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STUDIE EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments Bibliothek der Rechtsvergleichung November 2016 - PE 593.504 Die Rolle der Verfassungsgerichte in der „Multi-Level- Governance“ Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht

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STUDIEEPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

Bibliothek der Rechtsvergleichung

November 2016 - PE 593.504

Die Rolle derVerfassungsgerichtein der „Multi-Level-Governance“Deutschland:DasBundesverfassungsgericht

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EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

DIE ROLLE DER VERFASSUNGSGERICHTEIN DER „MULTI-LEVEL-GOVERNANCE“:

EINE PERSPEKTIVE DER RECHTSVERGLEICHUNG

Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht

STUDIE

November 2016

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Studie

II

AUTOR

Diese Studie wurde von Prof. Dr. Bettina Schöndorf-Haubold von der Universität Gießenverfasst, im Auftrag des Referats Bibliothek der Rechtsvergleichung in der Generaldirektiondes wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (GD EPRS), Generalsekretariatdes Europäischen Parlaments.

VERANTWORTLICHE BEAMTER

Ignacio Díez Parra, Referatsleiter der Bibliothek der RechtsvergleichungWenn Sie sich an das Referat wenden möchten, schreiben Sie eine E-Mail an:[email protected]

SPRACHFASSUNGEN

Original: DE

Übersetzungen: ES, EN, FR, IT

Dieses Dokument ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar:http://www.europarl.europa.eu/thinktank

HAFTUNGSAUSSCHLUSS

Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments;eventuelle Meinungsäußerungen entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt desEuropäischen Parlaments. Das Dokument richtet sich an die Mitglieder und Mitarbeiter desEuropäischen Parlaments und ist für deren parlamentarische Arbeit bestimmt. Nachdruckund Übersetzung zu nicht-kommerziellen Zwecken mit Quellenangabe gestattet, sofern derHerausgeber vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.

Redaktionsschluss: November 2016.

Brüssel, © Europäische Union, 2016.

PE 593.504

ISBN 978-92-846-0256-8

DOI:10.2861/100755

QA-04-16-981-DE-N

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Die Rolle der Verfassungsgerichte in der „Multi-Level-Governance“.Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht

III

InhaltAbkürzungsverzeichnis ........................................................................................................ V

Zusammenfassung............................................................................................................... VI

I. Einleitung..................................................................................................................... 1

II. Die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts............................... 3II.1. Ernennungsvoraussetzungen .......................................................................................................3II.2. Zusammensetzung des Gerichts..................................................................................................4II.3. Die Wahl und die Ernennung der Richterinnen und Richter des

Bundesverfassungsgerichts ...........................................................................................................4II.3.1. Die Regelung des Wahlverfahrens durch den Bundestag bzw. durch den

Bundesrat ......................................................................................................................................4II.3.2. Vorbereitung der Wahl.............................................................................................................5II.3.3. Vorschlagsverfahren .................................................................................................................5II.3.4. Praxis der Richterwahl und verfassungsgerichtliche Bewertung .............................5

II.4. Wahl des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts....6II.5. Amtszeit und Ausscheiden aus dem Amt.................................................................................6

II.5.1. Die Amtszeit der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts ......6II.5.2. Verfahren zur Versetzung in den Ruhestand....................................................................7II.5.3. Entlassung aus dem Amt.........................................................................................................7

II.6. Gewähr der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter: Immunität,Inkompatibilität und Befangenheit.............................................................................................8

II.6.1. Immunität .....................................................................................................................................8II.6.2. Keine Wiederwahl ......................................................................................................................8II.6.3. Inkompatibilität ..........................................................................................................................8II.6.4. Richterausschluss und Ablehnung wegen Befangenheit............................................9II.6.5. Besetzungsrüge und Befangenheitsantrag................................................................... 11

II.7. Vertretungsregelungen................................................................................................................ 11

III. Die interne Organisation des Gerichts..................................................................... 13III.1. Gerichtsverfassung und Zuständigkeiten: Plenum, Senate und Kammern .............. 13

III.1.1. Senatsprinzip ............................................................................................................................ 13III.1.2. Die Kammern der Senate...................................................................................................... 14III.1.3. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts................................................................ 15III.1.4. Die Beschwerdekammer....................................................................................................... 17

III.2. Das Gericht als Verfassungsorgan ............................................................................................ 17III.2.1. Geschäftsordnungsautonomie .......................................................................................... 18III.2.2. Haushaltsautonomie.............................................................................................................. 18III.2.3. Dienstaufsicht........................................................................................................................... 18

III.3. Verwaltungsaufbau des Gerichts und weitere Einrichtungen ....................................... 19III.3.1. Ausschüsse ................................................................................................................................ 19III.3.2. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ................................................ 19III.3.3. Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts ................................................................ 19

IV. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts ........................................... 20IV.1. Übersicht über die einzelnen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht......... 20IV.2. Systematisierung der wichtigsten Verfahren ....................................................................... 23

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Studie

IV

IV.2.1. Verfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsakten.......... 23IV.2.2. Föderative Kompetenzkonflikte ........................................................................................ 27IV.2.3. Organstreitigkeiten ................................................................................................................ 28IV.2.4. Verfassungsbeschwerde....................................................................................................... 29IV.2.5. Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Ratifikation völkerrechtlicher

Verträge ...................................................................................................................................... 31

V. Antragsbefugnis, Aktivlegitimation und Zugang zum Bundesverfassungsgericht32V.1. Kreis der Beteiligten und Antragsberechtigten................................................................... 32

V.1.1. Abstrakte Normenkontrolle................................................................................................. 32V.1.2. Föderative Verfassungsstreitverfahren ........................................................................... 32V.1.3. Organstreitverfahren ............................................................................................................. 33

V.2. Sonderfall der Verfassungsbeschwerde: Das Bundesverfassungsgericht alsBürgergericht ................................................................................................................................... 33

V.2.1. Beteiligtenfähigkeit und Beschwerdebefugnis............................................................ 34V.2.2. Subjektive und objektive Grundrechtsverwirklichung.............................................. 34V.2.3. Beschränkung der Prüfung spezifischen Verfassungsrechts im Rahmen der

Urteilsverfassungsbeschwerde .......................................................................................... 35V.2.4. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität..................................................................... 35V.2.5. Annahmeverfahren ................................................................................................................ 36

VI. Grundsätze des Verfahrens ...................................................................................... 37VI.1. Allgemeine Verfahrensgrundsätze........................................................................................... 37

VI.1.1. Allgemeine und besondere Verfahrensregeln ............................................................. 37VI.1.2. Beschlussfassung des Gerichts........................................................................................... 38

VI.2. Fristen ................................................................................................................................................. 39VI.3. Vorläufiger Rechtsschutz ............................................................................................................. 39

VI.3.1. Suspensiveffekt........................................................................................................................ 39VI.3.2. Eilrechtsschutz nach § 32 BVerfG ...................................................................................... 39

VII. Entscheidungswirkung und Vollstreckung ............................................................. 41VII.1. Entscheidungsausspruch............................................................................................................. 41

VII.1.1. Verfahren der Normenkontrolle ........................................................................................ 41VII.1.2. Kontradiktorische Verfahren ............................................................................................... 42VII.1.3. Verfassungsbeschwerde....................................................................................................... 42

VII.2. Entscheidungswirkung................................................................................................................. 42VII.2.1. Rechtskraft ................................................................................................................................. 42VII.2.2. Bindungswirkung.................................................................................................................... 43VII.2.3. Gesetzeskraft............................................................................................................................. 43

VII.3. Durchsetzung und Vollstreckung............................................................................................. 43

VIII. Schluss........................................................................................................................ 45

Bibliographie....................................................................................................................... 46

Web-Seiten des Bundesverfassungsgerichts mit einer Selbstdarstellung, den rechtlichenGrundlagen sowie statistischen Angaben (zuletzt abgerufen am 29.8.2016).................. 48

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V

Abkürzungsverzeichnis

aa.O. am angegebenen Ort

Abs. Absatz

Art. Artikel

Aufl. Auflage

Az. Aktenzeichen

Bd. Band

BGBl Bundesgesetzblatt

BGH Bundesgerichtshof

BVerfG Bundesverfassungsgericht

BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz

ders. derselbe

dies. dieselbe

ebda. ebenda

EL Ergänzungslieferung

ff. fortfolgende

GG Grundgesetz

GO BVerfG Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts

HbStR/HStR Handbuch des Staatsrechts

Hrsg. Herausgeber

HS. Halbsatz

iVm in Verbindung mit

JURA Juristische Ausbildung

JuS Juristische Schulung

mwN. mit weiteren Nachweisen

NJW Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)

PUAG Gesetz zur Regelung der Rechte der Untersuchungsausschüsse desDeutschen Bundestages (Untersuchungsausschussgesetz)

Rn. Randnummer

s. siehe

S. Satz / Seite / Siehe

vgl. Vergleiche

ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik

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Studie

VI

ZusammenfassungDie im geschichtlichen Rückblick wie auch im Rechtsvergleich einzigartige Stellung desdeutschen Bundesverfassungsgerichts lässt sich mit einem Blick auf die Bedingungen seinerZusammensetzung und Organisation, seiner Zuständigkeiten undEntscheidungsmöglichkeiten nachzeichnen und erklären.

Rechtsgrundlage für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist zum einen dasGrundgesetz, das die institutionellen und prozeduralen Grundzüge der deutschenVerfassungsgerichtsbarkeit regelt, und zum anderen das Bundesverfassungsgerichtsgesetz,in dem der Gesetzgeber einige allgemeine Verfahrensregelungen sowie die wesentlichenVoraussetzungen der zahlreichen Verfahren in der Zuständigkeit des Gerichts bestimmt.

Das Grundgesetz konstituiert das Bundesverfassungsgericht in Art. 92 GG als Teil derrechtsprechenden Gewalt. Es ist ein reines Juristengericht, das aus zwei Senaten mit je achtRichterinnen und Richtern gebildet wird. Diese werden je zur Hälfte von Bundestag undBundesrat für eine Amtszeit von 12 Jahren gewählt. Eine Wiederwahl ist ausgeschlossen.Bestimmungen über die Unvereinbarkeit mit anderen Ämtern und Berufen (mit Ausnahmeder Tätigkeit als Hochschullehrer) wie auch verfahrensbezogene Ausschluss- undAblehnungsmöglichkeiten sichern die Unabhängigkeit und Neutralität der Richterinnen undRichter im Amt.

Grundsätzlich entscheidet das Gericht durch einen der beiden Senate, sofern nicht die zurEntlastung des Gerichts bei den Senaten gebildeten, aus drei Richterinnen und Richternbestehenden Kammern insbesondere in den Verfahren zur Annahme einerVerfassungsbeschwerde zur Entscheidung berufen sind. Nur ausnahmsweise entscheidet dasGericht im Plenum, vor allem auf Vorlage eines Senats bei einer divergierendenSenatsrechtsprechung.

Aus seinem Status als Verfassungsorgan neben Bundespräsident, Bundestag,Bundesregierung und Bundesrat leitet das Gericht eines gewisse, vom Gesetzgeber aucheinfachrechtlich anerkannte Selbständigkeit ab. Es untersteht nicht dem Justizministerium,gibt sich eine Geschäftsordnung und verfügt über einen eigenen Einzelplan imBundeshaushalt. Oberster Dienstherr der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen undMitarbeiter wie auch des Verwaltungspersonals ist der Präsident des Gerichts.

Das Gericht verfügt über eine umfassende Entscheidungszuständigkeit auf der Grundlageihm insbesondere durch Art. 93 GG einzeln zugewiesener Zuständigkeiten und Verfahren.Die wichtigsten Verfahren lassen sich nach ihrem Gegenstand systematisch verschiedenenTypen zuordnen: objektive Normenkontrollen, föderale Streitigkeiten undOrganstreitigkeiten und Verfassungsbeschwerden. Die Verfassungsbeschwerde nimmt einezum Teil typenübergreifende Sonderstellung ein.

Allen Verfahren ist gemeinsam, dass das Gericht nicht von Amts wegen, sondern nur aufAntrag eines Antragsberechtigten tätig werden kann. Die Verfahren richten sich vorrangigauf eine nachträgliche Kontrolle. Verfahren der präventiven Kontrolle insbesondere vonNormen oder von völkerrechtlichen Verträgen kennt das deutsche Verfassungsprozessrechtgrundsätzlich nicht.

Der umfassenden Bindung insbesondere des Bundesgesetzgebers an die Vorgaben desGrundgesetzes dient die abstrakte Normenkontrolle in Form eines objektivenBeanstandungsverfahrens. Die konkrete Normenkontrolle manifestiert und sichert dasNormverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf

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nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze. Im kontradiktorischen Organstreitverfahren könnendie antragsberechtigten Organe und Organteile eine Beeinträchtigung ihrerorganschaftlichen Rechte geltend machen. Ähnliche Regelungen gelten für den Streitzwischen Bund und Ländern oder zwischen einzelnen Ländern. Die Verfassungsbeschwerdeals außerordentlicher Rechtsbehelf eröffnet schließlich dem Einzelnen den Zugang zumBundesverfassungsgericht mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seinerGrundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. Sie stellt das zahlenmäßighäufigste Verfahren dar und ist zur Entlastung des Gerichts einem Annahmeverfahren in denKammern unterworfen.

Der Kreis der Antragsberechtigten variiert in Abhängigkeit vom Verfahrensziel. So kennendie abstrakte Normenkontrolle und die kontradiktorischen Verfahren lediglich bestimmteAntragsberechtigte bzw. mögliche Beteiligte. Im Unterschied dazu kann eineVerfassungsbeschwerde von jedermann erhoben werden und kann bzw. muss auch jedesGericht Fälle möglicher verfassungswidriger Gesetze dem Bundesverfassungsgericht imWege der konkreten Normenkontrolle vorlegen. Bei der Überprüfung fachgerichtlicherEntscheidungen beschränkt sich das Gericht auf eine Prüfung spezifischenVerfassungsrechts.

Unbeschadet gesetzlicher Sonderreglungen entscheidet das Bundesverfassungsgericht mitder Mehrheit der an einer Entscheidung beteiligten Mitglieder des jeweiligen Senats.Während die Beratungen grundsätzlich geheim sind, können sowohl das Stimmenverhältniswie auch einzelne abweichende Meinungen als Sondervoten veröffentlicht werden.

Eine strikte Fristbindung existiert vor allem für die kontradiktorischen Streitigkeiten und dieVerfassungsbeschwerde, nicht aber für die konkrete und abstrakte Normenkontrolle.Eilrechtsschutz kann im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG auf derGrundlage einer doppelten Folgenabschätzung gewährt werden.

Allen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt Bindungswirkung für allestaatlichen Organe zu. In den Fällen der Normenkontrolle wie auch derVerfassungsbeschwerde kann das Gericht darüber hinausgehend mit Gesetzeskraft über dieVerfassungsmäßigkeit von Normen entscheiden.

Der Gang nach Karlsruhe wie auch der Blick nach Karlsruhe verschaffen demBundesverfassungsgericht als starker Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Aufgabe derletztverbindlichen Verfassungsinterpretation eine zentrale Rolle in der deutschenRechtswirklichkeit und Modellcharakter weit über die Grenzen der BundesrepublikDeutschland hinaus.

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Die Rolle der Verfassungsgerichte in der „Multi-Level-Governance“.Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht

1

I. EinleitungAm 7. September 1951 hat das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage von Art. 92 ff.GG nach Inkrafttreten des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes1 seine Arbeit in Karlsruheaufgenommen. Es „wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes für die BundesrepublikDeutschland“2. Wegen seiner umfassenden Befugnisse und seiner herausragendenBedeutung im deutschen Verfassungsgefüge kommt ihm eine Sonderstellung sowohl in dergeschichtlichen Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit als auch im internationalenRechtsvergleich zu3.

Die Schaffung einer starken, unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit in der jungenBundesrepublik Deutschland ist zunächst insbesondere als Reaktion auf die Erfahrungweitestgehender Rechtlosigkeit im Nationalsozialismus zu sehen4. Ein unmittelbaresinstitutionelles Vorbild ähnlicher Wirkmacht gibt es in der deutschen Geschichte nicht5. Zwarhat die Verfassungsgerichtsbarkeit in föderativen Streitigkeiten zwischen Zentral- undGliedstaaten eine längere Tradition6; die umfassenden Befugnisse vor allem zur materiellenKontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen haben sich jedoch erst in der WeimarerRepublik und in der Bundesrepublik entwickelt7. Lediglich die nicht in Kraft getretene

1 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG) v. 12.3.1951 in derFassung der Bekanntmachung vom 11.8.1993 (BGBl. I S. 1473), zuletzt geändert durch Art. 8 der Verordnungvom 31.8.2015 (BGBl. I S. 1474); zur Gründungsphase des Gerichts Robbers, in: Umbach/Clemens/Dollinger(Hrsg.), BVerfGG Mitarbeiterkommentar, I., S. 8 Rn. 29; zum Sitz s. das Gesetz über den Sitz desBundesverfassungsgerichts, BGBl. I 1951, S. 288; in § 1 Abs. 2 BVerfGG wurde die vorläufige Regelung desSitzes in Karlsruhe in einen endgültige überführt. Auch äußerlich soll damit die Distanz derVerfassungsgerichtsbarkeit zu Regierungssitz und Politik dokumentiert werden; so Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 19.

2 So die Selbstbeschreibung des Gerichts unter http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Aufgaben/aufgaben_node.html (zuletzt abgerufen am 29.8.2016); zur Aufgabe derVerfassungssicherung als wesentlicher Funktion einer Verfassungsgerichtsbarkeit Böckenförde, NJW 1999, 9 ff.

3 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 1 ff.; Robbers, JuS 1990, 257; Farahat, in: vonBogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn. 1; Jestaedt, in:ders./Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 77 (149 f.); Häberle, in: Badura/Dreier (Hrsg.); 50Jahre BVerfG Bd. I, S. 311 ff.

4 Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 281 (285): Einrichtung einerspezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit als „typische institutionelle Reaktion auf totalitäre Erfahrungen“.

5 Zur Geschichte s. Robbers, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG Mitarbeiterkommentar, I., S. 3 ff.;ders., JuS 1999, 257 ff.; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, Art. 93 Rn. 3 ff.; Roellecke, in:Kirchhof/Isensee (Hrsg.), HStR III, § 67 Rn. 5 ff.; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 2ff.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 1 ff.; Farahat, in: von Bogdandy/Grabenwarter/Huber(Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn. 2 ff.

6 Mit den mittelalterlichen Institutionen des königlichen Hofgerichts und des späteren königlichenKammergerichts wie auch der sogenannten Austrägalgerichtsbarkeit als institutionalisierterSchiedsgerichtsbarkeit in föderalen Streitigkeiten, die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation durchdas Reichskammergericht und den Reichshofrat durchgeführt wurden, lassen sich Verfahren undInstitutionen identifizieren, denen funktional einzelne Aufgaben einer Verfassungsgerichtsbarkeitzugewiesen waren; vgl. Böckenförde, NJW 1999, 9 (15).

7 Robbers, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG Mitarbeiterkommentar, I., S. 6 Rn. 14; ders., JuS 1990,257 (262); Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, Art. 93 Rn. 12; Roellecke, in: Kirchhof/Isensee (Hrsg.),HStR III, § 67 Rn. 5 ff. Als Verfassungsgerichte bezeichnet Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger,Das entgrenzte Gericht, S. 281 (284), erst diejenigen Gerichte, denen die Befugnis zukommt, „demokratischeGesetze am Maßstab einer Verfassung zu überprüfen und zu verwerfen“.

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Paulskirchenverfassung von 1849 sah die Einrichtung einer dem Bundesverfassungsgerichtähnlichen umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit vor8.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist als unabhängiger Gerichtshof des Bundessowohl Teil der rechtsprechenden Gewalt als auch selbstständiges Verfassungsorgan nebenden „übrigen“ Verfassungsorganen9. Es genießt in Staat und Gesellschaft höchsteAnerkennung10, was sich nicht zuletzt auch in einer erheblichen Beanspruchunginsbesondere durch eine Vielzahl von Verfassungsbeschwerden niederschlägt11.

