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Wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Politik und Wirtschaft, eingereicht dem Amt für Lehrerbildung - Prüfungsstelle Kassel - . Thema: Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration Gutachter: Dr. Dieter Gawora Die Roma Zwischen Antiziganismus und Integration Benjamin Karl Nicolai Bender [email protected]

Die Roma - Universität Kassel: Aktuelles · Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration 2 Danksagung Besonderen Dank möchte meinem Erstgutachter Dr. Dieter Gawora zusprechen,

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Page 1: Die Roma - Universität Kassel: Aktuelles · Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration 2 Danksagung Besonderen Dank möchte meinem Erstgutachter Dr. Dieter Gawora zusprechen,

Wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an

Gymnasien im Fach Politik und Wirtschaft, eingereicht dem Amt für Lehrerbildung

- Prüfungsstelle Kassel - .

Thema: Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

Gutachter: Dr. Dieter Gawora

Die Roma Zwischen Antiziganismus und Integration

Benjamin Karl Nicolai Bender

[email protected]

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

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Danksagung

Besonderen Dank möchte meinem Erstgutachter Dr. Dieter Gawora zusprechen, der mei-

nen gewöhnlichen Fokus von den geographisch weit entfernten Kulturen auf das Nahe und

dennoch Fremde lenkte. Weiter bot er mir während meiner Arbeit stets die Chance, flexi-

bel und entgegen der weitverbreiteten universitären Manier, das persönliche Gespräch zur

Reflexion des eigenen Arbeitsstandes zu nutzen. Ebenfalls besonders danken möchte ich

Frau Sabine Ernst, Leiterin der Kindertagesstätte Schaworalle, welche mich trotz der zeit-

lichen Grenzen und den täglichen Anforderungen im Rahmen Ihres Arbeitsgebietes wäh-

rend meiner Besuche stets mit ehrlicher Freundlichkeit, Offenheit und Geduld empfing.

Ferner bedanke ich mich bei meinen Bruder Jonas Andreas Bender für die ausführliche

Korrektur und die zweifachen „Besonderen Fünf“ meiner Lebensumfelder für die persönli-

che Betreuung während der zahlreichen geistigen und körperlichen Schaffensphasen.

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung ....................................................................................................... 2

Abkürzungen ..................................................................................................... 6

1. Einleitung ...................................................................................................... 7

1.1 Inhalt der Arbeit .......................................................................................................... 7

1.3 Aufbau der Arbeit ..................................................................................................... 10

1.4 Klärung zentraler Begriffe ........................................................................................ 13

1.4.1 Die „Zigeuner“ – Eigen- und Fremdbezeichnung .............................................. 13

1.4.2 Antiziganismus – Begriffsbestimmung ............................................................... 14

1.4.3 Sinti und Roma – Einheit und Vielfalt ................................................................ 15

1.4.4 Aufstellung der in Deutschland lebenden/sich aufhaltenden Roma-

Gruppen ........................................................................................................................ 16

I. Historisch-chronologische Geschichte der Roma in Deutschland .............. 18

2. Frühgeschichte und Entstehung von Antiziganismus in Deutschland ........ 18

2.1 Frühgeschichte – Versuch einer ethnischen Lokalisierung ...................................... 18

2.2 Einwanderung nach Europa und Deutschland .......................................................... 19

2.2.1 Der religiös motivierte Antiziganismus .............................................................. 21

2.2.2 Der politisch motivierte Antiziganismus ............................................................ 22

2.2.3 Das romantisierende „Zigeuner“-Stereotyp und das Sinnbild vom

„edlen“ Wilden ............................................................................................................. 23

2.2.4 Versuch einer Emanzipation durch Assimilierung und Erziehung ..................... 24

2.2.5 Die Entstehung des rassistisch motivierten Antiziganismus ............................... 26

2.2.6 „Zigeuner“-Sondergesetze und –politik im Kaiserreich und in der

Weimarer Republik ...................................................................................................... 28

3. Roma im Nationalsozialismus ..................................................................... 30

3.1 Die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung europäischer Sinti

und Roma ........................................................................................................................ 30

3.2 „Rassenhygienische Forschung“ ............................................................................... 32

3.3 Vorbeugende Verbrechensbekämpfung und Beginn der Vernichtung in

Deutschland und Osteuropa ............................................................................................ 33

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

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3.4 Auschwitz ................................................................................................................. 34

3.5 Bilanz der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten ..................... 35

4. Nachkiegsgeschichte und Entschädigungspolitik nach 1945 ..................... 35

4.1 Hilfe für NS-Verfolgte .............................................................................................. 35

4.2 Entschädigung ........................................................................................................... 38

4.3 Zusammenfassung der politischen Situation der Roma in der Deutschen

Demokratischen Republik (DDR) ................................................................................... 39

4.4 Bürgerrechtsbewegung und Interessensvertretung deutscher Sinti und

Roma ............................................................................................................................... 42

4.4.1 Rahmenbedingungen und Anfänge der Interessensvertretung ............................ 42

4.4.2 Verlauf und Emanzipation der Bürgerrechtsbewegung ...................................... 44

4.4.3 Etappen der politischen Anerkennung ............................................................... 48

4.4.4 Kritische Stimmen zur Bürgerrechtsbewegung .................................................. 50

5. Zwischenfazit: Antiziganismus in Geschichte und Gegenwart .................. 51

II. Politische Rahmenbedingungen der Gegenwart ......................................... 54

6. Minderheitenschutz in Deutschland ............................................................ 54

6.1 EU-Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten ......................... 54

6.1.1 Inhalt der Artikel 1 bis 18 ................................................................................... 55

6.1.2 Zusammenfassende Bewertung des Minderheitenschutzes der Sinti

und Roma in Deutschland durch den beratenden Ausschuss für das RÜ .................... 58

6.1.3 Stellungnahme des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zur

Rahmenvorgabe der Europäischen Union für die Verbesserung der Lage

von deutschen Sinti und Roma ..................................................................................... 63

6.1.4 Bildung im Minderheitenschutz .......................................................................... 68

6.2 Zur Bildungssituation der Roma ............................................................................... 69

6.2.1 EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis

2020 im Bildungsbereich ............................................................................................. 69

6.2.2 Zur Bildungssituation der Roma in Deutschland ................................................ 71

III. Die Kindertagesstätte Schaworalle in Frankfurt/Main ............................. 73

7. Projektkonzeption ........................................................................................ 73

7.1 Lokale Initiative und Entstehung .............................................................................. 74

7.2 Finanzierung und Ausstattung .................................................................................. 75

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7.3 Roma-Mitarbeiter und Bildungsmediatoren ............................................................. 75

7.4 Tagesablauf und Gruppenstruktur ............................................................................ 76

8. Schule in der Schaworalle ........................................................................... 77

8.1 Bildungsansatz und Orientierungsrahmen ................................................................ 77

8.2 Zur Unterrichtsorganisation ...................................................................................... 78

8.2.1 Die Vorklasse ...................................................................................................... 78

8.2.2 Die Grundschulgruppe ........................................................................................ 79

8.2.3 Die Mittelstufe .................................................................................................... 79

8.2.4 Die Hauptstufengruppe ....................................................................................... 80

9. Auswertung des Interviews: Zwischen Antiziganismus und Integration ... 80

9.1 Intention des Forschungsansatz ................................................................................ 81

9.2 Methodische Kurzdarstellung: Transkription des Materials ..................................... 81

9.3 Transkription des Interviews vom 2. Mai 2012 ........................................................ 83

10. Fazit: Zwischen Antiziganismus und Integration ..................................... 96

Literatur- und Quellenverzeichnis ................................................................... 99

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Abkürzungen

ACFC Beratender Ausschuss für das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationa-

ler Minderheiten

ADS Antidiskriminierungsstelle des Bundes

AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

BMI Bundesministerium des Innern

BpB Bundeszentrale für politische Bildung

DKDSR Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

DDR Deutsche Demokratische Partei

FDP Freie Demokratische Partei

FR Förderverein Roma e.V.

GfbV Gesellschaft für bedrohte Völker

IRU Internationale Romani Union

KOM Europäische Kommission

KZ Konzentrationslager

NGO Non-Governmental Organization (Nicht-Regierungsorganisation)

NS Nationalsozialismus

OSI Open Society Institut

OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

QHA Qualifizierter Hauptschulabschluss

RÜ Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SS Schutzstaffel

VDS Verband Deutscher Sinti

ZDSR Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

ZJ Zentralrat der Juden

ZSW Zentralkomitee der Sinti Westdeutschlands

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1. Einleitung

1.1 Inhalt der Arbeit

Seit mehr als tausend Jahren ist das Volk der Roma ein integraler Bestandteil der europäi-

schen Zivilisation. Heute sind Roma mit ca. 10 bis 12 Millionen Menschen die größte eth-

nische Minderheit in Europa und in allen 27 EU-Mitgliedstaaten traditionell ansässig.

(Verrue 2010: 2) Ursprünglich aus Indien stammend, besiedelten Roma aufgrund verschie-

dener Einflussfaktoren weite Teile Vorderasiens, des Balkans und Europas. Nach Angaben

des Europarates leben derzeit knapp 6,2 Millionen Roma in der EU. (vgl. Europarat 2010)

Vielerorts zeigen innenpolitische Entwicklungen in den europäischen Mitgliedsländern,

dass die Begegnungen und Beziehungen zwischen Roma und den nationalen Mehrheitsbe-

völkerungen sowohl in der Vergangenheit, der Neuzeit als auch in aktuellen Erscheinungen

der Gegenwart durch Konflikte, Intoleranz und insbesondere durch gegenseitige Vorur-

teilszuschreibungen gekennzeichnet sind:

Zwischen 1994 und 2004 ereignete sich im Kosovo die „größte Katastrophe für Roma seit

dem Holocaust“. (Auer in End/Herold/Robel 2009: 251ff) In diesem Zeitraum führen alba-

nische Extremisten „ethnische Säuberungen“ unter Anwesenheit der NATO-Truppen

durch. Im Zuge dessen werden über 100.000 Roma durch unangekündigte nächtliche

Räumungsaktionen aus dem Land vertrieben. Es kommt zu Ausschreitungen, Verletzten

und Toten.

1995 werden in Oberwart (Österreich) vier Roma einer lokalen Roma-Siedlung durch eine

Rohrbombe getötet, als diese eine Tafel mit der Aufschrift „Roma zurück nach Indien“

entfernen wollen. (vgl. Kulturverein Österreichischer Roma 2005) 2004 geht der slowaki-

sche Staat unter massiven Polizei- und Militäreinsatz gegen einen Massenprotest von Ro-

ma vor, der sich gegen dramatische Kürzungen der Sozialhilfe richtet. (vgl. Hofbauer

2004) Sowohl in Italien, Slowenien, Tschechien und auch in der Türkei erfuhren Roma im

letzten Jahrzehnt institutionelle Diskriminierungen, durch den Entzug von grundbuchrecht-

lich eingetragenen Wohnungen. 2005 werden in Tschechien erneut Sterilisierungen bei

Roma-Frauen gegen ihren Willen vorgenommen. (vgl. Mayer 2009)

Diese europäischen Beispiele gewalttätiger, rassistischer oder diskriminierender Übergriffe

gegen Roma sind als massive Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte zu be-

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werten und als solche zu verurteilen. Dennoch finden vergleichbare Handlungen weiterhin

in der europäischen Lebenswirklichkeit statt. Ähnliche Beispiele finden sich fast täglich in

der internationalen Berichterstattung seitens der Medien. Jüngst veröffentlichte die

Schweizer Wochenzeitung „Die Weltwoche“ unter dem Titel „Die Roma kommen: Raub-

züge in der Schweiz“ das Bild eines Roma-Jungen, welcher mit einer Pistole in die Kamera

zielt.1

Derzeit leben rund 80.000 bis 120.000 Sinti und Roma mit deutscher Staatsbürgerschaft in

Deutschland. (Strauß 2011: 4) Konkrete Zahlen über die Anzahl der Roma ohne rechtlich

gesicherten Aufenthaltsstatus, die entweder als Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten nach

Deutschland kommen, können nur schwer ermittelt werden. UNICEF rechnet mit 50.000

Roma-Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, darunter 20.000 Kinder.2 (vgl. Gri-

enig 2010: 2) Somit umfasst die Gesamtpersonenanzahl der in der Bundesrepublik

Deutschland lebenden Roma mindestens 130.000 Personen, wobei diese Zahl wohl nur als

untere Schranke angesehen werden kann.

Das Vorhandensein stereotyper Vorstellungen und Zuschreibungen durch die kontinuierli-

che Präsenz des Zigeuner-Begriffs zeigt, dass die Aufarbeitung des gesellschaftlichen Zu-

sammenlebens der Mehrheitsbevölkerung mit Roma unbewältigt und unvollständig er-

scheint. Denn Themenfelder wie die Meinungsbildung der Rassismus- und Antidiskrimi-

nierungsforschung gegenüber anderen ethnischen Gruppen sind im Rahmen nationaler und

globaler Prozesse vielschichtig analysiert und auch präsent. Trotzdem werden insbesondere

Volksgruppen der Roma überwiegend nur am Rande der gesellschaftlichen und politischen

Öffentlichkeit wahrgenommen. Andererseits illustriert die repräsentativ geführte Emnid-

Studie aus dem Jahr 1994, dass „64 Prozent der Deutschen keine Sinti und Roma als

Nachbarn haben wollen“. (zit. n. End/Herold/Robel 2009: 16) Damit kamen Sinti und Ro-

ma auf den höchsten Ablehnungswert im Vergleich zu vielen anderen Gruppen. Dies gibt

Anlass dazu, einen unterstellten spezifischen Charakter der Roma-Volksgruppen zu unter-

suchen und sowohl politisch als auch kulturell verankerte Strukturen daraufhin zu überprü-

fen, inwieweit sie Dynamiken der gesellschaftlichen Ausgrenzung oder auch zur Integrati-

on bedingen.

1 Siehe dazu beispielsweise Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.04.2012, online:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/rassismusvorwurf-gegen-zeitung-weltwoche-roma-mit-pistole-2 Siehe den UNICEF Bericht zu den Roma-Flüchtlingen in Deutschland aus dem Jahre 2006.

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Die Fokussierung auf die spezifische Geschichte der Roma in Deutschland besitzt hierbei

eine Schlüsselfunktion durch den menschenverachtenden Umgang während der Zeit der

Weimarer Republik und insbesondere durch die politischen Maßnahmen im Rahmen des

Nationalsozialismus. Die nationalsozialistische Zielsetzung, die in Deutschland lebenden

Juden, Sinti und Roma neben anderen ebenfalls betroffenen Gruppierungen aufgrund ihrer

kulturellen und „rassenspezifischen“ Identität zu vernichten, ist als einzigartiger Vorgang

in der Geschichte festzuhalten. Insgesamt wird die Zahl, der während des Nationalsozia-

lismus aus „rassischen“ Gründen verfolgten und ermordeten „Zigeuner“, auf 500.000 ge-

schätzt. Dennoch führen Prozesse der Ausgrenzung, Verfolgung und Diskriminierung bis

weit in das 14. Jahrhundert zurück. Diese über 600 Jahre alte, gemeinsame und vielfältige

Begegnung zeigt, welche enorme Reichweite das Thema in der deutschen Geschichte ein-

nimmt. Ein Verständnis für diese kulturelle Gegebenheit kann also zwangsläufig nur mit

und vor dem geschichtlichen Hintergrund erfolgen. Das Phänomen gesellschaftlicher Aus-

grenzung, Feindlichkeit und Rassismus gegenüber „Zigeunern“ wird daher in der gegen-

wärtigen Forschung unter dem Begriff Antiziganismus rekonstruiert, operationalisiert und

ursächlich erklärt. Hierbei richtet sich der Forschungsansatz insbesondere darauf, Erklä-

rungsansätze und Argumentationsstrukturen, die das gesellschaftliche „Zigeuner“-

Konstrukt in den mehrheitlich traditionellen Vorstellungen kontinuierlich weiter bestehen

lassen – „als wild, frei und musikalisch auf der einen Seite und als dreckig, stehlend und

vaterlandslos“ auf der anderen Seite – zu untersuchen. (End/Herold/Robel 2009: 17)

Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern Antiziganismus in Deutschland spezifische Konse-

quenzen für die Integrationsbemühungen seitens der Bundesrepublik als auch seitens der

Minderheit bedingt. Welches Potenzial bietet der nationale Minderheitenschutz durch das

europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ) und welche

Grenzen lassen sich in der politischen Umsetzung feststellen? Diesem großen inhaltlichen

Anspruch kann diese Arbeit keinesfalls mit der vollständigen Erfassung der minderheiten-,

zivil- und völkerrechtlichen Statuten aller deutschen Sinti und Roma begegnen. Dennoch

soll diese Arbeit versuchen, die Präsenz von Antiziganismus in Deutschland aufzuzeigen

um anschließend einhergehende signifikante Implikationen für das Integrationsverständnis

durch die Darstellung des Fallbeispiels Schaworalle in Frankfurt/Main ableiten zu können.

Schaworalle wurde 1999 gegründet und fungiert seitdem als Pilotprojekt zur schulischen

und kulturellen Integration, welche sich insbesondere für Roma-Kinder- und -Jugendliche

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in Frankfurt/Main einsetzt. Zentrale Anliegen sind neben der Vermittlung von Bildung für

Roma-Kinder und -Jugendliche unter den oftmals schwierigen und spezifischen Rahmen-

bedingungen, auch der Versuch sowohl Kooperationspartner für Behörden, Ämter und

Institutionen nach Außen als auch Ansprechpartner und Beratungsstelle für Roma-

Familien in Frankfurt darzustellen. Die erhobenen Daten und persönlichen Erfahrungen der

Kindertagesstätte stützen sich hierbei auf ein Gespräch mit der Leiterin Frau Sabine Ernst

vom 2. Mai 2012. Die Transkription der Interviews erfolgte in Anlehnung an Dresing und

Pehl (2011) nach einfachen Transkriptionsregeln. Hierbei wurden starke Vereinfachungen

vorgenommen um dem inhaltlichen Rahmen dieser Arbeit zu entsprechen.

1.3 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in drei Abschnitte. Einleitend gilt es die Begrifflichkeit des „Zi-

geuner“ als historisch-diskriminierende Fremdbezeichnung darzustellen (1.4.1). Dieser

impliziert unmittelbar auch die Nennung einer ersten Definition von „Antiziganismus“

(1.4.2). Der Begriff des Antiziganismus fungiert als wissenschaftliche Begriffskonstruktion

zur Erfassung einer zunächst unterstellten, jedoch im späteren Verlauf vielschichtig be-

gründeten Form, Roma-spezifischer Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Weiter

erscheint es trotz der Fokussierung auf deutsche Roma wichtig, bereits einleitend auf die

ethnische Vielfalt von Roma-Gruppen hinzuweisen, welches für das Verständnis der spe-

zifischen Geschichte im folgenden Abschnitt sinnvoll ist (1.4.3). Hierbei gilt es, ebenfalls

auf die unterschiedlichen Gruppenbezeichnungen in Deutschland lebender/sich aufhalten-

der Roma hinzuweisen (1.4.4).

Der erste Abschnitt (I) versucht in Anlehnung an die historisch-chronologische Datenlage

die Erscheinung der Roma in Deutschland aufzuzeigen. Hierbei richtet sich die Darstellung

zunächst auf den Versuch einer ethnischen Lokalisierung (2.1). Anschließend fokussiert

die Arbeit die Entstehung, Entwicklung und Manifestation antiziganistischer Stereotype

und Sinnbilder (2.2), welche sich durch das Auftreten von Roma-Gruppen bereits im Mit-

telalter in der Mehrheitsgesellschaft ausprägen. Die Dominanz kultureller Unterschiede

verbunden mit der Entstehung sozialer Normen und Werte führt so bereits in früheren Zei-

ten zu unterschiedlichen antiziganistischen Motivationen und Argumentationsstrukturen,

welche im Kontext dieser Arbeit zu hinterfragen sind. Die anschließende Fortführung anti-

ziganistischer Praktiken sowie die Entstehung des rassenideologisch begründeten Anti-

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ziganismus (2.2.5) führen in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik (2.2.6)

zu Rahmenbedingungen, welche die anschließende nationalsozialistische Vernichtungspo-

litik begünstigen. So bilden gerade in dieser Zeit zahlreiche Sondergesetze und Verord-

nungen zur Kontrolle und Erfassung der Lebensweise von Sinti und Roma die Grundlage

für die folgende Radikalisierung und Weiterentwicklung des Antiziganismus im Rahmen

des Nationalsozialismus. Anschließend behandelt diese Arbeit die zunächst stattfindende

Verschärfung politisch motivierter Ausgrenzung und Diskriminierung, welche mit der poli-

tischen Verfolgung und Ermordung der Roma im Nationalsozialismus eine neue Form der

politischen Unterdrückung und Kontrolle aufzeigt (3.1). Hierbei gilt es das nationalsozia-

listische Ideologien- und Normengefüge, insbesondere in Zusammenhang mit der Entwick-

lung der „rassenideologischen Forschung“ (3.2) und der nationalsozialistischen Vernich-

tungspraktiken in den Arbeits-, Zwangsinternierungs- und Konzentrationslagern (3.3), dar-

zustellen. Dies wird exemplarisch anhand des Konzentrationslagers Auschwitz skizziert

(3.4).

Mit Ende des Nationalsozialismus durch die Kapitulation des Deutschen Reiches, ergibt

sich für die Roma eine neue Ausgangslage. Gegenstand der Betrachtung ist vor allem die

Frage der unmittelbaren Hilfe für das den Roma zugefügte körperliche, soziale und wirt-

schaftliche Leiden (4.1), der Kampf um die Anerkennung als Verfolgte der NS-Diktatur

und einem damit korrelierenden Anspruch auf Entschädigung (4.2). Aufgrund der deut-

schen Teilung erfolgt eine zusammenfassende Darstellung der unmittelbaren Nachkriegs-

folgen für Sinti und Roma in der DDR (4.3). Wegen der geringen Personenzahl dort leben-

der Roma ist die Darstellung jedoch nur als Skizzierung zu verstehen und sollte Teil wei-

terführender Untersuchungen sein. Für die Entstehung „neuer“ Rahmenbedingungen ist

daher die Fokussierung auf die bürgerrechtliche Entwicklung in der neu gegründeten Bun-

desrepublik sinnvoll. Insbesondere die Entstehung einer Roma eigenen Bürgerrechtsbewe-

gung sowie deren Emanzipation (4.4) in der deutschen politischen Öffentlichkeit zeigen,

dass die Situation von Roma bis Ende der 1970er Jahre weiterhin durch Diskriminierungen

und ausgrenzende Handlungen gekennzeichnet ist. Dennoch gelingt es durch verschiedene

öffentlich wirksame Bestrebungen und der Entstehung eines damit einhergehenden neuen

Identitätsbewusstseins neue politische Rahmenbedingungen zu erkämpfen, welche bis in

die heutige Gegenwart Bestand haben. Daher erfolgt an dieser Stelle ein Zwischenfazit.

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Der zweite Abschnitt (II) fokussiert aufgrund der nationalen Einschränkung die aktuellen

Rahmenbedingungen, welche sich für die deutschen Roma durch das europäische Rechts-

instrument des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ), sofern

dies möglich erscheint, ergibt. So werden einleitend Auszüge des ersten Abschnitts (Arti-

kel 1 bis 23) dargestellt, welche rechtlich bindende Schutzmaßnahmen und Grundrechte

den in Deutschland anerkannten Minderheiten zusprechen (6.1.1). Folgend wird der ge-

genwärtige Stand des Minderheitenschutzes in Deutschland, durch auszughafte Darstellung

der bewertenden Berichte durch den beratenden Ausschuss des Ministerkomitees (ACFC)

aus den Jahren 2002, 2006 und 2010 (6.1.2) und den diesbezüglichen Forderungen des

Zentralrats Deutscher Sinti und Roma für die Umsetzung des RÜ in Deutschland (6.1.3),

dargestellt. Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass dieses Vorgehen keine umfassende

Abbildung der derzeitigen Roma-spezifischen Situation zulässt, wohl aber allgemeine

Problembereiche der Gegenwart aufzeigen kann. Hierbei erfolgt anschließend aufgrund des

Fallbeispiels eine inhaltliche Reduktion auf den Bereich der Bildungssituation von Roma

in Deutschland (6.1.4). Anschließend werden die nationalen Strategien zur Integration der

Roma für den Bildungsbereich durch die Europäische Union (6.2.1) und die Ergebnisse der

2011 veröffentlichten Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma

(6.2.2) dargestellt.

Im dritten Abschnitt (III) erfolgt die inhaltliche Konkretisierung der zuvor behandelten

Inhalte im Rahmen des Fallbeispiels Schaworalle. Hierzu werden einleitend sinnvolle Ba-

sisinformationen zur Projektkonzeption aufgeführt und sowohl die Entstehungsgeschichte

(7.1) als auch das wichtige Thema der Finanzierung und Ausstattung (7.2) zusammenfas-

send behandelt. Ebenso wird auf die spezifische Einbindung von Bildungsmediatoren im

Projektalltag (7.3) und den allgemeinen Tagesablauf in den einzelnen Arbeitsgruppen ein-

gegangen (7.4). Das folgende Kapitel fokussiert den Bereich Schule. Hierzu wird einlei-

tend auf den Projekt-spezifischen Bildungsansatz eingegangen (8.1). Anschließend erfol-

gen kurze Darstellungen der einzelnen Schul- und Bildungsgruppen (8.2). Hierbei richtet

sich die Darstellung auf die Inhalte zweier Jahresberichte aus den Jahren 2010 und 2011.

Abschließend erfolgt die Auswertung des Interviews (9.1 – 9.3).

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1.4 Klärung zentraler Begriffe

1.4.1 Die „Zigeuner“ – Eigen- und Fremdbezeichnung

Die sprachwissenschaftliche Herkunft des Begriffs „Zigeuner“ ist unklar, aber er lässt sich

schon in Quellen aus dem 15. Jahrhundert finden. (vgl. Gronemeyer 1987: 20f) Die als

„Zigeuner“ bezeichneten Personen beschreiben sich selbst als „Me som Rom“.3 (vgl.

Schenk 1994: 7) Das heißt, dass die Bezeichnung „Zigeuner“ eine Fremdbezeichnung ist,

welche von der überwiegenden Mehrheit der Roma aktuell auch grundsätzlich abgelehnt

wird. (zit. n. Busch 1994: 59) So scheint dieser Begriff zur Beschreibung der Roma gänz-

lich ungeeignet, da sich die unterschiedlichen Gruppen von den als „Zigeunern“ bezeichne-

ten Personen nicht als homogene Gemeinschaft sahen bzw. sehen. (vgl. Mat-

ras/Winterberg/Zimmermann 2003: 115) Dennoch war der Begriff bis in die 1980er Jahre

hinein sowohl in der Forschungsliteratur als auch zum Teil in der Bürgerrechtsbewegung

der Sinti und Roma selbst gängig. (vgl. Gilsenbach 2003: 7)4 Mayall (2004) beschreibt

zwei sich grundsätzlich widersprechende Auffassungen über „Zigeuner“: Diejenige, die

sie als Ethnie oder als „Rasse“ sieht und diejenige, die dies insbesondere verneint. (vgl.

Mayall 2004: 3f) So erscheint in der Literatur oft unklar, wer für die jeweiligen Autoren

eigentlich mit der Klassifizierung als „Zigeuner“ gemeint ist. Meist fehlt eine genaue-

re Eingrenzung bzw. Definition, die vor unzulässigen Verallgemeinerungen schützen

könnte, jedoch ebenfalls nicht unproblematisch ist.

Häufig wurde und wird unter dem Begriff „Zigeuner“ eine nichtsesshafte bzw. nomadisch

lebende Gruppe von Personen gefasst, die sich auf gemeinsame Traditionen, Werte

und Kultur beruft und eine gemeinsame Sprache, nämlich das Romanes, spricht. (vgl.

Schenk 1994: 7f) Problematisch erscheint dabei vor allem die pauschal unterstellte „no-

madische Lebensweise“ der „Zigeuner“, da diese Charakterisierung oft einhergeht mit der

Behauptung, dass das Herumreisen den „Zigeunern“ im „Blut läge“ bzw. „eingeboren“

sei.5 Diese Behauptung ist als rassistische Kategorie abzulehnen, denn die „Nichtsess-

3 „Ich bin Mensch“; daher wird die Eigenbezeichnung „Rom“ von den internationalen Roma-Organisationen

als generelle Bezeichnung für alle Gruppen verwendet. (Gilsenbach 2003: 11) 4 So leitet Gilsenbach aus der im Chronicon des Lübecker Dominikaners Hermann Cornerus beschrie-

benen Eigenbezeichnung ab, dass sich „die Roma schon 1417 selbst Zigeuner“ genannt hätten. (ebd.:

50) Dagegen spricht die Interpretation der Quelle von Gronemeyer, der in der Bezeichnung keine Ver-

wandtschaft zu der Bezeichnung „Zigeuner“ sieht. (vgl. Gronemeyer/Rakelmann 1988: 16) Härter (2003)

bezeichnet den Begriff „Zigeuner“ einerseits als Zuschreibung, andererseits hätten sich „wandernde ethni-

sche Minderheiten“ aber auch als solche bezeichnet. (zit. n. Matras/Winterberg/Zimmermann 2003: 41) 5 Eine „Nichtsesshaftigkeit“ wurde u.a. auch vom Europarat in seinen Empfehlungen Nr. 563 vom 30.9.1969

(„Zur Lage der Zigeuner in Europa“) unterstellt, in der durch die Gegenüberstellung von „Zigeunern und

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haftigkeit“ der Sinti und Roma war immer auch die Folge von Diskriminierung und Ver-

treibung und damit kein kulturelles Merkmal, sondern vielmehr Teil der Roma spezifi-

schen Überlebensstrategie. (vgl. Knudsen 2003: 26) Deutlich wird, dass jede Definition des

Begriffs „Zigeuner“ schwierig und grundsätzlich angreifbar ist, da es sich immer um Zu-

schreibungen von außen handelt:

„Gypsies are who you want them to be in the sense that confirmation can be found

in various sources for the definition which best suits a purpose“. (Mayall 2004: 3)

In dieser Arbeit wird deswegen der Begriff „Zigeuner“ – immer in Anführungszei-

chen gesetzt – nur dann verwendet, wenn die Bezeichnung eines Autors wiedergegeben

wird, der Begriff in der historischen Darstellung so verwendet wurde oder er in direktem

Zusammenhang mit der Darstellung steht.

1.4.2 Antiziganismus – Begriffsbestimmung

Antiziganismus ist ein verhältnismäßig neuer Begriff, der seit Beginn der 1970er Jahre

verwendet wird und sich vom Begriff des Antisemitismus ableitet sowie die Ähnlichkeit

zu diesem betont. (vgl. Engbring-Romang 2001: 1) End (2011) versteht unter Antiziga-

nismus „sowohl die Bilder und Vorurteile, die sich Menschen von vermeintlichen „Zigeu-

nern“ machen, als auch die Stigmatisierung von Menschen zu „Zigeunern“ und die da-

raufhin folgende Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.“ Für Kalkuhl (2005) ist

Antiziganismus eine rassistisch begründete Ablehnung von Sinti und Roma, die sich so-

wohl in Diskriminierungen als auch in einer Romantisierung ausdrückt. Das heißt, An-

tiziganismus entsteht aus kulturell vermittelten Bildern, Stereotypen und Sinngehalten,

welche über große Zeiträume hinweg bestehen und in immer wieder neuen Variationen

insbesondere durch die Mehrheitsbevölkerung tradiert werden. Mit der realen Lebenswirk-

lichkeit der Personen, die von Antiziganismus betroffen sind, hat diese Vorurteilsstruktur

wenig gemeinsam. (vgl. End 2011: 15) Vielmehr geben sie Auskunft über die Vorstel-

lungswelt der Mehrheitsbevölkerung. Dieser Aspekte wurde bezüglich des Antisemitismus

Mitte der 1940er Jahre sowohl von den Autoren der Kritischen Theorie als auch vom fran-

zösischen Philosophen Jean-Paul Sartre erkannt:

anderen Nomaden“ und der „sesshaften Bevölkerung“ ein Gegensatz konstruiert wird, der den Sinti und Ro-

ma implizit eine Andersartigkeit zuschreibt.

