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Die Schrecken der Stahlburg

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Thorin Band 12

Die Schrecken der Stahlburg von Al Wallon & Marten Munsonius

Es ist ein Ort des Grauens - und überall lauert der Tod...

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Es war ein Weg durch die Hölle - ein Todesmarsch durch eine unwirkli-che Zone voller Schrecken und Grauen, der noch immer kein Ende gefunden hatte. Thorin und sein neuer Wegbegleiter, der Aynok-Krieger Correk, hatten am eigenen Leibe erfahren müssen, was es bedeutete, zu Fuß und fast ohne Schutz diese geheimnisvolle Zone des Nebels zu durchqueren Die übrigen Gefährten Correks, die genau wie er von einer unbekannten Macht an diesen Ort der Furcht verbannt worden waren, lebten nicht mehr. Eine grausame Ironie des Schicksals hatte nämlich dazu geführt, dass sie wahnsinnig geworden waren und sich dann in einem mörderischen Kampf selbst gegenseitig getötet hatten. Thorin und Correk waren die einzigen Überlebenden dieses schrecklichen Gemetzels. Nachdem sie die toten Gefährten begraben hatten, setzten sie nun ihren Weg ins Ungewisse fort - und sie hofften, dass sie bald das Ende dieser alptraumhaften Region erreichten. Doch die beiden Krieger konnten nicht ahnen, dass die Gefahren, die auf sie warteten, noch weit schlimmer waren als alles, was sie bisher hatten erdulden müssen...

*

Prolog: Jenseits der Feuerwand Die mächtige Barke hatte die gewaltige Wand aus Feuer und Blitzen durchstoßen und auch jetzt noch grollten zahlreiche Eruptionen inmit-ten dieser - eigentlich für jeden undurchdringlichen - Mauer aus glü-hend heißen Flammen. Dennoch hatte es der FÄHRMANN geschafft, mit seiner Barke auch dieses Hindernis fast wie im Spiel zu meistern. Für ein ätherisches Wesen wie ihn, das die Vergangenheit sowie die Zukunft kannte, gab es keine sichtbaren Grenzen. Er kam und ging wie er es wollte - und niemand hatte es bisher geschafft, sich ihm in den Weg zu stellen. Er war der Wächter des Universums, ein einsamer Wanderer zwischen den Welten, der ganze Sternenreiche hatte ent-stehen und auch wieder sterben sehen. Was für andere eine Ewigkeit war, bedeutete für den FÄHRMANN vielleicht die Länge eines einzigen Atemzuges...

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Er hatte die Flammenbarriere durchstoßen und dadurch nun einen Teil der anderen Seite des Universums erreicht - eine Region, in der die Herren des Chaos ihre Herrschaft ausübten. Und sie spürten die Präsenz des FÄHRMANNS und dessen Kräfte, die auch für sie gefähr-lich werden konnten.

Die Sinne des Wesens in der Barke tasteten umher, versuchten in all dem Chaos aus rötlichem Licht und grünen Blitzen, die immer wie-der unregelmäßig aufzuckten und das Universum auf dieser Seite der Barriere mit einem unwirklichen und unregelmäßigen Schimmer über-zogen, rechtzeitig Gefahren zu erkennen. Aber noch war es eine trüge-rische Ruhe. Der FÄHRMANN steuerte seine Barke durch explodierende Sonnen, tauchte ein in eine unbeschreibliche Glut aus Schlacke und Lava, die von der gewaltigen Eruption weit in das Universum ge-schleudert wurde und dabei auch andere Gestirne mit in den unver-meidlichen Untergang riss. Momente kurzer Empfindungen, auch voller Bedauern, erfassten den einsamen Weltenwanderer, als die Barke ih-ren Kurs fortsetzte. Er spürte, dass es hier kein friedliches Leben gab - kein Leben im eigentlichen Sinne dessen, wie man es auf der anderen Seite der Flammenbarriere kannte. Hier waren ganze Universen erst im Entstehen oder schon wieder am Untergehen - nichts war von Be-stand. Diese Eindrücke konnte man genauso gut mit einem wirbelnden Feuerball vergleichen, der überall dort, wo seine Flammen andere Wel-ten streiften, den Untergang einleitete...

Die Sinne des FÄHRMANNS spürten auf einmal die Präsenz der Mächte dieses Herrschaftsbereiches. Er stoppte seine Barke unweit einiger Planetentrümmer, die eine einsame, schon vor Äonen erkaltete Sonne immer noch umkreisten. Hinter der Sonne entstand auf einmal ein gewaltiger dunkler Schacht im Universum - von einem Augenblick zum anderen hatte er sich manifestiert und der FÄHRMANN sah die zuckenden Schatten, die sich inmitten dieses Schachtes immer wieder zu zeigen begannen - wenn auch nur für eine sehr kurze Zeitspanne. Jetzt wusste er, dass er sein Ziel erreicht hatte - und nun tat er, was getan werden musste...

Was willst Du auf dieser Seite des Universums, Wanderer?, hörte er jetzt die Frage aus dem schwarzen Schlund. Wir haben dich nicht

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gerufen. Geh zurück in das Reih des Lichts - für Wesen wie dich ist hier nichts zu tun!!!

Der FÄHRMANN wartete einen winzigen Moment ab und dann schickte er seine Gedanken hinüber in den dunklen, kaum zu begrei-fenden Schacht, dessen Ränder jetzt erneut rötlich aufzuleuchten be-gannen, immer schneller wie ein großes Rad, das von unsichtbaren Kräften plötzlich in Bewegung gesetzt worden war.

Er spürte die Verwirrung der Herren des Chaos und er wusste jetzt, dass es richtig gewesen war, was er getan hatte. Viel zu lange hatte er als Unbeteiligter zugesehen wie die Helfershelfer auf der an-deren Seite des Universums eine beispiellose Herrschaft des Schre-ckens errichtet hatten. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste gewesen - die grausamen Skirr hatten begonnen, die Sphären mit ih-rem dunklen Wirken zu manipulieren. Und das war auch der Grund, warum ein ansonsten eher neutraler Beobachter wie der FÄHRMANN diesmal hatte eingreifen müssen. Es gab trotz allem Dinge, an deren Existenz man nichts änderte - das galt für beide Seiten des Univer-sums. Und wenn die Herren des Chaos dieses EWIGE GESETZ jetzt ignorierten, dann mussten sie damit rechnen, dass der Wächter der Universen eingriff und das zu verhindern versuchte...

Du verstehst es nicht, Wanderer, hörte der FÄHRMANN jetzt die Antwort der Chaosherren. Der Kreis muss jetzt geschlossen werden. Geh zurück von wo du gekommen bist oder...

Der FÄHRMANN spürte die unverhüllte Drohung der selbst für ihn manchmal unfassbaren Mächte des Chaos. Jetzt wusste er, wie wichtig es gewesen war, sein Zögern aufzugeben und stattdessen die große Flammenbarriere zu überwinden.

Eine eigenartige Ruhe ergriff nun das ätherische Wesen in seiner Barke, als er das Ruder losließ und beide Hände hob. Er schloss die Augen, schickte seinen Geist auf eine weite Reise und löste damit Kräf-te aus, die bereits jetzt in diesem ersten Vorstadium die Ränder des großen Schlundes in Blitzen auflodern ließen. Die Herren des Chaos gerieten in Unruhe und sie erkannten auf einmal, welche Kräfte der FÄHRMANN gerufen hatte. Inmitten des schwarzen Loches tanzten grausame Schatten umher, versuchten das Unvermeidliche zu verhin-

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dern. Jetzt zuckten grelle Blitze auf, wurden von unsichtbaren Händen dem FÄHRMANN entgegengeschleudert - aber sowohl er als auch die Barke wurden nun von einer hellen Aura umschlossen, die selbst die Kräfte der Chaosherren nicht mehr zu durchdringen vermochten. Die Blitze prallten ab, wurden wieder zurückgeschleudert in den schwarzen Schlund.

Der FÄHRMANN spürte das Entsetzen der Chaosherren und eine unbeschreibliche Genugtuung erfasste ihn in diesem Moment seines Triumphes. Auf seine ganz eigene Weise ließ er die dunklen Kräfte wissen, dass sie zu weit gegangen waren - viel zu weit. Und er erin-nerte sie vehement an das EWIGE GESETZ, das auch für sie Gültigkeit hatte...

*

Er wachte auf und spürte auf einmal, dass er sich nicht bewegen konnte. Arme und Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen und erst dann stellte er fest, dass ihn solide Stricke fesselten und zur Starre verdammt hatten. Er lag auf einer glatten Fläche, die sich auf seinem nackten Rücken seltsam heiß anfühlte - eine Hitze, die von diesem Material ausgehen musste.

Erst dann erkannte er die wahren Ausmaße seines Schicksals. Es war ein geradezu gigantisches Schwert, auf das man ihn gebunden hatte! Arme und Beine waren weit gespreizt und er konnte lediglich den Kopf schwach bewegen. Dennoch war es nicht möglich, mehr als seine unmittelbare Umgebung sehen zu können. Aber was er dann wenige Sekunden später hörte, ließ ihn zusammenzucken - es war ein dumpfes Trommeln, gemischt mit einem seltsam monotonen Gesang.

Und aus den Schatten jenseits der von Fackeln erhellten Mauerni-schen wuselte etwas umher - etwas, was einen stinkendem Atem aus-stieß, gepaart von einem furcht erregenden Röcheln.

Er spannte seine Armmuskeln an, wollte die Fesseln sprengen, die ihn an dieses große Schwert schmiedeten - aber es gelang ihm nicht. Schweres Tappen von unförmigen Füßen erklang. Der penetrante Ge-stank wurde jetzt stärker. Und dann sah er in das schrecklich verwüs-

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tete Antlitz einer Kreatur, die es überhaupt nicht geben durfte! Er sah die krallenartigen Hände, die von einer schuppigen Haut überzogen waren und erblickte das vor Geifer triefende Maul mit seinen messer-scharfen Zähnen.

Jetzt beugte sich die Bestie auch schon über ihn, um ihn mit sei-nen scharfen Krallen zu packen und zu zerreißen. NUN IST ES SO-WEIT, DU WURM, brannte sich eine höhnische Stimme direkt in sein Hirn. JETZT SCHLÄGT DIE STUNDE DEINES TODES...

»Neeeiiinnn!«, schrie er außer sich vor Panik - und erwachte. Tho-rin blickte nicht mehr in die schreckliche Fratze des dämonenhaften Wesens, sondern erkannte das mittlerweile vertraute Gesicht seines Gefährten Correk, der ihn mit sorgenvoller Miene musterte. Er sah, wie Thorin nach links und rechts spähte (als befürchte er, gleich angegrif-fen und getötet zu werden) und erleichtert aufatmete, als er erkannte, dass außer Correk niemand in der Nähe war. Dennoch benötigte er einige Augenblicke, um die passenden Worte finden zu können. Denn die Schrecken des Traums waren noch zu real.

»Ich weiß nicht, was du im Traum gesehen hast, Thorin«, kam ihm jetzt Correk, der Aynok-Krieger, zuvor. »Aber du hast dich unruhig hin- und hergewälzt und dabei sogar laut gestöhnt. Aber es war nicht wirklich. Wir beide sind nach wie vor ganz allein. Wenn du mir nicht glauben willst, dann sieh dich ruhig weiter um - du wirst nur die weite öde Ebene erkennen können...«

»Es war... nicht gut, was ich geträumt habe, Correk«, erwiderte nun Thorin mit leiser Stimme. »Am besten reden wir nicht mehr dar-über. Habe ich lange geschlafen?«

Daraufhin erhielt er als Antwort zunächst nur ein Achselzucken. »Zwei Stunden - vielleicht auch mehr? Ich weiß es nicht, Thorin.

Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie die Sonne einmal ausgesehen hat. Diese Region hier ist grau, trübe und trostlos. Ich wünschte, wir hätten sie bald hinter uns.«

»Nicht nur du, Correk«, antwortete der blonde Krieger aus den Eisländern des Nordens, die er vor einigen Jahren schon verlassen hatte. Er erhob sich und sah hinauf zum wolkenverhangenen Himmel - und er glaubte, irgendwo hinter den dichten Schleiern so etwas wie ein

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immer wieder auf- und abschwellendes rötliches Licht zu erkennen. Oder spielte ihm jetzt seine ohnehin schon gereizte Phantasie einen Streich, gaukelte ihm Dinge vor, die in Wirklichkeit gar nicht existier-ten? Es wäre nicht das erste mal gewesen, dass sie ahnungslos in eine Falle tappten. Diese unwirkliche Region war gefährlich für jeden, der sie zu durchqueren wagte.

Für einen normalen Sterblichen war es unmöglich - und selbst ein Krieger wie Thorin hatte es nur schaffen können, weil ihn die helle Aura des Götterschwertes Sternfeuer bisher vor Angriffen von finsteren Mächten beschützt hatte. Correk dagegen hatte es auf unerklärliche Weise an diesen Ort verschlagen - zusammen mit seinen Gefährten, die alle nicht mehr lebten. Sie waren den dämonischen Kräften dieser Region zum Opfer gefallen und hatten sich in einem unbarmherzigen Kampf gegenseitig getötet. Nur Thorin und Correk hatten sich diesem Drang in buchstäblich letzter Sekunde widersetzen können. Aber selbst das hatte nicht mehr verhindert, dass auch sie zu Mördern an den Ge-fährten geworden waren.

»Es ist am besten, wenn wir weitergehen, Correk«, schlug Thorin nun vor. »Ich weiß nicht, wie lange unser karger Vorrat noch ausreicht - und am Horizont kann ich immer noch nichts erkennen, was uns zeigt, dass die Zone dort zu Ende ist.«

Correk nickte und die beiden Männer setzten jetzt ihren beschwer-lichen Weg ins Ungewisse fort. Eigentlich gab es da noch ein Problem, über das Thorin jedoch mit seinem Gefährten noch nicht gesprochen hatte. Was würde mit Correk geschehen, wenn sie das Zwielicht zwi-schen der Nebelzone und der wirklichen Welt durchquerten? Als Thorin die Zone zum ersten mal betreten hatte, hatte er die Konturen von schrecklichen Wesen erkannt, die auf Eindringlinge lauerten und sie zerreißen wollten. Nur dem Schutz seiner Klinge und deren Aura hatte er es zu verdanken, dass ihn die Kreaturen nicht aufgespürt hatten. Die Aura des Lichts schützte den Nordlandwolf - aber was war mit Cor-rek? Er besaß weder übernatürliche Kräfte noch irgendwelche Waffen, die ihn in einem solchen Moment schützen würden. Thorin hatte schon mehr als einmal darüber nachgedacht - aber bisher hatte er es Correk noch nicht sagen wollen. Zwar hatte die unbekannte Macht dafür ge-

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sorgt, dass er und seine Aynok-Gefährten unversehrt in die Nebelzone gekommen waren - das musste aber nicht bedeuten, dass der letzte Aynok-Krieger auch unbeschadet diese Zone wieder verlassen konnte!

Wieder blickte er hinauf zum trüben Himmel und erkannte erneut das Aufleuchten des rötlichen Lichtes. Als wenn irgendwo dort oben in den Sphären Dinge vor sich gingen, die jenseits seines Horizontes la-gen. Die ganze Welt der Menschen war aus dem Gleichgewicht gera-ten und in einen Strudel des Chaos gestürzt. Das konnte also auch für andere Bereiche zutreffen...

Der Boden war trocken und staubig, wies teilweise große Furchen und Risse auf. Manchmal öffnete sich vor ihnen ganz unvermittelt eine tiefe Spalte im Erdboden die zumindest ein Weiterkommen an dieser Stelle unmöglich machte. Also mussten sie ausweichen und einen Umweg machen - und das kostete viel Zeit und hatte zur Folge, dass der Horizont immer noch nicht näher kam. Erst nach einer halben E-wigkeit zeichnete sich eine Änderung ab - Thorin sah als erster die tanzenden dichten Schwaden weißlichen Nebels und er beschleunigte jetzt seine Schritte, nickte Correk hastig zu.

»Es ist nicht mehr weit...«, murmelte er - und auch irgendwie vol-ler Erleichterung, dass diese tanzenden Nebelschleier den Beginn der Zwielichtzone ankündigten. Aber es galt jetzt schon als sicher, dass ir-gendwo in diesen dichten Schwaden weitere Gefahren auf sie lauerten. Daran mochte Thorin aber nicht denken. Für ihn zählte jetzt nur die Tatsache, dass sie es trotz aller Bedrohungen dennoch geschafft hat-ten, diese lebensfeindliche Region aus eigener Kraft zu durchqueren. Das gab den beiden Kriegern Mut, um auch den letzten Rest des We-ges zu schaffen...

*

Weitere Stunden vergingen, bis die beiden Männer so nahe an die Ne-belschwaden herangekommen waren, dass sie allmählich von ihnen eingeschlossen wurden. Thorin bemerkte Correks skeptische und zugleich furchtsame Blicke, als sie weiter hinein in den Nebel gingen,

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der jetzt so dicht um ihre Füße wogte, dass sie manchmal den Boden nicht mehr erkennen konnten.

Thorin zog das Götterschwert aus der Scheide auf seinem Rücken und warf einen kurzen Blick auf Sternfeuer. Noch strahlte die Klinge kein pulsierendes Licht aus - spätestens dann hätte Thorin gewusst dass Gefahr drohte. Nach wie vor blieb alles ruhig - aber es war eine trügerische Stille, die auch an den Nerven zehrte. Es war ein eigenarti-ges Gefühl, durch eine fast weiße Wand zu marschieren, nichts zu se-hen und nur zu ahnen, in welche Richtung sie gehen mussten.

Thorin kannte dieses Gefühl. Deshalb war er jetzt ruhiger als Cor-rek, der immer wieder stehen blieb, nach allen Seiten lauschte und zudem recht unsicher wirkte. Der Krieger aus dem Volk der Aynok wusste nicht, was auf ihn zukam und sein Blick wurde zusehends ner-vöser.

Das war der Moment, wo die Götterklinge ganz plötzlich zu pulsie-ren begann. Es war nur ein schwaches Aufglimmen, aber Thorin spürte die Wärme dennoch und deutete Correk mit einem kurzen Wink an, sofort stehen zu bleiben und keinen weiteren Laut zu verursachen.

Der Nordlandwolf lauschte hinein in den wabernden Nebel, ver-suchte irgendein Geräusch zu erkennen, was auf die Anwesenheit ei-nes gefährlichen Gegners schließen ließ - aber nach wie vor blieb alles still. Konnte es sein, dass Sternfeuers Leuchten eine Täuschung war? Thorin hatte sich auf sein Schwert in solchen Fällen bisher immer ver-lassen können...

Dann begann der Boden plötzlich zu zittern. Correk zuckte zu-sammen und konnte einen Ruf der Überraschung gerade noch unter-drücken, als er im selben Moment wie Thorin entdeckte, wie sich in-mitten der Nebelschleier plötzlich die Umrisse eines dunklen Körpers abzuzeichnen begannen - und zwar eines sehr großen Körpers!

Geistesgegenwärtig packte Thorin den Aynok-Krieger und riss ihn zur Seite. Die beiden Männer duckten sich und verhielten sich ganz still, sahen mit fassungslosen Blicken, wie sich eine monströse Gestalt mit erdhaften Schritten ihren Weg durch den Nebel bahnte. Jeder Schritt ließ den Boden erzittern.

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Thorin brauchte Correk nur ganz kurz anzusehen, um zu erken-nen, dass der Aynok am liebsten vor Furcht in den Erdboden versun-ken wäre. Diese große geschuppte Kreatur, die jetzt noch höher war als ein massives Steinhaus - so etwas durfte es doch gar nicht geben! Der Krieger fühlte sich jetzt in einen schlimmen Alptraum versetzt, aus dem er einfach nicht mehr aufwachen konnte...

Auch wenn es eine gehörige Portion Nerven kostete, so tat Thorin in dieser gefährlichen Situation das einzig Richtige. Sie bewegten sich nicht, wagten kaum zu atmen, denn er vermutete, dass eine Bestie wie diese Kreatur aus dieser kurzen Entfernung sicherlich schon längst angegriffen hätte, wenn sie ihre Opfer erblickt hätte. Da dies aber nicht geschehen war und das monströse Wesen weiter durch den Ne-bel stapfte - nur wenige Schritte an Thorin und Correk vorbei - erwies sich die Vermutung des Nordlandwolfs als zutreffend. Solch ein großes Ungetüm - und es kann uns dennoch nicht sehen, dachte er und sah zu, wie sich die Kreatur mit tappenden Schritten weiter entfernte. Aber die beiden Männer wagten sich erst wieder zu erheben, als auch das Zittern des Bodens nachgelassen hatte und die Kreatur endgültig in den weißlichen Schleiern verschwunden war. Dann ließ auch das schwache pulsierende Leuchten der Götterklinge allmählich nach - und das war das Zeichen für Thorin, dass zumindest im Moment keine wei-tere Gefahr mehr drohte. Also konnten sie jetzt ihren Weg ins Unge-wisse fortsetzen.