8 Allerdings ebenfalls nur mit beschränkter Normenkontrollkompetenz; vgl. Robbers, JuS 1990, 257 (261);Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, Art. 93 Rn. 9, 12.

9 § 1 Abs. 1 BVerfGG: „Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüberselbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes.“ Der im Text des Grundgesetzes nur schwachverankerte Status eines Verfassungsorgans geht maßgeblich auf die Selbsteinschätzung des Gerichts in dersog. „Status-Denkschrift“ von 1952 zurück, wird allerdings zwischenzeitlich weitgehend als gegebenangenommen, wobei allein aus dem Status keine Kompetenzen jenseits der verfassungsrechtlich verankertenabgeleitet werden können. S. die von Gerhard Leibholz verfasste Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts v.27.6.1952, abgedruckt in JöR 6 (1957), S. 144 ff.; dazu Schleich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 27ff.; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl., Art. 93 Rn. 30; Roellecke, in: HStR Bd. III, § 67 Rn. 15 ff.

10 Zur Erfolgsgeschichte Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 9 (40ff.); insbesondere zur Akzeptanz in der Gesellschaft s. Möllers, ebda., S. 281 (297 ff. mwN.); Kranenpohl, Hinterdem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 400 ff. mwN.

11 Vgl. die Jahresstatistik 2015: insgesamt 5891 Verfahrenseingänge, davon 5739 Verfassungsbeschwerden.

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II. Die Richterinnen und Richter desBundesverfassungsgerichts

Das Grundgesetz konstituiert das Bundesverfassungsgericht in Art. 92 GG als Teil derrechtsprechenden Gewalt. Im Unterschied zu anderen Verfassungsgerichtsbarkeiten ist esein reines Juristengericht12. Es besteht aus zwei Senaten mit je acht Richterinnen undRichtern (§ 2 Abs. 1 und 2 BVerfGG). Die Richterinnen und Richter werden als Richter desBundesverfassungsgerichts eines bestimmten Senats ernannt. Beide Senate entscheidenjeweils für sich als „das Bundesverfassungsgericht“13. Sog. Plenarentscheidungen unterMitwirkung beider Senate stellen demgegenüber die Ausnahme dar.

Lediglich die Grundzüge der Organisation des Gerichts sind im Grundgesetz geregelt14. NachArt. 94 Abs. 1 GG setzt sich das Gericht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedernzusammen, die je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden. GemäßArt. 94 Abs. 1 S. 3 GG dürfen die Richterinnen und Richter weder dem Bundestag, demBundesrat, der Bundesregierung noch einem entsprechenden Organ auf der Ebene einesLandes angehören. Als Richter sind sie nach Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und nur demGesetz unterworfen.

Wesentliche weitere institutionelle Fragen hat der Gesetzgeber auf der Grundlage von Art.94 Abs. 2 S. 1 GG im Bundesverfassungsgerichtsgesetz konkretisiert.

II.1. ErnennungsvoraussetzungenDie Richter müssen nach § 3 Abs. 1 BVerfGG jedenfalls zum Zeitpunkt der Ernennung durchden Bundespräsidenten15 „das 40. Lebensjahr vollendet haben, zum Bundestag wählbar seinund sich schriftlich bereit erklärt haben, Mitglied des Bundesverfassungsgerichts zu werden“(§ 3 Abs. 1 BVerfGG ). Zum Bundestag wählbar ist nach Art. 38 Abs. 2 GG iVm § 15 BWahlG,wer am Wahltag Deutscher iSd Art. 116 Abs. 1 GG ist, das 18. Lebensjahr vollendet hat undnicht aus anderen Gründen vom Wahlrecht, von der Wählbarkeit oder von der Bekleidungöffentlicher Ämter ausgeschlossen ist. Darüber hinaus müssen die Richterinnen und Richtergrundsätzlich die Befähigung zum Richteramt nach § 5 DRiG besitzen16, die einabgeschlossenes rechtswissenschaftliches Studium und die zweite Staatsprüfung nachBeendigung des Vorbereitungsdienstes voraussetzen17.

Altersgrenze für die Tätigkeit als Richterin oder Richter des Bundesverfassungsgerichts ist dieVollendung des 68. Lebensjahres, mit deren Erreichung auch die Amtszeit grundsätzlichautomatisch endet (§ 4 BVerfGG).

12 Hieraus erklärt sich eine gewisse strukturelle parteipolitische Distanz nach Farahat, in: vonBogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn. 34.

13 Zum Charakter als „Zwillingsgericht“ Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 1 Rn. 20 f.14 Zur Genese Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94 Abs. 1 Rn. 1 ff.15 So Lechner/Zuck, BVerfGG, § 3 Rn. 3 mwN. zur Diskussion um den Zeitpunkt der Erreichung dieses

Lebensalters.16 Bzw. die Befähigung als Diplomjurist der ehemaligen DDR, § 3 Abs. 2 2. HS. BVerfGG.17 Nach § 7 DRiG sind darüber hinaus auch alle ordentlichen Professorinnen und Professoren der Rechte an einer

deutschen Universität zum Richteramt befähigt.

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Studie

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II.2. Zusammensetzung des GerichtsNach Art. 94 Abs. 1 S. 1 GG besteht das Gericht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern.§ 2 Abs. 3 BVerfGG präzisiert dies dahingehend, dass jeweils drei Richter jedes Senats aus derZahl der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes gewählt werden, d.h. nach Art.95 GG des Bundesgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesfinanzhofs, desBundesarbeitsgerichts und des Bundessozialgerichts. „Gewählt werden sollen nur Richter,die wenigstens drei Jahre an einem obersten Gerichtshof des Bundes tätig gewesen sind.“Hierdurch sollen sie „den ihnen eigenen besonderen Erfahrungsschatz und die damitverbundenen Kenntnisse und Fähigkeiten in die Senate einbringen“18. Weitere Vorgabenüber die Zusammensetzung des Gerichts und die Qualifikation der „anderen“ Mitgliederenthält über das Erfordernis ihrer Befähigung zum Richteramt hinaus weder das Grundgesetznoch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz19.

II.3. Die Wahl und die Ernennung der Richterinnen und Richter desBundesverfassungsgerichts

In Abweichung von Art. 95 Abs. 2 GG, der die Berufung der übrigen Bundesrichter durch denjeweils zuständigen Bundesminister und einen Richterwahlausschuss vorsieht, werden dieRichterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG je zurHälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. Dem Bundespräsidenten obliegt nach §10 BVerfGG die Ernennung der gewählten Personen.

II.3.1. Die Regelung des Wahlverfahrens durch den Bundestag bzw. durch den BundesratDie Grundzüge der paritätischen Wahl durch den Bundestag und den Bundesrat bestimmtdas Bundesverfassungsgerichtsgesetz in §§ 5 ff.20. In Anwendung von § 5 Abs. 1 S. 2 BVerfGGwählt der Bundesrat je einen Bundesrichter und drei weitere Richter und der Bundestag jezwei Bundesrichter und zwei weitere Richter in jeden Senat. Erforderlich ist jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit, um die Überparteilichkeit und Neutralität der Richterinnen und Richter zusichern. Das Wahlverfahren ist für den Bundestag und den Bundesrat unterschiedlichgeregelt. „Die Richter werden frühestens drei Monate vor Ablauf der Amtszeit ihrerVorgänger oder, wenn der Bundestag in dieser Zeit aufgelöst ist, innerhalb eines Monatsnach dem ersten Zusammentritt des Bundestages gewählt. Scheidet ein Richter vorzeitigaus, so wird der Nachfolger innerhalb eines Monats von demselben Bundesorgan gewählt,das den ausgeschiedenen Richter gewählt hat“ (§ 5 Abs. 2 und Abs. 3 BVerfGG).

Nach § 6 Abs. 1 BVerfGG werden die vom Bundestag zu berufenden Richter auf Vorschlageines Wahlausschusses ohne Aussprache mit verdeckten Stimmzetteln gewählt. „ZumRichter ist gewählt, wer eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen,mindestens der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt.“ §6 Abs. 1 BVerfGG geht auf eine Änderung des Gesetzes aus dem Jahr 2015 zurück, mit dem

18 BVerfGE 65, 152 Rn. 17; zur Frage, ob es sich dabei um eine Mindestzahl (so das Bundesverfassungsgerichtaa.O. Rn. 16) oder eine Höchstzahl handelt Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 1 Rn.5, demzufolge auch nichtrichterliche Berufs- und Lebenserfahrung zumindest gleichgewichtig in dieverfassungsgerichtliche Entscheidungsfindung Eingang finden müsse; zur Zusammensetzung des Gerichts s.auch Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 41.

19 Eingehend zur Zusammensetzung Lechner/Zuck, BVerfGG, § 2 Rn. 6 ff.20 Vgl. BVerfGE 65, 152; ferner Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 5 Rn. 5

(Stand: 36. EL Sept. 2011); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 5 Rn. 2.

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die bisherige indirekte Wahl durch einen aus 12 Abgeordneten des Parlaments bestehendenWahlausschuss durch die direkte Wahl durch das Plenum des Bundestags ersetzt wurde21.Der nach den Regeln der Verhältniswahl spiegelbildlich zum Parlament besetzteWahlausschuss wird damit nur noch vorbereitend tätig. Er erstellt nach vertraulicherBeratung und mit Zwei-Drittel-Mehrheit einen Wahlvorschlag (§ 6 Abs. 4 und 5 BVerfGG).

Die vom Bundesrat zu berufenden Richterinnen und Richter werden nach § 7 BVerfGG mitzwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates von diesem unmittelbar gewählt.

II.3.2. Vorbereitung der WahlZur Vorbereitung der Wahl führt das Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutzeine Liste aller Bundesrichter, die die Ernennungsvoraussetzungen erfüllen, sowie eineweitere Liste geeigneter Kandidaten, die von einer Fraktion, der Bundesregierung oder einerLandesregierung vorgeschlagen werden. Diese laufend zu ergänzenden Listen leitet dasMinisterium den Präsidenten des Bundestags und des Bundesrates rechtzeitig vor der Wahlzu (§ 8 BVerfGG)22.

II.3.3. VorschlagsverfahrenZur Verhinderung gezielter Verzögerungen der Wahl sieht das BVerfGG daneben einVorschlagsverfahren vor, zu dem der Wahlausschuss bzw. der Bundesrat das Gerichtauffordert, das Gericht selbst dann im Plenum mit einfacher Mehrheit mindestens drei bzw.doppelt so viele geeignete wie gesuchte Personen vorschlägt, deren Wahl das Gesetz dannallerdings freistellt23. Einzelheiten zum Verfahren enthalten die §§ 56 – 58 derGeschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts von 2015.

II.3.4. Praxis der Richterwahl und verfassungsgerichtliche BewertungIn der Praxis wird die Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichtsallerdings auf der Grundlage eines Kompromisses unter den großen Parteien in internenFindungskommissionen der Fraktionen vorweggenommen, um die jeweils erforderlicheZwei-Drittel-Mehrheit zu erzielen24. Immer wieder ist das Verfahren Vorwürfen wegenfehlender Transparenz und Öffentlichkeit ausgesetzt25.

Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht aus Anlass einer Besetzungsrüge im Jahr 2012nicht nur das damalige indirekte Wahlverfahren durch den Wahlausschuss des

21 Art. 1 des Neunten Gesetzes zur Änderung des BVerfGG v. 24.6.2015, BGBl I S. 973. Zuvor wählte derAusschuss selbst die Richterinnen und Richter. Das Bundesverfassungsgericht hatte dieses indirekteWahlverfahren im Rahmen einer Besetzungsrüge in einem Beschluss aus dem Jahr 2012 ausdrücklichgebilligt, da die Wahrung der Vertraulichkeit, die Sicherung des Ansehens des Gerichts und des Vertrauens inseine Unabhängigkeit wie auch seiner Funktionsfähigkeit eine indirekte Wahl zwar nicht notwendigerforderten, aber zumindest rechtfertigen würden; BVerfGE 131, 230. Zur Kritik am ursprünglichen VerfahrenSchlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 42 ff. mwN. Zum Gesetzentwurf Farahat, in: vonBogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn. 30.

22 Zur geringen praktischen Bedeutung der Listen Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs.1 Rn. 13.

23 § 7a BVerfGG; dazu Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 1 Rn. 12; ausführlich Kischel,in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR III, § 69 Rn. 13 ff.

24 Im Einzelnen dazu kritisch Kischel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR III, § 69 Rn. 21 ff.25 Kischel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR III, § 69 Rn. 21 ff. mwN.; Schlaich/Korioth, Das

Bundesverfassungsgericht, Rn. 45; anders Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzteGericht, S. 281 (360): informelle Verteilung von bestimmten Sitzen im Gericht an politische Parteien oderLager als glückliche Lösung; Ungeeignetheit eines formalisierten Anhörungsverfahrens.

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Bundesverfassungsgerichts für verfassungsgemäß erklärt, sondern insbesondere den Schutzdes Ansehens des Gerichts, die Festigung des Vertrauens in seine Unabhängigkeit undhierdurch bedingt die Sicherung seiner Funktionsfähigkeit als rechtfertigende Gründe auchfür die fehlende Öffentlichkeit und Vertraulichkeit der Wahl benannt, ohne hierbei auf dender eigentlichen Wahl vorgelagerten parteipolitischen modus vivendi der Amtsvergabeeinzugehen26.

Die Änderung zu Gunsten einer Entscheidung des Plenums des Bundestages stärkt diedemokratische Legitimation des Gerichts, und dies selbst dann, wenn an den früherenVerfahren zur Auswahl der Richterinnen und Richter weitgehend festgehalten wird. Laut derBegründung des Änderungsgesetzes sollen die Vorteile des früheren Wahlverfahrensvielmehr gerade erhalten bleiben und eine unerwünschte Politisierung des BVerfG durcheine größere Verfahrenstransparenz vermieden werden. Dem dient insbesondere auch derVerzicht auf eine Aussprache im Plenum wie auch die Vertraulichkeit der Beratungeninnerhalb des Wahlausschusses. Hiermit soll sichergestellt werden, „dass die Autorität derspäteren Richterinnen und Richter nicht vor ihrem Amtsantritt durch eine öffentlichePersonaldiskussion Schaden nimmt oder das Gericht durch öffentliche „Hearings“ zuanstehenden Streitthemen politisiert wird.“27

II.4. Wahl des Präsidenten und des Vizepräsidenten desBundesverfassungsgerichts

Die Wahl des Präsidenten wie auch des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtsstellt keine interne Angelegenheit dar, über die das Gericht selbst zu entscheiden hätte.Vielmehr wählen Bundestag und Bundesrat nach dem beschriebenen Verfahren im Wechselden Präsidenten und den Vizepräsidenten des Gerichts, die unterschiedlichen Senatenangehören müssen (§ 9 BVerfGG).

II.5. Amtszeit und Ausscheiden aus dem AmtDie Amtszeit der Richter wird im Bundesverfassungsgerichtsgesetz festgelegt. Einevorzeitige Beendigung des Amts gegen den Willen eines Richters oder einer Richterin ist nurin den in § 105 BVerfGG geregelten Fällen im Zusammenwirken vonBundesverfassungsgericht und Bundespräsident möglich28.

II.5.1. Die Amtszeit der Richterinnen und Richter des BundesverfassungsgerichtsDie reguläre Amtszeit der Richter dauert gemäß § 4 Abs. 1 BVerfGG zwölf Jahre, jedoch nichtüber die Altersgrenze von 68. Lebensjahren hinaus. Eine anschließende oder spätereWiederwahl ist ausgeschlossen. Bis zur Ernennung eines Nachfolgers führen die Richter ihreAmtsgeschäfte nach Ablauf der Amtszeit fort.

26 BVerfGE 131, 230 Rn. 14.27 S. die Begründung zum Gesetzentwurf des 9. BVerfGGÄndG, BT Ds. 18/2737, S. 4. Kritisch gegenüber der

Entscheidung des BVerfG vor der Änderung des BVerfGG und für eine transparente Wahl durch das Plenumdes Bundestags nach öffentlicher Anhörung Landfried, ZRP 2012, 191; dies., in: van Ooyen/Möllers, M. H. W.(Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht, S. 369 ff. (ohne Bezugnahme auf die Entscheidung).

28 Lechner/Zuck, BVerfGG, § 105 Rn. 1.

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Nach § 12 BVerfGG können die Richterinnen und Richter des BVerfG auch vor Ablauf derregulären Amtszeit jederzeit ihre Entlassung aus dem Amt beantragen, die derBundespräsident auszusprechen hat29.

Mit dem Ablauf der Amtszeit tritt eine Richterin oder ein Richter des BVerfG gemäß § 98 Abs.1 BVerfGG in den Ruhestand und erhält Ruhegehalt; bei dauernder Dienstunfähigkeit ist einRichter nach § 98 Abs. 2 BVerfGG in den Ruhestand zu versetzen. Ab dem 65. Lebensjahrerfolgt dies auf Antrag des Richters oder der Richterin auch ohne den Nachweis derDienstunfähigkeit, wenn das Amt wenigstens sechs Jahre bekleidet wurde30.

II.5.2. Verfahren zur Versetzung in den RuhestandGegen den Willen eines Richters kann dieser bei dauernder Dienstunfähigkeit nur imVerfahren nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG in den Ruhestand versetzt werden, indem dasBundesverfassungsgericht im Plenum mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitgliederdes Gerichts entscheidet, den Bundespräsidenten zur Versetzung in den Ruhestand zuermächtigen31. Auf der Grundlage von § 105 Abs. 5 BVerfGG kann das Gericht die betreffendePerson auch ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten bereits vorläufig vom Amtsuspendieren.

II.5.3. Entlassung aus dem AmtDie Amtsenthebung durch den Bundespräsidenten nach Entscheidung desBundesverfassungsgerichts in Anwendung von § 105 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG stellt die einzigedisziplinarische Maßnahme gegen Richterinnen und Richter des BVerfG dar, die nach demWillen des Gesetzgebers nur in äußersten Fällen einer drohenden Disziplinarmaßnahmeausgesetzt sein sollen32.

Nach einem entsprechenden Antrag von mind. sechs Mitgliedern des Gerichts und einerEinleitung des Verfahrens durch das Plenum kann dieses mit einer Mehrheit von zweiDritteln seiner Mitglieder den Bundespräsidenten gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG dazuermächtigen, einen Richter oder eine Richterin des Bundesverfassungsgerichts zu entlassen,wenn er oder sie „wegen einer entehrenden Handlung oder zu einer Freiheitsstrafe vonmehr als sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden ist oder wenn er [oder sie] sich einerso groben Pflichtverletzung schuldig gemacht hat, dass sein Verbleiben im Amtausgeschlossen ist.“33 Mit der Entlassung verliert der Richter sämtliche Ansprüche aus demAmt.

29 S. die versorgungsrechtlichen Anschlussregelungen in § 100 BVerfGG.30 § 98 Abs. 3 BVerfGG; bei Schwerbehinderten bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahrs.31 Das Verfahren ist im Einzelnen in §§ 49 – 54 BVerfG GO 2015 geregelt: Antrag von mind. sechs Mitgliedern des

Gerichts bzw. von Präsident und Vizepräsident gemeinsam; Äußerungsmöglichkeit des Betroffenen; Beschlussüber die Einleitung des Verfahrens nur bei Zustimmung von mind. acht Mitgliedern des Gerichts unterAusschluss des Betroffenen; Entscheidung nach mündlicher Verhandlung unter grundsätzlichem Ausschlussder Öffentlichkeit; Möglichkeit der Rücknahme des Antrags unter Vorbehalt einer anderweitigenEntscheidung durch das Plenum.

32 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 105 Rn. 2 (Stand EL 9: Januar1987); Lechner/Zuck, BVerfGG, § 105 Rn. 4; Lenz/Hansel, BVerfGG, § 105 Rn. 4.