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„[E]xistierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.“ (zit. n. ebd.: 16)

Trotz der geringen Verwendung außerhalb Deutschlands, findet der Begriff zunehmend in

Wissenschaft und politischen Debatten seine Anwendung. Dennoch ist bis heute die Dis-

kussion um den Begriff nicht abgeschlossen. Herbert Heuß (1996) äußert bspw. zwei

grundsätzliche Bedenken: Einmal führe die Verwendung des Begriffs Antiziganismus da-

zu, dass Sinti und Roma auf einen „Opfer-Status“ fixiert würden. Zum anderen suggeriere

der Begriff das Vorhandensein eines „Ziganismus“, was jedoch dem Selbstverständnis vie-

ler Sinti und Roma als „deutsche Volksgruppe, nationale Minderheit, europäische Minder-

heit oder wie auch immer“ widerspreche. (zit. n. Wippermann 1997: 11)

1.4.3 Sinti und Roma – Einheit und Vielfalt

„Geht man von einer sozialwissenschaftlichen, ethnologischen Auffassung ethni-

scher Gruppen aus, wird man sie als Kollektiv von Menschen verstehen, die sich

zusammengehörig fühlen und sich als Einheit sehen, aufgrund ihrer gemeinsamen

Sprache, ihrer Kultur, ihrer Geschichte und gegebenenfalls weiterer Gemeinsam-

keiten, wie Religion, usw. Entscheidend ist dabei nicht, ob dies objektiv gegeben ist

oder ob dies lediglich so gedacht, oder gar nur vermutet wird. Ausschlaggebend ist,

zu welcher Gruppe sich der Einzelne selber bekennt.“ (Matter 2005: 14)

Die ethnische Minderheit der Roma bildet keine Einheit. Im Gegenteil: Eines der herausra-

genden Merkmale der Roma ist ihre kulturelle Vielfalt. Roma gliedern sich in diverse

Gruppen auf, welche sich gegen Gadže6 und gegenüber anderen Roma-Gruppen oder -

Clans abgrenzen. Es kann also nicht von einer in sich geschlossenen Kultur der Roma aus-

gegangen werden – eher müsste von Roma-Kulturen gesprochen werden. (vgl. ebd.)

Die Kulturen der Roma enthalten zahlreiche Elemente der Kulturen jener Länder, in denen

sie sich niedergelassen haben, oder die sie im Laufe ihrer Migrationbewegungen durch-

querten. Elemente der persischen, armenischen, arabischen, griechischen, altslawischen,

aber auch diverser anderer Kulturen sind mit traditionellen Kulturelementen der Roma

verwoben. (vgl. Djurić/Becken/Bengsch 1996) Neben der Unterscheidung anhand der tra-

ditionell ausgeübten Berufe, musikalischer Ausprägungen, der benutzten Sprache/n bzw.

6 Nicht-Roma werden meist als Gadže bezeichnet (der Gadžo, die Gadži). Das Wort geht vermutlich auf das

altindische gārhya (”häuslich”) zurück und bedeutet auch Bauer, Dörfler, Hausherr und Ehegatte. Andere

Bezeichnungen für Nicht-Roma sind Das und Gor.(vgl. Auer 2009)

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Varianten des Romanes und der jeweiligen Landessprache, in dem sie leben, ist ein weite-

res Kriterium die religiöse Zugehörigkeit. Roma sind meist Anhänger der dominanten Re-

ligion der Mehrheitsgesellschaft, in der sie leben. (vgl. Matter 2005: 16)

„Aus der Glaubenswelt der Gastländer haben die Roma immer jene Elemente über-

nommen, die ihren eigenen Vorstellungen am nächsten kamen. Taufe, Hochzeit, Beer-

digung und Wallfahrt sind jene Bräuche, die sie den christlichen oder muslimischen

Vorstellungen anpassten.“ (Baumann zit. in Jonas 2002: 20)

In Deutschland hat sich die Selbstbezeichnung Roma (Rom/Romni) bzw. Sinti (Sinto/Sinti)

seit Ende der 1970er Jahre mittlerweile sowohl bei den bezeichneten Personengruppen als

auch in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit etabliert, wobei vereinzelte

Gruppierungen auch diese Bezeichnung als künstlich und konstruiert ablehnen.7 (vgl.

Reemtsma 1996: 8) Hierbei erfolgt die Differenzierung in Roma als Bezeichnung für alle

ethnischen Teilgruppen mit einem gemeinsamen indischen Ursprung. Die Sinti sind eine

der zahlreichen Gruppen dieses indisch stämmigen Volkes, welches bereits seit 600 Jahren

vor allem in Deutschland, Italien und Frankreich beheimatet ist. Der Name „Sinti“ leitet

sich von der Provinz Sindh im Nordwesten Indiens ab, aus der diese Gruppe vermutlich

stammt. (vgl. Solms in Gobrecht/Lox/Bücksteeg 2003).

„Der Unterschied zwischen Roma und Sinti ist einer der eigenen Identifikation, die

schon Anfang des 13. Jahrhunderts hervortritt. Sinti sind streng genommen eine

Gruppe des Roma-Volkes, die sich durch eigene Traditionen und dialektisch unter-

scheiden.“ (Knudsen 2003: 8)

1.4.4 Aufstellung der in Deutschland lebenden/sich aufhaltenden Roma-

Gruppen

Wie im vorangegangenen Kapitel bereits dargestellt, unterscheiden sich Roma in ihren

kulturellen Lebensweisen vielfältig. Ebenso lassen sich in Deutschland unterschiedliche

Roma-Gruppen benennen, deren Lebenslage und rechtlicher Status differenziert betrachtet

7 Bspw. verweist der Verein Sinti Allianz Deutschland e.V. darauf, dass Sinti und Roma zwei eigenständige

„Zigeunervölker“ mit unterschiedlichen historischen Wurzeln und Wertvorstellungen seien und somit grund-

sätzlich verschieden seien. (vgl. Internetpräsenz des Vereins, online verfügbar unter http://www.sintiallianz-

deutschland.de/index2.html, Zugriff am 19.03.2012)

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werden muss. So lassen sich in Deutschland wesentlich die folgenden vier Gruppen diffe-

renzieren:

I. Die autochthone ethnische Minderheit der Roma (Sinti)

Diese lebt seit mehreren hundert Jahren auf dem Gebiet der heutigen Bundesre-

publik. Die meisten Sinti besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft.

II. Roma als Gastarbeiter

Während der 1970er Jahre wanderten einige Roma-Gruppen im Rahmen der

deutschen Gastarbeiter-Politik als Arbeitsmigranten ein. Diese haben zum Teil

die deutsche Staatsbürgerschaft erworben.

III. Roma als Asylsuchende und Flüchtlinge

Weitere Roma migrierten seit den 1990er Jahren im Zuge der Balkankriege als

Flüchtlinge bzw. Asylbewerber nach Deutschland. Einige besitzen den Status

der rechtlich eingeschränkten und zeitlich befristeten Duldung, wenige können

eine Aufenthaltserlaubnis vorweisen, andere haben keinen legalen Aufenthalts-

status.8 (vgl. Marx 2011: 41)

IV. Roma als EU-Zuwanderer

Die jüngste Gruppe von Roma-Zuwanderer sind Menschen, die im Zuge der

Ost- und Südosterweiterung der Europäischen Union (2004 und 2007) nach

Deutschland kommen. Diese dürfen sich mit dem Pass ihres Herkunftslandes in

den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union legal aufhalten.

Hierbei fokussiert die Arbeit die ersten beiden genannten Gruppen, da sie in Zusammen-

hang mit der historisch-chronologischen Darstellung (I), der Entstehung und Manifestie-

rung von Antiziganismus und der Entstehung des nationalen Minderheitenschutz (II), kon-

kret erfassbar erscheinen. Dem steht gegenüber, dass im Fallbeispiel Schaworalle (III) ins-

besondere Roma mit rumänischer Staatsangehörigkeit Gegenstand der Projektarbeit sind.

So erfolgt vor diesem Hintergrund im historisch-chronologischen Schwerpunkt eine inhalt-

liche Vernachlässigung, insbesondere der Asyl- und Flüchtlingsproblematiken in Zusam-

menhang mit zugewanderten Roma aus der EU, der Nicht-EU- bzw. Drittstaaten.

8 Ende November 2010 lebten mehr als 87.000 geduldete Ausländer im Bundesgebiet, davon hielten sich

53.000 länger als sechs Jahre hier auf. Wie viele davon Roma sind, ist nicht bekannt. (vgl. Marx 2011: 41)

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Trotz dieser Vielfalt unterschiedlicher Roma-Gruppen soll nun im folgenden Abschnitt

versucht werden wesentliche und für die Volksgruppe der Sinti und Roma spezifische,

historische Ereignisse und Entwicklungen darzustellen um Voraussetzungen und Aspekte

der Entstehung des Antiziganismus in Deutschland ableiten zu können. Hierbei bestehen

insbesondere in Deutschland zahlreiche historische Parallelen zwischen Sinti und Roma, so

dass im weiteren Verlauf oftmals beide Bezeichnungen verwendet werden.

I. Historisch-chronologische Geschichte der Roma in Deutschland

2. Frühgeschichte und Entstehung von Antiziganismus in Deutsch-

land

2.1 Frühgeschichte – Versuch einer ethnischen Lokalisierung

Bis zum 18. Jahrhundert konnte die Herkunft der Roma nicht eindeutig belegt werden. Erst

sprachwissenschaftliche Untersuchungen konnten den ethnischen Ursprung auf nordwest-

liche Gebiete des heutigen Indiens eingrenzen. (vgl. Reemtsma 1996: 13) Trotz dieser lo-

kalen Erkenntnis ist die Ursachenerklärung und zeitliche Präzisierung der Wanderungsbe-

wegungen aktuell immer noch Teil zahlreicher Hypothesen und Vermutungen. (ebd.)

Schuch (2003) vertritt die These, dass zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert verschiedene

Gruppierungen der Roma ihren Ursprungsort verließen und in viele umliegende Länderei-

en emigrierten. Baumgartner (2007) vermutet, dass emigrierende Roma vorerst Persien und

das Byzantische Reich besiedelten. Knudsen (2003) vermutet, das Nachfahren der geflohe-

nen Sklaven, welche in der Eroberungsphase des Herrschers Mahmud von Ghazna9 aus

Indien verschleppt wurden, Vorfahren der heutigen Roma sind.

Djurić/Becken/Bengsch (1996) beschreiben vier wesentliche Etappen der Abwanderung

aus Indien: Die frühsten Migrationsbewegungen werden auf das 4. Jahrhundert datiert.

Dabei emigrieren Roma-Gruppen in das Nachbarland Persien mit hoher Wahrscheinlich-

keit vorwiegend aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen. Weiter lässt sich aufgrund der

Expansion des arabischen Reiches und im Zuge der gleichzeitig stattfindenden Islamisie-

rung die zweite große Phase der Abwanderung zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert ver-

9 1005 erobert Mahmoud das Punjab Tal und beginnt mit seinen Raubzügen durch Nordindien.

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muten. Vom 11. bis ins 12. Jahrhundert werden die nordwestlichen Gebiete Indiens10

durch

Mahmud von Ghazni erobert und deren Bevölkerung, unter anderem auch verschiedene

Gruppen der Roma, versklavt. Ein anderer Teil flüchtet sich in benachbarte Gebiete. Die

letzte große Wanderungsbewegung vermuten die Autoren schließlich im 13. Jahrhundert

bedingt durch die Eroberungskriege Dschingis Khans. Überwiegende Teile der Bevölke-

rung fielen dabei den Kriegen zum Opfer, die wenigen Überlebenden mussten fliehen, da-

runter ebenfalls Gruppen, die als Vorfahren der heutigen Roma angesehen werden können.

Heute versuchen Wissenschaftler durch die Auswertung indischer und arabischer Quellen,

Sprachanalysen und spezifische Kulturanalysen Aussagen über die ethnische Herkunft der

Roma abzuleiten. Reemtsma (1996) nennt zwei Hypothesen zum ethnischen Ursprung der

Roma: Eine Hypothese benennt die im Nordwesten Indien lebenden Jat als indirekte Vor-

fahren der Roma. Eine andere Hypothese sieht eine Verwandtschaft mit den ebenfalls im

Nordwesten Indien nomadisch lebenden Dom oder Domba11

.

2.2 Einwanderung nach Europa und Deutschland

Die ersten Roma kamen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf zwei verschiedenen Wanderrou-

ten nach Europa, über Persien während des 14. Jahrhunderts in das Gebiet der heutigen

Türkei sowie über Ägypten und Nordafrika nach Spanien. (vgl. Knudsen 2003: 8f) Härter

(2003) verweist darauf, dass die Sinti und Roma keine eigene schriftliche Überlieferung

ihrer Geschichte aus der frühen Neuzeit besitzen und somit die Informationslage vor die-

sem Hintergrund entsprechend kritisch betrachtet werden muss. Hervorgehoben sollte

trotzdem der Umstand, dass die Wanderungsbewegungen der Sinti und Roma zu keinem

Zeitpunkt freiwillig unternommen wurden, sondern stets in Zusammenhang mit ihrem Sta-

tus als Sklaven bzw. als kämpfende Einheiten der kriegerischen Auseinandersetzung zu

betrachten sind. Knudsen (2003) fast diesen Sachverhalt wie folgt zusammen:

„Die Roma, ihre Geschichte und ihr Schicksal sind von den politischen Entwick-

lungen in Gesamteuropa stärker geprägt worden als die irgendeines anderen Vol-

kes. Denn nie hatten die Roma einen eigenen Staat oder eine eigene Regierung, die

10 Insbesondere das heutige Panjab, Sindh und Rajasthan. 11 Knudsen (2003) verweist auf eine Sprachverwandtschaft, die sich in den Wörtern „Dom“ bzw. „Domni“,

welche im Romanes bis heute mit „Mann“ bzw. „Frau“ übersetzbar ist, zeigt. Ähnlich verhält es sich mit den

Begriffen „Rom“ (Mann) bzw. „Romni“ (Frau) was damals Mensch hieß.

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sich für ihre Belange einsetzte. Während hunderttausende Roma und Sinti den

Kriegen zwischen den europäischen Staaten zum Opfer fielen, haben sie selbst nie

einem anderen Volk den Krieg erklärt.“ (Knudsen 2003: 26)

Eine erste Erwähnung von Sinti und Roma in deutschen Gebieten lässt sich im Zeitraum

des frühen 15. Jahrhunderts finden.12

Erste Begegnungen mit den ansässigen Bevölke-

rungsgruppen waren zunächst von Neugierde und Wohlwollen geprägt. Dies begründete

sich darin, dass die eingewanderten Roma und Sinti ihre Wanderschaft mit einer Pilger-

fahrt erklärten, welche ihnen Rechte und Regelungen des damaligen Almosenwesens zu

Teil werden ließen. 13

Gesellschaftlich wurden die Sinti und Roma also zunächst mit einer

religiös geprägten Funktion assoziiert und als solche auch respektiert. (vgl. Schenk 2002:

25) Czollek/Perko (2003) sprechen in diesem Zusammenhang sogar vom „goldenen Zeital-

ter“ der Roma. Ein Großteil der Roma-Gruppen lebte zu diesem Zeitpunkt von mobilen

Erwerbsmöglichkeiten z. B. als fahrende Händler, Scherenschleifer oder Kesselflicker.

Diese vorerst positive gesellschaftliche Einstellung änderte sich rasch gegen Ende des 15.

Jahrhunderts, als sich erste Konflikte zwischen Roma und der einheimischen Bevölkerung

zeigten. Die genaue Untersuchung der verschiedenen Gründe für den allgemeinen Mei-

nungsumschwung der einheimischen Bevölkerung ist in diesem Rahmen nur hypothesen-

haft darstellbar, da in der Geschichtswissenschaft zahlreiche Gründe zum Teil sehr kritisch

diskutiert werden. Zu nennen ist zumindest das damals weitverbreitete Vorurteil, die „Zi-

geuner“ seien Spione der Türken, welches im Kontext der allgemein vorherrschenden

Angst vor den Osmanen schlüssig erscheint.14

1482 gab Kurfürst Achilles von Branden-

burg erstmals ein Aufenthaltsverbot von Roma-Gruppen in einem bestimmten Gebiet be-

kannt. Diesem Beispiel folgten zahlreiche andere Aufenthalts-Verbote.

Ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte bilden die Erklärungen der Freiburger und

Lindauer Reichstage, welche „Zigeuner“ ab dem Jahr 1498 für vogelfrei erklärten und ge-

tötete „Zigeuner“ mit einer Kopfprämie belegte. Wippermann (2005) schreibt:

12 Das Urkundenbuch der Stadt Hildesheim ist der älteste archivalische Beleg für das Eintreffen von Roma in

Deutschland – demnach wurden die ersten Roma am 20.09.1407 als Gäste in einem Wirtshaus empfangen.

(vgl. Djurić/Becken/Bengsch 1996: 195) 13

König Sigismund, der ab 1411 Herrscher über das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen war,

vergab um 1417 größeren Roma-Gruppen Schutzbriefe, die ihnen ein „Geleit und freien Zug durch die Län-

der und Städte zusicherte“. (Djurić/Becken/Bengsch 1996: 196) 14

Der Reichstag von Lindau erklärte bspw. in den Jahren 1496 bzw. 1497, dass „Zigeuner“ als „Ausspäher

der Christenheit“ agieren würden. (Gilsenbach 1988: 15)

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„Keine andere ethnische, religiöse oder soziale Gruppe, auch die jüdische nicht,

ist jemals kollektiv und in ihrer Gesamtheit für vogelfrei erklärt worden.“

(Wippermann 2005: 14)

Dieser Entwicklung ist hinzuzufügen, dass die praktische Umsetzung der Erlasse in der

damaligen Zeit nicht konsequent durchgeführt wurde, da aufgrund der deutschen Klein-

staaterei mit jeweils eigener Gesetzgebung, den Roma-Gruppen eine kurzfristige Flucht in

benachbarte Staaten möglich war. Trotzdem gab es in der Zeit von 1497 bis 1774 allein in

Deutschland 146 Verordnungen, die alle Arten von physischer und psychischer Gewalt

gegen Sinti und Roma zuließen. (vgl. Rose 1987: 11) Andere europäische Staaten erließen

ebenfalls Regelungen, welche eine vergleichbare Verfolgung und Diskriminierung der

Roma öffentlich rechtfertigte. Zum Vorwurf der Spionage gesellten sich weitere Vorurtei-

le und Anschuldigungen. So wurde den Roma eine spezifische Christenfeindlichkeit unter-

stellt, da sie im Pakt mit dem Teufel stünden. Hier lassen sich bereits im Mittelalter zwei

zentrale Entstehungsformen des Antiziganismus operationalisieren.

2.2.1 Der religiös motivierte Antiziganismus

Das anfängliche Rollenbild der „Zigeuner“ als umherziehende Christenpilger kehrte sich

im Laufe zweier Jahrhunderte durch die Konstruktion zahlreicher religiöser Mythen um:

So wurde das Reisen vieler Roma-Familien mit dem Mythos belegt, die „Zigeuner“ hätten

die „Heilige Familie“ auf ihrer Flucht nach Ägypten nicht beherbergt und seien auf-

grund dieses Verrats zum ruhe- und heimatlosen Umherziehen verdammt. (Maciejewski in

Giere 1996: 15) Winckel (2002) verweist auf die projektiven Eigenschaft dieses Mythos.

„Das, was den „Zigeunern“ vorgeworfen wurde, wurde im selben Moment mit

ihnen gemacht. Sie durften weder Almosen empfangen noch wurde ihnen Unter-

kunft gewährt.“ (Winckel 2002: 15)

Weitere Mythen sind die weitverbreiteten Geschichten, bei den „Zigeunern“ handele es

sich um Kinder und Kindeskinder des Brudermörders Kain oder die „Zigeuner“ hätten die

Nägel für das Kreuz Christi geschmiedet.15

(vgl. End 2011: 18) Jesus wäre somit nicht

nur von den Juden, sondern auch von den „Zigeunern“ verraten worden. Das gesellschaft-

15

Dieser Mythos wird in einigen Quellen auch um den Inhalt ergänzt, die „Zigeuner“ hätten den vierten Na-

gel für die Kreuzigung Jesu gestohlen. (vgl. Maciejewski in Giere 1996: 15, Wippermann 2005: 3)

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lich konstruierte Sinnbild des gläubigen „Armen, des Wanderers und des Fremden“ aus

dem 15. Jahrhundert, wurde mit dem Ausschluss der „Zigeuner“ aus der christlichen Ge-

meinschaft zu einem tragenden Argument des Ausgrenzungsmechanismus transformiert.

(zit. n. ebd.: 16) Deshalb kann in diesem Zusammenhang von einem religiös bedingten

Antiziganismus gesprochen werden. Am wichtigsten und folgenreichsten bis in die Ge-

genwart ist der Verdacht, die „Zigeuner“ stünden mit dem Teufel im Bunde, von

dem sie ihre angeblichen magischen Fähigkeiten gelernt hätten. (vgl. Wippermann 2005:

3) Dennoch steht allen diesen religiösen Zuschreibungen entgegen, dass die ausgeschlos-

sene Gruppe der Roma sich selbst immer wieder als christlich bezeichnete. (vgl. Macie-

jewski in Giere 1996: 15f)

2.2.2 Der politisch motivierte Antiziganismus

Der Ausschluss der „Zigeuner“ aus der christlichen Gemeinschaft fand auf der politischen

Ebene eine Entsprechung durch die Entwicklung von Territorialstaaten und Nationen. Zu

Beginn des 16. Jahrhunderts werden Roma in weiten Teilen Osteuropas in die Leibeigen-

schaft gezwungen bzw. versklavt. Frankreich, Portugal, Großbritannien und Dänemark

fordern im Staatsgebiet ansässige Roma-Gruppen dazu auf, das Land zu verlassen.16

(vgl.

Knudsen 2003) Winkel (2002) spricht durch die Tendenz zur räumlichen Homogenisierung

von einem „identitätstiftenden Einschlussdenken“ und einem „ausgrenzendem Aus-

schlussdenken“. (Winckel 2002: 16) Sinti und Roma waren dabei in der Rolle des Vagan-

ten bei der Herausbildung eines homogenen Staates hinderlich. (vgl. Hund 1996: 16)

Gewünscht war stattdessen eine territoriale Eingrenzung, kulturelle Integration und soziale

Anpassung. (vgl. Maciejewski in Giere 1996: 17) In vielen antiziganistischen Texten wer-

den diese Gegensätze durch den Vergleich zwischen dem „Zigeuner“ und dem „Bauer“

dargestellt.

„Wer die Zigeuner kennt, weiß, daß sie ein Nomaden- und kein Bauernvolk sind.“

(End 2011: 19)

Dieser Gegensatz enthält mehrere Sinngehalte. Insbesondere bestärkt er die These der Ort-

losigkeit der „Zigeuner“ und dass sie aufgrund ihrer wandernden Lebensweise über kein

16

1510 verbietet der Große Rat Frankreichs den Aufenthalt für Roma; ein Verstoß führt zum Todesurteil

durch Erhängen oder in die Verbannung. 1554 folgt diesem Beispiel Großbritannien und 1589 ebenfalls Dä-

nemark. 1538 beginnt Portugal mit der Deportation von Roma in die portugiesisch besetzten Kolonien. (vgl.

Haupt 2006 und Knudsen 2003)

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nationales Bewusstsein verfügten. Ergänzt durch das Fehlen einer, der Mehrheit angepass-

ten, Religionszugehörigkeit wurde den Sinti und Roma ein weiteres Kriterium für die Ent-

wicklung einer nationalen Zugehörigkeit entzogen. End (2011) resümiert daraus, dass den

Roma zwei für die europäischen Mehrheitsgesellschaften zentrale identitätsstiftende

Merkmale – Religion und Nationalität – aberkannt wurden, welche bis in die Gegenwart

hinein unterbewusst wirken.

Dennoch tritt im Zuge des 30-jährigen Krieges (1618 bis 1648) die deutsche Verfolgungs-

politik erstmals wieder in den Hintergrund. Viele Sinti nehmen abermals als Söldner und

sogar als Offiziere am Krieg teil. (vgl. Solms 2002: 45)

2.2.3 Das romantisierende „Zigeuner“-Stereotyp und das Sinnbild vom „edlen“

Wilden

„Lustig ist das Zigeunerleben,

Faria, faria, fum.

Brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben,

Faria, faria, fum.

Lustig ist´s im grünen Wald

wo des Zigeuners Aufenthalt

Faria, faria, faria, faria

Faria, faria, fum.

Auf dem Stroh und auf dem Heu

da machen wir uns ein großes Feu´r

blinzt uns nit als wie die Sonn´

so leben wir in Freud´ und Wonn´“

(Volkslied aus dem 19. Jahrhundert)

Neben den zuvor genannten Ursprüngen von Antiziganismus, entwickelte sich im 17. und

18. Jahrhundert auch ein „Zigeuner“-Stereotyp, welches „Zigeuner“ als Gegenentwurf zur

bürgerlichen Existenz inszenierte und als „edle Wilde Europas“ idealisierte. (vgl. Uer-

lings/Sass/Patrut 2007) Sinti und Roma wurden somit immer mehr zur Projektionsfläche

unerfüllter Sehnsüchte und Wünsche, wobei die negativen Stereotype nicht widerlegt, son-

dern positiv umgedeutet wurden. "Der herumziehende Zigeuner" wurde nun zum Sinnbild

einer grenzenlosen Freiheit. Die deutschen Dichter haben dieses Sinnbild, ohne Angehöri-

ge der Sinti und Roma selbst kennen zu lernen, in ihren Darstellungen an die vorhandenen

schriftlichen, romantisierten Quellen angelehnt. So hat Goethe für das „nächtliche Zigeu-

nerlager“ im „Götz von Berlichingen“ (1773) und für die Figur der „zigeunerhaften“ Mig-

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non im „Wilhelm Meister“ (1796) vor allem Darstellungen der Autoren Miguel de Cervan-

tes und der Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano verwendet. (vgl. Solms

2002) Hoffmann und Eichendorf kopierten wiederum Goethes Mignon. Als Bretano, in

dessen Werken ein ganzes Dutzend „schöner Zigeunerinnen“ auftritt, Anfang des 19. Jahr-

hunderts in Böhmen mit Roma zusammentrifft, schreibt er den Brüdern Grimm:

„[…] die Zigeuner sind alle zum Galgen reif und gar nicht romantisch.“

(zit. n. ebd.)

Für Solms (2002) ist die „schöne Zigeunerin“ der Romantik, welche für viele Literaturwis-

senschaftler einst als Sinnbild der romantischen Poesie galt, allerdings mit einer einzigen

Ausnahme von der „echte Zigeunerin“ zu unterscheiden: Entweder ist sie die Tochter einer

„Zigeunerin“ und eines Freiherrn oder Grafen oder ein zigeunerhaftes Wesen adliger Her-

kunft, welches als Kind von „Zigeunern“ geraubt wurde. Hier erfolgt die künstlerische

Reduktion der zigeunerhaften Kunstfigur darauf, dass sie durch Reinheit und Tugendhaf-

tigkeit, welche sich scheinbar auf ihren ethnischen Ursprung in der Mehrheitsbevölkerung

zurückführen lassen, die Konstruktion eines Gegensatzes zum sonst schmutzigen und las-

terhaften „Zigeunervolk“ impliziert. Trotz dieser literarischen Verklärung werden die „zi-

geunerhaften“ Kunstfiguren nicht in die adlige Gesellschaft integriert. Vielmehr müssen

sie vor dem „Happy End“ sterben oder in die Fremde ziehen, damit sie der Heirat des Hel-

den mit ihren adeligen Konkurrentinnen nicht länger im Wege stehen.

Dieses Sinnbild ist in der Wissenschaft vielschichtig untersucht. So finden sich zahlreiche

Beispiele, ob in den zeitgenössischen Texten, Dramen, Opern, Gedichten oder auch in

Volksliedern, welche „Zigeuner“ scheinbar zunächst positiv darstellen, im Kern jedoch

ebenfalls die Abgrenzung zur mehrheitlichen Bevölkerung begünstigen.

2.2.4 Versuch einer Emanzipation durch Assimilierung und Erziehung

Die Entstehung der Industrialisierung im 18. Jahrhundert führte zu einer Veränderung der

ökonomischen Strukturen. Insbesondere führten neue Technologien und Arbeitsweisen zu

einer Veränderung der Agrarwirtschaft hin zur Kapitalwirtschaft. Eine Unternehmensstruk-

tur, welche vorher durch Manufakturen geprägt war, wurde nun von der industriellen Pro-

duktion zurückgedrängt. Dies geht einher mit einer tiefgreifenden Veränderung sozialer

Normen und Wertvorstellungen. (vgl. End 2011: 21) Maciejewski (1996) interpretiert die

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gesellschaftliche Veränderung als einen Prozess, „der ökonomisch den Übergang von der

Agrar- zur Kapitalwirtschaft, also eine sich im Geiste des Kapitalismus formierende Ar-

beits- und Disziplinargesellschaft umfaßt; […].“ (Maciejewski in Giere 1996: 12) Das

heißt, diese Veränderungen implizieren im Kontext des westlichen Zivilisationsprozesses

die Entstehung einer neuen Arbeitsmoral und die Festschreibung nationaler Identitäten.

Betteln und der Müßiggang wurden allgemein verachtet und nur denjenigen, die Erfolg

hatten und Leistung erbrachten, wurde eine Lebensberechtigung zugestanden. Nach die-

ser Lebensauffassung waren Bettler und Arme für ihre Situation selbst verantwortlich und

wurden für ihre vermutete Faulheit als Müßiggänger verurteilt. (vgl. Winckel 2002: 14)

Dennoch wurde durch die Auflösung der Stände während der Aufklärung der staatliche

Verfolgungsdruck teilweise gemildert. Zur Strategie der gewaltsamen Unterdrückung tritt

der Gedanke der (Zwangs-)Assimilierung. Nach der Französischen Revolution (1789 bis

1799) und den daraus hervorgegangenen neuen Staats- und Menschenbildern ergibt sich in

der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Stellung der Sinti und Roma innerhalb der

Gesellschaft eine neue Ausgangslage: Mit der Losung „gleiche Rechte, gleiche Pflichten“

gilt es nun, die Gruppen der Sinti und Roma durch die rechtliche Gleichstellung mit der

bürgerliche Gesellschaft zu assimilieren. (vgl. Schenk 2002: 33) Es folgen neue Emanzipa-

tionsgesetze der deutschen Länder, welche den Roma eine rechtliche Gleichstellung er-

möglichen sollen. Dieses Bestreben führt allerdings nicht zu einer großen Veränderung.

Die Lebenswirklichkeit der Roma besteht nach wie vor darin sich entweder zu assimilie-

ren, d.h. ihre ethnische Identität zu Gunsten der deutschen Identität aufzugeben, oder au-

ßerhalb der Gesellschaft zu verweilen. Solange die Sinti und Roma also in ihren wirtschaft-

lichen Nischen verblieben, wurde ihre Anwesenheit am Rande der Gesellschaft geduldet.

Erfüllten sie diese wirtschaftliche Funktion nicht, erfolgte schnell die Gleichstellung „Zi-

geuner – Arbeitsscheuer – Landstreicher“. (ebd.)

Hinzu kommt außerdem ein neuer Erziehungs- und Besserungsgedanke, welcher die Er-

kenntnis beinhaltet, die „Zigeuner“ müssten sowohl was ihre kulturellen Gewohnheiten als

auch ihren Status in der mehrheitlichen Bevölkerung betrifft, umerzogen werden um sich

in die Gesellschaft entsprechend eingliedern zu können. Dies manifestiert sich in den von

Maria Theresia 1761 begonnenen und von Joseph II. fortgeführten „Ansiedlungsmaßnah-

men“ in Ungarn und im damals zu Ungarn gehörenden Burgenland, bei denen u.a. „Misch-

ehen“ mit Nicht-Roma erzwungen, der Gebrauch des Romanes verboten und zahlreiche

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Kinder aus Roma-Familien in speziellen Fürsorgeanstalten zwangsumerzogen wurden.17

(vgl. Wippermann 1997: 96ff)

Zum Ende des 18. Jahrhunderts fordert der preußische Aufklärer Wilhelm von Dohm die

endgültige Aufhebung aller Gesetze, welche die Diskriminierung und gesellschaftliche

Ausgrenzung von Roma und ebenfalls der Juden fordern:

„Die Zigeuner sind unstreitig eine sehr verwilderte Nation. Die unmenschliche Po-

litick, mit der man sie in fast allen Ländern Europas zu Verbannten erklärt, ihre

Leben sogar jedem Muthwilligen Preiß gegeben, hat sie von allem ehrlichen Ge-

werb entwöhnt, und gezwungen, als natürliche Feinde der bürgerlichen Gesell-

schaften, von dem Raube und Beeinträchtigungen derselben zu leben.“ (Wilhelm v.

Dohm 1781 in Wippermann 1997: 95)

Ein Jahr später ergänzt der Sprachwissenschaftler Johann Rüdiger über die „Zigeuner“

sogar:

„[…] nirgends hat man ihnen vollgültigen bürgerlichen Werth, und die natürliche

Gleichheit mit anderen Menschenkindern eingeräumt, […].“ (ebd. 95f)

So zeigt sich, dass es in diesem Zeitraum einen ernsthaften aufklärerischen Diskurs über

die „Zigeuner“ gegeben hat, der zu ihrer „Emanzipation“ hätte führen sollen.

