschaftslehre. 1933 mußte er in diese Fakul-tät überwechseln. Aber dies genügte den neuen Machthabern nicht. 1935 wurde er in die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Breslau zwangsversetzt, wo ihm das Fach Caritaswissenschaft übertragen wurde. Webers Schwergewicht lag in der Zeit der Weimarer Republik bei den profanen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, die er aus christlicher Perspektive anging, und bei der Wohlfahrtskunde, die er neben dem Frankfurter Professor Christian Jasper Klumker als einziger als akademisches Fach vertrat. So ist es nicht überraschend, daß in den Überschriften seiner mehr als zwanzig Monographien und seiner mehr als 50 wissenschaftlichen Artikel nie der Begriff „Christliche Gesellschaftslehre“ auftaucht, erst recht nicht in den mehr als 50 von ihm herausgegebenen oder mitherausgegebenen Werken. Die anderen Mitherausgeber waren vor allem Wirtschaftswissenschaftler wie Werner Friedrich Bruck, der 1933 als Jude emigrieren mußte, und Friedrich Hoffmann, ferner der Syndikus und Wirtschafts-politiker Otto Most, der Wirtschaftshistoriker Bruno Kuske und der Direktor des Lan-desarbeitsamtes Westfalen-Lippe Bernhard Ordemann. In dieser Zusammenarbeit mit Profanwissenschaftlern und leitenden Personen der Arbeitsverwaltung kam nicht eine Distanz zur Christlichen Gesellschaftslehre zum Ausdruck, sondern das sichere Gespür, daß christliche Intentionen in Politik, Wohlfahrtspflege und Berufsberatung eher einzu-bringen und zu realisieren sind, wenn man in Sachfragen fachkompetent ist. Sachkom-petenz ist sein wissenschaftliches Leitprinzip. Um dieses realisieren zu können, hat er intensiv die Interdisziplinarität gepflegt. Weber kam es auch sehr darauf an, Hörer aus anderen Fakultäten als der theologischen zu haben.3 Deshalb hielt er vor allem Vorle-sungen zur Allgemeinen theoretischen Sozialökonomik, zur Volkswirtschaftslehre, zur Allgemeinen theoretischen und zur Praktischen Gesellschaftslehre, erst ab dem Som-mersemester 1929 bot er zusammen mit dem Moraltheologen Peter Tischleder für Theologen Übungen zur christlichen Gesellschaftslehre an. 2. Zurückhaltung in der normativen Beurteilung Weber war für einen Sozialethiker ausgesprochen zurückhaltend in der normativen Beurteilung und er schätzte diese Zurückhaltung auch an anderen. Das kommt etwa zum Ausdruck in seiner Rezension zum 4. Band des „Lehrbuches der Nationalökono-mie“ von Heinrich Pesch, das weithin als Standardwerk des Solidarismus gilt: „Mit dem vorliegenden Bande hat der bekannte Nationalökonom Heinrich Pesch einen rüstigen Schritt vorwärts getan zu seinem Ziele, der Schaffung des ersten großen wis-senschaftlichen Lehrbuches der Volkswirtschaftslehre, das vom katholischen Stand-punkt geschrieben ist.“ Im Hauptsatz von Webers Rezension steht „wissenschaftliches Lehrbuch“, im Nebensatz im referierenden Stil „das vom katholischen Standpunkt geschrieben ist“. Weber fährt fort: „Wie in den früheren Bänden legt der Verf. auch hier seine organische und anthropozentrische Auffassung vom Wirtschaftsleben zugrunde und führt seine Untersuchungen mit Hilfe einer glücklichen Verbindung von kausaler und teleologischer Betrachtungsweise, von analytischer und synthetischer Methode.“4

Webers eigener wissenschaftlicher Anspruch kommt in folgendem Satz zum Ausdruck: „Auch im zweiten Teil finden wir dieselbe ruhige Objektivität, die sich der Werturteile zwar nicht völlig enthält, aber doch durchaus sachlich selbst heißumstrittenen Fragen

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gerecht wird.“ Für Weber ist das „Lehrbuch“ „grundlegend für alle Ökonomen, die auf christlichem Boden stehen“5, aber er begreift es nicht wie spätere Autoren „als systema-tisch-geschlossene Gesamtkonzeption einer Sozialdoktrin der Kirche“.6 In seiner „Ein-führung in die Sozialwissenschaften“ von 1930, die die verschiedenen Gesellschafts-auffassungen und die Entwicklung der Sozialwissenschaften behandelt, sagt er von der solidaristischen Gesellschaftsauffassung, daß sie „den Nachteil“ hat, „daß sie einen zu starken ethischen Klang hat, weshalb sie hier vermieden werden soll.“7 Weber ist sich als gelernter Soziologe der Forderung von Max Weber nach Werturteilsfreiheit im analytischen Kontext durchaus bewußt8, wenn er sie auch für die Praxis der Wohl-fahrtspflege und der Politik nicht teilt. Normative Aussagen trifft Weber meist in analy-tischer Form, d. h. er stellt sie nicht als Imperativ hin, sondern als die Lehre einer be-stimmten Person oder Institution, so etwa in seinem Artikel über „Die moderne deut-sche Sozialpolitik im Lichte der Grundsätze des Rundschreibens“ Rerum novarum: Bei der Enzyklika, wie überhaupt bei der Stellungnahme des Katholizismus zum sozialen Problem, handelt es sich „nicht um formulierte Einzelrezepte, sondern um die Heraus-stellung einiger grundlegender Richtlinien... Dieser Grundcharakter der Enzyklika ‚Rerum novarum’ gibt ihr ... die Legitimation zur Ausübung ihrer Doppelfunktion: „Maßstab zu sein für die kritische Wertung der Sozialpolitik der Vergangenheit und Gegenwart, Wegweiser zu sein für die im Augenblick, namentlich in Deutschland, so brennende Frage der Zukunftsgestaltung der Sozialpolitik“.9 Enzykliken sind für Weber nicht systematische Gebäude einer Soziallehre, sondern geben Anstöße und Orientie-rung für die Weltgestaltung. 3. Webers Gliederung der Sozialwissenschaften Nach Weber gibt es kein „allgemein anerkanntes System der Sozialwissenschaften“, deshalb wird man bei dem zu behandelnden Stoff „im einzelnen geteilter Meinung sein können“.10 Weber kennzeichnet in seiner „Einführung“ die moderne Sozialwissen-schaft als materiale Einzeldisziplin mit einem eigenen Erkenntnisobjekt, deren Charak-teristikum in der „Zusammenschau der Ergebnisse der verschiedenen Sonderdiszipli-nen“ wie der Rechtswissenschaft, der Sozialökonomik, der Rechts- und Wirtschaftsge-schichte zu sehen ist.11 Diese Sozialwissenschaft hat „die Aufgabe, unter Verwertung der von den anderen Wissenschaften gewonnenen Ergebnisse die Struktur des sozialen Ganzen aufzudecken und die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Seiten des Gesellschaftslebens und deren gemeinsame Prinzipien aufzusuchen.“12 Die moderne Sozialwissenschaft gliedert er in drei Teildisziplinen: 1. eine historische, 2. eine theore-tische und 3. eine praktische Gesellschaftslehre. Die Sozialgeschichte hat sich mit dem Werden der sozialen Phänomene und ihrem Wandel in der Zeit zu befassen. Die theo-retische Gesellschaftslehre hat „die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt theore-tisch zu durchdringen, d. h. ihre wichtigsten Grunderscheinungen festzustellen, das regelmäßig Wiederkehrende, Typische zu konstatieren und zu systematisieren, die komplizierten Tatsachen zu analysieren und zu erklären, unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung zu untersuchen.“13 Die theoretische Gesellschaftslehre sieht er als identisch mit der Soziologie an, deren Betrachtungsweise aber auch in anderen Disziplinen wie der Nationalökonomie zur Anwendung kommt. Weber geht bei seiner Gesellschaftslehre vom Erkennen der Tatsachen aus, er verfährt also induktiv.

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Wie begründet Weber die praktische Gesellschaftslehre? „Der Mensch tritt an die ge-sellschaftlichen Erscheinungen nicht nur als erkennendes, sondern als wollendes We-sen heran. Es genügt ihm nicht, die sozialen Phänomene nur in ihrem Sein zu erfassen, er tritt ihnen auch wertend, beurteilend, mit praktischem Umgestaltungswillen gegen-über.“14 Der zweite Schritt ist also das Beurteilen und schließlich zielt 3. die praktische Gesellschaftslehre auf ein Handeln. Der methodische Dreischritt von Sehen – Urteilen – Handeln15 ist also im wesentlichen unabhängig von Joseph Cardijn (1882-1967)16 bereits von Heinrich Weber entwickelt worden, ohne daß bei ihm der Begriff „christli-che Gesellschaftslehre“ fällt. Der praktischen Gesellschaftslehre weist er sodann drei Aufgaben zu: die Herausarbeitung eines Ideals der Gesellschaft, die Erforschung der Ursachen der Unzulänglichkeiten einer Gesellschaft und den Entwurf der Möglichkei-ten und Mittel, „die tatsächlichen Zustände dem Ideal so weit als möglich anzuglei-chen“17. Weber weiß um den subjektiven Einschlag bei dieser teleologischen Betrach-tung und daß man dieser praktischen Lehre vielfach den Namen „Wissenschaft“ nicht zuerkennen will. Er sieht aber in der systematischen Verbindung der Fragen den Cha-rakter der Wissenschaft. Sie hat zwei zentrale Fragekomplexe: 1. die Frage nach den Mißständen in der Gesellschaft und in einzelnen Gruppen, also die Analyse der „sozia-len Frage“ und 2. die Frage nach den tatsächlichen Möglichkeiten der Beeinflussung der Gesellschaftsverhältnisse. Die Gestaltung der Gesellschaft sieht er durch generelle Einflußmöglichkeiten (Sozialpolitik) und durch spezielle Beeinflussung und Besserung gegeben (Wohlfahrtspflege, Fürsorge, Sozialarbeit).18 Die wissenschaftliche Behand-lung der Wohlfahrtspflege, die als Vorläufer der Sozialarbeitswissenschaft zu sehen ist, stellt für ihn eine neue Teildisziplin der praktischen Sozialwissenschaften dar. So hat er entscheidend zur wissenschaftlichen Fundierung und Professionalisierung der Sozialar-beit beigetragen und durch ihre Verknüpfung mit moral- und pastoraltheologischen Erkenntnissen auch die Grundlagen einer Caritaswissenschaft geschaffen. Völlig im Sinne von Weber hat auch Nell-Breuning später in seinem „Wörterbuch der Politik“ zwischen Fürsorge, Wohlfahrtspflege, Caritas, Sozialpolitik und Sozialreform differenziert, die „alle zusammen aber ohne Verwischung der Grenzen, erst recht aber ohne Zerreißung naturgegebener Zusammenhänge einander in die Hände, niemals aber einander entgegenarbeiten“19. 4. Sozialethik als Wissenschaft Zur praktischen Gesellschaftslehre rechnet Weber auch die Sozialethik.20 Die Verselb-ständigung der Sozialethik gegenüber der Moralwissenschaft wie gegenüber der Natio-nalökonomie und der Soziologie hält er zusammen mit Tischleder aus zwei Gründen für erforderlich, erstens wegen der zunehmenden Komplexität der Wirklichkeit und der infolge immer weitergreifenden Spezialisierung auch der übrigen Wissenschaften, zweitens aus einem inneren sachlichen Grund, weil die Themen der Sozialethik, wel-che die Rechte und Pflichten des Menschen als eines Gesellschaftswesens behandeln, sich von der Individualethik genügend abheben.21 Die Sozialethik hat mit der Soziolo-gie dasselbe Materialobjekt, nicht aber das gleiche Formalobjekt, denn sie fragt nach der sittlichen Richtigkeit des Handelns, nach der Übereinstimmung oder Nichtüberein-stimmung des menschlichen Handelns mit den ethischen Standards und Normen. Hier-in decken sich die Auffassungen von Weber und Tischleder mit denen von Johannes Messner in seiner Dissertation „Sozialökonomik und Sozialethik“22. Weber, Tischleder

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und Messner betonen übereinstimmend, daß Sozialethik, insbesondere ihr Spezialge-biet der Wirtschaftsethik nur bei genauer Kenntnis des gesellschaftlichen und wirt-schaftlichen Lebens und ihrer Dynamik sinnvoll ist. Andernfalls würde sie sich „in weltfremden Abstraktionen ergehen“ und „nie ihrer eigentlichen Aufgabe praktischer Sozialgestaltung gerecht werden können“23. Eine „Sozialethik ohne den Tatsachensinn“ der empirischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften würde am wirklichen Leben vorbeigehen.24 Die mitunter aufgestellte Behauptung einer „Verschiebung von der philosophisch-naturrechtlichen zu einer mehr empirisch-soziologischen Argumentati-onsweise“ in der Christlichen Gesellschaftslehre25 läßt sich gerade, wenn man Heinrich Weber in die geschichtliche Betrachtung der Christlichen Soziallehre einbezieht, nicht aufrecht erhalten. Gerade für Heinrich Weber gilt, daß für ihn eine induktiv arbeitende, d. h. an Praxis und Erfahrung orientierte Sozialethik Selbstverständlichkeit war.

III. Ortsbestimmung bei Joseph Höffner

1. Ursprünglich philosophischer Ansatz Das läßt sich für seinen Nachfolger Joseph Höffner nicht mit dieser Eindeutigkeit sa-gen. Obwohl auch Höffners Forschung und Lehre einen interdisziplinären Ansatz ver-folgte und er in seine Christliche Gesellschaftslehre die empirischen Sozialwissenschaf-ten einbezog, war sein Ausgangspunkt zunächst ein anderer. Im Unterschied zu Weber hatte er seine theologische Ausbildung an der Gregoriana in Rom absolviert und war hier mit der scholastischen Philosophie und vor allem auch mit der spanischen Spät-scholastik vertraut geworden. Schon Webers Lehrer Franz Hitze und Joseph Mausbach waren viel stärker den praktischen Problemen der Politik und des gesellschaftlichen Lebens zugewandt als Höffners römischer Lehrer Arthur Vermeersch SJ. In Rom war zu dieser Zeit noch sehr das neuscholastische Denken von Taparelli wirksam. Höffners theologische Erstlingsschrift „Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe. Versuch einer Bestimmung ihres Wesens“ ist streng systematisch aufgebaut und durchgehend an der aristotelisch-thomistischen Philosophie orientiert. Höffner hat sich anschließend in Freiburg mit der Geschichtswissenschaft26 und vor allem der Nationalökonomie ver-traut gemacht. Die Volkswirtschaft hörte er bei dem Ordoliberalen Walter Eucken. In den historisch-systematischen Arbeiten jener Jahre entdeckt Höffner eine geistige Ver-bindungslinie zwischen den frühen Ansätzen eines ‚Ordo-Denkens’ in der Spätschola-stik und der Ordnungstheorie des Freiburger Kreises.27 Auch dies waren andere Anstö-ße als die, die Heinrich Weber bei Plenge erhalten hatte, für den „Soziologie und Sozia-lismus nur zwei Seiten einer Medaille“ waren und der als wesentlichen Mangel des Marxschen wissenschaftlichen Sozialismus die Vernachlässigung des Organisationsge-dankens herausstellte.28 Pesch, Weber und Höffner haben übereinstimmend in der deutschen katholischen Bevölkerung eine Aufgeschlossenheit für den wirtschaftlichen Liberalismus bewirkt, der im 19. Jahrhundert noch nicht vorhanden war, aber während Höffner dem Ordo-Liberalismus jeder Art von Sozialismus den Vorzug gab, hielt We-ber eher eine Äquidistanz zu Liberalismus und Sozialismus aufrecht. 2. Christliche Sozialwissenschaften Höffner trat viereinhalb Jahre nach dem Tod von Heinrich Weber dessen Nachfolge an. Der Lehrstuhl wurde in Christliche Sozialwissenschaften umbenannt und in die Katho-lisch-Theologische Fakultät zurückverlegt. Es gelang Höffner 1951 gleichzeitig das

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Institut für Christliche Sozialwissenschaften zu gründen. Sein Vorgänger Heinrich Weber hatte das 1925 gegründete „Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Werner Friedrich Bruck im Rahmen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät bis zum politischen Machtwechsel 1933 geleitet. Weber wollte dieses im Krieg zerstörte Institut nach dem Zweiten Welt-krieg wieder aufbauen, jedoch sein früher Tod hatte ihn 57jährig mitten aus einem tatkräftigen Schaffen gerissen. Dieses Institut, dem Seminare für Fürsorgewesen, Ar-beitsvermittlung und Berufsberatung, Gewerkschaftswesen und Sozialpolitik angeglie-dert waren, hatte eine überwiegend profanwissenschaftliche Zielsetzung, wenn auch Heinrich Weber katholisch-christliche Impulse immer engagiert in seine Gesellschafts-lehre eingebracht hatte.29

Mit der Neugründung des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften erhielt Höffner nicht nur eine sowohl reizvolle wie auch belastende Aufgabe, sondern er konnte auch ein neue Konzeption entwickeln. Dieses erste und lange Zeit einzige Institut seiner Art in der Bundesrepublik bot die Voraussetzung für ein intensives Lehr- und Forschungs-programm der Christlichen Gesellschaftslehre. Neben den Studentinnen und Studenten der Katholisch-Theologischen Fakultät hatte Höffner wie sein Vorgänger vor allem Hörer aus den Wirtschaftswissenschaften. Entsprechend der weiter gültigen interfakul-tativen Vereinbarung waren Höffners Lehrveranstaltungen im Vorlesungsverzeichnis der Universität auch unter Soziologie und Sozialpolitik in der Rechts- und Staatswis-senschaftlichen Fakultät, Abteilung Wirtschaftswissenschaften, aufgeführt. Dort hatte Höffner ebenfalls wie Heinrich Weber Promotionsrecht, was ihm die Gelegenheit gab, nicht allein junge Männer, die keine Priester werden wollten, sondern auch Frauen zu promovieren.30

3. Christliche Gesellschaftslehre im Spektrum der Sozialwissenschaften Joseph Höffner nimmt für sein Fach und sein Institut eine „Ortsbestimmung“ vor. Die Frage nach dem Standort der christlichen Gesellschaftslehre stellt er in seiner Vorle-sung „Grundlegung der Christlichen Gesellschaftslehre“ (erstmals SS 1955) und greift sie erneut auf in dem ersten Artikel des 1960 von ihm neubegründeten „Jahrbuchs des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften“. Höffner fragt nach dem Verhältnis der Christlichen Gesellschaftslehre zur gesamten Sozialwissenschaft, die sich in eine all-gemeine und eine besondere Sozialwissenschaft einteilen ließe. Sowohl innerhalb der allgemeinen wie der besonderen Sozialwissenschaft unterscheidet er zwischen einem seinswissenschaftlichen und einem normativen Zweig. Zum seinswissenschaftlichen Zweig der allgemeinen Sozialwissenschaft rechnet er die allgemeine Soziologie, Sozi-algeschichte, Bevölkerungswissenschaft, die Sozialpsychologie sowie die Sozialmeta-physik, zum normativen Zweig Sozialethik, Sozialpädagogik und Politische Wissen-schaft. Entsprechend gliedert er die besondere Sozialwissenschaft: Seinswissenschaftlich wen-de sich die Soziologie den verschiedenen Kultursachgebieten wie der Wirtschaft, der Kunst, der Religion und den Sozialgebilden wie Familie und Staat zu. Den normativen Bereich gliedert er 1. in den Bereich des sittlichen Verhaltens: Staats-, Kultur- und Wirtschaftsethik, 2. den sozialpädagogischen Bereich31 und 3. den Bereich des politi-schen Gestaltens: Gesellschaftspolitik, Wirtschaftspolitik, Kulturpolitik usw.32 Im Anschluß an diese Systematik der Sozialwissenschaften fährt Höffner fort: „Sucht man