33 Auch hier gelten die konkretisierenden Regelungen der §§ 49 – 54 BVerfG GO 2015 (s. bereits im Einzelnen inFn. 31), insb. Untersuchung einschließlich Beweisaufnahme und Berichterstattung durch ein vom Plenumbestelltes Mitglied des Gerichts, das von der anschließenden Beratung und Entscheidung ausgeschlossen ist(§ 52 BVerfG GO 2015).

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Vor der endgültigen Entscheidung kann das Plenum nach Einleitung des Verfahrens nach §105 Abs. 1 BVerfGG sowie nach der Eröffnung eines strafrechtlichen Hauptverfahrens gegeneinen Richter diesen mit Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Gerichts bereitsvorläufig und ohne Beteiligung des Bundespräsidenten des Amtes entheben.

II.6. Gewähr der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter:Immunität, Inkompatibilität und Befangenheit

II.6.1. ImmunitätDie Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts genießen keine Immunität. Siesind wie jeder andere Bürger auch der Strafgerichtsbarkeit unterworfen.

II.6.2. Keine WiederwahlWesentlich für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter desBundesverfassungsgerichts ist das Verbot einer Wiederwahl nach § 4 Abs. 2 BVerfGG: Siewerden für eine Amtszeit von zwölf Jahren längstens bis zur Altersgrenze gewählt undführen ggf. die Amtsgeschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers fort. Eine sofortige oderspätere Wiederwahl ist jedoch ausgeschlossen.

II.6.3. InkompatibilitätZur Sicherung der politischen Neutralität wie auch der richterlichen Unabhängigkeit dürfenRichter des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG „weder dem Bundestage,dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landesangehören“. Gemäß § 3 Abs. 3 S. 2 BVerfGG scheiden sie mit ihrer Ernennung aus solchenOrganen aus. Die Regelungen stellen sicher, dass die Tätigkeit der Richter als Teil derrechtsprechenden Gewalt von den anderen Gewalten jenseits der Gesetzesbindungweitgehend abgeschirmt ist34.

Ebenfalls unvereinbar ist gemäß § 3 Abs. 4 BVerfGG jede andere berufliche Tätigkeit mitAusnahme derjenigen des Hochschullehrers für Recht an einer deutschen Hochschule. DieTätigkeit als Richter des Bundesverfassungsgerichts geht dabei der Tätigkeit alsHochschullehrer vor. Gemäß § 101 Abs. 3 S. 2 BVerfGG ruhen während der Amtszeit alsRichterin oder Richter die Pflichten aus dem Dienstverhältnis als Hochschullehrerin oderHochschullehrer35.

Ebenso ruhen während der Amtszeit am Bundesverfassungsgericht nach § 70 Abs. 1 DRiGauch die Rechte und Pflichten eines Bundesrichters, nach § 101 Abs. 1 S. 2 BVerfGG auch dersonstigen Beamten und Richter36.

Um die Arbeitsfähigkeit des Gerichts zu sichern und sein Ansehen zu schützen müssen auchsonstige erlaubte Nebentätigkeiten etwa künstlerischer Art gegebenenfalls hinter denAnforderungen des Amtes als Richter der Bundesverfassungsgerichts zurückstehen37.

34 So Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 1 Rn. 16 mwN.35 Zur Kritik an diesem Hochschullehrerprivileg s. Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.),

BVerfGG, § 3 Rn. 24 f. (Stand: EL 36 Sept. 2011).36 Gemäß § 104 BVerfGG ruhen auch die Rechte eines Rechtsanwalts aus der Zulassung, wie auch die Rechte

und Pflichten der Notare.37 Vgl. im Einzelnen Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 1 Rn. 16.

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II.6.4. Richterausschluss und Ablehnung wegen BefangenheitDer Sicherung des verfassungsrechtlichen Rechts auf den unabhängigen und unparteiischenRichter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 97 GG dienen die Vorschriften über denAusschluss und die Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit in einem konkretenVerfahren38.

II.6.4.1 Richterausschluss nach § 18 BVerfGG§ 18 Abs. 1 BVerfGG formuliert eng umrissene Gründe für einen gesetzlichen Ausschluss vonder Ausübung des Richteramtes wegen eigener Beteiligung, Verwandtschaft mit einemBeteiligten oder einer Tätigkeit von Amts oder Berufs wegen in derselben Sache. Nach § 18Abs. 3 BVerfGG gelten die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren oder die Äußerung einerwissenschaftlichen Meinung zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage nicht alseine solche Tätigkeit39. Beteiligt ist gemäß § 18 Abs. 2 BVerfGG ferner nicht, „wer auf Grundseines Familienstandes, seines Berufs, seiner Abstammung, seiner Zugehörigkeit zu einerpolitischen Partei oder aus einem ähnlich allgemeinen Gesichtspunkt am Ausgang desVerfahrens interessiert ist.“

Die Entscheidung über einen kraft Gesetzes greifenden Mitwirkungsausschluss nach § 18BVerfGG tritt der in der Sache zuständige Senat von Amts wegen im Rahmen derEntscheidung über seine ordnungsgemäße Besetzung40. Er legt bei der Anwendung von § 18BVerfGG als Ausnahmeregelung grundsätzlich einen strengen Maßstab an. So ist dasTatbestandsmerkmal einer Tätigkeit „in derselben Sache“ in § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG stets ineinem konkreten, strikt verfahrensbezogenen Sinn zu verstehen und bezieht sich lediglichauf das verfassungsgerichtliche Verfahren selbst oder ein diesem unmittelbarvorangegangenes und ihm sachlich zugeordnetes Verfahren41.

II.6.4.2 Besorgnis der Befangenheit nach § 19 BVerfGGEin Ausschluss erfolgt auch im Falle der Besorgnis der Befangenheit nach § 19 BVerfGG durchBeschluss des Bundesverfassungsgerichts entweder aufgrund einer Ablehnung wegenBefangenheit durch einen Verfahrensbeteiligten oder im Falle der Selbstablehnung einesRichters oder einer Richterin. Die Ablehnung muss begründet werden und ist bis spätestenszum Beginn der mündlichen Verhandlung zu erklären. Im Falle der Selbstablehnung musssich der Richter nicht selbst für befangen halten. „Es genügt, dass er Umstände anzeigt, dieAnlass geben, eine Entscheidung über seine Befangenheit zu treffen“42.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts ist die Besorgnis der Befangenheit danngegeben, „wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller UmständeAnlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln“43. TatsächlicheParteilichkeit muss nicht gegeben sein. Ausreichend ist die begründete Besorgnis, also das

38 Hierzu ausführlich Kischel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR III, § 69 Rn. 63 ff. mwN.39 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das Gesetzgebungsverfahren als solches durch die Regelung in § 18

Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG vom Begriff derselben Sache iSv § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ausgenommen, ebenso wieauch die Beantwortung der abstrakten Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift imSinne von § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG; so BVerfGE 82, 30 (Rn. 18 ff.).

40 BVerfGE 89, 359 (362); E 133, 163 (Rn. 5).41 BVerfGE 133, 163 (Rn. 6); E 109, 130 (Rn. 5). Ein passives Zitiertwerden eines Schriftsatzes aus einem anderen

Verfahren ohne eine konkrete Beteiligung an der Abfassung des Schriftsatzes ist nicht als Tätigwerden inderselben Sache zu verstehen; so BVerfGE 135, 248 (Rn. 19).

42 BVerfGE 109, 130 (Rn. 7) mit Verweis auf BVerfGE 88, 1 (3); E 95, 185 (191); E 98, 134 (137).43 So BVerfGE 109, 130 (Rn. 8) mit Verweis auf BVerfGE 82, 30 (38); E 98, 134 (137); E 101, 46 (51); E 102, 122 (125).

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Vorliegen eines Grundes, der geeignet ist, Zweifel an der Unparteilichkeit zu rechtfertigen44.Im Ergebnis entscheidet das Bundesverfassungsgericht nach einer umfassenden Abwägungaller Umstände im Einzelfall45.

So nimmt das Gericht Befangenheit etwa dann an, wenn „ein Richter Äußerungen zuverfassungsrechtlichen Fragen als Bevollmächtigter eines an einem früheren Verfahren vordem Bundesverfassungsgericht Beteiligten abgegeben hat und der in dem früherenVerfahren verfolgte Rechtsstandpunkt auch im anhängigen Verfahren von wesentlicherBedeutung ist“46. Das Gericht berücksichtigt dabei auch solche Gegebenheiten, die – wieetwa ein erheblicher zeitlicher Abstand zu einer früheren Prozessvertretung oder eineVeränderung der Rechtslage in sachlicher Hinsicht – die Besorgnis der Befangenheitausschließen könnten47.

Allein die Bezugnahme auf eine der in § 18 Abs. 2 und 3 BVerfGG geregelten Fallgruppenrechtfertigt die Besorgnis der Befangenheit noch nicht. Vielmehr müssen zusätzliche, überdie als grundsätzlich unbedenklich eingestuften Tätigkeiten hinausgehende Umständehinzutreten48.

Anlass zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des Richters kann nach ständigerRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann bestehen, „wenn die Nähewissenschaftlicher Äußerungen zu der von einem Beteiligten vertretenen Rechtsauffassungbei einer Gesamtbetrachtung nicht zu übersehen ist und überdies die wissenschaftlicheTätigkeit des Richters vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung diesesBeteiligten bezweckte.“ Die Sorge, „dass der Richter die streitige Rechtsfrage nicht mehroffen und unbefangen beurteilen werde“, sei dann bei lebensnaher Betrachtungsweiseverständlich49. Gleiches gelte, „wenn ein Richter Äußerungen zu verfassungsrechtlichenFragen als Bevollmächtigter eines an einem früheren Verfahren vor demBundesverfassungsgericht Beteiligten abgegeben“ habe und „der in dem früheren Verfahrenverfolgte Rechtsstandpunkt auch in anhängigen Verfahren von wesentlicher Bedeutung“sei50.

Bei der Auslegung von § 19 BVerfGG ist überdies die gesetzliche Wertung des § 18 Abs. 3BVerfG zu berücksichtigen, um Wertungswidersprüche zwischen dem eng auszulegendengesetzlichen Ausschlusstatbestand und dem grundsätzlich weiterenBefangenheitstatbestand zu vermeiden. Dabei muss auch in Betracht gezogen werden, dassArt. 94 Abs. 1 GG und §§ 3 ff. BVerfGG die Wahl von Personen, „die als Repräsentanten vonParteien politische Funktionen in den Parlamenten ausgeübt oder politischeRegierungsämter bekleidet haben“, zu Mitgliedern des BVerfG nicht ausschließt, sondern

44 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 19.7.2016, Az. 2 BvC 46/14 Rn. 18.45 So auch Kischel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR III, § 69 Rn. 67 ff.46 So BVerfGE 109, 130 (Rn. 8) mit Verweis auf BVerfGE 95, 189 (191 f.); E 101, 46 (51).47 BVerfGE 109, 130 (Rn. 9) mit Verweis auf BVerfGE 101, 46 (51).48 So Kischel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR III, § 69 Rn. 70 ff.; BVerfGE 82, 30 (Rn. 25 f.). Für ausreichend

erachtet das Gericht aber die summative Wirkung der über die bloße Mitwirkung an einemGesetzgebungsverfahren hinausgehenden Tätigkeiten eines Richters, wenn ihm „gleichsam eine ArtUrheberschaft für das […] zu beurteilende Regelungskonzept“ und eine „Gewährfunktion für dieVerfassungsmäßigkeit der Regelung“ in den angegriffenen Punkten zukomme; BVerfGE 135, 248 (Rn. 26 f.).

49 BVerfGE 101, 46 (Rn. 18) mit Verweis auf BVerfGE 98, 134 (137 f.); s. auch Kischel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),HdStR III, § 69 Rn. 71.

50 BVerfGE 101, 46 (Rn. 18) mit Verweis auf BVerfGE 95, 189 (191 f.).

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sogar grundsätzlich für wünschenswert hält, um ihre politische Erfahrung für dieVerfassungsrechtsprechung fruchtbar zu machen. Nach Auffassung des Gerichts geht damit„die Erwartung des Verfassungs- und Gesetzgebers einher, dass sie ihre neue Rolle als Richterunabhängig von früheren parteipolitischen Auseinandersetzungen ausüben werden“51.

II.6.5. Besetzungsrüge und BefangenheitsantragGrundsätzlich hat das Gericht, d.h. der für eine Entscheidung zuständige Spruchkörper, seineordnungsgemäße Besetzung zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf dengesetzlichen Richter von Amts wegen zu prüfen, wenn hierzu Anlass besteht52. DieFeststellung der richtigen Besetzung erfolgt regelmäßig ohne die Beteiligung des Richters,dessen Berechtigung zur Mitwirkung zweifelhaft erscheint, weil zum Beispiel dieOrdnungsgemäßheit seiner Wahl in Frage gestellt wird. Sind allerdings derart viele Richtereines Senats betroffen, „dass die Beurteilung der vorschriftsmäßigen Senatsbesetzung derFrage nach der ordnungsgemäßen Einrichtung eines Spruchkörpers gleichzusetzen ist“,befindet dieser selbst darüber, da andernfalls auch eine bei divergierenden Auffassungender Senate herbeizuführende Entscheidung des Plenums nach § 16 Abs. 2 BVerfGG ggf. nichtergehen könnte, weil dieses nicht beschlussfähig wäre53.

Im Falle der Besorgnis der Befangenheit nach § 19 BVerfGG bedarf es demgegenüber einesbegründeten Ablehnungsgesuchs, über das das Gericht nach Anhörung und unterAusschluss des abgelehnten Richters entscheidet54. Gibt das Gericht der Ablehnung statt,steht die Ablehnung mit dem entsprechenden Beschluss des Gerichts dem gesetzlichenAusschluss gleich55.

II.7. VertretungsregelungenWährend im Falle einer Ablehnung wegen Befangenheit seit 1985 die Vertretungsregelungdes § 19 Abs. 4 BVerfGG iVm § 38 GO BVerfG 2015 greift, existiert eine entsprechendeRegelung im Fall des gesetzlichen Ausschlusses nach § 18 BVerfGG nicht56.

Grundsätzlich ist jeder Senat gemäß § 15 Abs. 2 S. 1 BVerfGG beschlussfähig, wennmindestens sechs Richter anwesend sind. Nur in Fällen von besonderer Dringlichkeit kannder Vorsitzende bei fehlender Beschlussfähigkeit ein Losverfahren anordnen, durch das nach§ 15 Abs. 2 S. 2 BVerfGG iVm § 38 GO BVerfG 2015 so lange Richter des anderen Senats (mitAusnahme der Vorsitzenden) als Vertreter bestimmt werden, bis die Mindestzahl erreicht ist.

51 BVerfG, Beschluss v. 19.7.2016, Az. 2 BvC 46/14 Rn. 27 mit Verweis auf BVerfGE 99, 51 (56 f.).52 BVerfGE 65, 152 (Rn. 9): „Das Bundesverfassungsgericht ist Verfassungsorgan und ein Gerichtshof des Bundes

[…], dessen Mitgliedern als Richtern die Ausübung rechtsprechender Gewalt anvertraut ist (Ar. 92 GG). ImHinblick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG hat der Senat deshalb, soweit Anlaß zu Zweifeln besteht, dieordnungsgemäße Besetzung seiner Richterbank von Amts wegen zu prüfen. "Gesetzlicher Richter" im Sinnedieser Verfassungsvorschrift ist auch jeder an der gerichtlichen Entscheidung mitwirkende einzelne Richter(zum Ganzen vgl. BVerfGE 40, 356 (360 ff. mwN.)“.

53 BVerfGE 131, 230 (Rn. 8) mwN.; zur Besetzungsrüge s. auch Lechner/Zuck, BVerfGG, § 15 Rn. 4; Pieroth, in:Jarass/Pieroth, GG, Art. 101 Rn. 13.

54 Nicht ausgeschlossen ist ein abgelehnter Richter allerdings in den Fällen eines offensichtlich unzulässigenAblehnungsgesuchs, das lediglich Ausführungen enthält, die zur Begründung der Besorgnis der Befangenheitgänzlich ungeeignet sind. In diesen Fällen bedarf es auch keiner dienstlichen Stellungnahme des abgelehntenRichters. Vgl. BverfG, Beschluss v. 18.2.2016, Az. 2 BvC 69/14, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfGE 11, 1; BverfG,Beschluss v. 2.3.2016, Az. 2 BvB 1/13, Rn. 12 ff. mit Verweis auf BVerfGK 8, 59 (60).

55 Lechner/Zuck, BVerfGG, § 19 Rn. 14.56 Lechner/Zuck, BVerfGG, § 18 Rn. 13 mwN.

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Nach Beginn der Beratung einer Sache können weitere Richter allerdings nicht hinzutreten.Wird der Senat beschlussunfähig, muss die Beratung gemäß § 15 Abs. 3 BVerfGG nach seinerErgänzung neu begonnen werden.

Auch nach § 19 Abs. 4 BVerfGG kommt das Losverfahren gemäß § 38 GO BVerfG 2015 zumEinsatz, wenn das Bundesverfassungsgericht die Ablehnung oder Selbstablehnung einesRichters für begründet erklärt.

Eine ausdrückliche Vertretungsregelung trifft demgegenüber jeder Senat für die von ihmeingesetzten Kammern57.

57 § 15a Abs. 1 BVerfGG iVm den Beschlüssen der Senate zur Kammerbesetzung für das jeweilige Geschäftsjahr.

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III. Die interne Organisation des GerichtsDie interne Organisation des Gerichts wird dem in Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG enthaltenen Auftragan den Gesetzgeber, „Verfassung und Verfahren“ des Gerichts zu regeln, folgend imWesentlichen im Bundesverfassungsgerichtsgesetz bestimmt und, als Konsequenz desStatus als Verfassungsorgan, in der Geschäftsordnung des Gerichts präzisiert. Zur Verfassungdes Gerichts rechnen die mit Errichtung, Einrichtung, Status, Organisation, internerGeschäftsverteilung und Gerichtsverwaltung zusammenhängenden Fragen58.

III.1.Gerichtsverfassung und Zuständigkeiten: Plenum, Senate undKammern

Die entscheidende Untergliederung des Bundesverfassungsgerichts ist die Einrichtung vonzwei Senaten, die ihrerseits – insbesondere zur Bewältigung der Arbeitsbelastung durch dieVielzahl an Verfassungsbeschwerden – Kammern bilden. Das Plenum entscheidet nurausnahmsweise in den gesetzlich und in der Geschäftsordnung vorgesehenen Fällen.

III.1.1. SenatsprinzipDas Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richterinnen undRichtern59. Beide Senate urteilen eigenständig als „das Bundesverfassungsgericht“60. Sie sindeinander gleichrangig und nicht zur gegenseitigen Überprüfung befugt61. Will ein Senat ineiner Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenenRechtsauffassung abweichen, so entscheidet darüber gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG dasPlenum des Gerichts. Der Präsident und der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtsmüssen unterschiedlichen Senaten angehören, in denen sie jeweils den Vorsitz führen62.

Die Zuständigkeiten der Senate sind im Bundesverfassungsgerichtsgesetz festgelegt. Nachder ursprünglichen gesetzgeberischen Intention von § 14 BVerfGG entscheidet der ErsteSenat maßgeblich über die Auslegung der Grundrechte im Rahmen vonVerfassungsbeschwerden und Normenkontrollen, während der Zweite Senat in derGrundtendenz vor allem für die staatsorganisationsrechtlichen Fälle (insbesondere fürOrganstreitverfahren, Bund-Länder-Streitigkeiten, Parteiverbotsverfahren undWahlbeschwerden) zuständig ist63. Aufgrund der „unabweislichen“ und „nicht nurvorübergehenden Überlastung“ des Ersten Senats durch Verfassungsbeschwerden machtdas Gericht in ständiger Praxis allerdings von der Ermächtigung nach § 14 Abs. 4 BVerfGG

58 So Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 1 Rn. 17; das Verfahren betrifft das für dieSpruchkörper verbindliche Prozessrecht. Eingehend zur Binnenorganisation und Verwaltung des Gerichts O.Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, § 7.

59 Vgl. zum Senatsprinzip Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 38 ff.; Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 20 f.