2.2.5 Die Entstehung des rassistisch motivierten Antiziganismus

Ein wesentlicher Grund für die Verfehlung des Emanzipationsgedankens sind die Veröf-

fentlichungen des Göttinger Historikers Moritz Gottlieb Grellmann, der die alten antiziga-

nistischen Inhalte und Vorurteile erneut publizierte und öffentlich rechtfertigte. (vgl. Dju-

rić/Becken/Bengsch 1996: 206) Seine Werke wurden zum festen Bestandteil der zeitgenös-

sischen Literatur, bspw. als Basiswissen in Lexika des 19. Jahrhunderts. Grellmanns be-

kanntestes Werk von 1783 »Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart

und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volkes« kann auf zweifache Art als rich-

tungsweisend interpretiert werden. Einige „Tsiganologen“ sehen darin den Grundstein ei-

ner „ernsthaften und fruchtbaren Zigeunerwissenschaft“, während andere in Grellmann

17

Man beachte, dass die von Maria Theresia zwangsangesiedelten, burgenländischen Roma unter der natio-

nalsozialistischen Herrschaft als besonders minderwertig stigmatisiert und verfolgt wurden. (vgl. Zimmer-

mann 2003: 101ff)

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27

einen der „wichtigsten Ideologen des rassistisch motivierten Antiziganismus“ verstehen.

(Wippermann 1997: 98) Grellmann kannte durch die Lehren des Göttinger Professors C.

W. Büttner die Gemeinsamkeiten der indischen Sprachen mit der Sprache der Sinti und

Roma und bezeichnet die Roma-Gruppen daran angelehnt als „orientalisch minderwertiges

Volk“. Ebenfalls verweist er auf eine damit zusammenhänge „orientalische Denkungsart“,

welche nicht durch zeitliche Entwicklung zu verhindern und auch von Grund auf als

schlecht anzusehen sei. Weiterhin seien die Sinti „von Natur aus faul, lebten vom Stehlen,

spionierten für die Türken, ja würden sogar kleine Kinder rauben, um sie anschließend zu

verspeisen.“ (ebd.: 99) Hier zeigen sich in Grellmann Argumentationsstruktur enge Paral-

lelen zu den rassistischen Diskursen über die damaligen Kolonialvölker, die Klassifizie-

rung der dort Ansässigen als „Wilde“, mit der Gemeinsamkeit, dass Grellmann geleitet von

der Idee der wirtschaftlichen Nutzbarkeit, ebenfalls auf die Erziehung bzw. Dressierung

der Sinti und Roma setzte. Er gilt als der Erste, der den Rassegedanken18

auf die „Zigeu-

ner“ anwandte, die sich trotz ihres Lebensortes in Europa, „grundlegend von den übrigen

europäischen Völkern unterschieden, weil sie »häßliche«, »rohe«, »kindische« und sinnli-

che »Halbmenschen« seien, die zu einem »orientalischen Volk« gehörten, dass sich durch

seine »orientalische Denkungsart« auszeichnet.“ (ebd.: 100) Auffällig sind ebenfalls

Grellmanns ausführliche Beurteilungen der geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen,

welche sowohl das Frauen- als auch das Männerbild als durch und durch negativ darstel-

len. So entsteht das Bild der „Zigeunerin“, welches durch ihr eigenes Verhalten nach

Grellmann nicht den bürgerlichen Moralprinzipien entsprechend sei. Giere (1996) spricht

in diesem Zusammenhang sogar von einer „Manifestation der gesellschaftlichen Konstruk-

tion des Zigeuners“. Dem gegenüber steht, dass Grellmann durchaus Vorurteile gegenüber

den Roma-Gruppen in Bezug auf religiöse Riten („der Schwarze mit dem Pferdefuß“) so-

wie die weitverbreitete Vorstellung, bei den „Zigeunern“ handele es sich im Grunde nur

um Kriminelle und „Zieh-Gauner“, als gesellschaftlichen Aberglauben kritisierte. (Ruch

1986: 117) Entscheidend für die weiteren geschichtlichen Ereignisse ist aber vor allem

Grellmanns These, die negativen Eigenschaften der „Zigeuner“ seien insbesondere durch

ihre Herkunft bedingt. Hier erfolgt die konkrete Schlussfolgerung, dass vor allem die eth-

nische Herkunft der Roma für ihren „negativen“ Charakter und der damit verbunden Le-

bensweise verantwortlich sei. Somit kann man Grellmann als Schöpfer des rassistisch mo-

tivierten Antiziganismus verstehen, zu einem Zeitpunkt als der rassistische Antisemitismus

18

Auch wenn Grellmann den Begriff »Rasse« noch nicht explizit verwendete, so argumentiert er doch ein-

deutig rassistisch. (vgl. ebd.)

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noch nicht geboren wurde und der politische Umgang mit den Juden noch vorwiegend un-

ter rein religiösen Aspekten diskutiert wurde. (vgl. ebd.: 101) Die Möglichkeit der

Zwangsassimilation wurde somit durch die „Rassierung“ der Sinti und Roma im Grunde

von Grellmann selbst schon zum Scheitern verurteilt.

2.2.6 „Zigeuner“-Sondergesetze und –politik im Kaiserreich und in der Weima-

rer Republik

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Grellmanns Thesen, dass die Roma eine Rasse von

Kriminellen und eine entsprechende Assimilation in die mehrheitlichen gesellschaftlichen

Verhältnisse nicht möglich sei, durch verschiedene Kriminalbiologen bekräftigt. Winckel

(2002) schreibt diesbezüglich:

„Eine vermehrte populärwissenschaftliche Beschäftigung mit Sinti und Roma führte

nicht zu größerer Aufklärung über deren reale Situation im 19. Jahrhundert, son-

dern zu Reproduktion und Verbreitung des »Zigeuner«-Stereotyps.“ (Winckel

2002: 24)

Dieser Prozess festigte zum einen den kulturellen Gegensatz zwischen Sinti und Roma und

der Mehrheitsbevölkerung, zum anderen wurde dieser spezifischen Kultur ein hohes Maß

an Kriminalität als zentrale negative Eigenschaft zugeschrieben. (vgl.Reemtsma 1996: 84)

So nahmen Diskriminierungen und Verfolgungen zu und konnten sogar „wissenschaftlich“

vor dem deutschen Volk vertreten werden. Insbesondere wurde durch die Bestätigung von

Klischees durch Polizei- und Justiz-Behörden, die Praxis von „ordnungspolitisch-

polizeilichen Maßnahmen“ mit dem Ziel der systematischen Verhinderung von Niederlas-

sungen der Minderheit, legitimiert. (vgl. Wippermann 1997)

Am 1. Juli 1886 trifft Reichskanzler Bismarck die Unterscheidung von „im Besitz der

Reichsangehörigkeit befindlichen“ und „ausländischen Zigeunern“, um „das Bundesgebiet

von der […] Plage gründlich und dauernd zu befreien“. (zit. n. Reemtsma 1996: 85f) In

einer weiteren Bekanntmachung Bismarcks am 27. November 1886 soll bereits eingereis-

ten ausländischen Roma prinzipiell, also einzig auf Grund der ethnischen Zugehörigkeit,

der Wandergewerbeschein versagt werden. So deklarierte Bismarck, die sich ab Mitte des

19. Jahrhunderts abzeichnende Behandlung der Sinti und Roma als ordnungspolitisches

Problem, zur offiziellen Politik, dem man mit Abschiebung der ausländischen Roma und

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administrativ-polizeilicher Einschränkung der Ausübung von Wandergewerben reichsan-

gehöriger Familien begegnete. (vgl. ebd.: 87) So kann Bismarck als Initiator der politi-

schen Leitlinien der modernen „Zigeunerpolitik“ in Deutschland, die bis gegen Ende der

Weimarer Republik Bestand haben sollten, betrachtet werden. Die Umsetzung dieser poli-

tischen Richtlinien unterlag den jeweiligen Ländern. Insbesondere Bayern und Preußen

betrieben den Ausbau und die Koordinierung dieser Politik dadurch, dass sie durch die

Verknüpfung zahlreicher „zigeunerspezifischer“ Verordnungen und allgemeingültiger Ge-

setze eine Vielfalt an Regelungen schufen, die eine legale Ausübung von Wandergewerben

sehr stark einschränkten bzw. unmöglich machten. Unter den Verordnungen war es beson-

ders die Gewerbeordnung, die in Verbindung mit zusätzlichen formalen Anforderungen

wie Personal- und Reisepapiere, gesundheitspolizeiliche und tierärztliche Bescheinigun-

gen, etc. für Sinti und Roma den Erwerb eines Wandergewerbescheines und damit die le-

gale Ausübung eines Gewerbes massiv einschränkte. (vgl. ebd.: 88) Folglich führten diese

massiven Einschränkungen bei zahlreichen Familien zu wirtschaftlichen Elend und der

gesellschaftliche Abdrängung in die Illegalität.19

Schließlich wurde am 17. Februar 1906 in Preußen die „Anweisung zur Bekämpfung des

Zigeunerunwesens“ veröffentlicht, die von anderen Ländern (bspw. Sachsen und Anhalt)

übernommen wurde. Zentraler Inhalt war die prinzipielle Ausweisung „ausländischer Zi-

geuner“ und die administrative Sesshaftmachung „inländischer Zigeuner“. Zeitgleich setzte

eine verschärfte Überwachung von Sinti und Roma ein. So wurde bereits 1899 bei der Kö-

niglichen Polizeidirektion in München eine zentrale „Zigeunerpolizeistelle“ eingerichtet, in

der vielfältige Daten über Familien und Einzelpersonen gesammelt wurden.20

Dieses Vor-

gehen wurde ab November 1927 perfektioniert, in dem die Entnahme von Fingerabdrücken

aller Roma angeordnet wurde.

Schenk (1994) verweist auf die lange Tradition der Rassenideologie, welches sich vor al-

lem in der Veröffentlichung zahlreicher „wissenschaftlicher“ Zeitschriften äußerte. So

gründete Theoder Fritsch 1902 die „Blätter für den deutschen Sinn“, Alfred Ploetz 1904

das „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ und Erwin Bauer 1909 die „Zeitschrift

19

In den Staaten Württemberg, Baden und Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen

wurden seit Gründung des Deutschen Reiches zusätzlich Verordnungen über das „Verbot des Reisens in

Horden“ erlassen, welche im Grunde die zentrale familiäre Struktur vieler Roma zerstörte. (vgl. ebd.) 20

Bereits sechs Jahre später A. Dillmann das Ergebnis dieser Erfassungsarbeit, das „Zigeunerbuch“, in dem

alphabetisch sortiert 3.350 Namen und die erfassten „erkennungsdienstlichen Aspekte“ aufgeführt waren.

(vgl. ebd.: 89)

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für induktive Abstammungs-und Vererbungslehre“. (Schenk 1994: 37) Ende der zwanziger

Jahre trat immer mehr Schrifttum hinzu, dessen rassentheoretische Inhalte auf nationalso-

zialistische Ziele bezogen waren, wie z.B. 1924 die „Monatsschrift für Weltpolitik, völki-

sche Kultur und die Judenfrage aller Länder“, 1926 die „Illustrierte Vierteljahresschrift

für deutsches Volkstum – Volk und Rasse“ oder 1931 die „Nordischen Stimmen. Zeitschrift

für deutsche Rassen- und Seelenkunde“. (ebd.)

3. Roma im Nationalsozialismus

Das folgende Kapitel stellt, wie bereits einleitend erwähnt, eine inhaltliche Schlüsselfunk-

tion für das Verständnis des Antiziganismus im Kontext der deutschen Mehrheitsgesell-

schaft dar. Dies spiegelt sich auch in der Fülle wissenschaftlicher Beiträge, Analysen und

der detaillierten historischen Datenlage wieder, welche sowohl von Sinti und Roma selbst

als auch von Außenstehenden veröffentlich wurde bzw. wird. So setzt das Kapitel „Roma

im Nationalsozialismus“ Schwerpunkte auf die historische Verlaufsdarstellung als auch auf

den Anspruch indirekte und direkte Folgen der nationalsozialistischen Politiken hervorzu-

heben. Hierbei muss der kontextuelle Rahmen der NS-Geschichte insbesondere für die

Betrachtung gegenwärtiger Prozesse ausreichend berücksichtigt werden. Dennoch kann

dieses Kapitel keinesfalls dem Anspruch inhaltlicher Vollständigkeit genügen, noch die

zahlreichen erschreckenden Einzelschicksale und Geschichten darstellen, welche eine kon-

krete und lebensnahe Vorstellung, ja vielleicht auch persönliche Einblicke zu den Opfern

aufbauen könnten. Deshalb bleibt meine Darstellung stets inhaltlich zusammenfassend und

ausschnitthaft.

3.1 Die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung europäischer

Sinti und Roma

Ab 1933 wurden die politischen Maßnahmen gegen Sinti und Roma verschärft und inten-

siviert. Die rassistisch motivierte Verfolgungspolitik, die schon während der Zeit der

Weimarer Republik gravierende Ausmaße erreichte, wurde mit der Machtübernahme 1933

durch die Nationalsozialisten in verschärfter Form fortgeführt. Bspw. wurden Sinti und

Roma ab 1933 die Partizipation an den Reichstheater-, -film- und -musikkammern verbo-

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ten. (vgl. Winckel 2002: 27) Fünf Jahre später wurden diese Verbote durch Berufsverbote

erweitert. (vgl. Krausnick 1995: 156) Diese Form der öffentlichen Diskriminierung wurde

ab 1933 durch die Forderung des „Rasse- und Siedlungsamt“ der SS in Berlin, „dass Zi-

geuner und Zigeunermischlinge – gleichgültig, ob sozial angepasst oder asozial und krimi-

nell – in der Regel unfruchtbar gemacht werden sollten.“, rassenspezifisch radikalisiert.

(zit. n. Reemtsma 1996: 101) Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ge-

stattete bzw. forderte die Zwangssterilisation unter der Diagnose des „erblichen Schwach-

sinns“. Haupt (2006) verweist auf die erschreckende Datenlage: 94 Prozent aller Roma,

welche bei den Erbgesundheitsgerichten durch Fürsorger, Ärzte und Institutionen eine An-

zeige erhielten, wurden gegen ihren Willen sterilisiert. Auch das „Gesetz gegen gefährliche

Gewohnheitsverbrecher“ vom 24. November 1933 richtete sich insbesondere auf Roma. So

wurden Menschen aus „kriminalbiologischen Gründen“ als „geborene Verbrecher“ einge-

stuft und in Sicherheitsverwahrung genommen. Für den Großteil der Betroffenen bedeutete

dies fast zwangsläufig die Zwangskastration. (zit. n. Wippermann 1993: 151)

Die „Nürnberger Rassegesetze“ vom 15. September 1935 mit dem „Gesetz zum Schutze

des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ beinhaltete das Verbot von Eheschließun-

gen zwischen „Deutschblütigen“ und Juden, wobei gleichzeitig alle Jüdinnen und Juden zu

Staatsbürgern mit eingeschränkten Rechten herabgestuft wurden. (vgl. Winckel 2002: 28)

Ein halbes Jahr später gab der Reichsinnenminister Wilhelm Frick an die Standesbeamten,

die Aufsichtsbehörden sowie die Gesundheitsämter die Anordnung, dass neben den Juden

auch Sinti und Roma den diskriminierenden Gesetzen unterworfen werden sollten.

„Zu den artfremden Rassen gehören alle anderen Rassen, das sind in Europa außer

den Juden regelmäßig nur die Zigeuner […].“ (zit. n. Krausnick 1995: 138)

Das „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes“, auch Ehegesundheits-

gesetz genannt, untersagte zudem die Heirat von „Minderwertigen“. So wurde die Gruppe

der Roma in doppelter Hinsicht stigmatisiert: Im Sinne des anthropologischen Rassismus

wurden Sinti und Roma als „artfremde Rasse“ und deshalb als erbbiologisch minderwertig

stigmatisiert. Weiterhin implizierte das Konzept der „Rassenhygiene“ eine Verfolgung der

Sinti und Roma als „Asoziale“ oder „Verbrecher“. (Haupt 2006: 122f) Diese politischen

Veränderungen führten, unterstützt durch die Initiative der Städte und Kommunen, zu der

Errichtung erster Zwangsinternierungslager für Roma, z.B. 1935 in Köln Bickendorf, 1936

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in Berlin Marzahn21

und 1937 in Frankfurt/Main. (Widmann 2001: 16f) Ziel der Lagerbil-

dung war die Isolation von der Mehrheitsbevölkerung und die Bildung von Zwangsarbei-

ter-Innenreservoirten. (vgl. Rose 1999: 64) Dazu erlässt Heinrich Himmler am 7. Oktober

1939 einen Festsetzungserlass, der Sinti und Roma verbietet, ihre Wohnorte zu verlassen.

(vgl. Reemtsma 1996: 106f)

3.2 „Rassenhygienische Forschung“

1936 wurde die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ unter der Führung von Dr. Robert

Ritter eingerichtet. Heinrich Himmler gab am 8. Dezember 1938 einen Runderlass heraus,

in dem die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse“ heraus vorzunehmen

sei. (zit. n. Winckel 2002: 28) Zeitgleich forderte Himmler die Forschungsstelle auf, Sinti

und Roma im gesamten Reichsgebiet zu erfassen. (vgl. Rose 1999: 51) So erstellten Ritter

und seine Arbeitsgruppen in Zusammenarbeit mit dem Reichssicherheitshauptamt im Lau-

fe der Zeit fast 24.000 „Rassegutachten“.

Die Erstellung der Gutachten führte dazu, dass sich Roma aus Sammellagern, Kinderhei-

men und selbst noch in den Konzentrationslagern zahlreichen Untersuchungen fügen muss-

ten, in denen sie vermessen, fotografiert und gezwungen wurden, ihre Verwandtschafts-

verhältnisse darzulegen. (vgl. Winckel 2002: 29) Diese Gutachten bildeten die Grundlage

für die ab März 1939 eingeführten „Rasseausweise“, welche zur Vorbereitung der Zwangs-

festsetzungen in den Sammellagern dienten. Gleichzeitig erfolgen im Zuge der ersten Mas-

senverhaftungen, darunter auch zahlreiche Kinder und Jugendliche, Deportationen in die

Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück, Dachau und viele andere Lager. (vgl. Ro-

se 1996: 116)

21

Das Sammellager in Berlin Marzahn wurde pünktlich zur Olympiade aufgebaut um die Stadt für die Öf-

fentlichkeit von den „Zigeunern“ zu befreien. Am 16. Juli 1936 wurden rund 600 Berliner Sinti und Roma in

ihren Wohnungen verhaftet und in das kommunale „Zigeunerlager“ zwangsumgesiedelt. (vgl. Winckel 2002:

29) Dort wurden sie nach Jahren der Zwangsarbeit 1943 zur Ermordung nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

Nicht mehr als zwanzig Menschen erlebten im Lager Marzahn die Befreiung. (vgl. Rose 1999: 65)

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3.3 Vorbeugende Verbrechensbekämpfung und Beginn der Vernichtung

in Deutschland und Osteuropa

Institutionell wurden die Massenverhaftungen durch der Aktion „Arbeitsscheu Reich“22

initiiert. Diese fordert, dass insbesondere „Bettler, Landstreicher, Zuhälter und Personen

mit zahlreichen Vorstrafen wegen Widerstands und Körperverletzungen“ inhaftiert werden.

(Winckel 2002: 30) Dabei sollten Sinti und Roma festgenommen werden, wenn sie „kei-

nen Willen zur geregelten Arbeit gezeigt haben oder straffällig geworden sind“.23

(zit. n.

ebd.) Am 30. Januar 1940 fordert Reinhard Heydrich, Leiter des „Reichssicherheitshaupt-

amtes“, auf einer Konferenz an der Absicht der NS-Führung, alle Sinti und Roma nach

Polen zu deportieren, festzuhalten. Daraufhin beginnen im Mai desselben Jahres zahlreiche

Massendeportationen der vorher in Sammellagern und kommunalen „Zigeunerlagern“ ein-

gesperrten Sinti- und Roma-Familien. (vgl. Rose 1999: 138) Im November 1941 werden

etwa 5.000 Roma und Sinti in das „Zigeunerghetto“ nach Lodz (Polen) deportiert, wo im

folgenden Monat bereits etwa 400 Menschen an den brutalen und menschenverachtenden

Bedingungen sterben. Die Anfang 1942 noch lebenden Insassen werden nach Chelmno

(Polen) deportiert und unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaswagen erstickt.24

(vgl. ebd.:

166) Diese Praxis wurde ebenfalls in den Ländern Kroation25

, Serbien, Österreich26

und

Rumänien27

durchgeführt.

Noch bevor am 16. Dezember 1942 in Deutschland der „Auschwitzerlaß“28

gegen die Sinti

und Roma veröffentlicht wird, meldet der Chef der Militärverwaltung in Serbien, Harald

Turner, am 30. August 1942 an seine Vorgesetzten, dass alle Jüdinnen, Juden und Roma

22

Die Bezeichnung Aktion „Arbeitsscheu Reich“ lässt sich im dienstlichen Schriftverkehr, der im Zusam-

menhang mit der Massenverhaftung geführt wurde, nicht nachweisen. Im Konzentrationslager Buchenwald

wurden die Inhaftierten zunächst als „Arbeitszwangshäftlinge Reich“, kurze Zeit später als „Arbeitsscheue

Reich“ bezeichnet. (vgl. Ayaß 1995: 165) 23

„Zigeuner“ konnten bereits mit einer einzigen Vorstrafe inhaftiert werden. Die Verfolgung aufgrund der

„Zigeuner“ spezifischen „Asozialität“ wurde dabei insbesondere durch rassistische Motive begründet. (vgl.

Ayaß 1995: 197) 24

Die ins Warschauer Ghetto deportierten Sinti und Roma werden später im Konzentrationslager Treblinka

in Gaskammern oder durch Massenerschießungen ermordet. (vgl. Rose 1999: 174) 25

In Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten übernimmt in Kroatien die faschistische Ustascha die In-

haftierung und Ermordung der Roma. Zehntausende sterben durch Massenerschießungen oder im KZ

Jasenovac. (vgl. Rose 1999: 188) 26

Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 sterben bereits viele Insassen in den kommunalen „Zi-

geunerlagern“. Das größte Lager mit 4.000 Inhaftierten wird in Lackenbach errichtet. 27

Die faschistische Bewegung in Rumänien Anfang der zwanziger Jahre war seit Ende der 1930er Jahre an

der Regierung beteiligt und forcierte eine an der deutschen Gesetzgebung orientierte antisemitische Politik.

So werden 1941 und 1942 Deportationen von Juden und Roma in Ghettos und Zwangsarbeitslager sowie ihre

Ermordung mit deutscher Unterstützung umgesetzt. (vgl. Reemtsma 1996: 121ff) 28

Himmler ordnet die Deportation von 22.000 Sinti und Roma aus Europa, davon die letzten 10000 aus dem

Reichsgebiet, in das KZ Auschwitz-Birkenau an.

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mithilfe von mobilen Vergasungswagen ermordet oder in Vernichtungslager deportiert

worden seien. (Rose/Weiss 1991: 175)

„Serbien, einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst.“

(zit. n. Reemtsma 1996: 120f)

Ein rumänischer Hauptmann äußert die Einstellung der Regierung gegenüber Roma, Jü-

dinnen und Juden wie folgt:

„Mäuse, Ratten, Krähen, Zigeuner, Vagabunden und Juden brauchen keine Aus-

weise.“ (zit. n. Winckel 2002: 31)

3.4 Auschwitz

Im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau werden Sinti und Roma, auch kleine Kinder,

mit einem „Z“ und einer Nummer tätowiert. Die meisten Inhaftierten sterben auch dort

aufgrund der unmenschlichen Bedingungen und dem brutalen Vorgehen der SS. Im März

1943 werden bei ersten Massenvergasungen 2.700 Menschen ermordet. Nachdem der Ver-

such einer Vernichtung aller Lagerinsassen am Widerstand der Inhaftierten scheitert, wer-

den im Frühjahr und Sommer 1944 durch Selektion 3000, insbesondere männliche, Sinti

und Roma zur Zwangsarbeit in andere Konzentrationslager deportiert. (vgl. Weisz 2011: 4)

Die verbleibenden 2.900 Menschen werden bei der „Liquidierung“ des „Zigeunerlagers“ in

der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in Gaskammern ermordet. (Winckel 2002: 32)

Während der Zeit in den Konzentrations- und Vernichtungslagern wurden viele Lagerin-

sassen als medizinische Versuchsobjekte unsagbar gequält und in den meisten Fällen brutal

getötet. Neben Experimenten mit Giftgas oder Krankheitserregern, führte der SS-

Hauptsturmführer Dr. Josef Mengele als Lagerarzt in Auschwitz, grausame Versuche mit

Zwillingskindern durch. Sein Ziel war es nachzuweisen, dass spezifische „Rassenmerkma-

le“ vererbbar seien. Seine Opfer starben immer grausam. (vgl. Rose 1999: 218) Die bereits

ab den 1930er Jahren durchgeführten Zwangssterilisationen von Sinti- und Roma-Frauen

bzw. -Mädchen wurde bis zum Ende der NS-Regierung weitergeführt. In Ravensbrück

wurden Experimente mit ätzenden Flüssigkeiten und Röntgenstrahlen vom dortigen La-

gerarzt Prof. Carl Clauberg durchgeführt. Seine jüngsten Opfer waren jünger als zehn Jah-

re. (vgl. ebd.: 268)

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3.5 Bilanz der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten

Bis zum Ende des Krieges im Mai 1945 wird die Zahl der in Europa in Konzentrationsla-

gern und von SS-Einsatzgruppen ermordeten Sinti und Roma auf eine halbe Million Men-

schen geschätzt. Von den durch die Nazis erfassten 40.000 deutschen und österreichischen

Sinti und Roma wurden mehr als 25.000 ermordet. (vgl. Rose/Weiss 1991: 176) Die natio-

nalsozialistischen Politiken und Handlungen gegen die „Zigeuner“ sind in der Geschichte

der Roma einzigartig und nicht aus den antiziganistischen Strukturen des Mittelalters bzw.

der Weimarer Republik ableitbar. Grund für diese Differenzierung ist die Entpersonifizie-

rung und Versachlichung der Vernichtungspolitik und des Völkermords. (vgl. Winckel

2002: 33) Die spezifische Konstruktion der Massenvernichtung durch die Nationalsozialis-

ten war und ist bis zum heutigen Zeitpunkt mit keinen anderen Politiken vergleichbar.

„Von den in Ghettos und Konzentrationslagern verschleppten „Zigeunern“ über-

lebten nur 4000 bis 5000 die Vernichtung.“ (Sparing 2011: 14)

4. Nachkiegsgeschichte und Entschädigungspolitik nach 1945

4.1 Hilfe für NS-Verfolgte

Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches forderten die Alliierten von den deutschen

Behörden, Hilfe für die NS-Opfer zu leisten, die aus politischen, weltanschaulichen oder

rassistischen Gründen verfolgt worden waren, und entsprechende Mittel bereitzustellen.29

(vgl. Margalit in Matras/Winterberg/Zim-mermann 2003: 157) Diese Forderung beinhalte-

te noch nicht, dass spezifische Leistungen an verfolgte Sinti und Roma erbracht werden

sollten, wie dies bspw. für die jüdischen Opfer explizit der Fall war. Sinti und Roma wur-

den zwar in vielen Ländern nach 1945 ausdrücklich als Verfolgte anerkannt, Unterstüt-

zungsleistungen wurden aber bei ihnen an besondere Bedingungen geknüpft.30

(vgl. Sten-

29

Entsprechende Mittel bedeutete in diesem Zusammenhang, dass die kommunalen Fürsorgestellen ehemali-

ge NS-Opfer mit Kleidung, Wohnraum, Arbeitsplätzen und Lebensmitteln versorgten und durch finanzielle

Unterstützung eine entsprechende Wiedereingliederung förderten. (vgl. Stengel 2004: 15) 30

Dies zeigt sich bspw. in einem Erlass aus Nordrhein-Westfalen von 1945. So wurden „Zigeuner“ zwar zu

den „Opfern des Naziregimes“ gerechnet, ihre Anerkennung als Verfolgte wurde aber „von dem Nachweis

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36

gel 2004: 15) Diese Einschränkungen, die nur bei Sinti und Roma üblich waren, wider-

sprachen der Funktion der Verfolgtenausweise und führten nur zu einem Ausschluss von

Betreuungsmaßnahmen.

Die Grundsätze zur Anerkennung von Sinti und Roma als NS-Verfolgte, welche die deut-

schen Sozialhilfe- und Entschädigungsbehörden konzipierten und durchsetzten, stießen in

der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit auf Ablehnung. Gegenstand der öf-

fentlichen Diskussion war dabei die Frage, inwiefern Sinti und Roma aus „rassistischen

Gründen“ oder nur aufgrund ihrer „Asozialität“ und kriminellen Verhaltensweisen verfolgt

worden seien. (Margalit in Matras/Winterberg/Zimmermann 2003: 158) Viele deutsche

Beamten sowie ebenfalls viele ehemalige politische Häftlinge vertraten die Auffassung,

dass die „Zigeunerpolitik“ vor 1933 mit derjenigen des NS-Regimes generell vergleichbar

sei. Die Tatsache wurde lange Zeit nicht anerkannt, dass die nationalsozialistische „Zigeu-

nerpolitik“ zwar an die vor 1933 überwiegend geführte Diskriminierungspolitik anknüpfte,

jedoch im Laufe ihrer Entwicklung während des Zweiten Weltkrieges hin zum Völkermord

grundlegende Unterschiede entwickelte. (vgl. ebd.)

Dies führte dazu, dass den Sinti und Roma der Status als NS-Opfer bis in die 1960er Jahre

verwehrt wurde. Hinzu kam, dass in der westdeutschen Öffentlichkeit die Wiedergutma-

chungsbemühungen generell auf wenig Zustimmung stoßen.31

(vgl. Stengel 2004: 104)

„[…] Hier gab es kein Schuldbewußtsein und keine Verpflichtungserklärung zur

»Wiedergutmachung«.“ (zit. n. Wippermann 1997: 177)

Der Völkermord an den europäischen Sinti und Roma wurde weder im Nürnberger Kriegs-

verbrecherprozess noch auf den folgenden internationalen Konferenzen thematisiert. Ins-

besondere wurde von den Nürnberger Anklägern und Richtern, trotz einer umfassenden

Sammlung von Quellen, welche den rassistisch motivierten Völkermord dokumentieren,

nicht auf diesen „zweiten Holocaust“ eingegangen. (ebd.) Bspw. äußert der SS-

Einsatzgruppenleiter Otto Ohlendorf zur Vernichtung der „Zigeuner“ hinter der Ostfront:

„Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und Juden, für beide galt

damals der gleiche Befehl.“ (Winckel 2002: 33)

eines ständigen Wohnsitzes und regelmäßiger Arbeit“ abhängig gemacht. (zit. n. ebd.) Ähnliches findet sich

in Erlassen aus Rheinlandpfalz, Bremen und auch in der Sowjetischen Besatzungszone. 31

Wippermann (1997) erklärt dies damit, dass der Antiziganismus von den Siegermächten nicht thematisiert

wurde.

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37

Ebenfalls wurden die an den Verbrechen Beteiligten, ob in Zusammenhang mit den bruta-

len Handlungen in den Konzentrationslagern, als MitarbeiterInnen der „Zigeunerpolizei-

stellen“ oder der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, in den Nachkriegsjahren generell

nicht juristisch belangt. (vgl. Schuch in Czollek/Perko 2003: 100) Wissenschaftler und

Personen, die direkt oder mittels pseudo-wissenschaftlicher Beiträge die Erfassung, Befor-

schung, Verfolgung und Ermordung während der NS-Zeit unterstützten, blieben in ihren

Positionen geschützt und wurden weiterhin als nationale „Zigeuner-Experten“ angesehen.32

Neben der Nichtgewährung von Rehabilitationen und den juristischen Freisprüchen zahl-

reicher TäterInnen, wurde auch die Praxis der Überwachung und Erfassung, der in West-

deutschland lebenden Sinti und Roma, unverändert weitergeführt. (vgl. Wippermann 1997:

184) Die durch Nationalsozialisten erstellten „Rassegutachten“ wurden weiterhin benutzt

um in der polizeilichen und juristischen Fachliteratur die kriminelle Veranlagung der „Zi-

geuner“ darzustellen. Eine Erfassung und Überwachung der Roma wurde in den neu be-

nannten „Landfahrerpolizeistellen“ weitergeführt mit dem Ziel einer vollständigen Erfas-

sung. (ebd.)

„Einmal erfasst, wurden den Sinti wiederum z.B. Wandergewerbescheine verwei-

gert oder auch die Rückgabe der deutschen Staatsbürgerschaft verwehrt.“ (Schuch

in Czollek/Perko 2003: 100)

Nach der Aufhebung des „Gesetzes zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Ar-

beitsscheuen“ durch die amerikanische Militärregierung, verabschiedete der bayrische

Landtag im Dezember 1953 die „Landfahrerverordnung“. Diese bis 1970 geltende Rege-

lung hatte Gesetzesrang und verpflichtete „Landfahrer“, einen speziellen Ausweis mit sich

zu führen.33

(vgl. Widmann 2001: 19) Sinti und Roma unterlagen also weiterhin besonde-

ren Einschränkungen, die für andere mobile Gewerbebetreiber nicht galten. Die Einfüh-

rung der „Landfahrerverordnung“ begründete sich wie auch die alten Gesetze auf einen

Generalverdacht.