Die Zeit verrann unglaublich träge, während sie sich bemühten, die Richtung beizubehalten. Angesichts solcher Orientierungsprobleme wie jetzt war das aber gar nicht so leicht. Es konnte genauso gut mög-lich sein, dass sie im Kreis umherirrten und nach Stunden wieder an den Ort zurückkamen, wo ihnen die geschuppte Bestie begegnet war. Ein schlimmer Gedanke, den Thorin gar nicht erst weiterdenken woll-te...

Er fühlte Müdigkeit in sich aufsteigen, wünschte sich, stehen zu bleiben und wenigstens einen kurzen Moment auszuruhen - aber das konnte und durfte er nicht. Nicht in dieser seltsamen Zwielichtzone! Also zwang er sich, weiterzugehen - auch wenn ihm das immer schwe-rer fiel. Auch Correk schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu

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gehen. Sein markantes Gesicht wirkte angespannt, während er wei-termarschierte. Er hat ein Ziel vor Augen, dachte Thorin. Dasselbe Ziel wie ich auch - deshalb müssen wir es einfach schaffen. Sonst waren alle Mühen umsonst. Auch der Tod der anderen Aynok-Krieger...

Wahrscheinlich hielt das Schicksal jetzt seine schützende Hand über Thorin und Correk - anders war es sonst nicht zu erklären, dass sich irgendwann weiter vorn die Nebelschleier plötzlich zu lichten be-gannen und große Teile des Bodens jetzt zu erkennen waren. Thorin und Correk beschleunigten ihre Schritte. Sie stolperten mehr als sie liefen, wollten hinaus aus den weißlichen Schwaden, sehnten sich nach der Welt, wie sie wirklich war. Auch der strenge Geruch, der sich in-mitten des Nebels auf ihre Atemwege gelegt hatte, ließ allmählich nach und sie spürten den aufkommenden Wind, der eine Vielzahl an-derer fremder Gerüche mit sich brachte...

Aber die Wirklichkeit, die sich nun vor ihren Augen öffnete, war noch viel grausamer als die schlimmsten Vermutungen, die Thorin und Correk schon während der letzten Stunden durch den Kopf gegangen waren - sie blickten auf eine verwüstete Landschaft, die nichts mehr gemeinsam hatte mit der Welt, die ihnen einmal so vertraut gewesen war...

*

Eine blutrote Sonne überzog fast den gesamten Horizont, wirkte selbst aus dieser Entfernung ungewohnt riesig. Verzogen hatte sich das warme, behagliche Licht und hatte stattdessen einem rötlich-trüben Leuchten Platz gemacht, das die ganze Umgebung bis weit zum Hori-zont in ein eigenartiges Licht tauchte.

Vor der roten Sonne hob sich auf dem höchsten Punkt eines bizar-ren Felsens ein eigenartiges Bauwerk ab, das irgendwie bedrohlich wirkte. Es war eine Burg - eher eine Festung mit zahlreichen hoch in dem Himmel emporragenden bizarren Türmen und einer wuchtigen Mauer, die unüberwindbar aussah - selbst aus dieser großen Entfer-nung. Diese Festung lag unmittelbar am Fuße eines größeren Meeres, thronte von hier oben aus über das ganze Land.

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»Bei den Göttern des Lichts«, murmelte Correk ergriffen, als er die gewaltige Festung sah. »Das ist... das ist doch nicht möglich! Hier war... einmal eine blühende Landschaft... und kein stürmisches Meer. Was ist nur mit unserer Welt geschehen, Thorin? Ich erkenne nichts mehr wieder, was ich sehe...«

»Eine Stahlburg«, murmelte Thorin, der Correks Frage damit nicht direkt beantwortete. Jetzt sah er zum ersten mal eine solche Festung der grausamen Skirr, von der er durch den FÄHRMANN einiges erfah-ren hatte. Aber nur davon zu hören und es dann mit eigenen Augen zu sehen - das war schon ein Unterschied! Auch das Meer am Fuße des gewaltigen Berges war stürmisch und die Wellen brachen sich an dem schwarzen Felsen. Hier lebte und brodelte eine ungezügelte Natur, ge-nauso bedrohlich wie die Stahlburg weiter oben auf dem schwarzen Felsen.

Thorin bemerkte Correks kritische Blicke und deshalb beschloss er, dem Aynok-Krieger jetzt einiges über die wirklichen Geschehnisse nach der großen Schlacht zu erzählen. Correk durfte sich keine falschen Hoffnungen machen - das wäre in dieser Lage mehr als fatal gewesen. Auch er sollte wissen, dass diese Stahlburg am Ende des Horizonts gleichbedeutend war mit dem Inbegriff des absoluten BÖSEN!

»Da kommen wir niemals hinein«, zweifelte Correk. »Sie werden es merken und dann...«

»Dennoch haben wir keine andere Chance, Correk«, fiel ihm der Nordlandwolf ins Wort. »Ich vertraue auf mein Schwert Sternfeuer. Vergiss nicht, dass es uns beide auch in der Nebelzone beschützt hat - als wir von dem vergifteten Wasser tranken. Die Götterklinge ist auch jetzt auf unserer Seite. Wir müssen es wagen - es bleibt uns nur der Weg nach vorn...«

Er wollte dieser Bemerkung noch etwas hinzufügen, brach dann aber ab, als er nun das Schiff bemerkte, das sich über das stürmische Meer der Stahlburg näherte.

Es kämpfte gegen den starken Seegang an, der unmittelbar vor dieser bedrohlichen Küste tobte, aber es setzte dennoch seinen Kurs fort. Der schwarze Felsen und die Stahlburg schienen das Ziel des Schiffes zu sein!

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In diesem Moment lichteten sich die dichten Nebelschwaden, die den schwarzen Felsen tief unten einhüllten, während das Meer jetzt noch unruhiger wurde. Weiße Schaumkronen tanzten auf den immer höher werdenden Wellen, als ein heftiger Wind aufkam, der das Schiff unruhig hin- und hertanzen ließ.

»Thorin!«, rief Correk mit bleicher Miene und wies dann auf einen Schatten, der sich aus dem Nebel herausschälte - es war ein giganti-scher Schatten, der schon wenige Sekunden später deutliche Konturen annahm.

Eine gewaltige Schlange war es, die nun mit ihrem furcht erre-genden Kopf nach unten stieß - das Haupt der Kreatur zielte direkt auf das Schiff und seine Insassen. Der Wind trug ein schreckliches Bersten und Krachen selbst bis hier herüber zu Thorin und Correk, die noch ziemlich weit vom Ort des tragischen Geschehens entfernt waren. Das Schiff geriet nun ins Schlingern, während der Hauptmast mit zerrisse-nen Segeln auseinanderbrach und in die schäumende See fiel. Heftiger wurde nun der Wind und Welle um Welle überzog das jetzt orientie-rungslos gewordene Schiff, das sich dem Toben der von dunklen Kräf-ten beherrschten Natur nicht länger widersetzen konnte. Es tauchte mit seinem Rumpf tief ein in die stürmischen Fluten - und es kam nicht mehr hoch. Zu wild war das Meer hier an diesem Ort!

Fassungslos mussten Thorin und Correk mit ansehen, wie das Schiff mitsamt seiner Besatzung unterging. Der Wind war so stark, dass sie die Todesschreie der Besatzung nicht hören konnten - aber sie sahen, wie das Haupt der Seeschlange immer wieder nach unten stieß und mit einem weiteren vernichtenden Schlag die Schiffsplanken zer-schmetterte und dabei den ganzen Rumpf aufriss.

Gleichzeitig zeichneten sich vor dem rötlichen Licht der großen Sonne weitere unheimliche Wesen ab, die laute schrille Schreie aus-stießen und sich dann ebenfalls in die stürmischen Fluten stürzten. Es waren echsenhafte Wesen mit breiten, lederhaften Schwingen, die sich in dem aufbrandenden Wellen ihre Opfer holten. Diejenigen, die in der stürmischen See noch nicht den Tod gefunden hatten, wurden nun von gewaltigen Schnäbeln gepackt und nach oben gerissen. Mit ihren zappelnden Opfern in den Schnäbeln flogen die Echsen mit ausgebrei-

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teten Flügeln wieder davon - und ihr Ziel war die Stahlburg auf der höchsten Stelle des gewaltigen schwarzen Felsens!

Das ganze grauenhafte Schauspiel hatte vielleicht nur wenige Mi-nuten gedauert, aber selbst jetzt standen Thorin und Correk noch im Bann der schrecklichen Ereignisse, die sich nicht weit von ihnen ent-fernt abgespielt hatten. Nun wussten sie, mit welchen Gefahren sie zu rechnen hatten, wenn sie sich weiter der Stahlburg näherten. Die ge-waltige Seeschlange und die geflügelten Echsen - sie waren die Wäch-ter der Burg. Das Meer war die Heimat der gewaltigen Schlange, aber Thorin und Correk kamen vom Land aus.

Sie stellte keine unmittelbare Gefahr für die beiden Krieger dar - aber mit den geflügelten Echsen war das eine ganz andere Sache. Unwillkürlich erinnerte sich Thorin in diesem Augenblick wieder daran, wie er zusammen mit einer Prinzessin und einem Trupp Abenteurer auf der Suche nach dem Schatz von Samorkand gewesen war. Auch damals hatten geflügelte Dämonen das verwaiste Schloss bewacht und beim Eindringen hatte es Opfer gegeben.

»Es ist... unmöglich, Thorin«, riss ihn die mutlos klingende Stimme des Aynok-Kriegers jetzt aus seinen Gedanken. »Wir kommen dort nicht weiter - die Bestien werden uns töten, sobald wir in die Nähe der Festung gelangen und...«

»Denk an deine toten Gefährten!«, wies ihn Thorin härter zurecht, als er das beabsichtigt hatte. Aber ihm war das Zögern Correks nicht entgangen - und deshalb musste er jetzt so handeln. »Sollen sie um-sonst gestorben sein? Wenn du willst, dann bleib hier zurück - ich werde meinen Weg aber fortsetzen!«

Er wandte sich einfach ab und ließ Correk stehen - natürlich in der Hoffnung, dass der Aynok-Krieger sich jetzt einen innerlichen Ruck gab und sich ihm trotz aller offensichtlichen Gefahren als zuverlässiger Ge-fährte erwies. Thorins Rechnung ging tatsächlich auf. Er hörte schwere Schritte hinter sich und einen leisen, unverständlichen Fluch. Aber Cor-rek schien seine Furcht jetzt überwunden zu haben - zumindest für den Augenblick. Und nur darauf war es Thorin angekommen...

*

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Sie sah plötzlich den drohenden Schatten, der aus dem Nebel über den stürmischen Wellen auftauchte. Dann zuckte ein grässlicher Kopf nach vorn und bohrte sich in die Schiffsplanken. Laute Schreie erfüllten die Luft, während der Hauptmast des Schiffes zerbarst und ins Meer stürz-te. Der Bug neigte sich nach vorn und tosende Wellen überspülten das Deck, rissen einige der Kriegerinnen einfach mit sich.

Auch Jesca wurde wie viele andere von einer unsichtbaren Faust gepackt und einfach mitgerissen. Zwar versuchte sich die Amazone aus Styrgien noch an einem der Taue festzuklammern, aber das ge-lang ihr gerade mal zwei Atemzüge lang - der Sog war dennoch stär-ker als sie. Jesca wurde mitgerissen in die stürmische See und spürte, wie dann die riesigen Wellen über ihrem Haupt zusammenschlugen.

Kälte, Nässe, Atemnot. Jesca öffnete die Augen unter Wasser, sah undeutliche Bilder vor ihren Augen und sehnte sich nach Luft. Aber der starke Sog zog sie weiter nach unten - sie würde jämmerlich ertrinken, wenn nicht ein Wunder geschah. Wie in Zeitlupe sah sie die Körper ihrer Gefährtinnen, die wild mit Armen und Beinen ruderten und eben-falls versuchten, die Wasseroberfläche zu erreichen. Und dann sah Jesca ebenfalls mehrere dunkle Schatten über dem Meer - und noch bevor ihr Kopf durchs Wasser stieß, ahnte sie die bedrohliche Gefahr.

Geistesgegenwärtig riss sie die Augen auf, holte für eine winzige Zeitspanne Luft und tauchte dann wieder nach unten ab. Denn hier oben war der Tod!

Geflügelte Wesen hatten sich aus der Luft auf die nach Hilfe su-chenden Amazonen gestürzt und sie mit ihren scharfen Schnäbeln aus dem Meer gezogen. Kurz bevor Jesca wieder abtauchte, hatte sie noch einen markerschütternden Todesschrei einer ihrer Gefährtinnen ver-nommen...

Jesca schwamm weiter nach unten, blickte sich verzweifelt um. Sie konnte nicht lange unter Wasser bleiben, aber wenn sie jetzt wie-der nach oben kam, um erneut Luft zu holen, dann würde auch sie sterben. Ihr geschmeidiger und durchtrainierter Körper schwamm wei-ter weg von dem Ort des Todes - sie musste das auch, denn der Sog

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des untergehenden Schiffes wurde jetzt immer stärker, Geriet sie erst in diesen Strudel, dann war es ohnehin aus und vorbei.

Ihre Lungen gierten nach Luft, aber sie hielt dennoch weiter aus. Erst als sie schon glaubte, dass die Welt vor ihr in einem bunten Stru-del aus Farben zu explodieren begann, stieß sie wieder nach oben und sog tief die frische Luft in ihre gequälten Lungen ein.

Was sie dann sah, war schrecklich. Das Meer tobte immer noch, denn der gewaltige peitschende Schweif der Schlange hatte es in Un-ruhe versetzt. Nur noch vereinzelte Trümmer des Schiffes tanzten auf den unruhigen Wellen, der Rest war in der Tiefe versunken. Und die geflügelten Dämonen hatten mit ihren zappelnden Opfern in den scharfen Schnäbeln dem Meer bereits den Rücken gekehrt und flogen zurück zu der unheimlichen Burg, von wo sie gekommen waren.

Jetzt wusste Jesca, dass ihr von den Wesen zumindest in diesem Augenblick keine Gefahr mehr drohen würde - dennoch war ihre Lage ziemlich dramatisch, denn die See war aufgewühlt und die Wellen hoch. Sie war zwar eine gute Schwimmerin, aber auch das musste nichts bedeuten. Jesca musste die Küste erreichen - und sie musste es schnell tun. Bevor die Schlange sie nicht doch noch erspähte!

Wieder tauchte die junge Amazone ab und schwamm mit kräftigen Zügen in Richtung des Ufers, das immer noch ein Stück entfernt war. Mehrmals kam sie wieder hoch, um Luft zu holen, aber nur, um schon Sekunden später wieder unter die Oberfläche zu tauchen und sich wei-ter voran zu stoßen.

Eine halbe Ewigkeit verging, bis sie die gewaltigen Wellen an die steile Küste trieben - und sie hatte dabei mehr Glück als Verstand, dass sie von der Kraft des Meeres nicht gegen einen der rissigen Fel-sen gestoßen wurde. Aber wahrscheinlich hielt eine höhere Macht jetzt ihre schützende Hand über sie - anders wäre sie dem sicheren Tod bestimmt nicht entgangen.

Mit letzter Kraft zog sie sich an Land, aber obwohl sie total er-schöpft war, blieb sie dennoch nicht liegen an dem steinigen Strand. Sie mobilisierte alle restlichen Kraftreserven, erhob sich und stolperte rasch weiter. Nur weg von hier und nach einer Deckung suchen, schoss es ihr durch den Kopf. Jesca war eine Amazone, die sich in

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zahlreichen Kämpfen hatte durchsetzen können. Ihr gestählter Körper war stark genug, um auch diese Strapazen zu bewältigen. Jesca tau-melte weiter und sie erreichte jetzt einige bizarre Felsen, hinter denen sie sich verbarg.

Weiter, schrie eine warnende Stimme tief in ihrem Hirn. Los, lauf weiter - du bist noch lange nicht in Sicherheit...

Und sie tat, was die warnende Stimme ihr befahl. Auch wenn Jes-ca schon fast am Ende ihrer Kräfte war, so rappelte sie sich doch wie-der auf und taumelte weiter. Sie ließ den Strand hinter sich, tauchte unter zwischen dem schwarzen Gestein - bis sie einen Einschnitt in den Felsen erreicht hatte, der sich als kleine Höhle entpuppte. Eine Höhle, die ein gutes Stück entfernt von der schäumenden Küste war.

Erst jetzt fühlte sich Jesca halbwegs sicher und ihr Körper begann sich zu entspannen. Bleierne Müdigkeit ergriff sie und sie konnte nicht länger dagegen ankämpfen. Nur wenige Schritte hinter dem Höhlen-eingang brach sie zusammen und blieb dort reglos liegen. Aber in ei-nem schlimmen Alptraum erlebte sie erneut die Schrecken des Schiffs-untergangs...

*

Zwischenspiel 1 Aufbruch der dunklen Götter In der weit verzweigten Eishöhle herrschte eine gerade unirdische Käl-te. Dennoch erstrahlte irgendwo tiefer im Inneren des gewaltigen Bergmassivs ein Licht, das auch diesen großen saalähnlichen Raum mit seinem diffusen Leuchten erhellte. Eine große hagere Gestalt stand unweit eines kalten Feuers und blickte in die rötlichen Flammen. Sein Körper war von einer wallenden Kutte umhüllt und ein grausam schimmerndes Augenpaar sah unter dem Rand der weiten Kapuze her-vor. Zweifelnde Blicke richteten sich auf die zweite Gestalt, die in die-sem Raum anwesend war - ein Wesen, das noch größer und breiter war.

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SIE HABEN UNS GERUFEN, erklang nun die Stimme seines Götter-bruders in R'Lyehs Hirn. SIE WERDEN ZORNIG SEIN, WENN WIR DIE-SEM RUF NICHT FOLGEN SOLLTEN...

ICH WEISS NICHT, WAS DAS ZU BEDEUTEN HAT, erwiderte R'Ly-eh seinem Bruder Azach ebenso auf mentalem Wege. Die beiden Göt-ter der Finsternis konnten selbst auf große Entfernung hin auf diese Weise miteinander kommunizieren. Worte oder Sprache waren dazu gar nicht mehr erforderlich. ABER IN DER STAHLBURG GEHT ETWAS VOR SICH, WAS MIR GAR NICHT GEFÄLLT...

DENNOCH WÜRDE ES MIR SEHR VIEL GENUGTUUNG BEREITEN, DORTHIN ZU KOMMEN - UND SEI ES NUR DESHALB, UM UNSERE AL-TEN FEINDE IN IHRER HILFLOSIGKEIT ZU SEHEN, BRUDER, ant-wortete Azach. DENKST DU NICHT GENAU SO?

ICH DENKE, DASS ETWAS MIT DEN SKIRR GESCHIEHT, BRUDER. SIE ZIEHEN SICH ZURÜCK VOR UNS. DAS HAT ETWAS ZU BEDEUTEN UND DAS MÜSSEN WIR HERAUSFINDEN. DARUM IST ES WICHTIG, DASS WIR UNS AUF DEN WEG ZUR STAHLBURG MACHEN. VIEL-LEICHT ERFAHREN WIR DANN MEHR - UND JE MEHR WIR ÜBER DIE SKIRR WISSEN, UM SO BESSER IST ES. ICH TRAUE DIESEN SPINNEN EINFACH NICHT...

AUCH ICH NICHT, BRUDER, fügte der zweite Gott der Finsternis hinzu. DIESE WESEN ZU RUFEN - ES WAR EIN FEHLER FÜR UNS. ES WIRD JEDES MAL SCHWIERIGER, SIE UNTER KONTROLLE ZU BRIN-GEN...

R'Lyeh antwortete nicht mehr darauf - aber im Grunde genommen dachte er das gleiche wie sein Götterbruder. Sie hatten die Welt der Menschen erobern wollen - und dazu war ihnen jedes Mittel recht ge-wesen! Nun stellte sich heraus, dass sie womöglich einen Schritt zu weit gegangen waren - und daraus ergaben sich unter Umständen weit reichende Konsequenzen, wenn sie nicht rechtzeitig gegenzulen-ken versuchten. Und genau das hatten sie jetzt vor, denn nicht die Skirr waren die Herrscher über diese Welt, sondern Azach und R'Lyeh.

Aber selbst mächtige Wesen wie die Götter der Finsternis konnten sich irren - nur wussten sie es nicht. Die blanke Gier nach Macht und Herrschsucht sollte auch ihnen schon sehr bald zum Verhängnis wer-

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den. Hätten Azach und R'Lyeh das jetzt schon geahnt, dann hätte das Schicksal unter Umständen ganz andere Fäden gewoben. So aber nahm alles seinen Lauf, wie es in uralten Schriften (die noch älter wa-ren als das Wissen der Götter) bereits verkündet worden war.

Azach und R'Lyeh murmelten einige Worte in einer gutturalen Sprache - dann wurden ihre Körper durchsichtig und begannen sich allmählich ganz aufzulösen. Ihr Weg führte sie nun zur Stahlburg der Skirr - an der Südküste eines einst blühenden und jetzt vollständig zerstörten Kontinentes...

