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ZUR DISKUSSION GESTELLT / NEUPOSITIONIERUNG DER INFORMATIK } Die Rolle der Informatik im gesellschaftlichen Diskurs Eine Neupositionierung der Informatik Timo Glaser Entwicklungen im Be- reich der Informations- und Kommunikations- technologie führen derzeit zu fundamen- talen Umwälzungen der Gesellschaft. Eine Beschleunigung des Lebens und das Ver- schwimmen von Beruf und Privatleben sind nur zwei Beispiele hierfür. Ein Abweichen von dem gesellschaftlichen Ideal des mobilen, jungen und dynamischen Mitarbeiters erweist sich häufig als Weg in das Einsiedlerdasein eines Exoten. Ein Widerstreben gegen die wachsenden Begehrlich- keiten von Wirtschaft und Staat lässt das Individuum verdächtig erscheinen und kann zu einer weiteren Entkopplung aus der Gesellschaft führen. Eine entscheidende Auf- gabe bei gesellschaft- lichen Umwälzungen ist die der Reflexion und Kritik. Diese Rolle scheint mehr und mehr den Juristen zuzukom- men. Insbesondere beim Thema Daten- schutz erfolgt häufig eine Reduktion auf die Verfassungskonformität einzelner staatlicher Maßnahmen. Kritik sollte jedoch bereits weit früher geübt wer- den. Medien sollten diese zentrale Funktion unterstützen und der politische Diskurs sollte zu einer optimalen Lösung führen. Eine Gruppe, die in der De- batte viel beitragen könnte und müsste, wird häufig, wenn über- haupt, aufgrund ihres technischen Sachver- standes herangezogen – die Informatiker. Dies ist insbesondere verwunderlich, da Informatiker maßgeblich an der Veränderung der Gesellschaft beteiligt sind. Sie schaffen die technischen Grund- lagen für neue Formen der Interaktion. Doch das daraus resultierende Bild der Informatik als Computerwissenschaft beraubt Informatiker ihrer gesellschaftskritischen Funktion, da sie auf die Rolle von Technikern reduziert werden. Eine Positionierung und Darstellung der Informatik als Struktur- und Koordinationswissen- schaft sowie der Informatiker als interdisziplinäre Systementwickler und -analytiker würde es Infor- matikern ermöglichen die bedeutende Rolle der Gesellschaftskritiker einzunehmen und gehört zu werden. Die Informationsgesellschaft und ihre Architekten Als junger dynamischer Knowledge-Worker macht es für mich in der Informationsgesellschaft keinen Unterschied mehr wo ich lebe. Ich wechsele meinen Lebensmittelpunkt mindestens ein Mal pro Jahr und bin mir dessen kaum bewusst. Ganz gleich ob ich in Berlin, Shanghai, Boston oder Accra lebe, ich bin immer erreichbar. Ein Wochenende gibt es nicht. Jeder Tag ist Wochenende – oder jeder Tag ist ein Arbeitstag. Mein Leben ist ständig im Wandel, mein Handy (ein iPhone) und mein Laptop sind die einzigen Konstanten. Freunde habe ich überall und nirgendwo, potentieller Geschäftspartner ist jeder. Zentraler Teil dieses Lebens sind zwei Aspekte – Mobilität und ständige Erreichbarkeit. Fast überall auf der Welt ist das Internet schnell und beinahe DOI 10.1007/s00287-009-0324-y © Springer-Verlag 2009 Timo Glaser Technische Universität Berlin, Informatik und Gesellschaft, Sekretariat FR 5-10, Franklinstraße 28/29, 10587 Berlin E-Mail: [email protected] Informatik_Spektrum_32_3_2009 223

Die Rolle der Informatik im gesellschaftlichen Diskurs: Eine Neupositionierung der Informatik

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ZUR DISKUSSION GESTELLT / NEUPOSITIONIERUNG DER INFORMATIK }

Die Rolle der Informatikim gesellschaftlichen DiskursEine Neupositionierung der Informatik

Timo Glaser

Entwicklungen im Be-reich der Informations-und Kommunikations-

technologie führenderzeit zu fundamen-

talen Umwälzungender Gesellschaft. Eine

Beschleunigung desLebens und das Ver-

schwimmen von Berufund Privatleben sind nur

zwei Beispiele hierfür.Ein Abweichen von demgesellschaftlichen Ideal

des mobilen, jungenund dynamischen

Mitarbeiters erweistsich häufig als Weg in

das Einsiedlerdaseineines Exoten. Ein

Widerstreben gegen diewachsenden Begehrlich-

keiten von Wirtschaftund Staat lässt das

Individuum verdächtigerscheinen und kann

zu einer weiterenEntkopplung aus derGesellschaft führen.

