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Claude Lecouteux, Paris/Caen Die Sage vom Magnetberg Um 1200 taucht in der mittelhochdeutschen erzählenden Literatur ein Motiv- komplex auf, der AaTh 322* fast entspricht 1 und unter dem Namen ,Magnet- bergsage* bekannt ist: Vom Magnetberg angezogen, retten sich Seeleute, indem sie sich in Tierhäute einnähen, die dann Greifen bis ans Festland oder auf eine andere, aber bewohnte Insel forttragen. Die verschiedenen Bestandteile des Komplexes kommen schon um 1150 in der Legende von Sankt Brandan vor, in der sog. Reisefassung 2 , sind aber noch sehr lose miteinander verbunden. In St. Brandan erfahren wir z. B., daß sich der Magnetberg unfern des Lebermeeres erhebt. Es ist aber das Verdienst des Herzog Ernst-Dichters, die losen Motive mit- einander verknüpft zu haben. Im vorliegenden Beitrag will ich die Magnetberg- sage untersuchen, den Quellen nachgehen und die Überlieferungsstränge nach- weisen. Zuletzt werde ich zeigen, daß diese Sage heute noch fortlebt. Bisher wurde wiederholt, die Vorstellung vom Magnetberg ginge auf Plinius' Historia naturalis (2,211) zurück 3 , und die Forschung begnügt sich meistens mit einem kurzen Hinweis auf K. Bartschs Einleitung zur Ausgabe des Herzog Ernst 4 , sobald die Sage erwähnt wird. Meines Wissens haben sich nur einige wenige For- scher mit diesem Thema befaßt - A. Graf, G. Huet, K. Bartsch 5 . H. Beckers setzte sich mit diesem Problem auseinander, als er das Verhältnis von St. Brandan und Herzog Ernst untersuchte 6 . Will man sich Klarheit über Ursprung, Gebrauch und Entwicklung der Magnetbergsage verschaffen, so ist man beinahe auf sich selbst angewiesen, da die Monographie von F. Kirnbauer und K. L. Schubert recht unzulänglich ist 7 ; sie enthält nicht einmal so viele Informationen wie Bartschs Einleitung. 1 Ich sage fast, da das Motiv ,Gewinnung einer Prinzessin 4 fehlt, cf. Aarne, AVThomp- son, S.: The Types of the Folktale (FFC184). Helsinki 1973,113, AaTh 322*: Magnetic Mountain Pulls Everything to it [F 754]. Rescue by help of Giant bird. Princess won. 2 cf. Intorp, L.: Brandans Seefahrt. In: Ranke, K. u. a. (edd.): Enzyklopädie des Mär- chens 2. Berlin/New York 1979, 654-658. 3 z. B. Sowinsky, B. (ed.): Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Stuttgart 1970,386. Dort ist auch folgendes zu berichtigen: Honorius Augustodunensis (Imago mundi 1,13) spricht nicht vom Magnetberg! 4 Bartsch, K. (ed.): Herzog Ernst. Wien 1869 (Neudruck Hildesheim 1969), CXXXV sqq. 5 Graf, A.: Miti, leggende e superstizioni del medio evo 1-2. Torino 1893, t. 2,363 sqq.; Huet, G.: La Legende de la Montagne dAimant dans le Roman de Berinus. In: Roma- nia 44 (1915/17) 427-453; zu Bartsch cf. not. 4. 6 Beckers, H.: Brandan und Herzog Ernst. Eine Untersuchung ihres Verhältnisses anhand der Motivparallelen. In: Leuvense Bijdragen 58 (1969) 41-55. 7 Kirnbauer, R/Schubert, K. L.: Die Sage vom Magnetberg. Wien 1957. Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 93.180.53.211 Download Date | 12/11/13 12:06 PM

Die Sage vom Magnetberg

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C l a u d e L e c o u t e u x , P a r i s / C a e n

Die Sage vom Magnetberg

Um 1200 taucht in der mittelhochdeutschen erzählenden Literatur ein Motiv-komplex auf, der AaTh 322* fast entspricht1 und unter dem Namen ,Magnet-bergsage* bekannt ist: Vom Magnetberg angezogen, retten sich Seeleute, indemsie sich in Tierhäute einnähen, die dann Greifen bis ans Festland oder auf eineandere, aber bewohnte Insel forttragen. Die verschiedenen Bestandteile desKomplexes kommen schon um 1150 in der Legende von Sankt Brandan vor, inder sog. Reisefassung2, sind aber noch sehr lose miteinander verbunden. InSt. Brandan erfahren wir z. B., daß sich der Magnetberg unfern des Lebermeereserhebt. Es ist aber das Verdienst des Herzog Ernst-Dichters, die losen Motive mit-einander verknüpft zu haben. Im vorliegenden Beitrag will ich die Magnetberg-sage untersuchen, den Quellen nachgehen und die Überlieferungsstränge nach-weisen. Zuletzt werde ich zeigen, daß diese Sage heute noch fortlebt.

Bisher wurde wiederholt, die Vorstellung vom Magnetberg ginge auf Plinius'Historia naturalis (2,211) zurück3, und die Forschung begnügt sich meistens miteinem kurzen Hinweis auf K. Bartschs Einleitung zur Ausgabe des Herzog Ernst4,sobald die Sage erwähnt wird. Meines Wissens haben sich nur einige wenige For-scher mit diesem Thema befaßt - A. Graf, G. Huet, K. Bartsch5. H. Beckers setztesich mit diesem Problem auseinander, als er das Verhältnis von St. Brandan undHerzog Ernst untersuchte6. Will man sich Klarheit über Ursprung, Gebrauch undEntwicklung der Magnetbergsage verschaffen, so ist man beinahe auf sich selbstangewiesen, da die Monographie von F. Kirnbauer und K. L. Schubert rechtunzulänglich ist7; sie enthält nicht einmal so viele Informationen wie BartschsEinleitung.

1 Ich sage fast, da das Motiv ,Gewinnung einer Prinzessin4 fehlt, cf. Aarne, AVThomp-son, S.: The Types of the Folktale (FFC184). Helsinki 1973,113, AaTh 322*: MagneticMountain Pulls Everything to it [F 754]. Rescue by help of Giant bird. Princess won.

2 cf. Intorp, L.: Brandans Seefahrt. In: Ranke, K. u. a. (edd.): Enzyklopädie des Mär-chens 2. Berlin/New York 1979, 654-658.

3 z. B. Sowinsky, B. (ed.): Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Stuttgart1970,386. Dort ist auch folgendes zu berichtigen: Honorius Augustodunensis (Imagomundi 1,13) spricht nicht vom Magnetberg!

4 Bartsch, K. (ed.): Herzog Ernst. Wien 1869 (Neudruck Hildesheim 1969), CXXXV sqq.5 Graf, A.: Miti, leggende e superstizioni del medio evo 1-2. Torino 1893, t. 2,363 sqq.;

Huet, G.: La Legende de la Montagne dAimant dans le Roman de Berinus. In: Roma-nia 44 (1915/17) 427-453; zu Bartsch cf. not. 4.

6 Beckers, H.: Brandan und Herzog Ernst. Eine Untersuchung ihres Verhältnissesanhand der Motivparallelen. In: Leuvense Bijdragen 58 (1969) 41-55.

7 Kirnbauer, R/Schubert, K. L.: Die Sage vom Magnetberg. Wien 1957.

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L Die Vorgeschichte der Magnetbergsage

1. Die P l i n i a n i s c h e T r a d i t i o n . Die erste Kunde vom Vorhanden-sein eines Berges, der das Eisen anzieht, begegnet uns in Plinius' Historia natu-ralis (1. Jh.), wo wir folgendes lesen (2,211):

„Duo sunt montes iuxta flumen Indum, alteri natura ut ferrum omne teneat, alteriut respuat, itaque si sint clavi in calciamento, vestigia avelli in altero non posse, inaltero sisti".

Somit steht die Lokalisierung dieser Berge fest. Der Bericht ist aber nicht dieQuelle der mittelalterlichen Dichter, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Eswird nicht vom Magneten gesprochen; 2. es handelt sich um zwei Berge; 3. sieerheben sich nicht im oder am Meer, sondern in der Nähe des Indus („iuxta").Ferner ist zu betonen, daß diese Passage in Solinus' Collectanea rerum memorabi-lium fehlt, worauf sich die mirabilienfreudigen Gelehrten und Dichter gerneberufen, wenn sie etwas Befremdendes erzählen und woraus sie alles Wunderbaregeschöpft und genutzt haben. Isidor von Sevilla sagt seinerseits (Etymologiae16,4,1):

„Magnes lapis Indicus ab inventore vocatus. Fuit autem in India ita primum reper-tus: clavis crepidarum, baculique cuspidi haerens, cum armenta idem magnes pas-ceret, postea et passim inventus"

was schwerlich die Quelle der Magnetbergsage sein könnte. Auf Honorius'Augustodinensis De imagine mundi (um 1115) wurde auch verwiesen, aber dortsteht nur (1,13): „India quoque magnetem lapidem gignit, qui ferrum rapit". Dasheißt, daß ein wichtiger Überlieferungsstrang der sog. Litterature savante fürunsere Untersuchung ausfallt.

Plinius' Bericht war wahrscheinlich ein orientalischer Bericht, und unter die-sen kenne ich einen einzigen Text, der die Motive Berge und Fluß enthält, näm-lich Die Wunder Indiens von Buzurg ibn Schahrijär, ein ca 950 entstandenes Werk,wo zu lesen ist:

„Un marin m'a dit qu'entre Khanfou, qui est la principale ville de la Petite Chine, etKhömdan, qui est la principale ville de la Grande Chine, la plus importante desdeux, ville dans laquelle reside le Grand Baghpour, il existe un FLEUVE au courspuissant, d'eau douce, plus large que le Tigre de Bassorah. En certains points de cefleuve on trouve des MONTAGNES D'AIMANT, si bien qu'on ne peut naviguersur ce fleuve avec un navire oü entre du fer, de peur de le voir attire par ces monta-gnes, tant est grande leur puissance. Les cavaliers qui passent dans ces montagnesNE FERRENT PAS LEURS MONTURES*".

8 cf. Sauvaget, J.: Les Merveilles de l'Inde. In: Memorial Jean Sauvaget 1-2. Damas 1954,1.1,190-309, hier 247 (Hervorhebungen durch Majuskeln hier und im folgenden vomAutor).

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Die Sage vom Magnetberg 37

Einen Anklang an Plinius' Kunde finden wir im altfranzösischen Romand'Eneas (2. Hälfte des 12. Jh.s), wo von Karthago gesagt wird:

433 „Tot anviron ot fet trois ransde mangnetes par molt grant sensd'une pierre qui molt est dure;la mangnete est de tel nature,ja nus horn armez n'i venistque la pierre a soi nel traisist:tant n'an venissent o halbers,ne fussent sampre al mur aers"9.

2. Die P t o l e m ä i s c h e T r a d i t i o n . Im 2. Jahrhundert nach Christuserwähnt Ptolemäus den Magnetberg, der sich in der Nähe der Maniolai-Inselnbefinden soll, in der Meeresstraße zwischen dem unbekannten Weltteil südlichdes Äquators und Indien. Der Grieche behauptet, daß die Indienfahrer seinerZeit aus Furcht vor dem Magnetberg kein Eisen auf ihren Schiffen duldeten10.Wie wir feststellen werden, ist dieser Bericht die Quelle, aus welcher die meistenErzählungen mittelbar oder unmittelbar geflossen sind.

Auf Ptolemäus' Bericht geht ein Passus des Commonitorium Paüadii zurück,eines Textes, der dem Bischof von Helenopolis (363 ?-430) zugeschrieben wurdeund zu Beginn des S.Jahrhunderts entstanden sein dürfte11. Darin erfahren wir,daß es in der Nähe von Taprobane (d. i. Ceylon) Inseln gibt, die Maniolai heißen;auf ihnen ist der Magnetstein zu Hause, der das Eisen anzieht, und deshalb sinddie Schiffe, die in dieser Gegend fahren, ganz ohne Eisen gebaut:

„Sunt autem mille aliae insulae in rubro mari, quae sunt subditae ad istam praedic-tam insulam [= Taprobane], in quibus sunt illi lapides, quos magnetes nomina-mus, qui trahunt ad se ferrum. Etiam si qualiscumque navis advenerit, quae habue-rit de ferro clavum, statim apprehendent earn et non dimittunt earn. Habitatoresautem de illis insulis quando faciunt naves, non ibi mittunt clavos ferreos, sed tan-tum clavos ligneos, et semper cum illis vadunt ad illam insulam, ubi habitat ille rexmagnus"12.

Da das Commonitorium Paüadii der Alexandersage angehört, erfreute es sicheiner weiten Verbreitung13. In diesem Bericht ist die Sage ausgeformt: DieSchiffe sind ohne eiserne Nägel („clavos ferreos") gebaut, sonst würden sie durchdie Kraft des Magneten festgehalten werden.