*

Thorin und Correk warteten ab, bis die große rote Sonne am fernen Horizont unterging - erst dann wagten sie es, sich der schrecklichen Stahlburg zu nähern. Auch wenn sich jetzt ein eigenartiges Zwielicht über das Küstenland gesenkt hatte, das die Konturen und Schatten auf merkwürdige Weise miteinander verschmelzen ließ, so konnten die beiden Krieger dennoch nicht sicher sein, ob sie nicht doch schon von den Feinden längst entdeckt worden waren. Vielleicht lauerten alp-traumhafte Wesen irgendwo zwischen den Felsen auf sie und warteten nur darauf, sich auf sie zu stürzen und sie zu töten? Es war ein Ge-danke, der Thorin nicht gefiel - aber es gab keine andere Lösung. Wenn sie etwas erreichen wollten, dann mussten sie alles riskieren.

Das schwarze Gestein war rau und teilweise ziemlich scharfkantig. Zum wiederholten male riss sich Thorin die Wade an einem Stein auf, unterdrückte aber den aufkommenden Schmerz. Correk folgte ihm mit gezogenem Schwert und Thorin bemerkte, wie die Blicke des Aynok-Kriegers ständig hin- und herhuschten. Er will nichts dem Zufall über-lassen, dachte Thorin.

Das Licht wurde jetzt düsterer, als die beiden Männer eine Art Schlucht erreichten, an derem anderen Ende die markanten Umrisse der Stahlburg sich vor dem dunkelroten Himmel abzeichneten. Bedroh-lich ragten die steilen schwarzen Wände zu beiden Seiten der Schlucht empor und strahlten eine spürbare Gefahr aus.

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Thorin sah in diesem Moment öfter zu den dunklen Wänden der Schlucht - aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts Ver-dächtiges erkennen, was auf eine Falle schließen ließ.

Sie hatten den Einschnitt zwischen den Felsen schon fast passiert, als Thorin auf einmal die schmale Spalte im Gestein bemerkte. Neugie-rig blieb er einen kurzen Moment stehen und ging dann näher heran. Hinterher konnte er auch nicht mehr sagen, warum er das eigentlich getan hatte - aber genau diese instinktive Reaktion rettete ihm und Correk im richtigen Augenblick das Leben!

Sie hörten ein monotones Rauschen am nächtlichen Himmel, das rasch näher kam. Geistesgegenwärtig packte Thorin seinen Gefährten Correk und zog ihn mit in den engen Spalt, der sich als der Eingang zu einer kleinen Höhle entpuppte. Gerade noch rechtzeitig konnten sie darin verschwinden - dann tauchte auch schon der riesige Schatten einer geflügelten Echse über den Rändern der Schlucht auf und zog dort seine Bahn. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn sich Thorin und der Aynok-Krieger jetzt noch mitten in der engen Schlucht ohne jeglichen Schutz aufgehalten hätten?

Atemlos verfolgten die beiden Krieger, wie das riesenhafte Wesen über der Schlucht weiter einige Kreise zog. Die Zeit wollte einfach nicht verstreichen und das Wissen um die allgegenwärtige Gefahr zehrte an den Nerven der Männer. Schließlich zog die Bestie wieder ab, kehrte in einem weiten Bogen zurück zur Stahlburg und war schon wenige Augenblicke später ganz verschwunden.

Erst jetzt wagten Thorin und Correk aufzuatmen - denn nun konn-ten sie wirklich ganz sicher sein, dass das Ungeheuer sie nicht ent-deckt hatte.

»So kommen wir doch nicht weiter«, sagte Correk. »Wer weiß, wann die nächste Bestie von der Burg zur Schlucht losgeschickt wird?«

»Wenn ich es wüsste, dann würde ich es dir sagen«, erwiderte Thorin gereizt, brach dann aber auf einmal mitten im Satz ab. Er wandte rasch den Kopf, riss seine Klinge hoch und blickte nach hinten ins Dunkel der Höhle. Ihm war, als habe er dort gerade ein leises Ra-scheln gehört und eine huschende Bewegung gesehen.

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»Was ist denn?«, wollte Correk wissen, aber Thorin winkte rasch ab. Stattdessen reckte er Sternfeuer empor und blickte erneut ins Dunkel der Höhle. Der Gedanke, dass sich dort hinten irgend etwas befand, gefiel ihm nicht.

»Wer du auch bist - komm heraus und zeig dich!«, sagte Thorin mit drohender Stimme. »Oder bist du zu feige?«

Bange Sekunden vergingen, in denen gar nichts geschah. Dann aber hörte Thorin erneut ein leises Rascheln und das Tappen von Fü-ßen. Correk fluchte leise, weil er vorher gar nichts gehört hatte und er war noch erstaunter, als er plötzlich die Stimme einer Frau vernahm.

»Ich will keinen Kampf - aber wenn ihr darauf aus seid, dann kommt nur!«

Aus dem Dunkel der hinteren Höhle trat nun eine geschmeidige Gestalt hervor, deren Umrisse Thorin nur erahnen konnte. Aber selbst in dieser Dämmerung verglich Thorin diese Bewegungen irgendwie mit denen einer großen Katze!

Die Frau war fast so groß wie er und trug einen Brustpanzer über einer kurzen Tunika. Ihr Gesicht konnte er nicht genau erkennen, weil das spärliche Licht von der Schlucht nur bis zum unmittelbaren Ein-gang der Höhle führte.

»Was ist - kämpft endlich?«, sagte die Frau mit gereizter Stimme und reckte ihr Schwert empor. »Bringen wir es hinter uns und seid verdammt dafür!«

»Die Dämonen sind es, gegen die wir kämpfen sollten«, sagte Thorin stattdessen zu ihr. »Das sind die wahren Gegner der Menschen. Du kannst dein Schwert wieder einstecken - wir wollen nichts von dir...«

Zum Zeichen dafür, dass er es ehrlich meinte, ließ er seine Klinge sinken und er atmete auf, als es die Frau auch tat. Eine Frau in der Rüstung eines Kriegers - das war schon ein seltener Anblick. Zwar hat-te er von Ländern gehört, in denen es kriegerische Amazonen geben sollte, aber er selbst war noch nie dort gewesen.

»Das Schiff, Thorin!«, stieß nun Correk aufgeregt hervor. »Sie muss von dem Schiff stammen, das wir haben sinken sehen...«

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»Ihr habt... zugesehen?«, stammelte die Frau und trat nun noch einen weiteren Schritt nach vorn. Jetzt konnte Thorin auch das wüten-de Funkeln in ihren Augen erkennen und deshalb kam er ihr mit einer Antwort rasch zuvor.

»Was hätten wir denn tun sollen?«, hielt er ihr entgegen. »Wir waren doch viel zu weit davon entfernt. Und außerdem - es war Wahnsinn, mit einem Schiff von See aus gegen die Stahlburg vorzu-stoßen. Die dunklen Herrscher sind gnadenlos...«

»Du sprichst von ihnen, als würdest du sie kennen?«, hakte die Amazone sofort nach und blickte misstrauisch zu Thorin und Correk.

»Ich weiß einiges über sie«, antwortete der Nordlandwolf wahr-heitsgemäß. »Ich werde nicht eher ruhen, bis diese Brut von der Erde getilgt ist. Ich bin Thorin, mein Gefährte heißt Correk. Wer bist du?«

»Ich heiße Jesca. Mein Volk sind die Nadi-Amazonen aus den süd-lichen Ländern. Auch wir kämpften gegen die dunklen Horden und sahen unser Land untergehen, Thorin. Nur wenige konnten sich in Sicherheit bringen, aber dennoch verfolgten uns die Kreaturen der Finsternis. Sie fanden unsere Zuflucht und fielen über uns hier, töteten viele und nahmen auch einige als Gefangene mit. Wir sind hier, um sie zu befreien und...«

Sie brach ab, als ihr erneut bewusst wurde, dass sie jetzt die ein-zige Überlebende war und somit gar nichts mehr tun konnte.

»Unser Schicksal ist ähnlich, Jesca«, sagte Thorin und steckte nun sein Schwert wieder zurück in die Scheide. »Auch mein Volk wurde zum größten Teil vernichtet. Ich selbst stamme aus den Eisländern des Nordens und Correk gehört zum Volk der Aynok. Wir haben die Ne-belzone durchquert und wollen in die Stahlburg eindringen...«

»Die Nebelzone?« In fast ehrfürchtigem Ton kamen Jesca diese Worte über die Lippen. »Aber das ist doch... unmöglich. Selbst unse-ren tapfersten Kriegerinnen gelang es nicht und ihr...?«

»Wir hatten Glück und guten Schutz«, erwiderte Thorin. »Deshalb gelang es uns, bis hierher zu kommen.«

In kurzen Sätzen berichtete er der Amazone, welches Schicksal ihm und Correk auf ihrem gefahrvollen Marsch durch die Nebelzone widerfahren war. Er bemerkte, wie erstaunt Jesca dreinblickte und

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dann anerkennend nickte. Eine Frau wie sie, die ihr Leben dem steti-gen Kampf geweiht hatte, wusste die Schilderung aus dem Mund eines mutigen Kriegers wie Thorin (eines Mannes!) richtig einzuschätzen.

»Willst du mit uns kommen?«, fragte sie Thorin. »Wir könnten noch einen guten Schwertarm gebrauchen - wenn es darum geht, die dunklen Herrscher und ihre teuflischen Helfer zu vernichten, sind wir auf jede Hufe angewiesen.«

»Ihr könnt auf mich zählen«, sagte Jesca ohne zu zögern. »Ich bin ohnehin die Letzte meines Stammes und mein Herz schreit nach Rache. Erzähl mir mehr über die Stahlburg und ihre Bewohner. Ich glaube, du weißt noch mehr, als du eben gesagt hast. Bevor es zu einem Kampf kommt, will ich alles wissen, verstehst du? Wirklich al-les...«

*

Zwischenspiel 2 Die Träume der Skirr Tief unten in den Gewölben erklang das stetige dumpfe Dröhnen ge-waltiger, kaum vorstellbarer Maschinen. Die spinnenhaften Skirr wusel-ten zwischen den Kolben und Gestängen herum, sorgten stets dafür, dass alles nach dem großen Plan verlief. Der Tag des Neubeginns stand unmittelbar bevor - und nur auf ihn hatten sie hingearbeitet, seit sie die Flammenbarriere verlassen und in diese Dimension eingedrun-gen waren. Die so genannten ›Götter der Finsternis‹, die es ermöglicht hatten, dass sie überhaupt hierher kommen konnten, waren in ihren Augen unwichtig geworden, denn die Skirr verfolgten völlig andere Ziele. Diese Welt war nach der gewaltigen Schlacht untergegangen und wurde jetzt von der dunklen Seite fast vollständig beherrscht - aber es ging den Skirr nicht darum, die letzten noch kämpfenden Men-schen zu fangen und zu töten. Nein, diese Welt war in ihren Augen lediglich deshalb so wichtig, weil sie eine Welt auf dieser Seite des Universums brauchten, um ihre wahnwitzigen Pläne in die Tat umzu-setzen.

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Das Töten und Morden überließen sie den dunklen Göttern und ih-ren finsteren Helfershelfern. Sie selbst schützten lediglich ihre gewalti-gen Stahlburgen vor ungebetenen Eindringlingen. Selbst der Mensch namens Thorin mit dem Götterschwert war in ihren Augen jetzt un-wichtig geworden. Gut, es war ihm gelungen, sein Gefängnis aus Raum und Zeit zu überwinden und er war in die Nebelzone ein-gedrungen, aber auf dem Weg hierher gab es so viele Hindernisse, dass er irgendwann in eine der zahlreichen Fallen tappte - und dann war sein Schicksal ohnehin besiegelt!

In der mächtigen Kuppelhalle tief unter dem schwarzen Felsen, auf dem die Stahlburg errichtet war, hatten sich die Skirr versammelt - und sie warteten auf die Ankunft der Götter der Finsternis. Mit verein-ten Kräften wollten sie dann den Riss in den Sphären noch weiter ver-größern, damit die Herren des Chaos Zugang in dieses Universum be-kamen.

Wer die Skirr nicht kannte, hätte niemals vermutet, dass sie solche geschickten Baumeister waren - aber sie besaßen ein großes Wissen über fremde Techniken und konnten es immer für ihre Zwecke einset-zen. Die Herren des Chaos würden frohlocken, wenn der Plan Wirklich-keit wurde. Noch nie waren sie ihrem Ziel so nahe gewesen wie jetzt...

In der großen Halle flimmerte die Luft und Sekunden später zeich-neten sich die Umrisse zweier mächtiger Gestalten ab. Azach und R'Lyeh kündigten ihre Ankunft in der Stahlburg an. Dann manifes-tierten die beiden Götter der Finsternis in der großen Halle und blick-ten im ersten Moment staunend auf die gewaltigen Maschinen, die ihnen schon bei der ersten Begegnung einen winzigen Hauch von Furcht eingejagt hatten. Auch heute war das nicht anders - und sie spürten sofort, dass hier etwas zu entstehen begann, was sie noch nicht überblicken konnten. Nur die Skirr schienen in jeder Sekunde ganz genau zu wissen, was sie taten und vor allen Dingen wie sie es tun mussten.

Azach und R'Lyeh spürten mit ihren Sinnen die Gedanken der Skirr - und sie schienen ihnen noch fremdartiger als es ohnehin schon der Fall war. Gleichzeitig erkannten sie die Kräfte, die von diesen gewalti-gen Maschinen ausgingen und die Skirr fühlten für einen kurzen Au-

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genblick das Zögern der dunklen Götter. Eine ganz winzige Zeitspanne, vielleicht noch nicht einmal die Zeit eines menschlichen Atemhauchs - und doch reichte es für die Skirr aus, sofort gegenzusteuern. Die ge-ballten geistigen Kräfte der Skirr richteten sich jetzt gegen Azach und R'Lyeh!

Die Götter der Finsternis bemerkten viel zu spät, dass auch sie jetzt von den Skirr manipuliert worden. Wie eine unsichtbare Glocke stülpte sich der Wille der spinnenhaften Wesen über die Götter der Finsternis, schaltete jeden noch so winzigen Gedanken von Zweifel und Widerstand aus. Jetzt wo der Tag der Auferstehung so nahe war, durfte nichts mehr dazwischen kommen...

Geballte geistige Kräfte entwickelten sich, wurden mit Hilfe der Sinne der Skirr gebündelt und von den Maschinen noch vielfach ver-stärkt. Die Intensität des dumpfen Dröhnens nahm jetzt sogar noch zu und die Kolben der Boliden bewegten sich in einem ständig schneller werdenden Rhythmus.

Die Träume der Skirr rückten in greifbare Nähe. Sie sehnten sich nach den Herren des Chaos, wünschten deren Herrschaft herbei, die auch dieses Universum in Schutt und Asche verwandeln sollten. Das wahre Leben ging nur vom Chaos aus - nicht vom Licht und vom Le-ben! Auf der anderen Seite des Universums, jenseits der Flammenbar-riere und unweit des pulsierenden schwarzen Loches, da existierte das wirkliche Leben. Ein stetiger Wechsel von Geburt und Sterben, inmit-ten einer unbegreiflichen Protuberanz von explodierenden Gasnebeln und sterbenden Sonnen. Diese gigantischen Kräfte sorgten für den Erhalt der Herren des Chaos - und diese Kräfte sollten sich nun auch auf dieser Seite des Universums ausbreiten.

Nun war die Stunde gekommen und nun würde sie nichts und niemand mehr daran hindern, zu tun, was getan werden musste. Sie ignorierten, was draußen geschah.

Es hatte keine Bedeutung mehr und musste sich vielmehr dem un-terordnen, was im Herzen der Stahlburg geschah. Selbst wer noch verhindern wollte, dass die Dinge hier ihren Lauf nahmen - er würde zu spät kommen...

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*

Jesca sagte lange Zeit gar nichts, nachdem Thorin ihr einiges über sich und seine Mission berichtet hatte - sie hatte große Mühe, zu begreifen, was sie gerade gehört hatte. Die Amazone hatte ein festes Weltbild gehabt, das zum ersten mal ins Wanken geraten war, als die große Schlacht zwischen Licht und Finsternis begonnen hatte. Und nach der Schlacht hatte es noch mehr Rückschläge gegeben - bis sie ganz allein dastand!

»Es klingt unglaublich«, murmelte Jesca. »Und doch scheint es wahr zu sein...«

»Thorin sagt die Wahrheit, Amazone«, ergriff nun auch Correk das Wort. »Du kannst ihm vertrauen - ich stehe jederzeit mit meinem Le-ben für ihn ein.«

Jesca erwiderte nichts darauf, weil Männer in ihrem bisherigen Le-ben eine absolut untergeordnete Rolle gespielt hatten. Schließlich kam sie aus einem Land, in dem Frauen die Macht ausübten und das schon seit vielen Generationen getan hatten.

»Wie wollen wir in die Burg eindringen?«, fragte Jesca nun Thorin. »Vergiss nicht die geflügelten Dämonen - sie sind eine große Gefahr für uns...«

»Die Nacht ist unser Freund«, fuhr Thorin fort. »Die Bestien haben schon einmal die Schlucht überflogen und nichts dabei entdeckt. Bevor sie es ein zweites mal tun, müssen wir in der Nähe der Burg sein. Also brechen wir jetzt am besten auf. Ich weiß, dass es ein hohes Risiko ist - aber wer nichts wagt, gewinnt auch nichts...«

Seine Worte berührten eine verwandte Seele. Zum ersten mal schlich sich ein Lächeln in Jescas Züge und sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung -erneut wie eine große Katze, die jederzeit zum Sprung auf ihren Gegner bereit war.

Die beiden Krieger und die Amazone verließen jetzt die Höhle - aber erst nachdem sie sich erneut davon überzeugt hatten, dass von den geflügelten Dämonen keine unmittelbare Gefahr ausging. Aber am rötlichen Himmel zeigte sich nichts. Die Echsen waren in die Burg zu-rückgekehrt.

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Dichte Wolken zogen jetzt auf und verschluckten des Licht des rötlichen Mondes - das war die Chance, die sie nutzen mussten. Zwar war es nicht mehr weit bis zum Ende der Schlucht, aber dennoch er-schien es ihnen wie eine halbe Ewigkeit, bis sie auch dieses Stück Weg hinter sich gebracht hatten.

Das scharfkantige schwarze Gestein ließ es nicht zu, dass sie ihren Weg schnell fortsetzen konnten. Zuviel Geröll und Felsen lagen im Weg, so dass sie immer wieder ausweichen und eine neue Richtung einschlagen mussten. Währenddessen sicherte immer einer der drei den Weg der anderen. Mal war es Thorin oder Correk und manchmal auch Jesca, die mit gezogener Klinge wachsam Ausschau nach allen Seiten hielt, um die Gefährten somit rechtzeitig vor Gegnern aus dem Hinterhalt warnen zu können. Aber nach wie vor blieb alles still, nichts rührte sich.

Thorin drehte sich in diesem Moment kurz um und sah die ge-schmeidige Gestalt der Amazonen-Kriegerin, die sich für einen kurzen Moment vor dem Licht des Mondes abzeichnete, als dieser hinter den dichten Wolken hervorkam. Er sah den schlanken Körper Jescas, die mit beiden Händen ihr Schwert festhielt und Ausschau nach möglichen Feinden hielt. Sie ist eine unglaublich stolze Frau, dachte Thorin und bewunderte sie im stillen für ihren Mut.

»Was ist?«, fragte ihn Jesca und Thorin zuckte kurz zusammen, weil sie seine Gedanken in diesem Moment so klar hatte lesen können. Sie spürte es, dass er sie bewunderte und hätte sich Thorin jetzt noch einmal zu ihr umgedreht, so wäre ihm das kurze Lächeln Jescas ganz sicher nicht entgangen.

So aber schlich er sich geduckt weiter in Richtung der Stahlburg und bemerkte plötzlich, dass tief unter seinen Füßen der Boden zu beben begann - wie bei einem bevorstehenden Erdstoß!

Correk und Jesca bemerkten es jetzt auch. Sie hielten inne, blick-ten misstrauisch zu Thorin, aber auch der wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Irgendwo dort unten schien etwas in Bewegung gera-ten zu sein. Aber was?

Es war ein stetiges Dröhnen, das nicht von dieser Welt sein könn-te - Thorin hatte bisher noch nichts Vergleichbares gehört und fragte

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sich natürlich zu recht, was die Ursache dieser eigenartigen Geräusche war. Aber sie würden es bald wissen - spätestens dann, wenn sie den teuflischen Skirr gegenüberstehen würde. Und das war etwas, was Thorin noch ziemliche Sorgen bereitete. Er kannte die Skirr nur aus den Erzählungen des FÄHRMANNS und wusste ansonsten kaum etwas über die spinnenhaften Wesen, die seine Welt auf so grausame Weise geknechtet hatten. Thorin wusste, welches Risiko er einging, aber er war bereit dazu. Die Welt lag im Würgegriff der Skirr und nur er konn-te jetzt noch etwas dagegen unternehmen.

Während er, Jesca und Correk einem engen Pfad folgten, der sich durch das Geröll wand, dachte Thorin an Odan, Thunor und Einar - die drei Götter des Lichts. Für ihn erschien es wie eine Ewigkeit, seit er zum letzten mal Kontakt mit dem allwissenden Einar gehabt hatte. Der Gott mit dem milchig-trüben Auge hatte immer wieder in unregelmäßi-gen Zeitabständen Thorins Wege gekreuzt. Aber auch ein so mächtiger Gott wie Einar hatte das Unheil nicht mehr aufhalten können, die die finsteren Götter Azach und R'Lyeh mit Hilfe der Skirr über diese einst so friedliche Welt gebracht hatten.