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den ‚Ort’ der Christlichen Gesellschaftslehre innerhalb des Systems der gesamten Sozialwissenschaften zu bestimmen, so wird man – im Hinblick auf die metaphysische und ethische Ausrichtung der Christlichen Gesellschaftslehre – aus dem Bereich der allgemeinen Sozialwissenschaft die Sozialmetaphysik und die Sozialethik und aus dem Bereich der besonderen Sozialwissenschaft die philosophischen und die sozialethischen und sozialpädagogischen Disziplinen aussondern und als ‚Christliche Gesellschaftsleh-re’ zusammenfassen.“33 Christliche Soziallehre ist für ihn „keine Einzeldisziplin, son-dern ein System mehrerer, einander zugeordneter wissenschaftlicher Fächer“34. 4. Christliche Gesellschaftslehre als Sozialtheologie Darüber hinaus hat Höffner die Christliche Gesellschaftslehre auch als Sozialtheologie verstanden, wenn er auch in seiner Zeit feststellt, daß sie erst in den Anfängen stand. Er wendet sich dagegen, die Sozialphilosophie, insbesondere das Naturrechtsdenken und die Sozialtheologie im Widerstreit zu sehen, er geht vielmehr davon aus, daß die „Grundsätze des Naturrechts und die Offenbarungswahrheiten wie zwei ... gleichge-richtete Wasserläufe beide ihre gemeinsame Quelle in Gott haben“35. Wenn auch in Höffners theoretischer Grundlegung sozialphilosophische Orientierungen im Vorder-grund stehen, so spricht er sich doch dafür aus, die katholische Soziallehre „durch die Entfaltung spezifisch theologischer Kategorien über das Naturrecht hinaus zu entwi-ckeln“36. Die Sozialtheologie erfahre Impulse durch die Lehre von der Schöpfung, von der Erlösung durch Jesus Christus wie auch durch die soziale Auswirkung der Sünde in geschichtstheologischer Perspektive. Zudem falle der Christlichen Gesellschaftslehre als Sozialtheologie die Aufgabe zu, „vor jedem Sozial-Utopismus zu warnen“37. In seinem Hauptwerk „Christliche Gesellschaftslehre“, das aus seinen Vorlesungen hervorgegangen ist, weist Höffner trotz der „vornehmsten Aufgabe der Christlichen Gesellschaftslehre, die sozialmetaphysischen, sozialethischen und sozialtheologischen Grundlagen zu erforschen“, entschieden auf die Notwendigkeit der sorgfältigen Beach-tung der empirischen Sozialwissenschaften wie der Soziologie, der Sozialpsychologie und der Bevölkerungswissenschaft hin, um die „Zeichen der Zeit“ (Math. 16,3) zu verstehen.38 Er sieht wie Weber, daß sie andernfalls einer gegenwartsfremden Abstrak-tion verfällt. 5. Hinwendung zu den induktiven Methoden Höffner hat sich im Laufe seiner Lehr- und Forschungstätigkeit immer mehr induktiven Methoden zugewandt, wenn auch deduktive Argumentationslinien nicht völlig fehlen und im Einleitungskapitel seines Hauptwerks „Christliche Gesellschaftslehre“ wieder-kehren.39 Ohne diese Aufgeschlossenheit für empirische Sozial- und Kulturwissen-schaften hätte Höffner seine umfang- und erfolgreiche Tätigkeit als Politikberater vor allem der Bundesministerien für Familien- und Jugendfragen, für Wohnungsbau sowie für Arbeit und Sozialordnung nicht durchführen können. In dieser Eigenschaft hatte er entscheidenden Einfluß auf die Weiterentwicklung der Sozialpolitik und zusammen mit Achinger, Muthesius und Neundörfer auf den Ausbau der Sozialversicherung und die Einführung der dynamischen Rente40, ferner auf den Ausgleich der Familienlasten41 wie zur Ordnung des Baulandmarktes.42

Aufgrund unbeschreiblicher Arbeitsenergie hat Höffner diese unterschiedlichen Diszip-linen überschaut und in seine Christliche Gesellschaftslehre integriert. Diese Verknüp-fungsfähigkeit hat Studenten der verschiedenen Fakultäten sehr angesprochen. „Hier

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lehrte jemand, der nicht allein über ein erstaunliches Wissen verfügte, sondern auch Antworten auf ihre existentiellen, ethischen und politischen Fragen kompetent und überzeugend zu geben vermochte.“43 Höffner hat die Christliche Gesellschaftslehre in einem viersemestrigen Vorlesungszyklus angeboten mit grundlegenden Lehrveranstal-tungen zu Sozialethik und Sozialtheologie wie auch zu speziellen Themen der Wirt-schafts-, Staats- und Berufsethik, zur Soziologie von Ehe und Familie, zur Religionsso-ziologie wie zur Geschichte der christlich-sozialen Bewegung. Spezielle sozial- und wirtschaftspolitische Themen wie Rentenversicherung, Vermögensbildung in Arbeit-nehmerhand, Boden- und Raumordnung und das „Toleranzproblem in der pluralisti-schen Gesellschaft“ waren Gegenstand der Seminare, die sich durch ein hohes Dis-kursniveau der Studenten aus verschiedenen Fakultäten auszeichnete. Bei diesem Vo r-lesungsprogramm konnte der Student einen gründlichen Überblick über das Spektrum der Christlichen Gesellschaftslehre erlangen. 6. Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie Höffner hat auch in seinem Bischofsamt immer wieder aus seinen Vorlesungen zur Christlichen Ge sellschaftslehre zitiert, wenn er sie auch durch viele theologische The-men erweitert hat. Für die Ortsbestimmung ist seine Auseinandersetzung mit der Be-freiungstheologie kennzeichnend. Seine Kritik stützt sich nicht allein und nicht einmal im wesentlichen auf theologische, sondern vor allem auf soziologische Argumente. Im Eröffnungsreferat bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 24. Sept. 1984 greift er einen Gedanken aus seiner „Ortsbestimmung“ von 1960 auf: „Die Soziallehre der Kirche wertet die wissenschaftlich sicheren Erkenntnisse der Humanwissenschaften, insbesondere der empirisch-systematischen Soziologie, der Sozialpsychologie, der Bevölkerungswissenschaft, der Sozialgeschichte usw., aus. Sie betrachtet sie nicht als Forschungsergebnisse der christlichen Soziallehre, sondern übernimmt sie als ‚Lemmata’.“44 Das Sehen lehren nach Höffner die Sozialwissen-schaften. Aus fachlicher Sicht weist er eine Überschreitung der theologischen Komp e-tenz zurück: „In den Auseinandersetzungen der letzten Jahre habe ich häufig darauf hingewiesen, daß die Untersuchung der Ursachen der Arbeitslosigkeit und das Ergrei-fen wirtschaftspolitischer, konjunkturpolitischer und währungspolitischer Maßnahmen nicht Sache der Soziallehre der Kirche, sondern der Verantwortlichen ist, d. h. der Tarifpartner, der Regierungen, ..., der politischen Parteien und der zuständigen Wissen-schaften. Die Soziallehre der Kirche appelliert an das Gewissen der Verantwortlichen. Zu konkreten Vorschlägen Stellung zu nehmen – etwa zu dem Vorschlag, die Schulzeit zu verlängern, die Arbeitszeit zu verkürzen, die Altersgrenze vorzuverlegen, die Über-stunden abzuschaffen, Steuern zu erhöhen oder zu senken, eine Konjunkturabgabe zu erheben – ist nicht Auftrag der Soziallehre der Kirche. Das geht die Sachverständigen und die Verantwortlichen an.“45 Entsprechend weist Höffner bestimmte Spielarten der Befreiungstheologie, die die Gesellschaft durchdringen wollen, als eine „neue Form des Integralismus“ zurück und lehnt die Engführung der Soziologie auf marxistische Ana-lyse entschieden ab: „Es gibt nicht die Lehre der Soziologie, sondern eine Vielfalt einander widersprechender Aussagen.“46 Auch seien die Soziologen von einer Verein-nahmung durch die Theologie nicht erbaut. Diese Kritik an bestimmten Vertretern der Befreiungstheologie hebt für Höffner selbstverständlich den Appell an das Gewissen nicht auf, Elend, Hunger und Not von Millionen von Menschen tatkräftig zu überwin-den.

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IV. In der Gegenwart: zwischen Empirie und Theologie

1. Der Ruf nach einer theologischen Begründung In der Kritik an der marxistischen Variante der Befreiungstheologie stimmen Nell-Breuning47, der in vielen Fragen anders als Höffner dachte, und die jüngeren Sozial-ethiker Anton Rauscher, Manfred Spieker und Wilhelm Weber überein48, ja sie fällt mitunter erheblich schärfer aus wie z. B. bei Wilhelm Weber, dem Nachfolger von Joseph Höffner auf dem Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften: Es sei schok-kierend, „daß nicht wenige Theologen sich in ganz kurzer Zeit auf einen Weg begeben haben, der in letzter Konsequenz bei einer völligen Travestie des Christentums und der christlichen Heilshoffnung enden muß, indem Theologie im Sinne radikaler Säkulari-sierung als pure Immanenztheologie betrieben wird“.49 Franz Furger, Nachnachfolger Höffners auf dem Münsteraner Lehrstuhl, sieht dagegen in den Ansätzen der Befrei-ungstheologie trotz der marxistischen Erklärungsmuster einen „fruchtbaren Beitrag zur Diskussion“ um die anstehenden sozialen Weltprobleme.50

Inzwischen gibt es befreiungstheologische Ansätze wie die von Ricardo Antoncich und José Miguel Munárriz, die einen Brückenschlag zwischen der Katholischen Soziallehre und der Theologie der Befreiung versuchen.51 Ihre Theologie faßt den Schrei der Ar-men als hermeneutisches Kriterium und begründet so die Option für die Armen, die der Soziallehre ihre Orientierung geben soll. Hier wird gleichzeitig eine Anthropologie entfaltet mit „dem solidarischen Menschen“ als Zentrum der Christlichen Gesell-schaftslehre. Die Autoren stellen die Orientierungslinien der Personalität und der Soli-darität, weniger der Subsidiarität, und die Tugenden der Gerechtigkeit und der Näch-stenliebe in ihrer gesellschaftsgestaltenden und -verändernden Wirkung in einer neuen Weise eindrucksvoll dar. Diese Arbeit wie auch andere Schriften der Befreiungstheologie sind theologisch und weniger philosophisch orientiert, als dies in vielen einschlägigen, heute bereits klassi-schen Werken der Christliche Gesellschaftslehre von Joseph Höffner und Johannes Messner, der Jesuiten Oswald von Nell-Breuning und Gustav Gundlach und des Domi-nikaners Arthur Fridolin Utz kennzeichnend ist. Den Arbeiten fehlt auch das soziologi-sche, wirtschaftswissenschaftliche und sozialpolitische Detailwissen, wie es Heinrich Weber, Joseph Höffner und Oswald von Nell-Breuning auszeichnet. Es fehlt aufgrund mangelnder empirischer Studien der Sensus für die rationale Analyse sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhänge. Die Werke beeindrucken durch ihre Lebendigkeit, ihre Vitalität, ihre Spiritualität und ihre zündende Glaubenskraft.52 Dennoch scheinen sie aus europäischer Perspektive für pragmatische Gesellschaftspolitik weniger geeig-net zu sein. Auf dem Hintergrund der Befreiungstheologie entsteht die Forderung, die christliche, insbesondere die katholische Soziallehre mehr als Theologie zu begründen. Die Frage weitete sich aus nach der „Begründungsfähigkeit einer theologischen Handlungslehre und schließlich der Theologie überhaupt“.53 Damit wurde einerseits die alte Frage wiederbelebt: Hat die Theologie überhaupt etwas zu sozialen, wirtschaftlichen, kul-turellen oder politischen Fragen zu sagen, andererseits entstand für viele, entsprechend dem Trend der Zeit, die Forderung nach einer gesellschaftskritischen oder politischen Theologie. Johann Baptist Metz ließ sich von der Kritischen Theorie der Frankfurter

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Schule inspirieren und hat von diesem Ansatz aus die bisherige Theologie insgesamt und die Katholische Soziallehre im besonderen wie vor allem die Praxis der christli-chen Bürger angegriffen. Er lehnt die häufig überzogene Trennung von Immanenz und Transzendenz, von Diesseits und Jenseits ab und fordert eine theologische Hinwendung zur Welt in eschatologischer Perspektive. Welt und Gesellschaft seien unter den Ge-sichtspunkten der Eschata, der letzten Dinge, zu beurteilen. Er will die vorherrschende Theologie in ihrer transzendentalen, existentialen und personalistischen Orientierung überwinden54, da sie zur Privatisierung des Glaubens führt. „Diese Entprivatisierung ist die primäre ideologiekritische Aufgabe der politischen Theologie.“55 Diese Theologie verzichtet wie die Kritische Theorie der Frankfurter Schule auf die empirische Über-prüfung ihrer Aussagen. Aber auch theoretisch wird ihr von Vertretern der Christlichen Gesellschaftslehre wi-dersprochen, so Wolfgang Ockenfels in seiner Habilitationsschrift: Der Argumentati-onsstil der Katholischen Soziallehre ist nicht nur kritisch, sondern vor allem affirmativ und konstruktiv: prinzipiell-affirmativ in dem Sinne, daß sie auf die Würde und Rechte des Menschen hinweist, kritisch, indem sie die Verletzungen der Menschenwürde und -rechte anprangert, konstruktiv, indem sie dazu beiträgt, den notwendigen Änderungen eine solche Richtung zu geben, daß dabei ein echter Fortschritt für den Menschen und das Zusammenleben entsteht.56 Seit der politischen Wende im Ostblock verloren die Ansätze der Befreiungstheologie wie die politische Theologie schnell an Bedeutung. Dennoch blieben einige Impulse dieser Theologien wie die des gesellschaftsgestalten-den Glaubens einflußreich. Die gesamtkirchliche Entwicklung begünstigte eine theolo-gische Wende der Katholischen Soziallehre. Lange hatte die Enzyklika „Quadragesimo anno“ von 1931 das öffentliche Bild der Katholischen Soziallehre in Europa bestimmt. Von dieser Enzyklika wissen wir heute, daß sie von Nell-Breuning entworfen wurde, der zu ihrer Thematik unter Wahrung der unbedingten Diskretion im „Königswinterer Kreis“ Gustav Gundlach und andere Experten befragte. Vor allem Gundlach war be-stimmend für die sozialphilosophische Orientierung dieses Kreises, der Eingang in die Enzyklika fand. Der sozialphilosophisch-systematische Charakter dieser Enzyklika und ihre Tendenz zur Einheit wurde prägend für die Interpretation. In dieser relativen Ge-schlossenheit wurde katholische Soziallehre für die soziale und wirtschaftliche Gestal-tung in Nachkriegsdeutschland politisch sehr wirksam. Furger arbeitet aber auch her-aus: „Die divergierenden Linien der verschiedenen Schulen blieben so im Hinter-grund.“57 Er denkt dabei vor allem an französische und italienische Experten wie etwa Marie Dominique Chenu, die lange unbeachtet blieben. Es wäre aber auch zu ergänzen, daß die mehr pragmatisch, soziologisch und caritativ orientierte Richtung Heinrich Webers in dem vorherrschend sozialphilosophischen Paradigma der Katholischen Gesellschaftslehre nach dem Zweiten Weltkrieg unberücksichtigt blieb. Auch der für die Ausgestaltung der Sozialpolitik in Deutschland starke Einfluß der „Gesellschaft für Soziale Reform“, mit der Franz Hitze Jahrzehnte eng zusammengearbeitet hatte, wurde fortan vergessen. Als Wallraff die Katholische Soziallehre nicht als ein System, son-dern als „ein Gefüge offener Sätze“ bezeichnete58, wirkte dieser Satz für viele, insbe-sondere für die jüngeren Sozialethiker, denen die Divergenzen der christlichen Sozial-reformer des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht mehr bewußt waren, völlig überraschend und neu. Eine überzogene Ausweitung und Ideologisierung des Natur-

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rechts, die daraus konkrete Handlungsnormen und vielfältige Prämissen für sozialpoli-tisches Handeln deduzieren wollte, hatte zum von Wallraff und anderen59 kritisierten Mißverständnis geführt. 2. Christliche Gesellschaftslehre im Lichte der neueren Sozialenzykliken Gegenüber der pianischen Kirchengeschichtsepoche wurde die Sozialenzyklika „Mater et magistra“ von Johannes XXIII. als ein neuer Aufbruch empfunden. Hier zeigte sich der Einfluß französischsprachiger Experten. Die Problematik der sog. „Dritten Welt“ rückte gegenüber den mehr auf die industrielle Welt Europas bezogenen Sozialenzykli-ken „Rerum novarum“ und „Quadragesimo anno“ ins Bewußtsein. Aber auch der neue Stil wird aufmerksam registriert, in dem der Dialog mit humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Ausdruck kommt.60 Der systematische, scholastisch-deduzierende, klassisch-naturrechtliche Denkstil tritt zurück61, aber auch der Einfluß der Wirtschafts-wissenschaften. Das Rundschreiben „Populorum progressio“ (1967) von Paul VI. wird dann zur „Magna charta christlicher Weltsolidarität“62 und damit eine Perspektive grundgelegt, die bis zur Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ von Johannes Paul II. weiterwirkt. Als Hauptziel der Christlichen Gesellschaftslehre wird dort genannt, die gesellschaftliche Wirklichkeiten zu deuten und dabei zu prüfen, „ob diese mit den Grundlinien des Evangeliums über den Menschen und seine irdische und zugleich transzendente Beru-fung übereinstimmen oder nicht, um daraufhin dem Verhalten der Christen eine Orien-tierung zu geben.“63 Johannes Paul II. verweist die Christliche Soziallehre in den Be-reich der Theologie, insbesondere der Moraltheologie. Damit ist deutlich ein anderer Akzent gesetzt als bei Pius XII., der in seiner Pfingstbotschaft von 1941 es zum „unan-fechtbaren Geltungsbereich der Kirche“ rechnete, „darüber zu befinden, ob die Grund-lagen der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung mit der ewig gültigen Ordnung über-einstimmen, die Gott, der Schöpfer und Erlöser, durch Naturrecht und Offenbarung kundgetan hat“.64 An Stelle der philosophischen und theologischen Zweigleisigkeit im Denken Pius’ XII. trat bei Johannes Paul II. eine vorwiegend moraltheologische Sicht Christlicher Gesellschaftslehre. Das wurde u. a. von Furger, der von der Moraltheolo-gie herkam, positiv bewertet. Diese Zuordnung zur „christlichen Sozialethik“ ermö g-licht, Gesichtspunkte einzubeziehen, „die außerhalb der katholischen Kirche, vor allem im Bereich der aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Kirchen, von Bedeutung sind“.65 Seitdem hat die Zusammenarbeit mit evangelischen Sozialethi-kern zugenommen, wenn auch die Kontakte von Joseph Höffner und erst recht von Heinrich Weber, ja schon von Franz Hitze zu evangelischen Sozialwissenschaftlern und Sozialpolitikern nicht als gering einzuschätzen sind.66 Ausdruck der offiziellen Zusammenarbeit ist das Sozialwort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“67. 3. Konzeptionelle und thematische Vielfalt Die Christliche Gesellschaftslehre ist vielgestaltiger geworden, obwohl es nach Anzen-bacher „in den letzten zwei Jahrzehnten keinen Versuch mehr gab, die Systematik der Katholischen Soziallehre umfassend neu zu durchdenken“.68 Die Sozialethiker sind auf der Suche nach neuen Paradigmen.69 Eher pragmatische, an den empirischen Sozial- und Humanwissenschaften orientierten Ansätze stehen mehr bibeltheologisch orientier-ten Ansätzen gegenüber. Reiner Pragmatismus, der ausschließlich von der „normativen

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Kraft des Faktischen“ ausgeht, würde jedoch „die Ethik in den Relativismus stürzen und damit letztlich aufheben“.70 Er ist bei christlichen Sozialethikern nicht zu erwarten. Ein theologischer Ansatz wiederum, der geschichtslos gültig sein will, verliert den Bezug zur Gesellschaft, in die die Christliche Gesellschaftslehre gestaltend hineinwir-ken will. Es dürfte übereinstimmende Auffassung sein, daß die meisten sozial-, wirt-schafts- und staatsethischen Aussagen sich nicht einfach aus der Botschaft Jesu ablesen oder ableiten lassen, sondern die vorhandenen Sozial-, Wirtschafts- und Verfassungs-strukturen wie die Denkweisen, Mentalitäten und Interessen der jeweiligen Menschen berücksichtigen müssen, wenn die christliche Orientierung Gehör und Aufnahme fin-den will.71 Auch der an Aristoteles und Thomas von Aquin orientierte sozialphilosophi-sche Ansatz wird weiter vertreten, obwohl er vor allem der Ideologiekritik ausgesetzt ist.72 Er bleibt anregend, wenn er sich auf die Grundprinzipien beschränkt und sich bei der Beurteilung konkreter Situationen und Umstände von der Klugheit abgewogener Vernunft leiten läßt. Er muß sich aber davor hüten, ein detailliertes kasuistisches Lehr-gebäude ethischer und rechtlicher Normierungen zu entwerfen, wie dies in der rationa-listischen Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts (Samuel Pufendorf, Christian Wolff) und im 19. Jahrhundert in der Neuscholastik geschehen ist. Furger warnt vor der man-gelnden Praxisrelevanz. „Der einzige Weg, um sie bestmöglich auszuschließen, bleibt die kritische Reflexion in einer soliden ethischen Theorie. Ein methodologisch-kritisches Bedenken der eigenen Ansätze, Vorgehensweisen und Ziele ist damit uner-läßlich.“73