9 Salverda de Grave, J.-J. (ed.): Eneas, Roman du Xlle siecle 1-2. Paris 1964-68,1.1,14. Ichglaube nicht, daß hier, wie der Herausgeber meint (p. XXVIII), die Magnetbergsagedem Passus zugrunde liegt.

10 Geographie 7,2,31. Text in: Haupt, M. (ed.): Herzog Ernst (C). In: Zeitschrift für deut-sches Altertum und deutsche Literatur 7 (1849) 193-303, hier 298.

n cf. Pflster, (ed.): Kleine Texte zum Alexanderroman. Heidelberg 1910, 2.12 Ich zitiere den Text nach Kubier, B. (ed.): Commonitorium Palladii, Briefwechsel zwi-

schen Alexander dem Großen und Dindimus [...]. In: Romanische Forschungen 6(1891)203-237, hier 211.

13 v. Graf (wie not. 5) 379 sq., der andere Fassungen anfuhrt.

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Den Ptolemäischen Bericht finden wir auch noch in Prokops (fca 562)Perserkriegen (1,19), aber ohne Neuheiten14.

Ob der Bericht von Edrisi (ca 1099-1164) unmittelbar auf Ptolemäus zurück-geht, vermag ich nicht zu sagen. Edrisi kennt den Berg Murukein, der sich an derafrikanischen Ostküste südlich von Bab-el-Mandeb erhebt, und er schreibt:„Kein Schiff mit eisernen Nägeln fährt an diesem Berge vorüber, ohne angezogenund so festgehalten zu werden, daß es nicht mehr loskommt"15. Seinerseits kenntder arabische Geograph Abulfeda den Alkherany östlich von Melinde, einenBerg, der den Reisenden wohlbekannt ist. Er tritt 100 Meilen weit in das Meerhinaus und erstreckt sich landeinwärts gegen Süden auf 50 Meilen. Es findetsich auf seinem Rücken landwärts ein Eisenerzbergwerk und seewärts eineMagnetgrube16.

Vielleicht wegen der Interpolation in die Alexandersage findet der Magnet-berg seinen Niederschlag in der arabischen Literatur des Mittelalters. Mangelseiner präzisen Datierung von Tausendundeinenacbtkann man nicht mit Sicherheitsagen, ob das Motiv von der Geographie in die Erzählungen wanderte oder obsich die arabischen Geographen an die bunten Fabeln der Seefahrer (cf. Wun-derindiens) anlehnten. Die zweite Hypothese scheint mir jedoch die wahrschein-lichste. Wie dem auch sei, scheint Ibn al-oezzar (f 1004) der erste zu sein, dervom Magnetberg zu erzählen weiß. In einer mittelalterlichen Übersetzungseines Ptimad steht folgendes:

„Minera huius lapidis in littore maris propre Indiam. Aristoteles] dixit in libro delapidibus quod quando naves applicant se huic monti, EGREDIUNTUR FERRAA NAVIBUS, et ideo naves illius maris fmnt preter clavos ferreos"17.

Bevor ich auf die Erwähnung von Aristoteles näher eingehe, möchte ich fol-gendes unterstreichen: Von nun an gibt es in der gelehrten Literatur zwei Tradi-tionen. Die erste lehnt sich eng an Ptolemäus an und erzählt, wie die Schiffeangezogen werden, die zweite spricht vom Wegfliegen der eisernen Nägel undvom Schiffbruch.

Der ersten Tradition gehört Kazwinis (1203-1283) Kosmographie an:„Der Magnetberg, nahe an den Gegenden Ägyptens gelegen. Das ist ein Berg, aufdem sich der Magnet findet, der das Eisen anzieht; und in alle die Fahrzeuge, dieman in diesem Meere benutzt, tut man kein einziges Stück Eisen hinein, aus Furchtvor diesem Berge"18.

Die Erwähnung von Ägypten darf nicht irreführen: Kazwini spricht hiervonden Inseln des Roten Meeres (bahr el-kulzum).

14 v. Martin, E.: Observations des anciens sur les attractions magnetiques. In: Atti delPAccademia Nazionale dei Lincei 18 (1864/65) 16-32 und 97-123, hier 19.

15 Kirnbauer/Schubert (wie not. 7) 8; cf. Martin (wie not. 14) 19.16 Kimbauer/Schubert (wie not. 7) 8.17 Zitiert nach Rose, V. (ed.): Aristoteles ,De lapidibus* und Arnoldus Saxo. In: Zeitschrift

für deutsches Altertum und deutsche Literatur 18 (1875) 322-455, hier 410; zu Ibn al-Oezzar v. Wüstenfeld, F.: Geschichte der arabischen Ärzte und Naturforscher. Göttin-gen 1840, 60 sq. (Autor num. 120).

18 Ethe, H.: Zakarija ben Muhammad ben Mahmud el-Kazwinis Kosmographie. Leipzig1868, 244.

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3. Die P s e u d o - A r i s t o t e l i s c h e T r a d i t i o n . Wir haben gesehen,daß sich Ihn al-Cezzar auf Aristoteles beruft, wenn er vom Magnetberg spricht,was das Blickfeld erweitert. Aristoteles wurde ein arabisches Lapidar zugeschrie-ben, das auf griechische Quellen zurückgeht und verschiedenes vermengt: So istdie Magnetbergsage von Ptolemäus' Bericht abhängig. Eine Handschrift desPseudo-Aristoteles findet sich in der Pariser Bibliotheque Nationale. Sie wurdeam 5. November 1329 von Muhammad ibn al-Mubärak ibn 'Utmän vollendet.Da aber Aristoteles' Steinbuch schon in Werken des 10. Jahrhunderts erwähntwird, ist es wenigstens auf das 9. Jahrhundert zu datieren19. Der arabische Textjenes Lapidars lautet:

„Der Magnetberg befindet sich im Lande Indien, und wenn ein Schiff vorbeifahrt,in dem sich Eisen befindet, zieht es sich zu ihm zu, und wenn es viel Eisen ist, treibtes das Schiff auf ihn zu"2<>.

Der arabische Pseudo-Aristoteles ist schon im 11. Jahrhundert im Abendlandbekannt gewesen: In seinem De gradibus beruft sich Constantinus Africanus(t 1087) darauf:

„Aristoteles dixit esse lapidem in ripa maris Indiae inventum [...]. Dixit etiam inlibro de lapidibus quod nautae non audent transire cum navi ferreos clavoshabente aut aliquod artificium fern in ea ducere. Nave etiam illis montanis appro-pinquante, omnes clavi et quidquid ex ferro editum a montanis attrahitur cum pro-prietate quam habent"21.

Dieser Text erfreute sich einer ungemein weiten Verbreitung: Er wanderte inBartholomäus' Anglicus Deproprietatibus rerum22, in Vincents de Beauvais Specu-lum naturak23 und fand seinen Niederschlag in den medizinischen Fachschrif-ten. Da sich die Sage in der medizinischen Literatur der salernitanischen Schuleeinbürgerte, ist es nur natürlich, sie auch in ähnlichen Traktaten zu finden. Pla-tearius, ein Gelehrterund Arzt, der um 1140 in Salerno tätig war, einer der großenSchulen der damals weltgewandten Medizin, an der vornehmlich die arabischeWissenschaft weitergegeben wurde und an der auch das Griechische seinen Platz

i' cf. Ruska, J. (ed.): Das Steinbuch des Aristoteles. Heidelberg 1912, 52, 91.20 ibid., 155, v. auch 77 sq.21 Zitiert nach Rose (wie not. 17) 410; Graf (wie not. 5) 380.22 De proprietatibus rerum 16,63: „Lapis magnes calidus est et siccus in tertio gradu. Vir-

tutem habet attrahendi ferrum. Montes enim sunt ex huiusmodi lapidibus" Bartholo-mäus schrieb dies um 1240.

23 Speculum naturale 8,21 (ca 1250): „Diät etiam Gal[lenus] in libro de lapidibus quodnautae navem ferreos clavos habentem illuc non audent ducere, nee ullum ferri artifi-cium in ea habere. Nam ea illis montanis appropinquante, omnes clavi et quicquidferri in ea habetur a montanis attrahuntur sua proprietate". Dies ist im Grunde ein Aus-zug aus Constantinus Africanus (Liber de gradibus, De tertio gradu. Opera. Basilea1536, 378), Text bei Graf (wie not. 5) 380; ibid. Auszug aus Albertus* Magnus De ani-malibus. Im 14. Jh. schreibt Petrus Berchorius in seinem Reductorium morale (Venezia1575,11,94): „In aliquibus partis maris sunt montes et scopuli de lapidibus magnetis, etideo tanto impetu naves attrahunt propter ferrum quod ibi est, quod contra eos fran-guntur, et penitus dissolvuntur".

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hatte24, erzählt unsere Sage kurz in seinem De simplici medicina dictus Circainstans:

„[...] unde dixit Aristoteles quod invenitur in litore Indie et Oceani. Montesautem sunt ex talibus lapidibus confecti, unde naves infixas clavis ferreis attrahuntET DISSOLVUNT"«.

Hervorgehoben habe ich die große Neuheit, nämlich den unvermeidlichenSchiffbruch.

Das Circa instans war weit bekannt und wurde sogar in verschiedene Sprachenübertragen. Auf deutschem Boden datiert die älteste Handschrift von 11 SO26.Das Zentrum der deutschsprachigen Rezeption war der niederfränkische Raum:Ich erinnere daran, daß St. Brandan und Herzog Ernst im mittelfränkischen Raumentstanden sind. In Frankreich sind die ersten Übersetzungen des Circa instans zuBeginn des 13. Jahrhunderts nachweisbar. Platearius' Werk stellt also einen wich-tigen Überlieferungsstrang dar. Da die verschiedenen Textzeugen unsere Sageohne Varianten wiedergeben, begnüge ich mich mit beiden folgenden Beispie-len:

a) Lateinische Fassung des 13. Jahrhunderts: „De lapide magnetis: Habet virtutemattrahendi maxime ferrum, ut dixit auctor, et invenitur in littoribus Indie etOceani. Montes etiam sunt confecti ex talis lapidibus, unde naves ferreis clavisinfixis attrahunt"27.

Der Zusatz „et dissolvunt" fehlt hier.b) Mittelniederländische Fassung aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts: „Vandenzeylsteen: Hi heuet macht yser na hem te trecken ende men vinden des daghes byden ouer des mers ende montes Oceani dat siin berghe des lants siin van aisulkenstenen verghadert. Dar omme trecken sy na hem scepe dar iseren naghel an siinende verderuense"28.

Das Circa instans ist eine der Quellen des Hortus sanitatis von Johann Neeckvon Kaub (Jean de Cuba), von wo aus unsere Sage in die erweiterte Fassung desGart der Gesundheit wanderte. In der zweibändigen Ausgabe des Gart durchJohann Prüß (Straßburg 1507-09) bringt der zweite Band die Traktate des Hortussanitatis, für welche der Gart (1. Fassung) keine Entsprechung bot, nämlich dieAbschnitte über die Land-, Luft- und Wassertiere sowie über die Steine29. Die

24 De Ghellinck, J.: UEssor de la litterature latine auXIIe siecle. Bruxelles 1955,239 sqq.,besonders 245.

25 Zitiert nach Rose (wie not. 17) 410. Rose ist es entgangen, daß die großen Enzyklopädi-sten des 13. Jh.s unsere Sage erwähnen.

26 cf. Keil, G.: Circa instans. In: Ruh, K. u. a. (edd.): Die deutsche Literatur des Mittel-alters. Verfasserlexikon 1. Berlin/New York 1978,1282-1285.

27 Wölfel, H. (ed.): Das Arzneidrogenbuch Circa instans in einer Fassung des 13 Jahrhun-derts. Diss. Berlin 1939, 70.

28 Vandewiele, LT. (ed.): Een mld. Versie van de Circa instans van Platearius. Oudenaarde1970,182; zu cfen altfranzösischen Textzeugen v. Dorveaux, P. (ed.): Le Livre des sim-ples medecines. Paris 1913; weitere Handschriften registriert Meyer, P.: Manuscritsmedicaux fran^ais. In: Romania 44 (1915/17) 161-214.

29 cf. den vorzüglichen Artikel von Keil, G.: Gart der Gesundheit. In: Ruh (wie not. 26)t. 2 (1980) 1072-1092, bes. 1084 sq.

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Holzschnitte der Straßburger Ausgabe zeigen, daß wir hier eine erweiterte Pla-tearius-Version haben: Wir sehen ein sinkendes Schiff in der Nähe eines Berges,aufweichen die Nägel zufliegen, ein Detail, mit dem ich mich nun beschäftigenwill.