Sie sind irgendwo in dieser Burg, dachte Thorin. Ob sie spüren, dass ich komme, um sie zu befreien? Oder haben sie die Skirr mittler-weile längst an einen anderen Ort gebracht? Er wünschte sich, dass er jetzt schon eine Antwort auf diese brennende Frage gehabt hätte.

Nach wie vor vertraute er auf die Götterklinge, die ihn selbst nach dem Untergang der Welt nicht im Stich gelassen hatte. Die Kräfte des Lichts, die in dem Schwert innewohnten, hatten ihn immer beschützt vor tödlichen Gefahren. Also musste das doch bedeuten, dass es ir-gendwo immer einen winzigen Funken Hoffnung gab - man musste es nur erkennen und dann die Chance nutzen!

Thorin war bereit dazu. Seit der letzten, alles vernichtenden Schlacht zwischen Licht und Finsternis hatte er zahlreiche Prüfungen meistern müssen, die zuerst so unüberwindlich erschienen, dass er kaum geglaubt hätte, sie dennoch hinter sich bringen zu können. Und doch war es geschehen - und er war bis an diesen Ort des Grauens gekommen. Jetzt würde er vor nichts mehr zurückschrecken. Weder vor den geflügelten Dämonen oben in der Burg oder vor sonstigen

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Kreaturen, die ihn daran hindern wollten, die Götter des Lichts zu be-freien.

Weiter oben endete der Pfad plötzlich vor einem gewaltigen Hau-fen aus Felsen und Geröll, der ein jähes Ende darstellte. Thorin zöger-te jedoch nur für Sekunden, dann nahm er sich ein Herz und kletterte an einem der Gesteinsbrocken hoch, fand rasch einen sicheren Halt und zog sich weiter nach oben. Innerhalb weniger Minuten hatte er dann einen Einschnitt im schwarzen Gestein erreicht, der tiefer in den Hügel zu führen schien.

Von hier oben aus winkte Thorin Jesca und Correk zu, ihm rasch zu folgen. Die Amazone kletterte rasch nach oben und lehnte Thorins ausgestreckten Arm ab - sie wollte es allein schaffen!

Correk griff jedoch nach Thorins Arm und es gelang ihm schließ-lich ebenfalls nach oben zu kommen - unmittelbar vor dem schmalen Spalt, der tiefer in den gewaltigen Hügel führte, auf dem die Skirr ihre Stahlburg errichtet hatten.

Jetzt wo sie praktisch den Fuß des Berges erreicht hatten, wurde zur Gewissheit, was Thorin schon vorher aufgefallen war. Das Gestein dieses Felsenhügels - es war von solch dunkler Farbe, wie Thorin es noch nie zuvor gesehen hatte. Auch nicht an den Orten der Welt, die er schon einmal aufgesucht hatte. Ob dieser Hügel womöglich ein Teil der Stahlburg war, der ebenfalls aus der Welt der Skirr stammte? Eini-ges sprach dafür, aber darüber konnte und wollte sich Thorin jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Für ihn standen jetzt viel wichtigere Dinge auf dem Spiel...

*

Wenn es draußen schon ziemlich dunkel angesichts der dichten Wol-kendecke gewesen war, so herrschte weiter tiefer in dem Spalt eine absolute Finsternis. Diese zunächst undurchdringlich wirkende Dun-kelheit hielt jedoch nur für wenige Atemzüge an, dann hatten sich die Augen der drei Eindringlinge an die veränderten Lichtverhältnisse ge-wöhnt. Sie sahen etwas, wenn auch nicht viel - aber es reichte aus, um den Weg ins Innere des Felsenhügels fortzusetzen.

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Irgendwo im Gestein mussten sich hauchdünne Adern entlang zie-hen, die eine gewisse Leuchtkraft besaßen. Thorin sah nach oben zur Decke und zu den Wänden und erkannte dort helle Streifen.

Es sieht aus wie Gold, dachte Thorin - aber wer weiß, was es in Wirklichkeit ist. Aber es stammt nicht von dieser Welt...

Ihre Schritte auf dem rauen Felsgestein klangen seltsam hohl und dumpf in diesem unübersehbaren Schacht, der sich weiter oberhalb vergrößerte. Welche Ausmaße diese Höhle hatte, darüber konnten sie nur vage Mutmaßungen anstellen, denn die Decke lag irgendwo hoch über ihnen. So hoch, dass sie von dem spärlichen Licht des reflektie-renden Gesteins nicht mehr erfasst wurde.

Thorin ertappte sich dabei, dass er sich nun noch einmal umdreh-te und einen kurzen Blick zurück zu der Stelle warf, wo sie in den Spalt im Gestein eingedrungen waren. Jetzt dachte er wieder an das dumpfe Dröhnen, das eigenartigerweise hier gar nicht mehr zu hören war. Wenn dieses Beben weiterging, konnte womöglich die Höhle in Mitlei-denschaft gezogen werden. Und wenn hier alles einstürzte, dann war es aus und vorbei mit ihnen.

Nur nicht daran denken, sagte er im stillen zu sich selbst, um sich Mut zu machen. Auf jeden Fall waren sie fürs erste den geflügelten Kreaturen entkommen, die irgendwo auf den Zinnen der Stahlburg lauerten. Allein dieser Gedanke stimmte ihn mehr als zufrieden.

Irgendwo über sich hörte er plötzlich ein leises Geräusch. Sofort blieb er stehen und riss sein Schwert empor. Correk und Jesca hatten es auch vernommen, konnten aber genau wie Thorin nichts erkennen. Dazu war in der großen Höhle nicht genügend Licht vorhanden, um weitere Einzelheiten ausmachen zu können. Und dann wiederholte sich das Geräusch von eben!

Nur wenige Sekundebruchteile später erfüllte ein lautes Pfeifen die Höhle und wieder erklang das gleiche Geräusch von vorhin - diesmal allerdings bedeutend lauter. Gleichzeitig erschien es Thorin, als wenn die Decke auf einmal in Bewegung zu geraten schien - aber das war doch völlig unmöglich...

Etwas Haariges, Pelziges streifte mit lederartigen Schwingen seine breiten Schultern, gefolgt von Dutzenden seiner Art. Nun begriff Tho-

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rin, was das zu bedeuten hatte. Er kannte die geflügelten Sauger, die auch in den Eisländern beheimatet waren. Nur diese Fledermäuse hier - sie waren bedeutend größer und somit auch viel gefährlicher.

Aus Jesca hatte sofort erkannt, was hier geschah. Die Amazone packte ihr scharfes Schwert und schwang es in kreisenden Bewegun-gen über ihrem Haupt. Einige der Fledermäuse erwischte sie schon mit dem ersten Schlag. Ein lautes Pfeifen und Kreischen erfüllte die Luft der finsteren Höhle, als sich die kleinen Bestien von allen Seiten auf Thorin, Jesca und Correk stürzten. Dabei waren sie nur von den Stim-men der drei Menschen aus ihrem Schlaf aufgeschreckt worden und suchten jetzt ihr Heil in der Flucht.

Der Aynok-Krieger Correk dagegen sah sich plötzlich einer Vielzahl von kleinen Bestien mit rot glühenden Augen gegenüber und anstatt sich zu verteidigen, verlor er vollends die Nerven. Er ließ sein Schwert fallen, schlug schreiend die Hände über dem Kopf zusammen und rannte einfach davon - immer tiefer hinein in die dunkle Höhle. Panik bestimmte sein weiteres Handeln. Er wollte nur noch eins - so rasch wie möglich weg aus der Nähe dieser Tiere. Sie jagten ihm einen sol-chen Schrecken ein, dass er gar nicht mehr klar denken konnte. Ver-gessen war der vorher gefasste Entschluss, zusammen mit Thorin und Jesca gegen sämtliche Feinde zu kämpfen. Correk war ein guter Schwertkrieger, wenn es um den Kampf Mann gegen Mann ging. Aber geflügelte Dämonen mit roten Augen und Lederschwingen - das war zuviel für ihn.

Thorin wehrte sich verbissen gegen die kleinen Angreifer, die zu Dutzenden sich von der Decke auf ihn herabstürzten und mit den scharfen Krallen ihn zu verletzten versuchten. Aber wie Jesca war auch er ein Meister des Schwertes. Die Götterklinge hoch über seinem Haupt erhoben, drosch er mit dem Mut der Verzweiflung auf die rot-äugigen Bestien ein und schlug viele von ihnen tot. Stinkendes Blut ergoss sich auf seine breiten Schultern, das seine Nase reizte - aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Es ging einzig und allein ums Überleben - und das war nur möglich, wenn er jetzt absolu-te Stärke bewies!

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Jesca und Thorin kämpften Rücken an Rücken gegen die kleinen Bestien und es gelang ihnen, den ganzen Schwärm von Blutsaugern schließlich in die Flucht zu schlagen. Zu ihren Füßen lagen Dutzende von toten Fledermäusen und der Boden war glitschig vom Schleim und vom Blut der vernichteten Tiere. Erst als sich die letzten Tiere des gro-ßen Schwarms verzogen und die Höhle durch den schmalen Spalt ver-lassen hatten, ließ Thorin das Schwert sinken. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er keuchte heftig.

Seine Blicke und die der geschmeidigen Amazone trafen sich für einen kurzen Moment und Thorin glaubte, ein kurzes Lächeln in Jescas Zügen gesehen zu haben.

»Correk, dieser Narr!«, kam es nun über Jescas Lippen. »Wo ist er hingerannt?«

»Dort hinaus«, sagte Thorin und hatte es nun ziemlich eilig, dem Gefährten zu folgen. Der Aynok-Krieger war jetzt waffenlos und würde sich noch nicht einmal wehren können, wenn weiter hinten in der Höh-le noch andere Gefahren auf ihn lauerten. Sie mussten sich beeilen, wenn sie Schlimmeres verhindern wollten. Dass Correk eine solche Schwäche in einem entscheidenden Moment wie diesem gezeigt hatte, gab Thorin ziemlich zu denken - und seine Befürchtungen verstärkten sich noch, als er in einiger Entfernung auf einmal einen lauten, durch-dringenden Schrei vernahm. So konnte nur jemand schreien, der sich in Todesgefahr befand!

*

Correk stolperte mehr als er lief. Er stieß sich den Schädel mehrmals heftig an einem herabhängenden Tropfstein, aber der Aynok-Krieger verbiss den Schmerz und rannte einfach weiter. Er sah immer noch die kleinen Körper der gefährlichen Blutsauger und deren scharfe Zähne dicht vor seinem Gesicht. Solche Lebewesen hatte er noch nie zuvor gesehen und die Tatsache, dass sie in einem Schwärm angegriffen hatten, sprach für deren Gefährlichkeit. Erst als er das laute Pfeifen und das Schlagen der lederartigen Schwingen nicht mehr hörte, hielt er für einen kurzen Moment inne, um Atem zu schöpfen. Sein ganzer

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Körper war buchstäblich in Schweiß gebadet und das Herz raste in seiner Brust.

Erst jetzt konnte er einen klaren Gedanken fassen, während seine Hand automatisch den Schwertknauf fassen wollte. Dann wurde Cor-rek bewusst, dass er die Klinge hatte fallen lassen. Sofort blickte er zurück und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass er nicht mehr wusste, aus welcher Richtung er gekommen war. Unterwegs hatte einer der Gänge mehrmals abgezweigt und Correk war einfach weiter gerannt, ohne darauf zu achten, ob er nun nach links oder nach rechts gelaufen war. Jetzt rächte sich diese Unachtsamkeit auf dramatische Weise, denn Correk spürte eine grenzenlose Angst, die erneut über seine Haut kroch und ihn leise stöhnen ließ.

Sekunden später begriff er erst, dass dieses Gefühl nicht nur in seiner Phantasie existierte, sondern dass es sogar schrecklich real war. Etwas Kaltes, Glitschiges berührte ihn kurz an der Schulter und streifte für den Zeitraum einer Ewigkeit über seine bloße Haut.

Correk erstarrte förmlich zur Salzsäule in den ersten entscheiden-den Sekunden. Und als er endlich begriff, welche Gefahr ihm jetzt drohte, war es bereits zu spät für ihn. Ein gigantischer Schlangenleib löste sich von den Tropfsteinen und riss den Aynok-Krieger zu Boden, begrub ihn förmlich unter sich.

Correk wehrte sich wie ein Wahnsinniger, aber gegen diese Kräfte kam er nicht an. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, als der ge-schuppte Leib ihn niederdrückte...

*

Thorin fluchte, als er mit der Schulter gegen einen scharfkantigen Fel-sen stieß und sich dabei die Haut aufriss. Es brannte, aber Thorin ig-norierte den Schmerz, denn der Hilfeschrei Correks hallte noch in sei-nen Ohren wider.

Er hastete weiter, gefolgt von der Amazone, die ebenfalls ihr Schwert in der Hand hielt. Der Pfad, der mitten durch das Felsgestein führte (und aussah wie eine gigantische Tropfsteinhöhle) war eng und niedrig dazu. Oft mussten sich der Krieger aus den Eisländern und die

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katzenhafte Amazone bücken. Mehrmals gabelte sich der Gang und sie wussten nicht, welchen Weg sie jetzt nehmen sollten. Die lauten Hilfe-rufe Correks waren jetzt verstummt und Stille breitete sich in dem ge-waltigen Höhlensystem aus (fast der ganze Berg schien von etlichen Höhlen durchzogen zu sein). Nur das dumpfe Tappen ihrer Schritte hallte von den Wänden wider und diese Laute wirkten gespenstisch.

»Wohin jetzt?«, wisperte Jesca mit etwas unsicherer Stimme, weil sie allmählich die Orientierung in diesem labyrinthähnlichen Höhlensys-tem verlor.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Thorin und wies dann mit der Spitze seines Schwertes auf die Abzweigung rechts. »Er kann nicht weit von uns entfernt sein - die Hilferufe kamen ganz aus der Nähe. Wir werden es schon merken, wenn wir uns geirrt haben. Was mir viel mehr Sor-gen macht, ist die Tatsache, dass seine Rufe verstummt sind...«

Jesca nickte nur, folgte dann aber dem Weg, den Thorin ausge-sucht hatte. Der Gang weitete sich jetzt ein wenig und sie mussten auch nicht mehr gebückt gehen - ein Zeichen dafür, dass dieser Weg irgendwann in eine größere Höhle mündete. Auch die leuchtenden Gesteinsadern wurden jetzt zahlreicher, tauchten den Gang in ein dif-fuses, gelbliches Licht, das Thorins Augen Unwohlsein bereitete. Aber dann gewöhnte er sich auch an diesen Schimmer und erkannte Sekun-den später, dass dieser Gang tatsächlich in eine Höhle mündete, die weitaus größer war als die, die sie ganz zu Beginn nach ihrem Ein-dringen in die Felsspalte betreten hatten.

Zahlreiche Tropfsteine in bizarren Formen hingen von der gewölb-ten Decke herab und schimmerten in ganz eigenartigen Farben, wie sie Thorin selbst noch nie zuvor gesehen hatte. Gleichzeitig stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase, den er sich nicht erklären konnte. Er gab Jesca einen kurzen Wink und die beiden verharrten auf der Stelle.

In diesem Moment erkannten sie dann ein Bild des Schreckens, das sie beide zusammenzucken ließ. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt entdeckten sie Correk, der an einen der Tropfsteinfelsen ge-fesselt war und sich überhaupt nicht rührte. Sein Kopf hing ihm auf der Brust und er schien gar nicht mehr zu atmen.

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Jesca wollte schon vorauseilen, um den Gefährten aus seiner un-bequemen Lage zu befreien, aber Thorin packte ihren Arm und hielt sie fest. Die Amazone wollte aufbegehren, unterließ es aber, als sie den Ausdruck in Thorins Augen bemerkte. Er hob stattdessen die linke Hand und deutete wortlos auf eine Stelle im Gestein über Correks Kopf.

Dort bewegte sich etwas ganz schwach, das Thorin nicht genau erkennen konnte. Erst als er sich einige Schritte weiter nach vorn wag-te, sah er die Ausmaße dieses Schreckens.

Es waren Schlangen, dicke geschuppte Schlangen, die sich in zahl-reichen Windungen um die Steine gedrückt hatten. Ihre Häupter fuh-ren jetzt herum, als sie die Eindringlinge kommen sahen. Kalte Augen richteten sich auf Thorin und Jesca, während ein bedrohliches Zischen die Höhle erfüllte.

»Bei allen...«, murmelte Thorin ergriffen, als er sah, in welcher bedrohlichen Lage der Aynok-Krieger steckte. Es waren auch keine Stricke, die Correk an den Felsen fesselten, sondern glänzende Schlan-genhaut!

»Das sind Kreaturen der Hölle!«, rief nun Jesca und stürzte sich mit gezücktem Schwert auf das Schlangenknäuel. Sie ignorierte die damit verbundene Gefahr für Leib und Leben. Sie wollte alles tun, um so rasch wie möglich Correk zu Hilfe zu eilen, bevor es zu spät dafür war.

Dass diese Schlangen dämonisches Leben besaßen, bemerkte Thorin spätestens in dem Augenblick, als die Klinge Sternfeuers wieder zu leuchten begann. Nun folgte auch er der stürmischen Amazone und griff die Schlangen an.

Der Nordlandwolf und Jesca sahen sich auf einmal sechs Schlan-gen gegenüber, die sich aus dem Knäuel gelöst hatten und nun blitz-schnell von allen Seiten ihre Feinde angriffen. Die geschuppten Körper zuckten nach vorn, aber ihre Gegner waren erfahrene Schwertkämpfer und verteidigten sich vehement.

Die erste der Schlangen wurde von einem gezielten Hieb Thorins sofort enthauptet. Gelbliches Blut schoss aus dem Rumpf hervor und die Götterklinge strahlte jetzt noch ein helleres Leuchten aus. Auch

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Jesca machte mit der Schlangenbrut kurzen Prozess und erschlug ei-nes dieser Reptilien mit einem kräftigen Hieb. Das brachte Verwirrung in die Reihen der Schlangen, die mit ihren dämonischen Instinkten begriffen, dass ihre Feinde doch sehr gefährlich waren.

Thorin und Jesca nutzten dieses kurze Zögern der Schlangenbrut aus und setzten mit weiteren Hieben sofort nach. Eine Schlange ver-endete und Jesca tötete dann die restlichen beiden. Der ganze Kampf hatte nur wenige Minuten gedauert, aber er war mit solch wilder Ent-schlossenheit geführt worden, dass der Nordlandwolf und die Amazone jetzt Spuren der Ermüdung zeigten.

Nun ließ Thorin sein Schwert sinken und ging auf den an den Fel-sen gefesselten Correk zu, der sich immer noch nicht bewegte. Erst als er ganz nahe vor ihm stand und einen Blick in das Gesicht des Aynok-Kriegers warf, musste er zu seinem großen Entsetzen erkennen, dass der Gefährte nicht mehr am Leben war. Correk atmete nicht mehr, die Augen waren ohne jegliches Leben.

»Verfluchte Bestien!«, kam es Thorin wütend über die Lippen und er ballte voller Zorn die linke Faust.

Auch Jesca sah jetzt erst, was Thorin kurz zuvor festgestellt hatte. Ihr Gesicht nahm einen bitteren Zug an, als sie neben Thorin trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Ich kann verstehen, was du jetzt denkst, Thorin«, sagte sie zu ihm. »Aber vergiss nicht, dass es seine Schuld war. Er lief einfach da-von, als es gefährlich wurde...«

»Ich weiß«, winkte Thorin ab. Dieser Fehler hatte Correk das Le-ben gekostet. Die teuflische Schlangenbrut musste seinen Brustkorb zerdrückt haben - und dann hatten ihn die Bestien wie zum Hohn an diesen Felsen gefesselt, mit einem Teil ihrer eigenen Haut, um dann die anderen Menschen anzulocken!

Thorin hob die Klinge und schnitt die Schlangenhaut durch, wäh-rend Jesca den toten Correk auffing. Sanft ließ sie ihn zu Boden glei-ten.

»Er hatte große Angst vor den Dämonen, die diese Welt beherr-schen«, murmelte Thorin. »Er und seine Gefährten waren tapfere Krieger - aber gegen die Schöpfungen der Finsternis hatten sie niemals

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eine Chance, denn darüber wussten sie zu wenig. Jetzt hat er es hinter sich und ich hoffe dennoch, dass er seinen Frieden gefunden hat. Er war ein Freund, den ich vermissen werde...«

Jesca nickte nur. Es bedurfte keiner weiteren Worte, um ihre Emp-findungen auszudrücken. Dennoch mussten sie jetzt aber ihren Weg ins Ungewisse fortsetzen. Es blieb keine Zeit, um den toten Correk zu bestatten - sie mussten ihn liegenlassen. Schweren Herzens wandte sich Thorin schließlich ab und ging weiter. Er sah nicht mehr zurück, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf das, was noch vor ihm lag...