Furger reflektiert das in der Christlichen Gesellschaftslehre häufig angewandte Argu-mentationsmuster der syllogistischen Logik, „wobei die Prinzipien den Obersatz abge-ben, der empirische Befund über die konkrete Lage den Untersatz des Syllogismus, aus dem dann als Schlußfolgerung die konkretere Norm in rationaler Konsequenz gezogen wird“.74 Furger sieht die Vorteile dieses Vorgehens, weil es die klare Einheit in der politischen Stellungnahme der Christen sichert und konkrete Erfolge der Christlichen Gesellschaftslehre im Aufbau der Bundesrepublik nach 1945 bewirkt hat, er sieht aber auch eine „gewisse Streuung in der Treffsicherheit – zumindest, sobald die ethischen Aussagen die Ebene der allgemein humanethischen Prinzipien verlassen und in die einem raschen Wechsel unterworfene und zunehmend pluralistische Gesellschaftswirk-lichkeit als ihrem Anwendungsfeld vorstoßen mü ssen“.75

Ferner hat sich das Themenspektrum der Christlichen Gesellschaftslehre erweitert. Zu den klassischen Themen der allgemeinen Sozialethik und der speziellen Wirtschafts-, Gesellschafts-, Staats- und Kulturethik sind Probleme der Bio- und Gentechnologie und der Humangenetik, der Humanökologie und einer atemberaubenden Entwicklung der Medizin getreten, die der ethischen Beurteilung bedürfen. Deshalb entstanden die neu-en Teildisziplinen der Bio- und Medizinethik76, die eng mit Biologen, Genforschern, Medizinern zusammenarbeiten. Die Friedensforschung wurde ausgebaut und wird seit Jahrzehnten als eigene Disziplin besonders von dem „Institut für Theologie und Frie-den“ vorangetrieben und gefördert.77 Hier erweist sich eine Zusammenarbeit mit Sozi-alphilosophie, Politikwissenschaft und Völkerrecht als erforderlich. Auch die Verknüpfung von Christlicher Gesellschaftslehre und Sozialarbeits- bzw. Caritaswissenschaft, die Heinrich Weber bereits vor Jahrzehnten wegweisend betrieben hatte, wird wiederentdeckt und unter neuen Fragestellungen ausgebaut.78 Bei wechsel-

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seitiger Ergänzung würde die Caritas „die strukturelle Dimension der Nöte erkennen ... sie wäre zugleich das empfindlichste Sensorium für die Probleme einer Gesellschaft ... In der umgekehrten Richtung bliebe die katholische Soziallehre durch eine engere Kooperation mit der Caritas näher bei den Menschen, näher bei deren Lebenswelt“.79

Die Christliche Gesellschaftslehre wird thematisch und methodisch ausdifferenziert. Das gesamte Spektrum kann heute ein einzelner Wissenschaftler in der Forschung nicht mehr beherrschen. Das Kooperationserfordernis mit den verschiedenen Sozial-, Human- und inzwischen auch Naturwissenschaften macht die Doppel-, wenn nicht Dreifachqualifikation der Sozialethiker zur conditio sine qua non, damit das ethische Urteil sachgerecht und glaubwürdig vertreten wird und so in der wissenschaftlich ge-stalteten Welt von heute Gehör finden kann. Mit der Entfaltung der sozialen, wirt-schaftlichen und kulturellen Probleme findet auch eine Fortschreibung der Christlichen Gesellschaftslehre im interdisziplinären Austausch statt. Anmerkungen 1) Franz Hitze war seit 1882 Mitglied des Preußischen Landtages und seit 1884 zugleich Mitglied des Deutschen Reichstages. Vgl. Eduard Hegel: Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakul-tät Münster 1773-1964. Bd. I. Münster 1966, 366, Bd. II. Münster 1971, 30. 2) Arno Anzenbacher: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien. Paderborn 1998, 137 u. 143. 3) Brief von Heinrich Weber an Prälat Dr. Benedikt Kreutz vom 21. Juli 1921. Nachlaß Kreutz. Archiv DCV. Sign. 081/04-W. Vgl. Manfred Hermanns: Heinrich Weber. Sozial- und Caritaswis-senschaftler in einer Zeit des Umbruchs. Leben und Werk. Würzburg 1998, 22. 4) Heinrich Weber, Rezension zu Pesch, Heinrich, S.J., Lehrbuch der Nationalökonomie. Bd. IV: Allgemeine Volkswirtschaftslehre. Freiburg 1922. In: Theologische Revue. Jg. 22 (1923). Sp. 238. 5) Heinrich Weber, Rezension zu Pesch, Heinrich, S.J., Lehrbuch der Nationalökonomie. Bd. V: Allgemeine Volkswirtschaftslehre. Freiburg 1923. In: Theologische Revue. Jg. 24 (1925). Sp. 65. 6) Marianne Heimbach-Steins: Unterscheidung der Geister Strukturmoment christlicher Sozial-ethik. Dargestellt am Werk Madeleine Delbrels. Hamburg 1994, 3. 7) Heinrich Weber: Einführung in die Sozialwissenschaften. Berlin 1930, 20. 8) „In der Theorie kann nicht nur sondern muß ... ein werturteilsloses Fundament gefordert wer-den“. Heinrich Weber: Akademiker und Wohlfahrtspflege im Volksstaat. Essen 1922, 116/117. 9) Heinrich Weber: Die moderne deutsche Sozialpolitik im Lichte der Grundsätze des Rund-schreibens. In: Die soziale Frage und der Katholizismus. Paderborn 1931, 276. 10) Heinrich Weber: Einführung. 1930, 1 (Anm. 7). 11) Ebd., 119/120. 12) Ebd., 120. 13) Ebd., 121. 14) Ebd., 139. 15) Vgl. Die Sozialenzyklika Papst Johannes’ XXIII Mater et Magistra. Nr. 236. Freiburg i. Br. 1961, 144. 16) Vgl. Heimbach-Steins, Unterscheidung der Geister, 1994, 6 (Anm. 6). 17) Ebd., 140. 18) Vgl. ebd., 141. 19) Oswald von Nell-Breuning/ Hermann Sacher (Hg.), Zur Sozialen Frage (= Wörterbuch der Politik, Bd.3). 2., neubearbeitete Aufl. Freiburg i. Br. 1958. Sp. 50/51. 20) Heinrich Weber/ Peter Tischleder: Wirtschaftsethik. Essen 1931, 8.

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21) Vgl. ebd., 6-8. 22) Vgl. Johannes Messner: Sozialökonomik und Sozialethik. Paderborn 1928. 23) Weber/ Tischleder: Wirtschaftsethik, 1931, 8 (Anm. 20). 24) Ebd., 31. 25) Werner Kroh: Kirche im gesellschaftlichen Widerspruch. Zur Verständigung zwischen katho-lischer Soziallehre und politischer Theologie. München 1982, 200; vgl. auch Heimbach-Steins: Unterscheidung der Geister, 1994, 9 (Anm. 6). 26) In Höffners zweiter theologischer Dissertation „Bauer und Kirche im deutschen Mittelalter“ (1939) findet sich der bemerkenswerte Satz „Soziologie ist keine angewandte Dogmatik“. 27) Vgl. Lothar Roos: Joseph Kardinal Höffner (1906-1987). In: Jürgen Aretz/ Rudolf Morsey/ Anton Rauscher (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Bd. 8. Mainz 1997, 179. 28) Bernhard Schäfers: Plenge, Johann. In: Wilhelm Bernsdorf/ Horst Knospe (Hg.), Internationa-les Soziologenlexikon. Bd. 1. 2. neubearbeitete Aufl. Stuttgart 1980, 333f. 29) Vgl. Heinrich Weber: Sozialwissenschaftliche Forschungs- und Ausbildungsarbeit im Müns-terer Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. In: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrts-pflege. Jg. 1 (1925/26), 296-302. 30) Zu den Frauen, die bei Höffner promovierten, zählten u. a. Marie-Theres Starke und Hilde-gard Wiegmann. 31) Dazu rechnet Höffner auch die Berufspädagogik. 32) Joseph Höffner: Versuch einer „Ortsbestimmung“ der Christlichen Gesellschaftslehre. In: Joseph Höffner (Hg.), Jahrbuch des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften. Bd. 1. Münster 1960, 9-11. 33) Ebd., 11/12. 34) Ebd., 12. 35) Ursprünglich Radiobotschaft Pius’ XII vom 1.6.1941 (AAS XXXIII 1941, S. 195ff), zitiert von Joseph Höffner, ebd., 12; ferner Joseph Höffner: Christliche Gesellschaftslehre. Neuausgabe. Hg. von Lothar Roos. Kevelaer 1997, 23. 36) Höffner, Versuch der „Ortsbestimmung“ 1960, 14 (Anm. 32). 37) Ebd., 15. 38) Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 1997, 27 (Anm. 35). 39) Vgl. ebd. S.22/23. Höffner definiert hier Christliche Gesellschaftslehre „als das Gesamt der sozialphilosophisch und sozialtheologisch gewonnenen Erkenntnisse über Wesen und Ordnung der menschlichen Gesellschaft und über die sich daraus ergebenden und auf die jeweiligen ge-schichtlichen Verhältnisse anzuwendenden Normen und Ordnungsaufgaben.“ 40) Vgl. Hans Achinger/ Joseph Höffner/ Hans Muthesius/ Ludwig Neundörfer: Neuordnung der sozialen Leistungen. Denkschrift auf Anregung des Bundeskanzlers. Köln 1955. 41) Vgl. Joseph Höffner: Ausgleich der Familienlasten. Paderborn 1954; ders.: Zwölf Leitsätze zum Ausgleich der Familienlasten. In: Wilfried Schreiber und Wilhelm Dreier (Hg.), Gesell-schaftspolitik aus christlicher Weltverantwortung. Joseph Höffner, Reden und Aufsätze. Münster 1966, 322-334. 42) Vgl. Vorschläge zur Ordnung des Baulandmarktes. Joseph Höffner zusammen mit Werner Ernst, Arnulf Klett, Ernst Wilhelm Meyer und Ludwig Neundörfer. Bonn 1958. Vgl. zu Höffners wissenschaftlicher Politikberatung auch Manfred Hermanns: Joseph Höffner als akademischer Lehrer. In: Enrique Colom (Ed.), Dottrina sociale e testimonianza cristiana. Città del Vaticano 1999, 319-321. 43) Ebd., 311. 44) Das griech. Wort Lemmata bedeutet Gewinne. 45) Joseph Höffner: Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung. In: Joseph Kardinal Höffner: In der Kraft des Glaubens. Bd. II: Kirche – Gesellschaft. Freiburg u. a. 1986, 457 (insge-samt 453-479). 46) Ebd., 476.

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47) Oswald von Nell-Breuning: Marxistische Weltanschauung: ist das marxistische Wirtschafts-system von der marxistischen Weltanschauung trennbar? In: Arthur Fridolin Utz (Hg.), Kann der Christ Marxist sein? Muß er Kapitalist sein? WRV Bonn, Scientia humana 1982, 13-27. 48) Vgl. Anton Rauscher: Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Weltverantwortung. Bd. I. Würzburg 1988. Darin vor allem: Lateinamerika braucht die katholische Soziallehre, 442-476. Die Theologie der Befreiung vor dem Anliegen gerechter Gesellschaftsstrukturen, 459-476; Man-fred Spieker: Die Versuchung der Utopie. Zum Verhältnis von Glaube und Politik in der Befrei-ungstheologie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 49/87 (5. Dezember 1987), 29-38; Wilhelm Weber: Marxismus – ein für Kirche und Theologie annehmbares gesellschaftskritisches Interpre-tament? In: Wilhelm Weber. Person in Gesellschaft. Aufsätze und Vorträge vor dem Hintergrund der christlichen Soziallehre. München/ Paderborn/ Wien 1978, 382-392. 49) Ebd., 388. 50) Franz Furger: Christliche Sozialethik. Grundlagen und Zielsetzungen. Stuttgart u. a. 1991, 112. 51) Vgl. Ricardo Antoncich/ José Miguel Munárriz: Die Soziallehre der Kirche. Düsseldorf 1988. 52) Vgl. Manfred Hermanns: Katholische Soziallehre und/ oder Theologie der Befreiung? Men-schenbild und Wirtschaftsethik. In: Karl Hugo Breuer (Hg.), Jahrbuch für Jugendsozialarbeit. Bd. XII. Köln 1991, 210 (insgesamt 193-217). 53) Stephan H. Pfürtner/ Werner Heierle: Einführung in die katholischen Soziallehre. Darmstadt 1980, 47. Vgl. auch Helmut Peukert: Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theorienbildung. Düsseldorf 1976. 54) Vgl. Johann Baptist Metz: Zur Theologie der Welt. 5. Aufl. Mainz 1985 (1. Aufl. 1968). 55) Ebd., 101. 56) Wolfgang Ockenfels: Politisierter Glaube? Zum Spannungsverhältnis zwischen Katholischer Soziallehre und Politischer Theologie. Bonn 1987, 48. Vgl. auch Hermanns: Katholische Sozial-lehre und/ oder Theologie der Befreiung? 1991, 196 (Anm. 52). 57) Furger: Christliche Sozialethik, 1991, 34. (Anm. 50). 58) Hermann Josef Wallraff: Die katholische Soziallehre – ein Gefüge von offenen Sätzen. In: Hans Achinger/ Ludwig Preller/ Hermann Josef Wallraff (Hg.), Normen der Gesellschaft. Festga-be für Oswald von Nell-Breuning S.J. Mannheim 1965, 27-48. 59) Vgl. Joseph Ratzinger: Naturrecht, Evangelium und Ideologiekritik in der katholischen So-ziallehre. Katholische Erwägungen zum Thema. In: Klaus von Bismarck/ Walter Dirks (Hg.), Christlicher Glaube und Ideologie. Berlin/ Mainz 1964, 24-30; ferner Franz Böckle: Fundamen-talmoral. 3. Aufl. München 1981, 245-258, 317-319. Vgl. zu der Diskussion um das Naturrecht auch Marianne Heimbach-Steins (Hg.), Naturrecht im ethischen Diskurs. Münster 1990. 60) Vgl. Furger, Christliche Sozialethik, 1991, 38/39 (Anm. 50). 61) Vgl. Anzenbacher, Christliche Sozialethik. 1998, 152 (Anm. 2). 62) Furger, Christliche Sozialethik, 1991, 40 (Anm. 50). 63) Solidarität – die Antwort auf das Elend in der heutigen Welt. Enzyklika Sollicitudo rei socialis Papst Johannes Pauls II. Mit einem Kommentar von Wilhelm Korff und Alois Baumgartner. Freiburg i. Br. 1988, Nr. 41, 80. 64) Pius XII: Pfingstbotschaft. Ansprache seiner Heiligkeit Papst Pius XII. zur Fünfzigjahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“ Papst Leos XIII. über die soziale Frage. Pfingstsonntag, 1. Juni 1941. In: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands – KAB (Hg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente mit Einführungen von Oswald von Nell-Breuning SJ und Johannes Scha-sching SJ. 7. erw. Aufl. Köln/ Kevelaer 1989, 165. 65) Furger, Christliche Sozialethik, 1991, 13 (Anm. 50). 66) Lehrstühle für evangelische Sozialethik gab es zur Zeit von Franz Hitze und Heinrich Weber noch nicht.

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67) Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Hannover/ Bonn 1997. 68) Arno Anzenbacher: Zur Kompetenz der Kirche in Fragen des wirtschaftlichen Lebens. In: Franz Furger (Hg.), Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften. Jg. 29 (1988), 81 (insgesamt 73-86). 69) Helmut Juros: Metaethische Reflexionen zur Entwicklung der Katholischen Soziallehre. In: Franz Furger und Joachim Wiemeyer (Hg.), Christliche Sozialethik im weltweiten Horizont. Münster 1992, 68. 70) Furger, Christliche Sozialethik, 1991, 65 (Anm. 50). 71) Vgl. ebd., 104ff. 72) Vgl. u. a. Hünermann, Peter: Kirche – Gesellschaft – Kultur. Zur Theorie katholischer Sozial-lehre. In: Hünermann, Peter/ Eckholt, Margit (Hg.), Katholische Soziallehre – Wirtschaft – De-mokratie. Mainz/ München 1989, 18-20. 73) Furger, Christliche Sozialethik,1991, 109 (Anm. 50). 74) Ebd., 109/110. Dieser Syllogismus findet sich u. a. bei Franz Klüber: Grundlagen der katholi-schen Gesellschaftslehre. Osnabrück 1960, 16-18. 75) Ebd., 110. 76) Vgl. Wilhelm Korff/ Lutwin Beck/ Paul Mikat im Auftrag der Görres-Gesellschaft (Hg.): Lexikon der Bioethik. Gütersloh 1998; ferner Rainer Flöhl (Hg.): Genforschung – Fluch oder Segen? München 1985. 77) Die Bibliographie Theologie und Frieden des „Instituts für Theologie und Frieden“ enthält 60000 Titel. 78) Vgl. u. a. Manfred Hermanns: Die Verknüpfung von Sozialethik und Caritaswissenschaft bei Heinrich Weber. In: Franz Furger (Hg.), Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften. Münster 1997. Konrad Hilpert: Caritas und Sozialethik. Elemente einer theologischen Ethik des Helfens. Paderborn u. a. 1997; Heinrich Pompey (Hg.), Caritas im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit. Würzburg 1997; Reinhard Marx/ Helge Wulsdorf: Kirchliche Soziallehre und Caritas. Eine Verhältnisbestimmung zweier kirchlicher Arbeitsfelder. In: Die Neue Ordnung. Jg. 53 (1999), 324-343. 79) Konrad Hilpert, ebd., 52. Prof. Dr. Manfred Hermanns lehrt Soziologie an der Fachhochschule Hamburg.

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Gerhard Kolb

Die Geschichtsvergessenheit der Volkswirtschaftslehre und ihre Folgen

Keine Frage: Die Zeit, in der das Studium der Volkswirtschaftslehre zum großen Teil darin bestand zu lernen, wie früher über volkswirtschaftliche Fragen gedacht wurde, ist erfreulicherweise schon sehr lange vorbei. Später, zumindest bis Ende der 1960er Jahre war im wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulcurriculum – sehr zu Recht – eine Pflichtveranstaltung verankert, die meist „Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen“, „Volkswirtschaftliche Dogmengeschich-te“ oder „Geschichte der Volkswirtschaftslehre“ genannt wurde, und dieses Lehrgebiet lasen meist sogar die renommiertesten Fachvertreter der Fakultät; als Teil der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre war die ökonomische Ideenge-schichte zudem prüfungsrelevant. Im Zuge der 68er-Bewegung, mit ihrer Blickrichtung auf marxistische, neomar-xistische und vulgärmarxistische „Heilslehren“, bis hin zum gerade auch im Rekurs auf Marx paradoxen Slogan „Trau keinem über 30!“, ging die Anbindung an die Diversifikation dogmenhistorischer Positionen der Volkswirtschaftslehre allmählich verloren. (Kontraproduktiv war diese Entwicklung freilich auch im marxistischen Verständnis von Geschichtlichkeit und Totalität.) Hinzu kommt die sich bereits in den 70er Jahren abzeichnende zunehmende Spezialisierung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, welche einherging mit einer gewissen Fokussierung auf vermeintliches „Gebrauchswissen“. Außer der ökonomischen Ideengeschichte innerhalb der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre geriet partiell auch die realhistorische Perspektive und damit das Wahlfach Wirtschaftsge-schichte im volkswirtschaftlichen Lehrkanon in die Defensive. Wenn wir uns hier die allseits evidente Geschichtsvergessenheit der Volkswirt-schaftslehre zum Thema gewählt haben, so geht unser Anliegen doch weit über den Geschichts- bzw. Zeitbezug hinaus: Mit der Berücksichtigung eines Raumbe-zugs, eines Methoden- oder Ganzheitsbezugs und eines Sinnbezugs – sie drängen sich als Gliederungsgesichtspunkte geradezu auf – wird die Bedeutung der mitt-lerweile immer mehr empfundenen Defizite unserer Disziplin deutlich.

I. Mit fehlendem Zeitbewußtsein ging Orientierung verloren

Der amerikanische Nationalökonom John Kenneth Galbraith brachte es auf den Punkt: „Wirtschaftswissenschaft läßt sich nicht verstehen, wenn das Bewußtsein ihrer Geschichte fehlt.“1 Welche Folgen also hat die seit gut einem Vierteljahr-hundert zu beobachtende Geschichtsblindheit der Wirtschaftslehre, der Verlust der Kategorie „Geschichtlichkeit“, vorzugsweise im Sinne ideengeschichtlicher, aber durchaus auch realgeschichtlicher Bezüge, die ohne Erinnerung an ihre Herkunft konzipierte „Kaspar-Hauser-Ökonomie“?