Eine entscheidende Auf-gabe bei gesellschaft-lichen Umwälzungenist die der Reflexionund Kritik. Diese Rollescheint mehr und mehrden Juristen zuzukom-men. Insbesonderebeim Thema Daten-schutz erfolgt häufigeine Reduktion auf dieVerfassungskonformitäteinzelner staatlicherMaßnahmen. Kritiksollte jedoch bereitsweit früher geübt wer-den. Medien solltendiese zentrale Funktionunterstützen und derpolitische Diskurs solltezu einer optimalenLösung führen. EineGruppe, die in der De-batte viel beitragenkönnte und müsste,wird häufig, wenn über-haupt, aufgrund ihrestechnischen Sachver-standes herangezogen– die Informatiker. Dies

ist insbesondere verwunderlich, da Informatikermaßgeblich an der Veränderung der Gesellschaftbeteiligt sind. Sie schaffen die technischen Grund-lagen für neue Formen der Interaktion. Dochdas daraus resultierende Bild der Informatik als

Computerwissenschaft beraubt Informatiker ihrergesellschaftskritischen Funktion, da sie auf die Rollevon Technikern reduziert werden.

Eine Positionierung und Darstellung derInformatik als Struktur- und Koordinationswissen-schaft sowie der Informatiker als interdisziplinäreSystementwickler und -analytiker würde es Infor-matikern ermöglichen die bedeutende Rolle derGesellschaftskritiker einzunehmen und gehört zuwerden.

Die Informationsgesellschaftund ihre Architekten

Als junger dynamischer Knowledge-Worker machtes für mich in der Informationsgesellschaft keinenUnterschied mehr wo ich lebe. Ich wechsele meinenLebensmittelpunkt mindestens ein Mal pro Jahrund bin mir dessen kaum bewusst. Ganz gleich obich in Berlin, Shanghai, Boston oder Accra lebe,ich bin immer erreichbar. Ein Wochenende gibt esnicht. Jeder Tag ist Wochenende – oder jeder Tag istein Arbeitstag. Mein Leben ist ständig im Wandel,mein Handy (ein iPhone) und mein Laptop sind dieeinzigen Konstanten. Freunde habe ich überall undnirgendwo, potentieller Geschäftspartner ist jeder.

Zentraler Teil dieses Lebens sind zwei Aspekte –Mobilität und ständige Erreichbarkeit. Fast überallauf der Welt ist das Internet schnell und beinahe

DOI 10.1007/s00287-009-0324-y© Springer-Verlag 2009

Timo GlaserTechnische Universität Berlin,Informatik und Gesellschaft,Sekretariat FR 5-10,Franklinstraße 28/29, 10587 BerlinE-Mail: [email protected]

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kostenfrei geworden. China, aber auch viele afri-kanische Länder, haben weit mehr Mobilfunk- alsFestnetzanschlüsse. Selbst wenn der Wohnsitz fest-steht, Funknetzwerke und Mobilfunktechnologienermöglichen das Arbeiten von zuhause, im Büro,aber auch in einem Park oder Cafe. Daten sindüberall verfügbar, jederzeit, weltweit.