*

Zwischenspiel 3 Die gefangenen Götter In dem quadratischen Raum herrschte ein eigenartiges Zwielicht, des-sen Ursache das flimmernde Licht war, das sich wenige Schritte vor den drei angeketteten Gefangenen ausbreitete. Es war eine Aura des Bösen - undurchdringlich und tödlich für jeden, der es wagte, sich die-sem Licht zu nähern. Aber selbst das hätten die mit magischen Ketten an die Wand geschmiedeten Gefangenen gar nicht geschafft, denn die Skirr hatten sie mit ihren dunklen Kräften so gefesselt, dass ein Ent-kommen gar nicht möglich war. Das wussten die Spinnenwesen - und nur deshalb hatten sie sich schon seit Tagen um ihre gefangenen Feinde gar nicht mehr gekümmert. Man überließ die drei Götter des Lichts ihrer eigenen Verzweiflung und Odan, Thunor und Einar spürten das, genau wie die Tatsache, dass irgendwo tief in den Gewölben un-ter ihnen etwas vorging, was ihnen Sorgen bereitete.

Aber das Wissen, dass sie diesem Treiben ohnmächtig zusehen mussten, ließ sie fast verzweifeln. Weil ihre Lage vollkommen ausweg-los war. Jeder Versuch, sich von den Ketten zu befreien, jeder Gedan-ke an Flucht oder Ausbruch - er brachte nichts. Alles war von Anfang an zum Scheitern verurteilt und vielleicht hatte sich deshalb eine ge-wisse Lethargie unter den drei Göttern des Lichts breitgemacht, die man auf solch heimtückische Weise ihrer Macht beraubt hatte.

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Odan lehnte in seinen Ketten an der rauen Steinwand und hatte die Augen geschlossen. Thunor lag nur wenige Meter entfernt von ihm halb auf dem steinigen feuchten Fußboden ausgestreckt und schien zu schlafen. Manchmal kam über seine Lippen ein leises Stöhnen - er schien einen schlimmen Alptraum zu erleben, der immer wiederkehrte.

Nur Einar, der einst so mächtige und allwissende Gott, konnte kei-ne Ruhe finden - selbst nicht in diesem Kerker. Die Skirr hatten ihn in unmittelbarer Nähe eines kleinen vergitterten Fensters angekettet, so dass Einar mit etwas Mühe den Kopf heben und einen Teil des rötlich leuchtenden Himmels erkennen konnte. Er sehnte sich förmlich nach der hellen gelben Sonne, die einmal über dieser Welt jeden Tag auf-gegangen war. Aber sie war längst verschwunden - und der einäugige Gott wusste, dass sich dort draußen alles verändert hatte. Ihm und seinen beiden Götterbrüdern war es möglich gewesen, einen kurzen Blick auf die zerstörte Welt zu werfen - als der FÄHRMANN sie mit in seine Barke genommen und ihnen die vernichtete Erde gezeigt hatte.

Es waren schockierende Bilder gewesen - für jeden von ihnen. Und sie hatten in diesem Moment einsehen müssen, dass ihre Macht ein für allemal ein Ende gefunden hatte. Ein bittere Lektion für Wesen, die einmal geglaubt hatten, dass es keine höheren Mächte außer ihnen gab. Die Existenz des geheimnisvollen FÄHRMANNS hatte sie jedoch rasch eines Besseren belehrt. Nun waren auch Odan, Thunor und Einar Zeugen von Geschehnissen geworden, die ihnen ihre eigene Machtlo-sigkeit auf vollkommene Weise demonstrierten.

Dennoch gab es noch einen winzigen Hoffnungsschimmer und nur das ließ den einäugigen Gott jetzt hoffen. Im Gegensatz zu ihm hatten sich seine Brüder mit dem Gedanken der endgültigen Niederlage be-reits abgefunden - auch wenn sie ahnten, dass Thorin nicht mehr in seinem Gefängnis aus Raum und Zeit weilte. Einar hatte es als erster gespürt, dass sich dort draußen etwas verändert haben musste - er wusste aber nicht genau, was es war. Auf jeden Fall hatte es etwas mit der schimmernden Lichtblase zu tun, in der Thorin gefangen gehalten wurde. Er musste es geschafft haben, aus dieser Blase zu entkommen - ob der FÄHRMANN womöglich ein zweites mal eingegrif-fen hatte? Diesmal vielleicht, um den Mächten des Lichts zu helfen?

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Auch wenn dem so war, so zeigten Odan und Thunor jetzt nichts mehr von dem Wunsch nach Hoffnung. Die langen Tage der Gefan-genschaft schienen sie zermürbt zu haben. Aber Einar war schon im-mer derjenige der drei Götter gewesen, dessen Blick stets in die Zu-kunft gerichtet war - selbst in dieser ausweglosen Situation.

Wäre da nur nicht dieses dumpfe Brummen und Dröhnen gewe-sen, das direkt aus dem Berg zu kommen schien. Schon seit Tagen war dieses Geräusch zu hören und es bereitete Einar große Sorgen. Es hatte an dem Tag begonnen, wo sich ihre Peiniger ganz zurückgezo-gen und die drei Götter des Lichts sich selbst überlassen hatten.

Einar gefiel der Gedanke gar nicht, der ihm jetzt durch den Kopf ging. Er riss an seinen Ketten, weil er jetzt zusehends nervöser wurde. Durch das Klirren der Ketten erwachten nun seine Brüder. Thunor blickte seinen Bruder kopfschüttelnd an.

»Es ist zwecklos - du musst akzeptieren, dass unsere Macht am Ende ist, Einar.«

»Spricht so ein Gott, der einmal in seiner Festung über den Wol-ken herrschte?«, erwiderte Einar. »Ich erkenne dich kaum wieder, Thunor - auch dich nicht, Odan«, fügte er hinzu, als er sah, dass der Gott, den man früher den Weltenzerstörer genannt hatte, dieses kurze Gespräch mithörte. »Die Skirr haben es tatsächlich geschafft, euch zu zerbrechen - und es ging so schnell...«

»Was willst du denn dagegen tun?«, hielt ihm Odan entgegen, dessen Handgelenke von den Ketten aufgescheuert waren. »Jeder Versuch, aus dem Kerker zu entkommen oder sich von den Ketten zu befreien, hat zu nichts geführt, Bruder. Die Skirr sind stärker als wir - und je früher wir das einsehen, um so besser ist es. Unsere Zeit ist zu Ende und...«

»Schweig!«, fuhr ihn Einar mit solchem Zorn an, dass selbst Odan zusammenfuhr und seinen Bruder sichtlich überrascht anblickte.

»Es fällt mir schwer, zu begreifen, dass ihr es einfach akzeptiert!«, fuhr Einar nach einer kleinen Weile fort. »Ich erkenne meine Brüder nicht wieder. Habt ihr keinen Willen zum Kampf mehr in euch? Merkt ihr denn nicht, was unter unseren Füßen - irgendwo in den Gewölben

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dieses unseligen Ortes geschieht? Wir müssen wachsam sein - es hat schon begonnen...«

»Wovon sprichst du, Einar?«, wollte der bärtige Odan jetzt wissen. »Meinst du dieses Dröhnen?« Er sah, wie Einar heftig nickte und fuhr dann fort. »Dann sag uns, was du dagegen tun willst. Wir können we-der unsere Ketten lösen noch die Mauern durchbrechen.«

»Das weiß ich selbst - aber wir können auch auf anderem Wege zumindest versuchen, zu verhindern, was dort unten schon begonnen hat Konzentriert euch, Brüder - früher waren wir stark und mächtig. Unsere Körper konnten sie besiegen, aber unsere geistigen Kräfte - mit ihnen können wir zumindest versuchen, das Unheil zu verhindern.«

Er sprach das so überzeugend aus, dass dies auch bei Odan und Thunor nicht ohne Wirkung blieb. Einar schloss die Augen, lehnte sich zurück und fiel in eine Art Trance - wie es schon öfters bei ihm der Fall gewesen war. Aber im Gegensatz zu früheren Versuchen störten ihn die Skirr jetzt nicht mehr, unternahmen auch keinen weiteren Versuch, um ihn daran zu hindern. Das musste etwas zu bedeuten haben, da man früher jeden noch so geringen Widerstand buchstäblich im Keim erstickt hatte!

Die geistigen Kräfte Thunors und Odans schlossen sich mit denen Einars zu einer geistigen Einheit zusammen. Es verging viel Zeit, bis die drei einst so mächtigen Götter ihre Kräfte soweit gebündelt hatten, dass sie nun einen Versuch wagen konnten, die flimmernde Aura des Bösen zu durchdringen.

Ihre geistigen Kräfte kamen in Berührung mit der Mauer aus E-nergie und dunkler Stärke. Es gelang ihnen nicht beim ersten mal, aber kurz darauf schafften sie es, erreichten die andere Seite der dä-monischen Barriere.

Einar führte seine beiden Brüder auf dem Weg - bis er das gefun-den hatte, wonach er gesucht hatte. Es war ein geradezu gigantisches, kuppelähnliches Gewölbe, das kaum überschaubar war. Überall stan-den eigenartige Gerätschaften und seltsame Maschinen, die alle mit-einander verbunden waren. Gelblicher Rauch stieg an einigen Stellen empor, woanders umwogte er steinerne Sockel, auf denen die frem-den Maschinen standen.

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Einar sah die spinnenhaften Körper der Skirr, die aber eigenarti-gerweise in einen Zustand absoluter Starre verfallen waren. Sein Geist war dunkel vor Hass, als er und die Sinne seiner Brüder auch die Aura ihrer Todfeinde Azach und R'Lyeh ausfindig machen konnten. Aber auch sie verharrten teilnahmslos in der großen Halle und ihre Blicke waren auf die größte Maschine gerichtet, die im Zentrum der riesigen Halle hoch emporragte.

Einar wusste, dass hier etwas nicht stimmte. Etwas Schlimmes hatte seinen Anfang genommen und sie wurden nun Zeugen von Vor-gängen, die man erst gar nicht hätte zum Leben erwecken sollen. Es hing mit diesen Maschinen zusammen!

Auch Odan und Thunor empfanden diese Bilder ähnlich und sie ließen sich weiter von Einars Geist leiten - aber nur so lange bis dieser auf etwas stieß, was ihn daran hinderte, noch weiter in dieses kuppel-ähnliche Gewölbe vorzudringen. Einar sah mit seinem geistigen Auge die große Maschine - und er bemerkte die hellen Blitze, die dort auf dem höchsten Punkt regelmäßig zu erkennen waren und jedes mal den Raum in ein grelles Licht tauchten. Die großen Kolben der Maschi-ne stampften unaufhörlich weiter, setzten die unheimliche Arbeit im Inneren dieses Kolosses fort.

Wieder zuckten grelle Blitze auf und das dumpfe Dröhnen, das mitten aus dem Bauch der Maschine zu kommen schien, war jetzt schon so laut, dass selbst die Sinne der drei Götter des Lichts es kaum noch ertragen konnten. Im Gegensatz zu ihnen schien dieser Lärm den Skirr und den beiden finsteren Göttern überhaupt nichts auszumachen - sie nahmen es gar nicht wahr. Erstarrten Statuen gleich standen sie alle einmütig in einem großen Kreis um die Maschine herum und hat-ten ihre Häupter gesenkt - als wenn sie zu dieser Maschine beteten.

Mit den Blitzen breitete sich eine eigenartige Aura in der Halle aus, die rasch an Größe zunahm. Einar erkannte mit seinen Sinnen ein selt-sames Leuchten inmitten der auf- und abzuckenden Blitze - es war ein schwarzes Leuchten!

Spätestens jetzt begriff Einar die ganzen Ausmaße dieses schreck-lichen Vorgehens. Jetzt sah er mit seinen Sinnen, was die Skirr geplant hatten - und zwar schon von Anfang an. Die Entmachtung der Götter

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des Lichts und die Zerstörung der Erde - all dies war nur zweitrangig gewesen und war einem anderen, viel wichtigeren Plan untergeordnet worden. Ein Plan, dessen Ziel Einar jetzt als erster sah und den Schre-cken des Erkennens dann auch seinen Brüdern übermittelte. Odan und Thunor waren jetzt ebenso fassungslos wie Einar - aber sie konnten dennoch nicht verhindern, was hier und jetzt in dieser Kuppelhalle geschah. Dazu waren ihre geistigen Kräfte nicht stark genug!

So mussten sie sich schließlich aus diesem Bereich der Stahlburg enttäuscht und verbittert zugleich wieder zurückziehen - und zwar oh-ne Hoffnung, dass sie das Unheil verhindern konnten.

Das war der Moment, wo Einars tastende Sinne noch ein anderes Bewusstsein entdeckten, das ihm seltsam vertraut vorkam. Schließlich wurde zur Gewissheit, was er bereits vermutet hatte und diesmal bil-dete sich ein winziger Funke der Hoffnung, dass doch noch nicht alles verloren war...

*

Thorin und Jesca erreichten über einen schmalen Zugang schließlich das Ende der großen Tropfsteinhöhle und sahen eine Treppe vor sich, die weiter nach oben führte - hinaus aus dem schwarzen Höhlensys-tem und hinein in die Räume der unheimlichen Stahlburg.

Zunächst noch etwas zögernd betraten sie die ersten Stufen der breiten Treppe, die aus einem unbekannten Metall hergestellt war - aus dem gleichen Metall wie die gesamte Burg der Skirr!

Das Licht war jetzt hier deutlich heller als in der Höhle, die sie e-ben noch durchquert hatten - aber es war auch irgendwie seltsam kalt und unheimlich. Als wenn eine unsichtbare tödliche Hand bereits schon ihre Krallen nach ihnen ausgestreckt hatte und nur noch auf den rich-tigen Moment wartete, um endlich zuschlagen zu können!

Wenige Treppenstufen oberhalb von Thorin bildete sich plötzlich ein heller, schimmernder Nebel. Sofort trat der Nordlandwolf zurück und gab auch Jesca einen kurzen Wink, stehen zu bleiben. Gleichzeitig riss er das Götterschwert hoch und rechnete mit dem Schlimmsten,

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denn er hatte ja seine eigenen Erfahrungen mit dem Nebel gemacht und war nicht unbedingt darauf erpicht, das noch einmal zu tun.

Die Klinge erstrahlte jetzt in einem hellen Licht, als sich inmitten des Nebels plötzlich der Kopf einer Gestalt abzuzeichnen begann, die Thorin seltsam vertraut vorkam. Trotzdem vergingen noch einige Se-kunden, bis sein anfänglicher Verdacht schließlich zur Gewissheit wur-de. Tatsächlich - es war Einar, einer der drei Götter des Lichts!

»Thorin, es ist gut, dass du gekommen bist!«, hörte er nun die Stimme des einäugigen Gottes direkt in seinem Hirn. Sie drang mit solcher Wucht in ihn ein, dass er für einen winzigen Augenblick tau-melte und sich dann erst wieder fangen konnte. »Thorin, es ist fast schon zu spät. Du musst sie daran hindern, die Maschine zu starten!«

Verwirrende Bilder formten sich in seinem Gehirn. Einar vermittel-te ihm eine Botschaft, die er nicht ganz verstehen konnte - aber er hatte die tief greifende Warnung durchaus begriffen.

»Das Gewölbe, Thorin«, drang Einars Stimme erneut auf ihn ein - und jetzt noch stärker als zuvor. »Die Maschine steht in einem gewal-tigen Kuppeldom, inmitten der Skirr und der dunklen Götter. Sie haben etwas Schreckliches in Bewegung gesetzt, das du verhindern musst. Es bleibt dir nicht mehr viel Zeit. Versuche nach unten in die Gewölbe zu kommen - meine Brüder und ich können dir nicht helfen. Unsere Kör-per sind gefangen in einem magischen Kerker, aus dem wir uns nicht befreien können. Denke jetzt nicht an uns, sondern nur an die Maschi-nen im Gewölbe. Du musst sie stoppen, sonst...«

Die ohnehin schon durchscheinende Gestalt des einäugigen Gottes wurde jetzt zusehends undeutlicher, begann rasch zu verblassen. Auch die Stimme Einars in seinem Hirn ließ nun nach. Geblieben war aber die sehr ernste Warnung, die Einar Thorin übermittelt hatte.

»Bei allen Göttern!«, entfuhr es nun der erschrockenen Amazone, die Zeugin dieses Ereignisses geworden war. »Ist es ein Traum, oder war es die Wirklichkeit, was ich gerade erlebt habe, Thorin?«

»Du hast nicht geträumt, Jesca«, antwortete Thorin. »Einar hat mich zu warnen versucht. Hier gehen Dinge vor, die den gesamten Kosmos zerstören, wenn wir es nicht verhindern können. Es ist sehr gefährlich, was wir jetzt tun müssen - unter Umständen können wir

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dabei sterben, ich sage es dir nur, damit du weißt, dass unsere Chan-cen nicht gerade groß sind. Selbst die Götter des Lichts waren nicht stark...«

»Unsere Welt ist doch schon vernichtet, Thorin«, hielt ihm Jesca entgegen. »Wir haben somit nichts mehr zu verlieren. Du kannst des-halb auf mich zählen. Lass uns weitergehen - ich kenne zwar deine Götter nicht, aber wenn du ihnen vertraust, dann tue ich es auch...«

Damit hatte sie alles gesagt, was es in solch einer Situation zu sa-gen gab. Thorin konnte sich auf die schöne Amazone verlassen - und das war mehr als wichtig. Denn allein der Gedanke an die Anwesenheit der übrigen dunklen Götter in der Stahlburg jagte ihm einen kalten Schauer der Furcht über den Rücken. Thorin war in der Vergangenheit Azach und R'Lyeh nie selbst begegnet - dafür hatte er aber den dritten dunklen Gott vernichtet. In einem schrecklichen Kampf, der Thorin beinahe selbst das Leben gekostet hätte.

Zwar war seitdem sehr viel geschehen - aber die Ereignisse von damals gingen ihm jetzt wieder durch den Kopf, als er den finsteren Gott in einem tödlichen Kampf doch noch hatte besiegen können - jedoch nur mit Hilfe der drei Götter des Lichts. Diesmal war er aber vollkommen allein auf sich gestellt - mit der Unterstützung Einars, Thunors und Odans konnte er jetzt nicht rechnen. Und da waren auch noch die grausamen Skirr - eigentlich für einen Sterblichen wie Thorin niemals zu bewältigen!

Und dennoch gab er nicht auf, denn die Botschaft Einars war klar und deutlich gewesen. Er musste diese geheimnisvolle Maschine, von der der einäugige Gott gesprochen hatte, stoppen!

Und wenn ihm das nicht gelang, bedeutete das nicht nur das Ende für diese Welt, sondern auch für den gesamten Kosmos - ein schreckli-cher Gedanke...

Der Nordlandwolf und die Amazone eilten jetzt die Treppenstufen nach oben. Es war ein langer beschwerlicher Weg und die steilen Stu-fen fanden immer noch kein Ende. In zahlreichen Windungen führte der Weg weiter nach oben und je höher sie diesem Weg folgten, um so glatter und fugenloser wurden die Wände.

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Schließlich erreichten sie das Ende der Treppe und vor ihren Au-gen erstreckte sich ein langer Gang, der ins Nirgendwo zu führen schien. Jesca zögerte für einen kurzen Moment, als sie erkannte, dass der Raum, durch den dieser Gang führte, so groß war, dass man die Decke gar nicht erkennen konnte. Es war ein schmaler Gang und das Licht, das in diesem Teil der Burg vorherrschte, war nicht besonders hell. Man konnte nicht weit sehen und das bedeutete unter Umständen ein zusätzliches Risiko.

»Komm«, murmelte Thorin und ging kurz entschlossen voran. Er-neut dachte er jetzt an die Warnung des einäugigen Gottes, der ihm mit vehementer Deutlichkeit gesagt hatte, dass alles zu Ende war, wenn Thorin nicht etwas unternahm. Und das hieß auch, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, um diese Aufgabe zu erfüllen.

Thorin schritt den schmalen Gang entlang und Jesca folgte dicht hinter ihm. Sie sah immer wieder zurück, hielt ihr Schwert hoch em-por, um jederzeit einen plötzlichen Angreifer zurückschlagen zu kön-nen. Auch Thorin verhielt sich so, während er langsam voranging.

Das Licht wurde jetzt noch spärlicher als es ohnehin schon der Fall war und der Gang verengte sich auf unerklärliche Weise. Die Wände rückten näher und wenige Schritte vor ihnen bildete sich auf einmal ein kurzer aufzuckender Blitz, der Thorin und Jesca dazu brachte, dass sie instinktiv die Augen schlossen, weil sie die plötzliche Helligkeit so sehr blendete. Und als sie die Augen wieder öffneten, war alles anders geworden...

*

Die Umgebung hatte sich verändert Verschwunden waren die Stahl-wände zu beiden Seiten des langen Ganges - und vor ihren Augen breitete sich jetzt ein langes gewundenes Band aus, das noch etwas schmäler geworden war. Über, unter und neben diesem Band herrsch-te eine absolute Schwärze.