60 Zu Sonderstellung und Genese der Einrichtung der „Zwillingssenate“ Schönberger, in:Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 9 (17 ff.); Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 20.

61 BVerfGE 7, 17 (18).62 S. §§ 2 Abs. 1 und 2, 15 Abs. 1 BVerfGG.63 Vgl. § 14 Abs. 1 und 2 BVerfGG; O. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, § 6 Rn. 147: nach der

gesetzlichen Grundidee ist der Erste Senat der Grundrechtssenat und der Zweite Senat als Staatsgerichtshofkonzipiert.

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Gebrauch und verteilt die Zuständigkeiten auch nach Arbeitsanfall ausgeglichen, so dassauch der Zweite Senat maßgeblich in die Entscheidung von Verfassungsbeschwerdeneinbezogen ist64.

Ist zweifelhaft, welcher Senat für ein Verfahren zuständig ist, entscheidet der sogenannteSechser-Ausschuss nach § 14 Abs. 5 BVerfGG65. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme desVorsitzenden den Ausschlag66.

Das Bundesverfassungsgericht macht auch regelmäßig von der Möglichkeit Gebrauch, nach§ 14 Abs. 4 BVerfGG aufgrund einer nicht nur vorübergehenden Überlastung des ErstenSenats eine abweichende Zuständigkeitsverteilung vorzunehmen. Ein solcher Beschluss desPlenums des Bundesverfassungsgerichts gilt immer vom Beginn des nächstenGeschäftsjahres an und ist im Bundesgesetzblatt bekannt zu machen67.

Die Geschäftsverteilung innerhalb der Senate wird von diesen jeweils durch Beschlussgeregelt, mit dem vor Beginn eines Geschäfts- bzw. Kalenderjahres über die Verteilung derVerfahren auf die Richterinnen und Richter als Berichterstatter entschieden wird.Abweichungen von diesen Geschäftsverteilungsregelungen sind nur in Fällen derÜberlastung oder längerer Verhinderung von Richtern möglich68.

III.1.2. Die Kammern der SenateSeit 1985 sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz auch die Möglichkeit der Bildung vonKammern in den einzelnen Senaten vor, die insbesondere zur Bewältigung der Fülle anVerfassungsbeschwerden geschaffen worden ist. Statistisch erledigen die Kammern denweitaus größten Teil der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren69 undtragen dadurch erheblich zur Entlastung des Gerichts bei70.

64 Vgl. den Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts v. 24.11.2015 gemäß § 14 Abs. 4 BVerfGG,BGBl 2016 I S. 118.

65 Der Ausschuss setzt sich gemäß § 14 Abs. 5 BVerfGG aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vierRichterinnen und Richtern zusammen, von denen je zwei pro Senat für die Dauer eines Geschäftsjahresberufen werden. Vgl. den Beschluss über die in den Ausschuss entsandten Richter und ihre Vertreter desErsten Senats vom 27.10.2015 und den entsprechenden Beschluss des Zweiten Senats vom 15.12.2015, diehttp://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Geschaeftsverteilung/gv2016/geschaeftsverteilung_2016_node.html abrufbar sind (zuletzt abgerufen am 29.8.2016).

66 Das Verfahren wird in §§ 43 – 46 GO BVerfG 2015 näher geregelt. Nach § 43 GO BVerfG 2015 hat grundsätzlichder Präsident des BVerfG auch den Vorsitz inne.

67 Vgl. den Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 24.11.2015 gemäß § 14 Abs. 4 desGesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BGBl 2016 I S. 118), mit dem das Gericht dem Zweiten Senatweitere Zuständigkeiten für Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollen in bestimmten Bereichen wieetwa dem Asylrecht, dem Strafverfahrensrecht und aus einigen Sachbereichen der Zivilgerichtsbarkeitüberträgt.

68 Vgl. § 20 GO BVerfG 2015 sowie die entsprechenden Beschlüsse über die Geschäftsverteilung der einzelnenSenate und Gesamtübersichten der den einzelnen Richterinnen und Richtern zugewiesenen Sachgebiete aufhttp://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Geschaeftsverteilung/gv2016/geschaeftsverteilung_2016_node.html (zuletzt abgerufen am 29.8.2016).

69 Von insgesamt 5798 Entscheidungen im Jahr 2015 wurden über 5700 von Kammern getroffen (darunter 5660Nichtannahmeentscheidungen); vgl. die Jahresstatistik 2015 des Bundesverfassungsgerichts, abrufbar unterhttp://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2015/statistik_2015_node.html(zuletzt abgerufen am 29.8.2016).

70 Farahat, in: von Bogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn.42 ff.

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Nach § 15a BVerfGG beruft jeder Senat für die Dauer eines Geschäftsjahres mehrere, aus dreiRichtern bestehende Kammern, deren Zusammensetzung nicht länger als drei Jahreunverändert bleiben soll71. Hierzu beschließt jeder Senat vor Beginn eines Geschäftsjahres fürdessen Dauer über die Zahl und Zusammensetzung der Kammern sowie die Vertretung ihrerMitglieder72.

Gegenwärtig haben beide Senate drei Kammern73. Diese sind ausschließlich in Verfahren derVerfassungsbeschwerde gemäß §§ 93 a) – d) BVerfGG einschließlich vorläufigerRechtsschutzverfahren und der Richtervorlage gemäß § 81a BVerfGG zuständig. Sieentscheiden in den Verfahren aus den Dezernaten ihrer ordentlichen Mitglieder, d.h. in denVerfahren, die einem Kammermitglied als Berichterstatter zugewiesen sind. DieEntscheidung wird ohne mündliche Verhandlung getroffen und muss jeweils einstimmigergehen, andernfalls entscheidet der Senat.

Die Kammern entscheiden – außer in Fällen von Anträgen eines Landesverfassungsgerichtsoder eines obersten Gerichtshofs des Bundes – über die Zulässigkeit der Richtervorlagennach §§ 80 f. BVerfGG und über die Annahme der Verfassungsbeschwerden nach § 93 a) – d)BVerfGG. Nach § 93 c) Abs. 1 S. 1 BVerfGG können sie in Fällen offensichtlicher Begründetheitausnahmsweise auch einer Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn die maßgeblicheverfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschiedenworden ist. Die Kammerentscheidungen sind unanfechtbar und können nicht durch denSenat überprüft werden74. Verfahren von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutungbleiben jedoch in der Zuständigkeit der Senate75. Der Beschluss der Kammer steht einerEntscheidung des Senats gleich, d.h. auch die Kammer entscheidet als „dasBundesverfassungsgericht“76. Allerdings sind Entscheidungen mit Gesetzeskraft nach § 31Abs. 2 BVerfGG allein dem Senat vorbehalten.

III.1.3. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts

III.1.3.1 Entscheidungszuständigkeit des Plenums nach § 16 BVerfGGUm die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sicherzustellensieht § 16 BVerfGG eine Vorlagepflicht an das Plenum vor, wenn einer der Senate von derRechtsauffassung des anderen Senats in einer die Entscheidung tragenden Frage abweichenwill. Erforderlich, aber auch ausreichend ist hierfür, dass „die Rechtsauffassung, die derEntscheidung eines Senats unausgesprochen zugrundeliegt, nach ihrem Sinn und Inhalt, zu

71 Die Rotation soll eine Versteinerung der Meinungsbildung verhindern; so Farahat, in: vonBogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn. 41 mit Verweisauf die Gesetzesbegründung.

72 Vgl. die entsprechenden Beschlüsse für das Jahr 2016 unterhttp://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Geschaeftsverteilung/gv2016/geschaeftsverteilung_2016_node.html (zuletzt abgerufen am 29.8.2016). Zu den Kammern Schlaich/Korioth, DasBundesverfassungsgericht, Rn. 40; zur Kritik an den mangelnden gesetzlichen Vorgaben für die Besetzung derKammern Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 22 mwN.

73 Nach Ausscheiden des Richters Gaier aus dem Ersten Senat voraussichtlich im November 2016 wird der ErsteSenat zur Entlastung des Senatsvorsitzenden und Vizepräsidenten des Gerichts, der in zwei Kammern denVorsitz führt, einstweilig eine vierte Kammer bilden; vgl. den Beschluss des Ersten Senats vom 15.12.2015.

74 Farahat, in: von Bogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn.42 mwN.

75 Farahat, in: von Bogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn.42 Fn. 213.

76 § 93c) Abs. 1 S. 2; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 40.

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Ende gedacht, mit einer von dem anderen Senat vertretenen Auffassung nicht vereinbarist“77.

„Tragend sind jedenfalls diejenigen Rechtsauffassungen, die nicht hinweggedacht werdenkönnen, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zumAusdruck gekommenen Gedankengang entfiele“78; bei mehreren tragfähigenRechtsauffassungen, von denen ein Senat in ihrer Gesamtheit abweichen möchte, darf diesaber nicht dazu führen, dass die tragende Qualität einer einzelnen Rechtsauffassung auf derGrundlage einer isolierten Betrachtung nach diesen Kriterien verneint wird79.

Von der Möglichkeit der Anrufung des Plenums machen die Senate nur äußerst seltenGebrauch; bislang existieren lediglich fünf Plenarentscheidungen80. Sie stellenZwischenverfahren dar, in denen eine abstrakte Rechtsfrage entschieden wird, ohne zugleichauch das anhängige Verfahren zu beenden81, binden aber den vorlegenden Senat bei derEntscheidung im Ausgangsverfahren und werden nach § 48 Abs. 2 GO BVerfG 2015 wieSenatsentscheidungen behandelt und veröffentlicht.

III.1.3.2 Weitere Entscheidungszuständigkeiten und Verwaltungsfunktionen desPlenums

Weitere Zuständigkeiten des Plenums betreffen die Entscheidung über die Entlassung vonRichtern82, das Vorschlagsverfahren in Fällen der Verzögerung der Wahl neuer Richterinnenund Richter83 sowie die wesentlichen Fragen der Verwaltung des Gerichts einschließlich desErlasses einer Geschäftsordnung nach § 1 Abs. 3 BVerfGG. Nach § 1 Abs. 2 derGeschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.201484 „berät und beschließt“das Plenum „über die Aufstellung des Haushaltsplanes des Gerichts, über alle die Mitgliederdes Gerichts, ihren Status und ihre Arbeitsbedingungen unmittelbar betreffenden Fragensowie erforderlichenfalls über allgemeine Grundsätze der Verwaltung des Gerichts.“ Es wirdvom Präsidenten nach Bedarf, auf Antrag des Vizepräsidenten, dreier Richter oder einesAusschusses unverzüglich, mindestens jedoch einmal im Frühjahr und im Herbsteinberufen85.

77 BVerfGE 4, 27 (28).78 BVerfGE 132, 1 (Rn. 11) mit Verweis auf BVerfGE 96, 375 (404).79 BVerfGE 132, 1 (Rn. 13): andernfalls könne ein Senat auch ohne Anrufung des Plenums von

Rechtsauffassungen des anderen Senats, die jedenfalls in der Gesamtbetrachtung tragend sind, abweichen.80 BVerfGE 4, 27; E 54, 277; E 95, 322; E 107, 395; zuletzt BVerfGE 132, 1 zum Einsatz der Bundeswehr im Inland;

zum Verfahren kurz Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 21; O. Klein, in:Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 6 Rn. 164 ff.; Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Dasentgrenzte Gericht, S. 281 (373 f.); s. auch BVerfGE 96, 375 mit einem angehängten Beschluss des ZweitenSenats; dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 39 in Fn. 47; ferner Kranenpohl, Hinter demSchleier des Beratungsgeheimnisses, S. 129 f.

81 O. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 6 Rn. 164 ff.: „verfahrensinterneVorabentscheidungsinstitution“, keine „von Verfahrensbeteiligten anzurufende Rechtsmittelinstanzgegenüber Entscheidungen der Senate“.

82 S. oben im 2. Kapitel unter V.2.83 S. oben im 2. Kapitel unter III.3.84 BGBl. 2015 I S. 286.85 Vgl. § 2 GO BVerfG 2015.

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III.1.4. Die BeschwerdekammerEine Sonderstellung nimmt die vom Plenum des Gerichts eingesetzte Beschwerdekammergemäß § 97c Abs. 1 BVerfGG ein. In dem 2011 neu eingeführten Verfahren derVerzögerungsbeschwerde entscheidet das Bundesverfassungsgericht nach §§ 97 a) ff.BVerfGG über die angemessene Entschädigung und Wiedergutmachung, die demjenigenzusteht, der infolge unangemessener Dauer eines Verfahrens vor demBundesverfassungsgericht einen Nachteil erleidet86.

Die Beschwerde ist nur nach vorheriger schriftlicher Verzögerungsrüge zulässig. In derBeschwerde müssen die rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die die Unangemessenheitder Verfahrensdauer und damit den subjektiven Nachteil begründen, schriftlich undsubstantiiert dargelegt werden. Nach der Entscheidungspraxis der Beschwerdekammerrichtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer „nach den Umständen des Einzelfallsunter Berücksichtigung der Aufgaben und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts“. Beider Bestimmung der relevanten Einzelfallumstände ist an die vom Bundesverfassungsgerichtund vom EGMR für die Beurteilung überlanger Verfahrensdauer entwickelten Maßstäbeanzuknüpfen, insbesondere sind die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache fürdie Parteien, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, dieSchwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondereVerfahrensverzögerungen durch sie, sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende TätigkeitDritter, vor allem der Sachverständigen zu berücksichtigen87.

Die Beschwerdekammer setzt sich aus je zwei Richtern beider Senate zusammen, die in derRegel für zwei Jahre berufen werden88. Sie entscheidet ohne mündliche Verhandlung durchnicht anfechtbaren Beschluss89. Die Beschwerdekammer stellt damit einen weiterenSpruchkörper des Bundesverfassungsgerichts dar. Im Unterschied zu den Kammern nach §15a BVerfGG handelt es sich bei der Beschwerdekammer allerdings um einen„Unterausschuss des Plenums mit selbständiger Entscheidungskompetenz“90.

III.2.Das Gericht als VerfassungsorganDie ursprünglich vom Bundesverfassungsgericht selbst reklamierteVerfassungsorganqualität ist in § 1 Abs. 1 BVerfGG einfachrechtlich anerkannt91. Aus diesemStatus als Verfassungsorgan leitet sich eine spezifische Unabhängigkeit des Gerichts inorganisatorischer Hinsicht ab. Hieraus folgert es zum einen die verfassungsrechtlicheBefugnis, sich eine Geschäftsordnung zu geben. Im Unterschied zu den oberstenGerichtshöfen des Bundes untersteht das Bundesverfassungsgericht weiter nicht dem

86 Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahrenvom 24.11.2011, BGBl I S. 2302; dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgerichts, Rn. 345 k ff.;Lechner/Zuck, BVerfGG, § 97a Rn. 1 ff. Als Beispiel für eine erfolgreiche Verzögerungsbeschwerde s. BVerfG,Beschluss der Beschwerdekammer vom 20.8.2015, - Vz 11/14.

87 Vgl. BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 3.4.2013, Az. Vz 32/12 Rn. 14; BVerfG, Beschluss derBeschwerdekammer v. 1.10.2012, Az. Vz 1/12 Rn. 21.

88 Vgl. § 97 c) und d) BVerfGG iVm §§ 59 ff. GO BVerfG 2015.89 Zu den Anforderungen an die Begründung einer Verzögerungsbeschwerde nach § 97 b) Abs. 2 S. 2 BVerfGG

vgl. BVerfG, Beschluss der Beschwerdekammer vom 3.4.2013, Az. Vz 32/12 Rn. 13 ff.90 So Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 40; O. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.),

Verfassungsprozessrecht, § 6 Rn. 173.91 S. bereits oben in Fn. 9.

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Justizministerium als sachlich zuständigem Ministerium und verfügt über einen eigenenEinzelplan im Bundeshaushalt92. Protokollarisch steht der Präsident desBundesverfassungsgerichts hinter dem Bundespräsidenten, dem Bundestagspräsidenten,der Bundeskanzlerin und dem Bundesratspräsidenten an fünfter Stelle.

III.2.1. GeschäftsordnungsautonomieDas Bundesverfassungsgericht gibt sich eine Geschäftsordnung, über die das Plenumentscheidet. Diese durch das Gericht bereits zuvor wahrgenommeneGeschäftsordnungsautonomie wurde mit Wirkung vom 1.1.1986 in § 1 Abs. 3 BVerfGGaufgenommen. Das Gericht trifft in seiner Geschäftsordnung in der jeweiligen geltendenFassung93 Regelungen zu Organisation und Verwaltung sowie zu allgemeinen undspezifischen internen Verfahrensfragen. Es ist dabei an die Vorgaben desBundesverfassungsgerichtsgesetzes gebunden94. Die Geschäftsordnung wird vomPräsidenten des Gerichts im Bundesgesetzblatt bekanntgemacht95.

III.2.2. HaushaltsautonomieIm Unterschied zu den anderen Bundesgerichten stellt das Bundesverfassungsgericht seinenHaushalt im Rahmen des allgemeinen Haushalts selbst auf96. Hierfür setzt es nach § 3 Abs. 1c) der Geschäftsordnung einen ständigen Haushalts- und Personalausschuss ein. Diegenehmigten Haushaltsmittel werden vom Bundesverfassungsgericht selbst verwaltet97.

III.2.3. DienstaufsichtDas Bundesverfassungsgericht ist auch dienstrechtlich organisatorisch selbständig unduntersteht nicht wie die anderen Bundesgerichte der Dienstaufsicht eines Ministeriums. DerPräsident des Gerichts ist der oberste Dienstherr des wissenschaftlichen undVerwaltungspersonals des Gerichts und übt auch gewisse Verwaltungsbefugnissegegenüber den Richterinnen und Richtern aus98. Diese stehen als Richter desBundesverfassungsgerichts in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis99.

92 Allgemein zur Qualität als Verfassungsorgan Roellecke, in: Kirchhof/Isensee (Hrsg.), HStR III, § 67 Rn. 17 ff.;Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 27 ff.

93 Derzeit gilt die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2014, GO BVerfG 2015, BGBl2015 I S. 286.

94 Zur Frage, inwiefern das Gericht in der Geschäftsordnung auch außenwirksame Verfahrensfragen regeln darf,Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 94 Rn. 22.

95 Zu dieser Parallele zu anderen Verfassungsorganen im Unterschied zu den anderen obersten GerichtshöfenSchlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 28.

96 Das Gericht findet entsprechende Erwähnung in § 28 Abs. 3 BHO; vgl. Schlaich/Korioth, DasBundesverfassungsgericht, Rn. 29.

97 Lechner/Zuck, BVerfGG, § 1 Rn. 6. Rund 28 Mio. Euro pro Jahr nach Angabe des Bundesverfassungsgerichtsunter http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Gericht-und-Verfassungsorgan/gericht-und-verfassungsorgan_node.html (zuletzt abgerufen am 29.8.2016).

98 Vgl. §§ 9 ff. GO BVerfG 2015.99 §§ 98 ff. BVerfGG; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 30.

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III.3.Verwaltungsaufbau des Gerichts und weitere EinrichtungenIII.3.1. AusschüsseNeben dem Sechser-Ausschuss gemäß § 14 Abs. 5 BVerfGG100 und dem Haushalts- undPersonalausschuss setzt das Plenum nach § 3 der Geschäftsordnung weitere ständigeAusschüsse wie den Geschäftsordnungs-, den Protokoll- und den Bibliotheksausschuss einund bildet nach Bedarf weitere Ausschüsse, die das Plenum in bestimmten Bereichenentlasten und dessen Aufgaben übernehmen können.

III.3.2. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und MitarbeiterJedem Verfassungsrichter und jeder Verfassungsrichterin sind zur Zeit vier hauptamtlichewissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, häufig abgeordnete Richterinnen undRichter, zugewiesen, die die Verfassungsrichter selbst auswählen und von denen sie bei ihrerdienstlichen Tätigkeit unterstützt werden101.