Hortus sanitatis (1509)

Es ist mir gelungen, einen vor Platearius* Werk entstandenen Text zu finden,wo dieses Detail zum erstenmal vorkommt. In dem gegen Ende des 11. Jahrhun-derts niedergeschriebenen Liber de medicamentis simplicibus von Serapion demJüngeren erfahren wir, daß die eisernen Nägel wegfliegen und sich an den Bergheften. Ich zitiere den Text nach der 1233 abgeschlossenen Übertragung durchStephanus de Cesaragusta:

„Minera huius lapidis est in maritimis partibus prope terras Indorum. et quandonaves appropinquant monti minere ipsius. NON REMANET ALIQUOD FER-RUM QUÖD NON EGREDIATUR A NAVE ET VOLET sicut avis usque ad mon-tem. et si est aliquis clavus taliter infixus quod non possit evelli. salit et evelliturdonec adhaeret ili monti. et ideo naves illarum partium non clavantur cum clavisferreis sed cum clavis ligneis. nam si essent naves clavate cum clavis ferreis. quandoappropinquarentur illi monti. DILACERENTUR omnes"30.

Leicht zu erkennen ist der Ptolemäische Bericht, dessen sich aber die Sage all-mählich bemächtigt. Hier ist das Motiv des Schiffbruches implizit vorhanden,was die Dichter und Gelehrten zur Erweiterung anregte.

30 Zitiert nach Rose (wie not. 17) 411.

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Der schon zitierte Pseudo-Aristoteles wurde ins Lateinische sowie insHebräische übertragen31; in einer Leidener Handschrift aus dem 14. Jahrhundertheißt es:

„Minera huius lapidis est in ripa maris propinqui terre Indie, quando naves tran-seunt prope montem ubi lapis iste est, non potest in eis remanere FERRUM QUINSALIAT EXTRA et EVOLANS nunc supra nunc subtus NON CESSAT DONECPERVENIAT AD MAGNETEM.

Similiter clavi navium ERADICANTUR unde competit naves transfretantesper illud märe non coniungi clavis ferreis sed clavillis ligneis alioquin periclitaren-tur. aut enim DIRUMPERENTUR per clavorum eradicationem. aut usque ADMONTEM TRAHERENTUR a quo IMPOSSIBLE EST NAVEM SEPARARI cumferro postquam ei applicata fuerit"32.

Diese Form der Sage ist aber schon in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts imMorgenland bekannt gewesen. Davon zeugt Tifaschis (f ca 1253) Steinbuch,das ich hier nach der Übersetzung A. Raineris anführe:

„Questa pietra ha una delle sue miniere in un monte, ehe resta sulla spiaggia delmare tra PHegiaz e Tlemen, ed un'altra, in quest'ultimo paese presso Sana. Oltrac-cio, al dir Aristotile, trovasi pure nel märe una montagna intera della stessa pietra,la quäle e cagione ehe tutte le navi, e le barche, ehe le si awicinano, rimangon privedi quasi tutti i lor chiodi, imperocche questi spiccandosi sino dal corpo interno diquei bastimenti se NE VOLANO a Lei come altrettanti uccelli. Per tal motive nons'inchioda mai con ferro quasivoglia nave, o barca, ehe debba viaggiare per quelmäre, ma si procura invece di cucirla con tralci, e filamenta di cocco. I Popolideiriemen si servono di sbucciati ramoscelli di palma per cucire, e formare ipropri navigli. Quanto alia sovraccennata montagna tutta composta di Magnete, laquäle esiste nell'India sulla spiaggia del mare"33.

Tifaschi spricht wie Edrisi, dessen Bericht er kennt, von mehreren Magnet-bergen, im Indischen Ozean und im Roten Meer. Im 13. Jahrhundert begegnetuns der Wortlaut des eben zitierten Passus in einem 1282 verfaßten Werk desBailak al-Kabdjaki*!

Was ergibt sich aus der bisherigen Untersuchung?1. Das Abendland verdankt seine Kenntnis der Magnetbergsage einerseits

dem Commonitorium Palladii, das auf Ptolemäus fußt, andererseits dem Pseudo-Aristoteles, dessen Lapidar dank der früheren Übertragungen des 11. und 12. Jahr-hunderts bekannt wurde.

31 v. Ruska (wie not. 19), der nur einzelne Teile der hebräischen Handschrift übersetzt.32 Diese lateinische Übertragung wurde ediert von Rose (wie not. 17) 349-382, hier 368.

Ruska (wie not. 19) 80 hat bewiesen, daß der arabische Parisiensis nicht die Vorlage desLeodiensis war.

33 Raineri Biscia, A.: Fior di pensieri sulle pietre preciose di Ahmed Teifascite. Bologna1906, 84 sq.

34 v. Steinschneider, M.: Arabische Lapidarien. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenlän-dischen Gesellschaft 49 (1895) 256; Martin (wie not. 14) 20 sq.

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Die Sage vom Magnetberg 43

2. Wir stellen eine Wechselbeziehung zwischen der gelehrten Literatur undder Welt der Sage fest, die ich wie folgt schematisieren will:

Geographie-Sage(Magnetberg im Orient)

Lapidarien.Sage (Fliegen der Nägel)

MedizinSage (Schiffe sinken nicht, sie werden angezogen)

Erzählliteratur des Abendlands

3. AaTh 322* ist, wie anfangs gesagt, ein Motivkomplex: Der Magnetberg-sage, wie sie uns in den angeführten Texten begegnet, wurden die Motive Leber-meer (cf. Mot F 711 sqq.) und Rettung durch Riesenvogel (cf. Greifen: Mot. B 42)hinzugefügt, die je auf einen verschiedenen Sagenkreis zurückgehen. Die Sagevom Lebermeer (mare concretum, oceans caligans u. a.) war im Abendland seitlangem bekannt (Überlieferungsweg: Plinius, Solinus, Isidor von Sevilla35), wäh-rend die Rettung durch einen Riesenvogel im 12. Jahrhundert aus orientalischenErzählungen entnommen wurde und in den altfranzösischen AlexanderromanEingang fand36.

4. Die Überlieferungsstränge kann man folgendermaßen darstellen:

Plinius «*

PalladiusProkop

orientalische Sage

Ptolemäus

Constantin

Die Wunder Indiens

"JEdrisi

Ibn al-Oezzar•Tifaschi

Bartholomäus Anglicus.Vincent de Beauvais

Hortus sanitatis

*Gart der Gesundheit

^KazwinifSerapion d.J.

Platearius ^^Übersetzungen des Circa

. instans

35 Zu diesem Motiv v. Hofmann, C.: Über das Lebermeer. In: Sitzungsberichte derKöniglich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-PhilologischeClasse 2 (1865) l sqq.; Letts, M.: The Liver Sea. In: Notes & Queries 191 (1946) 47-49.

36 cf. Elisseeff, N.: Tnemes et motifs des Mille et Une Nuits: Essai de classification. Bey-routh 1949,166 (Transporte cousu dans une peau & transports magiques"). Außerdem istdie Rettung der Seefahrer durch Riesenvögel schon im altfranzösiscnen Alexander-roman belegt: Lecouteux, C.: Herzog Ernst v. 2164 ff., das böhmische Volksbuch vonStillfried und Bruncwig und die morgenländischen Alexandersagen. In: Zeitschrift fürdeutsches Altertum und deutsche Literatur 108 (1979) 306-322, hier 320 sq.

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44 Claude Lecouteux

Meines Wissens ist die Überlieferung der Magnetbergsage durch die gelehrteLiteratur nie eingehend berücksichtigt worden, obwohl diese den Vorteil hat, dasplötzliche Aufkommen von fabulösen Motiven und Themen orientalischenUrsprungs im Laufe des 12. Jahrhunderts zu erklären. Die wenigen Varianten undZusätze, aufweiche wir hier und da stoßen, bezeugen die Lebendigkeit der Sageund die Existenz von anderen (mündlichen?) Erzähltraditionen, die ich betrach-ten will, sobald ich den Niederschlag der Magnetbergsage in den Reiseberichtenkurz erwähnt habe.

II. Die Reiseberichte des Abendlands

Am Zusammenfluß der Informationen aus der gelehrten Literatur und derSagenwelt stehen die Reiseberichte, unter denen Mandeviües Reisen einen wichti-gen Platz einnehmen. In dieser Kompilation gelten unserer Sage zwei Berichte.Im ersten heißt es in der Beschreibung des Indischen Ozeans und der Straße vonHormus:

„et si sont toutes leurs nefs faites de boys et de rut, sans fer ne clou, pour les rochesdes AYMANS, dont il a en mer la entour tant que c'est merveille, car se une nef pas-soit parmi ces marches ou il eust clos ou bendes de fer, tantost seroit perie; car l'ay-mant de sä nature trait le fer a luy, si trairoit la nef a lui pour la cause du fer, si quejames ne pourroit departir"37.

Die Quelle ist hier das Commonitorium Paüadii. Noch ein zweites Mal kommtMandeville auf dieses Thema zu sprechen, diesmal aber stützt er sich auf Sagen:Er erzählt vom Land des Presbyters Johannes und sagt:

„Et combien qu'il eussent meilleur marchie en terre Prestre Jehan, si redoubtent illa longue voie et les grans perilz qui sont sur la mer en telles parties y a, car il a enmoult de lieux grans roches de PIERRES D AYMANT, qui TRAIENT A EULZ LEFER de leur propre nature.

Et pour ce, se il y passe nulle nef ou il ait clos ne bendes de fer, tantost ces rochesla traient a elles ne s'en pourroit james partir. Je me'ismes vi en la mer de loing ainsicomme une GRANT YLLE, ou il avoit arbrissiaux, espines, ronses et herbes a grantfoison et nous dirent les maronniers que c'estoient toutes nes, qui estoient la ainsiarrestees pour les roches d'aymant; et de la pourreture qui estoit dedens les nesestoient creus et naissus ces arbrissiaux, ces ronses et celle herbe, a si grant foisoncomme on le pouoit veoir adonc.

Et de celles roches il y a en moult de lieux la entour. Et pour ce n'y osent les mar-chans aller, se il ne scevent moult bien le chemin ou il aient bon conduiseur"38.

Hier baut Mandeville das Motiv des aus dem morschen Schiffsholz entstan-denen Waldes aus, das von der Brandanlegende herrührt. Ich habe die Textstellezitiert, um zu zeigen, wie Sagenmotive sich bilden. Mandeviües Reisen (1356)

37 Pariser Handschrift der Biblioth£que Nationale, Ms. fr. 5637, Bl. 51 a, zitiert nach Huet(wie not. 5) 445.

38 Bibliotheque Nationale (wie not. 37) Bl. 83 a; Huet (wie not. 5) 445sq.

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Die Sage vom Magnetberg 45

wurde in viele Sprachen übersetzt und zählte zu den beliebtesten Frühdrucken.Auf deutschem Boden übertrugen Otto von Diemeringen39 und Michel Velser40

das Buch; bei Otto fehlt der zweite Passus. Mandeville ist der beste Vertreter die-ser literarischen Gattung, und nach ihm häuften sich die Reiseberichte. DieMagnet(berg)sage erzählt gegen Ende des 14. Jahrhunderts Johann von Hese inseiner Peregrinatio:

„Et mare iecoreum est talis naturae quod attrahit naves in profundum propter fer-rum in navibus, quia fundus illius maris dicitur quod sit lapideus de lapide ada-mante, qui est attractivus*41.

Merkwürdige Variante! Der Text zeugt auch von einer geläufigen Verwechs-lung des Magneten mit dem Diamanten. Ferner verweise ich auf folgende Text-zeugen: Felix Fabri (1438-1502), Evagatorium in Terrae sanctae, Arabiae etAegyptiperegrinationem (Stuttgart 1843, t. 2,469 sq.); Ali Aziz Efendi der Kreter (15. Jh.),Geschichte von Jewad (aus dem Türkischen übers, von E. J. W. Gibb. Glasgow1884); Sirat Saifibn Dhijazan ([arabischer Volksroman des Spätmittelalters] ed.R. Paret. Hannover 1924, 12sq. und 32); Rabbi Abraham ben Hamase, SchuteHaggiborim (von A. Kircher zitiert in: De arte magnetica 1,1,2); Rabbi Gerson benEliezer (1. Hälfte des 17. Jh.s), Gelilot Erez Yisrael (nach dem CommonitoriumPaüadii)^.

III. Die Magnetbergsage in der Unterhaltungsliteratur

Viel schwieriger ist es, die Einflüsse der Erzähltraditionen aufeinander zubestimmen: Die Dichter bedienen sich der Motive Magnetberg und Rettungdurch Riesenvogel, verarbeiten sie und verunstalten sie manchmal, lassen ihrerPhantasie freie Bahn. Die Welt der Sage in der Unterhaltungsliteratur, die dieMenschen belehren und zerstreuen (prodesse et delectare) will, ist nicht erstarrt,im Gegensatz zur Litterature savante, wo eine bestimmte Information einfachweitertradiert wird. Der Klarheit halber werde ich nun das Korpus nach Sagen-kreisen behandeln, wobei ich jedesmal das Wichtigste hervorheben werde.