Thorin blieb stehen, drehte sich kurz um und erkannte erschro-cken, dass auch hinter ihm nichts mehr zu sehen war. Dieser Gang schien aus dem Nichts gekommen zu sein und führte auf der anderen

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Seite ins Nirgendwo. Trotzdem sagte ihm eine innere Stimme, dass es jetzt schrecklich falsch gewesen wäre, umzukehren und dann zu ver-suchen, den Weg an einer anderen Stelle fortzusetzen.

»Was... was ist das?«, hörte er jetzt Jescas Stimme neben sich. Die Amazone hatte ihr Schwert mit beiden Händen fest umschlossen und blickte ebenfalls ziemlich verwirrt um sich, als sich so plötzlich die Umgebung verändert hatte. »Wo sind wir jetzt, Thorin? Das ist doch nicht der Gang, dem wir noch eben folgten und...«

»Doch«, fiel ihr Thorin ins Wort. »Ich bin ziemlich sicher, dass wir noch immer auf dem richtigen Weg sind - aber in dieser Burg gibt es schreckliche Fallen. Irgend eine Kraft hat unser Sehvermögen verän-dert und lässt uns Dinge erkennen, die es womöglich gar nicht gibt. Nein, Jesca, wir dürfen uns nicht beirren lassen. Das ist der richtige Weg. Schau einfach nicht nach links und rechts - folge mir einfach. Auch dieser Weg ins Nirgendwo wird irgendwann ein Ende haben...«

Das war allerdings leichter gesagt als getan, denn als Thorin und Jesca einige weitere Schritte nach vorn gegangen waren, änderte sich die Umgebung erneut. Unter ihnen öffnete sich auf einmal ein giganti-scher Schlund, der wild hin- und herwogte und dabei ein rötliches Leuchten verstrahlte. Thorin bemühte sich, nicht hinzusehen, aber dann geschah es doch. Die furcht erregenden Bilder in diesem großen Schlund wechselten so rasch hintereinander, dass selbst der Gang (ei-gentlich war es jetzt nur ein schmaler Steg) dadurch irgendwie ins Wanken geriet und unter den Füßen leicht zitterte.

Thorin bemerkte, dass dies Auswirkungen auf sein Gleichgewicht hatte. Für einen winzigen Moment geriet er ins Taumeln, aber Jesca war schneller und packte ihn fest. Auch sie hatte begriffen, was dieser Schlund für eine tödliche Gefahr darstellte und hatte es daher ziemlich eilig, von hier wegzukommen.

Nicht nach unten sehen, dachte Thorin. Der Schlund - er ist so tief und dort lauert das Böse auf uns. Es wird uns verschlingen, wenn wir in die Tiefe stürzen. Dann ist alles verloren...

Im selben Moment geriet der dunkle gefährliche Schlund irgendwo im Nichts unter ihnen in Bewegung. Einem tobenden Vulkan gleich

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schoss plötzlich rot glühende Lava empor und Thorin glaubte die Hitze zu spüren, die von diesem Schlund ausging.

Der Steg geriet immer mehr ins Wanken und das Vorwärtskom-men war jetzt mit einem unsicheren Stolpern zu vergleichen. Gleichzei-tig kam Wind auf, zerrte an Thorins und Jescas Haaren, blies ihnen direkt ins Gesicht.

Du hast gewusst, dass es schwer ist, Einar, dachte Thorin voller Zorn. Aber du hast uns nicht gesagt, wie schwer es wirklich sein wird...

Plötzlich hörte er einen Schrei des Entsetzens hinter sich, als Jesca wild mit den Armen zu rudern begann. Sie rutschte auf den Steg aus, taumelte zur Seite und das Schwert fiel ihr aus den Händen. Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen stürzte sie in die bodenlose Leere - und Thorin konnte gerade in letzter Sekunde noch ihre linke Hand zu fassen bekommen.

Ein gewaltiger Ruck ging durch seinen Arm, der bis hinauf ins Schultergelenk schmerzte, aber Thorin hielt Jescas Hand mit einem eisenharten Griff umschlossen, wollte sie nicht loslassen.

Namenloser Schrecken spiegelte sich in den Augen der Amazone wider, als sich ihre und Thorins Blicke kreuzten. Und tief unter ihr - im Nichts der Hölle brach der Vulkan erneut aus und schleuderte Rauch und Schlacke hoch empor.

»Halte dich fest - du darfst nicht loslassen, Jesca!«, rief ihr Thorin zu und zog sie ganz langsam nach oben. »Gleich hast du es überstan-den - hörst du?«

Es kostete ihn unmenschliche Kraft, Jesca mit nur einem Arm hochzuziehen, aber nachdem die Amazone ihr Schwert bereits verloren hatte, konnte und wollte es Thorin nicht loslassen. Wenn er es wo-möglich nur einen kurzen Moment auf dem schwankenden und in Un-ruhe geratenen Steg ablegte, fiel es vielleicht auch noch in die Tiefe! Aber den Kampf gegen die Skirr und die dunklen Götter konnte er nur mit Sternfeuers Hilfe schaffen - ohne das Götterschwert würde er von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein...

Seine Muskeln beschwerten sich wegen dieser Last und feine Schweißperlen waren auf seiner Stirn zu erkennen. Ein lautes Stöhnen

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kam über seine aufgesprungenen Lippen, als er Stück um Stück die Amazone nach oben zog - und nach einer halben Ewigkeit (so kam ihm das jedenfalls vor) hatte er es dann auch geschafft. Jesca blieb keu-chend auf dem Steg liegen und rang mühsam nach Atem. Sie war dem Tod gerade noch einmal entkommen - und das wusste sie!

»Danke, Thorin«, murmelte sie und griff kurz nach seiner Hand. Ein knapper Händedruck, ein angedeutetes Lächeln - zu mehr war Jesca im Augenblick nicht in der Lage. »Du hast mir das Leben geret-tet und das werde ich nie vergessen. Jedoch bin ich jetzt ohne Schwert und keine große Hilfe mehr für dich...« Mit diesen Worten tastete sie zum Gürtel ihrer kurzen Tunika, wo in einer Scheide noch ein kleiner Dolch steckte. »Ob das hier eine gute Waffe ist, um gefährliche Geg-ner abzuwehren, wage ich sehr zu bezweifeln, Thorin...«

Der Nordlandwolf erwiderte jetzt nichts darauf - was hätte er denn auch sagen sollen? Er konnte sich gut vorstellen, dass sich die Amazo-ne angesichts der weiteren Gefahren ziemlich hilflos fühlte - aber än-dern konnte man sowieso nichts mehr daran.

»Komm jetzt«, sagte er stattdessen. »Wir müssen weiter - hier sind wir nicht sicher, Jesca.«

Sie nickte nur und folgte ihm, immer weiter den unruhigen Steg entlang und weg von dem explodierenden Vulkan, der irgendwo tief unter ihnen (vielleicht in einem anderen Universum?) immer größere Lavabrocken von sich schleuderte. Erst als sie auf dem Steg schon ein größeres Stück Weg hinter sich gebracht hatten, wagte Jesca aufzu-atmen.

Irgendwo vor ihnen (oder vielleicht auch über ihnen - so genau ließ sich das in diesem Moment nicht sagen) entdeckte Thorin einen hellen Lichtschimmer. Gleichzeitig verstärkte sich jetzt das tiefe Dröh-nen wieder, das sie schon draußen vor der Stahlburg unter dem Erd-boden vernommen hatten. Hier jedoch klang es schrecklich nahe und Thorin konnte nur vage Mutmaßungen darüber anstellen, was das zu bedeuten hatte.

Aus einem unguten Gefühl heraus ging er jetzt schneller, zog Jes-ca förmlich mit sich auf das helle Licht zu. Und auch diesmal ließ ihn seine düstere Ahnung nicht im Stich. Der Steg unter ihren Füßen - er

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wurde auf einmal porös und durchlässig. Erste Teile lösten sich aus ihrer Verankerung und stürzten hinab in die gähnende Tiefe. Thorin zuckte zusammen und rannte jetzt noch schneller.

Sie liefen buchstäblich um ihr Leben, während eine unsichtbare Hand jetzt immer größere Löcher in den Steg riss. Mehr als einmal mussten sie höllisch aufpassen, um nicht in eine Lücke zu treten - das hätte dann unweigerlich das Aus für sie beide bedeutet...

Das Licht am Ende wurde jetzt größer, war aber dennoch Ewigkei-ten entfernt. Mit einem Poltern stürzte jetzt ein Teil der Halterung ein, die den Steg ins Nirgendwo in dieser Höhe massiv gemacht hatte. Nun schwankte alles unter ihren Füßen und Thorins Herz hämmerte wie wild, als er Jesca mit sich riss - direkt auf das Licht zu.

Sie hatten keine Alternative mehr und sie wussten auch nicht, was jenseits dieser Lichtquelle auf sie wartete. Sie ahnten nur, dass sie dieser tückischen Falle entkommen mussten, sonst würden sie unwei-gerlich in den Schlund stürzen und dort von den gigantischen toben-den Kräften förmlich zerrissen werden.

Thorin tauchte als erster in das gleißende Licht und Jesca folgte ihm Sekundenbruchteile später. Atemlos stürzte er sich nach vorn und hörte gleichzeitig ein ganz schreckliches Bersten hinter sich. Als er sich herumwarf, um zu sehen, dass auch Jesca in Sicherheit war, erkannte er, dass der Steg, der durchs Nirgendwo geführt hatte, gar nicht mehr existierte. Er war von einem Atemzug zum anderen einfach ver-schwunden - als hätte er nie existiert. Und hinter ihnen lag nur noch ein schwarzes Nichts, das ihnen ganz deutlich zeigte, wie knapp sie dem Tod entronnen waren!

*

Zwischenspiel 4 Das ewige Gesetz Der FÄHRMANN spürte den wilden Zorn der Herren des Chaos, als er ihre Blitze zurückschleuderte in den dunklen Schlund des Bösen. Er fühlte geradezu ihre grenzenlose Verwirrung, die sich jenseits dieses Universums breitmachte. Sie waren schon so weit gekommen und der

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FÄHRMANN fühlte, dass zwischenzeitlich auch in seinem Teil des Uni-versums maßgebliche Dinge geschehen sein mussten. Er wusste zwar nicht genau, was es war - aber er hatte während der immer noch to-benden Auseinandersetzung einiges von dem gespürt, was schon sei-nen Lauf genommen hatte.

Selbst ein im Grunde abgeklärtes Wesen wie der FÄHRMANN, der schon ganze Galaxien hatte sterben und auch wieder neu entstehen sehen, erschrak darüber, was die Herren des Chaos schon eingeleitet hatten. Es blieb ihm keine andere Möglichkeit mehr, als das EWIGE GESETZ anzuwenden - und dies hatte mit Dingen zu tun, an denen selbst ein mächtiges Wesen wie der FÄHRMANN nicht rütteln durfte. Und doch tat er es - weil es die einzige Möglichkeit war, um noch zu retten, was gerettet werden musste.

Der FÄHRMANN war ein uraltes Wesen, das seine Geburt kurz nach der Entstehung des Multiversums erlebt hatte. An diese Zeit exis-tierten nicht viele Erinnerungen, denn schon sehr früh hatte der FÄHRMANN erkennen müssen, was seine Bestimmung war und diese Aufgabe beherrschte von nun an sein weiteres Denken und Handeln. Er zog von Universum zu Universum, wachte stets darüber, dass die Schöpfung nicht beeinträchtigt wurde und griff nur dann ein, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab.

Der Bereich das Universums, wo sich die gewaltige Flammenbar-riere erstreckte, war auch für den FÄHRMANN bisher eine absolute Tabuzone gewesen, denn er wusste, dass er jenseits dieser Barriere seine Funktion als Wächter nicht auszufüllen brauchte. Denn dort re-gierten die Herren des Chaos!

Er selbst hatte nie Berührung mit diesen Wesen gehabt und hatte nur von denen-über-die-man-nicht-sprechen-sollte einmal erfahren, welch große Gefahr hinter dieser Flammenbarriere lauerte. Aber seit sich auch diese Wesen von den eigentlichen Geschehnissen so weit entfernt hatten, dass sie kein Interesse mehr dafür zeigten, hatte er sich mit diesen Gedanken und der Einhaltung des EWIGEN GESETZES nicht mehr beschäftigen müssen. Es gab eben Dinge, die sich manch-mal änderten - andere wiederum niemals. Und zu den letzteren zählte eben auch das EWIGE GESETZ.

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Diese Gedanken durchströmten die ätherische Gestalt des FÄHR-MANNS, als er beide Hände hoch emporhob und mit seinen starken geistigen Kräften den Inhalt des EWIGEN GESETZES den Herren des Chaos entgegenschickte. Denn sie trugen große Schuld an dem, was geschehen war - aber auch sie mussten sich beugen, wenn sie ihre eigene Existenz nicht gefährden wollten. Die hochrangigen Wesen, über-die-man-nicht-sprechen-sollte hatten es einst so bestimmt.

Es war von so elementarer Bedeutung für beide Teile des gesam-ten Gefüges (auch für das Universums jenseits der Flammenbarriere), dass jedes Wesen, das in den gewaltigen Teil dieser komplexen Schöp-fung verwickelt war, es aus reinem Selbsterhalt befolgen musste!

Und dies war die Botschaft, die auf geistigem Wege in das schwarze Loch zu den Herren des Chaos geschickt wurde:

Sie schufen das Multiversum aus Asche - und sie hauchten ihm neues Leben ein.

Die gewaltige Lebensschlange, sie tanzt in einem großen Feuermeer

Die Entitäten beherrschen sie, Kräfte der Schöpfung und des Lebens,

sie sind das oberste Gut. Das Gesetz ist ewig und immer -

die Schlange tanzt im Feuer. Und wenn sie gestört wird,

dann naht das Ende allen Lebens. Hütet euch vor diesem letzten Schritt,

zerstört niemals, was lebt! Das Ewige Gesetz muss regieren. - jetzt und bis ans Ende aller Zeiten...

Der FÄHRMANN spürte selbst die elementare Wucht dieser Botschaft, als er sie zu den Herren des Chaos schickte - und es erfüllte ihn mit großer Genugtuung, als er feststellte, dass diese Botschaft auch nach so langer Zeit ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.

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Zwar waren einige Dinge schon in Bewegung geraten, aber das EWIGE GESETZ würde auch dies verhindern - unmittelbar nachdem er erneut seine Botschaft zu den Herren des Chaos sandte und sah, wie sie verstanden und zugleich erzitterten.

Sie verbeugten sich vor ihrer Schuld und zogen ihre Kräfte zurück - buchstäblich im letzten Moment. Und dennoch bedurfte es drüben auf der anderen Seite der großen Barriere dem Mut und der Entschlos-senheit eines einzelnen Mannes, um das bereits eingeleitete Unheil im letzten Moment abzuwenden. Denn während sich der FÄHRMANN mit den Herren des Chaos ein geistiges Duell lieferte, überschlugen sich auch in der Stahlburg die Ereignisse...

*

Dutzende von Gedanken gingen Thorin durch den Kopf, als er seinen rasenden Herzschlag spürte und bemerkte, wie knapp ihm der Atem geworden war. Auch Jesca erging es nicht anders. Ihr stand noch der namenlose Schrecken im Gesicht geschrieben. Sekunden vergingen, bis Thorin wieder das Wort ergreifen konnte.

»Bei allen... Göttern«, murmelte er und erhob sich schließlich, während er schon wieder seine Blicke umherschweifen ließ. »Beinahe glaubte ich, dass wir...«

Er brach ab, als ihm bewusst wurde, über was er gerade sprechen wollte - aber die Amazonenkriegerin hatte auch so verstanden, was er ihr sagen wollte. Dennoch erwiderte sie nichts darauf, sondern erhob sich ebenfalls rasch, hatte aber immer noch ziemliche Mühe, sich in dieser neuen Umgebung zurechtzufinden (weil sie wohl immer noch glaubte, dass der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich war). Wieder erstreckte sich ein langer Gang vor ihren Augen, aber er sah ganz an-ders aus als der, dem sie vorhin gefolgt waren. Hier gab es kein schwarzes Nichts mehr, sondern glatte, schimmernde Wände, die ein eigenartiges Licht abgaben. Die ungewohnte Helligkeit schmerzte in Thorins und Jescas Augen, aber schließlich gewöhnten sie sich auch daran. Sie gingen einfach weiter.

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Von woher das Licht kam, das jeden Fußbreit Boden dieses langen Ganges erhellte, wussten sie nicht. Sie sahen weder Fackeln noch Feuer - also musste diese Lichtquelle auf etwas zurückzuführen sein, das sie mit ihren Sinnen noch nicht erfassen konnten.

Auf einmal begann der Boden unter ihren Füßen erneut zu vibrie-ren. Gleichzeitig erklang wieder das dumpfe Dröhnen, das Thorin und Jesca schon außerhalb der Stahlburg wahrgenommen hatten - aber hier wirkte es fast zehnmal so laut (und deshalb um so bedrohlicher).

Dieser Lärm schien direkt unter ihnen seinen Ursprung zu haben - und auch wenn Thorin nicht genau wusste, was das alles zu bedeuten hatte, so ahnte er doch, dass dies die Maschinen sein mussten, von denen Einar gesprochen hatte. Wie gewaltig müssen sie sein, schoss es ihm durch den Kopf, als er zusammen mit Jesca den zahlreichen Windungen des langen Ganges folgte.

Seltsamerweise blieben der Nordlandwolf und die schöne Amazo-ne völlig unbehelligt. Niemand stellte sich ihnen mehr in den Weg - bedeutete dies etwa, dass die finsteren Herrscher der Stahlburg gar nicht mehr damit rechneten, dass sich ein Eindringling überhaupt so-weit vorwagen konnte?

Je länger Thorin darüber nachdachte, um so mehr kam er zu dem Schluss, dass er mit dieser Vermutung richtig lag. Die gewaltige See-schlange in den schäumenden Wellen draußen vor der Küste und die geflügelten Dämonen, die über den Zinnen der Stahlburg ihre Kreise zogen - eigentlich war es unmöglich, ungesehen in die Mauern der Burg zu gelangen. Und trotzdem war das Glück auf Thorins und Jescas Seite gewesen (oder lag es etwa an der magischen Aura der Götter-klinge Sternfeuer?).

Gut zweihundert Meter weiter vorn endete der Gang und eine wei-tere Treppe war zu sehen - diesmal führte sie nach unten. Und das war ohnehin der Weg, den sie einschlagen mussten. Das permanente Dröhnen wurde jetzt ihr ständiger Wegbegleiter (und mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, nahm es an bedrohlicher Lautstärke zu).

Als Thorin seinen Fuß auf die erste Stufe der Treppe setzte, glaub-te er, von weiter unterhalb plötzlich das Aufzucken mehrerer greller Blitze bemerkt zu haben. All dies geschah jedoch so schnell, dass er

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nicht genau wusste, ob er sich nicht vielleicht doch noch getäuscht hatte.

Zu dem Dröhnen gesellte sich jetzt noch ein anderer Ton - ein Ton, der irgendwie dem Sirren und Zirpen von Insekten gleichkam (nur viel lauter). Thorin sah sich kurz zu Jesca um und erkannte, dass diese den scharfen Dolch aus ihrem Gürtel hervorgeholt hatte.

Wir sind unserem Ziel ganz nahe, dachte er und bemerkte, dass der Schwertgriff in seinen Händen warm zu werden begann, genauso wie die Klinge selbst.

Geduckt schlichen sie sich weiter nach unten, rechneten aber trotzdem noch damit, dass hinter der nächsten Biegung irgendwo ein dämonischer Gegner auf sie lauerte.

Unvermittelt endete die Treppe schließlich auf einer Art Empore, die in einen gewaltigen Kuppeldom mündete. Und dann sah Thorin, dass er sich vorhin doch nicht getäuscht hatte. Grelle Blitze erfüllten die riesige Halle und ihr Schein spiegelte sich an der seltsam gläsern wirkenden Decke wider.

Thorin deutete Jesca mit einem kurzen Wink an, sich sofort hinzu-knien und sich erst einmal nicht zu rühren. Er selbst kroch auf Händen und Füßen bis an den Rand der Empore heran und konnte dann zum ersten mal die wahren Ausmaße des großen Raumes mit seinen Bli-cken erfassen.

Er sah die spinnenhaften Skirr, deren bepelzte Körper in eine ei-genartige Starre verfallen waren. Thorin zuckte kurz zusammen, als er die undeutlichen Konturen von zwei Wesenheiten ausmachte, die er trotz des hellen Lichtes nicht klar erkennen konnte. Im ersten Moment rieb er sich kurz über die Augenlider, weil ihm noch etwas Schweiß auf der Stirn stand. Aber das Bild wurde nicht besser und als dann die Götterklinge in einem pulsierenden Licht erstrahlte, wusste er, was das zu bedeuten hatte.

Es sind Azach und R'Lyeh, schoss es ihm durch den Kopf, als er zum ersten mal die Götter der Finsternis sah (oder besser gesagt ihre undeutlichen Konturen). Aber auch sie rührten sich nicht von der Stel-le, blieben stumm wie die Skirr.

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Ihre Blicke waren auf ein, gigantisches Gebilde gerichtet, das das unübersehbare Zentrum dieses großen Kuppeldoms darstellte. Von diesem Boliden führten zahllose Röhren und Verstrebungen an die Decke, über die glatte Wand bis hinüber zu großen Glaskolben, in de-nen eine scheußlich-grüne Flüssigkeit vor sich hinbrodelte und einen Dampf ausstieß, der selbst auf diese Entfernung hin Thorins Nase zu reizen begann.