III.3.3. Verwaltung des BundesverfassungsgerichtsDie Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts besteht aus der Justizverwaltung, derallgemeinen Verwaltung, der Abteilung EDV/Dokumentation, der Protokollabteilung und derBibliothek. Sie wird vom Direktor beim Bundesverfassungsgericht im Auftrag desPräsidenten des Gerichts geleitet102. Insgesamt sind in der Justiz- und allgemeinenVerwaltung des Gerichts rund 260 Personen beschäftigt.

100 Dazu bereits oben bei Fn.101 § 13 GO BVerfG 2015.102 So die Informationen des Gerichts unter http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-

Gericht/Organisation/organisation.html (zuletzt abgerufen am 29.8.2016).

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IV. Die Zuständigkeiten des BundesverfassungsgerichtsDas Verfassungsprozessrecht enthält im Unterschied zum Zivil- und zumVerwaltungsprozessrecht keine allgemeine Rechtswegeröffnung zumBundesverfassungsgericht für verfassungsrechtliche Streitigkeiten. Vielmehr ist das Gerichtnach dem Enumerationsprinzip nur in den im Grundgesetz vorgesehenen Verfahrenzuständig. Es ist nicht befugt, seine Zuständigkeit selbst zu erweitern103. Der Zugang zumGericht hängt damit von den im Grundgesetz vorgesehenen Verfahren ab104. Allerdingsdecken die dem Bundesverfassungsgericht zugewiesenen Zuständigkeiten die denkbarenKonstellationen verfassungsrechtlicher Streitigkeiten weitgehend ab105.

Die entscheidenden Zuständigkeitszuweisungen sind in Art. 93 GG und einigen weiterenGrundgesetzbestimmungen abschließend aufgeführt und im Katalog des § 13 BVerfGGzusammengefasst. Die wichtigsten Verfahren lassen sich nach ihrem Gegenstandsystematisch verschiedenen Typen zuordnen: objektive Normenkontrollen, föderativeStreitigkeiten und Organstreitigkeiten als kontradiktorische Streitigkeiten,Verfassungsbeschwerden, Verfassungsschutzverfahren und sonstige Verfahren. DieVerfassungsbeschwerde nimmt eine zum Teil typenübergreifende Sonderstellung ein106.Allen Verfahren ist gemeinsam, dass das Bundesverfassungsgericht nicht von Amts wegen,sondern nur auf Antrag tätig werden kann107.

IV.1.Übersicht über die einzelnen Verfahren vor demBundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht ist nach der geltenden Rechtslage in folgenden Verfahrenzuständig108:

Verfahrensart Rechtsgrundlage Aktenzeichen

Verwirkung von Grundrechten Art. 18 GG BvA

Feststellung der Verfassungswidrigkeit vonParteien

Art. 21 Abs. 2 GG BvB

Beschwerden im Wahlprüfungsverfahren /Nichtanerkennungsbeschwerden

Art. 41 Abs. 2 GG

Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG

BvC

103 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 90 f.104 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 77.105 So auch E. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, § 18 Rn. 409.106 Vgl. die im Wesentlichen ähnlichen Systematisierungsansätze bei E. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.),

Verfassungsprozessrecht, § 18 Rn. 410 ff.; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 93.107 Allerdings kann das Gericht in Fällen hinreichend gewichtigen objektiven Klarstellungsinteresses ein

Verfahren trotz Erledigung etwa durch den Tod des Beschwerdeführers oder des im AusgangsverfahrenBetroffenen weiterführen; vgl. den Beschluss des Ersten Senats des BVerfG vom 26.7.2016, Az. 1 BvL 8/15 Rn.63 (http://www.bverfg.de/e/ls20160726_1bvl000815.html).

108 Aktuelle Eingangs- und Erledigungszahlen zu den einzelnen Verfahren sind in der Jahresstatistik 2015abgedruckt, die unterhttp://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2015/statistik_2015_node.htmlabrufbar ist (zuletzt abgerufen am 29.8.2016).

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Verfahrensart Rechtsgrundlage Aktenzeichen

Anklagen gegen den Bundespräsidenten Art. 61 GG BvD

Verfassungsstreitigkeiten zwischenBundesorganen (Organstreitverfahren)

Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG BvE

Normenkontrollen auf Antrag vonVerfassungsorganen (abstrakteNormenkontrolle)

Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG BvF

Verfassungsstreitigkeiten zwischen Bund undLändern

(Bund-Länder-Streit)

Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GGund Art. 84 Abs. 4 S. 2GG

BvG

Öffentlichrechtliche Streitigkeiten zwischendem Bund und den Ländern, zwischenverschiedenen Ländern oder innerhalb einesLandes

Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG BvH

Richteranklagen Art. 98 Abs. 2 und 5 GG BvJ

Landesverfassungsstreitigkeit kraftlandesrechtlicher Zuweisung

Art. 99 GG BvK

Normenkontrollen auf Vorlage eines Gerichts(konkrete Normenkontrolle)

Art. 100 Abs. 1 GG BvL

Völkerrechtsregel als Teil des Bundesrechts(Völkerrechtsqualifizierungsverfahren)

Art. 100 Abs. 2 GG BvM

Auslegung des Grundgesetzes auf Vorlage einesLandesverfassungsgerichts (Divergenzvorlage)

Art. 100 Abs. 3 GG BvN

Meinungsverschiedenheiten über dasFortgelten von Recht als Bundesrecht

Art. 126 GG BvO

Verfahren in den sonst durch Bundesgesetzzugewiesenen Fällen

Art. 93 Abs. 3 GG BvP

Einstweilige Anordnungen § 32 BVerfGG BvQ

Verfassungsbeschwerden Art. 93Abs. 1 Nr. 4a und4b GG

BvR

Beendigung des Amtes eines Richters desBVerfG bei Dienstunfähigkeit oder aus sonstigenGründen

§ 105 BVerfGG PBvS

Plenarentscheidungen § 16 BVerfGG PvU /PBvU

Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz denVoraussetzungen des Art. 72 Abs. 2, 93 Abs. 1Nr. 2a GG entspricht(Kompetenzkontrollverfahren)

Art. 72 Abs. 2, 93 Abs. 1Nr. 2a GG

BvW

Vorlagen des BGH nach § 36 Abs. 2Untersuchungsausschussgesetz

§ 36 Abs. 2 PUAG BvX

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Verfahrensart Rechtsgrundlage Aktenzeichen

Anträge nach Art. 93 Abs. 2 GG(Kompetenzfreigabeverfahren)

Art. 93 Abs. 2 GG BvY

Zu den wichtigsten Verfahren gehören:

- die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG iVm §§ 13 Nr. 6, 76 ff.BVerfGG109 als objektives Beanstandungsverfahren in Bezug auf Landes- oderBundesrecht unabhängig von einem konkreten Rechtsstreit. Es dient der umfassendenDurchsetzung der Verfassungsbindung des Bundesgesetzgebers und der Bindung derLandesgesetzgeber an das Bundesrecht110. Antragsberechtigt sind lediglich dieBundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages;

- die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG iVm §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG,die ein Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts für Parlamentsgesetzebedingt. Hält ein Fachgericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ineinem konkreten Verfahren ankommt, für verfassungswidrig, setzt das Gericht dasVerfahren aus und legt dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Gültigkeit desGesetzes zur Entscheidung vor;

- das kontradiktorische Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG iVm § 13 Nr. 5,63 ff. BVerfGG, bei dem oberste Bundesorgane oder diesen gleichgestellte Beteiligte überRechte und Pflichten aus dem Grundgesetz streiten; auch die politischen Parteien könnenihren verfassungsrechtlichen Status aus Art. 21 GG im Wege des Organstreits geltendmachen111;

- der ebenfalls kontradiktorische Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG iVm §§13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG zur Geltendmachung der Kompetenzen im föderal gegliedertenBundesstaat. Im Sonderfall des Zwischenländerstreits geht die Entscheidungsbefugnisdes Bundesverfassungsgerichts über die bloße Feststellung einer Kompetenzverletzungdahingehend hinaus, dass das Gericht den Antragsgegner zur Durchführung oderUnterlassung einer Maßnahme verpflichten kann;

- die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG iVm §§ 13 Nr. 8a, 90 ff.BVerfGG dient schließlich der Durchsetzung der verfassungsrechtlich garantiertenGrundrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat; sie kann von jedermann mit derBehauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechteoder einem grundrechtsgleichen Recht verletzt zu sein. Beschwerdegegenstand könnendeutsche Hoheitsakte aller drei Gewalten sein, so dass neben denNormenkontrollverfahren auch das Verfahren der Verfassungsbeschwerde die Kontrolleder Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen eröffnen kann. Die Verfassungsbeschwerde isteiner Reihe von Zulässigkeitsvoraussetzungen wie etwa der Subsidiarität unterworfenund bedarf der ausdrücklichen Annahme durch das Bundesverfassungsgericht. Die

109 Das BVerfGG behandelt die Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG und Art. 93 Abs. 2 GG als Sonderfälle derabstrakten Normenkontrolle, die sich auf spezifische Rechtsfragen der Gesetzgebungskompetenz imBundesstaat beziehen und im Falle des Kompetenzfreigabeverfahrens nach Art. 93 Abs. 2 GG zurNormsurrogation durch gerichtliche Feststellung führen; dazu Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 140 ff.

110 Vgl. von Münch/Mager, Staatsrecht I, Rn. 568.111 St. Rspr. BVerfGE 4, 27 (31); 82, 322 (335); 84, 290 (298); 85, 264 (284); 136, 323 (Rn. 22); 138, 102 (Rn. 21 ff.);

dazu Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 21 Rn. 46.

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Die Rolle der Verfassungsgerichte in der „Multi-Level-Governance“.Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht

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zunächst nur in das BVerfGG und erst nachträglich auch in das Grundgesetz eingefügteVerfassungsbeschwerde hat sich zum Hauptinstrument verfassungsgerichtlichenRechtsschutzes entwickelt und dadurch sowohl zur herausragenden Stellung als auch zurerheblichen Arbeitsbelastung des Bundesverfassungsgerichts beigetragen112.

Zahlenmäßig überwiegen die Verfassungsbeschwerden gegenüber allen anderenVerfahrenstypen bei weitem, wobei ihre Erfolgsquote nicht über 2 % der Verfahren liegt113.An zweiter Stelle folgen konkrete Normenkontrollverfahren, die ebenfalls maßgeblich zumGrundrechtsschutz beitragen. Die statistische Häufigkeit eines Verfahrens sagt allerdingsüber seine rechtliche und politische Bedeutung wenig aus, da gerade in den Verfahren derabstrakten Normenkontrolle und des Organstreits Fragen von erheblicher rechtlicher undpolitischer Bedeutung vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden.

IV.2.Systematisierung der wichtigsten VerfahrenDie Verfahren lassen sich nach Gegenstand und Verfahrensziel wie folgt systematisieren:

IV.2.1. Verfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsakten

IV.2.1.1 Normenkontrollverfahren und -entscheidungenDie Vereinbarkeit von Normen mit dem Grundgesetz kann in unterschiedlichen Verfahrenvom Bundesverfassungsgericht geprüft werden114. Dabei steht es allein demBundesverfassungsgericht zu, nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze für nichtig zuerklären. Damit steht die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in einemSpannungsverhältnis zur Gesetzgebung, bleibt aber funktional gleichwohl rechtsprechendeTätigkeit115. Allen Verfahren ist gemeinsam, dass es sich um eine nachträgliche Kontrollehandelt; Verfahren der präventiven Normenkontrolle kennt das deutscheVerfassungsprozessrecht nicht116.

- Eine umfassende und weitreichende verfassungsrechtliche Überprüfung von Gesetzenfindet zum einen im Rahmen der sogenannten abstrakten Normenkontrolle statt, dieein begrenzter Kreis von Antragstellern unabhängig von einem konkreten Streitfall undohne eigene Betroffenheit beim Bundesverfassungsgericht initiieren kann117. Alsobjektives Beanstandungsverfahren kennt diese prinzipale Normenkontrolle auch keinenAntragsgegner. Es handelt sich um „ein von subjektiven Berechtigungen unabhängiges

112 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 75 ff.113 Vgl. die Jahresstatistik des Bundesverfassungsgerichts für das Jahr 2015, das auch Übersichten zu den

Verfahrenseingängen und Erledigungen seit 1951 enthält; im Jahr 2015 sind insgesamt 5739 neueVerfassungsbeschwerden beim BVerfG eingegangen; abrufbar unterhttp://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2015/statistik_2015_node.html(zuletzt abgerufen am 29.8.2016).

114 Vgl. BVerfGE 60, 360 (369 f.).115 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 118 f.; Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR III, § 70

Rn. 59; zum Spannungsverhältnis zur Gesetzgebung vgl. Britz, JURA 2015, 319 ff.116 S. noch unten; dort auch zu den Besonderheiten der Kontrolle von Zustimmungsgesetzen zu

völkerrechtlichen Verträgen.117 Zur rechtlichen und politischen Bedeutung und zu Beispielen wichtiger Entscheidungen s. nur

Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 123 f.; zu den Möglichkeiten einer Normbestätigung nach§ 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ebda., Rn. 133; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 76 Rn. 31 ff.

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objektives Verfahren zum Schutze der Verfassung, das der Prüfung von Rechtsnormen amMaßstab des Grundgesetzes dient“118.

- Auch bei der sog. konkreten oder inzidenten Normenkontrolle bzw. Richtervorlagenach Art. 100 Abs. 1 GG handelt es sich um ein objektives Kontrollverfahren119. ImUnterschied zur abstrakten Normenkontrolle stellt sich die Frage nach der Gültigkeit einesGesetzes in einem konkreten gerichtlichen Verfahren, das bis zur Beantwortung durch dasBundesverfassungsgericht ausgesetzt wird. Art. 100 Abs. 1 GG setzt damit einPrüfungsrecht des einzelnen Richters voraus und begründet bei Vorliegen derVoraussetzungen aufgrund des bundesverfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopolseine Vorlagepflicht120. Das Bundesverfassungsgericht prüft die vorgelegte Norm (nur)soweit nach, wie sie für den Ausgangsfall von Bedeutung ist. Seine Entscheidung bindetden Richter des Ausgangsfalls bei dessen Fortführung.

- Die Verfassungsbeschwerden zählen nicht im eigentlichen Sinne zu denNormenkontrollen. Im Ergebnis können sie aber zu gleichwertigenNormenkontrollentscheidungen führen. Mit der sogenanntenRechtssatzverfassungsbeschwerde kann der Beschwerdeführer sich unmittelbar gegenein Gesetz wenden und auch die Urteilsverfassungsbeschwerde kann mittelbar auf dieVerfassungswidrigkeit einer Norm gestützt werden. Während bei derVerfassungsbeschwerde aber der Zugang zum Gericht eine individuelle Betroffenheit desBeschwerdeführers voraussetzt, ist das Gericht in der Prüfung der Begründetheit nicht aufdie geltend gemachte Rechtsverletzung beschränkt, sondern kann „die angegriffenenAkte der öffentlichen Gewalt vielmehr von Amts wegen unter jedem in Betrachtkommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt“ prüfen121. Auch im Rahmen derVerfassungsbeschwerde kann das Bundesverfassungsgericht daher die Nichtigkeit einesGesetzes feststellen und aussprechen122.

- Daneben gibt es Verfahren einer nur beschränkten abstrakten Normenkontrolle, in denenbestimmte Antragsberechtigte Normen auf spezifische Verfassungsfragen hin überprüfenlassen können, ohne hierfür eine eigene Rechtverletzung geltend machen zu müssen.Hierzu rechnen das Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG wie ingewisser Weise auch das ebenfalls Art. 72 Abs. 2 GG betreffendeKompetenzfreigabeverfahren nach Art. 93 Abs. 2 GG. Letzteres richtet sich allerdings nichtgegen ein Gesetz, sondern lediglich auf die Rechtsfrage des Wegfalls der Erforderlichkeiteiner bundesgesetzlichen Regelung, und führt im Erfolgsfalle damit auch nicht zu einer

118 BVerfGE 83, 37 (49).119 Jüngst betont im Beschluss d. Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26.7.2016, Az. 1 BvL 8/15 Rn.

63 (http://www.bverfg.de/e/ls20160726_1bvl000815.html): „objektive, auf Rechtsklärung und Befriedungausgerichtete Funktion der Normenkontrolle“; Fortführung im Falle der Erledigung des Ausgangsrechtsstreits(wegen Todes des Betroffenen) bei „hinreichend gewichtigem, grundsätzlichem objektivemKlärungsbedürfnis“.

120 Vgl. nur Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 100 Rn. 2 f.121 BVerfGE 54, 53 (66 f.); E 42, 312 (325 f.); E 123, 148 (177); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn.

221, 224, 279.122 Auch im Rahmen der Verfassungsbeschwerde kann nach dem Tod des Beschwerdeführers ein objektives

Klärungsbedürfnis eine Fortführung rechtfertigen; vgl. BVerfGE 124, 300 (318 f.).

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Entscheidung über die Gültigkeit der Norm, sondern zu einer viel kritisiertenNormsurrogation123.

- Im Ergebnis ist auch die sog. kommunale Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr.4b GG iVm § 13 Nr. 8a, 91 BVerfGG keine Verfassungsbeschwerde im eigentlichen Sinn,sondern ein „Normenkontrollverfahren mit gegenständlich begrenzter Antragsbefugnis“,da sie sich auf die Überprüfung eines Gesetzes richtet124.

- Schließlich kann eine kompetenzbezogene Kontrolle von Gesetzen auch in Bund-Länder-Streit-Verfahren stattfinden, soweit sich diese auf eine Verletzung von Rechten undPflichten durch ein Gesetz beziehen. Allerdings ist der Prüfungsmaßstab in diesenVerfahren auf die gerügten Kompetenzverletzungen beschränkt; auch die Entscheidungdes Gerichts bleibt grundsätzlich auf eine Feststellung des Kompetenzverstoßesbegrenzt125.

IV.2.1.2 Taugliche Gegenstände im NormenkontrollverfahrenDie klassischen Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrolle beziehen sich aufRechtsnormen des deutschen Rechts.

- Verfahrensgegenstand einer abstrakten Normenkontrolle können Normen des Bundes-oder Landesrechts jeder Rangstufe sein126, unabhängig davon, ob es sich umgeschriebene oder ungeschriebene Regelungen, formelles oder materielles, vor- odernachkonstitutionelles Recht handelt127.

- Tauglicher Verfahrens- oder Vorlagegegenstand einer konkreten Normenkontrolle sindhingegen lediglich Gesetze im Sinne förmlicher nachkonstitutioneller128

Parlamentsgesetze des Bundes- oder eines Landesgesetzgebers129. Demgegenüber sinddie Fachgerichte selbst befugt, vorkonstitutionelle Gesetze, Rechtsverordnungen undSatzungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und ggf. nicht anzuwenden130.

123 Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG: „Die Feststellung, dass die Erforderlichkeit entfallen ist oder Bundesrecht nicht mehrerlassen werden könnte, ersetzt ein Bundesgesetz nach Artikel 72 Abs. 4 oder nach Artikel 125a Abs. 2 Satz 2.“;dazu Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 144; zur Kritik Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht,Rn. 132 f.

124 Allerdings gelten für sie in Bezug auf die Beschwerdebefugnis, die Frist und die Subsidiarität einigeZulässigkeitsvoraussetzungen, die dem Normenkontrollverfahren fremd sind. Zum Streit um die Qualifikations. nur Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 191 ff. mwN.; Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),HStR III, § 70 Rn. 76.

125 Regelmäßig dürfte daher auch das konkurrierende Verfahren der abstrakten Normenkontrolle vorgezogenwerden, das zudem keine Fristen kennt; so Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 135.

126 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 121: Landes- oder Bundesgesetze,Verfassungsbestimmungen, Rechtsverordnungen, Satzungen, Haushaltsgesetze als nur formelle Gesetze,nicht aber Verwaltungsvorschriften oder Normen des Europäischen Unionsrechts.

127 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 37 mwN.128 D.h. nach dem 23.5.1949 verkündete Gesetze; im Ausnahmefall können vorkonstitutionelle Gesetze tauglicher

Vorlagegegenstand sein, wenn der Bundesgesetzgeber sie in seinen Willen aufgenommen und damitbestätigt hat. Dazu mit Beispielen aus der Rspr. d. BVerfG Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 100 Rn. 13.