32

Ein beispielhafter Täter, der seine Position behielt, war Robert Ritter, Leiter der „Rassenhygienischen

Forschungsstelle“. Er wurde 1947 Leiter der Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke und der Jugend-

psychiatrie in Frankfurt/Main. (vgl. Schuch in Czollek/Perko 2003: 100) Ein juristisches Verfahren, welches

1950 aufgrund seiner Mitverantwortung für Zwangssterilisationen, Deportationen und die Vernichtung an

Roma angestrebt werden sollte, wurde vor seiner Umsetzung mit der Begründung, Ritters Handlungen seien

nicht „rassenideologisch“ motiviert gewesen, eingestellt. (vgl. Schmidt in Hund 1996) 33

Dieser Ausweis, das „Landfahrerbuch“, verpflichtete fahrende Sinti und Roma zu einer regelmäßigen Mel-

dung bei den Behörden. Die Verweildauer wurde befristet und nur an speziell ausgewiesenen Plätzen gedul-

det.

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38

„Gefahr im Verzug kann im Hinblick auf die Landfahrereigenschaft in der Regel

unterstellt werden.“ (ebd.)

Ähnliche Gesetze und Verordnungen gab es auch in anderen Bundesländern, z.B. im Saar-

land34

, in Hessen35

und Baden-Württemberg36

.

4.2 Entschädigung

Bereits in der Phase der alliierten Militärregierung versuchten die zuständigen Behörden

im Westen wie im Osten Deutschlands die Anerkennung der „Zigeuner“ als NS-Verfolgte

einzuschränken. (vgl. Margalit in Matras/Winterberg/Zimmermann 2003: 158)

„Entschädigung für die im Nationalsozialismus erlittene Verfolgung ist einem gro-

ßen Teil der Sinti und Roma, zumindest bis 1965, verweigert worden. Bis dahin er-

hielten sie […] Entschädigung nur für Verfolgungsmaßnahmen aus der Zeit ab

März 1943, also dem Beginn der physischen Vernichtung der deutschen und west-

europäischen „Zigeuner“.“ (Stengel 2004: 103)

Dazu heißt es in einem Fehl-Urteil des Bundesgerichtshofs im Jahr 1956 auf die Klage

eines Sintos, dem eine Entschädigung verweigert wurde, dass Sinti und Roma bis zum

Jahr 1943 nicht aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt und ermordet worden

seien, sondern ihre „eigenen Eigenschaften“ wie „Asozialität“, „Kriminalität“ und „Wan-

dertrieb“ ihre Bekämpfung veranlasst hätten (Sparing 2011: 14):

„Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrüge-

reien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremden Ei-

gentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationsan-

trieb eigen ist.“ (zit. n. Rose 1987:53)

Dieses Urteil wurde erst 1963 in einem Teilbereich aufgehoben. Der Bundesgerichtshof

schränkte ein, dass auch schon ab Dezember 1938 „rassenpolitische Beweggründe mitur-

sächlich“ für die Verfolgung gewesen seien. (Sparing 2011: 14) Dennoch waren die meis-

ten Entschädigungsverfahren von Sinti und Roma bereits durch unanfechtbare Bescheide

34

Die „Polizeiverordnung zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ war im Saarland bis 1970 in Kraft. 35

Das hessische „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ von 1926 hatte bis 1957 Bestand. 36

Bis 1976 galt eine Verfügung des Innenministeriums „betreffend das Verbot des Zusammenreisens von

Zigeunern in Horden“.

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oder rechtskräftige Urteile abgeschlossen. Dem wurde im „Bundesentschädigungsschluss-

gesetz“ im Jahr 1965 Rechnung getragen, da „Zigeunern“, deren Anträge aufgrund der

früheren Rechtsprechung durch den Bundesgerichtshof zurückgewiesen wurden, ein Neu-

antragsrecht für Verfolgungsschäden zugestanden wurde, die in der Zeit vom 8. Dezember

1938 (Himmlers „Grunderlaß zur Regelung der Zigeunerfrage“) bis zum 1. März 1943

entstanden waren. (vgl. ebd.: 15) Dennoch war auch diese Neuregelung an zahlreiche Be-

dingungen geknüpft, die es vielen Betroffenen nach wie vor nicht ermöglichte entspre-

chenden Entschädigungen zu erhalten.37

(vgl. Zimmermann 1989: 85) Ebenfalls wurde

während der NS-Zeit dem Großteil, der in Deutschland lebenden Roma, die deutsche

Staatsbürgerschaft aberkannt. Bis in die 1970er Jahre weigerten sich die deutschen Behör-

den der Bundesrepublik, diese wieder zurückzugeben. (vgl. Djuric/Becken/Bengsch 1996:

210)

Erst in den späten siebziger Jahren lässt sich ein wachsendes gesellschaftliches Interesse an

der Situation der Sinti und Roma in der Bundesrepublik verzeichnen. Zimmermann (1989)

führt diese neue Sensibilität für die Geschichte und Gegenwart der Roma auf die Zunahme

medialer Erscheinungen und analytischer Publikationen zurück und der Neuorientierung

der Sozialarbeiterschaft hin zu Themenfeldern in Zusammenhang mit der spezifischen

Vergangenheitsbewältigung. Dennoch sieht er die Gründung einer eigenständigen Bürger-

rechtsbewegung insbesondere verantwortlich für die „tiefergreifende“ und „dauerhafte“

Impulssetzung einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der Roma spezifischen Ge-

schichte in Deutschland. (Zimmermann 1989: 85)

4.3 Zusammenfassung der politischen Situation der Roma in der Deut-

schen Demokratischen Republik (DDR)

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands durch die Alliierten

wurde 1949 die DDR gegründet. Der Versuch, verlässliche Angaben über die Zahl der

Roma zu finden, die vor Beginn des Zweiten Weltkrieges auf dem Gebiet der ehemaligen

DDR lebten, gestaltet sich aufgrund der begrenzten Quellen als schwierig. Gilsenbach

(1993) geht davon aus, dass schätzungsweise 5.000 Roma in diesem Gebiet gelebt haben.

37

Demnach war ein Neuantrag z.B. unzulässig, wenn die Tatsache einer Freiheitsentziehung angezweifelt

oder eine Freiheitsentziehung aus rassischen Gründen auch für die Zeit nach dem 1. März 1943 bestritten

worden war. Gleiches galt, wenn Betroffene in den Jahren zuvor keinen Entschädigungsantrag gestellt hatten.

(Stengel 2004: 74)

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Die Zahl der Roma nach Ende des Krieges, schätzt er vorsichtig auf 600 Menschen. In

einer anderen Quelle werden ca. 300 Roma angegeben, die nach 1949 in der DDR gelebt

haben (vgl. Reemtsma 1996: 135f).

In der DDR erhielt die überwiegende Mehrheit der Sinti und Roma, die die Inhaftierung in

Konzentrationslagern überlebten, eine Anerkennung als „Opfer des Faschismus“. (vgl.

Schuch in Czollek/Perko 2003: 101) Dieser Status bedeutete zumindest eine gesicherte

materielle Basis durch eine Rente, andere Vergünstigungen und den Zugang zu Bildungs-

möglichkeiten. (vgl. Gilsenbach 1993: 14) Dennoch mussten auch Sinti und Roma sich der

propagierten Vorstellung vom sozialistischen Menschenbild, ebenso wie die Mehrheitsbe-

völkerung, fügen, welches vielfach zur Assimilation bzw. der Preisgabe ihrer kulturellen

Identität zu Gunsten des sozialistischen Systems führte. So durften Sinti und Roma ein

reisendes Gewerbe nur mit einer entsprechenden Gewerbeerlaubnis ausüben. Dabei wurde

keine Rücksicht auf spezifische kulturelle Traditionen genommen. Anders als die sorbische

Minderheit konnten Sinti und Roma in der DDR nicht mit staatlicher Förderung ihre eige-

nen Traditionen pflegen und bewahren. Vielmehr mussten sie einen festen Wohnsitz und

einen Arbeitsplatz vorweisen. (Schuch in Czollek/Perko: 101f)

Die Zigeunerpolitik der DDR im Rahmen der Entschädigungs-Debatte kennzeichnete, eine

mit der Bundesrepublik vergleichbare, restriktive und ausgrenzende Haltung. So wurde

insbesondere das Klischee vom „asozialen Zigeuner“ weiterhin aufgegriffen und politisch

funktionalisiert. (vgl. Zimmermann 1996: 14) Institutionell äußerte sich die Diskriminie-

rung insbesondere in bürokratischen Einschränkungen. So akzeptierte die „Richtlinie für

die Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes“ von 1950, nur solche „Zigeuner“, die

nachzuweisen vermochten, dass sie „wegen ihrer Abstammung“ und nicht wegen vermeint-

licher „Arbeitsscheu“ in Haft gewesen seien. Zudem machte die „Richtlinie“ bei Zigeunern

eine Entschädigungszahlung davon abhängig, dass sie „nach 1945 durch das zuständige

Arbeitsamt erfaßt“ worden seien und eine „antifaschistisch-demokratische Haltung be-

wahrt“ hätten. (zit. n. ebd.)

Der Paragraph 249 des Strafrechts kriminalisierte jene als „asozial“, die „das gesellschaft-

liche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung“ dadurch „gefährdeten“,

dass sie sich „aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit“ entzögen. Der Verstoß konnte mit

bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. (Gilsenbach 1993: 276ff) So liefen Roma, die

keiner geregelten Lohnarbeit nachgingen und denen, wie in der DDR überwiegend üblich,

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die Zulassung als selbstständige Gewerbetreibende verweigert wurde, besondere Gefahr,

als „Asoziale“ zu mehrjähriger Haft oder zu Zwangsarbeit verurteilt zu werden. (vgl. Zim-

mermann 1996: 14) Angesichts dieser massiven Einschränkung, verließ die Mehrheit der

ehemals ansässigen Sinti, das Land in Richtung Westen. Zimmermann (1996) schätzt die

Zahl derer, die blieben auf kaum mehr als 200 Personen. Damit bildeten „Zigeuner“ in der

DDR eine quantitativ völlig unbedeutende Größe.

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4.4 Bürgerrechtsbewegung und Interessensvertretung deutscher Sinti

und Roma

4.4.1 Rahmenbedingungen und Anfänge der Interessensvertretung

Nach der Befreiung begannen die überlebenden Sinti und Roma auf der Suche nach ihren

Familien und Verwandten an jene Orte zurückzukehren, aus denen sie vor 1945 ausgewie-

sen oder deportiert worden waren. (vgl. Margalit in Matras/Winterberg/Zimmermann

2003: 156) Viele schlossen sich den wenigen Verwandten an, die in den Wohnlagern zu-

rückgeblieben waren, andere erwarben neue Wohnwagen und nahmen traditionelle Tätig-

keiten des Wandergewerbes wieder auf. (vgl. ebd.) Trotzdem war die wesentliche „soziale

Organisationsform, die in den großfamiliären Zusammenhang eingebettete Kleinfamilie,

durch die hohe Zahl der Opfer vollständig oder zumindest teilweise zerstört“. (Reemtsma

1996: 125) Der Versuch vieler Sinti und Roma wirtschaftlich neu Fuß zu fassen und zu

partizipieren misslang bedingt durch die nationalen Politiken seitens des deutschen Ver-

waltungsapparates und dem Fortbestehen tradierter Feindbilder in der Mehrheitsbevölke-

rung. (vgl. ebd.) Gleiches galt diesbezüglich auch bei der Entstehung interessensvertreten-

der Organe. So waren die wenigen Überlebenden nur sehr selten in der Lage, ihre Ansprü-

che und Interessen wirkungsvoll zu vertreten. Eine Organisation, die etwa Forderungen

nach einer globalen Entschädigung der Sinti und Roma hätte stellen können, gab es zu-

nächst nicht. (vgl. Krausnick 1995: 203)

Die erste Interessenvertretung für die überlebenden Opfer der Sinti in Deutschland war der

1952 gegründete Verband Deutscher Sinti (VDS). 1956 entstanden das Zentralkomitee der

Zigeuner sowie der Verband rassisch Verfolgter nichtjüdischen Glaubens. (vgl. Spitta

1979: 23) Zentrale politische Anliegen der genannten Vertretungen waren die Entschädi-

gung der überlebenden Opfer, die gesellschaftliche Integration der Sinti und die strafrecht-

liche Verfolgung der TäterInnen des Völkermords. (vgl. Seibert 1984: 76) Dennoch stieß

dieses Bestreben sowohl in der Öffentlichkeit als auch von politischer Seite auf wenig Be-

achtung. Einer der Gründe kann sicherlich darin gesehen werden, dass sich viele Sintis

zunächst nicht an den ersten Interessensvertretungen beteiligten. Seibert (1984) spekuliert

diesbezüglich, dass viele Sintis sich vor einer offensiven Interessensvertretung scheuten, da

sie nicht zum erneuten „Politikum“ werden wollten. Vinzenz Rose hingegen vermutet, dass

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43

die Angst vieler Sinti vor einer erneuten „Registrierung“ durch die Mitgliedschaft im VDS

sie davon abgehalten habe, einzutreten. (vgl. Rose in progrom 68/1979: 22)

1971 gründete Vinzenz Rose das Zentralkomitee der Sinti Westdeutschlands (ZSW). Ein

Jahr später, nachdem ein Sinto von einem Polizisten erschossen wurde, kam es zu einer

ersten Protestaktion, welche von vielen Sinti unterstützt wurde. Im Anschluss wurde das

ZSW als Verband der Sinti Deutschlands neu konstituiert. (Reemtsma 1996: 137) Dennoch

erfuhr auch dieser Verband kein großes Interesse in der Öffentlichkeit.38

1974 ließ Vinzenz

Rose 1974 aus privaten Mitteln und unter den damaligen schwierigen Umständen ein erstes

Mahnmal zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau errich-

ten.39

(vgl. Wippermann 2005: 76)

So fällt in diesen ersten Anfängen der Bürgerrechtsbewegung insbesondere auf, dass das

Engagement der Sinti gegen das Unrecht im Rahmen der Wiedergutmachung sowohl zent-

rales Motiv für die Verbandsgründung und auch als treibende Kraft bezeichnet werden

kann. Bei den wenigen damals in Deutschland lebenden Roma waren hingegen der unsi-

chere Aufenthaltsstatus und die ungeklärte Staatsbürgerschaft wichtigste Motive einer Inte-

ressensvertretung. (vgl. Reemtsma 1996: 137) So versuchte 1959 ein aus Polen eingewan-

derter Roma, der selbsternannte „Zigeunerkönig“ Kwiek, auf die Probleme der in

Deutschland lebenden Roma aufmerksam zu machen. Dieser Versuch scheiterte unter an-

derem aufgrund negativer Berichterstattung in der Presse. 1968 gründete Rudolf Karway

die Internationale Zigeunerrechtskomission in Hamburg, die ebenfalls für Roma mit unge-

klärten Aufenthaltsstatus eintrat. (ebd.)

Diese Anfänge der Interessensvertretung gaben den Anstoß für die weitere Entwicklung,

auch wenn sie in der Artikulation ihrer Interessen noch nicht besonders erfolgreich waren,

was neben der Zurückgezogenheit vieler Sinti und Roma vor allem auf das öffentliche

Desinteresse an deren Verfolgungsschicksal zurückzuführen ist. Erst der Generationswech-

sel auf Täter- wie auch Opferseite führte zu einem neuen Verantwortungsbewusstsein, so-

wohl für die Sinti und Roma selbst als auch – zumindest ansatzweise – auf Seite der Mehr-

heitsgesellschaft.

38

Beispielsweise lehnte Willy Brandt ein Treffen mit einer Delegation des Verbandes aus „Zeitgründen“ ab,

Bundespräsident Gustav Heinemann verweigerte ein Treffen mit dem Hinweis, die Delegation sei ihm „nicht

repräsentativ“ genug. (Rose 1987:89) 39

1978 erhielt Vinzenz Rose für seine Anstrengungen für Aussöhnung und Verständigung das Bundesver-

dienstkreuz. (vgl. Rose 1987: 89)

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Viele der überlebenden Opfer waren zu diesem Zeitpunkt alt, krank und bezüglich ihrer

Interessensvertretung auch resigniert angesichts der mangelnden Anerkennung in Deutsch-

land. So musste die nachfolgende Generation der Sinti und Roma zunächst neue Wege

entwickeln, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. (vgl. Rosenberg in Busch

1994: 62) Andererseits musste die neue Interessenvertretung den Faktor Zeit als herausfor-

derndes Moment betrachten.

Obwohl letztlich die Mehrheit der Sinti und Roma in Deutschland eine Form der Entschä-

digung erhielt, empfanden viele den Umgang mit ihrem Schicksal durch deutsche Behör-

den als „zweite Verfolgung“. Nie entschädigt wurden die überlebenden Roma aus den nati-

onalsozialistisch besetzten Ländern und aus Satellitenstaaten, die mit einheimischer und

deutscher Beteiligung zur Zwangsarbeit und in Konzentrationslager verschleppt wurden

und/oder die Massenerschießungen überlebten. (Reemtsma 1996:135)

4.4.2 Verlauf und Emanzipation der Bürgerrechtsbewegung

Gegen Ende der 1970 Jahre begann die 1971 gegründete Internationale Romani Union

(IRU) zusammen mit dem VDS und der Gesellschaft für bedrohte Völker40

(GfbV) die

Planung einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit in der Bunderepublik Deutschland.

(vgl. Rose 1987: 89f) Hierbei hatte die GfbV 1978 Kontakt zum VDS aufgenommen und

sollte den Bürgerrechtlern die nötige Aufmerksamkeit verschaffen. Hinzu kamen einige

neu entstandene, lokale Organisationen, die sich an der öffentlichen Kampagne beteiligten,

um auf die Situation der Sinti und Roma in der Nachkriegszeit und dem fortwährenden

Unrecht aufmerksam zu machen. (ebd.) So formierte sich die neue Bürgerrechtsbewegung

der Sinti und Roma sowohl im Protest gegen die weiterhin bestehenden ordnungspoliti-

schen Wahrnehmungsmuster als auch in der Auseinandersetzung mit Teilen der Sozialar-

beit. (vgl. Widmann 2001: 30) Mit einer Kundgebung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen

im Oktober 197941

und einem Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau im April 1980

lenkte eine jüngere Generation deutscher Sinti die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf

40

Die GfbV gründete sich 1968 im Rahmen öffentlicher Wahrnehmung der kriegerischen Auseinanderset-

zung in Nigeria. 1970 erhält die Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Göttingen ihren derzeitigen Namen.

(vgl. http://www.gfbv.de/gfbv_deutschland_entstehung.php, Zugriff am 23.04.2012) 41

Auf der Gedenkveranstaltung unter dem Motto „In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt“ sprachen neben

anderen Amtsträgern der Bundesrepublik und der evangelischen Kirche, auch die damalige Präsidentin des

Europaparlaments, Simone Veil, über ihre persönliche Erfahrung als Jüdin im „Konzentrationslager“ Bergen-

Belsen. Vor allem ihr Auftritt führte zu der entsprechenden Aufmerksamkeit durch die Medien. (vgl. Rosen-

berg in Busch 1994: 63)

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die Lage der Minderheit. (vgl. Schuch in Czollek/Perko 2003, Widmann 2001) Diese bei-

den Protestaktionen verhalfen der politischen Bewegung zum Durchbruch, die Bezeich-

nung „Sinti und Roma“ setzte sich in der Öffentlichkeit durch. So konnten Sinti und Roma

aufgrund eines Beschlusses des Bundestages vom 14. Dezember 1979 eine einmalige Ent-

schädigungszahlung in Höhe von 5.000 DM beantragen. (vgl. Wippermann 1997: 190)

Allerdings waren viele Sinti und Roma, denen in den 50er Jahren ihr Entschädigungsrecht

versagt wurde bereits verstorben. Hinzu kam eine zeitliche Begrenzung der Antragsfrist

sowie die gängige Praxis, die erfolgten Zahlungen mit der von Sinti und Roma in An-

spruch genommenen Sozialhilfe zu verrechnen. (vgl. Djuric/Becken/Bengsch 1996: 211)

Wippermann (1997) schreibt dies bezüglich:

„Daher mutet es schon sehr zynisch an, wenn die Bundesregierung am 31. Oktober

1986 in einem abschließenden Bericht »über Wiedergutmachung und Entschädi-

gung für nationalsozialistisches Unrecht sowie über die Lage der Sinti, Roma und

verwandter Gruppen« behauptet, daß das Fehl-Urteil von 1956 »verhältnismäßig

geringe praktische Auswirkungen« gehabt habe.“ (zit. n. Wippermann 1997: 190)

Während der Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen im Oktober 1979 wurde erstmals ein

Maßnahmen- und Forderungskatalog vorgestellt, der die Anerkennung des Völkermords,

die „Wiedergutmachung“ des Unrechts und die Beendigung der Diskriminierungen von

Sinti und Roma beinhaltete. Weitere Forderung war ein Treffen mit Bundeskanzler Helmut

Schmidt, welches allerdings zunächst nicht zustande kam. (vgl. Rose 1987: 93) Nach die-

ser Gedenkveranstaltung erschien der gleichnamige Sammelband »In Auschwitz ver-

gast, bis heute verfolgt«, herausgegeben von Tilmann Zülch für die GfbV, welcher „zum

wichtigsten Buch für den Beginn der neuen Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma in

der Bundesrepublik“ wurde. (ebd.)

Der Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau über Ostern 1980 erregte ebenfalls internati-

onales Aufsehen. Dabei demonstrierten zwölf Sinti vom VDS um auf die Handlungsweisen

der bayerischen „Landfahrerzentrale“ aufmerksam zu machen. Weitere Forderung war es,

Informationen über den Verbleib der nationalsozialistischen „Rasseakten“ des „Rassehygi-

eneinstitutes“ (vgl. Kapitel 3.2) durch das Innenministerium in Bayern zu erhalten. (ebd.:

95f) Die Wahl des Protestortes sowie die in diesem Zusammenhang entstandene öffent-

lichkeitswirksame Dokumentation, waren insbesondere verantwortlich für die außerordent-

liche Wirkung. Die deutschen Medien berichteten täglich und überaus positiv über den

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Hungerstreik. Auch die internationale Presse veröffentlichte Berichte und Fotos. So führte

dieser Streik erstmals überhaupt zu einer großen Anteilnahme der Öffentlichkeit und auch

zu prominenter Unterstützung.42

(vgl. Rosenberg in Busch 1994: 64) So manifestierte sich

erstmals entgegen der bisherigen Opferrolle, dass Sinti und Roma für ihre Zukunft in

Deutschland kämpfen würden. Das Ende des Hungerstreiks nach sieben Tagen markierte

die gemeinsame Erklärung des bayerischen Innenministers zusammen mit den drei Land-

tagsparteien, in der öffentlich eingestanden wurde, dass „der notwendige Abbau von Vor-

urteilen und Diskriminierungen gegenüber den Sinti nicht erreicht worden“ sei. (Kraus-

nick in Giere 1996: 151) Trotz dieses Eingeständnisses gab das bayerische Innenministeri-

um noch bis 1984 falsche Auskünfte über den Verbleib der „Rasseakten“, die angeblich

bereits 1970 vernichtet worden seien. (vgl. Margalit 2002: 195ff) Ebenfalls zeigte eine

Diskussion im bayerischen Landtag die fortwährende Präsenz antiziganistischer Vorstel-

lungen. So erklärte CSU-Abgeordneter Dr. Alois Hundhammer, dass jeder Abgeordnete im

Landtag das, was den „Zigeunern“ im „Dritten Reich“ angetan worden sei, als Unrecht

ansehe. Dennoch seien die „Zigeuner“ nicht unschuldig an ihrer Situation, da sie dem

„sesshaften“ Lebensstil generell mit Ablehnung begegnen würden. Diese Ablehnung sei

ebenfalls als Grund für die schlechte Bildung der Kinder anzusehen. (vgl. ebd.: 197f) Ge-

gensätzlich ernannte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) zum Für-

sprecher der Sinti und Roma, welches vor dem Hintergrund der damaligen Oppositionstä-

tigkeit entsprechend politisch bewertet werden kann.43

Eine weitere öffentlich wirksame Aktion war die Wiederbeschaffung und Einlagerung der

„Rasseakten“ sowie des „Forschungsmaterial“ der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“

in das Bundesarchiv in Koblenz im September 1981, welche durch Dr. Robert Ritter über

Eva Justin und Hermann Arnold in den Universitäten Mainz und Tübingen eingelagert und

zu weiteren „wissenschaftlichen“ Publikationen verwendet worden waren. (vgl. Rose

1987: 122f) So besetzte eine kleine Gruppe der Sinti den Keller des Universitätsarchivs in

Tübingen. Durch mediale und internationale Unterstützung konnten sie den Abtransport

der Akten in das Bundesarchiv nach Koblenz erwirken, wobei allerdings die für die Ent-

schädigungsprozesse sehr wichtigen „Rassegutachten“ fehlten. Ebenfalls konnte durch

Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden, dass Hermann Arnold, von seiner „beratenden Funk-

tion“ als „Zigeuner-Experte“ enthoben wurde. (ebd.)

42

z.B. durch Yul Brunner, Heinrich Böll und Willy Brandt 43

Auch die Freie Demokratische Partei (FDP) versuchte aus der entstandenen öffentlichen Aufmerksamkeit

des Hungerstreiks politisches Kapital zu erlangen.

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

47

Ebenfalls wurde mit Hilfe der GfbV 1981 der dritte Roma-Weltkongress in Göttingen ver-

anstaltet. Gastgeber war der VDS, Veranstalter die IRU. Die gemeinsame Durchführung

des Kongresses schuf nun erstmals die Basis für einen Zusammenschluss der damals neun

vorhandenen deutschen Sinti- und Roma-Vereine.

So wird am 06. Februar 1982 in Darmstadt der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma44

(ZDSR) unter Leitung von Romani Rose gegründet, um der in den 1970er Jahren entstan-

denen Bürgerrechtsbewegung eine nationale Organisation überzuordnen. (vgl. ZDSR

2012) Der neugeschaffene Zentralrat sollte gegenüber der Bundesregierung zwei zentrale

Anliegen der deutschen Sinti und Roma durchsetzen: die Anerkennung des Völkermordes

und die Beendigung der ungebrochen fortgesetzten Sondererfassung und Kriminalisierung

durch Polizeibehörden der Länder und des Bundes. (ebd.) Ähnlich wie der Zentralrat der

Juden (ZJ) verfolgte der ZDSR ebenso das Ziel, ein globales Entschädigungsabkommen

mit der Bundesregierung auszuhandeln. (vgl. Margalit 2002: 199)

Im Gegensatz zu den Anfängen der Bürgerrechtsbewegung, ging die neue Generation der

Sinti und Roma mit ihrer Identität offener um bzw. vertraten diese trotz der Gefahr erneu-

ter Diskriminierungen nach außen. Den Forderungen der bundesdeutschen Öffentlichkeit

nach Assimilation und Integration begegneten sie mit der Forderung nach bürgerlicher

Gleichbehandlung bei gleichzeitiger Wahrung ihrer kulturellen und ethnischen Identität.

Verstärkt wurde diese Forderung durch zahlreiche provokative Aktionen. Eine offizielle

Anerkennung des Völkermords aus rassistischen Gründen erfolgte im März 1982, fast

vierzig Jahren nach Ende des Nationalsozialismus, durch Bundeskanzler Helmut Schmidt.

(vgl. Schuch in Czollek/Perko 2003: 101) Ebenso wurde auf Initiative des ZDSR eine

Vielzahl von unerledigten oder unter der alten Rechtsprechung abgelehnten Entschädi-

gungsverfahren wieder aufgenommen. (vgl. Reemtsma 1996: 135) In diesem Zusammen-

hang setzte sich auch die Bezeichnung „Sinti und Roma“ größtenteils in den Medien durch,

wobei Ausnahmen wie „Der Spiegel“ noch lange danach an der Bezeichnung „Zigeuner“

festhielt. (vgl. Margalit 2002: 199f)

Im September 1982 eröffnete, unterstützt und finanziert mit Hilfe von Bundesmitteln, die

Geschäftsstelle des ZDSR in Heidelberg. Ebenso entstanden zahlreiche Länderbüros, wel-

44

Wippermann (2005) schreibt, dass bzgl. der Namensgebung einerseits der Hinweis auf den Zentralrat der

Juden in Deutschland und damit eine Vergleichbarkeit des Schicksals von Sinti, Roma und Juden impliziert

werden, andererseits die kulturelle Zugehörigkeit von Sinti und Roma als „deutsche“ Minderheit betont wer-

den soll. (Wippermann 2005: 80)

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48

che für Sinti und Roma Beratungs- bzw. Anlaufstellen waren, um erfahrene Diskriminie-

rungen durch institutionelle Akteure wie Ämter oder Behörden entgegen zu wirken. (vgl.

Rose 1987: 95) Im August 1983 entstand durch weitere Unterstützung des Bundes eine

Soziale Bundesberatungsstelle in Heidelberg. Zentrale Aufgaben waren ebenfalls die Bera-

tung in Entschädigungs- und Diskriminierungsfällen sowie die Koordination der länderei-

genen Beratungsstellen. (ebd.: 109) Seit dieser Entstehungsphase vertreten der Zentralrat

und die Länderbüros Sinti und Roma in bürgerrechtlichen und sozialen Fragen.45

Hierbei

sollte bzw. soll die Arbeit der Wohlfahrtsverbände und Behörden, welche im Verlauf der

Zeit insbesondere der Lage der Sinti und Roma unzureichend Beachtung schenkten, ent-

sprechend ergänzt werden. Rose (1987) schreibt, dass sich diese lange Zeit nicht für eine

Verbesserung der Rahmenbedingungen eingesetzt, sondern sich auf eine „soziale Betreu-

ung im Elend“ beschränkt hätten.

4.4.3 Etappen der politischen Anerkennung

Wichtigste Etappen auf dem Weg zur politischen Anerkennung waren zunächst der Emp-

fang beim damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens und Bundeskanzler Helmut

Schmidt und der damit einhergehenden Anerkennung des rassistisch motivierten Völker-

mordes im März 1982:

„Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden.

Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Diese Verbrechen sind als Völker-

mord anzusehen.“ (zit. n. Rose 1987: 101)

Die damalige konservative Opposition, vertreten durch Oppositionsführer Helmut Kohl,

bestätigte ebenfalls zwei Tage später bei einem Treffen mit den Bürgerrechtlern die Positi-

on der Bundesregierung. (vgl. Margalit 2002: 202) Diese beiden Treffen können im Zuge

des geschichtlichen Kontextes als „Meilenstein“ in der Geschichte der Sinti und Roma in

Deutschland angesehen werden.46

45

So konnten trotz des „Wettlaufs gegen die Zeit“, welche durch das meist hohe Alter der Überlebenden des

Völkermordes zeitliche Grenzen aufwarf, „einige hundert Sinti“ (Einzel-) Entschädigungen erhalten.

(Reemtsma 1996: 135) 46

Siehe dazu das Startbild auf der Internetpräsenz des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma,

http://zentralrat.sintiundroma.de/ (Zugriff am 25.04.2012)

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49

Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik debattierte der Bundestag am 7. November

1985 über die Situation der Sinti und Roma, in der nicht nur die im nationalsozialistischen

Deutschland an ihnen verübten Verbrechen, sondern auch das in der Bundesrepublik fort-

währende Unrecht thematisiert wurde. Bundeskanzler Kohl und der SPD-Vorsitzende

Hans-Jochen Vogel lieferten auf Wunsch des Zentralrats eigene Redebeiträge ab, die Vor-

urteile der Bevölkerungsmehrheit abbauen und Schritte der Aussöhnung und Verständi-

gung erleichtern sollten.47

Auch mit den evangelischen und katholischen Kirchen, die viele

Jahre zuvor zum Völkermord an Sinti und Roma geschwiegen hatten, entstand ein, wenn

auch durch zahlreiche Kontroversen gezeichneter, Dialog. 1981 richteten die Evangeli-

schen Kirchen Deutschlands (EKD) einen Gesprächskreis zu Sinti und Roma ein, aus dem

später eine der EKD direkt zugeordnete Kommission wurde. (vgl. Reemtsma 1996: 140)

Dennoch lehnte der ZDSR, aufgrund personeller Uneinigkeiten in der Besetzung, eine Zu-

sammenarbeit ab. So existierte bis Ende der siebziger Jahre im Grunde kein Verhältnis

zwischen den EKD und Sinti und Roma. Hingegen bestimmten bei der katholischen Kirche

heftige Auseinandersetzungen bzgl. der tradierten Denk- und Betreuungsstrukturen, insbe-

sondere durch die Zigeuner- und Nomadenseelsorge mit Sitz in Köln, den Prozess der An-

näherung. Anfang der achtziger Jahre begann auch in dieser Institution ein Umdenken,

welches sich 1986 durch einen Besuch des ZDSR beim Papst manifestierte. (ebd.: 141)

Eine weitere Etappe zur politischen Anerkennung kann ebenfalls im Ausbau der Zusam-

menarbeit des ZDSR mit dem Zentralrat der Juden (ZJ) gesehen werden. In Bezug auf die

Verfolgung der Sinti und Roma nimmt der ZJ eine ambivalente Position ein. So betrachtet

der ZJ, den Holocaust zwar als ein spezifisch jüdisches Schicksal, gleichzeitig erkennt er

die Verfolgung der Sinti und Roma jedoch an. (zit. n. ebd.) So unterstützt der ZJ den

ZDSR bei Themen wie der Bekämpfung von Diskriminierungen durch Medien.