Da ich Kontakte überall auf der Welt habe, nutzeich die neue Welt der Kommunikationsmöglichkei-ten. Soziale Netzwerke wie StudiVZ, Xing, Facebookund LinkedIn prägen zwar nicht mein Leben, stellenjedoch ein wichtiges Kommunikationsmediumdar. Da Zeit ja bekanntlich knapp ist, telefoniertman selten mit Freunden, man schreibt schnelleinen Blogeintrag und lädt ein Foto oder ein kurzesVideo hoch. Dabei entstehen Datenspuren, die heutegewollt sind, in einigen Jahren jedoch unangenehm(oder auch fatal) sein können. Neben der privatenKommunikation gibt es noch zwei weitere Akteure,die Interesse an den Daten haben: Wirtschaft undStaat. Mit der Abwendung junger Menschen von denFernsehbildschirmen muss ein neuer Marketingka-nal gefunden werden. Unternehmen wie Amazonoder Google wissen mitunter mehr über mich alsmeine besten Freunde. Aber auch in der Offline-Welthinterlasse ich Spuren, die sich nicht mehr verwi-schen lassen. Auch hier versucht die Wirtschaft sichmit Hilfe von Kundenkarten, Auskunfteien, etc.ein möglichst genaues Bild von mir als Person zumachen. Größtenteils habe ich in diesem Bereichjedoch noch die Wahl. Ich kann mich gegen dievermeintlichen Vorteile meiner Datenspeicherungentscheiden. Keine Kontrolle habe ich jedoch beiEingriffen des Staates. Im Zuge der omnipräsentenTerrorgefahr sammelt der Staat Daten über mich,seien es biometrische Merkmale oder ein Profilmeiner Gewohnheiten (z.B. Reisedaten).

Da ich mir dieser Datensammlung bewusstbin, verändere ich mein Verhalten. Ich äußere michzu bestimmten Themen nicht öffentlich, da meineMeinung in einigen Jahren oder Jahrzehnten gegenmich verwendet werden kann. Eine Entpolitisierungder Gesellschaft ist die Folge.

So wie mir geht es vielen anderen Menschen aufder Welt, bewusst oder unbewusst. Die Beschleuni-gung des Lebens, durch gesteigerte Mobilität unddas Verschwimmen von Privatem und Beruf, unddie Transparenz der Bürger, welche letztendlich zueiner Entpolitisierung führt, sind allesamt durchtechnologischen Fortschritt möglich geworden.

Informatiker spielen beim Entwurf und Bau dernotwendigen Systeme eine zentrale Rolle. Dochwelche Rolle nehmen sie in der Kritik dieser Systemeein?

Informatiker als Strukturwissenschaftlerund notwendige Gesellschaftskritiker

Lawrence Lessig spricht von vier Regulatoren, diein Systemen zum Vorschein kommen. Diese sinddas Recht (als staatliches Regulierungsinstrument),soziale Normen (als gemeinschaftliche Selbstregu-lation), Architektur (wobei er hier insbesonderetechnische Infrastruktur und Code betrachtet)sowie Märkte, vgl. [4, 5]. In der Vergangenheit undauch aktuell könnte man viele in der öffentlichenDiskussion auftretende Personengruppen den dreiBereichen Recht, Normen und Markt zuordnen.Politiker und Juristen wären dem Recht zugeordnet.Journalisten, aber auch Philosophen und Soziologen,welche sich in der Regel der Medien als Sprachrohrbedienen, könnten dem Bereich der sozialen Nor-men zugewiesen werden. Sie analysieren diese undhelfen sie zu formen und zu verändern. Der Marktkönnte für die Unternehmen stehen, auch wenn erals Regulator sicher nicht von einzelnen Unterneh-men sondern der Geschäftswelt als Ganzem abhängt.Im öffentlichen Diskurs tritt jedoch selten eine tech-nische oder besser informatische Sichtweise zutage.Dies führt zu einem Fehlen des Fachverständnissesund einer unzureichenden Abschätzung der Folgentechnischer Entwicklungen.

Informatiker, als die eigentlichen Erschaffer derSysteme, sind zumindest mitverantwortlich für diederzeitigen fundamentalen Umwälzungen in derGesellschaft. Code und technische Infrastrukturkönnen als Regulatoren neben Recht, Normenund dem Markt angesehen werden. Somit sindInformatiker nicht nur die Entwickler technischerSysteme sondern Architekten unserer Gesellschaft.Sie können Regeln setzen und Verhalten regulieren.Nichtsdestotrotz entziehen sie sich häufig ihrergesellschaftlichen Verantwortung bzw. werdendieser enthoben.

Der Hauptgrund hierfür ist, dass die Rolle einesInformatikers oft mit der eines Technikers gleich-gesetzt wird. Der englische Name der Disziplin,Computer Science, drückt bereits das Bild der Infor-matik in der Gesellschaft aus. Es handelt sich umdie Computerwissenschaft. Die Aufgabe des Infor-matikers ist also auf den Entwurf, die Entwicklung

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und Vernetzung von Hard- und Software, den zen-tralen Komponenten eines Computers, beschränkt.Durch diese enge Auffassung der Informatik werdenInformatiker als technische Entwickler, beinahehöchstqualifizierte Zuarbeiter, angesehen. Einegesellschafts- bzw. systemkritische Funktion kannihnen, aufgrund ihrer scheinbar eingeschränktentechnischen Sichtweise, nicht zugebilligt werden.