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Wenn gegenwärtig die Abbrecherquote in Wirtschaftswissenschaften an Univer-sitäten mit 60% und an Fachhochschulen mit 40% ausgewiesen wird, so könnte auch dies, zumindest partiell, damit im Zusammenhang stehen, denn volkswirt-schaftliche Theoriengeschichte markiert – durch die Vermittlung von Struktur-wissen – eine Art „roten Faden“ durch die Volkswirtschaftslehre, nach dem Stu-dierende bewußt oder unbewußt und oftmals vergebens suchen.

Um aber nicht mißverstanden zu werden: Hier soll nicht der alte Streit zwischen narrativer und mathematischer Ausrichtung wiederbelebt werden; der Dreiklang verbal erklären, graphisch zeigen und mathematisch präzisieren steht außer Fra-ge, zumal das Phänomen der „mathematischen Exzesse“ (zu Algorithmen wer-den dazu passende ökonomische Probleme gesucht) mittlerweile als überwunden gilt.

Nachdenklich stimmt gelegentlich freilich immer noch die Schumpetersche Fest-stellung: „Man gewinnt oft den Eindruck, daß es nur zwei Gruppen von Wirt-schaftswissenschaftlern gibt: Solche, die eine Differenzengleichung nicht verste-hen und solche, die außer ihr nichts anderes verstehen.“2 Mit demselben Autor darf man aber sogleich anmerken, „daß die meisten grundlegenden Fehler, die immer wieder in der Wirtschaftsanalyse gemacht werden, häufiger auf einen Mangel an geschichtlicher Erfahrung zurückzuführen sind als auf andere Lücken im Rüstzeug des Wirtschaftswissenschaftlers.“3 So wie in der Medizin Gedächtnisverlust mit Identitätsverlust gleichzusetzen ist, so beschwört die Verdrängung der ideen- und realgeschichtlichen Herkunft in der Wirtschaftswissenschaft die Gefahr der Verdrängung des Wirklichkeitsbe-zugs herauf. Da die Vergangenheit die Gegenwart mitbestimmt, ist es eben falsch, in der Geschichte nur die Asche zu erkennen und die glimmende Glut zu übersehen; das heißt mit anderen Worten: Wer das Heute der Volkswirtschafts-lehre verstehen will, der darf das Gestern nicht ignorieren. Zuzugeben ist allerdings, daß sowohl der ökonomischen Lehrgeschichte als auch der ökonomischen Realgeschichte ein unmittelbares Nützlichkeits- bzw. Anwen-dungsdenken fremd ist, insofern mu ßten sie bei einer wirtschaftswissenschaftli-chen Ausrichtung auf „Gebrauchswissen“ notwendigerweise ins Hintertreffen geraten. Ihre Forschungsergebnisse haben vorzugsweise bildenden, orientieren-den Charakter. Kenntnisse in volkswirtschaftlicher Dogmengeschichte produzieren z. B. eher die Fähigkeit zum Relativieren, auch zur Skepsis. Man erkennt leichter, daß das, was manchmal als „neuer Ansatz“ daherkommt, in Wirklichkeit gar nicht so neu ist, man entgeht sozusagen der Gefahr, das Rad immer wieder neu zu erfinden. Die Beschäftigung mit Theoriegeschichte macht zudem hellhörig, bescheiden und tolerant zugleich, auch sensibel gegenüber Ideologien mit ihren absoluten Geltungsansprüchen. Außerdem eröffnet die Beschäftigung mit der Geschichte des ökonomischen Denkens einen didaktisch sehr fruchtbaren Zugang zur Volks-wirtschaftslehre. Sie vermag darüber hinaus Interesse an ökonomischen Zusam-menhängen zu wecken, stärkt das Bewußtsein für Entwicklungen, schafft Trans-parenz im Wirrwarr sich bekämpfender Meinungen und wissenschaftlicher Posi-tionen, gewährt eben Orientierung.

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II. Auch der Raumbezug geriet ins Abseits

Hier soll nicht gering geschätzt werden, daß der in der ersten Hälfte des 19. Jahr-hunderts von Johann Heinrich v. Thünen (1783-1850) in die Volkswirtschafts-lehre eingebrachte raumwirtschaftliche Aspekt – über die landwirtschaftliche Standortlehre mittlerweile ausgreifend zur generellen Existenz von Wirtschaft im Raum – im Sonderzweig der modernen Raumwirtschaftslehre durchaus Wider-hall findet, an der Sonderstellung innerhalb der Wirtschaftslehre führt allerdings keine Aussage vorbei. Zweifelsohne beinhaltet der Raumbezug immer ein relativierendes Moment, un-abhängig davon, ob er im engeren Verständnis der „spatial economics“ oder weiter ausgreifend der „political economics“ zuzuordnen ist. Schon Adam Müller (1779-1829), der Hauptvertreter der Wirtschaftslehre der Romantik, ergänzte 1808 den Begriff des „Zeitgenossen“ durch den des „Raumgenossen“.4 Bekannt-lich war es dann Friedrich List (1789-1846), der der „Schule“, wie er etwas abschätzig die auf Smith aufbauende Lehre nannte, zum Vorwurf machte, sie „habe vor lauter Menschheit, vor lauter Individuen die Nationen nicht gesehen“5. In der Vorrede zu seinem „Nationalen System“ heißt es ferner: „Als charakteri-stischen Unterschied des von mir aufgestellten Systems bezeichne ich die Natio-nalität. Auf der Natur der Nationalität, als des Mittelgliedes zwischen Individua-lität und Menschheit ist mein ganzes Gebäude gegründet.“6 Für dieses Mittel-glied in der Kette individualer, nationaler und globaler Betrachtungsweise wurde von List der Terminus politische Ökonomie mit dem Anspruch der politischen Gestaltung reklamiert und diese politische der kosmopolitischen Idee, letztlich die Nationalökonomie der Weltökonomie gegenübergestellt. Nun ist es zwar richtig, daß das Territorium (neben Sprache, Kultur, Geschichte, Tradition etc.) nur eine von vielen Merkmalen einer Nation ausmacht, tatsächlich hob List in dem seiner Wirtschaftsstufentheorie unterlegten Erziehungszollargument auf den Stand der Entwicklung der produktiven Kräfte eben in den deutschen Ländern (im Vergleich zum höheren Grad ökonomischer Entwicklung in England) ab. Raumbezüge waren es denn auch, welche – der eher relativierenden Sicht der Historischen Schule entsprechend – im erstmals 1900 erschienenen „Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ (Band I) von Gustav Schmoller unter dem Titel des Ersten Buches „Land, Leute und Technik als ... Elemente der Volkswirtschaft“ herausgestellt wurden; zumal der Autor überzeugt war, daß sie „doch eine gewichtige Stelle ein(nehmen), wenn eine lebendige Anschauung der Volkswirtschaft hergestellt, die Ursachenreihen derselben vollständig dargestellt werden sollen“.7

Auch in den den Nachfolgephasen der Historischen Schule zuzurechnenden gestalttheoretischen Ansätzen8 – z. B. in der 1932 von Arthur Spiethoff im Rah-men seines Beitrags „Die Allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie“ grundgelegten Wirtschaftsstilbetrachtung oder in der 1963 von Hans-Jürgen Seraphim erfolgten Herausarbeitung von sogenannten „Wirtschaftlichen Grundgestalten“ (in der in zweiter Auflage erschienenen „Theorie der Allgemei-nen Wirtschaftspolitik“) – wurden die Raumbezüge als die jeweils naturgegebe-

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nen Grundlagen einer Volkswirtschaft zumindest partiell mitbedacht. Inzwischen steht zweifelsfrei fest, daß sich bei der aktuellen Entgegensetzung von Globali-sierung vs. Regionalisierung eine Fokussierung auf die erstgenannte Richtung abzeichnet, wenngleich in der Praxis die Regionen als Wirtschaftsräume und als Bezugspunkte der Politik sehr wohl an Bedeutung gewinnen.

III. Über Methodenfragen wird kaum noch nachgedacht

Wenn ich meine Studenten – wohlgemerkt im Hauptstudium – mit der Frage konfrontiere „Was versteht man unter Wissenschaft?“, dann leitet dies ein langes Schweigen ein. Der gesenkte Blick auf die Tischplatte löst sich auch bei der Frage „Was ist Wirtschaftswissenschaft?“ – notabene nach dem vorherigen Be-such von x vorwiegend betriebswirtschaftlichen Lehrveranstaltungen – nur zö-gerlich. Die Konfrontation mit der Unterscheidung eines Erfahrungs- und eines Erkenntnisobjekts der Wirtschaftswissenschaft weckt dann zunehmend Interesse. Die Begegnung mit den verschiedenen Wegen, zu wissenschaftlichen Erkennt-nissen zu gelangen, läßt oft ein Aha-Erlebnis aufkommen und die Vorstellung ganzheitlicher (hermeneutischer, dialektischer, systemtheoretischer) Positionen produziert gar nicht so selten Sympathien für wissenschaftstheoretische Reflexi-onen (vorher war sich ja kaum jemand bewußt, daß man beinahe ausschließlich auf die analytische Position des Kritischen Rationalismus festgelegt war).9 Bei der hermeneutischen und der dialektischen Position ist das Kriterium der Ganzheit bezeichnenderweise mit dem der Geschichtlichkeit gepaart. Das Bemü-hen um „Gesamterkenntnis“ ist darauf ausgerichtet, die Theorie nicht auf das rein Ökonomische einzuengen, sondern auch außerökonomische, aber ökono-misch relevante Aspekte (z. B. anthropologischer, psychologischer, soziologi-scher, politologischer, technologischer Art) zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, daß das in den Einzelwissenschaften aufgrund eines eng definierten Identitätskriteriums vorherrschend atomistische bzw. „zerfällende“ Denken nur selten für die Lösung praktischer Probleme aus-reicht, weil die Aufgaben der Praxis eben meist komplexer Natur sind, als Ganz-heiten auftreten und deshalb über die jeweiligen Fachgrenzen hinausweisen, wurde z. B. auch in der Betriebswirtschaftslehre gegen die „eindimensionale Aspektlehre“ und zugunsten eines interdisziplinären Systemansatzes Stellung bezogen. So konstatierte der St. Gallener Betriebswirt Hans Ulrich: „Für den praktisch handelnden Menschen ist es letzten Endes gleichgültig, ob die von ihm verwendeten Erkenntnisse aus Soziologie, Psychologie, Nationalökonomie oder aus der ‚eigentlichen’ Betriebswirtschaftslehre stammen; es ist ein Postulat der Ausbildungsökonomie, ihm alle zur Lösung seines Problems benötigten Er-kenntnisse in zusammenhängend verarbeiteter, eben ‚problemorientierter’ Form zu vermitteln.“10 En vogue ist diese Einstellung freilich nicht. Mit dem Zurückdrängen des Me-thodenverständnisses geht die Tatsache einher, daß auch ganzheitliche Positio-nen aus dem Blickfeld geraten. Die damit verbundene Gefahr ist zwar erkannt, gebannt ist sie damit aber keineswegs.

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IV. Weitgehend Fehlanzeige: die Frage nach dem Sinn

Es gibt Zeiten, die für gewisse Fragen blind werden, so hat es der 1950 verstor-bene Philosoph Nicolai Hartmann einmal ausgedrückt, und er fügte hinzu, daß dies nicht an den Problemen selbst liege, sondern am Problembewußtsein der jeweiligen Zeit. Wir müssen hier feststellen, daß sich mit der Geschichtsverges-senheit der Volkswirtschaftslehre auch die Frage nach dem Sinn weitgehend verabschiedet hat.

Sinn in philosophischer Sicht hat bekanntlich zu tun mit der Zweckgerichtetheit, der Zweckdienlichkeit, der Zweckorientierung von geschichtlichen Prozessen, wobei es aber weniger um das teleologische Prinzip der Sachrichtigkeit in bezug auf Aussagen über die Geeignetheit bestimmter Mittel zur Realisierung eines vorgegebenen Zieles geht, sondern letztlich um das ontologische Urteil über Seinsrichtigkeit. Es handelt sich also um Aussagen zu den Zielen selbst, insbe-sondere zum sogenannten Endzweck der Wirtschaft. Ausgangspunkt diesbezüg-licher Bemühungen ist die Überzeugung, daß sich – angewiesen auf die äußere Erfahrung – die Frage nach dem Sinn zwar in den Naturwissenschaften verbietet, dagegen könne bei der vom Menschen geschaffenen Wirtschaft – mit Hilfe einer letztlich für alle Menschen gleichen inneren Erfahrung – auf einen allgemeinver-bindlichen Sinn der Wirtschaft geschlossen werden. Im Anschluß an v. Gottl-Ottlilienfeld hat man den Sinn aller Wirtschaft in der „Gestaltung menschlichen Zusammenlebens im Geiste dauernden Einklangs von Bedarf und Deckung“ gesehen; moderner ausgedrückt, geht es um soziale Integration im Zuge der Bedarfsdeckung. Kenner der ökonomischen Ideengeschichte werden sich an dieser Stelle un-schwer daran erinnern, daß es im Kontext der aristotelischen Philosophie einmal eine Oikonomia gab, die sich besonders der Frage der Gerechtigkeit widmete. Angemahnt wurden dabei „natürliche“ Grenzen des Besitzstrebens, die Einen-gung auf das zum „guten Leben“ Notwendige; „Das Umgrenzte gehört zur Natur des Guten“, heißt es in der Nikomachischen Ethik. Die im Vorfeld der Volks-wirtschaftslehre angesiedelte Oikonomia – die antike Ökonomik stellte neben der Rhetorik allenfalls eine Art Hilfsdisziplin der aus Politik und Ethik bestehenden „praktischen Philosophie“ dar – bezog sich auf das Führen eines Oikos, also eines Hauses bzw. Haushalts, und auf die als zugehörig empfundene Landwirt-schaft; etwas vereinfacht ausgedrückt, läßt sich ihr Gegenstand als eine auf Be-darfsdeckung ausgerichtete Haushalts-, Familien- oder Gutswirtschaft kenn-zeichnen.11 Wirtschaftlich bedeutete damals in erster Linie natürlich, zweckmä-ßig, eben haushälterisch, keinesfalls aber rentabel bzw. gewinnbringend. – Hin-gewiesen sei in diesem Zusammenhang auch an die sozial-ethische Orientierung der Historischen Schule der Nationalökonomie und an die in der Historismus-Nachfolge stehende und bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts reichende ontologische Bemühung um eine Theorie der zeitlosen Wirtschaft .12 In einer auch heute noch lesenswerten – insgesamt 125 Seiten (!) umfassenden und sehr auf Konzeptionelles abhebenden – Rezension von Euckens 1940 in erster Auflage erschienenen „Grundlagen der Nationalökonomie“ durch Georg

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Weippert heißt es unseres Erachtens sehr zu Recht: „Wollen wir die ‚wirkliche Wirtschaft’ erkennen, so müssen wir sie zuvörderst in ihrer Geschichtlichkeit erkennen. Die Wirtschaft in ihrer Geschichtlichkeit erkennen heißt aber, sie in ihrer Eigenart, in ihrem Sosein, in ihrem spezifischen Sinngehalt erkennen. ... Die Wirtschaft in ihrer Eigenart, in ihrem Geschichtlichsein erkennen heißt ... immer auch, sie in ihrer sozialen Einbettung, in ihrer sozialen Fundiertheit ... erkennen. Das Soziale ist für die Wirtschaft ein Apriori.“13 Wenn wir damit noch einmal auf die soziale Integration im Zuge der Bedarfsdeckung zurückkommen, so sollte dies keinesfalls fehlgedeutet werden als Fokussierung auf eine Entge-gensetzung von Bedarfsdeckungswirtschaft und Erwerbswirtschaft, aber „die Frage nach der eigentlichen Sinnbestimmung der Marktwirtschaft“14 kann eben nicht einfach als nicht mehr relevant ad acta gelegt werden.

Gerade „der um Weitung und Einordnung seines Spezialwissens bemühte Wirt-schaftswissenschaftler“ sollte sich Gedanken machen „über die Sinnerfüllung der Volkswirtschaft insgesamt, über den Dienstcharakter seiner Spezialdisziplin innerhalb des umfassenden Wirtschaftsverständnisses, über verantwortliche Wirtschaftsgestaltung.“15 Sofern Wirtschaftswissenschaft nach der 1932 von Robbins formulierten Definition ausschließlich verstanden wird als „the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses“16, dann wird Wirtschaft lediglich als Knappheits-management interpretiert, wobei außerökonomische, aber ökonomisch relevante Phänomene eben gar nicht mehr wahrgenommen werden. Wenn in der Wirtschaftslehre nicht mehr über die Sinnfrage nachgedacht wird, dann kann es schon passieren, daß ein aller Zügel entbundener Kapitalismus gemäß der auf die Epoche des französischen Bürgerkönigs Louis Philippe zu-rückgehenden „Enrichissez-vous“-Empfehlung um sich greift. Vehikel dazu sind die Verabsolutierung des „ökonomischen Prinzips“, das blinde Vertrauen auf den Marktmechanismus in Verbindung mit der Fiktion der Marktform der vollständi-gen Konkurrenz, Werthaltungen nach dem Motto „Jedem das Seine, mir das meiste“ bis hin zu einer Entwicklung, an deren Ende es nur noch Werktage gibt.

V. „A ... modern economics is sick“ 17

Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Geschichtsvergessenheit der modernen Volkswirtschaftslehre weit über den fehlenden Zeit- und Raumbezug hinaus-weist und letztlich wissenschaftstheoretisch-methodologische und wirtschaftsphilosophische Defizite zeitigt. Tatsächlich ist die Volkswirtschaftslehre damit sehr kurzatmig geworden; sie sieht sich zugleich der Gefahr ausgesetzt, sich zu weit von der Realität zu entfernen. Als Therapie bietet sich der gelegentliche Blick in den Rückspiegel an. Denn Rückbesinnen heißt eben, wie es Recktenwald ausgedrückt hat, „nicht nur, sich erinnern, es bedeutet auch, unsere Gegenwart und auch uns selbst besser verstehen, um Künftiges in einer Vorschau schärfer erfassen zu können. Nur in einer historischen Perspektive kann man Erkenntnis und Tun letztlich beurteilen.“18

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Anmerkungen 1) Galbraith, J. K.: Die Entmythologisierung der Wirtschaft. Grundvoraussetzungen öko-nomischen Denkens. Wien/Darmstadt 1988, S. 11. 2) Schumpeter, J. A.: Geschichte der ökonomischen Analyse. Göttingen 1965, S. 1419. 3) Ebd., S. 43. 4) Müller, A.: Die Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen (1808/09). Meersburg am Bodensee/Leipzig 1936, S. 40. 5) List, F.: Das nationale System der politischen Oekonomie. Stuttgart/Tübingen 1841, S. VII. 6) Ebd., S. LIX. 7) Schmoller, G.: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Erster Teil. Leipzig 1900, S. 125. 8) Vgl. dazu im einzelnen Kolb, G.: Geschichte der Volkswirtschaftslehre. Dogmenhisto-rische Positionen des ökonomischen Denkens. München 1997, S. 110 ff. 9) Zu den in der Volkswirtschaftslehre vorherrschenden methodologischen Positionen vgl. Kolb, G.: Grundlagen der Volkswirtschaftslehre. Eine wissenschafts- und ordnungstheo-retische Einführung. München 1991, S. 22 ff. 10) Ulrich, H.: Die Unternehmung als produktives soziales System. Grundlagen der all-gemeinen Unternehmungslehre. 2. Aufl., Bern/Stuttgart 1970, S. 19. 11) Vgl. dazu sowie zum ökonomischen Aspekt im frühchristlichen Denken und in der Scholastik Kolb, G.: Geschichte der Volkswirtschaftslehre ..., a. a. O., S. 3 ff. 12) Vgl. ebd., S. 106 ff. 13) Weippert, G.: Walter Euckens Grundlagen der Nationalökonomie. Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Bd. 102 (1942), S. 50. 14) Nawroth, E.: Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft. Köln 1965, S. 9. 15) Ebd., S. 17. 16) Robbins, L.C.: An Essay on the Nature and Significance of Economic Science. Lon-don 1932, S. 15. 17) Blaug, M.: Ugly Currents in Modern Economics. Fact or Fiction? Conference on Realism in Economics. Rotterdam 1997, S. 2; zitiert nach Frey, B. S.: Was bewirkt die Volkswirtschaftslehre? Perspektiven der Wirtschaftspolitik (PWP), Bd. 1 (2000), S. 7. 18) Recktenwald, H. C.: Kritisches zu Ricardos Rang in moderner Sicht und Einsicht. In Arrow, K. J./Ricardo, M./Recktenwald, H.C.: David Ricardo. Eine moderne Würdigung. Düsseldorf 1988, S. 17. Prof. Dr. Gerhard Kolb lehrt Allgemeine Wirtschaftslehre und ihre Didaktik an der Universität Hildesheim; er ist dort Direktor des Instituts für Arbeit-Wirt-schaft-Technik .