Nachdem die Debatte über den Völkermord an den Sinti und Roma mit deren politischer

Anerkennung als rassisch Verfolgte in den Hintergrund trat, rückte die Forderung nach

Anerkennung der Sinti und Roma als „deutsche Volksgruppe“ in den Vordergrund der poli-

tischen Arbeit des ZDSR. (Margalit 2002: 201) So forderte die Bürgerrechtsbewegung seit

der Wiedervereinigung die Anerkennung der Sinti und Roma als deutsche Minderheit, ana-

log der dänischen, friesischen und sorbischen Minderheiten in Deutschland. (vgl. Kraus-

nick 1995: 220)

47

Siehe dazu die Bundestagsberichte der 10. Wahlperiode vom 7.11.1985.

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4.4.4 Kritische Stimmen zur Bürgerrechtsbewegung

Heftige Kritik erhielt die Bürgerrechtsbewegung seitens der traditionellen „Zigeunerfor-

scher“. So erklärte der Ethnologe Bernhard Streck im Rahmen eines der Universität Gie-

ßen nahen Projektes „Tsiganologie“, dass es während des Nationalsozialismus „kein eigen-

ständiges Genozidprogramm“ an „Zigeunern“ gegeben habe. Diese seien „gleichsam da-

zwischen geschoben (worden), aber nicht, weil sie Zigeuner waren, sondern aus hygieni-

schen oder lagertechnischen Gründen.“ Erst das Jahr 1942 habe die „rassistische Wende

der bis dato wesentlich kriminal-präventiven Zigeunerpolitik“ gebracht. (zit. n. Reemtsma

1996: 138) Ähnliche Positionen vertraten zuvor Arnold und Döring, trotz der bereits vor-

handenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1963. Für die Bürger-

rechtsbewegung waren diese Positionen, die „alte Ideologie“ der „neuen Generation“.

(ebd.: 139)

Dennoch finden sich bis in die Gegenwart immer wieder kritische Stimmen, welche die

Bürgerrechtsarbeit der Sinti und Roma kritisieren. So bspw. auch von C. Goschler (2005)

in seinem Werk »Schuld und Schulden«. Dort unterstellt er den Bürgerrechtlern durch eine

beabsichtigte „Politik der Viktimisierung“ die Entstehung eines „partikularistischen Identi-

tätsdiskurses“. Dies führe zu einer „Entpolitisierung von Konflikten mit Hilfe der Selbst-

beziehungsweise Fremddeklaration als »Opfer«“ und einem damit verbundenen „Funkti-

onswandel der Wiedergutmachung“, der entgegen der Fokussierung auf eine Individualent-

schädigung als „wirksames Vehikel aktueller gesellschaftlicher Anerkennungs- und Positi-

onskämpfe“ funktionalisiert werde. Andererseits argumentiert Goschler, dass durch eine

Überlagerung des vorangegangenen, „monetären Entschädigungsdiskurs“ durch einen

„Anerkennungsdiskurs“ in Zusammenhang mit der Kritik der bisherigen „Vorrangstellung

der jüdischen NS-Verfolgten“ eine „Entlastung deutscher Schuldkomplexe“ begünstigt ha-

be. (Goschler 2005: 300ff) Diese Argumentation impliziert, dass die Bürgerrechtsbewe-

gung eine Konzentration auf ihren Opferstatus verfolgt und diesen zu anderen Zwecken als

der reinen Entschädigung missbraucht habe. So sieht Goschler einen wesentlichen Grund,

dass die „eigentliche“ Bestimmung der „Wiedergutmachung“ in Form einer individuellen

Entschädigung aus dem öffentlichen Blick geraten sei, in der politischen Arbeit der Bür-

gerrechtler selbst. Dass Sinti und Roma ein berechtigtes Interesse an der Beendigung der

unbestreitbaren Ungleichbehandlung der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen haben

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könnten, wird von Goschler nicht in Betracht gezogen, ebenso wie die von ihm vorher in

seiner Arbeit noch herausgearbeitete Ungleichbehandlung und Entsolidarisierung der Op-

fer hier keine Rolle mehr spielt. Vielmehr scheint es sich bei der Bürgerrechtsarbeit der

Sinti und Roma für ihn um eine illegitime Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung

zu handeln, die ausschließlich dem Eigennutz auf Kosten anderer Opfergruppen diene und

die Entlastung der Deutschen von ihren Schuldkomplexen diene.

5. Zwischenfazit: Antiziganismus in Geschichte und Gegenwart

Die dargestellte historisch-chronologische Geschichte der Roma in Deutschland kann vor

dem historischen Hintergrund vielfältige Schlussfolgerung erlauben: Erstens, dass die

Volksgruppe der Roma seit ihrer Anwesenheit als Träger mehrheitlich geprägter, deutscher

Kultur betrachtet werden kann, da Roma sowohl Kultur im Mittelalter, der Kaiserzeit, der

Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und der Neuzeit „teilten“ (I), zweitens jedoch

aufgrund ihrer eigenen Migrationsgeschichte deutsche Gesellschaft, politische Strukturen

und öffentliches Leben von ihrer spezifischen Position heraus (II), nämlich am Rande der

Gesellschaften, betrachteten. Hierbei kristallisiert sich vor allem heraus, dass im Falle des

kulturellen Ausschlusses aus dem mehrheitlichen Leben, die Aufrechterhaltung der eige-

nen kulturellen Traditionen (z.B. Sprache, Beruf und familiäre Beziehungen) gepflegt

wurde. So ist trotz der geographischen Gemeinsamkeit das gruppenspezifische Verhältnis

zwischen Roma und Mehrheitsbevölkerung durch so gut wie keine auffindbaren „positiv“

besetzten Sinnbilder, Begegnungen oder Prozesse gekennzeichnet. Einzig im 15. Jahrhun-

dert entsteht vorübergehend durch den anhängenden Charakter des „Neuen“ und „Aufre-

genden“ eine kurzzeitige Faszination seitens der Mehrheitsgesellschaft.

Vielmehr führt die vielfältige Entstehung ablehnender oder negativ besetzter Stereotypen

und Sinnbilder, welche sowohl die gegenseitige Fremdheit als auch die dadurch entstehen-

den Ängste fokussieren, zu zahlreichen Projektionen und auch zur Manifestation von Vor-

urteilen (III). Insbesondere politische als auch religiöse Akteure fördern dieses Verhältnis

durch dessen Funktionalisierung, sei es bspw. um eigene Interessen zu vertreten oder ge-

sellschaftliches Ansehen zu schützen bzw. zu fördern. Die anfängliche Faszination für kul-

turelle Unterschiede, bspw. durch die Romantisierung der sozio-kulturellen und traditionel-

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len Lebensweise, tritt durch die zahlreichen negativen Zuschreibungen sehr schnell in den

Hintergrund. Ebenso unterstützen traditionelle Rahmenbedingungen wie das Ausüben von

Wandergewerben oder das geringfügige Vorhandensein von, der deutschen Kultur ange-

passten, Erwerbs- und Lebensformen, eine zunehmende kulturelle Distanzierung (IV).

Diese Distanzierung wirkt durch die zahlreichen Politiken seitens deutscher Behörden und

insbesondere durch dessen verschärfende bzw. kontrollierende Zielsetzung höchst negativ

und diskriminierend (V). Ergänzend führen die Entstehung des rassistisch motivierten An-

tiziganismus und die menschenverachtende und nationalsozialistisch propagierte Vernich-

tungspolitik bei vielen Roma in Deutschland zu unvorstellbarem Leiden, welche bis heute

durch anhaltende Traumata und traditionelle, insbesondere innerfamiliär transportierte,

Erinnerungen das aktuelle Leben der Roma in Deutschland prägen. In der Nachkriegsge-

schichte wird diese Distanzierung nochmals durch die gesellschaftliche Ignoranz der

Mehrheitsbevölkerung im Rahmen der Entschädigungsfrage deutlich.

Während Roma im Nachkriegsdeutschland bis fast in die siebziger Jahre hinein erkennbare

Schwierigkeiten mit der Gründung von Interessenvertretungen besaßen, bestimmten wei-

terhin die historischen antiziganistischen Vorstellungen und Abneigungen das mehrheitli-

che Verhalten. Die alliierte Militärregierung kann hier ebenfalls nicht als Vorurteils-

abbauender Faktor benannt werden. Prozesse des Umdenkens sind erstmals mit der Etab-

lierung der Bürgerrechtsbewegung in den 1980er Jahren festzustellen. Dennoch zeigen sich

auch hier weiterhin „hindernde“ Kräfte. So ist Antiziganismus auch nach Kriegsende und

im Rahmen des ideologischen Wandels entgegen des rassistischen und nationalsozialisti-

schen Menschenbildes hin zu einer Nation, dessen Schuldfrage bis in die Gegenwart hinein

kontinuierlicher Bestandteil gesellschaftlicher Meinungsbildung sein wird, immer noch

unzureichend in den Vorstellungen der Mehrheitsbevölkerung präsent.

Trotz des Vorhandenseins innerer kultureller Spaltungen (Interessenvertretungen der Sinti

und Interessenvertretungen der Roma), gelingt die Emanzipation einer interessensvertre-

tenden und in Deutschland lebenden Volksgruppe sowie die öffentliche Anerkennung als

Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes. Hier lässt sich ein deutlicher Wandel er-

kennen, welches Roma zwar neue Möglichkeiten der politischen Teilhabe zuspricht, die

reale Lebenspraxis zwischen Mehr- und Minderheit allerdings nur sekundär beeinflusst.

Trotzdem kann insbesondere der ZDSR hervorgehoben werden, welcher Roma in Deutsch-

land sowohl politische als auch öffentliche Präsenz zuspricht. Diese Präsenz gilt es nun

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folgend im zweiten Abschnitt, in Form der aktuellen Situationsbeschreibung und den damit

einhergehenden Forderungen betreffend den Minderheitenschutz in Deutschland zu unter-

suchen.

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II. Politische Rahmenbedingungen der Gegenwart

Ausgehend von der historisch-chronologischen Auseinandersetzung mit der spezifischen

Geschichte der Roma soll nun im zweiten Abschnitt der Versuch unternommen werden,

Aussagen über die aktuellen Rahmenbedingungen der Roma in Bezug auf den Minderhei-

tenschutz in Deutschland abzuleiten. Die anschließende Reduktion auf die derzeitige Situa-

tion von Roma im Bildungsbereich erfolgt hierbei aufgrund des anschließenden Fallbei-

spiels.

6. Minderheitenschutz in Deutschland

6.1 EU-Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten

Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ) trat am 1. Februar

1998 durch Ratifizierung der zwölf Mitgliedstaaten in Kraft. Hierbei wurde erstmals in

Europa eine Internationalisierung des Schutzes nationaler Minderheiten, wie sie im Rah-

men der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bereits poli-

tisch vorgezeichnet worden war, in einen die Staaten rechtlich bindenden Vertrag über-

nommen. (vgl. Rautz/Toggenburg 2010: 189)

Als Kontrollmechanismus fungiert das so genannte monitoring. Dies verpflichtet die Staa-

ten dazu, alle fünf Jahre einen Bericht über die derzeitige nationale Situation des Minder-

heitenschutzes zu erstellen, welches dem Ministerkomitee des Europarates anschließend

zur Beurteilung übermittelt wird. Die Beurteilung der Angemessenheit (Artikel 26 des RÜ)

der von den Staaten gesetzten Maßnahmen erfolgt durch das Ministerkomitee, welches

Unterstützung durch einen beratenden Ausschuss (ACFC) erhält.

Bevor nun im folgenden Kapitel auf die konkreten Inhalte der Artikel 1 – 18 eingegangen

wird, sollte die Tatsache beachtet werden, dass das RÜ keine Definition des Begriffs „nati-

onale Minderheiten“ enthält. (vgl. Rautz/Toggenburg 2010: 189) Grund für diese pragma-

tische Konzeption ist der Mangel eines entsprechenden Konsenses unter den Staaten des

Europarates. (vgl. ebd.) Angesichts dieser Rechtslage nimmt Deutschland hinsichtlich der

Anwendung des Abkommens auf die in Frage kommenden Gruppen eine Feststellungs-

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kompetenz in Anspruch. (vgl. BMI 2002: 7) Deutschland sieht als nationale Minderheiten

Bevölkerungsgruppen an, die folgenden fünf Kriterien entsprechen:

1. „ihre Angehörigen sind deutsche Staatsangehörige,

2. sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Ge-

schichte, also eigene Identität,

3. sie wollen diese Identität bewahren,

4. sie sind traditionell in Deutschland heimisch,

5. sie leben hier in angestammten Siedlungsgebieten.“ (BMI 2002: 7)

So sei mit dieser Anwendung der Kriterien auf die Dänen, Friesen, Sorben und Sinti und

Roma das Übereinkommen auf sämtliche traditionell in Deutschland heimischen Volks-

gruppen sichergestellt. (ebd.) Diese Feststellung ist im Rahmen dieser Arbeit nur darstel-

lend aufgeführt, welches jedoch durchaus in eingehenden und weiterführenden Untersu-

chungen entsprechend hinterfragt werden sollte.

6.1.1 Inhalt der Artikel 1 bis 18

Artikel 1 des RÜ hält fest, dass der „Schutz nationaler Minderheiten und der Rechte und

Freiheiten von Angehörigen dieser Minderheit […] Bestandteil des internationalen Schut-

zes der Menschenrechte [ist] und […] als solcher einen Bereich internationaler Zusam-

menarbeit dar[stellt].“ (Artikel 1 RÜ)

Hierbei spricht Artikel 3 Absatz I des RÜ jeder Person das Recht zu, „frei zu entscheiden,

ob sie als … [Minderheitenangehörige] behandelt werden möchte oder nicht.“ Weiter-

hin dürfen ihr „aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entschei-

dung verbundenen Rechte […] keine Nachteile erwachsen.“

Artikel 4 Absatz I des RÜ enthält ein formelles Diskriminierungsverbot, welches in Absatz

II durch eine Pflicht der Vertragsparteien zur Berücksichtigung besonderer Bedingungen

der Minderheiten ergänzt wird.

„Die Vertragsparteien verpflichten sich, erforderlichenfalls angemessene Mass-

nahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politi-

schen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwi-

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schen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der

Mehrheit zu fördern.“

Hierbei fordert Artikel 5 Absatz I des RÜ, dass die Staaten Bedingungen fördern, „die es

Angehörigen nationaler Minderheiten ermöglichen, ihre Kultur zu pflegen und weiterzu-

entwickeln und die wesentlichen Bestandteile ihrer Identität, nämlich ihre Religion, ihre

Sprache, ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe, zu bewahren.“ Insbesondere verweist

Absatz II darauf, dass Maßnahmen im Rahmen nationaler Integrationsbemühungen nicht

auf Zielsetzungen oder Praktiken der Assimilierung von Angehörigen nationaler Minder-

heiten gegen ihren Willen gerichtet sein dürfen. Ergänzend fordert Artikel 6 Maßnahmen

zum Schutz der Menschen, die „wegen ihrer ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder

religiösen Identität diskriminierenden, feindseligen oder gewalttätigen Handlungen oder

der Androhung solcher Handlungen ausgesetzt sein können.“ (Artikel 6 Absatz 2 RÜ)

Artikel 7 des RÜ garantiert das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäuße-

rung ebenso wie Religions- und Weltanschauungsfreiheit. (Artikel 8 RÜ)

Artikel 9 ist dem diskriminierungsfreien Zugang zu den Medien gewidmet. Hierzu gehört

neben dem Recht auf freie Meinungsäußerung, auch die Schaffung und Nutzung von

Printmedien. Eine positive Pflicht kann in jener Bestimmung gesehen werden, in der die

Staaten dazu aufgefordert werden, „Angehörige nationaler Minderheiten den Zugang zu

den Medien zu erleichtern sowie Toleranz zu fördern und kulturellen Pluralismus zu er-

möglichen.“ (Artikel 9 Absatz 4 RÜ)

Artikel 10 des RÜ widmet sich dem Gebrauch von Minderheitensprachen, der privat wie

öffentlich frei zu stellen ist (Absatz I). Absatz II fordert die Bemühung, dass unter entspre-

chenden Bedingungen ein Verkehr mit den Verwaltungsbörden in der Minderheitensprache

ermöglicht wird. Hinzu kommt das Recht zur Führung des Vor- und Nachnamens in der

Minderheitensprache, „wie dies nach der Rechtsordnung der jeweiligen Vertragspartei

vorgesehen ist“ (Artikel 11 Absatz I RÜ) sowie das Recht zur Anbringung von öffentli-

chen Schildern und „andere Mitteilungen privater Art in ihrer Minderheitensprache“.

(Absatz II) Eine entsprechende Pflicht der Staaten, in Gebieten topographische Hinweise

(z.B. Ortsnamen oder Straßennamen) anzubringen, ist allerdings mehrfach bedingt, da sie

„im Rahmen ihrer Rechtsordnung“ und „unter Berücksichtigung ihrer besonderen Gege-

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benheiten“ und nur „wenn dafür ausreichend Nachfrage besteht“ erfolgen kann. (Absatz

III)

Die Artikel 12 bis 14 behandeln Rechte in Bezug auf Identitätsschutz und Zugang zu Bil-

dung.

„Die Vertragsparteien treffen erforderlichenfalls Massnahmen auf dem Gebiet der

Bildung und der Forschung, um die Kenntnis der Kultur, Geschichte, Sprache und

Religion ihrer nationalen Minderheiten wie auch der Mehrheit zu fördern.“ (Arti-

kel 12 Absatz I RÜ)

Dazu sind angemessene Möglichkeiten für die Lehrerausbildung und den Zugang zu Lehr-

büchern bereit zu stellen sowie Kontakte unter SchülerInnen und LehrerInnen aus unter-

schiedlichen Bevölkerungsgruppen zu erleichtern. (Absatz II) Darüber hinaus verpflichten

sich die Staaten, die Chancengleichheit von Minderheitenangehörigen beim Bildungszu-

gang zu fördern. (Absatz III) Zum Recht auf eigene Bildungseinrichtungen wird hinzuge-

fügt, dass dieses für die Vertragsparteien „keine finanziellen Verpflichtungen“ mit sich

bringt. (Artikel 13 RÜ) Ein Recht auf das Erlernen der eigenen Minderheitensprache wird

anerkannt, jedoch ist auch diese Handlungspflicht der Staaten stark an Bedingungen ge-

knüpft.

Artikel 15 des RÜ verpflichtet die Staaten, „notwendige Voraussetzung für die wirksame

Teilnahme von Angehörigen nationaler Minderheiten am kulturellen, sozialen und wirt-

schaftlichen Leben und an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere denjenigen, die sie

betreffen“, zu schaffen. Artikel 16 verbietet den Staaten, das Bevölkerungsverhältnis in

Minderheitengebieten zu verändern. Ebenso wird den Staaten verboten, in das Recht der

Minderheitenangehörigen einzugreifen, wenn diese transnationale Kontakte pflegen (Arti-

kel 17 Absatz I) oder an nationalen und internationalen nichtstaatlichen Organisationen

partizipieren. (Absatz II)

Artikel 18 fordert die Staaten generell dazu auf, „erforderlichenfalls zwei- und mehrseiti-

ge Übereinkünfte mit anderen Staaten, insbesondere Nachbarstaaten, zu schliessen, um

den Schutz von Angehörigen der betroffenen nationalen Minderheiten sicherzustellen“ und

„[g]egebenenfalls […] Massnahmen zur Förderung der grenzüberschreitenden Zu-

sammenarbeit“ zu treffen.

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6.1.2 Zusammenfassende Bewertung des Minderheitenschutzes der Sinti und

Roma in Deutschland durch den beratenden Ausschuss für das RÜ

Seit der Ratifizierung des RÜ veröffentlichte der ACFC bisher drei Stellungnahmen zu

Deutschlands Minderheiten-Bemühungen. Diese Stellungnahmen beziehen sich hierbei auf

Untersuchungszeiträume zwischen 2002, 2006 und 2010, in denen jeweils die Berichte des

Bundes mit eigenen Erkenntnissen des ACFCs und durch Austausch mit verschiedenen

Minderheiten-Vertretern, verglichen wurden.48

Probleme der Gegenwart zeigen sich im

Vergleich zu der sorbischen, dänischen und friesischen Minderheit insbesondere bei der

Umsetzung des RÜ für die deutschen Sinti und Roma. So verweist der ACFC auf anhal-

tende Unzulänglichkeiten bzgl. der Artikel 4, 5, 6, 12 und 15.

Bekämpfung von Diskriminierungen im Bereich Arbeit, Wohnen und Bildung (Ar-

tikel 4)

Das in Artikel 4 verabschiedete formelle Diskriminierungsverbot wird in allen drei Stel-

lungnahmen in Bezug auf die Gleichstellung von Sinti und Roma, trotz des im Jahr 2006

verabschiedeten Allgemeine Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) und der Einrichtung einer

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), als ausbaufähig und unzureichend erklärt.

So fordert der ACFC eine Erweiterung des Kompetenzbereichs der ADS von einer bera-

tenden zu einer handelnden Institution. Das heißt, „ihre Befugnisse sollten [durch Bereit-

stellung höherer finanzieller Mittel] ausgeweitet werden, damit sie selbst Verfahren einlei-

ten oder Informationen zu Einzelfällen zusammentragen kann, anstatt den Opfern lediglich

beratend zur Seite zu stehen.“ (ACFC 2010: 8 Absatz 17) Dem steht gegenüber, dass viele

Angehörige der Roma und Sinti, aus Mangel an Vertrauen in die verfügbaren Rechtsmittel,

keine Verfahren gegen diskriminierende Handlungen bei der ADS einleiten. (ebd.: 13 Ab-

satz 46)

Allgemein heißt es weiter:

„Der Beratende Ausschuss rief die deutschen Behörden […] [in der ersten und

zweiten Stellungnahmen] dazu auf, sich vordringlich mit der diskriminierungsbe-

dingten Benachteiligung von Angehörigen der Roma und Sinti zu befassen und ih-

re Bemühungen um eine Verringerung der Lücke zwischen Angehörigen der

48

ACFC/OP/I(2002)1 bezeichnet die 2002 veröffentlichte Stellungnahme, ACFC/ OP/II(2006)001 die 2006

veröffentlichte und ACFC/OP/III(2010)003 die 2010 veröffentlichte Stellungnahme.

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Roma und Sinti und der übrigen Bevölkerung zu verstärken.“ (ACFC 2010: 12 Ab-

satz 40)

So erfahren Sinti und Roma Diskriminierungen vor allem im Bereich der Bildung und

beim Zugang zu Wohnraum und Arbeit. (vgl. ebd.: 13 Absatz 44)

„Aus Unterlagen, die dem Beratenden Ausschuss vorgelegt wurden, geht […] her-

vor, dass es insbesondere für Angehörige der Roma und Sinti weit schwieri-

ger als für die übrige Bevölkerung ist, Arbeit zu finden.“49

Weiterhin verweist der ACFC auf bekannte Fälle, in denen der Zugang zu öffentlichen

Plätzen (Restaurants, Bäder, Campingplätze) Angehörigen der Sinti und Roma verweigert

wurde. Diskriminierungen im Bereich der Bildung stehen vor allem in Zusammenhang mit

der Chancengleichheit in Bezug auf Zugangschancen für den Besuch von weiterführenden

Schulen und dem Übergang von Schule und Beruf. Dabei sind anhaltende Vorurteile und

Klischeevorstellungen der Mehrheitsgesellschaft immer noch verantwortlich für die prob-

lematische Situation. (vgl. ebd.: 8 Absatz 20)

„Es ist besorgniserregend, dass […] [Kinder der Roma und Sinti] in Sonderschu-

len weiterhin überproportional vertreten sind.“ (ebd.)

Trotz einiger Fortschritte bei dem Versuch die Sprache und Kultur der Sinti und Roma in

den Unterricht zu integrieren50

, reichen die spezifischen Lehrinhalte weiterhin nicht aus,

um Vorurteilen und Klischeevorstellungen über Angehörige dieser Gruppen entgegenzu-

wirken. (vgl. ebd.: 9 Absatz 26)

Problematisch hebt der ACFC die anhaltende mangelnde Datenlage hervor, welche kon-

krete Beschreibungen des aktuellen Zustands nur oberflächlich zulassen.

Teilhabe am öffentlichen Leben (Artikel 5 des RÜ)

Ein kontinuierliches Problemfeld stellt die Teilhabe von Sinti und Roma am öffentlichen

Leben unter Berücksichtigung der kulturellen Vielfalt dar. (vgl. ACFC 2010: 12 Absatz

40) So existieren bisher nur unzureichende Konsultationsverfahren um der Minderheit

Kommunikationskanäle und Zugänge für eine geeignete Kooperation mit Behörden des

Bundes und der Länder zu ermöglichen. (vgl. ACFC 2006: 6 Absatz 16) Insbesondere

49

Vgl. die ersten beiden Stellungnahmen des Beratenden Ausschusses zu Deutschland und den 3. und 4.

ECRI-Bericht über Deutschland. 50

Beispielsweise in den Ländern Hamburg und Kiel.

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

60

stellt der Bereich der „Datenerhebung zur Volkszugehörigkeit“51

im Rahmen der Straftaten

bzw. –täter-Erfassung durch Polizeibehörden der Länder ein aktuelles Problemfeld dar,

welche vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Datenerfassung und rassistischer

Gutachtenerstellung verständlich erscheint. So wird im ersten und zweiten Bericht die Of-

fenlegung ethnischer Daten in Zusammenhang mit strafrechtlichen Prozessen und die in

der Praxis oftmals einhergehende Informationsvermittlung an die Medien durch die Poli-

zei, als unbegründet und diskriminierend bewertet.

„Der Beratende Ausschuss ist besorgt über die unnötige Offenlegung der

ethnischen Herkunft von Einzelpersonen durch bestimmte Medien, insbesondere im

Rahmen strafrechtlich relevanter Vorgänge, bei denen diese Informationen von der

Polizei an die Presse weitergegeben werden.“ (ebd.: 5 Absatz 14)

Bekämpfung von Rassismus (Artikel 6 RÜ)

Der ACFC verweist in allen Stellungnahmen auf eine nicht wesentlich gesunkene Anzahl

rassistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer begangener Straftaten in Deutsch-

land.52

(vgl. ACFC 2010: 23 Absatz 99) Betroffene von derartigen Straftaten sind insbe-

sondere Roma und Sinti. (vgl. ebd.: 7) So teilt der ACFC die Auffassung anderer Institu-

tionen, dass das Verständnis deutscher Behörden von Rassismus zu eng gefasst ist. (vgl.

ebd.: 23 Absatz 100) Die Maßnahmen gegen Rassismus konzentrierten sich vorwiegend

auf rechtsextremistische Gruppen, werden jedoch nicht den vielfältigen Ausprägungen des

Rassismus gerecht. Einige Medien verbreiten weiterhin Vorurteile und Klischeevor-

stellungen von Roma und Sinti sowie anderen Minderheiten.53

Ein Gesetzentwurf aus dem

Jahr 2007, zur Aufnahme des Motivs des Rassenhasses als erschwerenden Umstand einer

Straftat in das Strafgesetzbuch, wurde bisher nicht verabschiedet. Ebenso wird die Ten-

denz, dass Rassismus und Anstiftung zu Rassenhass und Gewalt immer häufiger durch das

Medium Internet publiziert wird, generell mit Besorgnis wahrgenommen. Deshalb fordert

der ACFC die Behörden auf, weiterhin alles dafür zu tun, um Rassismus, Fremdenfeind-

lichkeit und Antisemitismus zu bekämpfen. (vgl. ebd. 2010: 103) Besondere Aufmerksam-

51

Aktuell handelt es sich hierbei hauptsächlich um das Kürzel „MEM“ für „mobile ethnische Minderheit“. 52

Dem Staatenbericht zufolge wurden 2007 mehr als 28.000 rechtsextremistische Straftaten begangen; im

Jahr 2006 waren es 29.000. Die Zahlen von 2007 beinhalten 2.800 fremdenfeindliche, 1.500 antisemitische

und 500 rassistische Straftaten; im Jahr 2006 waren es jeweils 3.200, 1.600 und 525 Straftaten. Die Behörden

melden für das Jahr 2008 keinen wesentlichen Rückgang. 53

Siehe dazu bspw. Winkel (2002).

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keit sollte dabei der Aufklärung der Zivilgesellschaft und dabei insbesondere der Polizei

und Justiz über die vielfältigen Ausmaße und Formen von Rassismus geschenkt

werden.

Roma und Sinti im Bildungssystem (Artikel 12)

In allen Berichten verweist der ACFC auf anhaltende Probleme in Zusammenhang mit

der Schulbildung der Roma- und Sinti-Kinder. Neben den verbreiteten Problemen des

Schwänzens und Fernbleibens vom Unterricht, belegen andere Quellen, dass Roma-

Kinder weiterhin überproportional in Sonderschulen bzw. -klassen vertreten sind. (vgl.

ACFC 2010: 30 Absatz 139) Einige Vertreter der Roma und Sinti geben an, dass die häufi-

ge Zuweisung zu einer Sonderschule teilweise auf eine schlechte Kommunikation zwi-

schen den Lehrkräften und den Eltern sowie auf anhaltende Vorurteile gegen Roma und

Sinti im Schulsystem zurückzuführen ist.

„Der Beratende Ausschuss ist sehr besorgt über diese Situation, die nicht in

Einklang mit den Grundsätzen des Artikels 12 des Rahmenübereinkommens steht.“

(ACFC 2010: 30)

Daher fordert der ACFC die deutschen Behörden insbesondere dazu auf, „Maßnahmen zur

Förderung der Chancengleichheit für Roma- und Sinti-Schüler im Bildungssystem fortzu-

setzen und zu verstärken.“ (ebd.: 31) Trotzdem erkennt der ACFC ebenfalls Maßnahmen

einiger Bundesländern zur Verbesserung der Integration von Roma- und Sinti-Kindern in

das Schulsystem als positive Tendenz an.54

(ebd.: 30 Absatz 140)

Weitere Aspekte in Zusammenhang integrativer Maßnahmen im Bildungssystem liegen in

den Bereichen Lehrerausbildung und Konzeption von Lehrplänen. So existieren bereits

verschiedene Projekte, in denen Lehrer auf die Arbeit mit Roma- und Sinti-

SchülernInnen vorbereitet werden, z. B. in Marburg, Mannheim und Stuttgart, wo in

enger Abstimmung mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum der deutschen Sinti

und Roma (DKDSR) insbesondere Grundschullehrer ausgebildet werden. (vgl. ebd.: 31

Absatz 145) Zudem wurde die Geschichte und Kultur der Roma und Sinti in Hessen als ein

54

Benannt wird bspw. eine geplante Reform des Landes Baden-Württemberg, welche die Zuweisungskompe-

tenz über den weiterführenden Schulbesuch den Eltern und nicht den Bildungsbehörden überträgt. Diese

Forderung sollte allerdings im Rahmen bildungspolitischer Problemfeld-Betrachtungen nochmals hinterfragt

werden.

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62

integraler Bestandteil des Lehrplans aufgenommen. Trotz dieser Bemühungen, resümiert

der ACFC, dass spezifische „Lehrinhalte über die Roma und Sinti zu sporadisch und

unzureichend bleiben, um Vorurteilen und Klischeevorstellungen über Angehörige

dieser Gruppen entgegenzuwirken“. (ebd.)

Teilhabe der Roma und Sinti am sozialen und wirtschaftlichen Leben (Artikel 15)

In allen drei Stellungnahmen des ACFC wird die Teilhabe von Angehörigen der Roma und

Sinti am sozialen und wirtschaftlichen Leben als „beschränkt“ bewertet. (ACFC 2010: 35

Absatz 169) Wie bereits in der Ausführungen zu Artikel 4 beschrieben, scheinen anhalten-

de Vorurteile und Diskriminierungen gegen Roma und Sinti insbesondere Zugänge zum

Arbeits- und Wohnungsmarkt im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung Beschränkungen zu

unterliegen. (vgl. ebd.)

Positiv hebt der ACFC die Zunahme von Wohnungsprojekten zur Verbesserung der Le-

bensbedingungen von Roma und Sinti hervor und den Ausbau von Beziehungen zwischen

verschiedenen Gruppen auf kommunaler Ebene.55

Dennoch sei es „wichtig, diese Projekte

zu überwachen und zu bewerten und sicherzustellen, dass sie an anderen Orten ggf. wie-

derholt werden können“. (ACFC 2010: 35 Absatz 170)

Bezüglich der Forderung, die Beteiligung von Minderheiten an Entscheidungsprozessen zu

verbessern, sieht der ACFC generell für alle in Deutschland lebenden Minderheiten eine

positive Tendenz. (vgl. ACFC 2010: 36 Absatz 174) Hierzu zählen die Teilnahme von

Minderheitenvertretungen bei den regelmäßigen Konferenzen zur Umsetzung des RÜs und

der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Ebenso begrüßt der

ACFC das Fortbestehen des Gesprächskreises Nationale Minderheiten im Bundestag und

die Fortsetzung der Beiräte für die dänische, sorbische und friesische Minderheit. (ebd.)