1. Die m o r g e n l ä n d i s c h e n S a g e n . Die erste Spur der Sage begeg-net uns in Sindbads Reisen, die auf die von Buzurg ibn Schahrijär verfaßte Samm-lung fabulöser Seemannsgeschichten, Die Wunder Indiens, zurückgeht43. In Sind-

39 cf. Die Reisen des Ritters John Mandeville durch das gelobte Land, Indien und China.Stuttgart 1966,108.

40 Morrall, E. T. (ed.): Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzungvon Michel Velser. Berlin 1974.

41 Zarncke, F. (ed.): Der Priester Johannes II. Berlin 1876,164.42 cf. dazu Pfister, R: Kleine Schriften zum Alexanderroman (Beiträge zur klassischen

Philologie 61). Meisenheim am Glan 1975,156.43 Littmann, E.: Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten 1-6. Wiesbaden 1976,

hier t. 6, 715.

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bads 6. Reise wird zwar der Magnetberg nicht erwähnt, dennoch finden sichdarin die Hauptmomente späterer Sagen: Sindbads Schiff wird von einem Sogim Meere, den später die Anziehungskraft des Magnetberges ersetzt, zu einemBerge getrieben (cf. Herzog Ernst V. 3922 sq.), an dem es zerschellt. Der Bergbildet eine Insel, deren Boden von Gebeinen und Wracks bedeckt ist; das Gesteindes Berges selbst besteht aus Edelsteinen (Motiv des Reichtums). Die Schiff-brüchigen sterben den Hungertod. Sindbad findet einen Strom, der sich unterdem Gewölbe einer Höhle verliert, baut sich ein Floß, lädt Gemmen und Stoffedarauf und zieht fort.

In Tausendundeinenacht spricht eine Sage ausdrücklich vom Magnetberg:In der Geschichte des Lastträgers und der drei Damen (Geschichte des dritten Bettel-mönches) steht folgendes:

Ein Sturm bringt Agibs Schiff von seiner Reiseroute ab. Einer steigt in den Mast-korb und erblickt etwas Dunkles, das bald schwarz, bald weiß glänzt. Der Kapitänerklärt darauf, die STRÖMUNG reiße sie hin zu dem Fuße des Berges aus schwar-zen Steinen, der Magnetberg heiße: „Dort wird das SCHIFF BERSTEN, undJEDER NAGEL des Schiffes wird ZU DEM BERGE HINFLIEGEN und sich anihn heften". Auf dem Magnetberg aber „erhebt sich eine Kuppel aus Messing, aufzehn Säulen errichtet; und auf der Kuppel steht ein Reiter, dessen Roß aus Kupferist. [...] es gibt kein Entrinnen, als bis dieser Reiter von jenem Rosse stürzt". DasSchiff sinkt, sobald die Nägel und alles Eisen herausgeflogen sind. Agib rettet sich,findet einen Weg, der zum Gipfel fuhrt, einer Treppe ähnlich in den Fels gehauen.Er schläft ein unter der Kuppel und erfährt im Traum, wie er sich retten kann. Ergräbt einen Bogen aus Messing und drei bleierne Pfeile aus und schießt auf den Rei-ter, der ins Meer hinabstürzt. Der Bogen fällt dem Helden aus der Hand, und dieservergräbt ihn an seiner Stätte. Das Meer schwillt an, steigt, erreicht den Berges-gipfel. Ein Boot erscheint mit einem kupfernen Mann. Agib steigt ein, fährt zehnTage lang, nennt aber Allahs Namen: Sofort wirft ihn das Boot ins Meer44.

Die Verwandtschaft dieses Berichts mit jenen der gelehrten Literatur ist nichtzu leugnen: Die Nägel fliegen dem Berge zu. Außerdem sehen wir, daß die Ret-tung mit Hilfe von Zauber erfolgt, nicht durch Greifen. Agibs Abenteuer begeg-net uns auch in dem Märchen von Qara Khan, einer türkischen Erzählung von1796/9745, und in Europa im 20. Jahrhundert. Die Erzählung des dritten Bettel-mönches ist in einem friesischen Märchen überliefert, das sich eng an den zitier-ten Text anlehnt: Nur die arabischen Komponenten - Allahs Namen, die Erwäh-nung von Talisman-Inschriften z. B. - sind getilgt. Der Name des Helden wirdverschwiegen, Orts- und Zeitangabe sowie der Bericht des Kapitäns fehlen; derHeld erfahrt alles im Traum:

„Doe dreamde er, dat er op it plak der't er lei to sliepen in gat yn 'e groun groef en inkoperen böge mei trije leaden pylken foun. Der waerd him yn 'e dream hjitten omdeOnei by de berch op to klatterjen, mär hy mocht ut noch yn net omsjen, noch yn

44 ibid., 1.1,163 sqq.45 Im Anhang zu R. Burtons Übersetzung von 1001 Nacht (London 1885,1.10, 502) ver-

weist W. R Kirby auf dieses Märchen.

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himsels prate. Boppe op 'e berch stie in timpeltsje en boppe yn dat timpeltsje[keine Kuppel!] in great koperen hynder en d£r siet in koperen ruter op, sä waerdhim meidield. Dy ruter moast hy der öf sjitte mei ien fan dy pylken. Dan soe dathynder him tomjitte rügelje en op it plak to lanne komme der*t hy nou lei tosliepen. D£r moast er it hynder bigrave; safolle groun moast hy der op sjen to krijendat it hielendal bidobbe wie. Dan soe der in koperen man ut 'e se opkomme, dy soehim meinimme yn syn boat. Mar hy moast soargje dat er net in wurd sei, hwantoars gong it him forkeard of46.

Hier ist es dem Helden verboten, ein Wort zu sagen, während in dem morgen-ländischen Text Agib gesagt wird: „Nenne den Namen Allahs des Erhabenennicht!" Der Held findet die Gegenstände, und da fügt der friesische Erzählerhinzu: „Under oan 'e berch koe er neat ünderskiede, hwant dy wie rüch biwoek-sen mei beammen en strewelleguod" was an die Brandanlegende (v. unten) undan Mandevilles Reisen erinnert. Ferner heißt es, der kupferne Mann weise ihm indas Boot („De man, in koperen man, leit oan, winkt mei de finger en wüst yn 'eboat"); das Boot sinkt, sobald der Held sagt: „Ik haw myn libben oan jo totankjen".

Wie mir Y. Poortinga freundlicherweise mitteilte, handelt es sich um einmündlich tradiertes Märchen, das ihm Roelf Piters de Jong, 1905 in OuwsterNijega (Friesland) geboren, erzählte. Dieses Märchen verdankte er seinem Groß-vater Abram de Groot. Hier haben wir das schöne Beispiel einer mündlichenÜberlieferung, die wahrscheinlich auf die rasche Verbreitung von GallandsÜbersetzung von Tausendundeinenacht zurückgeht. Poortinga verweist in seinemSchreiben vom 21. Februar 1983 auf die heute in Friesland noch recht beliebteSage vom Sesam-öffne-dich (Sesam-open-u).

Die Rettung durch Zauber entspricht dem Geist der arabischen Dichter, inderen Märchen metallene Standbilder und Gebäude eine wichtige Rolle spielen.Eine Variante der Agib-Geschichte ist in Abu'lfauaris9 L Reise zu finden, wo dieMagie auch mitspielt:

Abu'lfauaris segelt nach Serendib (d. i. Ceylon), und sein Schiff wird vom Magnet-berg angezogen, an dem es bald festsitzt - und nicht birst! Der Held steigt auf denBergesgipfel, wo er eine Säule erblickt, aufweicher geschrieben steht, wie er sichretten kann: Am Fuße der Säule gibt es eine Trommel, die man mit einem Sandel-schlägel rühren soll. Beim ersten Schlag löst sich das Schiff vom Berg, beim zwei-ten entfernt es sich davon, so daß die Schiffer den Berg aus den Augen verlieren,beim dritten schlägt es den erwünschten Kurs ein. Aber wer die Trommel rührt,muß zurückbleiben. Wichtiges Detail: Der Magnetberg ist hoch, steil, ähneltpoliertem Stahl, GLÄNZT und LEUCHTET4?.

Hier erfordert also die Rettung das Opfer eines Menschen, ein Motiv, demwir noch begegnen werden. Die Säule ersetzt die Kuppel, und die Trommel trittan die Stelle des Bogens und der Pfeile. D.h.: In der Agib-Geschichte und inAbu'lfauaris* L Reise stoßen wir auf interpolierte Motive, die je auf verschiedene

46 Poortinga, Y. (ed.): De ring fan it Ijocht. Fryske folksforhalen. Ljouwert 1976,145 sq.47 Petis de Lacroix, F.: Les mille et un Jours. Paris 1848, 217 sq., 226-228.

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Sagen/Märchen zurückgehen, deren Hauptmerkmal die Anwendung von Zau-ber ist. Die magische Rettung schließt die durch Vögel aus, was abermals beweist,daß diese Rettungsart von abendländlischen Dichtern mit der Magnetbergsageverknüpft wurde. Ferner möchte ich betonen, daß jede Erzählung auf eineranderen Magnetbergsage fußt: Agibs Schiff sinkt, das von Abu'lfauaris wird nurangezogen.

2 . D ie a b e n d l ä n d i s c h e n M a g n e t b e r g s a g e n des M i t t e l -a l t e r s

A) Sankt Brandan. Die Brandanlegende ist für meine Untersuchung vonbesonderer Wichtigkeit, da sie viele Momente der Magnetbergsage enthält undder erste Text ist, in dem diese vorkommen. Man datiert die uns interessierendesog. Reisefassung von St. Brandans Fahrt nach der Terra repromissionis auf ca1150. Nur diese Version kennt die Magnetbergsage, nicht die Navigatio**. VonBrandans Reise haben wir folgende Textzeugen: C = Comburgsche Handschrift(14. Jh.); H = Hultemer Handschrift (15. Jh.); M = Mitteldeutsche Bearbeitung(ca 1300); N = Ostfälisches Gedicht (letzte Hälfte des 15. Jh.s); P = BayerischeProsaredaktion (15. Jh.).

Die Reisefassung enthält zwei verschiedene Episoden, die sich um denMagnetberg organisieren, aber nur die erste ist in allen Fassungen belegt(C 425-448; H 408-430; M 291-309; N 225-240; P 167, 10-22): Nach demBesuch der Hölleninsel der Geizigen treibt ein Sturm Brandans Schiff nord-wärts in das Lebermeer, wo eine tödliche Gefahr lauert: Brandan erblickt vieleSchiffe, die festsitzen, und die vielen Mastbäume kommen ihm wie ein Waldvor - dieses Detail nur in C, H und P. Eine göttliche Stimme warnt ihn weiterzu-fahren, da dort ein Stein im Meer liege, der alles Eisen anzieht - ein Stein, keinBerg, was an den Bericht vom Rabbi Abraham ben Hamase erinnert, wo vonMagnetfelsen die Rede ist. Nur P weiß den Namen des Steins zu nennen: Er heißtjMangnet*. Ein günstiger Wind treibt das Schiff aus der gefahrlichen Gegend.

H 408 sqq.:„enen storm viel hem doe an,ende sreef haer scip van dan,notwert in die Leverzee,daer si alle hadden groet wee,ende wel na alle bleven doot,van honger ende van breken groot.Doen sach sente Brandaenmenech scip daer staen,ende meneghen maest waghen,ende uter zee raghen [...]doen sprac hem ane ene stimme:,dat hi voer met sinneoestwert metten baren.

48 cf. Intorp (wie not. 2) 655.

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Hine mocht daerwert niet vorder varen,daer lach een steen in die zeedie dede meneghen man wee:soe wat ysere daer ane quame,dat hi al dat te heme name,dat moeste daer al bliven*.doen begonde een wint driven,van daer ten oestenwert [.. .]"49.

M 291 sqq.:„ein stürm gröz sich gegen in true,dannen er den kiel slücrehte gegen dem Lebermer [...]do sach sente Brandänmanchen kiel inne standie vor mangen järendarin versigelt wären.in anrief ein stimme lut,daz der wise gotes trütnorden üf daz mer wente,da in got hin gesente.wan ein stein liget darinne,der betrübet manches menschen sinne:swaz isens da bi qu£me,daz er daz al zu im neme,ez müste ouch imme da bliben.do begonde sie ein wint tribennordenthalb verre genüc [.. .]U5°.

N 227 sqq.:„en storm gröt sek tigen se dröch:de wint den sulven kil slochrecht tigen dem Levermere [...]dar sach sunte Brandänmennigen kil inne stande over mennigen jarendarinne vorsegelt waren.Do rep dar en stempne lutdat nu so wart gehört:norden up dem mere wende!dar se got hen sende".