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Bericht und Gespräch

Giselher Schmidt

Die 68er Legende - Mythen und Tatsachen

Beim Streit um die Vergangenheit von „grünen“ Spitzenpolitikern wird mitunter unterschieden zwischen den durch Gewalt – Körperverletzungs-Gewalt etwa bei der Frankfurter Sponti-Szene oder Tötungs-Gewalt von seiten der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) – gekennzeichneten 70er Protest-Jahren und der vermeintlich reformbereiten 68er Bewegung. Zu ihr wollen sich auch liberale Politiker – wie etwa Rainer Brüderle beim „Talk in Berlin“ des Nachrichtensenders n-tv1 – bekennen.

Gewiß, es gab in den späten 60er Jahren – aus berechtigtem oder weniger be-rechtigtem Anlaß – auch Proteste und Demonstrationen, welche nicht die De-montage, sondern die Erhaltung oder Verbesserung der freiheitlichen De-mokratie anstrebten. Manche, welche gegen die Ende 1966 im Bund gebildete große Koalition aus CDU/CSU und SPD protestierten, waren Anhänger des Ver-fassungsstaates. Nicht alle, die gegen die (dringend erforderliche) Notstandsver-fassung oder gegen den (von Tag zu Tag problematischer werdenden) US-amerikanischen Vietnam-Krieg demonstrierten, waren Linksextremisten. Die Parole „Unter den Talaren - der Muff von tausend Jahren“ gefiel auch Mitglie-dern des „Ringes Christlich Demokratischer Studenten“ (RCDS), die eine Re-form der Hochschulen befürworteten, sich aber ebenso dem Monopolanspruch des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) widersetzten. Schließ-lich ließen die Wahlerfolge der rechtsextremen NPD auch bei konstitutionellen Demokraten die Frage nach dem postnazistischen Potential in der Gesellschaft aufkommen. Doch bei allen notwendigen Differenzierungen sollte das Prädomi-nierende nicht übersehen werden. Und so stellt sich die Frage: Welche Ziele ver-folgten die damaligen Führungsfiguren der „Außerparlamentarischen Oppositi-on“ (APO)?

Dutschke, Salvatore und die Vorbilder Als ein signifikanter 68er wurde bei „Talk in Berlin“ – wohl zu Recht – der aus Chile stammende Schriftsteller Gaston Salvatore vorgestellt. Seinen Ende 1979 verstorbenen Freund Rudi Dutschke vertrat dessen jüngster Sohn Marek , der sich zu den Idealen seines Vaters bekennt.

Nun genießt Rudi Dutschke gewiß viele Sympathien auch bei ganz Andersden-kenden. Seine Schicksalsschläge – der Konflikt mit der Staatsmacht der DDR, als er den Wehrdienst verweigerte, und der auf ihn, den SDS-Exponenten, verüb-

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te Mordanschlag am 11. April 1968 in West-Berlin und sein Tod im Alter von nur 39 Jahren – lösten Gefühle der Solidarität aus. Für manche war er ein Apo-stel der Gewaltlosigkeit. So heißt es etwa im Munzinger-Archiv: „D. war ein Theoretiker, ein Reflektierender. Fäden zur terroristischen Gewalt gab es nicht. Er hat sie später auch klar als Zerstörung der Vernunft abgelehnt.“2 Schon die von ihm praktizierten „Go -ins“ – wie etwa die Störung des Gottes-dienstes in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche an Heiligabend 1967 – lassen Zweifel aufkommen. Schwerer wiegt noch die Propagierung der Lehren von Mao Tse-tung, Ho Chi Minh, Fidel Castro und insbesondere Ernesto Che Gue-vara . Salvatore und Dutschke verbreiteten wohl als erste die Ideen des gebürti-gen Argentiniers, zeitweiligen Castro-Ministers und nach der Gefangennahme im bolivianischen Dschungel erschossenen Berufsrevolutionärs, und sie publi-zierten in der West-Berliner „Oberbaumpresse“ die erste Übersetzung von Gue-varas Brief an die Organisation der Solidarität der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas (OSPAAL) mit dem kennzeichnenden Titel „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“. Dieser Brief enthält peinliche Reminiszenzen an die Sport-palast-Rede eines früheren Reichspropaganda-Ministers Goebbels: „Der Krieg muß dorthin gebracht werden, wohin der Feind ihn bringt: zu seinem Haus, zu seinen Vergnügungsvierteln – der totale Krieg.“3 Auch die Übersetzer und Herausgeber bekannten sich in der Einleitung zum Krieg als reinigendem Stahlgewitter: „Der Kampf allein bringt die Herstellung des revolutionären Willens, der es den Vö lkern ermöglicht, ihre schon immer von ihnen gemachte Geschichte nun endlich bewußt und zielbestimmt zu ma-chen.“4 Zugleich bekannten sich Salvatore und Dutschke zu dem Satz Mao Tse-tungs: „Wir sind für die Abschaffung des Krieges, wir wollen den Krieg nicht, aber man kann den Krieg nur durch den Krieg abschaffen; wer das Gewehr nicht will, der muß zum Gewehr greifen.“5 Zwar betonten Salvatore und Dutschke, daß die Lage in den Metropolen grundsätzlich verschieden sei von der in der Dritten Welt. Aber mit Herbert Marcuse forderten sie die „Globalisierung der revolutionären Opposition“. Ebenso empfahlen sie „die Entwicklung spezifischer Kampfformen, die dem in den Metropolen erreichten Stand der geschichtlichen Entwicklung entsprechen“. Am Ende soll der „Zusammenbruch der etablierten Apparate“ stehen.6 Salvatore und Dutschke drohten im Hinblick auf den Viet-nam-Krieg, daß der Übergang „von der jetzigen indirekten Unterstützung der amerikanischen Gewaltmaschinerie zu einer direkten Beteiligung mit der Impor-tierung der gewaltsamen Revolution durch die Herrschenden selbst identisch sein könnte.7 Als Anleitung zum Handeln für Politbanden kann ebenso Dutschkes Schlußforderung in dem rororo-Band „Rebellion der Studenten“ verstanden werden: „Die Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kapitalistischen Ordnung führt nur dann zur manifesten Entlarvung des Systems als ‚Diktatur der Gewalt’, wenn wir zentrale Nervenpunkte des Systems in mannigfaltiger Form (von ge-waltlosen offenen Demonstrationen bis zu konspirativen Aktionsformen) angrei-fen - so zum Beispiel das Abgeordnetenhaus, Steuerämter, Gerichtsgebäude,

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Manipulationszentren wie Springer-Hochhaus oder SFB, Amerika-Haus, Bot-schaften der Marionettenregierungen, Armeezentren, Polizeistationen etc.!“8 Zwar distanzierte sich Dutschke vom damaligen Realsozialismus in Mittel- und Osteuropa. Doch gab er gleichzeitig zu verstehen, daß er ihm näher stand als den westlichen Demokratien. So kritisierte er 1968 – wenige Monate vor dem Ein-marsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR – die dortigen Reformer: „Es besteht allerdings die Gefahr, daß es bei den demokratischen Kräften in den sozialistischen Ländern zu einer zeitweiligen Verherrlichung bürgerlich-demo-kratischer Formen kommt...“9 Dutschke sprach sich „für die Entfaltung der De-mokratie auf der Grundlage der nicht mehr in Frage zu stellenden sozialistischen Basis“ und für „verschiedene sozialistische Interpretationen der Wirklichkeit“ aus.10 Seiner Meinung nach durfte es Freiheit und Demokratie nur für Sozialisten geben. Marcuse, Agnoli, Brückner

Großen Einfluß auf die APO übte der deutsch-amerikanische Sozial-Philosoph Herbert Marcuse aus. Sein Essay „Repressive Toleranz“ erschien 1967 in einem vielgelesenen Taschenbuch.11 Marcuse verurteilte die liberale Toleranz demokra-tischer Staaten, da sie nur „die Tyrannei der Mehrheit“ stärke.12 Für ihn bedeute-te „befreiende Toleranz“ die „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts... und Duldung von Bewegungen von links.“13 Folglich sprach er sich gegen die Freiheit der Lehre und für Zensur und Vorzensur aus.14 In demselben Essay billigte er unterdrückten und überwältigten Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand zu. Wenn diese Minderheiten Gewalt anwenden, so „beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die eta-blierte“ Gewalt.15 Im gleichen Sinne erklärte er im Sommer 1967 vor Studieren-den der Freien Universität (FU) Berlin: „Die Gewalt zum Beispiel des revolutio-nären Terrors ist sehr verschieden vom weißen Terror, weil der revolutionäre Terror eben als Terror seine eigene Transzendierung zu einer freien Gesellschaft impliziert.“16 Das erstmals im selben Jahr erschienene, gemeinsam von dem Berliner FU-Politologen Johannes Agnoli und dem in Hannover lehrenden Psychologie-Ordi-narius Peter Brückner verfaßte Buch „Die Transformation der Demokratie“ galt bald als Charta der „Außerparlamentarischen Opposition“.17 Der vom italieni-schen Linkssozialismus geprägte APO-Repräsentant Agnoli bekundete offen seine fundamentale Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und forderte von marxistischen Parteien eine rigorose Kompromißlosigkeit und ebenso die Bereitschaft zur Gewalt: „Marxistische Klassenparteien streben keine Kooperati-on gesellschaftlich sich entgegenstehender Gruppen und keinen sozialen Aus-gleich an. Vielmehr fordern sie die Anerkennung des Totalitätsanspruchs der Proletarierklasse durch die anderen oder sie zielen auf die gewaltsame Durchset-zung dieses Anspruchs im Klassenkampf.“18 Während Agnoli nach etlichen Jahren als Assistent, Lehrbeauftragter Stipendiat, Assistenz-Professor, ebenso als APO-Aktivist und Mini-Revolutionär, sich

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schließlich 1972 im Alter von 47 Jahren habilitierte und fortan als Professor für Politische Wissenschaft offensichtlich ohne Verletzung der Rechtsnormen des von ihm verabscheuten Staates tätig war, so geriet Peter Brückner mit dem Ge-setz in Konflikt. In einem Strafprozeß wurde er im Oktober 1975 für schuldig befunden, die steckbrieflich gesuchte Ulrike Meinhof im November 1970 in seiner Wohnung beherbergt zu haben. Als Brückner im September 1977 den verunglimpfenden Nachruf auf den ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback verteidigte, wurde er zum zweiten Mal suspendiert. Nach Aufhebung dieser Suspendierung vier Jahre später kehrte er wegen seines Herzleidens nicht auf seinen Lehrstuhl zurück und starb im April 1982 – nicht ganz 60jährig – in Nizza.19

Gewalt gegen Sachen und Personen „Sie lehnt daher Differenzierungen zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen als politische Haarspaltereien ab.“20 Dies schrieb im Herbst 1968 der Universitäts-Soziologe Sven G. Papcke von der Neuen Linken, zu der er sich selbst rechnete. Ebenso rechtfertigte er in dem – aus einer Bochumer Dissertation hervorgegangenen und zur Zeit des realen Untergrund-Terrors erschienenen – Werk mit dem kennzeichnenden Titel „Progressive Gewalt“ „die legitime, da aufgenötigte Stellung des politischen Terrors“.21 Eine ähnlich antihumane Haltung zeigte der damalige APO-Exponent, spätere RAF-Terrorist und heutige Verteidiger der NPD vor dem Bundesverfassungsge-richt, Horst Mahler. Nachdem am 15. April 1968 bei einer Demonstration zwei Menschen ums Leben gekommen waren, erklärte er: „Wir mußten von vornher-ein mit solchen Unfällen rechnen. Es hat keinen Sinn, mit menschlichen Argu-menten zu kommen... Ich habe niemanden für so dumm gehalten, daß man das ausdrücklich erklären muß. Das ist genauso, wie wenn ich mich an das Steuer eines Autos setze und damit rechnen muß, daß ein Reifen platzt.“22

Ein besonderer Gewaltkult wurde von der APO-Zeitschrift „konkret“ – deren Starkolumnistin Ulrike Meinhof später in den terroristischen Untergrund ging – gepflegt. Im Juni 1968 rechtfertigte „konkret“ die Ermordung deutscher Ärzte durch den Vietkong, verherrlichte Black Power in den Vereinigten Staaten und glorifizierte in dem Artikel „Siegt Dutschke in Paris?“ die gescheiterte (weitge-hend von dem deutsch-französischen Soziologen und heutigen „grünen“ Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit entfachte) Mairevolution 1968: „Es war die blutigste Nacht seit dem Bestehen der Fünften Republik...“23 In dem Artikel „Gewalt in den Metropolen“ wurde Gewalt sogar als ein Weg zur Überwindung der Selbstentfremdung des Menschen gepriesen: „Was die subjek-tive Seite des Problems angeht, müssen wir sehen, daß der aktive Widerstand gegen das System der Unterdrückung nicht nur eine Voraussetzung für die Be-freiung des neuen Menschen ist, sondern schon ein Stück seiner Verwirklichung. Ein junger Heckenschütze aus Detroit sagte einem Reporter, wie es ihm ging, als er sich von seinem Dach aus mit dem Gewehr gegen die anrückende Polizei verteidigte: ‚Es war unbeschreiblich schön, Baby, du kannst dir gar nicht vorstel-

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len, wie schön es war.’ Der das sagte, ist kein Zyniker. Er stellte durch seinen Kampf einen Teil seiner verwüsteten Identität wieder her. Als er schoß, bewies er, daß er den Charakter, den der amerikanische Kapitalismus für ihn bereithielt, nämlich zu leben wie ein Hund, nicht für den seinen hielt. Er machte sich in diesem Augenblick zu einem Menschen.“24 Der seinerzeitige „konkret“-Chef Klaus Rainer Röhl mußte später selbstkritisch eingestehen: „Es liest sich, im Juni 68, wie eine theoretische Vorbereitung der Baader-Mahler-Gruppe... Ich habe diese ersten offenen Gewaltdiskussionen ver-öffentlicht. Ich habe sie nicht ernst genug genommen. Wußte nicht, daß Worte direkt in 9-mm-Geschosse übergehen könnten, die Schönheit der Utopie in die über Leichen gehende Ungeduld.“25 Zudem bemerkte Röhl, daß keiner seiner linksliberalen Mitarbeiter sich von den Ge walt verherrlichenden „konkret“-Artikeln distanzierte, daß vielmehr die Propagandisten der Gewalt von der bür-gerlichen Schickeria hofiert wurden: „Niemand hat damals protestiert, keiner unserer bürgerlichen Mitarbeiter sprang nach der Lektüre über die ‚Ärzte von Hue’ ab, alle liberalen Zeitungen äußerten Ve rständnis, die großen liberalen Verlage boten Höchstpreise für Cohn-Bendit und andere Gewaltapostel. Gabriele Henkel schätzte sich glücklich, Cohn-Bendit auf ihrer Party zu sehen.“26

1968 eskalierte ebenso die Gewalt in der Praxis. In Frankfurt am Main wurde am 3. April ein Brandanschlag auf zwei Kaufhäuser verübt, an dem sich auch die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin beteiligten. Von der ursprünglichen Verurteilung des Anschlages durch den Frankfurter „Sozialis-tischen Deutschen Studentenbund“ distanzierten sich die führenden SDS-Funk-tionäre Reimut Reiche und Frank Wolff – und insbesondere Daniel Cohn-Bendit, der sich mit den Brandstiftern solidarisierte („Sie gehören zu uns“) und die Ur-teilsbegründung durch das Frankfurter Landgericht erheblich störte.27 Aber die „Justizkampagne“ blieb nicht auf Frankfurt beschränkt. „Konkret“ berichtete: „Das Tribunal – ob in München, Hamburg oder Tübingen – ist zur Szene gewor-den. Die bundesdeutsche Justiz, die ihr Handwerk bisher in idyllischer Stille betrieb, hat die APO am Hals... Wo immer einer der ihren auf der Anklagebank sitzt, ist sie mit Fahnen und Transparenten, mit Sprechchören und Stinkbomben dabei.“28 Noch größer waren die Ausschreitungen in Berlin. Während am 4. November 1968 ein Ehrengericht der Anwaltskammer im Landgerichtsgebäude über Horst Mahler verhandelte und zu seinen Gunsten entschied, empfingen rund 1.000 Demonstranten unter Leitung des Rechtsreferendars und SDS-Funktionärs Chris-tian Semler die vorrückende Polizei mit einem Steinhagel. 130 Beamte und 21 Demonstranten wurden verletzt.29 Im FU-Spiegel – dem offiziösen Organ der Studierenden an der Freien Universität – verteidigte ein Autoren-Kollektiv des Berliner SDS die „Aktion vor dem Landgericht“, da sie den Charakter „der prak-tischen Artikulation einer richtigen theoretischen Einsicht über den bürgerlichen Klassenstaat“ hatte. In dem Artikel wurde ebenso der „Psychoterror“ gegen Richter und Staatsanwälte als „Lernprozeß“ begrüßt.30

Zwar distanzierte sich Rudi Dutschke in einem Brief an Semler von dieser Stras-senschlacht. Der wohl bekannteste SDS- und APO-Repräsentant mißbilligte

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ebenso später die RAF. Doch auf einer Veranstaltung der Kölner Volkshoch-schule im November 1974 gab Dutschke zu erkennen, daß sein Gegensatz zur RAF nicht grundsätzlicher, sondern lediglich methodischer Natur war. Er berich-tete von seinem Besuch bei inhaftierten Banden-Mitgliedern und bezeichnete Baader und Meinhof als „politische Gefangene“ und als „Genossen“, die eine „falsche Strategie“ verfolgt hätte, welche sich aber unter anderen Umständen, etwa bei der Einschränkung des Demonstrationsrechts, als richtig erweisen kön-ne. Dutschke rief zur Teilnahme an der Sternfahrt anläßlich der Beerdigung des durch Hungerstreik ums Leben gekommenen RAF-Mitgliedes Holger Meins auf, wo er mit geballter und erhobener Faust ausrief: „Holger, der Kampf geht wei-ter!“31

Nah- und Fernwirkungen der 68er APO Es soll noch einmal betont werden: In den 60er Jahren gab es Bürgerinnen und Bürger, von denen wertvolle Reformanstöße ausgingen. Doch die Behauptung, daß auch der dominierende Kern der 68er APO dazu gehörte, ist pure Ge-schichts-Klitterung. Vielmehr führte ein direkter Weg von der APO zu den Ter-ror-Banden. Auch die immer noch häufigen linksextremistischen Gewaltdelikte – sie lagen im Jahre 2000 für das Land Nordrhein-Westfalen bei 70, gegenüber 25 rechtsextremistischen Gewaltdelikten32 – können als die Spätfolgen der APO-Zeit angesehen werden. Nicht zu übersehen ist die von der APO ausgegangene semantische Revolution, welche die westlichen Demokratien als „kapitalistische Systeme“ diskreditiert und Straftaten als „Regelverletzungen“ verharmlost. Schließlich ist die graduelle Entwicklung zu einer permissiven Gesellschaft mit einem schleichenden Werteverfall undenkbar ohne den nachwirkenden Einfluß der APO-Zeit. Gewiß: Die trotz aller Anfechtungen bewahrte Stabilität der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland ist auch jenen mitzuverdanken, die sich von frühe-ren Irrtümern abgewandt haben. Aber gerade deswegen darf es keine irreführen-den Geschichts-Mythen geben.

Anmerkungen

1) Titel: Wie lange hält Schröder noch zu Fischer und Trittin? Sendetag: 28.01.2001. 2) Munzinger-Archiv/Internat. Biograph. Archiv 16.02.1980 – Lieferung 7/80. 3) Ernesto Che Guevara: Brief an das Exekutivsekretariat von OSPAAL. Schaf-fen wir zwei, drei, viele Vietnam. Eingeleitet und übersetzt von Gaston Salvatore und Rudi Dutschke. Berlin 1967, S. 14. 4) A.a.O. S. 3 5) A.a.O. 6) A.a.O. S. 5. 7) A.a.O. S. 6.

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8) Bergmann/Dutschke/Lefèvre/Rabehl: Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition. Hamburg 1968. S. 84. 9) Konkret. Mai 1968. S. 20. 10) A.a.O. 11) Wolff/Moore/Marcuse: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/Main 1967. 12) A.a.O. S. 94. 13) A.a.O. S. 120. 14) A.a.O. S. 122 und 124. 15) A.a.O. S. 127. 16) Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie. Berlin 1967. S. 69 f. 17) Munzinger-Archiv/Int. Biograph. Archiv 7/85. 18) Agnoli, Johannes / Brückner, Peter: Die Transformation der Demokratie. Berlin 1967. S. 40. 19) Munzinger-Archiv/Int. Biograph. Archiv 25/82. 20) Che Guevara und die Revolution. Herausgegeben von Heinz Rudolf Sonn-tag. Frankfurt am Main 1968. S. 119. 21) Sven G. Papcke: Progressive Gewalt. Frankfurt am Main 1973. S. 123. 22) SPIEGEL vom 13. Mai 1968. 23) Konkret. Juni 1968. 24) A.a.O. 25) Klaus Rainer Röhl: Fünf Finger sind keine Faust. Köln 1974. S. 327 und 329. 26) A.a.O. 27) Konkret. Dezember 1968. 28) A.a.O. 29) Spiegel, 11. November 1968. 30) FU-Spiegel. Dezember 1968. 31) Siehe Giselher Schmidt: Demontage der Freiheit. Hamburg 1976. S. 117. 32) So NRW-Innenminister Dr. Fritz Behrens in einem Brief vom 14.02.2001. Dipl.-Politologe Giselher Schmidt arbeitet als freier Publizist in Bergisch Glad-bach.