Im ersten Augenblick verharrte Thorin noch auf der Stelle - bis ihm klar wurde, dass die Skirr und die dunklen Götter in einen trance-ähnlichen Zustand verfallen waren. Fast wie ein Dahindämmern mit weit aufgerissenen Augen. Nein, die Sinne der dunklen Wesenheiten waren längst in andere Regionen abgeglitten - in Bereiche, zu denen ein normaler Sterblicher keinen Zugang hatte.

Es musste mit diesem mächtigen Bollwerk aus Stahl und Glas zu tun haben, an dessen höchsten Punkt immer wieder Blitze aufzuckten und den Raum in zusätzliche gleißende Helligkeit tauchten. Und immer dann, wenn das grelle Licht für Bruchteile von Sekunden zu sehen war, verstärkte sich das Sirren und Zirpen im Kuppeldom.

Thorin verspürte einen unbeschreiblichen Ekel, als er die haarigen Körper der Skirr sah. Es waren Wesen, die es eigentlich gar nicht ge-ben durfte - und dennoch waren sie auf die Erde gekommen, hatten dort in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne ein unglaubliches Re-gime des namenlosen Schreckens errichtet. Eine blutige Herrschaft, die gewiss Zehntausende das Leben gekostet hatte!

Er drehte sich um, sah zurück zu Jesca und deutete ihr an, dort zu bleiben. Das was jetzt getan werden musste, konnte nur er allein be-wältigen. Die Situation in dem großen Kuppeldom war schon gefährlich genug - falls er versagte, musste Jesca versuchen, sich auf eigene Faust durchzuschlagen.

Ihre Blicke tauchten kurz ineinander und unter anderen Umstän-den hätte Thorin der tapferen Amazone noch einiges gesagt, was ihn in diesem entscheidenden Augenblick bewegte. So blieb es aber nur bei einem Augenkontakt.

Thorin seufzte und schlich sich dann an der Empore entlang. Die niedrige Mauer, die hier oben das Firmament der Halle umgab, war

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gerade hoch genug, um ihn vor den Blicken der Skirr zu verbergen, wenn er halbwegs vorsichtig ans Werk ging. Dennoch wunderte er sich darüber, dass ihn die dämonischen Sinne der spinnenhaften Wesen immer noch nicht wahrgenommen hatten. Es musste mit der Blitze versprühenden Maschine zusammenhängen. Solche schrecklichen We-sen wie die Skirr und die beiden dunklen Götter, die schon ganze Städ-te und Kontinente verwüstet hatten, mussten doch einen Gegner wie ihn einfach spüren!

Aber nichts geschah. Thorin schlich sich geduckt weiter und hörte, wie das sirrende Geräusch, das von den Skirr ausging, noch intensiver wurde. Gleichzeitig zuckten die Blitze heftiger auf und durch die große Maschine ging ein gewaltiger Ruck. Aus den Kolben an der Spitze des Boliden zischte weißlicher Dampf heraus, der einem dichten Teppich glich. Aber er strömte nach unten, breitete sich dort aus.

Thorin riskierte einen Blick über die Mauer und stellte fest, dass er von der großen Maschine nicht mehr weit entfernt war. Er erinnerte sich wieder an die eindringliche Warnung Einars und wusste deshalb, dass von dieser Maschine eine weitaus größere Gefahr ausging als von den Skirr und den dunklen Göttern zusammen. Das Dröhnen und die grellen Blitze - sie erfüllten den Kuppeldom in immer kürzeren Abstän-den und der weißliche Nebel verdichtete sich am Boden der weiten Halle zusehends.

Thorin blickte auf den höchsten Punkt der Maschine und fuhr er-schrocken zusammen, als er dort für einen kurzen Moment den Schat-ten einer Gestalt sah. Eigentlich nur ein dunkler Schatten, der noch im selben Atemzug wieder verschwand, als die Blitze wieder abebbten. Diese Stelle kam ihm jetzt seltsam flimmernd vor. Als ob er zu lange in die gleißende Helligkeit der Sonne geschaut hatte.

Da - jetzt tauchte der Schatten erneut auf, dicht gefolgt von ei-nem zweiten unförmigen Körper, der ebenfalls nur wieder für Sekun-den zu sehen war. Dann zuckten die Blitze auf und neuer Dampf kam aus den Kolben.

Thorin begann nur zu ahnen, was das bedeutete. Er spürte, dass er jetzt handeln musste, sonst war es wirklich zu spät für ihn und den restlichen Teil dieser Welt. Er steckte sein Schwert in die Scheide und

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erhob sich dann mit einer geschmeidigen Bewegung. Rasch kletterte er über den Mauervorsprung und blickte dabei nicht in die Tiefe, wo der weißliche Nebel waberte. Wer jetzt von unten hoch schaute, konn-te Thorin deutlich sehen!

Der Nordlandwolf stieß sich von der Mauer ab, streckte die Arme aus und bekam eines der Kolbengestänge zu fassen, das bis in die Nähe der Kuppelwand ragte. Ein schmerzhafter Ruck ging durch sei-nen Körper, als er das ganze Gewicht in seinen Händen spürte und gleichzeitig fühlte, dass dieser Kolben heiß war. Aber Thorin verbiss das Brennen in seinen Händen, fand auch in diesem Moment Halt mit den Füßen und konnte so das Gewicht in seinen Händen entlasten.

Im Herzen dieser Maschine musste eine entsetzliche Hitze herr-schen. Sie war bis hier oben zu spüren und Thorin zuckte jedes mal zusammen, wenn sein Arm oder eine Hand zu lange auf einer Stelle verweilte. Aber er musste weiter - sein Ziel war der höchste Punkt die-ser gewaltigen Maschine. Die Stelle, wo die Blitze immer wieder auf-zuckten und Konturen von Wesen erkennen ließen, die ihm mehr als nur einen Schauer der Furcht über den Rücken jagten.

In Windeseile kletterte er an einem rauen Gestänge empor und er-reichte so die obere Rundung der Maschine, sah den blinkenden Stahl. Gut fünf Mannslängen war er noch von der höchsten Stelle entfernt. Ein heftiger Ruck ging jetzt durch den Boliden und das kam so plötz-lich, dass Thorin beinahe das Gleichgewicht verloren und in die tödli-che Tiefe gestürzt wäre. Geistesgegenwärtig konnte er sich aber noch mit der linken Hand am Gestänge festhalten und so dem Sturz ins gähnende Nichts entgehen.

Sofort stieg er weiter nach oben, zog das Schwert aus der Scheide und sah, wie heftig die Klinge zu pulsieren begann.

Und wieder formten sich Schatten in den tosenden Blitzen, nah-men Konturen an und verschwanden wieder - bis zu dem Moment, wo eine schwarze riesenhafte Faust aus den Blitzen hervor schoss und nach Thorin griff. Es war dieselbe Sekunde, in der selbst eine tapfere Kämpferin wie Jesca ihre Schrecken nicht mehr länger zügeln konnte. Sie sah die große, entsetzliche Faust einen entscheidenden Se-kundenbruchteil vor Thorin, der jetzt einen sicheren Halt suchte und

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deshalb nicht auf die Spitze der Maschine achtete. Ein lauter Warn-schrei kam über Jescas Lippen und dann nahm das Chaos seinen Lauf...

*

Azach spürte die wispernden Stimmen in sich vereint. Eine eigenartige Schwere hatte von seinem Körper Besitz ergriffen und eine schim-mernde Aura umgab ihn, ebenso wie seinen Götterbruder R'Lyeh, der nur wenige Schritte neben ihm, einer Steinsäule gleich, stumm ver-harrte und sein Kapuzenhaupt gesenkt hielt.

Die Stimme drangen von allen Seiten auf ihn ein, verkündeten von der Allianz der beiden Universen. Azach verstand zwar nicht genau den Sinn dieser Worte, weil die Skirr ihn und R'Lyeh nicht vollständig ein-geweiht hatten. Erst als ihre Körper den gewaltigen Kuppelsaal erreicht hatten und sie Zeugen des Werkes wurden, das die Skirr hier geschaf-fen hatten, verstanden auch sie, wie wichtig es war, dass sie alle an diesem Ort und zu dieser Stunde zusammengekommen waren. Azachs Geist war seltsam träge und müde, genau wie R'Lyeh. Sie hatten ihre Sinne mit denen der Skirr verschmolzen und folgten nun dem Pfad der Reinigung, den die spinnenhaften Wesen betreten hatten. Und sie kannten das Ziel, das am Ende dieses Pfades wartete - aber sie er-kannten es erst jetzt. Aber als Azach und R'Lyeh begriffen, was hier geschah, erschraken sie vor den sich immer deutlicher abzeichnenden Auswirkungen.

Azachs verwirrter Geist versuchte sich aus der zwanghaften Starre zu lösen und das gelang ihm nur unter großer Mühe. Seine Sinne tas-teten nach denen seines Götterbruders R'Lyeh und dann erkannte der finstere Gott, dass sein Bruder von ähnlichen Empfindungen förmlich überrollt wurde. R'Lyehs Körper wurde von einem konvulsivischen Zu-cken geschüttelt und seltsame Worte kamen über seine Lippen, die selbst ein Gott wie Azach nicht verstehen konnte.

Azachs Blicke und die seines Bruders trafen sich jetzt, verschmol-zen miteinander - und dann verstanden sie, was hier gerade geschah. Die Skirr bemerkten jedoch nicht, dass sich die Sinne der beiden dunk-

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len Götter aus dem geistigen Verbund gelöst hatten - ihre Kräfte wa-ren schon zu weit mit der Maschine verschmolzen.

Azach hob mühsam seinen Kopf und sah durch die weißlichen Dampfschwaden hinauf zur Spitze der gewaltigen Maschine. Er spürte immer noch den dumpfen hypnotisierenden Druck der Stimmen in sei-nem Geist und er hatte Mühe, sich davon zu lösen. Dann sah er plötz-lich die Gestalt oben auf dem Gestänge und als er die hell leuchtende Klinge erkannte, überkam selbst ihn ein eisiger Schrecken.

BRUDER, schrieen seine Sinne, als er nun erkannte, wer diese Gestalt mit der hellen Klinge war. BRUDER, SIEH NACH OBEN. ES IST DER KRIEGER DES LICHTS - ES IST THORIN!

R'Lyeh brauchte etwas länger, um sich aus der geistigen Starre zu lösen, aber er sah nun ebenfalls nach oben. Eine selbst für einen Gott namenlose Furcht ergriff den Herrscher der südlichen Wasserwelt, als auch er sah, wie Thorin mit seiner gefährlichen Waffe nun den höchs-ten Punkt der Maschine erreicht hatte und dann zu einem alles ver-nichtenden Hieb ausholte...

*

Thorin spürte die immer stärker werdende Hitze unter seinen Füßen. Es schien, als wenn der gesamte Bauch der gewaltigen Maschine förm-lich zu glühen begann und das dumpfe Dröhnen wurde von den fugen-losen Wänden als schmetterndes Echo zurückgeworfen.

Es gab nur eine kleine Verstrebung, an der sich Thorin festhalten konnte - aber es reichte aus, um auf diese Weise näher an den höchs-ten Punkt zu gelangen. Er sah die zuckenden Blitze und roch förmlich die großen Energien, die hier tobten - ausgelöst von unheimlichen Kräften in der Gestalt der Skirr.

Wieder zeichneten sich furcht erregende Konturen in dem Blitzge-witter ab und Thorin sah in der Mitte der Blitze eine schmale, hüfthohe Stange, an deren Ende sich eine schimmernde Kristallkugel befand. Sie spiegelte das Licht der Blitze in sich wider und strahlte gleichzeitig ein immer wiederkehrendes Funkeln aus.

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Hier ist das Zentrum der dunklen Macht, schoss es Thorin durch den Kopf. Gleichzeitig fühlte er auf einmal einen seltsamen Druck in seinem Kopf, der ihn zu schwächen begann. Er hörte wispernde Stim-men, die ihn warnten, noch näher zu kommen - und er versuchte jetzt, gegen diesen mentalen Druck anzukämpfen. Er wurde träge, bemerk-te, wie seine Augenlider immer schwerer wurden und er musste sich an einer Verstrebung festhalten, um kurz Luft zu holen.

Das war der Augenblick, wo er den lauten Warnschrei Jescas hör-te und dann schoss plötzlich eine gewaltige dunkle Faust aus dem Zentrum der Blitze heraus, zielte auf Thorin.

Diesen Warnruf hatte er es zu verdanken, dass ihn die unheimli-che Faust nicht zu fassen bekam und mit ins Zentrum der pulsierenden Blitze riss. Stattdessen riss er unter Aufbietung sämtlicher Kräfte die Götterklinge hoch und schlug damit nach der Faust. Als Sternfeuer mit der lederartigen Haut zusammentraf, erfüllte ein lauter Donnerschlag den gesamten Kuppeldom und das Sirren und Zirpen der Skirr begann auf einmal zu verstummen.

Thorin zögerte keine Sekunde mehr, sondern wagte jetzt alles. Es blieb ihm keine andere Möglichkeit mehr - er musste alles riskieren, selbst wenn er dabei den Tod fand!

Er gab sich einen Ruck, sprang nach vorn in die Nähe des Zent-rums und holte mit der Götterklinge dann zu einem gewaltigen Hieb aus. Das heftig pulsierende Schwert traf mit der schimmernden Kris-tallkugel zusammen und zerschlug diese mit einem lauten Knall!

Thorin wurde von einer unsichtbaren Faust gepackt und nach hin-ten gestoßen, als sich eine gewaltige Druckwelle auszubreiten begann und den gesamten Kuppeldom in Mitleidenschaft zog. Aber das re-gistrierte Thorin nur am Rande, denn er hatte große Mühe, sich an einer Verstrebung festzuhalten und nicht doch noch im letzten Moment in die Tiefe zu stürzen. Seine Blicke suchten die von Jesca und er sah die Sorge in den Augen der schönen Amazone. Und die große Maschi-ne wurde immer stärker von dem Beben erfasst...

*

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Außerhalb der Stahlburg schien es kurz danach noch keine Verände-rungen zu geben. Die geflügelten Dämonen krächzten vielleicht etwas unruhiger als sonst ihre schrillen Schreie durch die Luft. Aber das düs-tere Rot des gespenstisch anmutenden Himmels lag unverändert über der Burg ihrer unheimlichen Herren.

Dann begannen sich mit einem mal die Ereignisse förmlich zu ü-berschlagen. Der Kuppeldom im Zentrum der Stahlburg glühte heftig und Blitze zuckten unter seiner Oberfläche. Überall bildeten sich ganz plötzlich Sprünge und klaffende Risse, in denen es seltsam glühte, wie aus einer eitrigen Wunde. Selbst der Himmel wurde verdeckt, als eine gigantische Wolke, zischend wie in einem Überdruckkessel gefangen, mit einem entsetzlich schrillen Pfeifen entwich. Die geflügelten Dämo-nen im Umkreis der Burg spürten den drohenden Untergang nur zu genau. Sie flatterten aufgeregt hin und her, taumelten schließlich, als wären sie ohne Befehl und völlig steuerlos.

Unterdessen hatte sich die pechschwarze Wolke verzogen, aber noch nicht ganz aufgelöst, starrte die Sonne wie ein getrübtes rotes Auge auf die Szene unter sich. Einer der Dämonenvögel stürzte fast lautlos ab und wurde an den hohen Umfassungsmauern mit ihren spit-zen Wehrhaken regelrecht aufgespießt. Etwas höher nahm ein bisher gestaltloser Schrecken Form an. Die Kuppel mit ihren Sprüngen und Rissen lag wieder ruhig da, bis plötzlich mit einem infernalischen Getö-se eine blendendweiße Feuersäule daraus hervorbrach und ungehin-dert weiter gen Himmel fuhr.

Das ganze Land schien zu erzittern. Die Lichtsäule aus dem Kup-peldom der Skirr zog höher und höher ihre Bahn und tiefer unten war-fen die Felsen und die wenigen verbliebenen Krüppelbäume der ge-marterten Landschaft bizarre Schlagschatten. Selbst die Luft war in Aufruhr und die Hitze der Lichtsäule verursachte in der Umgebung kleine Stürme.

Aus den Tiefen des schier unermesslichen Alls, weiter noch aus der bodenlosen Schwärze des Multiversums selbst tauchte ohne Vor-warnung der FÄHRMANN auf, durchschritt den irdischen Himmel und näherte sich mit unglaublicher Schnelligkeit dem Kontinent. Seine Bar-ke steuerte er weiter auf das Zentrum des abscheulichen Übels zu.

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Dann kamen die Stahlburg und die Lichtsäule in sein Blickfeld. Der FÄHRMANN zeigte unter seinem teilverdeckten Antlitz das erste mal seit Äonen eine menschliche Regung. Unbändiger Zorn spiegelte sich in seinem kindlichen Gesicht wider!

Mit einer einzigen Bewegung seiner linken Hand gebot er dem In-ferno unter sich Einhalt Und dann geschah das Unfassbare - alle Be-mühungen der Skirr endeten, die Lichtsäule erlosch, die filigranen Ne-bel aus dem Kuppeldom verschwanden. Sogar die Landschaft um die Stahlburg schien sich zu verändern - es war, als hätte man das graue Leichentuch von ihr genommen, als würde der Landstrich um die Burg des Schreckens ein anderer sein.

Die Barke des FÄHRMANNS drang ungehindert in den Kuppeldom ein. Die entsetzten Skirr stoben auseinander, wuselten völlig konfus zwischen den Kolben und Gestängen der zerstörten Maschine umher und die Luft war erfüllt von ihrem aufgeregten Zischen.

Azach und R'Lyeh, die das tosende Inferno nach Thorins Schlag mit Sternfeuer gegen die Kristallkugel unbeschadet überstanden hat-ten, standen jetzt wie Salzsäulen erstarrt. Sie wussten, wann sie verlo-ren hatten und begannen sich demütig vor dem FÄHRMANN zu ver-beugen. Die letzten Skirr hatten im Schutze der weißen Dampfschwa-den die Halle des ehemaligen Kuppeldoms fluchtartig verlassen und nur Trümmer, die Götter der Finsternis und den FÄHRMANN zurückge-lassen (abgesehen von den beiden Menschen Thorin und Jesca).

»Unwürdige!«, donnerte die Stimme des mächtigen FÄHRMANNS, die noch bis in die entlegensten Winkel der Stahlburg zu hören war. »Ihr frevelt gegen das Ewige Gesetz!« Die Skirr in den Tiefen der Stahlburg zuckten dabei fast wie unter Peitschenhieben zusammen.

»Dämonische Brut der Herren des Chaos - ihr seid viel zu weit ge-gangen. Ihr habt gegen eine der Grundregeln verstoßen! Seit un-ergründlichen Zeiten hat es niemand mehr gewagt, eine Tat von sol-chen Ausmaßen anzuzetteln!«

Die Skirr hatten sich in die finsterste Tiefe am Boden der Stahl-burg selbst verkrochen. Vorbei war es nun mit der Arroganz ihrer Macht, die sie bisher mit jedem ihrer Schritte und ihrer sich stolz wie-genden Spinnenleiber ausgestrahlt hatten.

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»Wollen die Herren des Chaos denn jene auf den Plan rufen, die man auch die-über-die-man-nicht-sprechen-sollte nennt? Ihr gehört ausgerottet und ausgelöscht aus dem Reigen der unendlichen Schöp-fung!«

Alle Skirr hielten jetzt in ihren Bewegungen inne. Selbst das stän-dige leise Rasseln und Zirpen um die Mundöffnung und den fürchterli-chen Beißzangen verstummte. Sie schienen in den finsteren Gängen und lichtlosen Gewölben mit den Schatten selbst verschmelzen zu wol-len - nur ihre Augen glommen noch im düsteren Rot der Dunkelheit. Doch dieser Rückzug nützte ihnen nichts mehr.

»Ich verfüge zwar über die Gabe, in die Wahrscheinlichkeiten der Zukunft zu sehen - doch eure Tat geht sogar über das noch hinaus«, fuhr der FÄHRMANN nun fort. »Ich verbanne alle Wesen aus dem Volk der Skirr, aber auch die Götter der Finsternis, Azach und R'Lyeh hinter die Flammenbarriere!«

Thorin, der die ganze Zeit erschöpft und wie angewurzelt in den Trümmern der seltsamen Maschine stehen geblieben war, Arm in Arm mit der schönen Amazone, bemerkte ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Stumm verfolgten beide, wie der FÄHRMANN die beiden finsteren Götter mit seinem Mantel umschloss - er verschlang sie sogar regelrecht. Denn auf einmal waren sie wie vom Erdboden ver-schwunden und nichts in der Stahlburg zeugte noch von ihrer einstigen Existenz.

