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Die Risiken der Risikoorientierung in der Bewährungshilfe Fünf Anfragen an den gegenwärtigen Umbau der deutschen Bewährungshilfe präsentiert auf dem DBH-Fachtag am 11.06.2015 in Frankfurt am Main Prof. Dr. Ralf Bohrhardt, Hochschule Coburg

Die Risiken der Risikoorientierung in der Bewährungshilfe · Risikomanagement. Risikoorientierung in der deutschen Bewährungshilfe ... Rahmen der Bewährungshilfe geht und für

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Die Risiken der Risikoorientierung in der BewährungshilfeFünf Anfragen an den gegenwärtigen Umbau der deutschen Bewährungshilfe präsentiert auf dem DBH-Fachtagam 11.06.2015 in Frankfurt am Main

Prof. Dr. Ralf Bohrhardt,Hochschule Coburg

Vorbemerkung 1:

Eine gute Idee zur Risikominimierung führt durch Formalisierung der Anwendung zu kontraproduktiven Effekten.

Die Konfrontation mit solchen Effekten provoziert auf allen Seiten Unwillen und Unbehagen; die ehrliche Auseinandersetzung mit ihnen ist jedoch Voraussetzung für eine gelingende professionelle Arbeit.

Vorbemerkung 2:

Die Risikoorientierung in der Bewährungshilfe, so wie sie in einigen deutschen Bundesländern implementiert wurde, stößt auf erhebliche Kritik in der Disziplin Soziale Arbeit, in der Kriminologie sowie in Fachverbänden, und dies sowohl national als auch international. Diese Kritik ist bislang kaum aufgenommen worden.

Bernd Dollinger / Nina Oelkers (2015): Professionelles Handeln im Kontext gegenwärtiger Sicherheits‐politiken. In: dies. (Hrsg.): Sozialpädagogische Perspektiven auf Devianz, Weinheim: Beltz Juventa, S. 34 ‐48.

Prof. Oelkers Prof. Thiersch

Prof. Staub-Bernasconi

Prof. Dollinger

Prof. Cornel, DBH

Prof. Nickolai, KASH

Es erscheint dringend geboten, „sich gegenwärtig erneut zu versichern, welche Form von Professionalität die Soziale Arbeit in ihrer Befassung

mit Kriminalität aufweisen kann und soll“ (Dollinger/Oelkers 2015: 38).

Prof. Bock

Prof. Hongler, zhaw

Prof. Ward

Prof. Kessl

Rückfallvermeidung als zentrales Ziel der Bewährungshilfe

"Social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing." (IFSW 2014)

Vorbemerkung 3:

Völlig unstrittig zielt Bewährungshilfe darauf ab, dass die in ihrem Rahmen betreuten Personen nicht erneut straffällig werden. Dabei richtet sich ihre Pers-pektive gemäß des Selbstverständnisses Sozialer Arbeit auf die Freiheit und das Wohlergehen der straf-fälligen Person, die beim Widerruf der Bewährung ein-geschränkt werden. Insoweit haben Bewährungshelfer-*innen immer(schon) auch RISIKEN im Blick.

Strittig ist der vermeintlich fachliche Gewinn durch die neu implementierte Konzentration auf das Risiko.

International Federation of Social Workers (IFSW) (2014): Definition of Social Work (http://ifsw.org/policies/definition‐of‐social‐work/). Silvia Staub‐Bernasconi (2008): Soziale Arbeit: Dienstleistung oder Menschenrechtsprofession? Zum Selbstverständnis Sozialer Arbeit in Deutschland mit einem Seitenblick auf die internationale Diskussionslandschaft. In: Andreas Lob‐Hüdepohl / Walter Lesch (Hrsg.): Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch, Paderborn: Schöningh, 20–54.

Vorbemerkung 4:

Unstrittig ist ebenfalls, dass Bewährungshelfer*innen methodisch strukturiert arbeiten und neben aktuellen Gefährdungen zum Begehen neuer Straftaten ("Risk") sowie den persönlichen und lebensweltlich mobilisierbaren Ressourcen (!) die konkreten Bedarfslagen ("Need") sowie die spezifische Ansprechbarkeit der Proband*in durch unterschiedliche methodische Zugänge ("Respon-sivity") zum Orientierungspunkt für ihre Arbeit machen. Professionelle Soziale Arbeit agiert weder planlos noch undifferenziert nach dem "Gießkannenprinzip".

Strittig ist die Priorisierung statistisch abgeleiteter Risiken als Steuerungsvariablen für ein vermeintlich effektives Fall- bzw. Risikomanagement.