Hier fehlt die Anspielung auf die Magnetfelsen.Die zweite Episode ist in den mittelniederländischen Texten ausgefallen. In

M, N und P lesen wir folgendes: Nach der Entfuhrung des Zügeldiebs durch denTeufel kommt Brandän in eine Meeresgegend, wo er eine große Anzahl festgefah-

49 Blommaert, P. (ed.): Oudvlaemsche Gedichten der Xlle, XHIe en XlVe Eeuwen. Gent1838-41,1.1,100-120; C (ibid., t. 2,3-28) bietet folgende Lesarten: „levermeere" (427),„leverzee" (434), und für H 424 die Mehrzahl: „Daer liggen steene in die zee" (441).

50 Schröder, C. (ed.): Sankt Brandän: Ein lateinischer und drei deutsche Texte. Erlangen1871, Ausgabe von M, N und P.

4 Fabula 25

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rener Schiffe erblickt, also Wiederaufnahme des Lebermeer-Motivs. Nur P sagtausdrücklich, daß es sich um das ,Clebermör' handelt (173,3 und 10). DerMagnetfels wird nicht erwähnt, aber drei Einzelheiten verdienen Aufmerksam-keit: 1. Die festgefahrenen Schiffe enthalten große Reichtümer (M 625-628; N560-563; P 173,7 sq.); 2. aus den Schiffen ertönen die Klagen der Verhungern-den; 3. auf die Leichen stürzen Greifen (M 629-633; N 564-568; P 173,9-11),wobei P (173,12) bemerkt: um sie zu fressen.

M 620sqq.:„üf dem mere sie swebetenunz daz sie quämen an die stat.da wurden sie alle leides sät.sie sähen alle vur in stänmanchen kiel wol getan:die schiffe trugen äne zilder werltes gutes so vildaz alle riche mit gevucdavon betten immer genüc.man hörte jamer unde ciagenvon den die da versigelt lagen,die griefen an den kielenüf die toten vielenaldä sie lägen scharafta.

N 555 sqq.:„wü se mit lede levedendo se up dem mere swevedendö worden alle leides sät.se segen al vor on stänmennigen kil wol gedän:de schepe drögen äne tilder werlde gutes so vil,dat alle rik mit gevögedärvan hadden genöge.me horde dar jämerclagenvan den de dar vorsegelt wären.de gripen begunden tö ilen:se döden up den kilenal de dar ligen sachhaftich"51.

Bei der Lektüre dieser Episoden stellt man leicht fest, daß die Sage nochunausgereift ist. Das Lebermeer ist noch nicht durch den Magnetberg ersetztworden.

B) Herzog Ernst. Der um 1180-1200 entstandene Herzog Ernst kombiniertgelungen die in St. Brandans Reise zerstreuten Erzählmotive Lebermeer -Magnetberg - Greifen, ohne daß wir mit Sicherheit auf eine unmittelbare An-lehnung an Brandans Seefahrt schließen könnten. Aufgrund der von H. Beckers

si ibid.

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Die Sage vom Magnetberg 51

herausgearbeiteten Motivparallelen und -unterschiede könnte eine Quelle ver-mutet werden, aus der jeder der beiden Dichter geschöpft haben dürfte.

Die Bruchstücke der ältesten Fassung (A) zeigen, daß der Herzog Ernst immittel- und rheinfränkischen Raum entstand. Erst in B (um 1205-08) ist dieMagnetbergsage überliefert, dann findet sie sich in D (13. Jh.) und F (Prosa-fassung, 15.Jh.) sowie in den lateinischen Übersetzungen C (HistoriaducisErnesti

feliciter, cap. 23-25; Prosa, 13. Jh.; Vorlage von F), E (Ernestus des Odo von Magde-burg, Sp. 351 sqq., zwischen 1212-18 verfaßt) und Erf. (GestaErnestiducis Saxonia,Prosa, 13. Jh.)52.

Das Grundgerüst der Sage in all diesen Texten ist folgendes: Ernst und seineMannen verlassen das Land der Kranichschnäbler und erblicken einen „krefti-gen berc / der was geheizen Magnesa (B 3894 sq.; F 264,14 sq.; D 3217) und einenWald von Mastbäumen (B 3900 sq.), weiß wie Schnee (B 3912). Der Berg steht imLebermeer (B 3925; D 3209; F 264,13: „das sorglich mere, das syrtisch mere"),und ein Sog treibt das Schiff in diese Richtung (B 3922). Der Stein hat die Kraft(B 3947 sqq.):

„swaz schiffe dar engegen gätinner drizic milenin vil kurzen wilenhat er sie zuo im gezogen".

Dies steht nicht in D und F, wo das Festsitzen der Schiffe dem Lebermeerzugeschrieben wird (264,29-33). Wenn es Eisen auf den Schiffen gibt, so werdensie angezogen (B 3953 sqq.):

„habent sie et nietisendiu darf dar nieman wisen:sie müesen ane ir danc dargen".

Dieses Detail fehlt in D und F. Es erinnert an die gelehrte Tradition, die einzigund allein von den Nägeln spricht: Herzog Ernst ist der erste Roman des Abend-landes, in dem sie erwähnt werden. Ernsts Boot strandet, und der Held begibtsich auf die ändern festgefahrenen Schiffe, auf denen er viele Reichtümererblickt (B 4054 sqq.). Alle verhungern, und schließlich bleiben nur noch Ernst,der Graf Wetzel und sechs Männer am Leben (B 4111 sqq.); ein Greif trägt dieLeichen fort (B 4114). Dann erfahren wir aber, daß es mehrere Greifen gibt(B 4124: „die grifen kamen dar geflogen"), die ihren Jungen die Leichen bringen.Wetzel gibt den Rat, sie sollten sich in Tierhäute einnähen lassen (B 4169 sqq.).Dies wird getan, und die Greifen tragen Ernst und Wetzel zu ihrem Nest. DieHelden machen sich frei, töten die Vögel und ziehen fort.

52 cf. Szklenar, H./Behr, H.-J.: Herzog Ernst. In: Ruh (wie not. 26) t. 3 (1981) 1170-1191.F und B zitiere ich nach Bartschs Ausgabe (wie not. 4); D nach von der Hagen, F. H./Pri-misser, A. (edd.): Deutsche Gedichte des Mittelalters 1. Berlin 1808; E: Martene, E./Durand, U. (edd.): Thesaurus novum anecdotorum 3. Paris 1717, 307-366; Erf.:Lehmann, P. (ed.) in: Abhandlungen der Münchener Akademie der Wissenschaften32/5 (1927) 9-38; C: cf. Haupt (wie not. 10).

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52 Claude Lecouteux

fctfe 29:tt;otf (Btnft *nb VtJJtaff wetjeocMcnfeaetnicnl

Herzog Ernst (Anton Sorg, Augsburg ca 1476)

Alle Fassungen weichen in den Details voneinander ab: D und F wissennichts von der Reichweite der Anziehungskraft des Magnetberges (30 Meilen)und nichts von den eisernen Nägeln. C (cap. 24) enthält folgenden Exkurs überden Magnetstein:

„[...] qui per naturam ferrum sibi attrahit, applicata capitur, tenetur. Ibi eiusdemlapidis fulgor ad modum ignis de fluctibus coruscabat; quo fulgore multa vetustanavis, quae in binas partes in medio dirupta est, summitati arenae, quae est multopericulosior quam navis unda, supernatat. Malorum etiam ab illo fulgore confrac-torum moles ingentissima cadens deorsum in trierim novorum advenarum morti-ficat multos".

Denselben Bericht gibt F (266,26 sqq.) wieder. Der Magnetberg glänzt undblitzt, das Feuer des Magneten entzündet die Mastbäume (F: „von solichen aus-schießenden furstralen uß dem magneten wurdent vil großer und hoher sägel-boume angezündet"). In D (3242) und E fallen die Mastbäume der festsitzendenSchiffe, weil sie morsch („putri") sind, nicht weil alles plötzlich in Flammen auf-geht. Die Erfurter Prosa enthält ihrerseits einen interessanten Exkurs über dieLage des Lebermeeres53, wobei sich der Verfasser auf mündliche Sagen beruft.

Nun ist die Magnetbergsage ausgeformt. Da Herzog Ernst zu den beliebtestenErzählungen zählte, wurde er mehrmals gedruckt und überarbeitet. 1817 gabLudwig Uhland Ernst, Herzog von Schwaben: Trauerspiel in fünf Aufzügen heraus,

53 Lehmann (wie not. 52) 26, Z. 10 sqq.; cf. Lecouteux (wie not. 36) 316.

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Die Sage vom Magnetberg 53

und 1902 folgte die Adaptation Felix Dahns; 1967 fand in Mannheim die Urauf-führung von Peter Hacks' Volksbuch vom Herzog Ernst oder: Der Held und seinGefolge (Stück in einem Vorspiel und drei Abteilungen) statt.

C) Virgilius der Zauberer. Von Virgilius' Fahrt zum Magnetberg besitzen wirverschiedene Textzeugen, die stark voneinander abweichen und die Sage völligentstellen. Anhand einiger Strophen des Wartburgkrieges und Strophen zweierGedichte im Thüringer Herrenton hat J. Siebert einen Text rekonstruiert, der fol-gendes besagt54:

Aristoteles kennt das Märe vom Agetstein. Eine adelige Familie, die in Armut gera-ten war, hört, daß viele Schiffe um den Stein stehen, in denen große Schätze liegen.Sie bitten Virgilius, sie ihnen zu bringen. Er nimmt den Vorschlag an, weil eineUrkunde, die er haben will, „uff dem augetstein da stat* (K 21). Er kennt den Weg,die Winde und die Gefahr der Sirenen (cf. St. Brandan) und fahrt ab mit dem Kapi-tän Falian/Folian, verproviantiert sich „üf ein jära (C 80; K 22; WK 164), nimmtsogar vier große Ochsen mit. Darauf folgt ein Exkurs über das „clebermer". DieFahrt dauert vierzehn Wochen, die Reisenden hören Sirenen, Krokodile ergreifendie Schlafenden, die Greifen holen sich auch ihre Beute.

Eines Tages erblicken sie „manegen hohen mast/als einen dürren wait" undden hohen Berg. Der ,Stein* zieht die vier angeketteten Ochsen an (Str. 4). Darauffolgt die Geschichte vom Geist Melian: Er hat einen Schwalbenstein gefunden, derdie Kraft hat, Eisen vom Magneten zu lösen. Damit befreit Virgilius die Ochsen. Ernimmt die Reichtümer aus den anderen Booten, wirft die Ochsen über Bord: EinWalfisch scheint sie zu verschlingen, und somit entfernt er das Schiff vom Magnet-berg „zwelf raste lanc". Aber die Seile reißen ab, und die Fahrenden verlieren auchihre Anker.

Virgilius findet einen schmalen Pfad - währenddessen verhungern die anderenund werden von Greifen fortgetragen -, durchsucht den Berg, sieht eine Fliege ineinem Glas, die ihn um Hilfe bittet: Wenn Virgilius sie befreit, wird sie ihm zeigen,wo Zabulons Buch steht (Str. 9). Das tut der Zauberer, und er erfahrt, daß es einehernes Standbild mit einem Brief im Haupt und einem Kolben in der Hand gibt(Str. 10) - ein recht orientalisches Motiv! Die Fliege bzw. der Geist („ez moht vil wolein tiufel sin") zeigt ihm die Statue; Virgilius bemächtigt sich des Buches (Str. 11)und sperrt den Geist wieder in das Glas ein. Dann verbirgt er sich in einer Tierhaut,und Greifen tragen ihn fort auf einen hohen Stein, wo St. Brandan in großen Sor-gen liegt. Er öffnet das Buch mit einem Schlüssel, liest darin und kann nach Romzurückkehren. Ein Text sagt, St. Brandan habe ihm den Schlüssel gegeben.

Dieses Resume ist beinahe klarer als der Text selbst, der von interpoliertenMotiven wimmelt, die irrefuhren. In einer anderen Fassung, dem Meisterlied imlangen Ton Heinrichs von Mügeln, lautet die Sage folgendermaßen:

Venezianer wollen reich werden, und ein Schreiber namens Virgilius zieht ineinem Schiff mit ihnen fort. Sie fahren bis zum Achstein, haben sogar zwei Greifenmitgenommen, die (obwohl das nicht gesagt wird, ist es leicht erkenntlich), amBoot mit Seilen verbunden, das Schiff vom Magnetberg hätten entfernen sollen.

54 Siebert, J. (ed.): Virgils Fahrt zum Agetstein. In: Paul und Braunes Beiträge zurGeschichte der deutschen Sprache und Literatur 74 (1952) 193-225.