Dennoch kritisiert der ACFC das Fehlen eines Beirats für die Roma und Sinti auf Bundes-

ebene, welches aufgrund innerer Meinungsverschiedenheiten bisher zu keiner Realisierung

geführt habe. (vgl. ebd.: 36 Absatz 176) Positiv benennt der ACFC, dass der ZDSR mitt-

lerweile Mitglied des Beirats der ADS ist. (ebd.)

55

Bspw. wird das Wohnungsprojekt Maro Temm in Kiel genannt, siehe dazu Schnack, Renate (2008): Kul-

turbewahrung und Integration. Maro Temm – ein Wohnprojekt für Sinti und Roma, online verfügbar unter:

http://www.afsh.de/STK/DE/Schwerpunkte/Minderheitenpolitik/artikel_maroTemm_RenateSchnack__blob=

publicationFile.pdf (Zugriff am 15.05.2012)

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

63

Resümierend fordert der ACFC, dass für die Verbesserung der Teilhabe von Roma und

Sinti am öffentlichen Leben unter Berücksichtigung der kulturellen Vielfalt innerhalb die-

ser Gruppe, ein „entschiedeneres Handeln erforderlich ist“. (ebd.: 36 Absatz 177)

6.1.3 Stellungnahme des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zur Rahmen-

vorgabe der Europäischen Union für die Verbesserung der Lage von deutschen

Sinti und Roma

Im Oktober 2011 veröffentlichte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (ZDSR) unter

dem Titel „Gleichberechtigte Teilhabe für Sinti und Roma in Deutschland“ eine offizielle

Stellungnahme bezüglich der Rahmenvorgabe der Europäischen Union für die Verbesse-

rung der Lage von Sinti und Roma in Europa. Insbesondere begrüßte der ZDSR die Fest-

stellung der Europäischen Kommission (KOM) und des Europäischen Parlamentes, die

Verantwortung für die jeweiligen nationalen Minderheiten der Sinti und Roma in Europa

liege bei den Mitgliedstaaten. (vgl. ZDSR 2011: 1) Ebenfalls positiv hebt der ZDSR her-

vor, dass die Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Lage von Roma sich an

den spezifischen Voraussetzungen des jeweiligen Staates zu orientieren habe.

Dennoch sieht der ZDSR sowohl in den politischen Diskussionen als auch in Dokumenten

zur Politik auf europäischer und nationaler Ebene eine Tendenz, „die Marginalisierung

[…] der Romabevölkerung als für die gesamte Minderheit geltendes Charakteristikum fest-

zuschreiben.“ (ebd.) Grund für diesen Vorwurf ist die Klassifizierung der Romabevölke-

rung anhand von vier Hauptkategorien durch die KOM:

(i) „Those living in disadvantaged highly concentrated (sub)-urban districts,

(ii) Those living in disadvantaged parts of small cities/villages in rural regions

and in segregated rural settlements isolated form the majority,

(iii) Mobile Roma communities with citizenship of the country or another EU

country and

(iv) finally the mobile and sedentary Roma who are third-country nationals, ref-

ugees, stateless persons or asylum seekers.“

(Europäisches Parlament 2011: 22)

So werde die öffentliche Wahrnehmung der Minderheit auf bestehende Stereotype redu-

ziert und unterstützt durch die inhaltliche Fokussierung der sozialen und wirtschaftlichen

Probleme als „europäische soziale Randgruppe“ dargestellt. (ZDSR 2011: 2)

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

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Weiter wird die Zuschreibung der angeblichen „besonderen Lebensweise und Kultur“ von

Sinti und Roma im Unterschied zur jeweiligen nationalen Bevölkerung, als nicht tragbar

angesehen, da diese „offen und unterschwellig“ Stereotype transportiere, welche wiederum

als Ursachenerklärung der unzureichenden Integration verwendet werde. (ebd.)

So sieht der ZDSR eine Gefahr darin, die nationalen Minderheiten der Sinti und Roma als

marginalisierte und gleichzeitig fremde Kultur zu beschreiben, welches in verstärkender

Weise weiter ausgrenzend wirkt. Ebenso ist die differenzierte Situation der deutschen

Minderheit der Sinti und Roma mit deutscher Staatsbürgerschaft einerseits, und die Lage

der Roma, welche als Flüchtlinge oder Zuwanderer nach Deutschland kommen anderer-

seits, zu betrachten.

Somit seien die verabschiedeten „Strategie[n] zur Verbesserung der Integration für Sinti

und Roma“ nicht sachgerecht und zielführend. (ebd.: 2) Folgend werden daher konkrete

Forderungen des ZDSR für die Umsetzung des RÜ betreffend die deutschen Sinti und Ro-

ma und Forderungen für Flüchtlinge bzw. EU- und Drittstaaten-Migranten darstellend auf-

geführt.

Forderungen betreffend des Minderheitenschutzes

Maßnahmen für die Holocaust-Überlebenden

Fertigstellung des Denkmals für die im nationalsozialistisch besetzten Europa er-

mordeten Sinti und Roma in Berlin

Verbesserung der Verfahren zur Bewilligung von Witwenrenten bei Holocaust-

Überlebenden.

Besondere Förderung von Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden; Informati-

onsveranstaltungen, Reisen und Exkursionen für Holocaust-Überlebende und ihre

Angehörige zu historischen Gedenkstätten im In- und Ausland.

Schutz und Erhaltung der Gräber von NS-Verfolgten im Rahmen des Denkmal-

und Ehrenmalschutzes.

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

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Beteiligung der Minderheit in Politik und Gesellschaft

Beteiligung von Vertretern der Sinti und Roma in Rundfunkräten und Landesmedi-

enanstalten.56

Beteiligung von Vertretern der Sinti und Roma in politischen Gremien (in den ver-

schiedenen Sachgebieten, Schulbuch-Kommissionen, etc.) und Parteien (siehe dazu

Lund-Empfehlungen57

des Europarates und der OSZE)

Beteiligung von Vertretern der Sinti und Roma in Justizorganen (Benennung als

Schöffen und ehrenamtliche Richter).

Antidiskriminierungspolitik

Ergänzung des Minderheitenschutz-Artikels 5 der Landesverfassung das Landes

Schleswig-Holstein mit dem Anspruch auf Schutz und Förderung neben der däni-

schen und friesischen Minderheit auch für die schleswig-holsteinischen Sinti und

Roma.

Förderung der seit 2009 beantragten Untersuchung des ZDSR zusammen mit dem

Zentrum für Antisemitismus-Forschung in Berlin „Einstellungen der Mehrheitsbe-

völkerungen gegenüber Sinti und Roma“ mit jährlicher Aktualisierung.

Fortsetzung von Antidiskriminierungsprogrammen der Europäischen Union und

des Europarates in Deutschland auf Grundlage einer gezielten Antiziganismusfor-

schung mit vergleichbaren Förderungsmaßnahmen analog zur Antisemitismusfor-

schung.

Verbesserung der Anti-Diskriminierungs-Gesetze und –Maßnahmen

Um diskriminierende Handlungen und diffamierende öffentliche Erklärungen von Behör-

denvertretern im Extremfall wirksam begegnen zu können, fordert der Zentralrat eine Er-

weiterung des Klagerechts beim Verwaltungsgericht mit dem Ziel einer Unterlassungsver-

fügung58

auch für repräsentative Minderheitenorganisationen (wie bspw. der ZDSR selbst).

56

Bisher wurde eine Beteiligung lediglich in der Landeszentrale für Medien und Kommunikation in Rhein-

land-Pfalz verwirklicht. Eine Initiative auf Bundesebene stellte eine Beteiligung für die Deutsche Welle in

Aussicht, jedoch ohne konkreten zeitlichen Rahmen. 57

siehe dazu „Die Lund-Empfehlungen über die wirksame Beteiligung nationaler Minderheiten am öffentli-

chen Leben samt Erläuterungen“ (1999), online verfügbar unter: http://www.osce.org/de/hcnm/32247 (Zu-

griff am 10.04.2012) 58

Mittels einer Unterlassungsverfügung kann ein Anspruchsberechtigter jemandem gerichtlich das Veröf-

fentlichen einer bestimmten Äußerung oder eines Bildnisses verbieten lassen. Diese Forderung, besitzt vor

dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse, z.B. in Zusammenhang mit den diskriminierenden Veröffentli-

chungen einer Schweizer Tageszeitung im April 2012, hohes Diskussionspotenzial.

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Gleiches gilt für das Beschwerderecht und Klageerzwingungsverfahren bei volksverhet-

zenden Inhalten.

Polizeibehörden: Aufarbeitung der Geschichte/Ausbildung

Aufarbeitung und Wissensvermittlung der spezifischen Rolle und Geschichte von

Polizeibehörden in der Nachkriegszeit (z.B. die Beteiligung ehemaliger NS-Täter in

den Landfahrerzentralen der Länder)

Durchführung gezielter Informations- und Ausbildungseinheiten in Kooperation

mit dem DKDSR für die Abschlussjahrgänge der Ausbildung für die verschiedenen

Dienststufen in den Polizeiakademien der Länder.

Förderung im Bildungsbereich

Geförderter und erleichterter Zugang zu allen Bildungsstufen mit Ausnahme von

Zugangsbeschränkungen (Losverfahren, Numerus clausus, etc.); Förderung von

Stipendienprogrammen für Aus- und Weiterbildung (z.B. über einen Bildungsfonds

für Sinti und Roma).

Einrichtung einer ständigen Arbeitsgruppe zur Situation von Sinti und Roma in

Deutschland bei der Kultusministerkonferenz unter fester Einbeziehung Sinti- und

Roma-vertretenden Organisationen.

Gezielte Einbeziehung in Projekte und Maßnahmen; individuelle Bildungsförde-

rung auf lokaler Ebene in Zusammenarbeit mit Schulen und Trägern von Hausauf-

gabenhilfen

o Gezielte Angebote für den Besuch von Kindergärten und Vorschulklassen

o Begleitung beim Übergang zu höheren Schulen sowie beim Übergang Schu-

le – Beruf.

o Erstellung von Lehrmaterialien und -plänen, Aufnahme der Minderheiten-

thematik in die Rahmenpläne und Richtlinien der Länder.

Weiterbildungsangebote für Lehrer an Schulen, die sich an lokalen Projekten betei-

ligen unter Zuhilfenahme der Ergebnisse der Antiziganismusforschung.

Durchführung detaillierter Ressourcenanalyse durch Verbände der Sinti und Roma,

um den Bedarf und die Notwendigkeit lokaler Initiativen zu entwickeln. Die Kom-

munen sollen die Verbände dabei entsprechend unterstützen.

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Forderungen betreffend Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und insbe-

sondere dem Kosovo

Gesicherten Aufenthaltsstatus für die seit Jahren in Deutschland lebenden Familien,

insbesondere jene, die aus den bisherigen Altfallregelungen herausfallen; Anerken-

nung des Status als Kriegsflüchtlinge.

Gesicherter Aufenthaltstitel insbesondere für Familien mit Kindern, für Menschen

mit Traumatisierungen oder chronischen Krankheiten sowie für ältere Menschen

Gezielte Förderung von Aus- und Berufsbildung für junge Roma, die als Flüchtlin-

ge in Deutschland leben; Zusammenarbeit mit Organisationen der Sinti und Roma

in Deutschland um Programme der EU lokal nutzen zu können. Dies beinhaltet eine

gesicherte Finanzierung.

Eine Rückkehr von Roma in den Kosovo soll freiwillig und unter Gewährleistung

von Sicherheit und Würde erfolgen.

Forderungen betreffend Immigranten aus EU-Staaten oder Drittstaaten

Viele Roma aus südeuropäischen Ländern verlassen ihr Land (meist temporär) um der

wirtschaftlichen Chancenlosigkeit und rassistischer Gewalt vor Ort zu entkommen. Insbe-

sondere in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten bietet sich für Roma die

Chance, ohne die Zuschreibung als solche, als Rumänen, Bulgaren, usw. wahrgenommen

zu werden. Dennoch fordert der Zentralrat, dass „ihrer spezifischen Situation als Minder-

heit Rechnung getragen werden“ sollte. (ZDSR 2011: 6) Ausländerrechtliche Probleme

erfahren im Bundesgebiet Roma, die weder die deutsche Staatsbürgerschaft noch den Uni-

onsbürgerstatus haben, also Zuwanderer aus Drittstaaten sind. Ende November 2010 lebten

mehr als 87.000 geduldete Ausländer im Bundesgebiet, davon hielten sich knapp 53.000

länger als sechs Jahr hier auf. (vgl. Marx 2011: 41) Die überwiegende Mehrzahl der gedul-

deten Roma sind Zuwanderer aus dem Kosovo.59

Der Zentraltrat fordert aus diesem Grund

insbesondere:

Die schulische Versorgung der Kinder muss – unabhängig von deren Aufenthalts-

status – sichergestellt werden durch lokale Programme zur Sprachförderung, früh-

zeitigen Besuch von Kindergärten, Unterstützung und Ausbau von Integration in

Primär- und Sekundarschulen, Hausaufgabenhilfen, besondere Ausstattung für

59

Marx (2011) gibt an, dass zum Zeitpunkt des am 14. April 2010 unterzeichneten Regierungsabkommens

zwischen Deutschland und der Republik Kosovo über die Rückübernahme kosovarischer Staatsangehöriger

bis zu 14.000 geduldete Roma aus dem Kosovo im Bundesgebiet lebten, die Hälfte davon Kinder. (ebd.)

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Schulen und entsprechende Weiterbildung für Lehrer; grundsätzlich sollen die Re-

gelschulen solche Programme durchführen.

Systematische Teilnahme von Sinti/Roma-Organisationen an der Programmpla-

nung und –umsetzung an den bestehenden Qualifizierungsprogrammen für Migran-

ten (XENOS usw.)

Förderung von Bildungsprogrammen für Jugendliche insbesondere im Bereich

Übergang Schule – Beruf

Aufbau einer Entwicklungszusammenarbeit mit Regierungen und Nicht-

Regierungsorganisationen der Herkunftsländer von Roma-Migranten, um Ursachen

der Migration, insbesondere Diskriminierung und Armut zu bekämpfen.

Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung, insbesondere von Kindern.

6.1.4 Bildung im Minderheitenschutz

Sowohl die Erkenntnisse des Europarates (vgl. Kapitel 6.1.3) als auch die entsprechenden

Forderungen des ZDSR (vgl. Kap. 6.1.4) belegen weitverbreitete soziale, strukturelle und

politische Missstände. Gerade Veränderungen im Bereich der Bildung werden explizit

immer wieder betont und als dringend erforderlich hervorgehoben. Hierbei werden vor

allem Problemfelder benannt, die in Zusammenhang mit den lokalen strukturellen Gege-

benheiten stehen. So scheint insbesondere die Schulzuweisung in die Regelschulen ein-

schränkenden Faktoren zu unterliegen.

Die verhältnismäßige Überrepräsentation von Roma in den deutschen Förder- und Sonder-

schulen wirft die Fragen auf, ob dieser Sachverhalt auf den „inneren“ Stellenwert von

Schule und Bildung in der Roma-Gemeinschaft zurückzuführen ist oder ob die vorhande-

nen institutionellen Rahmenbedingungen nicht ihrerseits auch einen beträchtlichen Teil

dazu beitragen.60

Hier werden vor allem mangelnde kommunikative Strukturen zwischen

Lehrkräften und Roma-Eltern und das Fehlen von (vergangenheitsbewältigenden) Lernin-

halten in den Rahmenlehrplänen hervorgehoben. Damit einhergeht die Forderung spezifi-

sche Schulungen von Lehrkräften durch geeignete Bildungsprojekte zu erhöhen.

60

Die Diskussion über die Konzeption des deutschen Bildungssystems kann hier an dieser Stelle nicht ge-

führt werden. Allerdings ist der Zusammenhang von Selektivität und sozialem Hintergrund, insbesondere

dem familiären Umfeld, spätestens seit PISA und der Veröffentlichung des UN-Berichtes zur Umsetzung der

UN-Resolution 60/251 von Vernor Muñoz sehr vielschichtig wissenschaftlich erfasst. Siehe dazu: Rat für

Menschenrechte: Bericht des Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, online:

http://www.netzwerk-bildungsfreiheit.de/pdf/Mission_on_Germany_DE.pdf (09.05.2012)

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Ein weiteres Problemfeld eröffnet sich durch die rechtliche Differenzierung in, Angehörige

des Nationalstaates und damit schulpflichtig sowie Kinder mit europäischem oder auslän-

derrechtlichem Hintergrund, deren generelle Schulpflicht zumindest gesetzlich nicht vor-

handen ist.

Dazu werden nun im folgenden Kapitel integrative Perspektiven durch den EU-Rahmen für

nationale Strategien zur Integration der Roma bis zum Jahr 2020 für den Bereich der Bil-

dung aufgezeigt. Anschließend erfolgt eine weitere Zustandsanalyse durch die Studie zur

aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma von Strauß (Hg.) aus dem Jahr 2011.

6.2 Zur Bildungssituation der Roma

6.2.1 EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 im

Bildungsbereich

Am 5. April 2011 veröffentlichte die Europäische Kommission in Brüssel einen EU-

Rahmenplan für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020. Der Rahmenplan

enthält vier zentrale Vorgaben. Demnach sollen in den Bereichen Bildung, Arbeit, Ge-

sundheit und Wohnen Mitgliedstaaten der EU die bestehenden Unterschiede zwischen

Roma und der restlichen Bevölkerung durch entsprechende Maßnahmen abbauen bzw.

beseitigen. Roma-Organisationen begrüßten die Vorlage des Rahmenplans zunächst. Den-

noch sieht der ZDSR auch hier eine Gefahr, Ursachen der fehlenden Integration den Roma

selbst zuzuschreiben. (vgl. 6.1.3)

6.2.1.1 Zielsetzung

Der vorliegende EU-Rahmen soll die Alltagssituation der Roma spürbar verbessern. Dieser

ist eine Reaktion der EU auf die aktuelle Situation, „entbindet jedoch die Mitgliedstaaten

in dieser Hinsicht nicht von ihrer Hauptverantwortung“. (KOM 2011: 4) Mit diesem EU-

Rahmen hält die Europäische Kommission (KOM) die Mitgliedsstaaten dazu an, je nach

Größe der in den einzelnen Gebieten61

lebenden Roma-Bevölkerung und der jeweiligen

Ausganssituation, einen entsprechenden Ansatz zur Integration der Roma anzunehmen,

61

Siehe Schätzungen des Europarats unter http://www.coe.int/t/dg3/romatravellers/default_EN.asp (Zugriff

am 10.05.2012)

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weiterzuentwickeln und die vier Kernbereiche der Zielsetzung entsprechend umzusetzen.

Hierbei richtet sich das Kernziel Zugang zu Bildung auf den Mindeststandard, dass die

Mitgliedstaaten „[s]icherstellen, dass alle Roma-Kinder zumindest die Grundschule ab-

schließen“. (ebd.: 5) Dieser Mindeststandard kann in Bezug auf die integrativen Bemü-

hungen in Deutschland und der aktuellen wirtschaftlichen Anforderungen für eine erfolg-

reichen Einstieg in das Berufsleben in Deutschland nicht als ausreichend bewertet werden.

Auch wenn die Situation in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ist, so liegt

das Bildungsniveau der Roma nach Angaben der KOM deutlich unter dem der restlichen

Bevölkerung.62

Trotzdem bilden Roma in vielen Mitgliedstaaten einen beträchtlichen und

steigenden Anteil der Kinder und Jugendliche im Schulalter. Dies zeigt sich vor allem in

der Altersverteilung: Während in der EU-Gesamtbevölkerung der Anteil der Personen, die

unter 15 Jahren alt sind, 15,7 Prozent beträgt, sind es in der Roma-Bevölkerung mehr als

doppelt so viele (35,7 Prozent). Das Durchschnittsalter der Roma beträgt 25 Jahre, das

Durchschnittsalter in der EU liegt hingegen bei 40 Jahren. (zit. n. ebd.: 2)

6.2.1.2 Zugang zu Bildung: Abschluss der Grundschule

Der Besuch der Grundschule ist in allen Mitgliedstaaten rechtlich bindend vorgeschrieben.

Das heißt, die Staaten verpflichten sich, für alle schulpflichtigen Kinder eine Grundschul-

ausbildung anzubieten. Der europäischen Arbeitskräfteerhebung aus dem Jahr 2009 zufol-

ge, schlossen EU-weit 97,5 Prozent der Kinder die Grundschule ab. (zit. n. ebd.: 5) Den-

noch zeigt bspw. eine Erhebung des Open Society Institute (OSI) aus dem Jahr 2008, dass

in einigen Mitgliedstaaten nur eine begrenzte Anzahl von Roma-Kindern die Grundschule

abschließt. So liegt der durchschnittliche Schulbesuch von Roma-Kindern in den Ländern

Bulgarien, Ungarn, Lettland, Litauen, Rumänien und der Slowakei lediglich bei 42 Pro-

zent. (OSI 2008: 1) Dieser Sachverhalt soll durch die Förderung von Kontakten zwischen

den verschiedenen Gemeinschaften und insbesondere durch die Ausbildung von Kultur-

und Schulmediatoren Rechnung getragen werden. Ebenso gilt es, die Kontakte zwischen

„Kirchen, religiöse Organisationen bzw. Gemeinschaften sowie die aktive Beteiligung der

Eltern von Roma-Kindern zu fördern, um die interkulturellen Kompetenzen der Lehrer zu

verbessern, die Segregation zu verringern und sicherzustellen, dass der Grundschulpflicht

nachgekommen wird.“ (KOM 2011: 5) Dazu sollen innerhalb einer zweijährigen Ausbil-

dung rund 1000 Mediatoren eigens geschult werden, um sowohl Roma-Familien über die

62

Einer Erhebung des Open Society Institute aus dem Jahr 2008 zufolge besuchen, basierend auf Daten von

sieben Mitgliedsstaaten, nur rund 10 Prozent der Roma eine Sekundarschule.

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lokalen Bildungssysteme zu informieren, beratend zur Seite zu stehen und Roma-Kinder

bei den einzelnen Phasen ihrer schulischen Laufbahn zu unterstützen. (vgl. ebd.: 6)

6.2.2 Zur Bildungssituation der Roma in Deutschland

In den Integrationsdebatten in Deutschland wurde Bildung für die Teilhabe am gesell-

schaftlichen Leben, an Wirtschaft und Kultur, an Politik und Lebensstandard zwar für

Einwanderer, jedoch nur marginal für die nationale Minderheit der deutschen Sinti und

Roma diskutiert. (vgl. Strauß 2011: 48) Erste Studien wurden in den 1980er Jahren von A.

Hundsalz im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit veröf-

fentlicht.63

Die Befunde präsentierten eine erschreckend mangelhafte Bildungssituation.

„Die Ergebnisse bestätigten in ihrer Gesamtheit die schulische Benachteiligung der

Zigeunerkinder […].“ (Hundsalz 1980: 206)

Viele der untersuchten Kinder aus Sinti Familien erhielten von den betreffenden Lehrern

das Urteil „labil“, „unsicher“ oder „unecht sicher“. (vgl. ebd.: 208) Dennoch blieben seit

diesen ersten Erkenntnissen entsprechende Maßnahmen der Bildungspolitik aus. (vgl.

Strauß 2011: 49)

Wie im Kapitel 6.1.2 bereits dargestellt, kritisierte der ACFC in allen Untersuchungszeit-

räumen, dass in Deutschland sowohl ein Mangel an aussagekräftigen Daten zur Lebenslage

und zur Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma existiere als auch die aktuelle

Situation weiterer Maßnahmen bedürfe.

„Der Beratende Ausschuss befindet, dass Kinder von Roma/Sinti, Wanderern und

Zu-/Einwanderern in der Sekundarstufe I [Unterstufe] und in Sonderschulen für

lernschwache Schüler übervertreten und dementsprechend an Mittel- und Ober-

schulen untervertreten sind.“(BMI 2002: 15)

Für diese Situation lassen sich unterschiedliche Faktoren benennen, von denen einzelne

Sinti- und Roma-Familien betroffen sind. Dazu gehören Mangel an vorschulischer Erzie-

hung, ungenügende Kenntnis der deutschen Sprache und ein hohes Armutsniveau mit Le-

63

Siehe dazu Hundsalz, Andreas (1980): Zigeunerkinder. Eine sozialpsychologische Untersuchung schulre-

levanter Merkmale, Frankfurt/Main und Hundsalz / Schaaf (1982): Soziale Situation der Sinti in der Bundes-

republik Deutschland (Endbericht), Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit,

Bd. 129, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz.

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bensbedingungen, die entsprechende Lernvoraussetzungen nicht fördern. (vgl. OSI 2002:

96) Aus Sicht von Vertretern der Sinti und Roma ist die Diskriminierung durch Lehrer und

durch die Schulverwaltungen ebenfalls ein entscheidender Faktor. (vgl. ebd.)

Seitdem fordert der Europarat, die Kenntnisse der Lebens- und Bildungswirklichkeit zu

verbessern, um so geeignete Maßnahmen zur wirksamen Förderung der vollen und effekti-

ven Gleichstellung sicher zu stellen. (vgl. Strauß 2011: 49) Im April 2011 forderte die EU

von ihren Mitgliedstaaten, Strategien zur Integration der Roma bis 2020 (vgl. 6.2.1) zu

entwerfen und insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der aktuellen Bildungssituation

zu berücksichtigen.

„Die Mitgliedstaaten sollten […] sicherstellen, dass alle Roma-Kinder – egal ob

sesshaft oder nicht – Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung haben, nicht

diskriminiert oder ausgegrenzt werden und zumindest die Grundschule abschlie-

ßen. Ferner sollten sie den Zugang zu einer guten frühkindlichen Betreuung,

Bildung und Erziehung verbessern und im Einklang mit der Strategie Europa

2020 die Schulabbrecherquote in der Sekundarschule verringern. Darüber hin-

aus sollten jugendliche Roma nachdrücklich zum Besuch einer Sekundarschule

und zum Studium ermutigt werden.“ (KOM 2011: 6)

Die neueste Studie von Strauß (2011) zur aktuellen Bildungssituation dokumentierte und

erforschte zwischen 2007 und 2011 die Bildungssituation deutscher Sinti und Roma aus

drei Generationen vornehmlich aus Westdeutschland. Dazu wurden 275 Interviews in 35

Städten/Orten durchgeführt. Die folgenden fünf Ergebnisse sollen exemplarisch Einblick in

die Forschungsergebnisse geben: 64

1. 10,7 Prozent der Befragten besuchten eine Förderschule. Dagegen sind es in der

Mehrheitsbevölkerung nur 4,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler.

2. 13 Prozent der Befragten besuchten keinerlei Schule. Mindestens 44 Prozent der

Befragten haben keinen Schulabschluss.

3. Nur 11,5 Prozent der Befragten besuchten die Realschule. Im Vergleich zur Mehr-

heitsbevölkerung haben über 30 Prozent in der Altersgruppe der 14- bis 25-

Jährigen einen mittleren Bildungsabschluss.

64

Die folgenden Daten können aufgrund des begrenzten Rahmens nur als skizzenhafte Darstellung der Bil-

dungssituation verstanden werden. Der vergleichenden Daten betreffend die Mehrheitsbevölkerung richtet

sich an die Darstellung von Strauß (2011): Zur Bildungssituation von deutschen Sinti und Roma.

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4. Nur sechs von 261 Befragten besuchten ein Gymnasium, das sind 2,3 Prozent. In

der Mehrheitsbevölkerung haben insgesamt 24,4 Prozent eine Hochschulreife, in

der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen über 40 Prozent.

5. 45,6 Prozent der Befragten können/konnten keine Hilfen in der Familie bei den

Hausaufgaben erhalten. Als entsprechende Gründe benannten 72 von 93 Befragten:

„keine eigene Schulbildung der Eltern“, „selbst nur begrenzte schulische Ausbil-

dung“, „zu geringe schulische Bildung“ oder „kann weder lesen noch schreiben“.

III. Die Kindertagesstätte Schaworalle in Frankfurt/Main

7. Projektkonzeption

Schaworalle (übersetzt „Hallo Kinder“) ist ein Modellprojekt, welches erfolgsorientiert im

Bereich Bildung mit Roma-Kindern und -Familien arbeitet. Hierbei ist die Kindertagesstät-

te Schaworalle Teil des Fördervereins Roma e.V. (FR) und fungiert als Kindergarten,

Grund-, Mittel- und Oberschule für Roma-Kinder und -Jugendliche in der Frankfurter In-

nenstadt. Bundesweit ist die Projektkonzeption nahezu einmalig, da derzeit 83 Kinder im

schulfähigen Alter die Einrichtung besuchen. Zentrale integrative Bemühung ist die Unter-

stützung rumänischer Kinder insbesondere im Bereich Bildung. Konkretes Bildungsziel ist

die Vermittlung von Basiskompetenzen aus den Bereichen Rechnen, Lesen und Schreiben

und die schulische Betreuung bis zur Erlangung des Qualifizierten Hauptschulabschluss

(QHA). Übergeordnetes Ziel ist die Betreuung der in Frankfurt lebenden rumänischen Ro-

ma-Familien durch die institutionelle Bindung zum FR, welcher in Fragen der Bereiche

Wohnen und Arbeit lösungsorientiert arbeitet. Hierbei stehen die Achtung der traditionel-

len Regeln und Gesetze von Roma, intensive Beziehungsarbeit und ein am Gemeinwesen

orientiertes pädagogisches Denken im Vordergrund. Die folgende Projektskizzierung er-

folgt auf Datenbasis zweier Jahresberichte aus den Jahren 2010 und 2011 und den erhobe-

nen Daten durch das Interview vom 2. Mai 2012.

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7.1 Lokale Initiative und Entstehung

Die Kindertagesstätte Schaworalle gründete sich Mitte 1999 als rumänische Roma-Kinder

in den vorangegangenen Jahren insbesondere durch Betteln, Diebstähle oder Nachbar-

schaftskonflikte in der Öffentlichkeit negatives Aufsehen erregten und seitens der Instituti-

onen, insbesondere durch das Jugendamt, die Forderung nach entsprechenden Maßnahmen

lauter wurde. So entstand bereits 1996 im Rahmen der Sozialberatung und pädagogischen

Arbeit des FR ein erstes Projekt, welches durch finanzielle Unterstützung durch das Ar-

beitsamt sowie des Jugend- und Sozialamtes in Frankfurt/Main versuchte mit den negativ

aufgefallenen Kindern pädagogisch zu arbeiten. Von 1997 bis zum Sommer 1999 finden

dazu in Kooperation mit zwei Lehrkräften erste Kurse zur Schulvorbereitung und Alphabe-

tisierung statt mit dem Ziel der möglichst schnellen Einschulung in die Frankfurter Regel-

schulen. Die Zielvorstellung der schnellen Einschulung in die Regelschulen und einer da-

mit verbundenen Integration in den Nachmittagsbetrieb des Kinderhauses erweisen sich

allerdings schnell als nur bedingt umsetzbar. Die Initiative wird zudem von immer mehr

Kindern besucht, auch von Kindern im nichtschulpflichtigen Alter. Das Gesetz zum

Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz bietet jedoch die Chance auf eigene Räum-

lichkeiten, dauerhaft finanziert durch das Stadtschulamt. Im Sommer 1999 werden erste

eigene Räume mit Mitarbeitern, Kindern und Eltern renoviert. Es entstehen insgesamt 40

Plätze (20 Kindergarten-, 20 Hort- und Schulplätze). Im November wird nach Verhandlung

mit dem staatlichen Schulamt die erste Lehrerstelle mit 20 Wochenstunden besetzt. Die

Frankfurter Comeniusschule und die Ludwig-Börne-Schule werden Kooperationsschulen.

Bald kommt die zweite Lehrerstelle für den Grundschulbereich hinzu. Im Frühjahr 2002

bezieht das Projekt neue Räumlichkeiten und bietet nun Platz für 50 Kinder. Zwei feste

ganze Lehrerstellen bleiben weiterhin erhalten. Im April 2006 erhält die Schaworalle die

Theodor-Heuss-Medaille für „beispielhaftes Engagement, sich gegen die soziale und kultu-

relle Ausgrenzung von Romakindern und –jugendlichen einzusetzen“. (JB 2011: 6)

Durch den Beitritt Rumäniens zur EU am 1. Januar 2007 verändert sich die ausländerrecht-

liche Situation vieler Roma-Familien aus Rumänien entscheidend. Viele in den Jahren zu-

vor ausgereiste oder abgeschobene Familien kehren zurück nach Frankfurt. Die Kinderzahl

wird auf 70 Plätze erhöht (25 Kindergärten-, 45 Schul- und Hortplätze). Aufgrund der ho-

hen Personenzahl unterstützt ab Sommer 2008 eine Lehrerin für Lernhilfe die Arbeit des

Schulprojektes mit halber Stelle. 2009 werden die Öffnungszeiten verlängert. Schaworalle

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hat nun von 8.15 bis 17.45 Uhr geöffnet. Die Unterrichtszeit im Schulbereich wird um eine

Stunde nach dem Mittagessen erweitert.