Risikoorientierungin der deutschenBewährungshilfe

� Fokussierte Risikobearbeitung statt ganzheitliche Unterstützung

� Konzentration auf das Anlassdelikt und/oder schwere Gewalt- und Sexualstraftaten

� Risikobasierte Kategorisierung in Betreuungs-intensitätsklassen

� Fokus auf Veränderung von individuellem Risikoverhalten

� Standardisierung / Manualisierung der Arbeit

Anfragen an dieRisikoorientierungin der deutschenBewährungshilfe

1. Genügt die Art der Risikoeinschätzung den fachlichen und ethischen Standards unserer Profession?

2. Führt die Kategorisierung zu mehr Effektivität?3. Folgt die Risikoorientierung eher einem politischen

Interesse als einer fachlichen Notwendigkeit?4. Gehen der ganzheitliche Ansatz der Sozialen Arbeit

und damit ihre eigenen kriminalpräventiven Potentiale verloren?

5. Welche Folgen hat die Risikoorientierung für die Organisationskultur der Bewährungshilfe?

Risiko 1:Risikoprognose

Anfrage: Genügt die Art der derzeitigen Risikoeinschätzung den fachlichen und ethischen Standards unserer Profession?

Die derzeit vorliegenden Instrumente der aktuarialen Prognostik verfehlen ihr Ziel, die individuelle Entwicklung von Kriminalität in einem Maße vorherzu-sagen, das professionelle Entscheidun-gen verantwortlich begründen könnte (Walter/Neubacher 2011: 268ff., Direktoren des Kriminologischen Institutes der Universität zu Köln)

Aktuariales Risk-Management leistet keinen nachweisbaren Beitrag zur Förderung des Gesellschaftsschutzes, sondern inszeniert Sicherheit durch eine „illusion of efficiency“.

(Bernard E. Hartcourt 2007: 111, Jura-Professor, Columbia University)

Einschätzung 1.1:Statistisch begründete Prognoseinstrumente verfolgen allein das (versicherungsmathematische) Ziel einer möglichst optimalen durchschnittlichen Trefferquote – ganz egal, was ihre Items zum Verstehen eines Ereignisses beizutragen haben (Bei-spiel: Geschlecht und Gewalthandeln). Sie sind nicht für die individuelle Interventionsplanung konzipiert, um die es im Rahmen der Bewährungshilfe geht und für diese entsprechend ungeeignet. Sie zielen gerade nicht auf die jeweiligen Be-sonderheiten eines Falles und können diese so auch nicht zum Vorschein bringen. Ihre Items sind 'protektiv' oder 'kriminogen' nur mit Blick auf das durchschnittliche Risiko, nicht mit Blick auf dasjenige der individuellen Proband*in. Weit brauchbarer für die Arbeit der Bewährungshilfe wären hingegen Instrumente, die einen konkreten Beitrag zum Nachvollziehen von Handlungs-motiven leisten (Bildung von Fallhypothesen), an denen sich das individuelle Rückfallrisiko ganz zentral entscheidet.

Michael Walter / Frank Neubacher (2014): Jugendkriminalität, 4. Aufl., Stuttgart: Boorberg.Bernard E. Hartcourt (2007): Against Prediction. Profiling, Policing, and Punishing in an Actuarial Age, Chicago: University of Chicago Press.

Einschätzung 1.2:Forensisch-psychiatrische Inventare zur Risikoprognose sind in der Anwendung aufwendig. In ihrer wissen-schaftlich überprüften Form sind sie so faktisch nicht praxistauglich für den Einsatz unter den zeitlichen Bedin-gungen der Bewährungshilfe und eignen sich zudem nur teilweise (dynamische Faktoren) für das Aufspüren der im Sinne der Proband*in relevanten Veränderungspotentiale.Die hierdurch notwendige Reduktion und Abwand-lung dieser Inventare für den "Hausgebrauch" innerhalb der Bewährungshilfe genügt jedoch nicht den wissenschaftlichen Qualitätskriterien von Eindeutigkeit und Konsistenz. Auch sind ihre Validität, Reliabilität und Objektivität nicht belegt, wenn sie denn überhaupt hinreichend empirisch untersucht worden sind.

The predictive accuracy of risk assessment tools in clinical and criminal justice settings "varies depending on how they are used. ... Their use as sole determinants of detention, sentencing, and release is not supported by the current evidence".