129 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 136 ff. mwN., die sich im Ergebnis auch für eineEinbeziehung vorkonstitutionellen Rechts in die Vorlagepflicht aussprechen.

130 S. nur Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 122. Ausdrückliche Entscheidungen über dieGültigkeit bleiben aber dem Bundesverfassungsgericht bzw. den für untergesetzliche Rechtsnormenzuständigen Verwaltungsgerichten vorbehalten.

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In beiden Verfahren müssen die Normen jeweils gelten, d.h. existent sein. Eine präventiveNormenkontrolle kennt das Grundgesetz nicht. Für Gesetze bedeutet dies, dass sie erst abihrer Verkündung im Gesetzblatt zum Gegenstand einer Normenkontrolle gemacht werdenkönnen. Auf den Zeitpunkt ihrer konkreten Anwendung mit dem Inkrafttreten kommt esdemgegenüber nicht an.

Eine Ausnahme nimmt das Bundesverfassungsgericht lediglich bei Zustimmungsgesetzen zuvölkerrechtlichen Verträgen an und lässt die abstrakte Normenkontrolle bereits nachAbschluss des Gesetzgebungsverfahrens und vor der Ausfertigung und Verkündung desGesetzes zu, um den Eintritt der völkerrechtlichen Bindung zu verhindern131.

Nach Außerkrafttreten einer Norm findet eine Normenkontrolle ausnahmsweise dann nochstatt, wenn und soweit diese Norm noch Rechtswirkungen entfaltet132.

IV.2.1.3 A posteriori-Charakter der NormenkontrolleDas deutsche Recht sieht lediglich die nachträgliche Normenkontrolle vor und erteilt einerpräventiven Normenkontrolle damit eine klare Absage133. Dies folgt bereits aus dem Wortlautvon Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, der existierendes „Recht“ als Antragsgegenstand bestimmt, wieauch aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und demGewaltenteilungsgrundsatz134.

Die ursprünglich in § 97 BVerfGG vorgesehene Möglichkeit einer Beauftragung desBundesverfassungsgerichts mit einem Gutachten, die eine präventive Normkontrolleermöglicht hatte, wurde bereits 1956 wieder aus dem BVerfGG gestrichen und trotzvereinzelter Diskussionen bis heute auch nicht wieder eingeführt.

Die einzige Ausnahme von dieser strikten Regel stellt die Überprüfung vonZustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 GG dar, die bereitsnach dem Gesetzesbeschluss und vor der Verkündung im Bundesgesetzblatt mit derNormenkontrolle angegriffen werden können135, da sonst mit der Ratifikation dievölkerrechtliche Bindung auch im Falle eines Verfassungsverstoßes eintritt und nur nachvölkerrechtlichen Regeln wieder rückgängig gemacht werden könnte.

IV.2.1.4 Die Rolle der Fachgerichtsbarkeit im Rahmen der NormenkontrolleMit den Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrolle ist die Befugnis zurÜberprüfung von Normen grundsätzlich beim Bundesverfassungsgericht zentral verankert,dem (neben den Landesverfassungsgerichten in Bezug auf Landesgesetze) die alleinigeBefugnis zukommt, Gesetze für nichtig zu erklären. Grundsätzlich ist es den Fachgerichtendamit auch verwehrt, Gesetze außerhalb eines Normenkontrollverfahrens unangewendet zulassen136.

Damit wird den Fachgerichten aber nicht jede Kompetenz abgesprochen, Gesetze auf ihreVerfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Vielmehr sind diese sogar zunächst aufgrund ihrerGesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG zur Prüfung der anzuwendenden Gesetze auf ihre

131 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 396 (413); weitere Beispiele bei Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art.93 Rn. 122.

132 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 122.133 Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 65 mwN.134 Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 65 mwN.135 Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 65 mwN.136 Vgl. dazu Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 100 Rn. 2 f.

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Verfassungsmäßigkeit verpflichtet, da sie nur verfassungsmäßige Gesetze anwenden dürfen.Auch die durch Art. 100 Abs. 1 GG auferlegte Vorlagepflicht im Rahmen der konkretenNormenkontrolle begründet nicht nur die Pflicht zur Prüfung, sondern setzt gerade auch dieBefugnis zur Überprüfung des anzuwendenden Rechts voraus.

Die konkrete Normenkontrolle soll die Einheitlichkeit der Normgeltung sichern; sie dientnicht dem Schutz der Gerichte137. „Die Normprüfung ist diffus, die letztverbindlicheNormverwerfung ist konzentriert“138. Die wesentliche Funktion des Verwerfungsmonopolsbesteht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts daher auch darin, „durch allgemeinverbindliche Klärung verfassungsrechtlicher Fragen divergierende Entscheidungen derGerichte, Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung zu vermeiden“139.

Untergesetzliche Regelungen wie Rechtsverordnungen und Satzungen sowievorkonstitutionelle Gesetze dürfen die Gerichte auch aus eigener Autorität unangewendetlassen. Eine ausdrückliche Normverwerfung ist allerdings auch hier entweder demBundesverfassungsgericht oder dem Bundesverwaltungsgericht in speziellen Verfahren derNormenkontrolle überlassen.

IV.2.2. Föderative KompetenzkonflikteFöderative Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern wie auch zwischen einzelnen Ländernstellen klassische Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit dar. Das Grundgesetz sieht eineReihe von Verfahren vor, in denen Kompetenzkonflikte, die sich aus der föderalenGliederung des Staates ergeben, durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werdenkönnen.

Gemeinsam sind diesen Verfahren ein kontradiktorischer Charakter und die Begrenzung desPrüfungsmaßstabs auf die jeweiligen gerügten Kompetenzverstöße. Grundsätzlich kann imRahmen föderativer Streitigkeiten auch einfaches Bundesrecht neben dem GrundgesetzPrüfungsmaßstab sein, dem das Landesrecht nach Art. 31 GG nicht widersprechen darf.Teilweise unterscheiden sich die Verfahren in den Voraussetzungen undEntscheidungswirkungen.

IV.2.2.1 Bund-Länder-StreitDie größte Bedeutung kommt innerhalb der föderativen Streitigkeiten dem sog. Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG zu140. Antragsgegenstand sind„Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder,insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübungder Bundesaufsicht“. Antragsgegner sind der Bund und ein Land, dem andere Länderbeitreten können. Verfahrensgegenstand ist die jeweilige konkrete, rechtlich relevanteMaßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners als Ursache einer zu behauptendenVerletzung oder Gefährdung eines bestimmten verfassungsrechtlichen föderalen Rechts desAntragstellers, d.h. einer Befugnis, Zuständigkeit oder Kompetenz im Rahmen einesverfassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses141.

137 Roellecke, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 68 Rn. 20, Rn. 25 zur Beeinflussung derVerfassungsrechtsprechung durch die Fachgerichte.

138 Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 79.139 BVerfGE 1, 239 (292); E 87, 95 (96) nach Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 79 in Fn. 616.140 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 132, 135 mit bedeutsamen Beispielen aus der

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.141 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 51 ff.

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Bei Meinungsverschiedenheiten, die die Ausführung von Bundesrecht durch die Länderbetreffen, muss nach Art. 84 Abs. 4 GG zunächst der Bundesrat entscheiden, bevor dasBundesverfassungsgericht innerhalb eines Monats angerufen werden darf. Diesesbeschränkt sich bei der Prüfung in beiden Fällen auf die vom Antragsteller gerügten Normendes Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab142.

Stellt das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung föderaler Kompetenzen oderBefugnisse fest, spricht es dies als Feststellung aus, ohne den Antragsgegner zu einerbestimmten Handlung zu verpflichten. Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind allerdings alleVerfassungsorgane verpflichtet, eine solche Feststellungsentscheidung desBundesverfassungsgerichts auch zu beachten.

IV.2.2.2 ZwischenländerstreitigkeitenDas Bundesverfassungsgericht entscheidet darüber hinaus über sogenannteZwischenländerstreitigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 GG, mithin über Streitigkeitenzwischen verschiedenen Ländern etwa im Rahmen bestehender Staatsverträge143 oder umdie verfassungsrechtlichen Ansprüche von vorkonstitutionell durch Eingliederungsverträgeuntergegangener deutscher Länder144.

Im Unterschied zum Bund-Länder-Streit geht die Entscheidungsbefugnis desBundesverfassungsgericht hier über die bloße Feststellung des Kompetenzverstoßes hinausund schließt die Möglichkeit ein, den Antragsgegner zu einer Maßnahme, Unterlassung oderLeistung zu verpflichten. Das Verfahren hat bislang keine praktische Bedeutung erlangt.

IV.2.2.3 Weitere Verfahren mit föderalem BezugNach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG ist das Bundesverfassungsgericht zudem dann fürkontradiktorische landesinterne Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art zuständig, wennhierfür kein anderer Rechtsweg insbesondere zu einem Landesverfassungsgericht gegebenist145.

Einen Bezug zur Kompetenzverteilung im Bundesstaat weisen daneben auch diespezifischen Normkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a und Art. 93 Abs. 2 GG auf, beidenen es sich zwar nicht um kontradiktorische Verfahren handelt, aber deren alleinigerPrüfungsmaßstab die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung nach Art. 72 Abs. 2und 4 GG ist, ohne dass der Antragsteller auch eine Kompetenzverletzung geltend machenmüsste146.

IV.2.3. OrganstreitigkeitenAuch beim Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG als klassischerVerfassungsstreitigkeit147 handelt es sich um ein kontradiktorisches Verfahren, in demoberste Bundesorgane oder diesen gleichgestellte Beteiligte eigene verfassungsrechtlicheRechte und Pflichten geltend machen können. Neben den obersten Bundesorganen können

142 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 60; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 148:„der Prüfungsmaßstab ergibt sich aus den Anforderungen an die Antragsbefugnis“.

143 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 156 ff.144 Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 73.145 BVerfGE 99, 1 (17); 102, 245 (250); 109, 275 (278 f.); nach Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art.

93 Rn. 159: „der Sache nach als subsidiäres Landesverfassungsgericht“; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 93Rn. 74: Auffangzuständigkeit für landesinterne Organstreitigkeiten.

146 S. dazu bereits oben unter 1.1.147 Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 46; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 96.

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nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere auch Abgeordneteund Parteien ihren durch das Grundgesetz garantierten verfassungsrechtlichen Statusverteidigen. Fraktionen des Bundestags können darüber hinaus neben eigenen Rechten inProzessstandschaft auch die Rechte des Bundestags geltend machen.

Gegenstand des Organstreits muss eine konkrete rechtlich erhebliche Maßnahme oderUnterlassung sein, von der der Antragsteller substantiiert behauptet, dass sie ihn inverfassungsrechtlichen Kompetenzen oder Zuständigkeiten verletzt148. Die Beteiligtenmüssen hierzu in einem gegenseitigen verfassungsrechtlichen Rechts- undPflichtenverhältnis stehen149.

Auch im Organstreitverfahren beschränkt das Bundesverfassungsgericht seine Prüfung aufdie gerügte Rechtsverletzung150 und stellt in der Entscheidung lediglich fest, ob diebeanstandete Maßnahme oder Unterlassung die gerügten verfassungsmäßigen Rechteverletzt, ohne diese aufzuheben, für nichtig zu erklären oder bestimmte Verpflichtungenauszusprechen151. Im Rahmen der Rechtsbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die beteiligtenOrgane und Organteile aber auch hier zur Beachtung der Feststellungsentscheidungverpflichtet.

In der Praxis stellt der Organstreit insbesondere ein Instrument der Opposition dar, das „dieMinderheit vor dem Missbrauch der Verfahrensherrschaft durch die Mehrheit schützt“152.

IV.2.4. VerfassungsbeschwerdeDie Verfassungsbeschwerde bildet einen „außerordentlichen Rechtsbehelf“153 für denEinzelnen, mit dem die Grundrechtsgewährleistungen subsidiär verfassungsgerichtlichdurchgesetzt werden können. Neben diesem vorrangigen Schutz subjektiverRechtspositionen bewirkt die Verfassungsbeschwerde zugleich auch sekundär den Schutzdes objektiven Verfassungsrechts154.

Zur Kanalisierung des Arbeitsanfalls infolge der Zahl der Verfassungsbeschwerden155 wurdeauf der Grundlage von Art. 94 Abs. 2 Var. 2 GG in §§ 93a ff. BVerfGG ein Annahmeverfahreneingeführt, das die Entscheidung durch den zuständigen Senat von der vorherigenAnnahme abhängig macht156. Dieses Annahmeverfahren stellt keineZulässigkeitsvoraussetzung für die Verfassungsbeschwerde, sondern ein eigenständigesGerichts-Zugangsverfahren dar, das der eigentlichen Prüfung der Verfassungsbeschwerde

148 Auch das BVerfG spricht insoweit von „Rechten“, da der kontradiktorische Charakter des Verfahrens auch einegewisse Subjektivierung der Rechtsbeziehungen bedinge; BVerfGE 2, 143 (152); Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 98.

149 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 14 ff.150 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 34.151 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 115.152 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 99.153 BVerfGE 18, 315 (325); E 115, 81 (92); Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 78; Pieroth, in: Jarass/Pieroth,

GG, Art. 93 Rn. 75.154 BVerfGE 124, 300 (318); 126, 1 (17); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 76; Schlaich/Korioth, Das

Bundesverfassungsgericht, Rn. 272 f.155 5739 Eingänge im Jahr 2015; mehr als 95 % aller Verfahren.156 Dazu im Einzelnen unten.

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vorgeschaltet ist157. Die Annahme steht nicht im Ermessen des Gerichts, das allerdings übereinen erheblichen Beurteilungsspielraum verfügt158. Ein Großteil der Verfahren scheitert ander Hürde dieses Annahmeverfahrens159.

Im Regelfall richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein gerichtliches Urteil(Urteilsverfassungsbeschwerde); im Ausnahmefall kann sie sich auch unmittelbar gegen einGesetz richten (Rechtssatzverfassungsbeschwerde). Sie ist nur dann zulässig, wenn derBeschwerdeführer geltend machen kann, durch den genau zu bestimmenden Hoheitsaktselbst, gegenwärtig und unmittelbar in eigenen Rechten verletzt zu sein. Grundsätzlich setztdie Zulässigkeit voraus, dass der fachgerichtliche Rechtsweg vollständig durchlaufen wordenist (Rechtswegerschöpfung) und auch keine weiteren Rechtsbehelfe in Betracht kommen, dadie Verfassungsbeschwerde nur subsidiär zum Zuge kommt160.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn ein Grundrecht oder grundrechtsgleichesRecht des Beschwerdeführers tatsächlich verletzt ist. Im Rahmen der Begründetheitbeschränkt sich das Bundesverfassungsgericht allerdings im Unterschied zu denkontradiktorischen Verfahren des Organstreits und des Bund-Länder-Streits nicht notwendigauf die Prüfung der gerügten Grundrechtsverletzung, sondern kann den angegriffenen Aktim Falle einer Grundrechtsbetroffenheit gegebenenfalls von Amts wegen unter jedemverfassungsrechtlichen Gesichtspunkt prüfen161.

Das Bundesverfassungsgericht wird dabei aber gerade nicht als „Superrevisionsinstanz“tätig, das auch die Entscheidungen der Fachgerichte vollumfänglich überprüft162. Vielmehrsind diese in erster Linie und vorrangig dazu aufgerufen, im Rahmen ihrer Rechtsprechungdie verfassungsrechtlichen Grundrechtsverbürgungen zu gewährleisten. Im Rahmen desaußerordentlichen Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde prüft dasBundesverfassungsgericht daher nur Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, währenddie Anwendung des einfachen Rechts und die Feststellung der Tatsachen den Fachgerichtenüberlassen bleibt163. Eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts ist regelmäßig danngegeben, wenn ein Gericht den Einfluss der Grundrechte ganz oder grundsätzlich verkannthat, wenn die Rechtsanwendung grob und offensichtlich willkürlich ist oder die Grenzen derrichterlichen Rechtsfortbildung überschritten worden sind164.

157 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 39; kritisch zum AnnahmeverfahrenSchlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 274 ff.

158 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 40.159 Vgl. die Jahresstatistik 2015 des Bundesverfassungsgerichts, abrufbar unter

http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2015/statistik_2015_node.html(zuletzt abgerufen am 29.8.2016). S. auch die Kritik am Annahmeverfahren bei Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 43.

160 Zu den einzelnen Voraussetzungen s. nur Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 164 ff.;Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 194 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 75 ff.

161 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 194 mwN.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93Rn. 128; Scherzberg, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, § 13 Rn. 118.

162 BVerfGE 2, 226 (339); E 3, 213 (219); E 7, 198 (207); Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn.56 mwN.; Scherzberg, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, § 13 Rn. 120.

163 S. dazu noch unten.164 Grundlegend BVerfGE 18, 85 (92 f.); E 106, 28 (45) st. Rspr; dazu Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 130

mwN.; zu den Diskussion um die Kontrolldichte im Rahmen der Verfassungsbeschwerde eingehendScherzberg, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, § 13 Rn. 119 ff.

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IV.2.5. Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Ratifikation völkerrechtlicherVerträge

Im deutschen Recht gibt kein spezielles verfassungsprozessuales Verfahren zur antizipiertenoder nachträglichen Überprüfung völkerrechtlicher Verträge. Vielmehr fallen diese nichtunter die Jurisdiktionsgewalt des Bundesverfassungsgerichts, da es sich nicht um Aktedeutscher Staatsgewalt handelt165. Sie sind daher insbesondere kein tauglicher Gegenstandder abstrakten oder konkreten Normenkontrolle bzw. einer Verfassungsbeschwerde vor demBundesverfassungsgericht.

Da es auch kein präventives verfassungsgerichtliches Begutachtungsverfahren gibt, scheideteine präventive verfassungsgerichtliche Kontrolle ebenso aus166.

Allerdings kann das jeweilige Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag nachden allgemeinen Grundsätzen im Rahmen einer Normenkontrolle wie auch im Rahmen einerVerfassungsbeschwerde überprüft werden, für die die Besonderheit gilt, dass das Verfahrenausnahmsweise bereits vor Verkündung des Gesetzes zulässig ist, um eine mit demInkrafttreten des Gesetzes verbundene Bindung an den völkerrechtlichen Vertrag zuvermeiden167.

Eine Rolle spielt diese Praxis auch bei den Zustimmungsgesetzen zu Änderungen dereuropäischen Verträge. Während die Verträge selbst wie auch das europäische Recht nichtGegenstand einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle sein können168, behält sich dasBundesverfassungsgericht vor, den Zustimmungsrechtsakt daraufhin zu überprüfen, ob erdie Integrationsverantwortung deutscher Verfassungsorgane wahrt und nimmt eine Ultra-vires- und eine Identitätskontrolle vor169.

Einen tauglichen Prüfungsgegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren könnendemgegenüber allgemeine Regeln des Völkerrechts nach Art. 25 GG darstellen170. Sie spielenzum einen im Verfahren der Normverifikation nach Art. 100 Abs. 2 GG eine Rolle, in dem einGericht dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorlegen kann, ob eine allgemeine Regeldes Völkerrechts als Bundesrecht im Sinne von Art. 25 GG existiert und ob sie für denEinzelnen Rechte und Pflichten erzeugt171. Das Verfahren stellt allerdings keine Grundlage fürdie allgemeine Überprüfung völkervertraglicher Regelungen durch dasBundesverfassungsgericht dar. Hiervon zu unterscheiden sind weiter konkreteNormenkontrollen iSv Art. 100 Abs. 1 GG, die sich darauf beziehen, ob ein Gesetz mit einerallgemeinen Regel des Völkerrechts iSv Art. 25 GG übereinstimmt172.

165 S. nur Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 39 mwN.166 Vgl. oben unter 1.3.167 S. oben.168 Zuletzt bestätigt in Beschluss d. BVerfG-K v. 19.7.2016, 2 BvR 2752/11 Rn. 16 f.: „Maßnahmen von Organen,

Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union sind keine Akte deutscher öffentlicher Gewaltim Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG und daher auch nicht unmittelbarerBeschwerdegegenstand im Verfahren der Verfassungsbeschwerde“; s. auch BVerfG, Urteil v. 21. Juni 2016, 2BvR 2728/13 u. a., Rn. 97; BVerfGE 129, 124 (175 f.).