Seitdem ist die Nachfrage nach weiteren Schul- und Hortplätzen konstant gestiegen. Die

vorhandenen Plätze sind seit einiger Zeit ebenfalls kontinuierlich überbelegt. Aktuell besu-

chen 12 Kinder die Vorklasse, 35 Kinder die Grundschulgruppe, 18 Kinder die Mittelstufe,

16 die Hauptstufe und 2 die Leistungsgruppe zum Abschluss des QHA (= 83 Kinder und

Jugendliche).

7.2 Finanzierung und Ausstattung

Die Kindertagesstätte ist eine Einrichtung für derzeit 70 Kinder im Alter von 3 bis 15 Jah-

ren, die regulär über das Schulamt der Stadt Frankfurt, das Jugend- und Sozialamt Frank-

furt und das Landesjugendamt finanziert wird. In Anbetracht der wirtschaftlichen Situation

vieler betreuten Familien zahlen die Eltern keinen Beitrag und auch kein Essensentgelt.

Diese Beträge werden fast ausschließlich vom Frankfurter Jugend- und Sozialamt pauschal

finanziert.

Die Räumlichkeiten der Kindertagesstätte erstrecken sich über zwei Etagen. Im Erdge-

schoss befinden sich der Kindergartenbereich, ein Musikraum, die Holzwerkstatt, das Büro

sowie ein kleiner Aufenthaltsraum mit Durchgang zum Hof, die Küche und der Bewe-

gungsraum, welcher auch als Essenraum genutzt wird. Im ersten Stock sind neben dem

Personalraum vier Klassenräume, der Computerraum und ein Spiel- und Bastelzimmer

untergebracht. Der Standort ist unmittelbar nahe der Frankfurter Innenstadt und für viele

Kinder und Familien schnell zu erreichen.

7.3 Roma-Mitarbeiter und Bildungsmediatoren

In der Schaworalle arbeiten Roma und Nicht-Roma. Diese gleichberechtigte Zusammenar-

beit wird eine essentielle Bedeutung zugeschrieben. Muttersprachliche MitarbeiterInnen

gelten als Vorbilder, schaffen Vertrauen und Selbstbewusstsein, vermitteln Sicherheiten

und bieten die Möglichkeit, Erfahrungen und Erlebnisse in der Muttersprache zu artikulie-

ren. Weiterhin versucht das Modellprojekt sichere und tariflich bezahlte Arbeitsplätze für

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

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Roma zu schaffen. So arbeiten seit 2011 acht Roma unterschiedlicher Nationalitäten fest in

unterschiedlichen Bereichen:

Drei Roma-Frauen betreuen den Hauswirtschaftsbereich (Reinigung und Küchen-

arbeit)

Eine Romni aus Mazedonien arbeitet im Kindergarten mit einer 80% Stelle.

Eine rumänische Romni und ein rumänischer Roma arbeiten mit voller Stelle als

pädagogische Mitarbeiter im Schul- und Hortbereich.

Eine junge Romni ergänzt die Arbeit im Schul- und Hortbereich im Rahmen einer

geringfügigen Beschäftigung.

Ein Mitglied des Philharmonischen Vereins der Roma und Sinti e.V. bietet zudem

einmal wöchentlich musikalische Früherziehung für Kindergarten- und Vorschul-

kinder an.

Die drei festen pädagogischen Mitarbeiter verfügen über keine formale pädagogische Aus-

bildung, arbeiten jedoch an ihrer Weiterbildung. Zwei Mitarbeiter haben neben der Arbeit

ihren Hauptschulabschluss nachgeholt.

7.4 Tagesablauf und Gruppenstruktur

„Zur Dynamik von „Schaworalle“ gehört ein flexibler, niedrigschwelliger, am

Gemeinwesen der Roma orientierter Ansatz.“ (JB 2011: 9)

Die Stammgruppe umfasst derzeit über 100 Kinder, die fest angemeldet sind. Die Regel-

mäßigkeit, ein Grundproblem angesichts der Lebensorganisation vieler Familien, ist bei

der Stammgruppe hoch. Täglich besuchen bis zu 70 Kinder die Einrichtung. Die meisten

Kinder kommen an drei bis vier Tagen in der Woche. Bei wichtigen Terminen oder Fami-

lienereignissen melden sich die Kinder vom Unterricht ab. Vormittags bis 13.00 Uhr findet

der Betrieb in fünf Gruppen statt:

1. die Kindergartengruppe (28 angemeldete Kinder, 12 - 20 täglich anwesend)

2. die Vorklasse (12 angemeldete Kinder, 7 - 12 täglich anwesend)

3. die Grundstufe (35 angemeldete Schüler, 18 – 27 täglich anwesend)

4. die Mittelstufe (18 angemeldete Schüler, 8 – 16 täglich anwesend)

5. die Hauptstufe (16 angemeldete Schüler, 6 – 12 täglich anwesend)

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Die Roma. Zwischen Antiziganismus und Integration

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Die Arbeit in den Schulgruppen beginnt um 9.00 Uhr. Es folgen drei Unterrichtseinheiten.

Um 13.00 Uhr gibt es Mittagessen. Die Kindergartenkinder essen im Kindergarten, für die

Schulkinder werden im Bewegungsraum Tische und Bänke aufgebaut. Seit Sommer 2009

findet nach dem Mittagessen von Montag bis Donnerstag nochmals eine Stunde Unterricht

für alle Schulgruppen außer der Vorklasse statt. So wird versucht der Tatsache Rechnung

zu tragen, dass immer noch viele Kinder zu spät zum Unterricht kommen, aber auch das

schwierige Thema Hausaufgaben wird verpflichtend in den Tagesablauf integriert.

„Die Kinder haben die verlängerten Schulzeiten interessanterweise ohne Proteste

akzeptiert.“ (JB 2011: 9)

Das Freizeitangebot ab 14.30 Uhr ist für die Schulkinder altersgemischt und angebotsori-

entiert. Zugang zu Bildung bedeutet somit nicht nur die schulische Förderung, sondern

auch das Angebot, jenseits aller familiären und materiellen Sorgen „Kind zu sein“, d. h.

wie alle anderen Kinder Raum zum Spielen und Toben, Zugang zu kreativen und sportli-

chen Angeboten zu haben oder Ausflüge zu machen. Ein wichtiger Bestandteil des Nach-

mittagsprogramms ist natürlich die Hausaufgabenhilfe für die Kinder, die eine staatliche

Regelschule besuchen.

8. Schule in der Schaworalle

8.1 Bildungsansatz und Orientierungsrahmen

Das Modellprojekt versucht Zwischenstation oder Alternative zur Regelschule zu sein.

Hierbei bietet Schaworalle all jenen Kindern und Jugendlichen Zugang zu Bildung, die

aufgrund von Überalterung oder kultureller Konflikte, mangelnder Sprachkenntnis, unsi-

cherem Aufenthaltsstatus, häufigem Wohnungswechsel oder aufgrund des Misstrauens vor

der Institution Schule, diese nicht oder nicht mehr besuchen. Institutionell wird der Zugang

zu Bildung entgegen der begrenzten Anwendung der Schulpflicht mit dem „Recht auf Bil-

dung“ begründet. Eine Zielvorstellung ist dabei die begleitete Einschulung in die Regel-

schule. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigte jedoch, dass dieser Schritt für viele Kinder

und Eltern, aber auch für viele Schulen kein einfacher ist. So ist und bleibt es wichtigste

Aufgabe, den Kindern eine adäquate niedrigschwellige Lernatmosphäre anzubieten, in der

insbesondere Verständnis für ihre besondere Lebenssituation aufgebracht wird.

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Seit August 2008 arbeiten in der Schaworalle zwei vom Staatlichen Schulamt Frankfurt

abgeordnete Lehrer mit voller Stundenanzahl, ein Grundschullehrer und ein Hauptschul-

lehrer sowie eine Förderschullehrerin mit halber Stelle. Rechtlich und formal ist die Schule

in Schaworalle anerkannter Unterrichtsort.

Die drei Lehrkräfte sind hierbei den beiden Kooperationsschulen zugeordnet, welche die

Lehrer an die Schaworalle entsenden. Alle Grundschulkinder und SchülerInnen der Se-

kundarstufe I sind somit offizielle SchülerInnen der jeweiligen Kooperationsschule. Die

Akten werden in den Schulen geführt und die SchülerInnen bekommen Zeugnisse mit dem

Briefkopf der jeweiligen Schule mit dem Vermerk, dass die Beschulung im Rahmen des

Projektes erfolgte. Diese Kooperative führt nicht zwangsläufig dazu, dass Kinder, die in

die Regelschule eingeschult werden, dann auch diese Schule besuchen. Die Einschulung

richtet sich nach anderen Kriterien (z.B. Wohnort) und bedeutet dann einen Schulwechsel.

Im Jahr 2011 wechselten acht Kinder von der Schaworalle aus in die Regelschule.

8.2 Zur Unterrichtsorganisation

Unterricht in Schaworalle wird nicht nur von den Lehrern gestaltet. Die pädagogischen

Teams der Gruppen bestehen aus den ausgebildeten Lehrern sowie Roma-Mitarbeitern und

Sozial- oder Diplompädagogen/innen, die Unterrichtsbereiche übernehmen (Englisch, Ler-

nen am Computer, muttersprachlicher Unterricht, „Natur und Technik“, Musik und Kunst).

Täglich gibt es neben dem Unterrichtsgruppen Angebote zur Einzelförderung.

Der Unterricht findet in vier Lerneinheiten statt, drei vor dem Mittagessen (2 x 75 Minu-

ten, 1 x 60 Minuten) und eine 60 minütige Unterrichtsphase danach. Schule beginnt in der

Schaworalle um 9.00 Uhr. Dennoch schaffen es nicht alle Kinder, entsprechend „früh“

aufzustehen. Aus diesem Grund wurde ein Belohnungssystem entwickelt, das pünktliches

Erscheinen entsprechend belohnt.

8.2.1 Die Vorklasse

In der Vorklasse, die seit letztem Jahr die „erste Klasse“ genannt werden will, werden

zwölf Kinder zwischen sechs und acht Jahren von einer Erzieherin betreut. Es handelt sich

um die sechsjährigen Kinder, die aus dem Kindergarten in das Schulprojekt wechseln, aber

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auch um ältere Kinder, die nicht, sehr unregelmäßig oder sehr kurze Zeit im Kindergarten

waren und denen noch viele Grundkenntnisse für den Schulbesuch fehlen. Die kleine

Gruppe ermöglicht eine intensive Förderung in allen Bereichen des ersten Lernens, insbe-

sondere im Bereich der Sprachförderung.

8.2.2 Die Grundschulgruppe

Diese Gruppe wird von Kindern im Alter von 7 bis 11 Jahren besucht und umfasst derzeit

35 Schüler. Die Regelmäßigkeit der SchülerInnen ist recht hoch, so dass oft bis zu 25

Kinder anwesend sind. Es existieren viele verschiedene Lernniveaus, die durchaus unab-

hängig vom Alter der Kinder sind. So gibt es Kinder, die schon lange in Schaworalle sind,

Kindergarten und Vorklasse absolviert haben und entsprechend leistungsstark sind, andere

hingegen waren noch niemals in einer Schule oder einem Kindergarten. Dazu kommen

einige Kinder, die noch nicht sehr lange in Deutschland sind, nur wenig Deutsch sprechen

und verstehen, aber zum Teil gute schulische Vorkenntnisse mitbringen. In den letzten

Jahren wechselten zudem verstärkt Kinder aus Regelschulen in die Schaworalle, die den

Unterricht dort entweder nicht oder zu unregelmäßig besucht hatten, bei denen gegen den

Willen der Eltern der Wechsel in die Förderschule empfohlen wurde oder bei denen Prob-

leme verschiedenster Art einen Wechsel der Schule nahelegten. Neben dem Lehrer gehö-

ren zwei pädagogische Hilfskräfte zum Grundschulteam. Zudem ist hier auch der Haupt-

einsatzort der Förderschullehrerin. Übergeordnete Lernziele sind die Vermittlung von Ba-

siskompetenzen im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen. Außerschulische Lernerfah-

rungen wie der Besuch bei der Feuerwehr oder Theater können Neugierde und Interessen

wecken. Neben den Kernfächern Mathe, Deutsch und Sachkunde gibt es in der Grund-

schulgruppe Englischunterricht in zwei Gruppen, Lernen am Computer, Kunst, Sport und

Schwimmen.

8.2.3 Die Mittelstufe

In der Mittelstufe werden diejenigen Kinder zwischen 11 und 13 Jahren unterrichtet, die

die Grundschulgruppe erfolgreich absolviert haben, lesen und schreiben können sowie die

Grundrechenarten verinnerlicht haben. Dennoch nehmen auch Kinder, ohne entsprechende

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Grundkenntnisse am Unterricht teil. Es wird versucht, den Unterricht so weit wie möglich

dem Stoff der fünften und sechsten Klasse anzupassen.

8.2.4 Die Hauptstufengruppe

In der Hauptstufengruppe werden diejenigen Kinder und Jugendliche zwischen 14 und 16

Jahren schulisch betreut,

die schon lange die Projekteinrichtung besuchen und bei denen trotz diverser Ver-

suche kein Besuch in der Regelschule gelungen ist,

die im eigenen kulturellen Zusammenhang schon „Erwachsene“ sind und denen die

Eltern keinen Schulbesuch mehr erlauben,

die von Regel- oder Förderschulen aufgrund diverser Probleme zur Projekteinrich-

tung wechseln.

In der Hauptstufe werden dieselben Fächer unterrichtet wie in der Mittelstufe. Statt dem

Fach Gesellschaftslehre werden allerdings die Fächer Geschichte und Biologie unterrichtet.

Der Unterrichtsstoff orientiert sich an den Klassenstufen 7 bis 9. Dennoch gibt es auch hier

immer wieder „Schulanfänger“, die zum Teil noch alphabetisiert werden müssen oder eine

entsprechende Einzelförderung dringend benötigen. Diese SchülerInnen werden ein bis

zweimal wöchentlich in einer Kleingruppe oder im Computerraum gefördert. Derzeit gehö-

ren 16 SchülerInnen zur Hauptstufengruppe.

Diejenigen SchülerInnen der Hauptstufengruppe, die sich im letzten Schulbesuchsjahr be-

finden und leistungsmäßig ein entsprechendes Kompetenzniveau erfüllen, bilden die Leis-

tungsgruppe. Ziel der Leistungsgruppe ist die Vorbereitung zur Erlangung des QHA. Diese

Gruppe erhält viermal wöchentlich auch am Nachmittag entsprechenden Unterricht in den

Prüfungsfächern Deutsch, Mathematik und Englisch. Im Jahr 2011 haben zwei Schüler den

Hauptschulabschluss bestanden, davon einer den QAH.

9. Auswertung des Interviews: Zwischen Antiziganismus und In-

tegration

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9.1 Intention des Forschungsansatz

Nach der kurzen Skizzierung des Minderheitenschutzes, um Integrationsbemühungen des

deutschen Staates, insbesondere für den Bereich der Bildung, ableiten zu können, und der

Darstellung der Projektkonzeption, bieten die folgenden Ausführungen im Rahmen des

Fallbeispiels Potenzial für den Frankfurter Raum lokale Erkenntnisse für die anfangs be-

nannten Fragestellungen zu finden. Hinzu kommt, dass die Projektkonzeption durch ihre

Modellhaftigkeit zahlreiche Ausgangspunkte für eine integrative und auf den Schutz der

Roma-spezifischen Traditionen ausgerichtete öffentliche Auseinandersetzung aufzeigen

kann. So scheint Schaworalle einen konkreten Ansatz dahingehend zu liefern, sowohl ver-

trauensstiftendes Bindeglied zwischen Mehr- und Minderheit als auch institutionell eine

schützende und bewahrende Funktion gegenüber traditionellen Elementen der Roma-

Kultur auszuüben.

9.2 Methodische Kurzdarstellung: Transkription des Materials

„Transkription (lat. trans-scribere = umschreiben) bedeutet das Übertragen einer

Audio- oder Videoaufnahme in eine schriftliche Form.“ (Dressing/Pehl 2011: 10)

Dabei wird das Gesprochene schlichtweg digitalisiert, um alle relevanten Äußerungen ei-

nes Befragten zu sichern und sie für eine anschließende Analyse bereitzustellen. Dabei soll

ein Konsens zwischen Detailtreue (Exaktheit) und Übersichtlichkeit (sinnvolle Umsetzbar-

keit) getroffen werden. Gerade bei einer reinen Sprachaufnahme (ohne visuelle Unterstüt-

zung) können jedoch zum Teil sehr aussagekräftige Aspekte der Gesprächssituation (Mi-

mik, Gestik, Angespanntheit, Gelassenheit etc.) nicht berücksichtig werden. (vgl. ebd.:

10f)

Die Transkription der Interviews dieser Erhebung erfolgte in Anlehnung an Dresing und

Pehl (2011) nach einfachen Transkriptionsregeln. Vor allem um dem Umfang dieser Arbeit

gerecht zu werden, wurden starke Vereinfachungen vorgenommen.

Hinweise zur einheitlichen Schreibweise:

Ausschreibung von Zeichen und Abkürzungen

Groß- und Kleinschreibung englischer Begriffe nach den Regeln der deutschen

Rechtschreibung

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Kleinschreibung der Anredepronomen der zweiten Person, Großschreibung der

Höflichkeitsanredepronomen

Zahlen von null bis zwölf werden im Fließtext geschrieben, größere Zahlen in Zif-

fern, Zahlen mit kurzen Namen werden ebenfalls ausgeschrieben, Dezimalzahlen

hingegen nicht

Wörtliche Wiedergabe von Redewendungen/ Idiomen

Wörtliche Rede wird mit Anführungszeichen kenntlich gemacht (vgl. ebd.: 18)

Transkriptionsregeln:

Die Transkription des Materials erfolgt wörtlich (nicht lautsprachlich oder zusam-

menfassend) und Dialekte werden wörtlich ins Hochdeutsche übertragen.

Wortverschleifungen werden nicht übernommen.

Um die Lesbarkeit zu unterstützen, werden Interpunktionen geglättet. Es wird bei

kurzen Pausen eher ein Punkt als ein Komma verwendet.

Drei Auslassungspunkte in Klammern kennzeichnen Pausen.

Ignorieren von zustimmenden/ bestätigenden Äußerungen wie „Mhm“. Auf die

Transkription von Äußerungen wie „mhm“, „ehm“, „äh“ etc. wird verzichtet.

Bei besonderen Betonungen werden Großbuchstaben verwendet.

Absätze machen jeden Sprachbeitrag kenntlich.

Nonverbale und emotionale Äußerungen werden in Klammern notiert.

Kennzeichnung von unverständlichen Wörtern/Äußerungen durch „(unv.)“. Bei

längeren Störungen ist die Ursache zu notieren.

Der Interviewer erhält das Kürzel „I“, der Befragte ein „B“ bzw. „B1“, „B2“ usw.

(vgl. ebd.: 16f)

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9.3 Transkription des Interviews vom 2. Mai 2012

I: Interviewer (Benjamin Bender)

B: Befragte (Sabine Ernst, Leiterin der Schaworalle)

I: B: I: B: I: B: I: B:

Wie entstand das Projekt „Schaworalle“? Also ganz wichtig ist mir, dass die Projektinitiative nicht am „grünen Tisch“ ent-standen ist, sondern sich eben mit ihren ganzen Bausteinen aus der praktischen Arbeit heraus entwickelt hat. Welche Rahmenbedingungen der Stadt Frankfurt oder des Fördervereins Roma e.V. führten überhaupt dazu, dass es zu diesem Projekt kam? Gut, da ist erst mal […], dass es Mitte der Neunziger das Thema „Roma-Kinder auf der Straße – Kinder aus Rumänien und was kann gemacht werden?“ gab. Die Kin-der sind nicht in die Schule gegangen, die Kindergärten und Institutionen hatten keinen Zugang und der Problemdruck beim Jugendamt wurde größer, weil es eben die Beschwerden gab und so kamen wir dann zusammen um ein kleines Projekt anzufangen. Das war damals finanziert vom Jugendamt […]. Und dann war so die Entwicklung, dass wir irgendwann gemerkt haben, „kleines Projekt mit schnellem Übergang in die Regelschule und andere Institutionen“ funktioniert so nicht. Und dann gab es 1998 das Gesetz zum rechtmäßigen Anspruch auf einen Kindergarten-platz, dass uns quasi den Zugang zur Regelfinanzierung ermöglichte. Damals sagte das Stadtschulamt, welche für das Betreiben von Kindergärten und die Gebäude von Schulen zuständig sind, „Okay, das gilt auch für euch. Ihr könnt eine Kita auf-machen“. Der dritte Schritt war dann, die Überzeugung des staatlichen Schulamtes und das Finden der Kooperationsschulen um quasi das dritte Modul, nämlich die „Schule im Haus“ irgendwie mit einzubinden. Also, das war so die Situation… Ja, Auslöser war also das Jugendamt, weil dort viele Beschwerden eingegangen sind… Ja genau! Das war so der Auslöser für die Arbeit überhaupt. Wie kann man die Situation vieler Sinti und Roma zu diesem Zeitpunkt beschrei-ben? Gab es überhaupt statistische Daten darüber, wusstet ihr darüber Bescheid? Wir hatten ja damals schon seit 1995 den Förderverein Roma e.V. und es gab da-mals schon die Beratungsstelle. Dort hatten wir mit vielen rumänischen Familien, um deren Kinder es damals auch ging, im Rahmen der Beratung zu tun. Die Situati-on der Familien war damals ziemlich desolat. Also es waren relativ viele Leute, die nach Frankfurt kamen und erst mal ziemlich unsicher gelebt haben… in miserablen Wohnungen im Bahnhofsviertel, zusammengepfercht in Unterkünften mit vielen

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Leuten auf engem Wohnraum und versucht haben irgendwie Fuß zu fassen. Mit was für Zahlen hattet ihr es da zu tun? Zahlen sind ja immer schwierig, denn es wird ja niemand nach Roma-Zugehörigkeit oder sonst irgendwas registriert. Wir gehen immer so von ca. 2500 Roma und Sinti im Rhein-Main-Gebiet aus. Aber wie diese Zahl sich im zeitlichen Verlauf unter-scheidet, z.B. Mitte der Neunziger im Vergleich zu heute, dass wissen wir nicht. Das ist so eine ganz grobe Richtzahl. Unterstützung dann bei der Initiative, sagten Sie, war der Verein und das Jugend-amt? Ja gut der Verein ist ja der Träger und wir sind ja erst mal ein gemeinnütziger Ver-ein ohne Eigenmittel und brauchen Geld, um Ausgaben decken zu können. Deshalb wurden wir erst vom Jugendamt unterstützt, und dann auch, ganz wichtig, vom Stadtschulamt. Im Jahr 2000 kam das staatliche Schulamt hinzu mit der Finanzie-rung der Lehrerstellen und allem was den Bereich der Schulmaterialien betrifft. Gab es denn irgendwie öffentlichen oder politischen Widerstand gegen diese Pro-jektinitiative? Denn das hört sich ja jetzt alles so an, dass die Initiative sehr dankbar in der Öffentlichkeit aufgenommen wurde… Es wurde schon nicht nur dankbar aufgenommen. Es war schon so, dass es auch eine politische Entscheidung gab, ob das Projekt umgesetzt wird. Zum Beispiel war der Ortsbeirat I, also der Ortsbeirat für die Innenstadt hier, überhaupt nicht dafür, dass wir nun genau hier in die Innenstadt kommen. Denn die haben ja auch gesagt „wir haben ja hier schon genügend andere Probleme mit der Konstabler Wache und den Dealern, wie auch immer … und jetzt kommen auch noch die Roma“ … Außer-dem wurden wir auch ganz stark als Problemfeld angesehen, unter Umständen zum Teil auch immer noch. Das erfährt man ja nicht immer so direkt, weil erst mal fin-den alle das gut, „dass man was macht“. Aber das es die Vorbehalte gibt, die auch keiner politischen Linie klar zuzuordnen sind, sondern die das ganze Spektrum ab-decken, das wissen wir. Ihr zitiert ja in eurem Jahresbericht auch diese repräsentative Umfrage des Insti-tuts TNS für Markt- und Meinungsforschung, wo die erschreckenden Daten veröf-fentlicht wurden, dass „68 Prozent der Deutschen keine Roma als Nachbarn haben wollen“. Wie äußert sich das hier konkret, könnt ihr das bestätigen bspw. durch Widerstände gegen das Projekt? Ja sicher. Das können wir einfach sehr banal dadurch bestätigen, dass wir z.B. ewig gebraucht haben um erst mal auch nur Räume für die Kita zu finden. Auf dem freien Markt haben wir gar nichts gekriegt, das ging also nur darüber, dass das hier ein Gebäude von einer städtischen Gesellschaft ist. Außerdem lässt sich dies relativ aktuell nochmal damit belegen, dass die anderen Bereiche des Vereins, also das Erwachsenenbildung-Projekt, die Beratungsstelle usw., die jetzt in der Kaiserstraße

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untergebracht sind. Die haben vier Jahre gebraucht … bis sie was gefunden haben und wir reden ja immer von Projekten die Geld haben. Wo es also nicht darum geht, „Um Himmels Willen, können die die Miete zahlen?“, sondern wo eine sichere Fi-nanzierung dahinter steht und wo es um Räume geht, in denen durchaus andere soziale Projekte auch schon sind, die beispielsweise mit Migranten arbeiten. Wir mit unseren Roma-Projekten werden immer nochmal als was Anderes, als was Ge-fährlicheres oder Schwierigeres angesehen werden. Und das ist ein ganz klar dis-kriminierendes Moment! Worin könnten die Gründe für diese schwierigeren Verhältnisse, im Vergleich zu anderen Gruppen, liegen? Das sind die Bilder, die Vorurteile, alte Bilder… Also wer hier rein kommt, der sieht hier eine Kindertagesstätte mit Kindern, Mamas und Omas und ein buntes Gewusel von Kindern, die hier spielen. Warum das in den Köpfen so vieler Menschen was Gefährliches sein soll, dass … muss man die anderen Leute fragen. Das verstehe ich bis heute nicht. Aber zum Beispiel als wir anfangs Räume gesucht haben und bevor wir mit den Vermietern direkt reden konnten, hat sich schon mal das zuständige Polizeirevier gemeldet, um Probleme PRÄVENTIV zu besprechen. Da kann man sich vorstellen, dass man so keinen Mietvertrag bekommt. Aber diese Information ging sofort weiter, sogar in den Ortsbeirat des Stadtteils Nordend. „Man hat schon mal präventiv mit der Polizei geredet und die dann auch schon mal präventiv angeru-fen…“ Also das sind dann so die ganzen… Das ist bei anderen Gruppen nicht so? Nein! Also wenn man eine Kindertagesstätte aufmacht, HALLO!? Warum sollte man dann mit der Polizei reden? Ja… Welche Erfahrungen aus diesem Bereich bringen denn vielleicht die Kinder oder die Familien mit? Das waren ja jetzt eher schwierige, … … das sind die institutionellen! Und das kann man ganz leicht runterrechnen: Wenn wir das schon als INSTITUTION so abkriegen oder erfahren … und man reagiert ja auch entsprechend darauf! Das ist ja auch wirklich immer wieder eine Kränkung, wo man sagt „Das kann doch wohl nicht wahr sein! Man macht hier eine Arbeit, die überall anerkannt wird und dann sagt jemand: Ich vermiete euch nichts, weil ihr mit dieser Gruppe arbeitet“ … wenn man das runterbricht auf das, was die Familien täglich erleben … dann kann man sich vorstellen, dass hier KEIN Kind kommt, das diese Erfahrungen NICHT gemacht hat. Und sei es nur durch Blicke, sei es in der U-Bahn oder durch ewige Kontrollen, also alles, was so diesen alltäglichen Rassismus ausmacht. Das kennen alle Kinder! Das überträgt sich wahrscheinlich auch über die Familien, weil die Eltern wahr-scheinlich auch schlechte Erfahrungen gemacht haben… Natürlich! Klar! Die Haltung, die Kinder einnehmen, ist ja auch erst mal die Haltung

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der Eltern. Wie ist das mit dem Aufenthaltsstatus? Ist das kein Thema oder haben viele Fami-lien diesbezüglich eine abwehrende Haltung, weil sie nicht wissen, ob sie „aner-kannt“ sind oder nicht? Gut… Das hat sich ja ein Stück weit auch geändert seit Rumänien in der EU ist. Vor-her war natürlich das Thema „Aufenthalt“ ein ganz großes. Wir hatten über Jahre oder Jahrzehnte, Leute mit Duldung, mit Ketten-Duldung, ungeklärter Staatsange-hörigkeit und da hat sich natürlich jetzt viel verändert. Allerdings haben wir immer noch die ganze Palette von Leuten, die immer noch einen Duldungsstatus haben, weil sie z.B. keine rumänischen Papiere haben oder kriegen … bis hin zu Leuten, die auch schon eine deutsche Staatsangehörigkeit haben. Aber wir erleben auch da immer wieder die Schwierigkeit, wenn z.B. eine Familie, die jetzt Neu-EU-Bürger ist, das heißt auf Freizügigkeit hier ist, in Not gerät und soziale Unterstützung braucht… Dann setzt die Ausländerbehörde wieder ein. Dann wird nämlich die Frei-zügigkeit entzogen und zur Ausreise aufgefordert! Und außerdem ist die Auslän-derbehörde auch immer noch eine große Ordnungsbehörde… In diesem Zusam-menhang spielt auch manchmal der Kinderschutz eine Rolle: „SO KANN MAN NICHT LEBEN! IHRE KINDER SIND SO IN GEFAHR…“ Das verschreckt natürlich viele Familien auch so, dass sie dann sagen „Wir gehen lieber, bevor uns jemand unsere Kinder wegnimmt.“ … Ihr schreibt ja auch in eurem Jahresbericht von 2011, dass ihr „Schutzraum für Ro-ma-Kinder“ seid. In welchen Bereichen ist denn „Schutz“, als solcher besonders wichtig? Die Schaworalle ist ein Stück weit „Schutzraum“ in dem Sinne, dass man hier „Rom“ oder „Roma“ sein darf, mit allem was dazu gehört. Das heißt, mit der Familie, mit den Traditionen, mit den Ängsten, Sorgen, Nöten, aber auch mit dem Spaß und mit der Sprache. Schaworalle ist ein Raum, in dem man an dem Potenzial und den vor-handenen Möglichkeiten arbeiten können. Insofern „Schutz“, dass nicht ständig jemand kommt der sagt: „Du musst aber anders sein!“ … Ich habe in eurem Jahresbericht gelesen, dass ihr auch für viele Kinder beispiels-weise im Bereich der Gesundheit Schutz-Impfungen im Rahmen des Projektes ein-geführt habt. Das bezieht sich ja auch auf so was. Bei eventuell auftretenden For-derung bzgl. der Ausreise von Familien, seid ihr dann auch vertretendes Organ? Solange das geht ja. Wir haben ja natürlich die Beratungsstelle und dort geht es auch viel um solche Themen. Früher noch viel mehr, aber heutzutage natürlich auch noch. Früher gab es viele Petition und juristische Widersprüche, usw. Allerdings geht das auch immer noch bis zu einem bestimmten Punkt und dann muss ein An-walt ran… Also ab irgendeinem Punkt sind Beratungsstellen dann nicht mehr ver-tretungsberechtigt. Gut… Jetzt würde ich gerne noch etwas zu dem Bildungskonzept der Schaworalle

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wissen… Vielleicht als erste Frage: Welche zentralen Inhalte markieren das Bil-dungskonzept der Schaworalle und was unterscheidet dieses vielleicht auch zu anderen Bildungskonzepten? Kann man das so … BILDUNGSKONZEPT ist erst mal so ein großes Wort. Ich sage erst mal, früher ging es uns erst mal darum, den Kindern, die überhaupt keinen Zugang zu Bildung hat-ten, Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Also da ging es ganz nied-rigschwellig um Basiswissen … und dass sie zumindest irgendwas in der Hand ha-ben. Heute ist unser Ziel eigentlich der qualifizierte Hauptschulabschluss mit Über-gang in … möglicherweise ein Berufsleben. Ansonsten geht es in unserem Bildungs-konzept darum, den Kindern so viel wie möglich beizubringen, ihnen auch Wissen über diese Gesellschaft beizubringen, aber auch in dem Sinne, dass sie selbst sich mit ihren Familien überlegen „Wo stehen wir und wo wollen wir hin?“ … Ja … Das ist im Grunde so ein Paulo Freire-Ansatz oder wie auch immer… Man setzt also an den eigenen Kräfte der Leute an und guckt, wohin können wir uns entwickeln um dann irgendwann selbstbewusst in dieser Gesellschaft zu stehen. Ja… Beispielsweise wird in den Bewertungen des Europarates zum Minderheiten-schutz seit 2002 kontinuierlich Bildung bei Sinti und Roma als zentrales Problem-feld aufgeführt. Dazu gehört die Feststellung, dass Sinti und Roma „übermäßig in Förder- und Sonderschulen vertreten sind.“ Also dass gerade in diesem Bereich die „Schranke“ ziemlich groß ist … Was könnt ihr dazu sagen? Das erleben wir auch regelhaft. Wir erleben es auch, dass Kinder, die bei uns aus dem Kindergarten raus eigentlich mit einer guten Prognose losgehen, recht schnell und recht oft in den Schulen resignieren … und dann unter Umständen überprüft werden und zur Sonderschule gehen. Gesamtgesellschaftlich kommt es unglaublich oft vor, dass eben, … Migranten-Kinder kommen sowieso oft in die Sonderschule, … und Roma-Kindern eben nochmal prozentual mehr. Das ist natürlich auch was, was viele Familien auch sehr beleidigt. Ja … Und das natürlich der Anspruch auf INKLUSION, den wir jetzt so großartig haben, … den gibt’s ja noch in keiner Weise in irgendeiner umgesetzten Form, so dass es letztlich dann doch wieder die Sonderschule ist und da wird es mit dem regelmäßi-gen Schulbesuch und den genannten Zielen, usw. immer schwieriger. Darum ist es uns eigentlich auch sehr wichtig zu sagen, „Wir sind nicht eine besondere Einrich-tung“, sondern „Wir sind Regelschule“ hier im Haus. Ja, das bestätigt sich ja auch dadurch, dass die Schulakten … … in den Regelschulen geführt werden und eben nicht in der Förderschule! OHNE ZU SAGEN, das ist mir noch wichtig, dass die Förderschulen keine gute Arbeit ma-