Meta‐Analyse UK, Datenbasis 73 Studien auf der Grundlage von insgesamt 24.827 Fällen(British Medical Journal 2012)

Einschätzung 1.3:Die Bewährungshelfer*innen arbeiten mit Instrumenten, für deren korrekte Anwendung eine erhebliche klinische Erfahrung nötig wäre, über die sie jedoch nicht verfügen. Die Ergebnisse der Risikoeinschätzung mit diesen Instrumenten sind entsprechend wenig reliabel und nicht objektiv, d.h. sie variieren stark zwischen unterschiedlichen Kolleg*innen bezogen auf denselben Fall. Selbst im klinischen Kontext erweisen sich standardi-sierte Prognoseinstrumente als anfällig für Anwen-dungsfehler und allein als zu wenig aussagekräftig.

Seena Fazel / Jay P. Singh / Helen Doll / Martin Grann (2012): Use of risk assessment instruments to predict violence and antisocial behaviour in 73 samples involving 24 827 people: systematic review andmeta‐analysis. In: British Medical Journal, 329, S. 1‐12.

"Die vorschnelle Einordnung von Hilfesuchenden in bestimmte soziale oder

psychologische Kategorien" ist kein professionelles Vorgehen. (2014: S. 26)

Basic Principles

13. All activities and inter-ventionsundertaken by probation agencies shall conform to the highest national and international ethical and professional standards.

Einschätzung 1.4:Die Berufsethik des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit bezeichnet es als unprofessionell, über Betreuungs- und damit auch über Lebenschancen von Proband*innen zu entscheiden, wenn dabei Prognose-instrumente zum Einsatz kommen, die nicht von hin-reichender wissenschaftlicher Qualität sind und für deren korrekte Verwendung die Bewährungshelfer*innen nicht hinreichend ausgebildet sind. Die Risikoeinschätzung in der deutschen Bewährungshilfe steht damit derzeit nicht im Einklang mit ihren eigenen ethischen Prinzipien.

Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (2014): Berufsethik des DBSH. Ethik und Werte. Als Heft 4 der Zeitschrift Forum sozial (auch online unter www.dbsh.de).Committee of Ministers (2010): Recommendation to member states on the Council of Europe Probation Rules (CM/Rec(2010)1) (auch online unter wcd.coe.org).

Basic Principles1.Probation agencies shall aim to reduce reoffending

by establishing positive relationships with offenders in order to supervise (including control where necessary), guide and assist them and to promote their successful social inclusion.

Jo Phoenix / Laura Kelly (in British Journal of Criminology 2013): 'They are doing their jobs …'

Einschätzung 1.5:Die primäre Orientierung am Risikoverhalten der Proband*in verstellt in vielen Fällen den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu ihr. Aufgrund der knappen Zeit und der standardisierten Abfrage in der EDV werden die Proband*innen oft zu Befragten, wenn nicht gar zu Ausgefragten, statt zu authentischen Gesprächspartner*innen. Die Proband*innen nehmen die Bewährungshelfer*innen dann nur noch als Servicekräfte wahr, die "ihren Job" machen, und nicht als Personen, die sich tatsächlich für sie interessieren – was die Voraussetzung für nachhaltige pädagogische Interventionen wäre.

Committee of Ministers (2010): Recommendation to member states on the Council of Europe Probation Rules (CM/Rec(2010)1) (auch online unter wcd.coe.org).Jo Phoenix / Laura Kelly (2013): 'You Have to Do it for Yourself'. Responsibilization in Youth Jus‐tice and Young People’s Situated Knowledge of Youth Justice Practice. In: BJCrim, 53, 419‐437.

Process of supervision

71. When national systems use assessment instruments, staff shall be trained to understand their potential value and limitations and to use these in support of their professional judgement.

Einschätzung 1.6:Die europäischen Probation Rules fordern selbstredend eine Bewertung von Risiken, Bedarfen und Ansprech-barkeiten der Proband*innen (vgl. Vorbemerkung 4). Sie fordern aber keinesfalls, dies standardisiert mittels (verkürzter) forensischer Inventare zu tun, was damit auch nicht nötig ist. Sollten solche Instrumente benutzt werden, soll das Ergebnis nur als ein Baustein einer Gesamteinschätzung des jeweiligen Falles dienen.

Die Probation Rules reden zudem an keiner Stelle von einer Kategorisierung der Proband*innen gemäß der jeweiligen Falleinschätzung.

Committee of Ministers (2010): Recommendation to member states on the Council of Europe Probation Rules (CM/Rec(2010)1) (auch online unter wcd.coe.org).

Risiko 2:KategorisierungAnfrage: Führt die risikoorientierte Eingruppierung in Kategorien mit unterschiedlicher Betreuungsintensität zu mehr Effektivität und ist sie berufsethisch vertretbar?