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54 Claude Lecouteux

Die Seile reißen ab. Virgilius klettert auf den Berg, findet des Teufels Knecht imGlas, der ihm gegen die Freiheit seine Hilfe verspricht. Auf dem Berg steht ein„besunder" (?) mit einem Brief in der Nase, und unter ihm ein Toter und ein Buch.Virgilius nimmt das Buch, schlägt es auf: Daraus entfliehen achttausend Teufel, diedes Zauberers List bald wieder in das Buch bringt. Virgilius fordert von seinenGesellen einen Teil der gewonnenen Reichtümer, und die Rückfahrt nach Venedigwird in einem Vers erledigt.

Virgilius' Fahrt zum Magnetberg ist auch in dem nach 1291 gedichteten Rein-fried von Braunschweig überliefert55. Darin wird erzählt (V. 21022 sqq.), nur Virgi-lius und seine Gesellen hätten den Magnetberg verlassen können; sie hätten dasBuch des Nekromanten Savilon gefunden und genommen. Ferner erfahren wir.daß König Salomo den Teufel in ein Glas gebannt hatte.

Die Virgiliussage vermengt also Erzählmotive verschiedener Herkunft:- Die an dem Schiff angebundenen Ochsen und Greifen sind Nachahmun-

gen von Alexanders des Großen Luftfahrt.- Der Teufel im Glas entstammt orientalischen Erzählungen, vor allem der

Salomosage, deren Kenntnis das Abendland den Juden und später den Arabernverdankt.

- Der teuflische Automat mit Brief und Kolben erinnert an die Statuen, diein Tausendundeinenachf ständig erwähnt werden; im Unterschied zu den Automa-ten der mittelalterlichen Literatur des Westens wird nämlich immer präzisiert,sie seien ehern oder kupfern.

- Daneben kennt der anonyme Dichter der Virgiliussage den Herzog Ernstund St. Brandans Reise, woraus er vielleicht das Motiv der Rettung durch die Grei-fen geschöpft hat.

Aber das Mißlingen der jeweiligen Rettungsversuche zeigt, daß es sich umZusätze handelt. Die ursprüngliche Fassung kannte wahrscheinlich nur folgendeMotive: Fahrt zum Magnetberg, Entdeckung einer Urkunde (Buch oder Brief)und magische Rettung mit Hilfe eines Geistes, oder sogar ohne dessen Hilfewie in Abu'lfauaris* L Reise und in der Geschichte des Lastträgers und der dreiDamen.

D) Der Herzog von Braunschweig (Sage von Heinrich dem Löwen). In diesemSagenkreis finden wir verschiedene Fassungen der Magnetbergsage, die ein nie-derländisches Volksbuch, der Reinfried von Braunschweig und ein böhmischesVolksbuch des 15./16. Jahrhunderts überliefern56. In allen ist der Einfluß desHerzog Ernst spürbar. In der niederländischen Erzählung steht folgendes57: DerHerzog von Braunschweig schifft sich ein mit seinen Mannen und fahrt nach

55 Bartsch, K. (ed.): Reinfried von Braunschweig. Stuttgart 1871, V. 21022-21035,21548-21571, 24256-24269.

56 Analyse bei id. (wie not. 4) CXXH sq.57 von der Hagen, F. H. (ed.): Historie-Liedeken van den Hertogvan Bronswyk. In: Neues

Jahrbuch der Berlinischen Gesellschaft für Deutsche Sprache und Alterthumskunde 8(1848) 359-369.

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Die Sage vom Magnetberg 55

dem Heiligen Land. Bei einem großen Sturm gehen alle Schiffe unter bis auf dasdes Helden. Der Sturm verschlägt es in die Lebersee: Alle, die dahin kommen,sitzen infolge der Wirkung der Steine fest, die allen Stein anziehen. In der Nähelebt der Vogel Greif, der Tag und Nacht das Schiffumkreist, so daß sich keiner aufdas Deck wagt. Einer, der dies tut, wird fortgetragen. Der Herzog befiehlt, mansolle ihn in eine Ochsenhaut nähen, ihm sein Schwert geben und ihn auf dasDeck legen, was geschieht. Der Greif trägt ihn bis zu seinem Nest.

12 „Die was hun onbekend, is de Leverzee genaemd,Daer geen scheepen van hier ontrent en können vaeren ongepraemt.Zy moeten daer blyven al, die in dees zee geracken,Den Hertog met groot misval, moest daer zyn woonste maeken.

13 Aen deze zee zyn steenen groot, van wonderlyken aerd,Die aen ider stael en lood, blyven hangen ongespaert,Zoo dat' er geen schepen voort können vaeren, kwalyk met eenenZy moeten blyven in't verdriet door*t geweld van deze stenen.

14 Zy moesten blyven in nood, was 't niet een groot geween,En moesten sterven de dood, behalven den Hertog alleen,Die kwam uyt dit kruys ten eynde van zeven jaerenZwam hy nog weder t'huys, met alzoo groot bezwaeren [...].

16 Dezen vogel groot van macht, is genaemt den Grifioen,En vloog dag ende nacht, ontrent het schip zeer koen,Zoo dat zy haer niet dorrten boven op 't schip begeven,Of den feilen vogel fris zou z'hebben weg gedreven.

17 Den vogel was zeer groot, en vreeselyk om zien,'t Gebeurde eens by nood, dat een van's Hertog lienBoven op't schip was gegaen, den vogel kwam daer gevlogenEer hy hem wierd gewaer, heeft hem van 't schip getogen [...].

19 Doet dat ik u zeggen zal, sprak den Hertog overluyd,'t Is myn begeiren al, naeyt my in een ossen-huyd,Legt my dan op't schip, daer nevens myn zweird verheven.Alsdan komt den Grifioen, ik wil my met hem begeven [...].

21 Dezen vogel zeer schalk, bragt den Hertog in zyn nest [.. .]*.

Wenn wir diesen Text mit Michel Wyssenherres Gedicht Eyn buoch von demedekn herrn von Bruneczwigk vergleichen58, stellen wir fest, daß die Magnetberg-sage interpoliert wurde: Alle anderen Textzeugen der Sage Heinrichs des Löwen(Mörungerlied, Volkslied von Heinrich dem Löwen) berichten von Windstille,Lebermeer oder noch von unmöglicher Fahrt, da die Segel gebrochen sind; d. h.:Die Episode ist mit dem entsprechenden Passus des altfranzösischen Akxander-romans und dem Reisebericht Benjamins von Tudela verwandt59.

58 In Faksimile ediert von Dinckelacker, I./Häring, W. (Litterae 41). Göppingen 1977;kurze Analyse der Beziehungen des Textes zum Herzog Ernst ibid., 10-13; v. auchBartsch (wie not. 4) CIXsqq.

59 Lecouteux (wie not. 36) 315; Haupt (wie not. 10) 296.

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56 Claude Lecouteux

Eine völlig andere Bearbeitung der Sage überliefert Reinfried von Braun-schweig. Der Herzog befreit das Heilige Land, besucht die heiligen Stätten. Andiesen Kreuzzug-Teil schließt sich ein Abenteuerteil an, dessen HöhepunktReinfrieds Besuch des Magnetberges bildet (V. 20989 sqq.), dem, wie in St. Bran-dan, ein Abenteuer bei den Sirenen folgt. Der Dichter vermengt mehrere Sagen:Salomosage (Geist im Glas), Virgiliussage (Savilöns Buch) und Herzog Ernst; aufletzteren Roman wird ausdrücklich verwiesen (V. 21054-21066: bei der Greifen-rettung; V. 21115-21125: Reichtumsmotiv). Folgendes ist zu lesen:

Als er bei der Amazonenkönigin weilt, hört Reinfried vom Magnetberg undbeschließt, ihn zu besuchen. Die Königin gibt ihm ein Wunderkraut, von dem ersich ernähren kann (V. 20778 sqq.), und befiehlt, ein EISENLOSES BOOT zubauen. Ferner darf keine Rüstung mitgenommen werden (V. 20820 sqq.):

„alliu ir kleiderdiu von isen sint gesnitenwerden üf der vart vermiten".

Hierauf folgen die Geschichten vom Teufel im Glas und vom Wunderkraut(V. 20900 sqq.). Nach einer problemlosen Fahrt von mehr als 200 Meilen kommtReinfried vor den gefährlichen Berg, wo viele Schiffe festsitzen. Der Dichterbemerkt hier, keine lebendige Kreatur außer Virgilius und Ernst hätten diesen Ortverlassen können (V. 21022 sqq.), und Virgilius habe Savilöns Buch gefunden,womit dieser den Teufel in ein Glas bannte. Nach einer kurzen Schilderung vonErnsts Abenteuer am Magnetberg, wobei wir erfahren, daß sich der Held inRoßhäuten von den Greifen forttragen ließ (V. 21063), erfolgt eine ausführ-liche Beschreibung der Reichtümer der gestrandeten Schiffe (V. 21066 sqq.). Rein-fried findet einen Pfad und gelangt auf den Berg hinauf, erblickt ein ehernesTor (V. 21148), vor dem ein ehernes Ungeheuer in Menschengestalt steht(V. 21156 sqq.), und er wagt sich nicht heran. Er sieht sich um: Der Berg ist voneiner ehernen Mauer umgeben (V. 21252 sqq.), mit vier Standbildern an den vierEcken und vier ehernen Toren. Er findet eine Höhle mit Savilöns Grab, an demein Buch angekettet ist, das er liest (V. 21278 sqq.). Nun weiß er, daß Savilön dieStatuen, die Mauer und den Berg mit Hilfe von Geistern („boese geiste") gebaut hat(V. 21444 sqq.). Außerdem hat dieser Zauberer einen Geist eingeschlossen(V. 21532 sqq.):

„mit meisterlichen prisehat er verslozzen in ein glaseinen geist [...]".

Dann erzählt der Dichter von Virgils Besuch an dem Berg (V. 21549-21713).Vom Gipfel des Berges erblickt Reinfried ein antreibendes Schiff, das bald festsitztund dessen Kapitän seine Abenteuer erzählt (V. 21841-21988): Er hatte vieleGefährten, die er vor drei Tagen durch eine Sirene verlor. Reinfried beschließt, denGesang der Sirenen zu hören. Da sein Schiff kein Eisen enthält, kann er den Bergverlassen.

Die Sage ist hier völlig entstellt und literarisiert: Die magische Rettung mitHilfe des Zauberbuches oder eines Geistes und die Rettung durch die Greifen istausgefallen. Das Motiv des eisenlosen Bootes legt nahe, daß sich der Dichter engan den geographischen Bericht anlehnt. Allerdings kennt er die schon erwähnten

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Die Sage vom Magnetberg 57

Sagenkreise, aus deren Elementen er seine Erzählung baut. Neu ist aber, daß derBerg von einer Mauer umgeben ist60.

Im böhmischen Volksbuch von Stiüfried und Bruncwig haben wir eine andereBearbeitung der Sage61:

Bruncwig fahrt auf Abenteuer aus. Er besteigt ein Schiff und sticht mit seinenGefährten in See. Drei Monate treiben sie umher, bis sie ein Sturm in die Nähedes Magnetberges („hora jakStynova" „hora Akt$tein") verschlägt, der das Schiffan eine unterhalb desselben liegende Insel namens Zelator heranzieht, wo sieviele zugrunde gegangene Schiffe und Menschen erblicken (cf. Herzog ErnstV. 3883 sqq.; 3922; 4005 sqq.). Bruncwigs Genossen verhungern und essen sichgegenseitig auf, bis zuletzt nur noch der Held allein und ein alter, treuer Ritter,Balad, am Leben bleiben. Auf Balads Rat läßt sich Bruncwig in eine Pferdehaut ein-nähen und diese mit Blut bestreichen, worauf ihn ein Greif erfaßt und in sein Nestträgt.

Hier erübrigt sich ein Kommentar, dennoch sind zwei Einzelheiten vonWichtigkeit: Hier sind die Schiffe gesunken, somit fallt das Motiv des Reichtumsaus, aber Bruncwigs Boot geht nicht unter, was daraufhindeutet, daß der Erzäh-ler den Herzog Ernst und den geographischen Bericht vermischt. Ferner gibt eshier zwei Inseln, ein blindes Motiv, das ich nicht zu deuten vermag, es sei denn,daß dies als ein Erklärungsversuch dafür zu verstehen ist, weshalb des HeldenSchiff nicht zugrunde geht.

E) Verwendung der Sage in anderen mittelalterlichen Werken. In Kudrun (ca 1240)begegnet uns der Magnetberg62, wobei ein neues Motiv auftaucht: Der Berg isthohl, und in ihm lebt ein wunderbar reiches Volk. Der Dichter nimmt den geo-graphischen Bericht wieder auf, benennt den Berg, sagt:

1109 „Ir anker die wären von isen niht geslagen,von glocken spise gozzen, so wir hoeren sagen".

Die Episode enthält folgendes: Unter Horants Führung segelt Hildes Heernach Ormanie. Südwinde treiben sie an den Magnetberg Givers, der sich imLebermeer erhebt. Durch veränderten Wind verlassen sie den gefahrlichenOrt.

