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Die neue soziale Ungleichheit aus der
Perspektive der Klassentheorie
Prof. Dr. Klaus Dörre, Friedrich-Schiller-Universität Jena
21.11.2015, 9. Braunschweiger Gramsci Tage
Gliederung:
I. Die neue Klassendiskussion
II. Klassen bei Marx und Weber
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
IV. Klassenbewusstsein
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Neue Grenzlinien, die schwer zu überschreiten sind:
„Insofern ist es zutreffend, von einer neuen Klassengesellschaft zu sprechen.
Die Grenzen zwischen verschiedenen Klassenlagen sind härter geworden – und
das heißt: der Aufstieg, die Mobilität nach oben ist schwieriger-, während
gleichzeitig die Homogenität innerhalb der Klassen zugenommen hat: man
kennt sich, man lebt ein ähnliches Leben, und man ‚erkennt‘ sich auch wieder
eher schon an äußeren Zeichen des Konsums, der Kleidung oder der
Körperlichen Stilisierung.“
Paul Nolte: Riskante Moderne. Die Deutschen und der Neue Kapitalismus.
München 2006
Folie 3
I. Die neue Klassendiskussion
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Schaubild (Robert Reich)
I. Die neue Klassendiskussion
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
I. Die neue Klassendiskussion
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
„Wenn etwas nach Klassenkampf aussieht und jemand wie im
Klassenkampf agiert, dürfen wir uns nicht genieren, die Sache beim
Namen zu nennen. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung muss
sich entweder in die historische oder geografische Entwicklung fügen,
die durch die erdrückende und noch ständig wachsende Macht der
herrschenden Klassen bestimmt wird, oder sie muss selbst als Klasse
reagieren.“
David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Zürich 2007, S. 250
I. Die neue Klassendiskussion
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Klassen und Schichten
1. Grundlegende Kategorien zur Beschreibung, Analyse
und Erklärung vertikaler sozialer Ungleichheiten.
2. Klassenkonzepte – erklärend -
Wirkungsmechanismus
3. Schichtkonzepte – beschreibend -
Merkmalszuschreibung
I. Die neue Klassendiskussion
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Klassen und Schichten
I. Die neue Klassendiskussion
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
a. Klassen nach Karl Marx
Bourgeoisie
Proletariat
Mittelklassen
Au
sbe
utu
ng
Arb
eitskraft
II. Klassen bei Marx und Weber
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
1. Grundklassen, verankert in der sozioökonomischen
Kernstruktur
2. Wirkungsmechanismus: Ausbeutung
3. Relationalität: Klassen existieren nur in ihren wechselseitigen
Beziehungen
4. Herrschaft: Der Staat greift in die Klassenbeziehungen ein
5. Herrschaftskritik: Perspektive einer Aufhebung von
Klassenherrschaft
II. Klassen bei Marx und Weber
a. Klassen nach Karl Marx
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Kritik am Marxschen Konzept
Problem von Struktur und Handeln
Marx: In einem frühen Stadium ist die Masse der Lohnarbeiter zunächst
nur eine „Klasse gegenüber dem Kapital“, bestimmt durch den
Nichtbesitz an Produktionsmitteln, den Warencharakter ihrer
Arbeitskraft, die Produktion von Mehrwert sowie die
Fremdbestimmtheit ihrer Arbeitstätigkeit. Eine „Klasse für sich selbst“
(MEW 4: 181) kann das Proletariat erst im Zuge einer aktiv-bewussten
Überwindung von in der Klassenlage selbst wurzelnden
Partikularinteressen werden.
II. Klassen bei Marx und Weber
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
b. Klassen nach Weber
Soziale Klasse ErwerbsklasseBesitzklasse
Typischer Wechsel zwischen
Klassenlagen
Besitz-Unter-
schiede
Chancen der
Marktver-wertung
II. Klassen bei Marx und Weber
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
1. Wirkungsmechanismen: Besitz/Marktchance
2. Besitzklassen, Erwerbsklassen entsprechen den Marxschen
„Klassen an sich“
3. Soziale Klassen entsprechen „Klasse für sich“
4. Verkoppelung mit ständischer Vergemeinschaftung
(Beruf, Geschlecht, Ethnie)
II. Klassen bei Marx und Weber
b. Klassen nach Weber
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Grundkonsens neuerer Klassentheorien:
Klassen sind keine homogenen Kollektivsubjekte, sondern Konstruktionen, die ihre Realitätstauglichkeit in
Klassifikationskämpfen beweisen müssen. Klassenkategorien lassen sich mindestens auf das korporative
Dreieck von Lohnarbeit, Kapital und Staat - sinnvoll anwenden. Ihre Stärke besitzen sie in der Ursachenanalyse
von Ungleichheiten, die für die Konfliktdynamik einer Gesellschaft zentral sein können, aber nicht bestimmend
sein müssen. Ungleichheitsachsen wie Geschlecht und Ethnie lassen sich nicht auf Klassenunterschiede
zurückführen, sie beinhalten jedoch häufig klassenspezifische Relationen. Klassenbewusstsein findet sich mit
großer Wahrscheinlichkeit eher bei den herrschenden Klassen. Dagegen bezeichnen Konkurrenz,
Fragmentierung, Vereinzelung und Spaltung den Normalzustand vor allem subalterner Klassenfraktionen.