Einschätzung 2.1:Eine formale Kategorisierung in Betreuungsintensi-tätsklassen ist in der Praxis unnötig, da Wiedervor-stellungstermine ohnehin stets auch mit Blick auf die aktuelle Risikoeinschätzung anberaumt werden (s. Vorbe-merkung 4). Der für die formale Kategorisierung zu betrei-bende Aufwand bindet hingegen unnötig Ressourcen und schränkt fachliche Entscheidungen ebenso un-nötig ein, wenn etwa gute Gründe für längere Vorstel-lungsintervalle sprechen als dies für die jeweilige Kategorie vorgeschrieben ist. Ein aufwendig diagnostiziertes hohes Rückfallrisiko führt indes zu nicht mehr Kontrolle als häufigeren Pflichtterminen, die aus sich heraus aller-dings keinesfalls als protektiv gelten können. Die kriminal-präventive Wirkung der Bewährungshilfe erwächst nicht aus der Frequenz von Terminen, sondern aus der Qualität der Beziehung von Proband*in und Bewährungshelfer*in, für die Gestaltungsfreiheit notwendig ist.

Einschätzung 2.2:Die Verringerung des Betreuungsangebotes für Proband*innen mit derzeit nur geringem Risiko, schwere Straftaten zu begehen, ist mittelfristig ineffektiv und kriminalpolitisch kontraproduktiv, da schwere Straftaten umso eher verhindert werden können, je früher hinreichend interveniert wird.Sie ist zudem "unfair" im Sinne der europäischen Probation Rules, ethisch unverantwortbar mit Blick auf den Unterstützungsanspruch aller Proband*innen und rechtlich bedenklich, insbesondere mit Blick auf den Erziehungsauftrag im Jugendgerichtsgesetz.

Heinz Cornel (2014): Anmerkungen zur Debatte um Fallzahlen bei den Sozialen Diensten der Justiz und insbesondere in der Bewährungshilfe. In: Bewährungshilfe, 61, 356‐375.

"Bewährungshilfe ist ganz besonders kriminal-präventiv erfolgreich, wenn sie frühzeitigkriminelle Karrieren beendet und Haft vermeidet."

DBH Präsident Prof. Heinz Cornel (2014: 366)

Basic Principles1. Probation thus contributes to community safety

and the fair administration of justice.

"Die Reduzierung des Hilfeangebots für Probanden mit eher leichten Strafnormverletzungen … ist grundsätzlich nicht zu verantworten, erst recht aber ethisch zweifelhaft, solange diesen Personen bei Rückfall die Inhaftierung und Strafvollstreckung droht."

DBH Präsident Prof. Heinz Cornel (2014: 366)

§ 56d StGB / § 24 (3) JGG: "Der Bewährungshelfer steht … helfend und betreuend zur Seite"

§ 24 (3) JGG: "Der Bewährungshelfer soll die Erziehung des Jugendlichen fördern …"

Aktuelle Praxis der risikobasierten KategorisierungDie Forensiker (Fazel et al.):Wir können es nicht.Der Fachvertreter (Heinz Cornel):Wir sollten es nicht.Der Berufsverband (DBSH):Wir dürfen es so nicht.Der Ministerrat (EU):Wir müssen es nicht.Die Praxis:Wir brauchen es nicht.

Warum tun wir es?

Risiko 3:(Sozial-)Politischer Paradigmenwechsel als Motor der VeränderungAnfrage: Folgt die Risikoorientierung eher einem politischen Interesse als einer fachlichen Notwendigkeit?

klientenzentriert-systemisches

Handeln1980er

KonfrontationDiagnose

Case Management1990er

KontrollePrognose

Risk Management2000er

wohlfahrtsstaatliche Bedarfsorientierung

neoliberale Leistungsorientierung

neosoziale Kontrollorientierung

Soziale Arbeit wäre „schlecht beraten, den herrschenden Risikodiskurs und dessen Begrifflichkeiten unkritisch zu übernehmen. Sie würde damit nicht nur ihre spezifische professionelle Urteilskraft und Handlungsautonomie gefährden, sondern auch … ihre … damit verbundene professionelle Legitimität untergraben." (Hongler/Keller 2015: 31)

„FACHLICHKEIT“ IM KONTEXT

Einschätzung 3:Die Risikoorientierung folgt keiner fachlichen Notwendig-keit, sondern dem neosozialen Zeitgeist. Sie wird kriminalpolitisch dankbar aufgegriffen als Versuch, dem zunehmenden öffentlichen Sicherheitsbedürfnis in der Folge wirtschaftlicher Deregulierung und sozialstaatlicher Entsicherung zumindest symbolisch gerecht zu werden. Die ausschließliche Individualisierung von Fehl-verhalten lenkt dabei systemkonform von kollektiver Verantwortung ab.