1126 „Ze Givers vor dem berge lac daz Hilden her.swie guot ir anker waeren, an daz vinster mermagneten die steine heten sie gezogen [.. .]".

60 cf. Lecouteux, C.: Der Menschenmagnet. In: Fabula 24 (1983) 195-214.61 Ich benutze hier das Resum£ von Feifalik, J.: Zwei böhmische Volksbücher zur Sage

von Reinfried von Braunschweig. In: Wiener Sitzungsberichte 29 (1859) 83-97; Ergän-zungen und Nachträge ibid. 30 (1860) 21-30.

62 Symons, B. (ed.): Kudrun. Tübingen 41964.

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58 Claude Lecouteux

Um alle zu zerstreuen, erzählt Wate folgende Geschichte:

1128,3 „Ich hörte ie sagen von kinde für ein wazzermaere,da ze Givers in dem berge ein witez künicriche erbouwen waere.

1129 Da leben die Hute schöne; so riche si ir lant,da diu wazzer vliesen, da si silberin der sant:da mite müren s* bürge, daz sie da habent für steine,daz ist golt daz beste, ja ist ir armüete harte kleine.

1130 Und hörte sagen mere (got wurket manigiu were):swen die magn£ten bringen für den berc,daz lant hat die winde, swer ir mac erbiten,der ist immer riche mit allem sinem künne nach den ziten*.

Hier ist festzuhalten, daß sich Wate auf Schiffermärchen beruft („wazzer-maere") sowie auf mündliche Überlieferung („hörte sagen").

Der letzte Textzeuge ist Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel (Mittedes 13. Jh.s)63. Die Gralsippe verläßt Pitimont/Plimonte und kommt vor denMagnetberg:

5996 „Dem magnes alzu nahen füren sie dem steineden künde niht vervahen sin isen craft sie funden in kiel niht eine.ich wen ir tousent was da bi verdorben.und ful vor manigen jaren. als nach vil dicke wirt alda erworben.

5997 Die roß und ouch die leute. wenn die vor hunger lagen.tot mit har und ouch mit heute, fürten ez die griffen al da sie neste pflagen.von silber golde lac da richeit wunder [...]".

Im Gegensatz zu den anderen Erzählungen gibt es Überlebende auf den fest-sitzenden Schiffen, und sie verteidigen sich gegen die Greifen (Str. 5998). DerBischof Bonifante und dessen Kaplane taufen diese Heiden. Die Reichtümerwerden auf die Schiffe verladen, und die Fahrt wird fortgesetzt (Str. 6005):

„da sie die schiff geluden. mit richeit maniger dinge.da sunst die craft hie müden, des magneten wart an habene ringe.die richeit gein dem lebermer sie wanden.dar inne was alsam ein wait, von kielen gar gestecket und bestanden".

D. h. Albrecht kennt augenscheinlich die Magnetbergsage, so wie sie imHerzog Ernst überliefert wird, behält aber nur einige Motive bei: Anziehungs-kraft, Lebermeer, Wald von Mastbäumen, Reichtümer. Neu ist hier die Erwäh-nung der Überlebenden.

63 Hahn, K. A. (ed.): Der Jüngere Titurel von Albrecht von Scharfenberg. Leipzig1842.

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Die Sage vom Magnetberg 59

IV. Die altfranzösische erzählende Literatur

Bis zum Ausgang des Mittelalters sind auf französischem Boden einigewenige Magnetbergsagen belegt, die sich in zwei Gruppen gliedern: Einerseitshandelt es sich um Texte, die die europäische Fassung der Sage wiedergeben,andererseits haben wir Textzeugen, die mit dem Reinfried von Braunschweig undder Virgilsage irgendwie verwandt sind, nämlich Blrinus und Ogier le Danois. Ichbeginne mit der ersten bezeugten Fassung.

A) Esclarmonde (13. Jh.)64. In dieser Fortsetzung von Huon de Bordeauxscheint die Magnetbergsage auf eine der lateinischen Herzog Ernst-ÜbtTsetzun-gen zurückzugehen; der Einfluß der Brandanlegende ist auch unverkennbar.

Huon tötet zwei Neffen des Kaisers, Raoul und Gualerant, muß fliehen, schifftsich von Bordeaux nach Aufanie ein. Nach achttägiger Fahrt weiß der Lotse nichtmehr, wo sie sind (V. 1005 sqq.). Der Kapitän steigt in den Mastkorb und sagt(V. 1017 sqq.):

„Bien voi palagres de mer encargie m'aet que no nef tous jours avalera.Li aymans, je cuich, nous conquerra*.

Darauf begegnen sie Judas (V. 1033 sqq.), der sie vor dem Magneten warnt(V. 1086 sq.):

„tu ies perdus, ce li a dit Judas,car ens u gouffre a Paymant en vasa.

Die Fahrenden erblicken ein Land, vom Gipfel des Mastes sieht der Kapitäneinen Wald von Mastbäumen (V. 1091 sqq.), woran er erkennt, daß sie sich demMagnetberg nähern (V. 1104 sqq.). Bald sitzen sie an dessen Fuß fest und verzwei-felt empfehlen sie sich Gott. Der Kapitän weiß aber einen Rat (V. 1127 sqq.):

„Biax sire Hues, par la vertu nommee,de no vitaille iert droiture moustree:il est droiture parmi la mer saleeque la moitie est au Seignour donnee.Puis qu'a tous jours soit li nave arrivee,tant c'on puet vivre li est abandonnee".

Dies tun sie. Sie bleiben mehr als zwei Monate am Magnetberg, die Lebensmit-tel gehen aus, nacheinander sterben alle. Huon betet, hört plötzlich einen großenLärm: Ein Greif fliegt herbei, stürzt sich auf die Toten und trägt sie fort(V. 1211 sqq.). Huon denkt, der Vogel könnte ihn retten (V. 1255 sqq.). Er wappnetsich und legt sich zu den Toten hin (V. 1261 sqq.), wird fortgetragen bis zu einer ber-gigen Insel, die dem admirant de Perse untersteht. Da stehen ein Baum mit verjün-genden Früchten („li fruis de jovent") und ein Brunnen65...

64 Brewka, B. A. (ed.): Esclarmonde, Ciarisse et Florent, Yde et Olive l, Croissant, Yde etOlive 2, Huon et Ies G6ants, Sequels to Huon de Bordeaux. Diss. Nashville, Tenn.1977.

65 In der lateinischen Navigatio s. Brandani (cap. 11) wird eine Insel erwähnt mit Quelleund einem mit einer Unmenge weißer Vögel besetzten Baum. Diese Vögel sind die sog.neutralen Engel.

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60 Claude L·couteux

B) Charles k Cbauve (15. Jh.)66. In dieser Nachahmung der Abenteuer Huonsde Bordeaux wird Dieudonne, der Schützling der Fee Gloriande, von einemSturm an den Magnetberg verschlagen (Bl. 42 a):

„et ii tempeste grans si avant les menaque l'a'imant senti le fer que leur nef a,a ssoi le trait et tire, tellement le sacha,que droit a Pa'imant leur vaiseil s'aresta".

Dieudonne besitzt ein wunderbares Hörn, womit er - wie Huon - die Fee her-beirufen kann. Gloriande will ihm nicht behilflich sein, doch erlaubt sie schließ-lich dem Zwerg Maufune, zum Magnetberg zu fahren und gibt ihm ein eisenlosesBoot(Bl. 42 b):

Je te souhaiterai, sans nul arestement,.1. batel noble et grant, par tel devisementque point de fer n'i ait avironn(e)menta.

Maufune erreicht den Magnetberg und rettet Dieudonne.

Leicht stellt man fest, daß wir hier eine Kompilation aus mehreren Werkenhaben, wobei der geographische Bericht einen wichtigen Platz einnimmt. DieArt der Rettung erinnert an das Schiff, das Reinfried von der Amazonenkönigingeschenkt wird.

C) Ogier k Danois (alexandrinische Fassung des 14. Jh.s)67. Hier stoßen wirauf bekannte, obwohl seltenere Motive. An den Magnetberg getrieben, verhun-gern Ogier und seine Gesellen. Als alle gestorben sind, erscheint dem Helden einEngel und flößt ihm Mut ein. Ogier begibt sich zu einem WUNDERSCHLOSSauf einer Insel nahe dem Magnetberg, das tagsüber unsichtbar ist und des Nachtshell leuchtet. Um dorthin zu gelangen, geht Ogier von Schiff zu Schiff- diesesind also nicht gesunken. Des Helden Abenteuer im Zauberschloß haben dannkeine Beziehung mehr zur Magnetbergsage: Ogier begegnet einer Riesen-schlange, erschlägt sie, ißt Obst in einem Garten und wird vom Aussatz befallen.

Das hell leuchtende Schloß gemahnt an den Berg Karbunkulus im böhmi-schen Volksbuch von Stillfried und Eruncwig und zeugt davon, daß eine arabi-schen Alexandersage, deren Spuren wir in Kazwinis Kosmograpbie begegnen68, imAbendland bekannt war. Überdies ist die von G. Huet vermutete Abhängigkeitdes Ogier von Esclarmonde fraglich69.

D) Berinus (Prosaroman aus dem 14. Jh.)70. Dieser Roman ist vielleicht derinteressanteste in bezug auf die Magnetbergsage. Er enthält nämlich orienta-

66 cf. Huet (wie not. 5) 446 sqq. Er zitiert den Text nach der Handschrift der BibliothequeNationale, Ms. fr. 04372, v. Bl. 42 ab.

67 v. Huet (wie not. 5) 448. Es handelt sich um die Pariser Arsenal-Handschrift 2985, hierBl. 632 sqq.

68 cf. Lecouteux (wie not. 36) 312 sqq. (Insel des leuchtenden Schlosses).69 Anzunehmen ist vielmehr die ÜDernahme einiger geläufiger Erzählmotive, keine

unmittelbare Anlehnung!70 Bossuat, R. (ed.): Berinus, Roman en prose du XlVe siecle 1-2. Paris 1931; v. auch Huet

(wie not. 5) 427 sqq.

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Page 27: Die Sage vom Magnetberg

Die Sage vom Magnetberg 61

lische Komponenten, u. a. die Rettung mit Hilfe von Zauber und Menschen-opfer. Erzählt wird folgendes:

Berinus und Cleopatras herrschen in Rom, haben zwei Kinder, Aigre undRomaine. Infolge eines Verrats muß Berinus mit Frau und Kindern das Reich ver-lassen. Alle schiffen sich ein, ein Sturm verschlägt sie an den Magnetberg. Aberzuerst geraten sie ins Lebermeer („la Mer Morte qui ne se muet"), und ein Sog treibtsie fort. Sie versuchen ihm zu widerstehen, werfen umsonst die Anker. Über Nachtkommen sie vor einen Wald: „Tant regarda qui'il lui sembla qu'il vit devant lui unBOYS ou il avoit grant plante d'arbres".

Bei diesem Anblick fallt der Lotse in Ohnmacht, kommt wieder zu sich undsagt:„[...] carbienvoyquec'estliAlMANSdontnulnepeutdepartir [.. .J.Lanefprint en teile maniere son cours qu'elle s'en vint a l'aymant et s'arresta encorte lesautres nefs dont il y avoit grant habondance" (233).

Bald darauf erzählt der anonyme Dichter vom Magnetberg: „Li lieux, ou cilzaymans est, est parfont en lOcean, ne il n'y a nulle terre porchaine ou Ten peüstvenir en mains de XV jours, et a tel lez la ou n'en n'y venroit mie en un an, et estencoste la MER BETEE. Cilz aymans a Vc toises de lonc et autant de grossee, et estde tel nature que de trois journees ou de plus nefs ne le puet aprouchier qu'iln'atraie par force a lui, pour tant que fer ait en la nef, car il aime tant et desire le ferque il le sent bien de IIC Heues loings" (234).

Alle weinen, beten, klagen. Ein ausgehungerter Mensch namens Siliran steigtwortlos in ihr Schiff ein (235), erzählt von seinem Schicksal (236) und sagt: J'aypluseurs foiz ceste pierre environnee, tant qu'il advint devant hier, par avanture,que je trouvay du costo par dela un escript" (238).

Siliran fuhrt Aigre dorthin, und der Held liest folgendes: „Se il est aucuns queFortune ait cy admene et il s'en vueille departir, il convient premierement vuidiertout l'avoir et la richesse d'or et d'argent qui sera en leurs nefs, fors tant seulementen retenra par extimation qu'il en ait assez pour revenir en son pai's71. Et puis qu'ilara ce fait, eil de la nef getteront un sort, et eil sur qui le sort escharra montera pardeseure moy, sy y trouvera UN ANEL gisant, lequel y CETERA EN LA MER. Ettantost que li aigneaux sera depart! de moy, la nef pourra aler saine et sauve o toutela gent, fors que eil y demour(r)a tant seulement qui l'anel aura gette en la mer, etconvient par force que eil qui ce sort fera, soit par aucun sort esleü, car autrementnulz n'y pourroit valoir ne aidier quant a ceste besongne" (238).