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chen… Das meine ich nicht! Da gibt es tolle Lehrerinnen und tolle Lehrer und die bemühen sich wirklich sehr und tuen viel für die Kinder. Nur das Stigma, das damit verbunden ist, das ist nun mal da! Ja … Klar… Welche Kooperationen habt ihr denn? Also ihr kooperiert mit zwei Schulen… Arbeitet ihr denn noch mit anderen Institutionen zusammen? Gut wir arbeiten ja hier mit sehr vielen zusammen. Also natürlich arbeiten wir mit dem Jugendamt zusammen, ich bin in einigen Gremien zum Thema Kinderschutz, wir arbeiten mit dem Stadtschulamt zusammen als unseren Hauptfinanzier, mit dem staatlichen Schulamt, was alles zum Thema Schule, Bildung, Lehrer, Lehrerfortbildung und all so was angeht … Also das sind so die drei Kernbereiche. Außerdem arbeiten wir intensiv mit dem Amt für multikulturelle Angelegenheiten zusammen, sehr viel mit Hochschulen, Erzieherschulen, allen möglichen… Wir ha-ben ein sehr großes Netzwerk an Menschen, die sich für das Thema „Interkulturelle Erziehung“ interessieren und auch mich zum Beispiel einladen – oder ich nehme dann zum Beispiel immer noch einen Roma-Kollegen mit – oder hierher kommen und sich unser Projekt angucken. Es gibt einen großen Arbeitskreis Roma, wir arbei-ten auch mit vielen Schulen im Sinne von Fragen einfach zusammen. Also wir sind ein Stück weit auch Anlaufstelle für alle Themen rund um das „Roma-Kind“, sag ich jetzt mal so. Da gibt’s einfach ganz ganz viel… Und um das nicht zu vergessen: Es gibt ja noch das bundesweite Netzwerk all der Vereine, die eben auch mit Roma arbeiten. Ihr schreibt in eurem pädagogischen Konzept, dass das Wichtige bei der täglichen Arbeit, ein „am Gemeinwesen der Roma orientiertes pädagogisches Denken“, ist. Was bedeutet denn „das Gemeinwesen der Roma“ in diesem Sinne? Man muss davon ausgehen… es ist einfach so, dass die Roma eben auch eine Ge-meinde oder ein Gemeinwesen – finde ich immer einen schöneren Begriff, weil „Gemeinde“ klingt immer so religiös – also ein Gemeinwesen für sich sind. Wir ar-beiten hier mit einer Gruppe von Leuten, die fast alle aus einer bestimmten Gegend in Rumänien kommen. Und von daher auch einfach eine Gemeinde … ein Gemein-wesen bilden mit denen die „oben“ stehen, denen die „unten“ stehen, jeder kennt jeden, jeder weiß, wer mit wem verheiratet, verschwägert oder sonst wie war oder irgendwann mal Streit hatte. Und dieses ganze Familiäre oder auch Gemeinwesen spielt im Leben der Familien und natürlich auch der Kinder eine riesen Rolle… Fami-lie spielt eine riesen Rolle, aber auch das „Romanipe“, so nennt sich die Gemeinde der Roma, an sich… Und es ist sehr wichtig, darüber auf Dauer auch Bescheid zu wissen: Wer wo ist, wer welchen Stand hat, warum bestimmte Kinder mit anderen irgendwie überhaupt nicht können und oder… Da spielen natürlich unsere Roma-Mitarbeiter eine ganz große Rolle, die ja selber Roma sind und zum Teil aus dem gleichen Gemeinwesen kommen, aber ansonsten auch immer wieder UNS erklären können, wenn irgendwas so ist, dass WIR es nicht verstehen… Also, dass ist so die zentrale Anforderung, die ein Lehrender hier so mitbringen muss, dass er sich über die familiären Strukturen bewusst ist…

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… dass er zumindest grundsätzlich weiß, mit wem er es zu tun hat … Ich denke, man kann nicht mit Roma arbeiten nur aus dem Bild heraus „Ich würde das gern mal machen“, sondern man muss sich eben – wie überall anders auch – auch fundierte Kenntnisse verschaffen. Also auch, „Warum sind bestimmte Sachen so?“, „Komme ich damit zurecht?“, „Kann ich das?“ … und dann denke ich mich dann auch wirklich ein Schritt mehr ein, weil ansonsten … macht es auch keinen Spaß … Sonst stoßen auch Lehrer oder Erzieher immer wieder an ihre Grenzen, wo eben Menschen „an-ders“ sind und du kannst es dir nicht erklären. Das kannst du dir eben nur erklären, in den du mal kapiert hast, wie dieses Gemeinwesen einfach tickt … oder was wich-tig ist und was unter Umständen auch nicht so eine große Rolle spielt. Warum z.B. Schule nicht so eine Rolle gespielt hat und sich quasi … erst beweisen muss, diese Rolle zu spielen, welche sie eben in der anderen Gesellschaft hat. … Wie ist das denn mit der Sprache? Hier gibt’s ja Roma-Betreuer und Nicht-Roma, die die Lehren … könnt ihr alle rumänisch sprechen oder … Also rumänisch … wir haben eine rumänische Mitarbeiterin, aber ansonsten ist die Sprache der Roma ja das Romanes. Und wer hier lange arbeitet, also wie ich zum Beispiel, der kann das wohl oder übel irgendwann. Ich hab’s auch einigermaßen gelernt, ich verstehe fast alles, spreche so vor mich hin und ansonsten verstehen die meisten eine ganze Menge … also die, die lange dabei sind. Und insbesondere bei den Kindern ist es auch wichtig, die schlimmsten Schimpfworte zu kennen … Das man mal dazwischen gehen kann… [lacht] Ja, dass man mal dazwischen gehen kann und das Kind auch kapiert, so jetzt wird’s wirklich ernst! Wie gestaltet sich denn der Übergang Schule – Beruf für Jugendliche, die hier ihren Hauptschulabschluss gemacht haben? Das wird ja auch immer wieder als beson-ders schwierig bewertet… Habt ihr da auch ein Netzwerk … Das ist ein ganz schwieriger Bereich und zwar erstens natürlich, aufgrund der Tat-sache, dass es nicht so einfach ist eine Ausbildungsstelle zu finden. Also da, leisten wir natürlich auch Hilfestellung oder gucken auch. Zum Beispiel ein Mädchen, die jetzt noch einen Realschulabschluss draufsetzt, macht hier noch einen Mini-Job und will dann Erzieherin werden. Also so gucken wir schon mal. Allerdings in verschie-denen Bereichen sind es da auch oft die Traditionen, die dem Ganzen im Wege ste-hen, so dass die DAMEN UND HERREN oft auch, in die elterliche Firma übergehen, sag ich jetzt mal so… Dass die Jungs, dann eher mit dem Vater auf Handel gehen und die Mädels das Heiraten als Ziel haben, oder so. Gut, dann arbeiten sie schon mal als Verkäuferin oder so im kleinen Bereich … Aber so den GROßEN WURF – das habe ich vorhin gemeint mit dem „Schule muss sich auch beweisen“ oder die Sinn-haftigkeit von dieser Art Ausbildung – es ist verdammt schwer … Auch mit einen bestimmten Nachnamen auch nur eine Stelle als Verkäuferin zu kriegen.

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Solche Probleme gehen dann wahrscheinlich auch über in den Förderverein Roma e.V.? Der Förderverein Roma spielt da natürlich auch eine Rolle, aber letztlich ist das auch eine Sache, da müssen die Kids auch selber ran. Da kann man natürlich im letzten Schuljahr immer auch drauf hin arbeiten, aber es rutschen ja auch immer wieder Kinder nach… Wenn einer ein Jahr draußen ist, dann ist es irgendwann auch mit der Förderung vorbei. Natürlich ist es bei denen, die ihren Hauptschulabschluss NICHT geschafft haben … für die gibt es dann das „Bildungsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene“. Und die steigen dann da nochmal ein und kriegen dann nochmal eine Chance. Gut… Vielleicht jetzt nochmal zum Thema „Integration im Alltag“, so habe ich das genannt… [Tür geht auf und Kinder schauen in den Raum] Ihr schreibt: „Schaworalle ist auch Schutzraum, achtet die Regeln und Gesetze der Roma und versucht, zwischen den Welten der Mehrheit und der diskriminierten Minderheit durch den AUFBAU VON VERTRAUEN zu vermitteln.“ … Wie kann man so ein Vertrauen erreichen, wo fängt das an, kann man Vertrauen erreichen, indem man lange Zeit vor Ort ist und „keine Autos geklaut werden“ oder … Es geht ja um Vertrauen nach beiden Seiten. Zum einen ist natürlich die Arbeit mit den Familien, diejenige… also die wichtigste. Dass die Familie einem vertrauen, und man irgendwie ganz viel weiß, kennt und auch zu Rate gezogen wird bei allen mög-lichen Problemen und eben auch so was bekommt wie die kostbarsten Kleinkinder zur Betreuung. Das ist ja schon mal ein riesen Vertrauen, weil ganz am Anfang war das was völlig Undenkbares. Dass also „Mini’s“ betreut werden. „Dreijährige? Um Himmels Willen seid ihr wahnsinnig!“ Auf der anderen Seite geht es auch nach au-ßen so, dass natürlich auch die Institutionen, auch die Schulen, auch die Jugendäm-ter usw. erst mal gucken müssen, „Was sind das denn für welche?“, „Kann man denen vertrauen?“, „Achten die auch UNSERE Regeln?“, „Kümmern die sich genü-gend um die Schulpflicht oder um das Kindeswohl oder die Einhaltung von allen möglichen Hygiene-Regeln?“ oder was auch immer… Da wird man eben mit der Zeit auch zu einem Vertrauten von Leuten, die kapiert haben, dass das wirklich alles mit rechten Dingen zu geht und dass man auf das was wir sagen, eben auch bauen kann. Dass das ein Fundament hat und nicht nur was daher Gesagtes ist. Es geht ja jetzt eher so um das Vertrauen mit Behörden, Ämtern und Institutionen … Klar! Wir müssen ja auch viel vermitteln, weil einige Familien, insbesondere auch Großeltern oder Roma, die noch sehr misstrauisch sind und auch relativ schlecht deutsch sprechen, bei denen z.B. Papier-mäßig gar nix geregelt ist. Und die dann eben auch den Kontakt mit dem Jugendamt z.B. oder einem Amtsvormund oder einem Rechtsanwalt ganz furchtbar scheuen und da eine fürchterliche Panik vor haben. So was findet dann hier statt. Gemeinsam?

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Gemeinsam! Und dann kriegen auf der einen Seite die Anwälte oder die Jugend-amtsleute irgendwie so ein Bild davon und auf der anderen Seite beruhigt das dann eben auch immens, dass das dann eben auch funktioniert und das diese Leute nicht nur „böse Menschen sind, die einem die Kinder wegnehmen wollen“. Sondern dass man dadurch eben auch was Gutes erreichen kann. Vielleicht noch zum Vertrauen mit der Bevölkerung auf der Straße… Wie kann das sich entwickeln? Keine Ahnung. [lacht] Gut, dass ist so ein Feld, das ist ein so langes, LANGWIERIGES und auch FRAGILES Thema. Das kann jeder Zeit wieder kaputt gehen … Man entwickelt ein gewisses Standing irgendwo, sei es hier in der Straße, hier sind wir jetzt seit 2002, seit 10 Jahren: Wir haben ein gutes Verhältnis zum Gemüse-Händler, zu den Nachbarn und zu wem auch immer, wer hier alles so rumspringt … Wenn allerdings morgen was Schlimmes passieren sollte, … irgendein Rom beklaut den marokkanischen Laden … wäre ich mir NICHT sicher, ob wir nicht ALLE wieder unten durch wären … Das sind immer so die Punkte: Es baut sich so was auf, man muss immer auch aufpassen, dass sich so was dann nicht VERHERRLICHT, denn wir sind alle auch nur Menschen, nicht Über-Menschen oder sonst irgendwas … Es kann auch hier immer mal ein Feh-ler passieren oder es klaut dann wirklich mal einer … und dann setzt das Feindbild wieder ein, manchmal ganz doll. Das ist genau wie in Schulen eben auch, wenn kleine Kinder in die Schule kommen, ganz begeistert sind, was lernen wollen und machen und Lehrer sich ganz ganz viel Mühe geben ... und kaufen dem Kind noch extra einen Schulranzen, kümmern sich Mittags um die Nachhilfe, machen und tuen … und plötzlich kommt DIESES Kind nicht mehr. Dann ist die Enttäuschung DERAR-TIG groß, dass dann ganz schnell wieder so ein Rassismus hinten raus geholt wird … Und da sitzt natürlich immer eine Gefahr drin, also das heißt, dieses NORMALE Verhältnis „es gibt SOLCHE und SOLCHE“ bei uns wie überall anders auch … das ist ein schwieriges! Wann das mal so sein wird, dass nicht jemand sagt zum Thema Roma „Ich weiß wie DIE sind!“ nämlich so, so oder so … da gibt’s ja immer auch nur drei oder vier Möglichkeiten. Das weiß ich auch nicht! Das ist das große Fragezeichen … Ja, das ist ein GROßES Fragezeichen! [I und B schweigen 6 Sek.] Was könnte man denn zielführend als „Integrationsverständnis“ anstreben? Das ist ja hier schon ein Konzept, dass gegenseitiges Vertrauen aufbauen und gegenseiti-ges Kennenlernen fördern soll. Ihr präsentiert euch ja auch öffentlich, z.B. bei Fes-ten, wo Besucher ... Ja wir machen Feste, machen die Schaworalle auf, laden Besucher ein… Ich darf auch kommen und es dürfen auch andere Leute kommen…

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Ja natürlich. Wir haben viel Besuch! Wir müssen manchmal aufpassen, dass wir nicht zu viel Besuch haben [lacht], damit sich unsere Kinder nicht vorkommen wie die ZOO-TIERCHEN oder als wären sie wirklich was GANZ BESONDERES, dass immer besucht oder angeschaut wird. Integration ist auch immer so ein großes Wort! … Also ich denke mir wäre es ganz wichtig, dass die Roma … Roma sein können und in dieser Gesellschaft so auch anerkannt sind! Und sich einfach der Blick auch dafür öffnet, dass das ganz ganz unterschiedliche Menschen sind. Ich will damit gar nicht sagen, dass es nicht auch BÖSE gibt, aber es gibt eben auch nicht NUR BÖSE, wie eben überall anders auch. Und das ist eben so dieser ganz einfache Blick: Wenn die Roma-Mutter mit ihrem Kind in die Schule geht, dass da eben nicht sofort Defizit-orientiert geguckt wird, sondern das man sagt „Och wie schön, das Kind kommt richtig, ist gerade erst 6 Jahre, wird jetzt eingeschult … Jawohl und gleich rein in die erste Klasse“ … … und das gibt Vielfalt … Genau und nicht so „Ach um Himmels Willen ein Roma-Kind… Das schicken wir gleich mal in die Vorklasse oder überprüfen schon mal sofort.“ Das gibt Vielfalt. Roma sind eben auch – und das ist mir ganz wichtig – eine Kultur, die ganz viel von dem hat, was unseren Gesellschaften auch verloren gegangen ist. Zum Beispiel die-ses ganze Familienorientierte, sich kümmern um andere, ist als völlig selbstver-ständlich anzusehen … auch jederzeit für die Familienmitglieder da zu sein … das sind ja viele Sachen, die sind vielen von uns auch sehr fern … und da ist eine junge Roma-Frau, deren Tante irgendetwas hat, die würde nie auf die Idee kommen zu sagen „Hier Tante, ich habe heute keine Zeit.“ Also geht es auch ein bisschen darum, dass man diese individuelle Identität schützt? Ja natürlich! In der Vergangenheit war ja oft Integration im Sinne einer Assimilation gemeint, also in dem Sinne „Wir müssen die Gesellschaft HOMOGEN“ machen. Ich denke, da haben ja viele Beispiele gezeigt, dass das nicht … Dass das Blödsinn ist. Aber ein Stück weit ist ja schon auch hier die Frage, dass diese Ängste beispielswei-se, die ja weiterhin bestehen um jetzt sich entweder zu beschweren, weil man Ne-gatives erfährt oder weil man andere Möglichkeiten wahrnehmen könnte… Dieser Abbau der Ängste muss ja schon auch in irgendeiner Weise über die Assimilation gehen oder? Über die Integration … Ich meine, wenn man von diesem Diversity-Prinzip ausgeht „ALLE ANDERS ALLE GLEICH“ ist es eben auch wichtig, auch als Rom oder Romni in dieser Gesellschaft zu stehen und die gleichen Rechte zu haben wie jeder andere

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auch [B wird unterbrochen von einem Kind an der Tür] Ihr habt ja überwiegend rumänische Roma, das ist ja eine spezielle Situation, es gibt ja von überall her Roma, d.h. die Vielfalt unterschiedlicher Roma-Gruppierungen ist sehr sehr groß. Was könnt ihr denn noch vielleicht zu diesem Thema „Einigkeit und Uneinigkeit zwischen Roma“ sagen. Also es gibt ja Leute, beispielsweise Sinti, die sich abgrenzen von Roma aus Rumänien… … die deutschen Sinti von den deutschen Roma … Habt ihr damit was zu tun oder erscheint das in eurem Alltag eigentlich nicht? Doch doch! Das erscheint in unserem Alltag sehr oft. Unser erstes Thema hier im Haus war „Rumänische Roma“ und das hat sich ein Stück weit auch als ein großes Thema gehalten und es ist auch schon so, dass Roma anderer Nationalität oft nicht so gern hier her kommen. Die Gruppen bleiben durchaus oft für sich oder unter sich und haben so ihre Schwierigkeiten mit den anderen, wobei das auch sowas ist, was sich im Laufe der Zeit sehr geändert hat. Mittlerweile gibt es so ein bundesweites Konzept zur Ausbildung von Bildungsmediatoren und da arbeiten zum Beispiel auch die Landesverbände, die eigentlich aus deutschen Sinti oder deutschen Sinti und Roma bestehen, mit Vereinen wie unseren, die hauptsächlich mit Migranten zu tun haben, auch gut und eng zusammen … und ich denke, noch eine Generation weiter und die jungen Roma, die eben auf einer intellektuelleren Ebene sind … die haben da kein Problem damit. Ob einer nun aus Polen kommt, aus Deutschland kommt, aus Rumänien oder Bulgarien. Aber das sind natürlich erst mal auch Vorbehalte, die es natürlich auch zwischen Minderheiten gibt. Schaworalle ist ja ein Modellprojekt… Welche Rahmenbedingungen sind denn da-für verantwortlich, dass ähnliche Projekte nicht so verbreitet sind … also, beim letzten Gespräch haben Sie mir von einem weiteren Projekt in Köln erzählt. Trotz-dem seid ihr auch irgendwie eine Art Vorbild-Projekt, warum gibt es nicht mehr Initiativen, die so was machen? Oder gibt es viele Projekte? Es gibt zahlreiche Projekte… also ich sage immer, die Praxis ist in jeder Stadt an-ders. Also wie sich was entwickelt, warum was in welchem Modell auch immer funktioniert. Es gibt zum Beispiel viele Bildungsmediatoren an Schulen, es gibt in Hamburg die Roma-Lehrer in den Regelschulen, es gibt in Köln eben das Projekt „Amaro Kher“ mit ihren Ansätzen… Uns in dieser Form gibt es natürlich auch auf-grund der Tatsache, dass, als wir angefangen haben, es dieses Geld auch einfach gab. Damals mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz hatten wir die Möglichkeit was aufzubauen, wir hatten das Geld und konnten anfangen … Wenn wir heute mit diesem Vorschlag ankommen würden, dann würde auch jeder sagen „Schöne Idee, aber tut uns Leid! Wie wollen wir das denn finanzieren?“ … Also ich denke, da spielen immer so verschiedene Faktoren eine Rolle, warum das eine so und das andere so funktioniert. Die meisten anderen Projekte, sind eben auch nur Projekte mit Projektgeldern, die nach zwei Jahren eben wieder auslaufen.

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Also nur zeitlich befristet sind … Genau. Also ich habe meine Examensarbeit nicht zu den Unterschieden in den einzelnen Roma-Clans geschrieben … Das muss man auch nicht … … Das MUSS man nicht, aber man KÖNNTE auch dazu schreiben, denn das führt ja an jedem Ort zu spezifischen Voraussetzungen, die eine Integration spezifisch be-einflussen … Wir haben ja jetzt überwiegend über Probleme zwischen Roma-Minderheit und deutscher Mehrheitsbevölkerung gesprochen. Allerdings gibt es ja wahrscheinlich genauso innerhalb der Gruppe genauso viele Probleme, was natür-lich … Das sind natürlich nochmal andere Probleme … … die aber aufgrund des großen Fokus auf die Feindbilder zum Teil ausgeklammert werden. Klar … Das ist aber auch relativ logisch zu erklären, weil jede Gruppe, die quasi im Land waren, also die deutschen Roma und Sinti, und gekämpft haben um IHRE An-erkennung und die Wiedergutmachung nach dem zweiten Weltkrieg, die hatten ja auch ihr eigenes Trauma zu verarbeiten. Und das ist ein HARTES, das bis heute nach wirkt in der DRITTEN Generation. Wo die Kinder noch das Mitleiden ihrer Großel-tern mitbringen. Das sind natürlich Menschen, die sich damit auseinander gesetzt haben und jetzt plötzlich „HUCH“ kommen da noch Roma aus einem anderen Land. Plötzlich geht es dann auch um ganz andere Bilder…. Die Leute waren eigentlich noch viel zu viel mit sich selbst beschäftigt um sich für dieses neue Thema zu öffnen … aber das kommt jetzt schon mehr … aber das hat auch gedauert! Behandelt ihr diese Geschichte auch hier im Unterricht, z.B. im Geschichtsunter-richt? [nickt zustimmend] Da sprecht ihr drüber… Ich mein, es ist nicht so, dass fragen immer viele, ob wir das Thema „Roma sein in dieser Welt“ so als ein durchgehendes Thema haben. Das haben wir NICHT! Das ist natürlich auch Blödsinn, die Kinder wissen ja wer sie sind … da kann man schon irgendwann mal die Wanderbewegung aus Indien behandeln, aber das muss man nicht ab der ersten Klasse ständig tuen … das ist Blödsinn! … Machen wir ja auch nicht.

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Ja das glaube ich… [I und B lachen] Ja, da bedanke ich mich doch schon mal. Vielleicht zum Abschluss: Wie viele Kin-der gehen hier in die Schaworalle, die Nachfrage ist ja stetig gestiegen … Seht ihr auch irgendwo Grenzen dieses Projektes? Wir sind schon dicht an der Grenze bzw. haben sie eigentlich schon überschritten. Wir haben ja viel mehr Kinder im Haus, als wir aufnehmen dürften … und wir sind jetzt ja dabei, nochmal die Krabbelstube gegenüber aufzubauen für nochmal 10 Kinder, allerdings habe ich eine Warteliste für den Kindergarten von 15. Und es kommen täglich Leute, die nach Schulplätzen fragen. Also, wenn wir ein doppelt so großes Haus in der direkten Nachbarschaft kriegen könnten, gerne! [lacht] [lacht] Vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch. [37:10 Min]

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10. Fazit: Zwischen Antiziganismus und Integration

Die Integration des lokalen Fallbeispiels Schaworalle in den inhaltlichen Rahmen dieser

Arbeit führt zu einer Bestätigung, der in den Abschnitten I und II beschriebenen Roma-

spezifischen Situation in Deutschland. Hier muss deutlich auf das hohe Maß an institutio-

nellen sowie zivilgesellschaftlichen Diskriminierungen, auf das Vorhandensein von Ras-

sismus gegen Roma und auf eine historisch fast kontinuierlich praktizierte rechtliche Be-

nachteiligung hingewiesen werden. So ist der historisch bedingten Tradierung antiziganis-

tischer Vorstellungen in der Mehrheitsgesellschaft bisher nur unzureichend mit entspre-

chenden Maßnahmen seitens Mehr- und Minderheit begegnet worden. Der Fortbestand

mannigfaltiger Feindbilder, gegenseitigen Vorurteilszuschreibungen und einem darauf be-

gründeten gegenseitigen Misstrauen bestätigt, dass ein vergangenheitsbewältigender Dia-

log zwischen Mehr- und Minderheit bisher nur sehr begrenzt geführt wurde. Das Vorhan-

densein vielfältig pseudo-wissenschaftlicher ethnischer Daten sowie der mehrheitlich ge-

prägte, gesellschaftliche und politische Konsens des spezifisch kulturellen Charakters der

Minderheit führt zu der These, dass Antiziganismus früher wie heute unzureichend behan-

delt wurde. Dies zeigt sich nicht nur an der weitverbreiteten gegenwärtigen Berichterstat-

tung, aktuellen Meinungsumfragen, sondern bspw. auch in den Darstellungen von Frau

Ernst im Rahmen der Schaworalle. Dieser Zustand wirkt im Rahmen integrativer Bemü-

hungen stark hinderlich. So drängt sich die Frage auf, wie eine Integration ohne die ent-

sprechende Berücksichtigung der gemeinsamen, „leider“ sehr negativ beeinflussten, Ge-

schichte nachhaltig zum Abbau kultureller Distanzierung führen kann. Ist nicht gerade die

Etablierung von gesamtgesellschaftlicher Aufklärung über Antiziganismus als eine, keines

falls hinreichende, sondern notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer nationalen,

auf Integration ausgerichteten Perspektive anzusehen, welche entsprechende Strategien des

Abbaus diskriminierender institutioneller Handlungen erst nachhaltig Wirkung verleiht?

Hierzu gehört ein mehrheitliches neues Schuldbewusstsein, weiteres aktives Handeln sei-

tens der Minderheit und die gemeinsame Achtung kultureller „Andersartigkeit“ als positive

Bereicherung zur nationalen Vielfalt. Deutlich wird in diesem Kontext einerseits, dass die

individuellen, nationalen Verantwortlichkeiten keinesfalls global substituiert werden kön-

nen, wenn auch transnationale Problemperspektiven entsprechende Rahmenbedingungen

zur nationalen Orientierung und Unterstützung bieten können, andererseits dass das Beste-

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hen von Antiziganismus in Deutschland den integrativen Prozess intensiv beeinflusst.

Ebenfalls zeigt der Integrationsbegriff, wie er sich im Laufe der westlichen Entwicklung

vom Unterwerfungs-, zum Assimilationsgedanken und derzeit zum „identitätsbewahren-

den“ Konstrukt verändert, welchen Einfluss historische Gegebenheiten und mehrheitliche

politische Interessensvertretung ausüben. Insbesondere ist die Wahrnehmung von minder-

heitsspezifischer „Andersartigkeit“ im sozio-kulturellen Sinne stets den mehrheitlichen

gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen. Dies zeigt sich exemplarisch am öffentli-

chen Widerstand beim Roma-eigenen Kampf um Entschädigung und Anerkennung. Nicht

das der Minderheit zugefügte Unrecht wurde zum Gegenstand der politischen und öffentli-

chen Betrachtung, sondern die Bewältigung der mehrheitlich betreffenden NS-Folgen. Hier

könnte die kontinuierlich weiter stattfindende Manifestation antiziganistischer Argumenta-

tionsstrukturen bis Ende der 1970er Jahre überspitzt als eine von vielen Strategien der

mehrheitlichen Vergangenheitsbewältigung angeführt werden. Der diesbezüglich langsam

einsetzende Sinneswandel ist maßgeblich auf die Anstrengungen der Bürgerrechtsbewe-

gung zurückzuführen, welche deutschen Sinti und Roma nicht nur von ihrer Opfer- und

Außenseiter-Rolle heraus zu politischer Anerkennung verhalf, sondern auch ihre nationale

Identität als Bestandteil deutscher Kultur erkämpfte. Den beträchtlichen Anstrengungen im

Rahmen zahlreicher öffentlicher Protestaktionen zur Anerkennung der Roma-eigenen Iden-

tität wurde erstmals gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit der Anerkennung als nationale

Minderheit der Bundesrepublik Rechnung getragen.

Das rechtlich bindende Instrument in Form des Rahmenübereinkommens zum Schutz nati-

onaler Minderheiten ist als solches ein erster Schritt der „identitätsbewahrenden“ Integra-

tion, ebenso wie der EU-Rahmen zur Integration der Roma bis 2020 neue inhaltliche Im-

pulse setzt und vor allem auch entsprechende finanzielle Mittel bereitstellt. Dennoch müs-

sen sich diese politisch dominierten Konzepte erst unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit

beweisen und insbesondere neue Entwicklungsprozesse des kulturellen Austauschs zwi-

schen Roma- und deutscher Bevölkerung anregen. Bisher bietet der Minderheitenschutz zu

geringe Handlungsmöglichkeiten für Minderheiten ihre Autonomie zu wahren bzw. wirk-

sam politischen Widerstand auszuüben. Zahlreiche Rechte werden durch Bedingungen

sehr stark eingegrenzt, so dass im Falle der Roma-spezifischen Situation entsprechende

Ansprüche nicht anwendbar sind oder nur mit einer Aufgabe der traditionellen Lebenswei-

sen konkrete Zustandsveränderungen bewirken könnten. Die europäische Bildungszielset-

zung in Form des Mindeststandards Abschluss der Grundschule erscheint für die deutschen

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integrativen Bemühungen erfüllbar, jedoch zeigt sich auch hier die schwer vertretbare

strukturelle Selektivität des deutschen Bildungssystems, insbesondere in Korrelation zum

gesellschaftlichen Hintergrund. Dies muss vor dem Hintergrund integrativer Bemühungen

ebenfalls als ein zentrales Handlungsfeld struktureller Veränderungen betrachtet werden.

Das Fallbeispiel kann hier als positive Entwicklung aufgezeigt werden, auch wenn der

Kampf um die alltägliche Anerkennung im lokalen Umfeld zu den schwierigsten Aufgaben

gehört. Dennoch versprechen das Kooperationsmodell zwischen Roma und Nicht-Roma

sowie die institutionelle Vernetzung zwischen Staat und Interessensvertretung konkrete

Ansätze für eine nachhaltige und langfristige Strategie zur Integration der Roma unter Ein-

beziehung der individuellen Verantwortlichkeiten. Bezogen auf zugewanderte Roma aus

EU- oder Drittstaaten erfordert dies ein gruppenübergreifendes Umdenken dahingehend,

dass insbesondere die Anerkennung von Bildung im Rahmen der mehrheitlichen traditio-

nellen Normen und Werte Voraussetzung für die effektive Teilnahme am modernen Be-

rufsleben und ein zentrales Handlungsmoment darstellt, dem Zirkel der Armut wirksam zu

begegnen. Dieser Schritt muss nicht mit einer Aufgabe der traditionellen Lebensformen

einhergehen, wohl aber reflexive Prozesse des eigenen gesellschaftlichen Standpunktes

anregen und dadurch entsprechende Handlungsmomente fördern. So gilt es neben der

weitverbreiteten „Opfer-Reduzierung“ durch die Mehrheit, verstärkt die eigenen Potenziale

und „Positivzuschreibungen“ zu erkennen, welche sich im Laufe meiner Recherchen „lei-

der“ allzu selten zeigten. Konkret gilt es sich hier insbesondere mit den sozialen Strukturen

auf Mikro- und Meso-Ebene bspw. im Rahmen einer Fokussierung der familiären Struktu-

ren oder dem Romanipe weiter zu beschäftigen.

Methodisch muss diese Arbeit, sowohl was ihren Titel als auch ihren konkreten Aufbau

betrifft als zu verallgemeinernd betrachtet werden. Dies ist einerseits vor dem Hintergrund

des eigenen Standpunktes fern eines sozio-kulturellen Zugangs zur traditionellen Lebens-

weisen der Roma-Minderheit in Deutschland entsprechend zu berücksichtigen, andererseits

im höchst normativen Integrationsbegriffs zu sehen. So liefert die Arbeit entsprechende

Fragestellungen für weitergehende Untersuchungen und Analysen. Eine tiefergreifende

Auseinandersetzung mit dem Integrationsbegriff steht letztlich noch aus.

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