David Garland (2008): Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart, Frankfurt am Main: Campus.Fritz Sack (2011): Symbolische Kriminalpolitik und wachsende Punitivität. In: Bernd Dollinger / Henning Schmidt‐Semisch (Hrsg.): Handbuch Jugendkriminalität. Kriminologie und Sozialpädagogik im Dialog, Wiesbaden: VS, S. 63‐89.Hanspeter Hongler / Samuel Keller (2015): Risiko in der Sozialen Arbeit und Risiko der Sozialen Arbeit –Spannungsfelder und Umgang. In: dies. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Risiko. Diskurse, Spannungsfelder, Konsequenzen, Wiesbaden: Springer VS, S. 21‐45.

Risiko 4:Verdrängung der eigenen FachlichkeitAnfrage: Führt der Fokus auf Gewalt- und Sexualstraf-taten zu einer Therapeutisierung, der künftig eher Psycholog*innen gerecht werden? Gehen der ganzheitliche Ansatz der Sozialen Arbeit und damit ihre eigenen kriminalpräventiven Potentiale verloren?

"Wer wegen des Arbeitsdrucks nur noch am Schreibtisch sitzen und Probanden einbestellen kann, realisiert letztlich keine Sozialarbeit mehr und öffnet einer Entwicklung Tür und Tor, an deren Ende, wie in England, die Bewährungshilfe nicht mehr von Sozialarbeitern betrieben wird."

Paul Reiners (in Bewährungshilfe 2014: 346)

„Es stellt sich doch die Frage, warum nicht die Sozialen Dienste sich interdisziplinärer Fachkenntnisse durch die Einstellung psychologischer und psychotherapeu-tischer Fachkräfte in ihren Organisationen bedienen sollten.“Lisa Lutzebäck (in Forum Stafvollzug 2014: 84), Leiterin der Stabstelle Reform der Sozialen Dienste im rheinland-pfälzischen Justizministerium

Einschätzung 4.1:Die Konzentration auf Gewalt- und Sexualstraftaten wird mittelfristig zum Verlust der Monopolstellung der Sozialen Arbeit in der Bewährungshilfe führen, langfristig zu ihrer weitgehenden Verdrängung. SozialarbeiterischeUnterstützung wird dann Aufgabe freier Träger sein.Sie verstellt jedoch den Blick auf den Umstand, dass der weit größere Teil von Rückfällen – auch dieser Straftäter*innen – in andere Straftaten erfolgt, die, weil weitgehend unvorhersehbar, nur kaum durch vor-nehmlich verhaltensorientierte Interventionen verhindert werden können. Wenig spezialisierte Therapie hat gar kontraproduktive Effekte (Anstieg der Rückfallwahrschein-lichkeit), weshalb im anglo-amerikanischen Raum ein Weg zurück zu einer ganzheitlichen Sozialen Arbeit zu beobachten ist.

PPD Zürich 2007, Gewalt- u. Sexualstraftäter

Routledge, 2007

Beyond the Risk Paradigm

PPD Zürich 2009, Gewalt- u. Sexualstraftäter

Einschätzung 4.2:Die große Stärke Sozialer Arbeit in der Straffälligenhilfeliegt in ihrer konsequenten Resilienz- und umfassen-den Ausstiegsorientierung (desistance), womit sie im Regelfall der Zufälligkeit (Kontingenz) und Vielschichtigkeit (Komplexität) möglicher Rückfall-risiken besser gerecht werden kann als ein rein deliktspezifischer und nur verhaltensorientierter Ansatz. Soziale Arbeit verfügt hierzu über eigene Methoden und arbeitet in systemischer Perspektive wesentlich auch mit der Umwelt der Proband*innen.

Wolfgang Zirk (1999): Jugend und Gewalt. Polizei-, Sozialarbeit und Jugendhilfe. Stuttgart: Boorberg.

„Oft wird bei Einzelfallanalysen ein Geflecht aus gesellschaftlichen Strukturen, gruppendynamischen Prozessen, persönlichen Entwick-lungen, auslösenden Faktoren und Zufallsereignissen deutlich“ (Zirk 1999: 89).psychologische vs. sozialarbeiterische

Perspektive

„Der besondere Ansatz der Fallarbeit ist die Konzentration auf das Individuum durch die Arbeit mit seiner Umwelt.” (Mary Richmond 1922) 

Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen! (Heinz von Foerster)

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Soziale Arbeit als Handeln unter den Bedingungen von Ungewissheit

Wir wissen nicht, von wo ein Sturm aufziehen wird, deshalb wissen wir auch nicht, welche Wurzel den Baum am Ende wird halten können. So gilt es, das Wachstum möglichst vieler Wurzeln zu befördern.