Dieses unzureichende Bild verwundert, wennman Aussagen von führenden Informatikern be-trachtet. Eine Kritik an der Sicht auf die Informatikals Computerwissenschaft äußerte beispielsweisebereits Edsger W. Dijkstra.1

Computer science is no more about computersthan astronomy is about telescopes.

Edsger W. Dijkstra

Computer sind also nicht das zentrale Thema,welches die Informatik beschäftigt, sondern viel-mehr Werkzeuge, deren sie sich bedient. Informatiksollte nicht als Computerwissenschaft, sondernals Struktur- und Koordinationswissenschaftangesehen werden.

Hermann J. Forneck drückt diese Forderungpointiert aus, beschränkt sich jedoch unnötiger-weise selbst durch den letzten Teil seiner Aussage:„Mit der Etablierung der Informatik entwickeltsich diese innerhalb kurzer Zeit zu einer Struktur-wissenschaft. Unter Strukturwissenschaft versteheich, dass die Informatik Kategorien, Verfahren undRegeln bereitstellt, mit deren Hilfe Phänomene ausder Wirklichkeit in eine Struktur überführt werden,die eine unmittelbare Transformation in Program-miersprachen erlaubt“, vgl. [3]. Abgesehen von derEinschränkung auf die Transformation in Program-miersprachen, welche er auch nur als möglich,aber nicht als notwendig ansieht, beschreibt seineAussage eine künftige Positionierung der Informatikexzellent.

Informatiker lernen Strukturen zu erkennenund zu analysieren. Hierfür ist es unerheblich, obes sich um technische Systeme oder Strukturenin Unternehmen bzw. der Gesellschaft handelt.Grundlegend hierbei ist das Erkennen und Steuernvon Hebeln, welche einen Einfluss auf die Funkti-onsweise des Gesamtsystems haben. Des Weiteren

1 Das Zitieren von Dijkstra bedeutet weder eine Positionierung auf seiner Seiteim öffentlich ausgetragenen Streit bezüglich der idealen Lehrform für dieInformatik noch Zustimmung zu seiner Sichtweise auf die Inhalte der Informatikals Disziplin, vgl. [2]

ist es Aufgabe der Informatiker Koordinationsmög-lichkeiten für diese Systeme zu entwerfen, welchedie Funktionsweise der Systeme verbessern undkleinere Teilsysteme zu einem funktionstüchtigenGesamtsystem zusammenschließen. Aus diesemGrund ist die Informatikausbildung vielfach miteinem fokussierten Studium Generale gleichzuset-zen. Ein ideales Curriculum bietet eine weitgehendeWahlfreiheit, so dass Kurse anderer Disziplinenbesucht werden können. Einerseits bedienen sichInformatiker, auch reduziert auf die Aufgabe des Sys-tementwicklers, der Theorien anderer Disziplinen.2

Andererseits müssen sie Anforderungen und Beson-derheiten der anderen Felder verstehen, um Systemezu schaffen, welche die Bedürfnisse der Anwenderbefriedigen.

Tim Berners-Lee postulierte im Jahr 2006, ge-meinsam mit einigen Kollegen, eine neue Disziplin,welche sie Web Science nannten. Das Ziel der neuenDisziplin soll die Analyse und Weiterentwicklungdes World Wide Web sein. Hierzu schrieben sieder neuen Wissenschaft die Notwendigkeit derInterdisziplinarität zu. Ziel sei es nicht nur das Webtechnisch zu verstehen und weiterzuentwickeln,sondern vor allem auch Kenntnisse über die In-teraktion der Benutzer mit dem Web zu erlangenund auf ihre Bedürfnisse einzugehen.3 So neu undprovokativ dieser Ansatz im Vergleich mit demklassischen Bild der Informatik auch sein mag,Ben Shneiderman kritisiert ihn als noch nichtweitgehend genug. Er fordert eine noch stärkereInterdisziplinarität, so dass unter anderem Fragennach dem Grund der Popularität und des Erfolgeseinzelner Online-Portale und generischer Konzepte,wie beispielsweise sozialer Netzwerke, als Teil derWeb Science geklärt werden können, vgl. [7, S. 26].Aber selbst Shneidermans Ansatz scheint nichtweitreichend genug zu sein. Eine Eingrenzung aufdie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit demWorld Wide Web als Medium ist aktuellen techni-schen Entwicklungen zuzuschreiben und sollte nichtdie künftige Positionierung der Informatik darstel-len. Web Science sollte als Teilbereich der Informatik