169 S. BVerfGE 89, 155 (175, 188); E 123, 267 (354). Zur Identitätskontrolle durch das BVerfG s. Eßlinger/Herzmann,JURA 2016, 852 ff.

170 E. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, § 22 Rn. 677.171 Sog. Völkerrechtsqualifizierungsverfahren; hierzu BVerfG-K, NJW 2012, 294; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art.

100 Rn. 33 ff.; Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 128 ff.172 So auch Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 100 Rn. 33.

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V. Antragsbefugnis, Aktivlegitimation und Zugang zumBundesverfassungsgericht

Die Voraussetzungen des Zugangs zum Bundesverfassungsgericht sind nicht allgemein,sondern verfahrensspezifisch geregelt. Während in einigen Verfahren lediglich der Kreis derAntragsberechtigten beschränkt ist, setzen andere Verfahren darüber hinaus eine spezifischeeigene Betroffenheit voraus. Teilweise beschränken weitere Zulässigkeitsvoraussetzungenden Zugang zum Gericht darüber hinaus auch unabhängig von der Person desAntragstellers.

V.1. Kreis der Beteiligten und AntragsberechtigtenDer Kreis der Antragsteller und Antragsberechtigten wie auch ihre Bezeichnung variiert inAbhängigkeit vom Verfahrensziel.

V.1.1. Abstrakte NormenkontrolleAntragsberechtigt im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle sind nach Art. 93 Abs. 1 Nr.2 GG die Bundesregierung als Kollegium von Bundeskanzlerin und Bundesministern gemäßArt. 62 GG, die Landesregierungen und ein Viertel der Mitglieder des Bundestages, die „alsEinheit auftreten und identische Ziele verfolgen“ müssen173. Im Kompetenzkontrollerfahrennach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG sind nur der Bundesrat, die Landesregierungen und dieVolksvertretungen der Länder antragsberechtigt.

Die Antragsberechtigten müssen nicht in besonderer Weise antragsbefugt sein174; allerdingssetzt die Zulässigkeit einer abstrakten Normenkontrolle Meinungsverschiedenheiten oderZweifel über die Gültigkeit einer Norm und damit einen bestimmten Antragsgrund voraus175,die sich im Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG allein auf die Voraussetzungen von Art. 72Abs. 2 GG beziehen müssen.

Statt eines subjektiven Rechtsschutzbedürfnisses ist darüber hinaus ein objektivesKlarstellungsinteresse erforderlich176.

V.1.2. Föderative VerfassungsstreitverfahrenMögliche Antragsteller und Antragsgegner im Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3GG sind allein die Bundesregierung für den Bund und eine Landesregierung für das jeweiligeLand, in einem Zwischenländerstreit die Landesregierungen der beteiligten Länder und ineinem Verfassungsstreit innerhalb eines Landes die obersten Organe dieses Landes und diein der Landesverfassung oder in der Geschäftsordnung eines obersten Landesorgans miteigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe177.

Darüber hinaus müssen die Antragsteller auch antragsbefugt sein, d.h. geltend machen,durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in eigenen Rechten verletzt

173 BVerfGE 68, 346 (350); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 35.174 Sofern man Antragsbefugnis als Möglichkeit einer Betroffenheit in eigenen Rechten versteht.175 Zum Streit um die insofern enger gefasste Bestimmung des § 76 Abs. 1 BVerfGG BVerfGE 96, 133 (137); Pieroth,

in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 40.176 BVerfGE 100, 249 (257); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 41.177 Vgl. §§ 68 und 71 BVerfGG.

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zu sein178. Diese organschaftlichen Rechte oder Kompetenzen (nicht Grundrechte) müssendem jeweiligen Antragssteller aufgrund eines verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnissesselbst zustehen. Eine Verletzung oder unmittelbare Gefährdung darf nicht gänzlichausgeschlossen sein. Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers wird grundsätzlich durchdas Vorliegen der Antragsbefugnis indiziert, kann im Einzelfall aber auch abzulehnen sein,wenn etwa der Antragsteller selbst hätte für Abhilfe sorgen können179.

V.1.3. OrganstreitverfahrenBeteiligtenfähig im Bundes-Organstreitverfahren sind nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sind dieobersten Bundesorgane und andere Beteiligte, die durch das GG oder die Geschäftsordnungeines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Nach § 63 BVerfGGsind dies insbesondere der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, dieBundesregierung sowie die mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe. AlsBeteiligte kommen insbesondere auch politische Parteien, Fraktionen oder einzelneAbgeordnete in Betracht, soweit sie sich auf ihren verfassungsrechtlichen Status berufen180.

Nach § 64 BVerfGG muss der Antragsteller antragsbefugt sein, d.h. geltend machen, durcheine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in eigenen Rechten verletzt zu sein.Diese organschaftlichen Rechte oder Kompetenzen (nicht Grundrechte) müssen demjeweiligen Antragssteller selbst oder aber dem Organ, dem er angehört, zustehen, d.h. derAntragsteller muss darlegen, dass ihm ein organschaftliches Recht „zur ausschließlicheneigenen Wahrnehmung oder zur Mitwirkung übertragen“ ist oder seine „Beachtungerforderlich ist, um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen und die Gültigkeit seiner Akte zugewährleisten“181. Eine Verletzung oder unmittelbare Gefährdung darf nicht gänzlichausgeschlossen sein; die beanstandete Maßnahme muss daher jedenfalls rechtserheblichsein, um die Rechtsstellung des Antragstellers überhaupt beeinträchtigen zu können182. DasRechtsschutzbedürfnis des Antragstellers wird auch hier grundsätzlich durch das Vorliegender Antragsbefugnis indiziert183.

V.2. Sonderfall der Verfassungsbeschwerde: DasBundesverfassungsgericht als Bürgergericht

Der Weg nach Karlsruhe steht im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr.4a GG grundsätzlich „jedermann“ offen. Damit ist das Bundesverfassungsgericht vor allemein Bürgergericht184. Mit seiner materiellen Rechtsprechung insbesondere in den frühenEntscheidungen Lüth und Elfes hat das Bundesverfassungsgericht zudem für einenweitgehend flächendeckenden materiellrechtlichen Grundrechtsschutz gesorgt und damitdie Zugangsmöglichkeiten im Bereich der Beschwerdebefugnis weit umrissen.

178 § 69 iVm § 64 Abs. 1 BVerfGG.179 Vgl. einzelne Beispiele bei Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 57, 28.180 S. bereits oben; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 9 ff.: weitere mögliche Beteiligte: Ausschüsse des

Parlaments, Untersuchungsausschüsse, die Bundesminister, die Bundesversammlung etc.181 BVerfGE 68, 1 (73); zitiert nach Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 17.182 BVerfGE 138, 45 (Rn. 27); E 138, 102 (Rn. 24); zitiert nach Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 23.183 Vgl. einzelne Beispiele bei Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 28.184 So Farahat, in: von Bogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97

Rn. 50 ff.

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Auf der anderen Seite sind die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde empirischausgesprochen gering, was ihrer Popularität und ihrem Zuspruch jedoch keinen Abbruch tut.

V.2.1. Beteiligtenfähigkeit und BeschwerdebefugnisNach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG kann die Verfassungsbeschwerde von jedermann mit derBehauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechteoder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Recht verletzt zusein. Jedermann ist jede natürliche Person sowie jede juristische Person des Privatrechts,soweit ihr nach Art. 19 Abs. 3 GG ein Grundrecht zustehen kann. Ausreichend ist diegrundsätzliche Grundrechtsfähigkeit des Beschwerdeführers.

Die Behauptung einer Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechtenbezeichnet die erforderliche Beschwerdebefugnis, die regelmäßig dann gegeben ist, wennder Beschwerdeführer substantiiert behaupten kann, selbst, gegenwärtig und unmittelbar ineinem Grundrecht verletzt zu sein und diese Grundrechtsbeeinträchtigung zumindestmöglich erscheint185. Grundrechtsgefährdungen sind hierfür ausreichend, soweit sie eineverletzungsgleiche Beeinträchtigung hervorrufen.

Im Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden stellt die gegenwärtige und unmittelbareSelbstbetroffenheit in der Regel kein größeres Problem dar, während es an derUnmittelbarkeit bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde im Regelfall fehlt. Sofern einGesetz zunächst eines Vollzugsakts bedarf, muss dieser grundsätzlich abgewartet und imWege des fachgerichtlichen Rechtsschutzes angegriffen werden. Eine unmittelbareBetroffenheit durch ein Gesetz nimmt das Bundesverfassungsgericht allerdings dann an,wenn entweder bereits das Gesetz ohne weiteren Vollzugsakt in den Rechtskreis desBeschwerdeführers einwirkt oder wenn jedenfalls das Abwarten eines Vollzugsaktes demBeschwerdeführer etwa bei Sanktionen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts nichtzuzumuten ist oder die Norm den Betroffenen zu nicht korrigierbaren Entscheidungen oderkaum rückgängig zu machenden Dispositionen veranlasst186.

V.2.2. Subjektive und objektive GrundrechtsverwirklichungIn materieller Hinsicht hat das Bundesverfassungsgericht beginnend mit seiner Elfes-Rechtsprechung allerdings den Kreis möglicher Grundrechtsverletzungen denkbar weitgezogen und Art. 2 Abs. 1 GG zur allgemeinen Handlungsfreiheit entwickelt, die esgrundsätzlich erlaubt, jedes beschränkende Gesetz im Wege der Verfassungsbeschwerdedirekt oder indirekt auf seine formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen187.Die Grundsätze dieser Rechtsprechung gelten nicht nur für Art. 2 Abs. 1 GG, sonderneröffnen bei jedem Grundrechtseingriff die umfassende Überprüfung des Gesetzes auf seineformelle und materielle Verfassungsmäßigkeit.

185 Im Einzelnen statt vieler Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 88 ff.; Wieland, in: Dreier (Hrsg.),Grundgesetz, Art. 93 Rn. 84 ff. mwN.

186 Statt vieler Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 185 mit zahlreichen Zitaten aus derRspr. des Bundesverfassungsgerichts.

187 BVerfGE 6, 32 (36, 41): „Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seineHandlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es gegeneinzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde seinGrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt“; dazu Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn.179 ff.; kritisch Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 15, 218 ff. mwN.

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V.2.3. Beschränkung der Prüfung spezifischen Verfassungsrechts im Rahmen derUrteilsverfassungsbeschwerde

Im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde wird der Prüfungsumfang allerdings auf diePrüfung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt, um die Besonderheiten desverfassungsgerichtlichen Verfahrens, das keine weitere Instanz innerhalb desfachgerichtlichen Instanzenzuges darstellt, herauszustellen188. Nach der sogenanntenHeck‘schen Formel sind die „Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung desTatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnenFall […] allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durchdas Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischemVerfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht aufVerfassungsbeschwerde hin eingreifen […] Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nichtschon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektivfehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen“189.Das Bundesverfassungsgericht prüft daher lediglich, ob „Auslegungsfehler sichtbar werden,die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts,insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellenBedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind.“190

Die Formel ist in ihrem Aussagegehalt unbestimmt und in der Literatur umstritten191.Teilweise findet sie eine Ergänzung durch die sog. Schumannsche Formel, derzufolge einegrundsätzlich unrichtige Anschauung von Grundrechten dann angenommen werden müsse,wenn der angefochtene Richterspruch eine Rechtsfolge annehme, die der einfacheGesetzgeber nicht als Norm erlassen dürfe192.

In der Sache hängt die Bewertung im Einzelfall vor allem von der Schwere derGrundrechtsbeeinträchtigung und dem konkreten Verfassungsverständnis des Fachgerichtsab.

V.2.4. Rechtswegerschöpfung und SubsidiaritätEine weitere Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde ist das Erfordernis derRechtswegerschöpfung nach § 90 Abs. 2 GG und die darüber hinausgehende allgemeineSubsidiarität. Diese Einschränkung des Zugangs wird von Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG gedeckt. AlsRechtsweg ist „jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts“anzusehen; erschöpft ist der Rechtsweg, „wenn der Beschwerdeführer von jedem zulässigenRechtsmittel der jeweiligen Prozessordnung vor Erhebung der VerfassungsbeschwerdeGebrauch gemacht hat“193.

Der Grundsatz der Subsidiarität gebietet darüber hinaus auch die Wahrnehmung solcheranderer Rechtsschutzmöglichkeiten jenseits des Rechtswegs im Sinne von § 90 Abs. 2

188 S. dazu bereits oben; sowie eingehend Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 280 ff.189 BVerfGE 18, 85 (92 f.).190 BVerfGE 18, 85 (93) st. Rspr.191 Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit Gegenvorschlägen bei Schlaich/Korioth, Das

Bundesverfassungsgericht, Rn. 280 – 333.192 Hierzu Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 61 mwN. zur Herkunft und Verwendung

der Formel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.193 BVerfGE 67, 157 (179) und BVerfG NJW 1997, 46 (47), zitiert nach Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.),

GG, Art. 93 Rn. 187 f.

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BVerfGG, die nicht von vornherein erfolglos erscheinen und eine Beseitigung derbehaupteten Grundrechtsverletzung bewirken können194.

V.2.5. AnnahmeverfahrenZugangsbeschränkend wirkt sich jedenfalls faktisch auch das Annahmeverfahren aus, dasdas Bundesverfassungsgerichtsgesetz auf der Grundlage von Art. 94 Abs. 2 GG im Verfahrender Verfassungsbeschwerde vorsieht und über das im Regelfall in einer Kammer entschiedenwird195.

Die Verfassungsbeschwerde bedarf nach § 93a BVerfGG der Annahme zur Entscheidung. Sieist anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche Bedeutung zukommt oder wenn es zurDurchsetzung der Grundrechte196 und grundrechtsgleichen Rechte angezeigt ist, was auchder Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zurSache ein besonders schwerer Nachteil entsteht. Von einer grundsätzlichen Bedeutung derVerfassungsbeschwerde geht das Bundesverfassungsgericht dann aus, wenn sie „eineverfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetzbeantworten lässt und die noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechunggeklärt oder die durch verändert Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist“197.Nach § 93b BVerfGG entscheiden grundsätzlich die Kammern über die Annahme derVerfassungsbeschwerden, die sie durch einstimmigen, nicht zu begründenden undunanfechtbaren Beschluss ablehnen können. Wenn es zur Durchsetzung der Grundrechtedes Beschwerdeführers angezeigt ist und die Frage durch das Bundesverfassungsgerichtbereits entschieden ist, kann die Kammer die Verfassungsbeschwerde annehmen und ihrsogar stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist, es sei denn, die Beschwerde richtetsich gegen ein Gesetz, über dessen Gültigkeit nur der Senat entscheiden kann198. Bestehtkeine Einigkeit in der Kammer, entscheidet der Senat sowohl über die Annahme als auchüber die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde199.

194 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 191 mwN.195 Dazu bereits oben.196 Im Merkblatt des Gerichts zur Verfassungsbeschwerde (abrufbar unter

http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/merkblatt.html; zuletzt abgerufen am29.8.2016) heißt es dazu: „Zur Durchsetzung der Grundrechte kann die Annahme der Verfassungsbeschwerde– beispielsweise - angezeigt sein, wenn einer grundrechtswidrigen allgemeinen Praxis von Behörden undGerichten entgegengewirkt werden soll oder wenn ein Verfassungsverstoß für den Beschwerdeführerbesonders schwerwiegend ist."

197 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 40 mit Verweis auf die grundlegendeEntscheidung BVerfGE 90, 22 (24 ff.).

198 Vgl. §§ 93a – d BVerfGG. Zum Verfahren Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 38ff.

199 Auch die konkrete Normenkontrolle unterliegt einem ähnlichen Vorprüfungsverfahren durch die Kammernach § 81a BVerfGG, in dem die Kammer einstimmig die Unzulässigkeit einer Richtervorlage feststellen kann.

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VI. Grundsätze des VerfahrensDas Grundgesetz und das BVerfGG enthalten die Grundzüge des Verfahrens, ohne allerdingsabschließend zu sein200. Entsprechend der nach dem Enumerationsprinzip bestimmtenZuständigkeiten sind auch die Verfahrensbestimmungen zum größten Teil gesondert undverfahrensbezogen geregelt201.

VI.1.Allgemeine VerfahrensgrundsätzeVI.1.1. Allgemeine und besondere Verfahrensregeln- Antragsprinzip: Grundsätzlich wird das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

durch einen Antrag nach § 23 BVerfGG eingeleitet, der schriftlich einzureichen und unterAngabe der Beweismittel zu begründen ist.

- Abweisung a limine: Nach § 24 BVerfGG können unzulässige oder offensichtlichunbegründete Anträge durch einstimmigen Beschluss des Gerichts ohne Begründungverworfen werden.

- Beweiserhebung: Für die Beweiserhebung gilt nach § 26 I BVerfGG derUntersuchungsgrundsatz, demzufolge das Gericht den zur Erforschung der Wahrheiterforderlichen Beweis erhebt. Es kann auch außerhalb der mündlichen Verhandlung einMitglied des Gerichts damit beauftragen oder ein anderes Gericht darum ersuchen.Soweit allerdings ein fachgerichtliches Verfahren der Entscheidung desBundesverfassungsgerichts vorausgeht, überprüft es die Tatsachen nicht selbst.

- Beteiligte des Verfahrens sind der Antragsteller und ggf. der Antragsgegner; im Verfahrender konkreten Normenkontrolle sind weder das vorlegende Gericht noch dieAusgangsparteien Beteiligte.

- In den einzelnen Verfahren sind Beitrittsmöglichkeiten vorgesehen, die die Stellung einesVerfahrensbeteiligten vermitteln202.

- Äußerungsberechtigte: Der Kreis der Äußerungsberechtigten ist im Verfassungsprozessungewöhnlich groß. So können sich etwa im Verfahren der konkreten Normenkontrolledie Beteiligten des Ausgangsverfahrens nach § 80 Abs. 3 BVerfGG äußern, wie auch allebetroffenen Verfassungsorgane, ohne dass es eines Beitritts bedarf. Nach § 82 Abs. 4BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht die obersten Gerichtshöfe des Bundes undder Länder um eine Stellungnahme bitten. § 22 Abs. 4 GO BVerfG 2015 sieht dies auch inanderen Fällen vor. Nach § 77 BVerfGG haben die Verfassungsorgane im Rahmen derabstrakten Normenkontrolle ebenfalls das Recht zur Äußerung. WeitereÄußerungsberechtigungen ergeben sich aus § 94 Abs. 1, 2 und 4 BVerfGG sowie aus § 94Abs. 3 BVerfGG. Nach § 22 Abs. 5 GO BVerfG 2015 und § 27a BVerfGG kann das Gerichtdarüber hinaus Persönlichkeiten mit besonderen Kenntnissen sowie sachkundige Dritteum Gutachten und Stellungnahmen ersuchen.

200 Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 49 ff., 54 ff.; von Münch/Mager, Staatsrecht I, Rn. 584ff.

201 Vgl. bereits im Vierten Kapitel.202 § 82 Abs. 2 BVerfGG für die konkrete Normenkontrolle; § 65 BVerfG für den Organstreit;§ 94 Abs. 5 S. 1

BVerfGG für die Verfassungsbeschwerde; hierzu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 62.

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- Grundsätzlich besteht vor dem Bundesverfassungsgericht kein Anwaltszwang. Nur in dermündlichen Verhandlung müssen sich die Beteiligten durch einen Anwalt oder einenHochschullehrer vertreten lassen (§ 22 BVerfGG). Eine andere Person lässt dasBundesverfassungsgericht als Beistand nur dann zu, wenn es dies ausnahmsweise fürsachdienlich hält (§ 22 Abs. 1 S. 4 BVerfGG). Die Vollmacht ist schriftlich zu erteilen undmuss sich ausdrücklich auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beziehen (§22 Abs. 2 BVerfGG).

- Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist grundsätzlich kostenfrei (§ 34 Abs. 1BVerfGG); im Falle eines Missbrauchs kann allerdings nach § 34 Abs. 2 BVerfGG eineMissbrauchsgebühr verhängt werden, um die Funktionsfähigkeit des Gerichtsaufrechtzuerhalten.

VI.1.2. Beschlussfassung des GerichtsAbgesehen von gesetzlichen Sonderregelungen entscheidet das Bundesverfassungsgerichtmit der Mehrheit der an einer Entscheidung mitwirkenden Mitglieder des jeweiligen Senats,der bei Anwesenheit von 6 von 8 Mitgliedern beschlussfähig ist (§ 15 Abs. 2 BVerfGG). ImFalle der Stimmengleichheit kann nach § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG ein Verstoß gegen dasGrundgesetz nicht festgestellt werden. Das Stimmverhältnis kann von den Senatenmitgeteilt werden, abweichende Richter haben die Möglichkeit, ein Sondervotum zuverfassen203; ansonsten unterliegen die Beratungen dem Beratungsgeheimnis (§ 30BVerfGG).

Vorbereitet werden die Entscheidungen durch einen nach dem Geschäftsverteilungsplanbestimmten Berichterstatter, der ein schriftliches Votum erstellt und hierbei von den ihmzugewiesenen vier wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt werdenkann.

So weit nichts anderes bestimmt ist, entscheidet das Gericht nach § 25 Abs. 1 BVerfGGaufgrund mündlicher Verhandlung, sofern die Beteiligten nicht auf sie verzichten und dieauch nach § 24 GO BVerfG 2015 durch jeden Senat ausgeschlossen werden kann204. EineEntscheidung nach mündlicher Verhandlung ergeht durch Urteil, ansonsten nach § 25BVerfGG durch Beschluss.

In entsprechender Anwendung des Gerichtsverfassungsgesetzes nach § 17 BVerfGG iVm §169 GVG ist die mündliche Verhandlung öffentlich; in Abweichung von den Regelungen desGVG sind nach § 17a BVerfGG Ton- und Fernsehaufnahmen allerdings nur begrenztzugelassen.

Die Entscheidung wird schriftlich abgefasst, im Regelfall begründet, von den mitwirkendenRichtern unterzeichnet und veröffentlicht. Im Falle einer mündlichen Verhandlung wird dieEntscheidung unter Mitteilung der wesentlichen Entscheidungsgründe öffentlich verkündet.

203 S. aus jüngerer Zeit die beiden abweichenden Meinungen der Richter Eichberger und Schluckebier zum Urteildes Ersten Senats vom 20.4.2016, Az. 1 BvR 966/09 zur Verfassungsmäßigkeit des BKA-Gesetzes. Sondervotensind zahlenmäßig vergleichsweise selten: insgesamt 158 Senatsentscheidungen mit Sondervotum von 2172veröffentlichten Senatsentscheidungen in den Bänden 30 bis 137 der amtlichen Sammlung von 1971 bis 2015(s. die Zahlen der Jahresstatistik 2015, S. 12). Zu den Sondervoten und ihrer Wirkung Schlaich/Korioth, DasBundesverfassungsgericht, Rn. 51 ff.; Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzteGericht, S. 281 (386 ff.).

204 Zu gesetzlichen Ausnahmefällen s. § 24 S. 1 BVerfGG, § 93d Abs. 1 S. 1 BVerfGG und § 94 Abs. 5 S. 2 BVerfGG.

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VI.2.FristenAuch die Fristbestimmungen unterscheiden sich in Abhängigkeit von den Verfahrenstypen.

- Die abstrakte Normenkontrolle ist als objektives Beanstandungsverfahren nichtfristgebunden.

- Das Organstreitverfahren ist nach § 64 Abs. 3 BVerfGG innerhalb von sechs Monaten nachBekanntwerden der beanstandeten Maßnahme oder Unterlassung einzuleiten. Hierbeihandelt es sich um einen Ausschlussfrist, die nicht verlängert wird und auch keineWiedereinsetzung in den vorigen Stand zulässt205.

- Grundsätzlich gilt auch im Bund-Länder-Streit die 6-Monatsfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGGüber § 69 BVerfGG mit Ausnahme des Verfahrens nach Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG, in dem derAntrag vor dem Bundesverfassungsgericht spätestens einen Monat nach dem Beschlussdes Bundesrates gestellt werden muss.

- Fristgebunden ist schließlich auch die Verfassungsbeschwerde, die nach § 93 Abs. 1 S. 1BVerfGG binnen eines Monats zu erheben und zu begründen ist. Im Falle derRechtssatzverfassungsbeschwerde beträgt die Frist nach § 93 Abs. 3 BVerfGG ein Jahr. BeiFristversäumung ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Eine Wiedereinsetzung inden vorigen Stand ist nur in den Fällen des § 93 Abs. 1 BVerfG und unter denVoraussetzungen des § 93 Abs. 2 BVerfGG zulässig: Kann die Frist ohne Verschulden desBeschwerdeführers nicht eingehalten werden, kann innerhalb von zwei Wochen nachWegfall des Hindernisses Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und dieVerfassungsbeschwerde nachgeholt werden206.

VI.3.Vorläufiger RechtsschutzVI.3.1. SuspensiveffektIn der Regel kommt den verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfen kein Suspensiveffekt zu.So hemmt insbesondere auch die Einlegung einer Urteilsverfassungsbeschwerde dieRechtskraft des angegriffenen Urteils nicht207.

VI.3.2. Eilrechtsschutz nach § 32 BVerfGNach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustanddurch einstweilige Anordnung vorläufig regeln208, „wenn dies zur Abwehr schwererNachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grundzum gemeinen Wohl dringend geboten ist.“

Antragsberechtigt ist jeder, der am Hauptverfahren beteiligt ist. Im Rahmen der Prüfung derBegründetheit der einstweiligen Anordnung orientiert sich das Gericht entgegen derüblichen Praxis im Verwaltungsprozess nicht an den Erfolgsaussichten der Hauptsache,sondern wägt im Wege einer Doppelhypothese diejenigen Folgen ab, „die eintreten würden,wenn eine einstweilige Anordnung nicht ergeht, die angegriffenen Maßnahmen in demspäteren Verfahren jedoch für verfassungswidrig erklärt werden, gegen die Nachteile, die

205 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 30.206 Dazu Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 125.207 BVerfGE 93, 381 (385); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 75; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck

(Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 170 mwN.208 Zum Verfahren der einstweiligen Anordnung vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 462 ff.

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entstehen würden, wenn die angegriffene Regelung vorläufig außer Anwendung gesetztwürde“209.

Nach § 32 Abs. 2 BVerfGG kann die einstweilige Anordnung „ohne mündliche Verhandlungergehen. Bei besonderer Dringlichkeit kann das Bundesverfassungsgericht davon absehen,den am Verfahren zur Hauptsache Beteiligten, zum Beitritt Berechtigten oderÄußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.“ „Wird die einstweiligeAnordnung durch Beschluß erlassen oder abgelehnt, so kann [gemäß § 32 Abs. 3 BVerfGG]Widerspruch erhoben werden. Das gilt nicht für den Beschwerdeführer im Verfahren derVerfassungsbeschwerde. Über den Widerspruch entscheidet das Bundesverfassungsgerichtnach mündlicher Verhandlung. Diese muß binnen zwei Wochen nach dem Eingang derBegründung des Widerspruchs stattfinden.“ Auch der Widerspruch gegen die einstweiligeAnordnung hat gemäß § 32 Abs. 4 BVerfGG keine aufschiebende Wirkung. DasBundesverfassungsgericht kann die Vollziehung der einstweiligen Anordnung aberaussetzen.

Die Entscheidung über die einstweilige Anordnung oder über den Widerspruch kann dasBundesverfassungsgericht gemäß § 32 Abs. 5 BVerfGG ohne Begründung bekanntgeben. Indiesem Fall ist die Begründung den Beteiligten gesondert zu übermitteln.

Nach sechs Monaten tritt die einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 6 BVerfGG außerKraft. Sie kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen wiederholt werden. Ist einSenat nicht beschlussfähig, so kann gemäß § 32 Abs. 7 BVerfGG die einstweilige Anordnungbei besonderer Dringlichkeit erlassen werden, wenn mindestens drei Richter anwesend sindund der Beschluss einstimmig gefasst wird. Sie tritt in diesem Fall nach einem Monat außerKraft, es sei denn, sie wird durch den Senat bestätigt; in diesem Fall tritt sie sechs Monatenach ihrem Erlass außer Kraft.

209 BVerfGE 12, 276 (279).

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VII. Entscheidungswirkung und Vollstreckung

VII.1. EntscheidungsausspruchAuch der Entscheidungsausspruch variiert grundsätzlich in Abhängigkeit vomVerfahrensgegenstand210.

VII.1.1. Verfahren der NormenkontrolleEin verfassungswidriges Gesetz wird grundsätzlich vom Bundesverfassungsgericht ex tuncfür nichtig erklärt211. Die Wirkung tritt ipso iure ein. Der Ausspruch ist lediglichdeklaratorisch212. Ist das Gesetz verfassungsgemäß kann das Gericht nach § 31 Abs. 2BVerfGG auch die Vereinbarkeit positiv feststellen.

Neben der Nichtigkeit einer Norm kann das Bundesverfassungsgericht allerdings auchlediglich ihre Verfassungswidrigkeit feststellen (§ 32 Abs. 2 S. 2 und § 79 Abs. 1 BVerfGG) undfestlegen, bis wann die Regelung ggf. weiter angewendet werden darf bzw. ab wann eineRegelung ausgesetzt werden muss213.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, „unverzüglich“ oder innerhalb einer „angemessenen Frist“bzw. innerhalb eines konkreten Zeitraums „eine der Verfassung entsprechendeGesetzeslage“ zu schaffen214. Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, selbstÜbergangsbestimmungen zu treffen215.

Daneben trifft das Gericht zum Teil sog. Appellentscheidungen, in denen es zwar (noch)nicht auf die Verfassungswidrigkeit einer Norm erkennt, aber eine weitere Beobachtung,Überprüfung oder Neuregelung teilweise mit spezifischen inhaltlichen Vorgaben und unterkonkreter Fristsetzung anregt216.

Eine weitere Möglichkeit der Entscheidung stellt die Vorgabe einer verfassungskonformenAuslegung eines Gesetzes dar, mit der das Gericht vor und anstelle der Feststellung der

210 Im Ganzen hierzu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 370 ff.; E. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.),Verfassungsprozessrecht, § 39 - § 41.

211 § 78 BVerfGG, iVm. § 82 Abs. 1 BVerfGG im Fall der konkreten Normenkontrolle. Zu den Konsequenzen derEntscheidung s. § 79 BVerfGG. Zum Entscheidungsausspruch bei Normenkontrollen s. Schlaich/Korioth, DasBundesverfassungsgericht, Rn. 378 ff.; Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR III, § 70 Rn. 114 ff.; E. Klein, in:Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, § 39 Rn. 1375 ff.

212 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Abs. 1 Rn. 46.213 In Fällen, in denen der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Normverstoßes hat (z.B. bei

Verstößen gegen Gleichheitssätze oder Schutzpflichten) oder die Nachteile eines sofortigen Außerkrafttretensgrößer wären als die einer übergangsweisen Weitergeltung. Zu einzelnen Fallgruppen s. Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 48 f.; E. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, §39 Rn. 1393 ff.

214 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 49 mit Beispielen aus der Rechtsprechung desGerichts. Kommt der Gesetzgeber dem innerhalb der vorgesehenen Frist nicht nach, behält sich das Gerichtvor, sich mit einem Verfahren erneut zu befassen; vgl. die Pressemitteilung Nr. 41/2016 vom 14.7.2016 imVerfahren zur Erbschaftssteuer (Az. 1 BvL 21/12).

215 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 50; dort auch kritisch zu den Ausnahmen auf § 35BVerfGG gestützter Übergangsregelungen.

216 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 51; Schlaich/Korioth, DasBundesverfassungsgericht, Rn. 431 ff. mit Fallkonstellationen; E. Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.),Verfassungsprozessrecht, § 39 Rn. 1405 ff.

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Verfassungswidrigkeit einer Norm diejenige Auslegung bestimmt, die (noch) zu einemverfassungsmäßigen Ergebnis führt217.

VII.1.2. Kontradiktorische VerfahrenNach § 67 BVerfGG stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung imOrganstreitverfahren fest, „ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung desAntragsgegners gegen eine [genau zu bezeichnende] Bestimmung des Grundgesetzesverstößt“. „Das Bundesverfassungsgericht kann in der Entscheidungsformel zugleich eine fürdie Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, vonder die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt.“ Das Gericht ist dabei auf die Feststellungbeschränkt und darf weder eine Maßnahme aufheben, noch eine Verpflichtungaussprechen218.

§ 67 BVerfGG gilt gemäß § 69 BVerfGG für Bund-Länder-Streitigkeiten entsprechend.

Im Zwischenländerstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 2. Var. GG iVm. § 71 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGGreicht die Entscheidungsbefugnis des Gerichts weiter: gemäß § 72 Abs. 1 BVerfGG stellt esdie Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Maßnahme fest und kann darüber hinaus denAntragsgegner verpflichten, „Maßnahme zu unterlassen, rückgängig zu machen,durchzuführen oder zu dulden“ oder „eine Leistung zu erbringen“.

VII.1.3. VerfassungsbeschwerdeIn der einer Verfassungsbeschwerde stattgebenden Entscheidung stellt dasBundesverfassungsgericht nach § 95 Abs. 1 BVerfGG fest, welche Vorschrift desGrundgesetzes durch welche Handlung oder Unterlassung verletzt wurde. Es kann zugleichaussprechen, „dass auch jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme dasGrundgesetz verletzt.“

Im Falle einer Urteilsverfassungsbeschwerde hebt das Bundesverfassungsgericht ggf. dieEntscheidung auf und verweist die Sache an das zuständige Gericht zurück.

„Wird der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz stattgegeben, so ist das Gesetz [gemäߧ 95 Abs. 3 iVm § 79 BVerfGG] für nichtig zu erklären.“ Dies gilt auch dann, wenn dieEntscheidung im Falle einer Urteilsverfassungsbeschwerde auf einem verfassungswidrigenGesetz beruht.

VII.2. EntscheidungswirkungVII.2.1. RechtskraftDie Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erwachsen nach allgemeinenprozessualen Grundsätzen in formeller und materieller Rechtskraft219, d.h. sie können selbstnicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden und dürfen bei gleichemVerfahrensgegenstand, d.h. bei gleicher Sach- und Rechtslage zwischen denselbenBeteiligten, zur Sicherung des Rechtsfriedens auch inhaltlich nicht erneut beschieden

217 Hierzu wie auch zur Kritik Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 52.218 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 115.219 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 28, 30.

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werden. Die materielle Rechtskraft erstreckt sich auf den Tenor, zu dessen Auslegung aberauf die Entscheidungsgründe zurückgegriffen werden kann220.

VII.2.2. BindungswirkungNach § 31 Abs. 1 BVerfGG binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dieVerfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Über dieRechtskraft hinausgehend folgen aus den Entscheidungen des Gerichts daher Beachtungs-,Nachbesserungs- oder Unterlassungspflichten für alle staatlichen Organe mit Ausnahme desGerichts selbst221. Im Regelfall bezieht sich die Bindungswirkung auf den Tenor und nachAnsicht des Gerichts auch auf die tragenden Gründe222. Die Einzelheiten der Reichweite derBindungswirkung sind allerdings mit Blick auf die Rolle des Bundesverfassungsgerichts alsHüter und Interpret der Verfassung umstritten223.

VII.2.3. GesetzeskraftAuf der Grundlage der Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 2. Halbsatz GG bestimmt § 31 Abs. 2BVerfGG die Fälle, in denen den Entscheidungen des Gerichts über den konkreten Fallhinausgehende Gesetzeskraft zukommt224. Es sind dies insbesondere Entscheidungen überdie Gültigkeit von Gesetzen in den Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrollesowie Verfassungsbeschwerden, wenn in ihnen über die Verfassungskonformität einesGesetzes mit entschieden wird. Gemäß § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG wird, „soweit ein Gesetz alsmit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar oder fürnichtig erklärt wird“, „die Entscheidungsformel durch das Bundesministerium der Justiz undfür Verbraucherschutz im Bundesgesetzblatt“ veröffentlicht.

Charakteristisch für die Gesetzeskraft ist die „subjektive Erweiterung der Bindungswirkungdes § 31 Abs. 1 BVerfGG, die nur Hoheitsträger betrifft, auf alle Bürger (inter omnes)“225.

VII.3. Durchsetzung und VollstreckungNach § 35 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung bestimmen,wer sie vollstreckt, und im Einzelfall auch die Art und Weise der Vollstreckung regeln. NachAuffassung des Gerichts sind ihm damit „alle zur Durchsetzung seiner Entscheidung nötigenKompetenzen eingeräumt“226. Das Gericht trifft die diesbezüglichen Anordnungen von Amtswegen und kann ggf. andere staatliche Organe des Bundes oder der Länder mit

220 BVerfGE 104, 151 (196); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 112; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck(Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 30.

221 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 31.222 BVerfGE 96, 375 (404): „Tragend für eine Entscheidung sind jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht

werden können, ohne daß das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruckgekommenen Gedankengang entfiele. Nicht tragend sind dagegen bei Gelegenheit einer Entscheidunggemachte Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs zwischen generellerRechtsregel und konkreter Entscheidung stehen.“. Zur Kritik wie auch zu divergierenden Ansichten Voßkuhle,in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 31 ff.

223 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 32; zur Bindungswirkung als „wichtigerAutoritätsressource des BVerfG“ gerade im Rechtsvergleich Farahat, in: von Bogdandy/Grabenwarter/Huber(Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. VI, § 97 Rn. 79.

224 Zu den historischen Wurzeln der Regelung vgl. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs.2 Rn. 35; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 498 ff.

225 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 36 mwN.226 BVerfGE 6, 300 (303 f.); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 473.

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Vollstreckungsmaßnahmen beauftragen. Ob das Gericht eigene Übergangsregelungen auf §35 BVerfGG stützen darf, ist äußerst umstritten227.

Eine gewisse Beschränkung der Durchsetzung verfassungsgerichtlicher Entscheidung in denFällen der abstrakten Normenkontrolle enthält § 79 BVerfGG, der bestimmt, dassrechtskräftige Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen,grundsätzlich unberührt bleiben, allerdings nicht mehr vollstreckt werden dürfen. EineAusnahme gilt lediglich für rechtskräftige Strafurteile, bei denen die Wiederaufnahme desVerfahrens nach den Vorschriften der StPO zulässig ist.

227 Dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 474 sowie bereits oben bei Fn.

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VIII.SchlussSeit seiner Gründung im Jahr 1951 waren beim Bundesverfassungsgericht bis Ende 2015 220353 Verfahren anhängig, von denen 216.741 erledigt wurden. 3612 Verfahren waren Ende2015 bei einem Verfahrenseingang von 5891 Verfahren im Jahr 2015 noch anhängig. DerAnteil der Verfassungsbeschwerden beträgt etwa 95 % aller Verfahren. Trotz einerErfolgsquote der Verfassungsbeschwerde von nicht mehr als 2,3 %228 verdankt das Gerichtseine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft insbesondere seiner Qualität als Bürgergericht.Wichtige Entscheidungen hat das Gericht aber auch in Verfahren der Normenkontrolle, desOrgan- und des Bund-Länder-Streits getroffen.

Der Gang nach Karlsruhe wie auch der Blick nach Karlsruhe verschaffen demBundesverfassungsgericht als starker Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Aufgabe derletztverbindlichen Verfassungsinterpretation eine zentrale Rolle in der deutschenRechtswirklichkeit und Modellcharakter weit über die Grenzen der BundesrepublikDeutschland hinaus.

228 Vgl. die Zahlen aus der Jahresstatistik 2015.

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PE 593.504ISBN 978-92-846-0256-8doi:10.2861/100755QA-04-16-981-DE-N

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