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Klaus Kinkel

Welchen Rang hat der Grundwert Solidarität in der Europäischen Gemeinschaft?

Ein hoch aktuelles und gleichzeitig schwieriges Thema*, das man auf ganz un-terschiedlichen Wegen angehen kann. Zunächst zum Begriff „Solidarität“ selbst: Solidarität kann zum einen heißen, daß sich eine Gruppe zusammenschließt, um gemeinsam ihre Lage zu verbessern. Das geschieht aus dem Bewußtsein heraus, dass der Einzelne zu schwach ist, um die angestrebten Ziele allein zu verwirkli-chen. Solidarität kann aber auch das Gefühl der Verpflichtung beschreiben, an-dere zu unterstützen, ihre als wertvoll oder zumindest legitim erachteten Ziele zu verfolgen.

Beide Definitionen dieses Begriffs beschreiben Kernpunkte des europäischen Integrationsgedankens. Zusammenschluß zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele – Frieden, Freiheit, Wohlstand nach den verheerenden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs –, das war der Grundgedanke der Römischen Verträge. Aber auch der zweite Gedanke, die Solidarität der Starken gegenüber den Schwachen, der Gros-sen gegenüber den Kleinen, ist von Anfang an im europäischen Integrationspro-zeß angelegt. Solidarität gehört zu den konstituierenden Verfassungsprinzipien der Europäi-schen Union, gemeinsam mit dem Prinzip der Integration, der Bürgernähe oder Subsidiarität sowie mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip und dem Men-schenrechtsschutz. Das ist im EU-Vertrag in Art 1 und Art 6, den prägenden Verfassungsnormen für EU und EG, eindeutig so festgelegt und durch unzählige EuGH-Urteile bestätigt und ausgeformt worden. Aus dieser Tatsache folgt, daß bestimmte Aufgaben zur Sicherung des Gemeinwohls durch die EU geregelt werden müssen. Dazu muß sie die entsprechenden Kompetenzen erhalten. Soli-darität wird dabei in der Integrationspraxis durchaus breit verstanden. Das Solidaritätsprinzip wurde etwa als Grundlage dafür herangezogen, die Um-weltpolitik im EU-Vertrag zu verankern, aber auch Themen wie den Verbrau-cherschutz, die Gesundheitspolitik oder die Sozialpolitik im allgemeineren Sin-ne. Von den Mitgliedsländern wird erwartet, im Sinne der Solidarität untereinander loyal zusammenzuarbeiten und auf die Interessen der anderen Mitglieder Rück-sicht zu nehmen. Die Praxis sieht oft anders aus – aber dazu später. Eine beson-dere Ausprägung erfährt das Solidaritätsprinzip durch die Aufgabe der EU, den „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Mitglieder“ zu gewährleisten. Was steht dahinter? Die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Regionen der EU sind beträchtlich.

Zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen der reichsten Länder Schweden, Öster-reich oder Deutschland, und den ärmsten Mitgliedsländer Portugal und Grie-

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chenland besteht ein Verhältnis von etwa 2 zu 1. Bei der Gestaltung des europäi-schen Einigungsprozesses wird nun davon ausgegangen, daß so große Unter-schiede in den Lebensbedingungen dem Integrationsgedanken zuwiderlaufen.

Deshalb hat die EU Strukturfonds und Kohäsionsfonds eingerichtet. Und zwar in beträchtlichem Ausmaß: Im laufenden Haushaltsjahr umfassen diese Fonds fast 33 Mrd. Euro, das sind ca. 35% des gesamten EU-Haushalts. Nur die Landwirt-schaft hat mit ca. 45% einen noch höheren Anteil. Und auch der Agrarhaushalt hat in gewissem Sinne natürlich einen Solidar-Charakter. Zu den Profiteuren der Fonds gehören vor allem die südlichen Länder, aber etwa auch Irland.

Aber auch Deutschland erhält Zahlungen. Denn die Strukturfonds gehen nicht staatenweise vor, sondern verfolgen einen regionalen Ansatz. So erhalten auch die strukturschwachen Regionen in den Neuen Bundesländern wegen ihres Ent-wicklungsrückstandes Mittel aus Brüssel. Damit besteht auf europäischer Ebene etwas ähnliches, wie wir das auch in Deutschland kennen: eine Art „Länderfi-nanzausgleich“.

Die Finanzierung der Fonds ist derzeit im Grundsatz bis 2006 gewährleistet. Dann wird man neu nachdenken müssen, wie das Prinzip der Solidarität unter den Mitgliedern und das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in finan-ziell weiter tragbarem Rahmen finanziert werden kann. Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch betonen, daß das Prinzip der Solidari-tät der EU nicht absolut steht, sondern daß es ein schwieriges Spannungsverhält-nis mit einem anderen europäischen Prinzip gibt, das in letzter Zeit wieder in aller Munde ist. Ich spreche von der Subsidiarität. Ich muß auf diesen Begriff, dessen Ursprung aus der katholischen Soziallehre Ihnen ja bekannt ist, hier nicht im einzelnen eingehen. Nur so viel: Im europäischen Kontext besagt das Subsi-diaritätsprinzip, daß Entscheidungen, wo immer möglich, auf der niedrigeren bzw. dezentraleren Entscheidungsebene gefällt werden. Es schränkt damit den prinzipiellen Handlungsvorrang der oberen bzw. zentraleren Entscheidungsebene ein, fordert bürgernahe, differenzierte, möglichst dezentrale Lösungen. Und soll die regionale Vielfalt in Europa bewahren helfen. Während also das Solidaritäts-prinzip tendenziell auf Einheitlichkeit und auf zentrale Entscheidungen hinzielt, will das Subsidiaritätsprinzip genau das Gegenteil. Übrigens haben wir genau dasselbe Spannungsverhältnis in der Bundesrepublik Deutschland, es ist ein allen föderalen Strukturen inhärentes Problem. Beide Prinzipien stehen grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander, müssen gewissermaßen gemeinsam gedacht werden, das eine ist immer das Korrektiv des anderen. Aus liberaler Sicht liegt mir das Subsidiaritätsprinzip sicher näher. Jedenfalls scheint es mir, daß in der bisherigen Entwicklung der europäischen Integration die Tendenz zur Zentrali-sierung, zu Intransparenz und zur Bürgerferne immer mehr zugenommen hat. Es ist nun an der Zeit, diese Tendenz umzukehren und dem Gedanken der Subsidia-rität, der Bürgernähe, der Transparenz und der Vielfalt wieder zu stärkerer Ge l-tung zu verschaffen. Auch im Hinblick auf die Ost-Erweiterung der Europäi-schen Union.

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Bei dieser Osterweiterung wird auch der Ge danke der Solidarität eine ganz neue Bedeutung gewinnen und die Relevanz der Kohäsionspolitik der EU nochmals erhöhen. Alle Beitrittsländer werden für eine lange Zeit zu den Empfängerlän-dern gehören. Das spricht aber – ich betone das hier ausdrücklich – nicht gegen die Osterweiterung! Im Gegenteil: Finanzleistungen an die strukturschwachen Länder und Regionen in Mittel- und Osteuropa sind nicht Solidarität im besten Sinne des Wortes, sondern auch Zukunftsinvestitionen in unserem ureigenen Interesse. Denn von der Osterweiterung profitieren wir alle – nicht nur wirt-schaftlich, sondern auch politisch, sicherheitspolitisch, kulturell. Wenn wir den Stabilitätsraum EU auf die Transformationsländer in Mittel- und Osteuropa aus-weiten, wird uns allen, in Ost und West, das enorme zusätzliche Entwicklungs-chancen bringen. Und im Zeitalter der Globalisierung die Position unseres Kon-tinents im Wettbewerb mit Asien und Nordamerika stärken. Solidarität ist damit nicht nur ein Zeichen von Stärke, sondern auch ein Instrument, um diese Stärke zu bewahren und sie weiter auszubauen. Darin liegt die Synthese der beiden Begriffsdefinitionen, die ich Ihnen am Anfang vorgestellt habe: Solidarität im europäischen Integrationsprozeß als Unterstützung von Schwächeren durch Stär-kere, aber gleichzeitig im ureigenen gemeinsamen Interesse aller Beteiligten.

Zwingende Voraussetzung für eine erfolgreiche Erweiterung der Union ist aber, daß die Union selbst zunächst aufnahmefähig wird. Auch da ist Solidarität ge-fragt. Die institutionellen Reformen müssen endlich durchgezogen werden. Stimmengewichtung im Rat, Mehrheitsentscheidungen, Zusammensetzung der Kommission – bislang wird viel geredet, aber Fortschritte sind immer noch nicht zu sehen. Meiner Meinung nach liegt das auch daran, daß wir die EU immer noch zu sehr als „Staaten-Gemeinschaft“ begreifen, und nicht als Gemeinschaft der europäischen Bürger. Der rein intergouvernementale Ansatz, der die Integra-tion in den Augen vieler immer noch bestimmt, stößt zunehmend an Grenzen. Alle Länder denken vornehmlich an ihre eigenen nationalen Interessen und Be-findlichkeiten. Das bremst die Integration – und widerspricht dem Solidaritäts-grundsatz. Nicht ohne Grund untersagt Art. 10 des EG-Vertrages den Mitglieds-ländern ausdrücklich alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der gemeinsamen Ziele gefährden könnten. Auch das ist eine sehr spezifische Ausprägung des Solidaritäts-Prinzip in der ersten von mir am Anfang erwähnten Fassung. Es ist jetzt von geradezu historischer Bedeutung, daß auf dem Gipfel im nächsten Monat in Nizza Lösungen präsentiert und verabschiedet werden. Der Vor-Gipfel in Biarritz im Oktober war hier leider wenig erfolgreich. Aber auch in der Ve r-gangenheit hat schon manches Mal der Zeitdruck eines letzten Gipfels den erfor-derlichen Push gebracht und Kompromisse und Fortschritte möglich gemacht, die noch bis zum Tag davor undenkbar erschienen. Deshalb ist es so gefährlich, wenn jetzt sogar in der Kommission selbst darüber spekuliert wird, die Regie-rungskonferenz über Nizza hinaus zu verlängern. Wenn der erforderliche Re-formeifer in den jetzigen Mitgliedsländern nicht endlich erwacht, droht sich der Reformeifer in den Beitrittsländern totzulaufen. Der Beitrittsprozeß würde auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben – und die historische Chance möglicher-weise verpaßt.

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Der Grundwert der Solidarität hat auch bei der Diskussion über die Verabschie-dung einer Europäischen Grundrechtscharta eine wichtige Rolle gespielt. Die Charta ist auf gutem Weg - die Kommission unter unserem Alt-Bundespräsi-denten Herzog hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Auf dem Gipfel in Nizza ist die Charta feierlich proklamiert worden. Sie könnte und sollte zur Vorstufe einer europäischen Verfassung werden und ist daher ein wichtiges Identifikationsmit-tel für alle europäischen Bürger. Welche Rolle spielt die Solidarität bei der Dis-kussion um die Charta? Solidarität findet sich als Begriff an zwei Stellen der Charta: In der Präambel, in der klargestellt wird, daß sich die Union „auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ stützt. Das ist gut und unproblematisch. Aber auch als Überschrift über dem Kapitel IV der Charta, das sich mit den sogenann-ten sozialen Grundrechten beschäftigt. Hier sehe ich schon eher Probleme. Von Anfang der Arbeiten zur Grundrechte-Charta an habe ich darauf hingewiesen, daß in einen Katalog von Grundrechten keine reinen Staatszielbestimmungen aufgenommen werden dürfen. Bei den sozialen Grundrechten ist die Grenze hierbei fließend. Grundrechte haben nur dann einen Sinn, wenn sie auch wirklich einklagbar sind.

Deswegen verstehen wir unter Grundrechten eher Abwehrrechte, z.B. gegen Übergriffe des Staates, als Anspruchsrechte. Ein allgemeiner Verweis auf ange-strebte Ziele hilft dem einzelnen Bürger nicht weiter. Die Grundrechte-Charta hat in den Einzelbestimmungen allerdings im großen und ganzen akzeptable Formulierungen gefunden. So spricht Artikel 15 nicht vom Recht auf Arbeit, sondern von dem Recht zu arbeiten, und Artikel 29 vom Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst. Auch mit dem Recht auf Zu-gang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und auch Zugang zur Gesund-heitsvorsorge etc. kann man sicher leben. „Solidarität“ wird so zu Recht nicht zur Grundlage von letztlich doch nicht einklagbaren Anspruchsrechten hochstili-siert. Lassen Sie mich zum Schluß noch auf eine besondere Spielart der Solidarität in ihrer zweiten Ausprägung eingehen: Ich denke an die Solidarität der großen Mitgliedsländer mit den kleinen. Da liegt im Moment vieles im Argen. Die Dis-kussion um die institutionellen Reformen droht immer mehr zu einem Streit Groß gegen Klein zu werden. Und die EU hat sich im letzten Jahr einen schlim-men Tort geleistet, der den Grundsatz der Solidarität ad absurdum führt. Ich denke hierbei an die Österreich-Sanktionen. Über ein halbes Jahr lang wurde der kleine EU-Partner Österreich von den anderen 14 EU-Ländern mit Sanktionen belegt, nur weil die Österreicher in einer demokratischen Wahl eine Regierung gewählt hatten, die den anderen nicht paßte. Auch ich war und bin über die Re-gierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ alles andere als glücklich – ich will das hier nochmals klar sagen. Aber die EU als Wertegemeinschaft darf nicht zu Eingriffen in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedslandes mißbraucht werden, wenn dieses Land selbst nicht eindeutig und nachweisbar gegen die Grundsätze dieser Wertegemeinschaft verstoßen hat. Davon kann in Österreich nicht die Rede sein.

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Im Gegenteil: Am Europa-Engagement der Österreicher und an ihrer Verpflich-tung auf die europäischen Grundwerte kann es keinen Zweifel geben. Aber mit den Sanktionen haben die anderen EU-Staaten gegen diese Grundwerte verstos-sen: gegen das Prinzip der Respektierung demokratischer Entscheidungen, gegen die Beachtung der Europäischen Verträge und gegen das Prinzip der Solidarität. Deshalb wurde inzwischen ja auch zurückgerudert – wenn auch halbherzig, eine Entschuldigung beim Österreichischen Volk steht immer noch aus, das werfe ich auch Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer immer wieder vor. Solidarität in der Europäischen Union kann doch nicht heißen, Schulpartner-schaften abzubrechen, zum Touristenboykott aufzurufen und im politischen und diplomatischen Umgang miteinander die einfachsten Grundsätze der Höflichkeit außer Kraft zu setzen. Vor allem dann nicht, wenn jeder weiß, daß man sich ein solches Kasperletheater mit einem großen EU-Partner niemals erlaubt hätte! Die Österreich-Sanktionen haben die europäische Integration und vor allem das Soli-daritätsprinzip vor eine schwere Belastungsprobe gestellt. Die Dänen haben sich ohne jeden Zweifel nicht nur wegen der gegenwärtigen EURO-Schwäche gegen einen Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion entschieden, sondern auch wegen der Defizite beim Umgang mit kleinen Mitgliedsländern. Auch bei den Bürgern in den ja meist ebenfalls kleinen EU-Beitrittskandidaten ist viel Ve r-trauen verspielt und viel Porzellan zerschlagen worden. Solidarität wird in der größer werdenden Europäischen Union in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. Politische Solidarität, die die Voraussetzung dafür ist, daß die Vertiefung der Union auch mit immer mehr Mitgliedern wei-tergehen kann und daß große und kleine Mitgliedsländer aufeinander Rücksicht nehmen. Und die Solidarität der Bürger Europas miteinander. Wir leben in einem reichen EU-Land – wir werden in besonderem Maße Solidarität zeigen müssen. Aber wir haben nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch von der Solidarität der anderen in besonderem Maße profitiert – mit der Wiedervereinigung unseres Landes und der sofortigen Aufnahme der Neuen Bundesländer in die EU. Au-ßerdem werden wir auch von der Osterweiterung der Union in besonderem Maße profitieren. Das müssen wir den Menschen in unserem Land sagen, wenn sie Angst haben, mit ihrer Solidarität überfordert zu werden. Solidarität ist niemals nur Einbahnstraße! Anmerkung *Der Beitrag geht auf eine Rede zurück, die der Verf. anläßlich des 55. Buß- und Bettags-gespräches des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ am 22. November 2000 in Bonn-Bad Godesberg gehalten hat. Dr. Klaus Kinkel MdB war Bundesaußenminister der Bundesrepublik Deutsch-land in der Regierung Kohl.

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Andreas M. Rauch

Ost-Timor: Engagement für eine neue Ordnung

Über neunzig Prozent der Deutschen denken beim Stichwort „Indonesien“ an das Urlaubsparadies Bali, ergab eine Umfrage des Emnid-Instituts im Auftrag des Auswärtigen Amtes. Gerade die Deutschen sind von der hinduistischen Kultur Balis, seiner Malerei und landschaftlichen Schönheit begeistert. In den zwanzi-ger und dreißiger Jahren war Bali Ziel zahlreicher deutscher „Aussteiger“, wie etwa des Künstlers Walter Spiess. Der Filmproduzent Baron Victor von Plessen drehte in Bali seinen Film „Insel der Dämonen“. Außer dem spanischen Ibiza und dem indischen Goa war in den sechziger und siebziger Jahren auch Bali das Ziel zahlreicher deutscher „Hippies“. Seit den neunziger Jahren wecken Mystik und Spiritualität des Buddhismus und Hinduismus unter vielen Deutschen großes Interesse: Asiatisches Kunsthandwerk, etwa Buddha-Statuen, sind derzeit „Kult“; buddhistische Kulturzentren in Deutschland erleben einen regen Zulauf. Die positive, fast romantisch-harmonische Wahrnehmung Indonesiens durch die Mehrheit der Deutschen entspricht den offiziell deutsch-indonesischen Bezie-hungen, die als problemlos und gut charakterisiert werden. Indonesien zählt auf Deutschland beim gewünschten Brückenschlag zur Europäischen Union und auf eine herausgehobene deutsche Verantwortung bei der Entwicklung der europä-isch-asiatischen Beziehungen. Es gibt einen lebhaften hochrangigen Besucher-austausch, der im Februar 2000 durch eine Staatsvisite von Indonesiens Präsident Wahid in Deutschland gekrönt wurde.

Auch im wirtschaftlichen Bereich besteht eine enge Zusammenarbeit. Die „Tech-nogerma Jakarta 1999“ bekräftigte das Interesse der deutschen Wirtschaft am indonesischen Markt. Im Frühjahr 1999 konnte das Deutsche Industrie- und Handelszentrum in Bumi Serpong Damai eingeweiht werden. Die Bundesregie-rung unterstützt Indonesien mit zahlreichen Beratungsmaßnahmen, vor allem im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung (Prof. Schlesinger) und eines Anti-Mono-polgesetzes (Prof. Kartte). Der traditionell festzustellende Handelsbilanzüber-schuß zugunsten Deutschlands wurde 1998 erstmals seit Jahren in ein Handelsbi-lanzdefizit auf deutscher Seite verwandelt. Es gibt eine enge entwicklungspoliti-sche sowie wissenschaftlich-technologische Kooperation. Indonesien ist einer der größten Zuwendungsempfänger deutscher Entwicklungshilfe. Durchfüh-rungsorganisation der deutschen Finanzhilfen ist die Kreditanstalt für Wieder-aufbau in Frankfurt am Main. Problematisch hingegen ist die Innenpolitik Indonesiens. Als Präsidialrepublik nimmt in Indonesien der Präsident eine ähnliche Rolle ein wie der Reichspräsi-dent der Weimarer Republik – mit fatalen Folgen. So konnte sich Suharto als Präsident mit diktatorischem Gehabe nach 1968 fest in Indonesien etablieren. Dies führte vor allem unter Studenten zu massiven Unruhen, die 1997 den Sturz von Suharto und der Einleitung eines Reformkurses unter dem deutschsprechen-

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den Präsident Habibie ermöglichten. Bei der Präsidentenwahl am 20. Oktober 1999 setzte sich Abdurrahman Wahid als Vertreter eines Bündnisses islamischer Parteien als neuer Präsident durch. Seither befindet sich Indonesien in einem Prozeß des demokratischen Auf- und Umbaues. Institutionen sind dabei, sich neu zu definieren, die Parteienlandschaft verändert sich, rechtsstaatliche Strukturen werden gestärkt und das Verhältnis von Zentralstaat und Provinzen sowie die Rolle der Streitkräfte werden überdacht. Am Ende der Diktatur Suhartos zeigte es sich, daß der Vielvölkerstaat Indone-sien – ähnlich wie Jugoslawien – als Ganzheit nicht aufrechtzuerhalten ist. Be-sonders die völkerrechtswidrige Annexion der ehemaligen portugiesischen Ko-lonie Ost-Timor durch Indonesien konnte und durfte nicht weiter Bestand haben. Im Sommer 1999 kam es in Ost-Timor zu schweren Menschenrechtsverletzun-gen und systematischen Christenverfolgungen, die bis heute andauern, wie auf der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im März 2001 festgestellt wurde.