"Die Orientierung an vorgegebenen Risikofaktoren basiert auf einem Menschen- und Devianzbild, dass sich mit sozialpädagogischer Professionalität kaum vereinbaren lässt, ihr vielmehr zuwiderläuft."

(Dollinger/Oelkers 2015: 44)

Einschätzung 4.3:Soziale Arbeit setzt auf die positiven Entwicklungs-potentiale einer Person, die es konsequent in ihrer Alltagswelt zu mobilisieren und zu unterstützen gilt. Ihre Perspektive richtet sich auf die Gelingens-bedingungen eines guten, d.h. immer auch: straf-freien Lebens. Gerade hierin liegt ihr besonderes Potential für eine nachhaltige Wirksamkeit trotz eines primären Zwangskontextes. Zudem begreift sie auch die Tertiärprävention als ihre Aufgabe, also das möglichst weitgehende Vermeiden negativer Konsequenzen des delinquenten Verhaltens für ihre Proband*innen.

Bernd Dollinger / Nina Oelkers (2015): Professionelles Handeln im Kontext gegenwärtiger Sicherheitspolitiken. In: dies. (Hrsg.): Sozialpädagogische Perspektiven auf Devianz, Weinheim: Beltz Juventa, S. 34 ‐48.Tony Ward / Shadd Maruna (2007): Rehabilitation. Beyond the risk paradigm. London: Routledge.

"Social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing." (IFSW 2014)

Tertiärprävention als Aufgabe Sozialer Arbeit

Kriminalitätsbezogene  Sekundärprävention

soziale Integration

Wohnung

Bildung

Arbeit

Familie

Freunde / Freizeit

Gemeinwesen

Alltags‐bewältigung

Einhalten von Terminen

Konfliktlösung / Mediation

Ansprüche bei Behörden

Umgang mit Schulden

Anlaufstelle in  Krisen

Persönlich‐keitsbildung

Erfolgserlebnisse organisieren

Stärken stärken

positive peereducation

Selbstreflexion, Emanzipation

Verantwortung übertragen

Kommunikation

Psycho‐therapie

Testverfahren

manualisierteVerhaltens‐trainings

Hausaufgaben

formale Kontrolle

Risiko‐prognose

Check‐listen

Überwachung

Soziale Arbeit

DelinquenzbezogeneTertiärprävention

Verbindlichkeit herstellen,Unterstützung organisieren, Akteure vernetzen, Öffentlichkeit gewinnen

'Öffentlichkeit gewinnen' als Aufgabe Sozialer Arbeit"Eine Resozialisierung, eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft, steht und fällt mit der Bereitschaft, den straffällig gewordenen Menschen wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen."

Prof. Dr. Werner Nickolai (2014: 8)

Einschätzung 4.4:In der Risikoorientierten Bewährungshilfe übernehmen Forensik und das Sozialmanagement die Deutungshoheit über Ziele und Qualität Sozialer Arbeit, was zu einer Verdrängung ihrer eigentlichen Stärken und Aufgaben führt.Deliktspezifische und verhaltensorientierte Ansätze in der Bewährungshilfe sind wertvolle Ergänzungen in der Arbeit mit Proband*innen, werden aber ohne die deliktun-spezifischen Leistungen Sozialer Arbeit keine nachhaltige Rückfallvermeidung ermöglichen können.

Klaus Grunwald / Ulrich Otto (2008): Soziale Arbeit statt Sozialmanagement. In: Bielefelder Arbeitsgruppe 8 (Hrsg.): Soziale Arbeit in Gesellschaft. Wiesbaden: VS, S. 252‐260. Hans Thiersch (2012): Zur Autonomie der Fachlichkeit Sozialer Arbeit, In: Beat Köhn / Mechthild Seithe(Hrsg.): Zukunftswerkstatt Soziale Arbeit, Berlin: Rabenstück Verlag, S. 53‐67, hier zitiert nach dem Nachdruck in Forum Sozial, 1/2012, S. 42.Werner Nickolai (2014): „Sozialarbeit ist ein helfender, kein strafender Beruf“, Interview mit Eva‐Verena Kerwien. In: BAG‐S Informationsdienst Straffälligenhilfe, 22, H. 1, S. 5‐8 und 23.