Dieser Normalzustand ist überwindbar, wenn entsprechende soziale Verkehrsformen und
Kommunikationsverhältnisse eine Mobilisierung von Klassenmitgliedern zulassen. Maßgeblich sind dafür
Bildungsprozesse, die ein bewusstes Überschreiten habitualisierter, auf horizontale Konkurrenzen
ausgerichteter Praktiken ermöglichen. Grundsätzlich zielt Klassenhandeln auf eine Verbesserung individueller
und/oder kollektiver Position im sozialen Raum. Ist schon der Übergang von individuellem zu kollektiv-
organisiertem Klassenhandeln äußerst voraussetzungsvoll, so muss revolutionäres Klassenhandeln historisch
gesehen als Ausnahmephänomen betrachtet werden. Und selbst für diesen Typus des Klassenhandelns gilt,
dass er aufgrund erweiterter staatlich-politischer Regulationsfunktionen nur selten einer Klassensemantik
folgt. Da Klassenbildung neben der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auch von raumzeitlichen Koordinaten und
politisch-ideologischen Zyklen abhängt, ist wahrscheinlich, dass Phasen der Entstrukturierung und Neubildung
von Klassen einander im historischen Verlauf immer wieder ablösen werden.
II. Klassen bei Marx und Weber
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Quelle: Geißler, Rainer (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 4. Aufl, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 100.
Schichten
Schichtmodell nach Rainer Geißler
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
„Vertikale Ungleichheiten sind nicht verschwunden, aber es gibt einen „Fahrstuhleffekt“. Trotz fortbestehender Ungleichheiten gibt es ein „kollektives Mehr“. Deshalb haben Klasse und Schicht ihre lebensweltliche Verbindlichkeit eingebüßt.“
Ulrich Beck 1986, S. 133
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Schichten
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Darstellung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Vermögens
versus dem Vermögen von Theo Albrecht
1 cm entspricht einem Vermögen von 50.000 €
cm
Durchschnitts-
vermögen
= 1,76 cm
Vermögen
Albrecht
= 4,14 km
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Schichten
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Arbeitshypothese:
Die Lohnabhängigen spalten sich in mindestens drei Großgruppen, möglicherweise „Klassen“, auf, die sich bei der Verfügung über Machtressourcen und Sozialeigentum, der Stellung in der Unternehmenshierarchie und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sowie den daraus resultierenden Chancen am Arbeitsmarkt gravierend unterscheiden.
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
a) Hochqualifizierte Beschäftigte und Spezialisten verfügen mehrheitlich noch immer über Positionen am Arbeitsmarkt und im (Re-)Produktionsprozess, die es ihnen – und sei es individuell – erlauben, strukturelle Machtressourcen einzusetzen, um Gehaltszuwächse durchzusetzen und (sekundäre, auf Dominanz beruhende) Ausbeutung zu minimieren. Diese Gruppen bewegen sich, soweit sie kommandierende Arbeit verrichten, zumindest in sozialer Nähe zu den Mittelklassen; auch als kommandierte Beschäftigte können sie den Anschluss an die vielbeschworene soziale Mitte einigermaßen wahren.
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
b) Davon zu unterscheiden ist die Masse der qualifizierten Angestellten und Arbeiter in kommandierter Beschäftigung. Diese sozialen Gruppen sind im Finanzmarktkapitalismus in die Defensive geraten. Ihre organisationalen und institutionellen Machtressourcen reichen jedoch noch immer aus, um Einkommensverluste und Einbußen bei der Arbeits- und Lebensqualität in Grenzen zu halten. Sozialpsychologisch und in ihren Handlungsstrategien sind diese Gruppen dennoch primär am Erhalt ihres sozialen Status interessiert, d. h. sie verteidigen ihr verbliebenes Sozialeigentum gegen die finanzkapitalistische Landnahmen „von oben“, aber auch gegen Konkurrenz aus dem prekären Sektor.
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
c) Die dritte Großgruppe ist eine sozial neu zusammengesetzte Unterklasse, die kaum über Machtressourcen verfügt, um ihre Lage individuell oder kollektiv zu beeinflussen. Charakteristisch für diese prekär und z.T. informell Beschäftigten und Erwerbslosen ist, dass sie sich, wie gezeigt, in sozialer Nähe zu jenem Status der Fürsorge bewegen, der durch die Hartz-Gesetze politisch neu justiert wurde. Der Überlebenshabitus dieser Großgruppe unterscheidet sich deutlich vom Kollektivhabitus der Beschäftigten in kommandierender und kommandierter Arbeit.
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
1991 2000 2005 2012 2013
Erwerbstätige* 38.712 39.382 38.976 41.608 41.847
Arbeitsstunden** 60.082 57.922 55.775 57.973 58.052
je Erwerbstätiger 1.552 1.471 1.431 1.393 1.387
Arbeitnehmer* 35.148 35.387 34.559 37.060 37.378
Arbeitsstunden** 51.768 48.650 46.325 48.779 49.059
je Arbeitnehmer 1.473 1.375 1.340 1.316 1.313
Erwerbstätigkeit und Arbeitsstunden
Hinweis: * in Tausend / ** in MillionenQuelle: Statistisches Bundesamt/Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
III. Finanzkapitalistische Landnahme und Klassen
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
IV. Klassenbewusstsein
Folie 24
Quelle: Dörre, Klaus/Happ, Anja/Matuschek, Ingo (2013) (Hrsg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg: VSA.
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Folie 25
Quelle: Dörre, Klaus/Happ, Anja/Matuschek, Ingo (2013) (Hrsg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg: VSA.
IV. Klassenbewusstsein
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Folie 26
Quelle: Dörre, Klaus/Happ, Anja/Matuschek, Ingo (2013) (Hrsg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg: VSA.
IV. Klassenbewusstsein
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015
Offene Fragen:
Das Prekariat – eine Klasse?
Intersektionalität und Klassen
Organisiertes Klassenhandeln und nicht-normierte
Konflikte
Internationalität und Klassen
Folie 27
IV. Klassenbewusstsein
Prof. Dr. Klaus Dörre: Die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie 9. Braunschweiger Gramsci-Tage 2015