Naturreligionen, hindu-buddhistische Einflüsse und Christentum

Außer Nepal ist kein anderes Land Asiens so von der Religion durchdrungen wie Indonesien. So waren die Indonesier – der Begriff wird erst seit etwa 1860 auf die malaysische Inselgruppe zunächst noch einschließlich der Philippinen ver-wendet – vor dem Einfluß der großen Weltreligionen auf ihren Inseln Naturreli-gionen verbunden. Aus dieser Zeit haben sich zwei Geisteshaltungen bewahrt: die Menschen der malaysischen Inselgruppe sehen nicht nur im Menschen, son-dern auch in Tieren und in allem, was die Natur bietet, eine „Seele“. Seele wird hier nicht wie in der abendländischen Tradition mit „lebendig“ und mit „selbst-kritischem Bewußtsein“ – im Unterschied zu den Instinkten der Tiere – gleichge-setzt. „Seele“ betont vielmehr sowohl die Einzigartigkeit des Menschen wie auch der Natur und somit jedes natürlichen Dinges in der Natur. Diese Geisteshaltung aus der Zeit der Naturreligionen erklärt, wieso der Hinduismus, der den Missi-onsgedanken wie im Christentum nicht kennt, so nachhaltig in Indonesien – hier vor allem auf Bali – Fuß fassen konnte. Vor diesem Hintergrund läßt sich auch die Leidenschaft der Bevölkerung der malaysischen Inseln für das Aufstellen von Steinmonumenten erklären, eben weil sie als etwas besonderes, „beseeltes“ wahrgenommen werden. So finden sich hier Steinmonumente oder Megalithen bereits aus prähistorischer bzw. neolitischer Zeit; unzählige sind über die Jahr-hunderte hinzugekommen.

Eine zweite Erkenntnis aus der Zeit der Naturreligionen hat bis heute Gültigkeit: der Glaube an das Gute im Menschen. Eben weil der Mensch gut ist, besteht auch ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit und Nächstenliebe. Diese grund-sätzliche Hilfsbereitschaft ist eng mit der Familie verknüpft, durch die der Ein-zelne in der Gemeinschaft erst soziale Anerkennung erfährt. Eben weil diese Lebenshaltungen und Wertvorstellungen aus bereits vorchristlicher Zeit im heu-tigen Indonesien bestehen, konnten christliche Missionare hier erfolgreich und nachhaltig wirken – vor allem in Timor und auf den Molukken.

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In den Staaten der westlichen Welt erleben wir es nahezu täglich: Je mehr der Mensch in Informationssystemen vernetzt wird und die Rationalität der Technik Einzug hält, je mehr Säkularisierung und Wertewandel Raum greifen, desto stär-ker wird das Bedürfnis nach Sinnorientierung, nach Märchen und Mythen – und sei es in Gestalt fernöstlicher Heilslehren, wie etwa dem tibetischen Buddhis-mus. Der Zugang zu dieser Religion wird erleichtert durch die Figur des Dalai Lama, der sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzt. In Indonesien er-lebt der Besucher vielfach jenen Synkretismus zwischen Naturreligionen, Hindu-ismus, Buddhismus, Islamismus und Christentum, vor allem aber die Omniprä-senz und den Pluralismus des Religiösen als etwas Faszinierendes, Anziehendes und Erfüllendes. Aufgrund der aus der Zeit der Naturreligionen tradierten Haltungen der Näch-stenliebe, der Hilfsbereitschaft und des Gemeinschaftsgefühls haben Bewohner der malaysischen Inseln stets Widerstand gegen alle geleistet, die als Fremde die Inseln beherrschen und sich nicht in die Inselgemeinschaft einfügen wollten. Inder und Chinesen versuchten seit dem Frühmittelalter vergeblich, von ihnen beherrschte Handelssiedlungen auf den Inseln einzurichten. Auch den Portugie-sen und Holländern gelang niemals eine vollständige Okkupation der Inseln und stets hatten sie mit dem Widerstand der einheimischen Bevölkerung zu kämpfen. Die Grundprinzipien der Gleichrangigkeit und der Nächstenliebe, für die wir in der christlichen Gesellschaftslehre Begriffe wie „Gemeinwohl“ und Solidarität“ verwenden, hatten kulturgeschichtliche Konsequenzen. So gibt es im Hinduis-mus indonesischer Prägung bis heute nicht wie in Indien die Kaste der „Unbe-rührbaren“ oder „Verachteten“. Vielmehr gehören etwa auf Bali über 93 Prozent der Bevölkerung heute der niedrigsten Hindu-Kaste, der Sudra, an. Die Brahma-nen, also die Hindu-Priester, stellen hingegen eine ganz kleine Gruppierung dar. Die friedliche Hinduisierung Indonesiens ist seit dem 1. Jahrhundert belegt. Ein-zelne Brahmanen mögen ohne eine nachhaltige Wirkung seit dem 8. vorchristli-chen Jahrhundert vereinzelt aus Indien hierher gekommen sein. Im Grundsatz ist der Hinduismus immer auf die Inder und Indien sowie das unmittelbare geographische Umfeld wie etwa Nepal beschränkt geblieben. Während der Buddhismus in Ländern wie Thailand, Laos und Kambodscha sich wirkmächtig durchsetzen konnte, war dies in Indonesien nicht so. Es gab hier Zeiten wie im 7. Jahrhundert, als in Indonesien ein blühendes buddhistisches Klosterwesen existierte und diese Religion mehrheitlich im Volk verankert war. Neben den naturreligiösen Steinmonumenten gehören indonesische Buddha-Statuen aus dem 3. und 4. Jahrhundert zum kulturellen Erbe dieser Inseln. Be-sonders bedeutend ist die monumentale Buddha-Anlage von Borobudur mit 505 Buddhagestalten, 1300 Bildreliefs und 1212 dekorativen Paneelen aus dem 8. Jahrhundert. Nach Jahrhunderten der Blüte verlor der Buddhismus seine zentrale gesellschaftliche Bedeutung im 11. Jahrhundert in Indonesien, ohne jedoch voll-kommen zu verschwinden. Vor allem Buddhas Lehre „Alles Böse meiden, das Gute tun und das eigene Herz reinigen“ knüpft an Traditionen der Naturreligio-nen Indonesiens an. Für Buddha kann jeder Mensch die Erlösung erlangen, wenngleich der historische Buddha sich selbst nur als Wegweiser zum Heil be-

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trachtete und keinerlei kultische Verehrung beanspruchte. Dieser Umstand er-leichterte einen Synkretismus des Buddhismus mit den vielen Göttern der schon vorhandenen Hindukulturen. Kulturgeschichtlich kann bezüglich Indonesien ge-radezu von religiösen Wellen und Hochphasen gesprochen werden. Nach dem Hinduismus und Buddhismus war das Christentum vorübergehend in Indonesien beherrschend. Alle drei Weltreligionen sind bis heute in Indonesien gegenwärtig.

Freiheitskampf in Ost-Timor

Der Freiheitskampf in Ost-Timor hat gerade in der gegenwärtigen Phase des politischen Zerfalls in Indonesien auch Signalwirkung für andere Landesteile. In Aceh halten die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der islamisch-funda-mentalistischen Separatistenbewegung GAM an. Die Regierung Wahid hat ihre Bemühungen verstärkt, den Separatisten durch verbesserte Teilhabe der Provinz an den Erdölerlösen entgegen zu kommen. Die im Januar 1999 ausgebrochenen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen in Ambon haben andere Inseln der Molukken erfaßt. Durch verstärkte Präsenz von indonesischen Trup-pen soll das Übergreifen der Auseinandersetzungen in Ambon, anderen Inseln der Molukken und dem indonesischen Teils Borneos verhindert werden.

Unabhängig von der politischen Ebene haben die Auseinandersetzungen in Indo-nesien auch eine religiöse Dimension. Indonesien ist zwar kein islamischer Staat, und verfassungsrechtlich gesehen wird die Religionsfreiheit garantiert. Doch als geistige Grundlage staatlichen und öffentlichen Handelns gilt die Staatsideologie Pancasila mit ihren fünf Säulen: Glaube an einen einzigen Gott, Achtung vor dem Menschen in Gerechtigkeit und Kultiviertheit, nationale Einheit, Demokra-tie durch Konsens und soziale Gerechtigkeit. Diese fünf Säulen enthalten nicht nur demokratische Elemente, sondern bilden Ansatz für eine einseitige Ausle-gung durch die Religionsgemeinschaften – vor allem durch die Muslims, für die staatliches und religiöses Tun eins ist. Hierin ist eine wesentliche Ursache für die Konflikte zwischen Christen und Muslims in Indonesien zu suchen. Mitte der neunziger Jahre beschwor Samuel Huntington in einem vielbeachteten Aufsatz einen „Zusammenprall der Zivilisationen“, wobei er von unversöhnlich sich gegenüberstehenden Kulturkreisen ausging. Im Rahmen der darauf geführ-ten Diskussion um „asiatische Werte“ mußte auch Indonesien als Beispiel her-halten. Doch letztlich wurde diese Debatte durch die Erkenntnis beendet, daß es bestimmte global gültige Grundwerte gibt. Die Ausformung dieser Grundwerte im täglichen Leben und auf der Zeitschiene mag unterschiedlich ausfallen, doch verlieren sie dadurch nicht ihre globale Bedeutung. Diese Grundwerte relativie-ren religiöse und kulturelle Vorstellungen. Grund- und Menschenrechte haben sich als zentrale Elemente im Wertzusammenhang des 21. Jahrhundert erwiesen.

Diese Wahrnehmung entspricht auch offizieller UN-Politik. In der „Agenda for Peace“ oder in der „Agenda for development“ bringt der Generalsekretär der Vereinten Nationen zum Ausdruck, daß der kulturelle Dialog in bezug auf Grundwerte heute nicht mehr auf bestimmte Regionen oder auf einen religiösen Hintergrund konzentriert ist, sondern sich weltweit auf einem bestimmten Ent-

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wicklungsstand befindet. In der internationalen Politik und in der Entwicklungs-zusammenarbeit spielen daher das Prinzip des „Good Governance“, also die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten, die Herrschaft des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit sowie einer demokratischen Regierungsverfassung eine zen-trale und entscheidende Rolle.

Die Entlassung Ost-Timors in die Unabhängigkeit

Der Freiheitskampf in Ost-Timor verlief blutig, ungerecht und für die Bevölke-rung sehr leidvoll. Der Freiheitswillen der Timoresen und ihr Streben nach Selbstbestimmung war seit der Okkupation durch Indonesien 1975 international bekannt und stets ungebrochen, wenngleich das indonesische Militär dies bis zuletzt brutal zu unterdrücken versuchte. Nur wenige Wochen nach Ende des Kosovo-Krieges kam es für die Weltöffentlichkeit zur dramatischen Zuspitzung des lange schwelenden Konflikts. Teilweise vor laufenden Fernsehkameras wur-de die Bevölkerung Ost-Timors brutal gejagt und ermordet. Besonders das indo-nesische Militär griff mit unbarmherziger Brutalität durch. Für Indonesiens Sol-daten wurden die separatistischen Bewegungen in Ost-Timor als Angriff auf Nation und Staat verstanden und gerade deswegen so brutal bekämpft, weil schon längst andere Konfliktherde in Indonesien deutlich erkennbar waren. Das Vorgehen der Militärs in Ost-Timor verlief gnadenlos; vor den Massakern wur-den alle Journalisten ausgewiesen und auch eine Menschenrechtsdelegation der Europäischen Union durfte nicht einreisen. Später zeigte es sich, daß die Militärs das Prinzip der „verbrannten Erde“ praktizierten und Straßenweise Wohn- und Geschäftshäuser abfackelten.

Weltweit bekannt wurde Ost-Timor durch die Verleihung des Friedensnobelprei-ses an Bischof Belo, der die katholische Diözese in Ost-Timor leitet. Damit war international ein politisches Zeichen gesetzt, daß die Universalität der Menschen-rechte auch für Ost-Timor gilt und Mord, Folter, Verschleppung oder Völker-mord dort keine Zukunft haben. Bischof Belo ist ein politisch gemäßigter Mann und zeitweise hatte er Schwierigkeiten, die radikalen Widerstandskräfte in Ost-Timor zu bändigen – waren sie doch ohne jede Chance gegenüber dem gutbe-waffneten Soldaten Indonesiens. So waren es auch die multilateralen Bemühun-gen, die schließlich den politischen Durchbruch brachten. Nach langem Tauzie-hen zwischen Indonesien und Portugal kam am 5. Mai 1999 ein Rahmenabkom-men nebst Zusatzabkommen über Sicherheit und Modalitäten einer Volksbefra-gung unter UN-Mandat zustande. Das am 30. August 1999 durchgeführte Refe-rendum brachte bei einer Wahlbeteiligung von 98,6 Prozent ein überwältigendes Votum gegen das Autonomiegebot Indonesiens und damit im Ergebnis für die Unabhängigkeit Osttimors (78,5%). Nach dem Referendum fanden massive be-waffnete Übergriffe pro-indonesischer Milizen gegen Unabhängigkeitsbefürwor-ter statt, bei denen über 7000 Menschen getötet und über 400.000 vertrieben wurden. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete daraufhin ein Mandat für eine multilaterale Friedenstruppe (INTERFET), die unter der Führung der Australier steht. Daneben gibt es eine Übergangsverwaltung (UNTAET), die sich neben einer militärischen und politischen Komponente auch mit dem Aufbau einer

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Zivilverwaltung befaßt. Deutschland beteiligt sich mit Experten zum Personen-meldewesen an UNTAET. Anfang Februar 2001 traf Bundesaußenminister Joschka Fischer den Außenmi-nister der UN-Übergangsverwaltung für Osttimor und Friedensnobelpreisträger, José Ramos-Horta in Berlin. Die für August 2001 geplanten ersten freien Wah-len in Ost-Timor, so die indonesische Absichtserklärung, wird einen Beitrag für eine gerechtere Weltordnung leisten, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum tragen kommt. Einstweilen finden nach wie vor Anschläge auf Christen und christliche Kirchen in Ost-Timor statt, die zuletzt im Dezember 2000 eskalierten. Unabhängig von der politischen Ebene ist auch die religiöse Dimension beim Engagement einer neuen Ordnung in Ost-Timor und in Indonesien zu sehen. Einerseits bricht das künstliche politische Gebilde Indonesien auseinander, so wie schon zuvor die holländische Ostindiengesellschaft am Selbstbewußtsein, Autonomie- und Gemeinschaftswillen der indonesischen Völker gescheitert war. Zugleich verkörpert – trotz der Ausfälle etwa von fundamentalistischen Muslims – Indonesien etwas von jenem „Weltethos“, wie es Hans Küng versteht, als ei-nem Land, in dem weltweit gültige Grundwerte gelebt werden. Gerade in Indo-nesien wird in nichtchristlichen Religionen das Grundprinzip der Nächstenliebe verwirklicht. So ist in der indonesischen Bevölkerung ein erkennbar hohes Maß an religiöser Toleranz feststellbar, das allenfalls durch die Herrschaftsansprüche der politischen Führung infrage gestellt wird. In Prinzipien wie Armut, Gehor-sam und dem Zölibatsversprechen des buddhistischen Mönchstums bestehen Parallelen zu christlichem Gedankengut. Dies alles läßt die Entwicklungen in Indonesien und Ost-Timor mit besonderem Interesse verfolgen, zeichnen sich doch hier Momente einer Weltkultur und Weltgesellschaft ab. Wer nach Indonesien reist, findet eine Inselwelt aus Vulkangestein mit teilweise hohen Bergen vor. Einzelne Berge haben Pilgerpfade, die entlang an bunten Fahnen und kleinen Buddha-Statuen zu Buddha-Klöstern oder -Heiligtümern führen. Wer die Mühen auf sich nimmt, diese Pilgerpfade zu nutzen, fühlt sich an christliche Wallfahrten erinnert. Beim Gehen und Wandern fallen Kränkun-gen, Demütigungen und anderer seelischer Schmerz ab, Gelassenheit und innere, erlösende Ruhe machen sich breit – und die alte Weisheit durchdringt die Seele, daß hier auf Erden, beim Engagement für eine neue Ordnung, der Weg das Ziel ist. Dr. Andreas Rauch, Lehrbeauftragter an der Universität Potchefstroom, ist Mitarbeiter einer Bundestagsabgeordneten und bereiste mehrfach Asien.

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Karl-Heinz Peschke

Globaler Wettbewerb und nationale Sozialpolitik

Der hier zu besprechende Sammelband dokumentiert die überarbeiteten Beiträge einer Tagung (sechs Hauptreferate und zwölf kürzere Korreferate) zu diesem Thema, die im Dezember 1998 in der Akademie „Franz Hitze Haus“ in Münster stattfand. Die Schrift ist keine leichte Lektüre, doch insgesamt der Mühe des Studiums wert. Sie erschließt Einsichten in Zusammenhänge von Wirtschaft und Sozialstaat, die neue Perspektiven in deren gegenseitige Verwiesenheit ergeben und geeignet sind, das Problem der Globalisierung differenzierter zu sehen und zu werten.

Internationaler Wettbewerb – nationale Sozialpolitik? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Globalisierung, hrsg. von Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski. Volkswirtschaftliche Schriften Band 500 (Duncker & Humblot, Berlin 2000, 306 S., ISBN 3-428-09809-9) Die Globalisierung hat konkrete Auswirkungen gerade für den Bereich der Wirt-schaft. Die Verlagerung von niedrig qualifizierter Arbeit aus Deutschland in Länder des Auslands mit niedrigeren Löhnen und Steuern ist inzwischen eine wohlbekannte Realität. Und im Wettbewerb der Finanzen bewegen sich Gelder vorzugsweise dorthin, wo die Kapital- und Gewinnsteuern niedriger sind. Bei einer derartigen Verlagerung droht aber nicht nur ein Verlust von Arbeitsplätzen in Industrienationen wie Deutschland, sondern es ist auch mit einer Minderung von Steuereinnahmen sowie steigenden Raten an Arbeitslosenunterstützung zu rechnen. Das kann den ohnehin strapazierten Sozialstaat mit wachsenden Eng-pässen bedrohen. Dieser sozialpolitischen und wirtschaftsethischen Problematik wendet sich das vorliegende Buch zu.

Das erste Referat, gehalten von J. Volkert, setzt sich mit der Vertragstheorie von James M. Buchanan auseinander,1 auf die auch in den anderen Referaten wie-derholt Bezug genommen wird. Für die Verhandlung über einen Verfassungsver-trag konstruiert Buchanan einen „Schleier der Unsicherheit“, unter dem sich der einzelne befindet. Ebenso wie unter dem „Schleier des Nichtwissens“ in der Vertragstheorie von Rawls sind sich auch hier die Individuen über ihre künftigen gesellschaftlichen Positionen im unklaren. Anders jedoch als bei Rawls kennen sie ihre derzeitigen natürlichen Fähigkeiten und gesellschaftlichen Positionen. Damit verlangt die Theorie Buchanans einen geringeren Grad an Abstraktion und bleibt der konkreten Realität näher. Die Individuen wissen also, daß sie nicht alle gleich positioniert sind. Aber sie wissen nicht, was ihnen in der Zukunft an Krankheiten, Arbeitslosigkeit und anderen Schicksalsfügungen zustoßen kann. Sie werden also bemüht sein, den Gesellschaftsvertrag so zu gestalten, daß sie gegen derartige Unwägbarkeiten abgesichert sind; d.h. sie werden aus Selbstinte-resse für eine entsprechende Sozialpolitik sorgen. Das gleiche Selbstinteresse wird sie veranlassen, weniger produktiven Personen soziale Hilfe zu geben, um

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eventueller Armutskriminalität vorzubeugen. Überhaupt lassen Notlagen anderer Menschen die Wohlhabenden nicht unberührt. „Vielmehr widersprechen die Erscheinungsformen solcher Notlagen, etwa Kinder in zerlumpten Kleidern oder heruntergekommene Häuser, dem ästhetischen Empfinden Wohlhabender“ (20). Sie haben darum ein Interesse, derartige Verhältnisse zu beseitigen. Dieses letzte Beispiel läßt den grundsätzlich pessimistischen Ansatz der Sozialpolitik bei Buchanan deutlich werden. Zwar räumt er ein, daß es immer auch Menschen gibt, die von altruistischen Motiven bewegt sind. Wo sie Mehrheiten erreichen, kann das gesetzliche Maßnahmen beeinflussen. Aber Altruismus kann schnell erodieren. Darum ist es zweckmäßig, im Verfassungsvertrag Gesetze und Institu-tionen so zu vereinbaren, daß sie von altruistischen Motivierungen unabhängig sind.