Notwendig für Sozialarbeiter*innen ist "ein Verweis auf ihr eigenes Geschäft, Menschen in Schwierigkeiten zu helfen, indem sie ihnen in ihrem Alltag Beistand leisten. …Dazu muss Soziale Arbeit sich bekennen. Sie darf nicht darauf hinschielen, dass andere es anders machen, unser 'Geschäft' ist genau dieses: die Unterstützung von Menschen in der Komplexität und Widersprüchlichkeit ihrer Alltagsverhältnisse."

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Thiersch (2012)

Deprofessionalisierung durch Abbau von Handlungsautonomie

Für die Arbeit hinderliche Überformalisierung / Prozessualisierung

Zunehmende Kontrollorientierung

Unrealistisches Arbeitsprogramm

Die Tücken der Standardisierung

Einschätzung 4.5:Das Abarbeiten manualisierter Handlungsschrittewird dem komplexen und entscheidungsoffenen An-forderungsprofil der Bewährungshilfe nur sehr bedingt gerecht. Es gefährdet bei 'sicherheitsorientierter' Anwendung durch die Bewährungshelfer*innen (s.u.) eine vertrauensvolle und damit kriminalpräventive Beziehung zu den Proband*innen (s. Einschätzung 1.5).

Hanspeter Hongler / Samuel Keller (2015): Risiko in der Sozialen Arbeit und Risiko der Sozialen Arbeit –Spannungsfelder und Umgang. In: dies. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Risiko. Diskurse, Spannungsfelder, Konsequenzen, Wiesbaden: Springer VS, S. 21‐45.Hans‐Uwe Otto / Stefan Schnurr (2000): „Playing the Market Game?“ – Zur Kritik markt‐ und wettbewerbsorientierter Strategien einer Modernisierung der Jugendhilfe in internationaler Perspektive. In: dies. (Hrsg.): Privatisierung und Wettbewerb in der Jugendhilfe. Neuwied: Luchterhand, S. 25‐42.

Einschätzung 4.6:Die Handlungsmanuale überschätzen tendentiell die zur Verfügung stehende Zeit unter den gegenwärtigen Bedingungen der Bewährungshilfe und orientieren sich eher am Wünschenenwerten als am tatsächlich Umsetz-baren. Sie neigen zur Überformalisierung, die die praktische Arbeit eher behindert als erleichtert (z.B. Trennung von Hilfe und Kontrolle).

Die einfachere Standardisierbarkeit von Kontroll- im Vergleich zu Hilfsmaßnahmen führt ungewollt zu einer stärkeren Kontrollorientierung in den Handbüchern und in der Folge in der hierauf fußenden Praxis.

"Die Gefahr ist groß, in kritischen Situationen eher regel- anstelle von wissens- und urteilsbasiert zu handeln, obwohl die Komplexität eigentlich einen professionellen Zugang nahelegt, der darin bestünde, 'die beiden widersprüchlichen Elemente der professionellen Orientierung – die jeweils relevante allgemeine Wissensbasis (Theorieverstehen) und ein kunstvoll beherrschtes Verfahren eines hermeneutischen Zugangs zum Fall – auch unter Handlungsdruck – in Einklang zu bringen' (Dörr & Müller 2006: 6)." (Hongler / Keller 2015: 33f.)

"Die Figur des autonom agierenden, nur seiner Professionalität verpflichteten Sozialarbeiters könnte abgelöst werden durch die Figur eines nunmehr Ausführenden, der sich an den ,Handbüchern‘ und Instruktionen der Qualitätsverfahren und den betriebswirtschaftlichen Vorgaben des Managements orientiert". (Otto / Schnurr 2000: 16)

Manualisierung als Deprofessionalisierung

Risiko 5:Mitarbeiter*innencontrolling und "Dienst nach Vorschrift" Anfrage: Ist die Sorge der Bewährungshelfer*innen, nun auch selbst unter der Risikoperspektive gesehen und kontrolliert zu werden, nicht berechtigt? Welche Konsequenz hat allein diese Sorge?

Einschätzung 5:Der Fokus auf Risiken sowie die Manualisierung der "Behandlung" von Proband*innen verändert auch die Organisationskultur der Bewährungshilfe.Analog zur Arbeit mit den Proband*innen baut die neuerliche Risiko-orientierung nicht die Stärken der bisherigen Bewährungshilfe aus, sondern versucht ihre Defizite zu beseitigen. Sie trägt dazu von außen eine vermeintlich bessere fachliche Logik an diese heran, die für die Bewährungshelfer*innen jedoch kaum Anschlussmöglichkeiten an ihre eigenen professionellen Sinnbezüge bietet, individualisiert nur konsequent nun auch fachliches Versagen der Bewährungs-helfer*innen und kontrolliert dies beförderungsrelevant (also sank-tionsbewährt) gestützt auf die operationalisierten Kriterien der vorge-schriebenen Dokumentationsinstrumente. Dies produziert Reaktanzverbunden mit einem Sicherheitsbedürfnis auf Seiten der Bewäh-rungshelfer*innen, die sich als Folge entweder in einen 'Dienst nach Vorschrift' zurückziehen oder ins Burnout manövrieren.