Es wird gelost (240) und Aigre muß zurückbleiben. Er findet den Ring undfolgt den Hinweisen der Inschrift (243): Er wirft ihn ins Meer. Ein Sturm erhebtsich und treibt das Schiff fort. Aigre verzweifelt, erhält den Besuch des ZauberersMauchastre, der ihm seine Hilfe verspricht. Aigre besichtigt die anderen Schiffe,findet ein Pferd, mit welchem er seine Lebensmittel teilt. Eines Tages kommt einvom Magneten angezogenes Schiff; Aigre lehrt die Schiffer, was zu tun ist (274),und diesmal fallt das Los auf einen anderen.

Eirinus ist in gewisser Weise verwandt mit der Geschichte des dritten Bettelmön-ches und Abu'lfauaris'l. Reise (Motiv Zauber) sowie mit der Virgilsage. Neu sindallerdings die Anwesenheit eines Überlebenden und das Über-Bord-Werfen derReichtümer, letzteres Detail erinnert an die Worte des Kapitäns in Esclarmonde(V. 1127 sqq.).

71 cf. Esclarmonde, V. 1127 sqq., wo auch einiges über Bord geworfen wird.

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Page 28: Die Sage vom Magnetberg

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E) Das Prosavolksbuch von Huon de Bordeaux (15. Jh.)72. Eigentlich handeltes sich hier um die Prosaauflösung von Esclarmonde, und der anonyme Bearbeiterinterpoliert in die Magnetbergsage mehrere Erzählmotive:- Die Mastbäume der festsitzenden Schiffe sind mit Laub bedeckt (Bl. 130 a),wie in Mandevilks Reisen:

„[...] que du boys des nefz qui grant temps ont la este sont saillis beaulx arbres etbois feuilluz, que advis est que ce soit une grande forest".

- Auf dem Magnetberg steht ein Wunderschloß und (Bl. 131 a):

„par nulz des costez du mont n'y pouoit monter ne approcher que premiere-ment il ne convenist monter par une voye estroite ou il y avoit trois cens soixante etdouze degrez, lesquelz estoient si estroictz qu'il n'y pouoit monter que un hommede front".

Dieses Motiv scheint Ogier kDanois zu entstammen, aber ich erinnere daran,daß es auch in der Geschichte des dritten Bettelmönches solch eine Treppe und einWimdergebäude gibt.- Unmittelbar auf Ogier geht die Episode zurück, in der Huon sich ins Schloßbegibt, eine Schlange tötet und Obst in einem Garten ißt.

V. Ergebnisse

Nun kennen wir meines Erachtens die verschiedenen Formen der Magnet-bergsage im Mittelalter. Solange wir nicht über sie Bescheid wußten, konnten wirnicht sagen, ob die späteren Erzählungen auf schriftlicher oder mündlicherÜberlieferung beruhen: Der Vergleich der Texte erlaubte mir z. B., das von Poor-tinga mitgeteilte friesische Märchen als Ausläufer einer orientalischen Erzäh-lung zu identifizieren. Die Ergebnisse der Untersuchung möchte ich folgender-maßen zusammenfassen:

1. Aus dem Vergleich der abendländischen mit den morgenländischenSagen geht hervor, daß sich die europäischen Textzeugen durch folgende Ret-tungsarten auszeichnen:

- in Tierhäuten von Greifen fortgetragen werden;- Schiff von Greifen fortgezogen;- Schiff von einem Walfisch vom Magnetberg entfernt.Die orientalischen Erzählungen kennen als Rettungsart eine Zauberhand-

lung, die manchmal die Erscheinung eines geisterhaften Helfers bewirkt.2. Motive aus dem Orient dringen im Laufe des 13. Jahrhunderts in die

Erzählliteratur vor, und die magische Rettung wird nun von den mittelalter-lichen Dichtern gebraucht (v. z. B. Virgilsage, Berinus).

72 Huet (wie not. 5) 448 sq. Das Volksbuch liegt in einer undatierten Pariser Ausgabe vor.

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Wünschenswert ist aber eine Herausarbeitung der wichtigsten Motive:- Lebermeer: nur im Abendland mit der Magnetbergsage verbunden (Brandan,Herzog Ernst, Virgilius, Esclarmonde, Herzog von Braunschweig- Schiffbruch: in den orientalischen und friesischen Sagen, nicht in HerzogErnst, Huon de Bordeaux, Exclarmonde, Berinus, Virgilius;- Rettung durch Greifen: nur im Abendland mit der Magnetbergsage verbun-den (Herzog Ernst, Esclarmonde, Herzog von Braunschweig, böhmisches Volksbuch).Erwähnt werden die Greifen in der Nähe des Magnetberges in: Brandon, Kudrun,Jüngerer Titurel, wobei feststeht, daß diese Texte das Thema Magnetberg nur strei-fen. Das Motiv kommt in der Virgilsage verdunkelt vor.- Rettung durch Zauber: 1. Einer muß sich opfern (Abu'lfauaris, Borinus);2. Hilfe eines Geistes (1001 Nacht, Virgilius, friesisches Märchen); 3. Schwalben-stein (Virgilius).

Nebenmotive und Ausschmückungen:- ein einziger Überlebender (Esclarmonde); die anderen Texte variieren die Zahlvon zwei bis sieben (zwei in Stiüfried und Bruncwig, sieben im Herzog Ernst);- eisenloses Boot (schließt die erwähnten Rettungsarten aus): Reinfried vonBraunschweig, Charles le Chauve;- Magnetberg nebst zweiter Insel: Ogier, böhmisches Volksbuch;- Magnetberg leuchtet und blitzt: Abu'lfauaris, Herzog Ernst C. In Ogier han-delt es sich um ein leuchtendes Schloß.- Wald aus den morschen Schiffen entstanden: Mandeviües Reisen, Prosa-Huon;- Zauber: 1. Geist im Glas: Fliege (Virgilius, Reinfried), Vogel (Berinus); 2. Auto-mat oder Standbild (1001 Nacht, Reinfried, Virgilius); 3. Wundergebäude (1001Nacht, Abu'lfauaris, Virgilius, Reinfried, Ogier, Berinus, Prosa-Huon).

Diese Aufstellung zeigt, daß orientalische Erzähltraditionen eine wichtigeRolle in der Ausformung der Magnetbergsage gespielt haben.

VI. Ausblick

In volkstümlichen Erzählungen hat die Sage einige wenige Spuren hinterlas-sen. In Italien ist sie heute noch in der sizilianischen Ortsbezeichnung ,Peninsuladi Magnisi' (im Golf von Augusta zwischen Syrakus und Augusta) lebendig73. Inder französischen Bretagne begegnet uns ein allem Anschein nach letzter Aus-läufer des Prosa-Huon1*, die anderen Sagen, die P. Se"billot mitteilt, haben wenig

73 cf. Times Atlas of the World 4. London 1956, 81.74 Huet (wie not. 5) 448 sq.; Sebillot, R: Legendes, croyances [...] de la mer 1. Paris 1866,

256 sq.

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mit unserer Sage gemeinsam75. Nur in den Niederlanden und besonders in Fries-land lebt die Sage heute noch fort. Y. Poortinga veröffentlichte kürzlich zweiTexte aus dem Sagenkreis um Sankt Brandan, die die oben erwähnten Auszügeaus den mittelalterlichen Fassungen ausbauen (cf. H 408 sqq., M 291 sqq. undN 227 sqq.) und die Episode stark christianisieren76. In dem ersten Text (num. 50)heißt es:

Brandan begegnet einem Seemann, dessen Schiff in der Nähe des Magnetbergesgesunken ist. Eines Tages, erzählt dieser, hörten sie in der Nähe einer Insel Schreienund Jammern; sie fuhren auf das Eiland zu, aber die Nägel flogen aus dem Schiffund dem Berge zu; alle kamen um, er selbst rettete sich, indem er den Sack einesMatrosen ergriff, in welchem sich eine Bibel befand.

„Op in kear dat se mei har skip tichte by in eilan kommen wienen, hienen se derroppen en gülen heard fan minsken dy*t se net sjen koenen. Se hienen der hinnesild, mär doe't se der hast oan ta wienen, begun it skip te skodzjen en te kreakjen enALLE SPIKERS EN NEIELS FLEAGEN UT it hout. De planken en de balken foe-len gewoan fanelkoar en elkenien d/t oan board wie ferdronk. Doe't se de seemanfregen, hoe't er dan it libben der of r£den hie, fertelde er, dat er in plunjesekte pak-ken krige hie, deVt in bibel yn siet [...]".

Wir erkennen hier leicht den Bericht der gelehrten Literatur; das Wichtigstehabe ich unterstrichen. Der zweite Teil der Episode erzählt, wie Christus Bran-dan riet, der Heilige solle sein Schiff aus dem Holze der Bäume bauen, die aufdem Gebiet der Kirche wachsen; aus derselben Kirche solle er alles Gold neh-men, um daraus die Schiffsnägel zu verfertigen:

„It skip d£rst mei farste silst sels bouwe litte moatte. Nim hout fan beammen dy*top tsjerkegrün woeksen binne en lit alle goud datst yn'e tsjerke hast omrane. Nimde gouden skalen fan it alter en it gouden krus dat der boppe hinget. Lit fan datgoud neiels en spikers smeie en dy moatte brükt wurde om dyn skip te timmerjen".

Der Seemann sagt ferner folgendes: Sobald der Teufel des Heiligen Boot er-blicke, werde das Meer stürmisch; der Teufel ziehe das Schiff heran mit Hilfe dermagnetischen Kraft und versenke es: „As in skip mei billige mannen oan boardbesocht om der help [d. h. um die dort gefangengehaltenen Seelen zu retten], danliet de duvel it troch de magneetberch utelkoar skuorre, dat it te sink gong"

Die Erzählung num. 60 berichtet von der Ankunft Brandans am Magnetberg,vom Angriff der Teufel, die das Schiff zerschmettern wollen, sich darauf nieder-

75 id.: Le Folk-lore de France 1-4. Paris 1904-07, t. 2, 74: „Aux abords du rocher deFelouere, non loin d'Erquy (Cotes-du-Nord), un navire charge d'aimant a coule aupres,et les bateaux qui n'ont pas soin de s'en tenir eloignes, viennent s'y perdre, invincible-ment attires par cette cargaison". t. 2,94: „Le sillon du Talbert qui, partant de la cöte dePleubihan s'avance dans la mer a plus d'un kilometre, est tres redoute des marins. II secompose en entier, disent-ils, des os des naufrages, et c'est pour cela qu'il est blanc: säpointe est un aimant qui attire les bateaux"

76 cf. Poortinga, Y. (ed.): It gouden skaakspul. Folksverhalen fan Steven de Bruin. Baarn/Ljouwert 1980, 50 sq. (num. 50) und 140 (num. 60). An dieser Stelle möchte ich HerrnDr. Poortinga, der mir Texte zukommen ließ, und Frau Baukje Finet, die mir bei derÜbersetzung schwieriger Passagen half, meinen herzlichsten Dank aussprechen.

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lassen, um es zu versenken. Der Magnetberg wird geheizt; bald entsteigt ihmRauch:

„Sa gau äs de duvel erch yn him krige, begun de see der wyld en heech te wurden enfan alle kanten waarde der oan it skip lutsen en skuord. Alle duvels kamen der op öfen gongen op it skip sitten om it sinke te litten, mar it dreau as in koark op it wetter.De duvel stockte de magneetberch sä bot op, dat der reek ut 'e see walme, mar itskip wie net utelkoar te krijen, trochdat it timmere wie mei de gouden spikers fan 'emistsjelk en fan it krus".

Die Christianisierung der Magnetbergsage geht so weit, daß wir erfahren, wieBrandan mit einem Segen die Anziehungskraft unschädlich macht, nachdem erdie armen Seelen erlöst hat: „Doe't er dat dien hie, segene er de grün. It eilän leinoch wol boppe 'e berch yn'e see, mar it wie gijn magneetberch mear".

Der Vergleich der Volksbücher und der neueren mündlichen Traditionen mitden mittelalterlichen Textzeugen beweist, daß sich die volkstümlichen Erzäh-lungen aus der schriftlichen Überlieferung herleiten: Die Brandanlegende isthier das beste Beispiel. Dies gilt auch für die böhmischen und russischen Volks-bücher77, die auf Herzog Ernst und Reinfried von Braunschweig zurückgehen, unddas Prosa-Volksbuch von Huon de Bordeaux, das der Esclarmonde-Episode folgt.

77 cf. Feifalik 1859 und 1860 (wie not. 61), bibliographische Angaben p. 84 und 25(russische Volksbücher).

5 Fabula 25

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