Das Korreferat von P. Schallenberg gesteht Buchanan bedenkenswerte Einsich-ten zu, hält aber dafür, daß der Ansatz aus der Sicht der katholischen Soziallehre ergänzungsbedürftig ist. Der Mitmensch ist für letztere nicht zunächst Konkur-rent, sondern Bereicherung. „Die schöpferischen Absichten und Ziele der Men-schen reflektieren – auch nach der Erbsünde! – die schöpferischen Absichten Gottes“ (58). Menschen arbeiten zusammen, um die Welt zu verbessern und zu entfalten. Eigennutz ist darum auch in der Wirtschaft nicht das einzige Ziel. Sozialpolitische Maßnahmen sind grundsätzlich auch von den genannten anderen Aufgaben her gefordert. Volkert räumt denn auch ein, daß die Unterstützung der von Geburt an Schwerstbehinderten auf der Basis eines reinen Nutzenkalküls nicht genügend fundiert werden kann. Ein späteres Referat verweist weiter dar-auf, daß es im 19. Jahrhundert nicht vornehmlich ökonomische, sondern morali-sche Gründe waren, die in den USA zur Abschaffung der Sklaverei geführt ha-ben (Schramm, 254, Anm. 10). Das Korreferat von R. Eschenburg arbeitet mit verschiedenen Diagrammen und entsprechenden Kürzeln, um Wege zu produktiver Sozialpolitik aufzuzeigen. Doch muß der Rezensent eingestehen, daß sie ihm nicht zu einem besseren Ve r-ständnis der Sachlage geholfen haben. Das gleiche gilt für die verschiedenen Formeln im Referat von C. Fuest. So wird die Formel dL/d(w-t)¦ >0 aufgestellt, von der im Text nur L als Einkommen aus Arbeit, w als Bruttolohn, t als eine Steuer auf Arbeit und w-t als Nettolohn erklärt werden. Wer nicht eigens Wirt-schaftswissenschaft studiert hat, wird die Formel bei dieser ungenügenden Erklä-rung nicht verstehen. Gleiches gilt für das Referat von M. Kolmar, dessen Vo r-trag aus einer Anhäufung von derartigen, für Laien unverständlichen Formeln und Gleichungen besteht. Demgegenüber beschränkt sich F. Haslinger entge-genkommender Weise darauf, seine Darstellung verbal zu halten, um keine un-nötigen Verständnisbarrieren aufzubauen. Das wäre ein wünschenswertes Krite-rium für alle Referate. Da sich die Schrift auch an Vertreter von Ethik und Moral richtet und dieselben schon zu der Tagung selbst eingeladen worden waren, sollten Vortragende wie Veranstalter darauf bedacht sein, die Referate grundsätz-lich allgemeinverständlich zu halten.

Die Vertragstheorie von Buchanan hat zunächst die Begründung und Notwen-digkeit des Sozialstaates an sich zum Gegenstand. Sie gibt keine unmittelbare

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Antwort auf das eigentliche Thema der Schrift, die Spannung zwischen interna-tionalem Wettbewerb und nationaler Sozialpolitik. Diese Problematik wird von C. Fuest angesprochen. Er behandelt die Frage, ob der sozialstaatliche Bedarf unter den Bedingungen der Globalisierung noch finanziell abgesichert werden kann. Das wird untersucht (1) hinsichtlich des Wettbewerbs von Kapitalsteuern, wobei Fuest sich für deren Reduzierung einerseits und für höhere Steuern auf Konsum und Arbeit andererseits ausspricht; (2) hinsichtlich der Mobilität von Nettozahlern (d.h. die Abwanderung fähiger Kräfte in Länder mit geringeren Lohnnebenkosten), die ihm jedoch weniger bedrohlich erscheint, da die Bindung an Heimat und Familie für die meisten eine große Rolle spielt, und (3) hinsicht-lich des Sozialtourismus (Immigration von Arbeitern ärmerer Länder in Wohl-fahrtstaaten), der Einschränkungen erfahren müsse. Zum Sozialtourismus gibt J. Schumann in seinem Korreferat indessen relativierend zu bedenken, daß junge, arbeitswillige Einwanderer – er denkt an die osteuropäischen Länder – für den in seiner Altersstruktur schwachen deutschen Sozialstaat sich schließlich auch als Nettozahler erweisen und ihn damit stützen könnten. In seinem Korreferat führt J. Wiemeyer aus, daß im globalen Wettbewerb um günstige Wirtschaftsstandorte der Sozialstaat bei weitem nicht nur ein Manko ist. In Sozialstaaten sind „höhere Steuern als in anderen Standorten möglich, wenn für diese höhere Standortqualität bessere Leistungen (öffentliche Infrastruktur, gute staatliche Dienstleistungen, reichhaltiges Angebot gut qualifizierter Ar-beitskräfte, Rechtssicherheit etc.) geboten werden. Da ein geringeres Ausmaß an Bettlern im Straßenbild, weniger Kleinkriminalität, politische und soziale Stabi-lität auch zu den positiven Standortfaktoren gehört, ist eine Umverteilung mö g-lich und sinnvoll“ (141). Zwischen ökonomischer Effizienz und sozialer Gerech-tigkeit bestehe somit auch unter Berücksichtigung der globalen Konkurrenz kein gravierender Gegensatz, sondern weitgehend eine Komplementarität. Dem stimmt F. Haslinger in seinen gründlichen Überlegungen zum Thema „So-zialstaat als Standortfaktor“ zu. Die eben genannten positiven Faktoren für den Standort Sozialstaat werden bei ihm weiter entfaltet und ergänzt, z.B. durch die Faktoren Umweltqualität, Freizeitangebot, allgemeine Zufriedenheit, höhere Verläßlichkeit der Arbeiter (194-7). Für die langfristige Entwicklung einer Volkswirtschaft ist der Sozialstaat unverzichtbar. Soziale Sicherung ist freilich ohne massive staatliche Interventionen nicht möglich. Eine rein private Risiko-vorsorge, die von manchen als die bessere Lösung vertreten wird, ist infolge weitreichenden Marktversagens im sozialen Bereich für viele Menschen nicht ausreichend möglich. Gegen Wertverlust der Währung durch Inflationsschocks kann strenggenommen überhaupt nur ein staatliches Umlageverfahren absichern. Politisch umstritten wie empirisch ungeklärt dagegen sind Umfang und Art der staatlichen Eingriffe. Zweifellos gibt es Ineffizienzen, die es zu reformieren gilt, wie etwa verfehlte Anreize, Arbeitslosengeld – auf Kosten der Allgemeinheit – gegenüber einer regulären Lohnarbeit zu bevorzugen. Mit dem letzteren Problem befaßt sich der ebenfalls sehr gründliche Beitrag von H. Feist. Der Sozialstaat hat seine Berechtigung und Notwendigkeit. Aber er kann für arbeitsscheue Bürger zur Einladung werden, sich in die „soziale Hän-

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gematte“ zu legen. Feist untersucht die Möglichkeiten, derartigen Fehlanreizen zu begegnen. Diskutiert werden das Bürgergeld, Einstiegsgeld, Lohnsubvention und Sachtransfers statt Geldtransfers (vgl. das amerikanische „Food-Stamps-Programm“). Der Referent hat keine Patentrezepte. Aber er glaubt, daß ein ge-zieltes Lernen von den Erfahrungen in den USA die deutschen Reformbestre-bungen hier entscheidend voranbringen könnte. Von arbeitsfähigen Hilfesuchen-den kann erwartet werden, daß sie im Gegenzug für die Unterstützung ihre Ar-beitsleistung einbringen. „Flankierende Maßnahmen könnten in Einstiegsgeldern oder Lohnsubventionen und in einer Stärkung der Rolle der Sachtransfers gese-hen werden“ (238). Eine weitere Maßnahme in diesem Kontext erwähnt (weiter unten) A. Habisch: Verpflichtung durch das Arbeitsamt zu Weiterbildungsmaß-nahmen (282).

Dem Anliegen einer internationalen Sozialordnung ist das sorgfältige Referat von H.-M. Wolffgang und W. Feuerhake gewidmet. Durch sie sollen faire Ar-beitsbedingungen garantiert und unfairer Wettbewerb durch Sozialdump ing auf dem globalen Markt begegnet werden. Aufgrund der großen Unterschiedlichkeit der Staaten wird sich eine derartige Sozialordnung freilich auf jene unabdingba-ren Kernaspekte beschränken müssen, die grundlegende Inhalte der Menschen-rechtskonvention enthalten. Diese Voraussetzung erfüllen die sieben Kernar-beitsnormen der ILO (International Labour Organization).2 Doch ist die Zustim-mung selbst zu diesen Normen keine uneingeschränkte. So erfolgte die Ratifizie-rung der Konvention zum Mindestalter der Beschäftigung nur von 51 Staaten, während die anderen Kernarbeitsnormen von 110 ratifiziert wurden. Die beiden Autoren räumen allerdings auch ein, daß im Hinblick auf erstere Konvention sich abrupte Verbote kontraproduktiv auswirken können und Übergangslösungen geschaffen werden müssen. Auch Normen, die sich auf gewerkschaftliche Rech-te oder geschlechtsspezifische Berufs- und Lohndiskriminierung beziehen, stos-sen in manchen Ländern auf Widerstand. Bisher sind denn auch alle Versuche, soziale Mindeststandards in das internationale Handelsrecht einzugliedern, ge-scheitert. Bezogen auf einen begrenzten Integrationsraum, wie den der EU, sind die Chancen für eine gemeinsame Sozialordnung natürlich größer. Es gibt indes-sen noch andere Wege zur Umsetzung der Grundnormen, die leichter gangbar sind, wie von Ch. Lütge in seinem Korreferat dargelegt. Er verweist auf Gütesie-gel und Fair-Trade-Maßnahmen sowie moralischen Druck über die Öffentlich-keit durch die ILO. Er verspricht sich von diesen Maßnahmen eine größere Wirksamkeit, als die beiden Autoren im Hauptreferat davon erwarten. A. Habisch wendet sich in seinem Referat noch einmal gegen die Auffassung, daß Sozialpolitik ein Wettbewerbsnachteil sei. Er konzentriert sich besonders auf die Vorteile einer durch gute Sozialpolitik gewährleisteten besseren Ausbildung. „Jene Volkswirtschaften, die elementaren Schutz vor den wichtigsten Lebensri-siken gewähren können und damit gute ‚Investitionsbedingungen’ in Humanka-pital bieten, ziehen daraus handfeste Vorteile“ (277). Es sei zu bedauern, daß der Investitionscharakter von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen noch nicht genü-gend in das private wie öffentliche Bewußtsein getreten ist.

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Gegen eine zu vereinfachende Korrelation von Wettbewerbsfähigkeit und sozia-ler Entwicklung meldet J. Wallacher in seinem Korreferat indessen Vorbehalte an. Zwischen den beiden bestehe zwar kein prinzipieller Widerspruch, doch ebenso wenig ein strikt linearer Zusammenhang. Denn es gibt sozialpolitische Maßnahmen ohne unmittelbaren Beitrag zur Stärkung der Wirtschaft, wie Be-hindertenwerkstätten oder Altenpflege. Wichtige Bereiche der Sozialpolitik lassen sich nicht durch ihren ökonomischen Nutzen begründen. Es gibt eine Gerechtigkeitslücke des Wettbewerbes, die nur durch moralische Voraussetzun-gen geschlossen werden kann. In Abgrenzung gegenüber dem ökonomischen Liberalismus, der vom Menschenbild des rationalen, strikt eigennutzorientierten Individuum ausgeht, befürwortet Wallacher einen egalitären Liberalismus, der den Menschen nicht auf einen rationalen Egoisten verkürzt, sondern die Gesell-schaft zugleich als Solidargemeinschaft versteht, und das auch im globalen Kon-text. „Danach besitzen diejenigen Staaten und Bevölkerungsgruppen, die von der weltwirtschaftlichen Integration profitieren, eine besondere Verantwortung ge-genüber den Verlierern dieser Integrationsprozesse“ (304). Der egalitäre Libera-lismus (in der Tradition von John Rawls) begründet die Forderungen der sozialen Gerechtigkeit ohne Berufung auf eine göttliche Instanz. In den zunehmend säku-larisierten Gesellschaften ist das von Vorteil. „Dessen ungeachtet finden sich aber auch in allen großen Weltreligionen Anknüpfungspunkte für das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit und einer umfassenden Verantwortung für alle Men-schen“ (305). Gerade die Religionen stellen darum weiterhin eine wichtige Mo-tivationsquelle für kooperatives und solidarisches Handeln und eine notwendige Korrektur zum Konkurrenzprinzip dar.

Die Beiträge der vorliegenden Schrift erscheinen sehr von der Theorie geprägt, daß Institutionen dann stabil sind, wenn sie dem Selbstinteresse des Menschen entsprechen (siehe Buchanan). Die sozialen Ordnungen fänden letztlich in die-sem Selbstinteresse ihre solideste Fundierung, und wenn es nur das Interesse der Wohlhabenden sei, in ihrem ästhetischen Empfinden nicht durch zerlumpte Ar-mut gestört zu werden. Dabei werden schon existierende Ordnungen daraufhin analysiert, wie sie letztlich dem Selbstinteresse entsprechen. Zugleich wird an-genommen, daß sie auf diese Weise – unter dem „Schleier der Unsicherheit“ – auch entstanden oder begründet sind. Aber in der geschichtlichen Realität sind die sozialen Ordnungen durch das Zusammenwirken vieler Motivationen ent-standen, unter denen die Verantwortung vor Gott, die christliche Nächstenliebe und die mitmenschliche Solidarität eine entscheidende Rolle spielen. Im nachhi-nein läßt sich dann aufweisen, daß die so gewordenen Ordnungen auch weitge-hend dem Selbstinteresse entsprechen – abgesehen von einigen Ausnahmen, wie die Betreuung von Schwerstbehinderten oder die Befreiung der Sklaven. Gerade letztere Ordnungen aber zeigen deutlich, daß die umfassendste Wurzel für die-selben nicht das Selbstinteresse ist, sondern die mitmenschliche Solidarität und die Bestimmung des Menschen von Gott. Einsichtig wird von verschiedenen Beiträgen aufgezeigt, daß die Sozialpolitik im globalen Wettbewerb trotz der damit gegebenen Belastungen auch wichtige Standortvorteile für die betreffenden Nationen mit sich bringt. Dennoch ist es ein

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Faktum, daß in den letzten Jahren aus Deutschland jährlich 100.000 Arbeitsplät-ze exportiert wurden und die Arbeitslosigkeit im Lande übermäßig hoch ist. Den hochentwickelten Wohlfahrtstaaten stehen auf der anderen Seite nicht einfach nur unterentwickelte Staaten mit wenig Schul- und Ausbildung gegenüber. Län-der wie Tschechien, Malaysia, die Philippinen, Indien usw. haben sehr wohl gut ausgebildete Kräfte und zugleich hinreichende politische Stabilität, aber ohne die hohen Lohnkosten Deutschlands. Sie werden darum im globalen Wettbewerb zur Standortkonkurrenz. Zugleich haben auch in Deutschland nicht alle Jugendlichen die Begabung zu höheren Studien. Das Problem der stets steigenden Lohn- und Lohnnebenkosten als ein Faktor im globalen Wettbewerb hätte darum auf der Tagung größere Aufmerksamkeit verdient. H. Feist verweist auf amerikanische Reformbestrebungen im Bereich Arbeitslo-senhilfe, von denen Deutschland lernen könnte. Ließe sich auch von der größe-ren Flexibilität der Löhne und Tarifvereinbarungen in den USA lernen oder von dem erfolgreichen Modell Hollands seit den 90er Jahren, das in der gleichen Richtung verläuft? Wenn die Beiträge der vorliegenden Schrift zu dem beruhi-genden Ergebnis kommen, daß der globale Wettbewerb für Wohlfahrtstaaten wie Deutschland nicht eine allzu große Bedrohung bedeutet, so bringt er dennoch ernst zu nehmende Herausforderungen mit sich. Schließlich darf es im Wettbe-werb den Wohlfahrtstaaten nicht nur um den Erhalt ihrer eigenen Wohlfahrt gehen, sondern es bedarf auch der Solidarität mit den armen und ärmsten Natio-nen der Dritten Welt, wie das zum Jubiläumsjahr 2000 in der Frage des Schul-denerlasses auch einer breiteren Öffentlichkeit bewußt geworden ist. Diese ergänzenden Gedanken sollen aber nicht den Wert der Schrift schmälern. Die Referenten haben die ihnen gestellten Themen weitestgehend mit großer Sorgfalt und Akribie behandelt und Überlegungen vorgelegt, die weiterführend sind und Beachtung verdienen.

Anmerkungen 1) J.M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan (Tübin-gen 1984). Ders., The Political Economy of the Welfare State (Stockholm 1988). Ders., Markt, Freiheit und Demokratie (Sankt Augustin 1992). G. Brennan und J.M. Buchanan, Die Begründung von Regeln. Konstitutionelle Politische Ökonomie (Tübingen 1993). 2) Konkret aufgezählt werden von den beiden Autoren allerdings nur sechs Kernarbeits-normen, nämlich das Verbot der Zwangsarbeit, das Mindestalter für Beschäftigung, das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, das Verbot geschlechtsspezifi-scher Lohndiskriminierung sowie die Konventionen über die Organisationsfreiheit und die Tarifverhandlungsfreiheit (150).

Prof. Dr. Karl-Heinz Peschke SVD lehrt Moraltheologie und Christliche Gesell-schaftslehre an der Hochschule der Steyler Missionare in Mödling/Wien.

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Besprechungen Weltweite Kirche

Der weltreisende Privatgelehrte und Autor vieler eigenwilliger und inte-ressanter Geschichtsanalysen Erik von Kuehnelt-Leddihn (1909-1999) wurde von Ernst Jünger als „einsame Stechpalme, die tief im Humus des alten Österreich verwurzelt ist“, wahrgenommen. Nun sind posthum seine umfassenden und höchst ab-wechslungsreichen Memoiren er-schienen:

Erik von Kuehnelt-Leddihn: Welt-weite Kirche. Begegnungen und Erfahrungen in sechs Kontinenten 1909-1999, Christiana-Verlag, Stein am Rhein 2000, 605 S.

Kuehnelt-Leddihn braucht nicht das Stichwort „Globalisierung“, um den Horizont seines Denkens und Glau-bens aufzuzeichnen. Ein streitbarer Katholik, ohne Hinneigung zum Tra-ditionalismus eines Msgr. Lefèbvre, gibt er seine Kommentare wider alle „Correctness“ des Zeitgeistes und er-freut durch die Schilderung zahlrei-cher Begegnungen mit Persönlichkei-ten des Jahrhunderts. Seine Liebe zur Monarchie als Staatsform hindert ihn nicht, gelegentlich sog. „neoliberale“ Statements abzugeben – keinerlei Marxismus hat Bestand vor Kuehnelt-Leddihns unbestechlichem Auge.

Als ehemaliger Emigrant vor den Schergen Hitlers durchstreift er später die ganze Welt bis hinein in die Höh-le des kommunistischen Löwen in Moskau, dabei stets auf die Lage der Kirche schauend, ihre zahlreichen Le-bensbedingungen, Ausdrucksformen, kulturellen, sozialen und politischen Verbindungen in ihren ganz alltägli-chen, aber auch bedeutenden Vertre-tern kennenlernend. Kuehnelts Memoiren kommen einem vor wie eine moderne Apostelge-schichte, eine Fundgrube an Material über das verflossene Jahrhundert der Kirche. Sein immenses Wissen gibt er in konzentrierter Form weiter, die Anmerkungen (leider im Anhang) weisen auf weitere Perspektiven, tref-fende Schlußfolgerungen und Zusam-menhänge. Sehr bedenkenswert nach allen zum Teil auch unerleuchteten „mea-culpa“-Aktionen ist das Schluß-kapitel „Kirche, Judenhaß, Wissen-schaft und Endlösung“, das sich wie das ganze Buch gegen eine théologie du chien battu (Jean Daniélou) wen-det. Man kann nur hoffen, daß dieses bedeutende, lehrreiche und unterhalt-same Buch vor allem auch junge Leser findet, die bereit und gerüstet sind, das „Feuer der Tradition“ (Jo-seph Kardinal Höffner) zu entdecken.

Stefan Hartmann

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