2 Der Einsatz Neuronaler Netze in der Künstlichen Intelligenz ist ein passendesBeispiel hierfür. Aber auch in der Softwaretechnik und allen anderen informa-tischen Teildisziplinen finden sich Theorien anderer Disziplinen wieder. HeinzZemanek, einer der Computerpioniere, reflektiert das Stehlen aus anderenBereichen mit den Worten: „In der Technik ist nicht das Übernehmen die Sünde,sondern das schlechte Übernehmen!“, vgl. [8, S. 20]3 „[...] human interactions are [...] governed by social conventions and laws. WebScience, therefore, must be inherently interdisciplinary“, vgl. [1]

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angesehen werden, welcher sich mit einem Mediumund seinen technischen, sozialen und rechtlichenAspekten auseinandersetzt. Sie ist aufgrund dergeforderten Interdisziplinarität ein Schritt in dierichtige Richtung, muss dabei aber von anderenTeilbereichen der Informatik in dieser interdiszi-plinären Herangehensweise begleitet werden. DesWeiteren sollte sie als Beispiel gesehen werden undden Weg für eine Positionierung der Informatik alsStruktur- und Koordinationswissenschaft bereiten.Eine Beschränkung der Informatik auf die Betrach-tung technischer Systeme und ihrer Folgen stellteine unnötige Eingrenzung dar, wenn Informatikeraufgrund ihrer Methodenkompetenz auch wertvolleBeiträge zum Verständnis anderer Systeme wieUnternehmen und Gesellschaftsstrukturen leistenkönnen.

Es ist anzumerken, dass diese Methodenkom-petenz den ursprünglichen Anwendungsfeldern derInformatik entstammt, welche häufig im Bereichder Technologie zu finden sind. Das Bewusstsein fürdiesen Ursprung ist unabdingbar, um die Gemein-samkeiten der erlernten und durch Informatikerangepassten Methoden zu verstehen. So könneninformatische Herangehensweisen wie die syste-matische Analyse, die Zerlegung von komplexenSystemen in Teilsysteme und das Prinzip der Fehler-korrektur als technologische Methoden angesehenwerden. Letzteres, das Prinzip der Fehlerkorrektur,sieht Karl Popper als „wichtigste Methode der Techno-logie und des Lernens überhaupt. [...] einige von unsversuchen, bewusst aus Fehlern zu lernen. Das tunzum Beispiel alle Wissenschaftler und Technologenund Techniker, oder wenn sie es nicht tun, so solltensie es tun; denn genau darin liegt ihre beruflicheKompetenz“, vgl. [6, S. 256]. Er nennt des Weiterendie Aufgabe der Kritik – sei es Technologie- oder Ge-sellschaftskritik – explizit als die Berufskompetenzdes Technikers.

Einer der wenigen Informatiker, der sich dieserAufgabe gestellt und sie ausgefüllt hat, war JosephWeizenbaum. Mit seinem Hauptwerk ComputerPower and Human Reason stellte er bereits vorüber 30 Jahren viele der heutigen gesellschaftli-chen Probleme pointiert dar. Er selbst sah sich alsGesellschafts- und nicht als Technologiekritiker. Sosagte er häufig über sich selbst: „Ich bin kein Com-puterkritiker. Computer können mit Kritik nichtsanfangen. Ich bin Gesellschaftskritiker.“ Bemerkens-wert ist, dass er seine Kritik aus einer informatischen

Sichtweise heraus übte, aber eine Leserschaft beein-flusst hat, die weit über die Informatiker hinaus geht.Heute fehlen Weizenbaums Nachfolger, deren Kritikin der Wissenschaft und vor allem in der Gesellschaftaufgenommen wird und diese verändert.