Hanspeter Hongler / Samuel Keller (2015): Risiko in der Sozialen Arbeit und Risiko der Sozialen Arbeit –Spannungsfelder und Umgang. In: dies. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Risiko. Diskurse, Spannungsfelder, Konsequenzen, Wiesbaden: Springer VS, S. 21‐45.

wohlfahrtsstaatliche Bedarfsorientierung

neoliberale Leistungsorientierung

neosoziale Kontrollorientierung

St andar ds zur E r mö g lichung vo n

Tr anspar enz & R ef lexio n

St andar ds zur minist er iellen

S t euer ung & Ko nt r o lle

Risiko und Kontrolleauf Organisationsebene

Risiko und Kontrolleauf Organisationsebene

• Individualisierung von Versagen• Kultur der Beschämung• performance management

„Die Regulation (und Disziplinierung) von Sozialarbeitenden führt zu größeren Risiken, als wenn ihnen situative und fallbezogene Entscheidungen individuell überlassen werden (Littlechild 2008:670). In überregulierten Settings wird seitens der Sozialarbeitenden mehr verschwiegen (wie bspw. unange-messenes Verhalten der Sozialen Arbeit gegenüber der Klientel) und folglich kann aus diesen Situationen nichts gelernt und kein Wissen gesichert werden“ (Hongler/Keller 2015: 35).

„Das ‚performance management system‘ wiederum beruht auf der systematischen Beschreibung der Praxis anhand von Audits und standardisierten Feedbackschlaufen, um schließlich Regeln und Vorgaben für eine ‚gute‘ Praxis bestimmen und mit einem entsprechenden Leistungsbeurteilungssystem individuell überprüfen zu können. Dabei sieht Munro die große Schwierigkeit darin, zu spezifizieren, welche Informationen zurückfließen und welche ‚vergessen‘ gehen, weil sie durch das Raster fallen. ‚For social work, this has been problematicand led to feedback being based on an very biased set of data that omits some ofthe key quality aspects of a relationship-based service‘ (Munro 2010: 1144).

Dadurch wächst aber nicht nur die Gefahr von Überregulierung und damit verbundener Scheinsicherheit, sondern gleichzeitig wird es immer schwieriger, eine funktionierende Fehlerkultur zu etablieren. ‚However, there is little explicit acknowledgment of the extent of uncertainty in the knowledge base and thisposes a risk of overconfidence that discourages learning‘ (ebd.). Das Ausbalancieren notwendiger Risiken zur Entwicklung von Gesellschaft, Profession, Organisation und/oder Individuen (vgl. Brown 2010) und nicht verantwortbarer Konsequenzen hat sich zunehmend zugunsten der statischen Vermeidung jeglicher [|] Risikosituationen verschoben (Taylor 2013:108). Dementsprechend fällt auf, dass im Umgang mit Fehlern und Tabus viele Defizite und Ängste seitens der Sozialarbeitenden bestehen, weil zu wenige oder dann zu viele Informationen, was zu tun und zu lassen sei, existieren (Rosenbauer 2007:47). Wenn das Nennen möglicher Fehler ein Risiko darstellt, ist auch die Diskussion über die Risikosituation, die ggf. zu Fehlern führen könnte, ein Risiko.“ (Hongler/Keller 2015: 35f.)

Zusammenfassung: Anfragen an den gegenwärtigen Umbau zur Risikoorientierung1. Genügt die Art der Risikoeinschätzung den fachlichen und

ethischen Standards unserer Profession?2. Führt die risikoorientierte Eingruppierung in Kategorien mit

unterschiedlicher Betreuungsintensität zu mehr Effektivität und ist sie berufsethisch vertretbar?

3. Folgt die Risikoorientierung eher einem politischen Interesse als einer fachlichen Notwendigkeit?

4. Führt der Fokus auf Gewalt- und Sexualstraftaten zu einer Therapeutisierung, der künftig eher Psycholog*innen gerecht werden? Gehen der ganzheitliche Ansatz der Sozialen Arbeit und damit ihre eigenen kriminalpräventiven Potentiale verloren?

5. Ist die Sorge der Bewährungshelfer*innen, nun auch selbst unter der Risikoperspektive gesehen und kontrolliert zu werden, nicht berechtigt? Welche Konsequenz hat allein diese Sorge?