Problematisch ist, dass Informatiker im gesell-schaftlichen Diskurs nicht wahrgenommen werden,obwohl die Berufskompetenz der Informatiker alsGesellschaftskritiker zu agieren kaum angezwei-felt werden kann. Ursächlich hierfür ist, dass dieAusbildung sowie die Fähigkeiten der Informati-ker, und daraus folgend ihre potentielle Rolle inder Gesellschaft, nicht mit ihrem öffentlichen Bildübereinstimmen. Um ihre Rolle auszuschöpfen,gesellschaftliche Entwicklungen zu hinterfragen undim öffentlichen Diskurs zu beeinflussen, scheint eineNeupositionierung der Informatik als Struktur- undKoordinationswissenschaft unabdingbar.

Die künftige Rolle der Informatikin der Gesellschaft

Grundlegende Veränderungen unserer Gesellschaft,wie ihre kontinuierliche Beschleunigung und Ano-nymisierung, das Verschwimmen von beruflichemund privatem Leben sowie der Abbau der Bürger-rechte durch den Ausbau der Überwachung, führenalle zu ähnlichen Problemen – der Entpolitisierungder Gesellschaft, dem Abbau der Individualität undschlussendlich der Angleichung des Großteils derBürger. Bei genauerer Betrachtung wurden dieseVeränderungen durch eine gemeinsame Entwick-lung angestoßen. Die technische Entwicklung sowiedie Verbreitung von neuen Informations- und Kom-munikationstechnologien ermöglicht und verstärktdiese Umwälzungen.

Informatiker schaffen diese technischen Lö-sungen und sind somit aktiv an den beschriebenengesellschaftlichen Entwicklungen beteiligt. Einer-seits stellen diese Lösungen nur eine Reaktionauf gesellschaftliche Bedürfnisse dar, andererseitslegen sie die Grundlagen für Ausprägungen derbeschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen.Sie ermöglichen eine Beschleunigung der Entwick-lung und wirken aus diesem Grund als Triebfederfür Prozesse wie die Erhöhung des Lebenstemposund die Angleichung der Bürger. InformatischeSysteme bestimmen somit verstärkt die Ausprägungunseres Zusammenlebens. Informatiker können undsollten somit als Architekten unserer Gesellschaftangesehen werden.

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Umso mehr verwundert es, dass diese Architek-ten selten in den öffentlichen Diskurs einbezogenwerden. So könnten sie doch aufgrund ihres brei-ten Verständnisses für technische Entwicklungenund gesellschaftliche Zusammenhänge viel zurReflexion, der kritischen Betrachtung aktuellerUmwälzungen, beitragen. Die fehlende Integrationder Informatiker in die gesellschaftliche Debatteliegt in ihrem öffentlichen Ansehen begründet.Da die Disziplin der Informatik für die meistenBürger ein Synonym für Computerwissenschaftdarstellt, werden Informatiker als technische Ex-perten angesehen. Als solche werden sie, wennüberhaupt, in der Rolle eines technischen Sach-verständigen in den Diskurs eingebunden und denMöglichkeiten der konstruktiven Gesellschaftskritikenthoben. Wenn sie sich zu Wort melden wirdihnen häufig implizit eine begrenzte Sichtweiseunterstellt.

Eine Betrachtung der informatischen Ausbil-dung zeigt, dass das Bild der Informatiker in derGesellschaft nicht ihren Fähigkeiten entspricht.Damit Informatiker die bedeutende Rolle der Ge-sellschaftskritiker einnehmen können und gehörtwerden, bedarf es einer Neupositionierung derInformatik. Eine Positionierung und Darstellung derInformatik als Struktur- und Koordinationswissen-schaft und der Informatiker als interdisziplinäre

Systementwickler und -analytiker würde einverändertes Selbstbild und eine differenziertereWahrnehmung in der Gesellschaft bedeuten. Somitkönnten Informatiker ihrer architektonischen Rollein der Gesellschaft gerecht werden und selbst- sowiefremdinitiierte Entwicklungen hinterfragen.

Als aktives Mitglied der Gesellschaft, kritischerBeobachter und bekennender Informatiker, würdeich mir eine Neupositionierung der Informatikwünschen. Zur Abschätzung der Folgen technischerEntwicklungen, der Analyse und Reflexion von Ver-änderungen der Gesellschaft als Ganzes und somitzur künftigen Entwicklung unserer Gesellschaftsollten Informatiker einen unverzichtbaren Beitragleisten.

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