Wieder einmal bemerkte Thorin, dass der FÄHRMANN ein grotesk anmutendes Geschöpf war. Fast zwei Köpfe kleiner als die Herren der Finsternis, von zarter und schmächtiger Gestalt, hatte das Wesen in der Barke seinen Mantel, der den zerbrechlich wirkenden Körper fest umhüllte, mit einem einzigen Schwung so geworfen, dass er Azach und R'Lyeh vollständig umgab. Sie waren darin einfach versunken, im Lidschlag eines einzigen Atemzugs... hilflos, machtlos, wehrlos.

Der FÄHRMANN zog den Mantel wieder eng um sich, als würde er frieren und seine dünne, äußerst zerbrechlich wirkende Gestalt zeich-nete sich deutlich unter der grauen Kutte ab. Er atmete einmal tief ein. Thorin und Jesca spürten, wie ihnen erneut eine Gänsehaut über den

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Rücken zu kriechen begann. Hier offenbarte sich ihnen einmal mehr die unbegreifliche Wesensnatur des ätherischen Wanderers.

Von Azach und R'Lyeh blieb nicht die geringste Spur zurück. Tho-rin sah den FÄHRMANN nicht wieder atmen, aber mit diesem einzigen Atemzug hatte etwas begonnen - ein Anfang. Doch es sollte Thorin noch vergönnt sein, etwas von der Macht des unsterblichen FÄHR-MANNS erahnen zu können. Denn als er sich noch fragte, wie es dem Weltenwanderer gelungen war, gleich zwei Götter der Finsternis schmachmatt zu setzen, ohne einen Kampf heraufzubeschwören - nur aus den Augenwinkeln, während zweier Schritte, die er auf die Barke des FÄHRMANNS zuging, entdeckte er den Schatten, den der FÄHR-MANN warf, beleuchtet durch die rötliche Sonne, die am Himmel über der halb zerstörten Domkuppel zu ihnen drang. Thorin konnte sehen, wie dieser Schatten mit denen der finsteren Götter verschmolz!

»Abscheuliches Gewürm!«, rief das ätherische Wesen und Thorin und Jesca wurden blass. Die Stimme hatte jetzt nichts Menschliches an sich. Doch der FÄHRMANN strahlte danach wieder etwas Beruhigendes aus - und er wirkte auch sehr nachdenklich. Er wies mit seinem linken Arm, der eben noch die Götter der Finsternis aus diesem Universum von einem Atemzug zum anderen verbannt hatte, nach Westen. Einen Moment zögerte Thorin und auch Jesca wappnete sich gegen einen Angriff, der vielleicht doch noch kommen konnte. Doch nichts geschah.

»Höre gut zu, Sterblicher!«, ergriff nun der FÄHRMANN wieder das Wort. »Deine Zeit hier ist um. Die Welt, mehr als nur die Welt schuldet dir Dank. Verlasse die Stahlburg und nimm das Weib an deiner Seite mit. Doch du musst es rasch tun, denn meine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Die Hinterlassenschaften der Skirr gehören vom Erdboden ge-tilgt und andere Mächte müssen zur Rechenschaft gezogen werden... Ich darf keine Zeit verlieren, denn die Ewigkeit vergibt auch mir nicht, wenn ich die Wahrscheinlichkeiten einfach so verstreichen lasse!«

Thorin konnte in diesem Moment nur ahnen, was der Sinn dieser Botschaft war. Er befolgte jedoch den Ratschlag des FÄHRMANNS. Zusammen mit Jesca verließ er schnellstens die Trümmer der Stahl-burg, um diesem Bannkreis endlich zu entkommen.

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*

Die Stahlburg zerfiel. Steinblöcke aus einem auf der Erde unbekannten Material und von einer Festigkeit und Schwere, dass selbst zehn Män-ner keinen der Blöcke hochheben hätten können, stürzten von den Kuppelrändern.

Die Barke des FÄHRMANNS durchschnitt Quader monolithischer Torbögen, massive Wände und Böden, die hinunter führten in die sty-gische Tiefe der Stahlburg - dorthin, wo die Götter des Lichts gefangen gehalten wurden. Nichts davon berührte den FÄHRMANN.

Allein durch den Befehl seines Willens begannen sich die Errun-genschaften der Skirr wie von Geisterhand aufzulösen.

Überall durchdrang ein trübes, unnatürlich gelbes Leuchten die Reste der Stahlburg. Und weiter bewegten sich die Barke und sein Besitzer durch zerklüftet wirkende Räume, die der seltsamen Auffas-sung von Architektur der Skirr entsprachen. Während Thorin und Jesca den gleichen Weg ihres Einstiegs in die Stahlburg als Fluchtweg nutz-ten, erreichte der FÄHRMANN sein Ziel - die Kerker der Skirr!

Mit einer Handbewegung gebot er den Göttern des Lichts zu ihm in die Barke zu kommen. Alle Fesseln fielen von den Geknechteten ab, wie auf ein geheimes Zeichen. Einar, Thunor und Odan beeilten sich, dem Befehl des FÄHRMANNS Folge zu leisten. Odan strauchelte sogar dabei und er selbst war zu diesem Zeitpunkt der einzige der drei Licht-götter, der zu ahnen begann, dass ihre Rettung einen hohen Preis kos-ten sollte...

Die Barke verließ den Randbereich der Stahlburg, umgeben von schwächer werdenden violetten Nebeln, die das Land für die Skirr mit ihrem Pestatem unterjocht gehalten hatten. Die Zeichen der Anwe-senheit der spinnenhaften Wesen verblassten - und das genau im Sin-ne des Wortes. Der Kuppeldom löste sich auf und gleich darauf folgten die Reste jener gewaltigen Stangen, Zylinder, Kolben und Hebel der Maschine, die das Tor zur Flammenbarriere hätte aufstoßen sollen.

Die Barken nahm nun Fahrt auf - weiter nach Norden, während hinter ihr die Dämmerung das von den Skirr geschundene Land gnädig bedeckte.

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Die Götter des Lichts schwiegen betreten und erschöpft von ihrer langen und qualvollen Gefangenschaft. Das ätherische Wesen stand mit dem Rücken zu ihnen an der Bugspitze der Barke. Höher und hö-her stiegen sie in absoluter Lautlosigkeit. Die Luft wurde dünner und schneidend kalt und eine Handvoll Sterne leuchtete ihnen mit kalt-wässrigem Antlitz entgegen.

»Gewaltiger, gütiger FÄHRMANN«, wagte Einar seine ersten Worte an das unbegreifliche Geschöpf zu richten. »Hab Dank für die Ret-tung...«

Die linke Hand des FÄHRMANNS ballte sich plötzlich zur Faust. »Schweig!«, donnerte seine Stimme und selbst die Sterne am

Himmel schienen sich in diesem Moment zurückziehen zu wollen. Nachtschwarze Finsternis umgab sie mit einem mal. »Unwürdige! Hat euch euer äonenwährendes Leben keinen Verstand Beschert? Wem seit Ihr von Nutzen, wenn ihr nicht einmal die Geschicke eurer Welt mit den Göttern der Finsternis in der Waage zu halten vermögt?«

Die Stimme des FÄHRMANNS verhallte. Einar, Odan und Thunor senkten betreten ihre Köpfe. Die Länge ihres Kerkeraufenthaltes hatte ihnen genügend Zeit gegeben um die Tragweite des bisherigen Ge-schehens mit Einschränkungen zu verstehen. Es gab keine Ausreden mehr - sie hatten versagt!

»Gewaltiger FÄHRMANN«, versuchte es Einar erneut. »Meine Brü-der und ich - wir haben uns täuschen lassen. Die Dinge sind außer Kontrolle geraten, es war nicht abzusehen, dass...«

Der FÄHRMANN an der Spitze der Barke hob erneut seine Hand. »Ich habe beschlossen, euch zurück zum Wolkenhort zu bringen.

Euer Versagen kann nur die höchstmögliche Strafe sein!« Der FÄHR-MANN machte eine kurze Pause, während die Barke Kurs auf den Wol-kenhort über den Ländern der Welt nahm. In rasender Eile kam die Heimstatt der Götter des Lichts näher.

»Ihr habt versagt! Eure Schutzbefohlenen sind Gefahren ausge-setzt gewesen, die die Kräfte der sterblichen Wesen bei weitem über-steigen. Aber einige haben sich dennoch tapfer geschlagen. Bis in den Tod waren sie mutig...«

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Die Welt versank in weiße Wolkennebel. Einar, Thunor und Odan sanken voller Verzweiflung auf die Knie und über die Lippen des ein-äugigen Gottes kam ein Stoßseufzer - aber auch das änderte nichts mehr...

»Hiermit verfüge ich, dass die Nachkommen der Hohen Dame und des Hohen Herren, die ihr euch die Götter des Lichts nanntet und als Schutzbefohlene alle Wesen dieser Welt zu betreuen hattet, für immer eure Unsterblichkeit verfieren sollt, wie es das Ewige Gesetz will!«

Thunor schien kraftlos in sich zusammenzusacken, während die Stimme des ätherischen Wesens in ihren Köpfen widerhallte. Odan schloss ganz die Augen und auch die übrige Welt schien jetzt in die-sem verhängnisvollen Moment den Atem angehalten zu haben.

Die Barke setzte auf einem Plateau auf - und ringsherum herrsch-te Totenstille. Dann entrang sich ein Entsetzensschrei aus der Kehle Einars, der als monströses Echo über das Gebirge, die Steppen und die dunklen Länder bis in die entfernteste Ecke von allen vier Kontinente zu hallen schien...

*

Einen einzigen Atemzug lang bildete sich Thorin ein, dass sie es doch noch schaffen würden. Der FÄHRMANN hatte sich äußerst seltsam verhalten, als er die beiden Sterblichen aufgefordert hatte, die Stahl-burg ohne Umschweife zu verlassen. Jesca hatte die Initiative ergrif-fen. Überwältigt und verschreckt von den vorangegangenen Erlebnis-sen tat sie nichts lieber als die unheimliche Stahlburg, die Skirr und die ›verrückt‹ gewordenen Götter der Finsternis eiligst zu verlassen. Die ganze Situation überstieg ohnehin ihren Wissenshorizont.

Als Thorin die Kristallkugel an der Spitze der Domkuppel zer-schmettert hatte, war so etwas wie ein Blitz durch ihre Seele ge-wandert. Sie sah Thorin, den Krieger aus den Eisländern des Nordens, zum ersten mal in einem anderen Licht. In ihr keimte ein Gefühl der Zuneigung auf - und das war für eine Amazone wie Jesca eine ganz neue Erfahrung!

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Als sie beide durch das Felslabyrinth flüchteten, war ihr, als ver-ändere sich die Struktur der Höhlengänge um sie herum auf subtile, aber doch spürbare Weise. Sie trieb den immer noch innerlich wie ge-lähmten Thorin in größter Eile voran. Jesca gewann den Eindruck, als würde sich die Materie verflüchtigen. Das Grau und Schwarz und die spärlichen Farben der Felsen verloren erst an Tiefenschärfe und dann verblassten sie schließlich ganz. Ein schwächer werdendes rötliches Abendlicht glomm über ihnen.

Alles rings um sie wurde öde und kahl. Jesca schlussfolgerte dar-aus, dass dies die wahre Natur der Skirr war - dort wo sie lebten, hin-ter der Flammenbarriere (aber sie hatte immer noch nicht ganz ver-standen, was es mit dieser geheimnisvollen Region eigentlich auf sich hatte).

»Thorin, wir müssen uns beeilen«, sagte Jesca zu ihm. »Ich be-fürchte Schlimmes, wenn wir nicht...« Sie zog den Nordlandwolf mit sich, der doch etwas bei der Zerstörung der Kristallkugel abbekommen haben musste. Er benahm sich seltsam und antwortete nicht, sondern erhöhte stattdessen das Tempo und versuchte an Jesca vorbeizukom-men.

Die Luft war plötzlich durchdrungen von einem stechenden und dennoch undefinierbaren Geruch. Deshalb blieb Thorin jetzt wie ange-wurzelt stehen.

»Jesca - warte!«, brach er sein Schweigen. »Bleib stehen!« Vor ihnen, hinter ihnen und auch über ihnen war ein schriller Ton

zu hören. Erst leise, dann immer lauter. Wie eine Gabel, die über eine Metallplatte kratzt!

Thorin und Jesca hielten sich die Ohren zu. Wind kam auf - unge-heuer intensiv und er zerrte an den beiden Menschen. Er durchdrang die fast unsichtbar gewordenen Felsmassen, als wären diese schon gar nicht mehr vorhanden. Unter ihnen löste sich der Boden auf und der Felsen, auf dem die Stahlburg einst gestanden hatte, verschwand. Die geschundene Erde trat anstelle dessen wieder hervor, matt violett, aber mit zarten Andeutungen von grüner und brauner Struktur.

Hilflos ruderten Thorin und Jesca mit den Armen, als ihr Sturz be-gann. Jesca hatte mehr Glück - sie prallte auf harten Untergrund und

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schlug mit der linken Seite zuerst auf. So stark, dass sie kaum Atem holen konnte. Tränen schossen ihr in die Augen. Verzweifelt versuchte sie dennoch nach Luft zu schnappen, aber das war leichter gesagt als getan. Bunte Sterne kreisten vor ihren Augen und dann - einen Au-genblick bevor sie glaubte, endgültig ersticken zu müssen - konnte sie ihre Lungen wieder voll köstlicher Luft saugen.

Thorin hatte weniger Glück. Er fiel aus etwa drei Meter Höhe auf den abgestorbenen Ast eines Baumes, der schwarz und völlig ver-trocknet war. Kopf und Schulter wurden zuerst in Mitleidenschaft ge-zogen und dabei zog er sich eine große Platzwunde an der Stirn zu, die ihm fast die Besinnung raubte. Die dürren, nach oben gereckten As-tenden wollten ihn aufspießen, rammten sich in seinen Magen, trafen sein Rückgrat - und dann endlich schlug er in den morastigen Boden unter dem verkrüppelten Baum auf. Sekunden blieb er benommen liegen.

Der FÄHRMANN war verschwunden, ebenso die Stahlburg der Skirr. Erneut blies ein kalter Wind und der schon halb besinnungslose Thorin merkte noch, wie der morastige Tümpel ihn langsam aber un-erbittlich in die Tiefe zog. Er spürte, dass er dem Tod noch nie so nahe gewesen war wie jetzt. Hilflos, schmerzerfüllt, die Sinne betäubt! Seine Hände fühlten sich gelähmt an, er konnte Sternfeuer gar nicht mehr spüren. Seine Beine waren wie Steinquader, gefühllos und schwer wie Blei. Ihm schwanden die Sinne.

Als er gleich darauf wieder zu sich kam - zumindest erschien ihm das so - meinte er die stinkende Fäulnis des nahen Todes zu spüren. Irgend jemand huschte um ihn herum, aber er konnte zuerst nichts er-kennen.

»Warum hilfst du mir nicht?«, stieß Thorin mühsam hervor, wäh-rend er mit den tauben Händen nach seinem Schwert zu tasten be-gann. Aber Orcon Drac, der Ritter der Finsternis, rührte sich nicht. Stattdessen kamen mit brüchiger Stimme einige Worte über die Lippen des Paladins der dunklen Götter (er war doch tot!).

»Das Moor ist wie die See - sie erstreckt sich endlos, uferlos...«

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Thorin schüttelte mühsam den Kopf, sah die Konturen Orcon Dracs verschwinden und erkannte stattdessen die vertraute Gestalt des einäugigen Einar.

»Nach Mitternacht bricht auch wieder eine neue Morgendämme-rung an«, orakelte dieser und drehte sich wieder um.

»Wohin gehst du?«, rief ihm Thorin mit schwacher Stimme nach. »Lass mich doch in dieser schweren Stunde nicht allein, mächtiger Einar!«

»Einmal endet auch die Ewigkeit«, sagte das konturenhafte Ge-sicht des bärtigen Thunor, aber auch dieses Bild hielt nicht lange an. Es verschwand wieder genauso schnell wie es gekommen war - und stattdessen sah Thorin nun den teuflischen Magier Loon aus dem Schatten eines abgestorbenen Astes treten.

»Ich werde deine faulenden Glieder mit Freude den Geiern zum Fraß vorwerfen! Weißt du, vielleicht brate ich mir dein Herz auch über dem Feuer und esse es selbst...«

Währenddessen zog der Sumpf immer weiter an Thorin, als würde er seiner ganz sicheren Beute nicht schnell genug habhaft werden können. Thorin versuchte mit der rechten Hand, nach Loon zu greifen. Aber der entzog sich der Hand des Kriegers und lachte dabei so grau-sam, dass es endlos über die weite Ebene zu hallen schien.

»König Keron...«, murmelte Thorin, als er wieder eine andere Ges-talt erkannte. »Warte doch - nimm mich mit... wohin reitest du denn? Mich ich denn sterben, um zu...« Er hustete und etwas brackiges Was-ser kam dabei in seine Lunge, während der Alptraum des Todes ein-fach kein Ende nehmen wollte.

Thorin blinzelte, einmal, dann erneut. Er sah, wie N'doro mit einer nachtschwarzen Gestalt kämpfte. »Vor-Kah, so hilf mir doch!«, schrie die schattengleiche Gestalt. Doch der Kampf endete abrupt. »Da ist noch jemand, der deine Hilfe benötigt«, sagte dieselbe Stimme jetzt und Vor-Kah kam mit einem wissenden Lächeln näher an Thorin her-an. Er streckte seine Hand aus und Thorin hörte ein Seufzen.

Er sagte etwas, aber Thorin konnte dennoch kein Wort verstehen, denn der raue Wind riss dem Fremden die Worte direkt von den Lip-pen. Thorin spürte, wie ihn der Morast umschloss, ihn sogar wärmte.

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Plötzlich bedrohte er ihn nicht mehr und Thorin fühlte sich geborgen. Er sehnte sich nach Ruhe und Frieden - einem ewigen Frieden, den ihm nur die Mutter Erde geben konnte.

Vor-Kah sah plötzlich verzweifelt aus. Er hatte etwas in der Hand, schrie dabei und schlug verzweifelt mit der anderen Hand gegen den verkrüppelten Baum - und auf einmal versagte der pfeifende und ste-tig heulende Wind seinen Dienst!

»... komm, Thorin. Greif nach dem Ast. Sonst gibt es für dich kein Entkommen mehr!«

Thorin verstand die Stimme plötzlich ganz klar. Die bunten Schlei-er der wirbelnden Phantasien verschwanden vor seinen Augen und er konnte in der sternenklaren Nacht schwach Jescas hübsches Gesicht sehen. Jetzt griff er nach dem Ast, spürte starke Zugkräfte und ver-suchte, vorsichtig mit den Beinen gegen den Sog aus der Tiefe anzu-kämpfen.

Jesca versuchte ihn zu retten - soweit ihr das überhaupt möglich war. Mühsam streckte Thorin seine Schwerthand aus und Jesca wollte danach greifen. Sie bekam die Hand aber erst nach dem zweiten Ver-such zu fassen. Jesca spürte Panik in sich aufkommen, als sie sah, wie tief Thorins Körper schon in dem tödlichen Morast steckte. Er darf nicht sterben, schoss es ihr durch den Kopf. Nicht hier und nicht jetzt! Deshalb schrie sie jetzt voller Zorn!

Es war ein durchdringender Ton, völlig unnatürlich in der morasti-gen Landschaft Aber mit dem Beginn der Morgendämmerung erfüllte er die Umgebung auch mit neuem Leben.

Thorin stemmte sich fest gegen den Sog. zaghaft und dann immer stärker spürte er festen Boden unter seinen Füßen - Astenden, Wur-zeln und kleine Steine...

Jesca schrie immer lauter und das Blut lief an der Hand herunter, die Sternfeuer auch jetzt noch fest umklammert hielt und die Götter-klinge einfach nicht loslassen wollte. Die Muskeln an den Schultern der Amazone schwollen an bei diesem Rettungsversuch - aber Stück für Stück zog sie den Nordlandwolf näher auf festen Boden.

Ewigkeiten verstrichen für Jesca und sie glaubte sich ebenfalls schon verloren - aber dann schaffte sie es doch. Als die goldene Mor-

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gensonne den letzten Rest der Nacht verscheuchte und aus den fernen Gestaden der wilden See sich ein Vogel auf den Ast über Thorin setzte, war der Krieger aus den Eisländern des Nordens gerettet.

Thorin und Jesca blieben völlig ausgelaugt und total erschöpft auf sicherem Boden liegen. Ihre Blicke tauchten ineinander, wussten um die Gefährlichkeit dieser Situation, die Thorin beinahe das Leben ge-kostet hätte - und das, nachdem er und Jesca dem Chaos in der Stahl-burg mit Hilfe des FÄHRMANNS hatten entkommen können!

Das helle, wärmende Morgenlicht umschmeichelte die Körper des Kriegers und der Amazone. Thorin hob mühsam den Kopf und blickte hinauf zur Sonne, die ihm zum ersten mal nach so langer Zeit wieder vertraut erschien. Der kleine Vogel auf dem Ast des abgestorbenen Baumes schlug kurz mit den Flügeln, dann erhob er sich wieder und flog mit ausgebreiteten Schwingen direkt in die Morgensonne hinein.

»Ein Zeichen der Hoffnung«, murmelte Thorin. »Der FÄHRMANN hat wieder Ordnung geschaffen, Jesca. Unsere Welt wird wieder le-ben...«

Mühsam erhob er sich und half dann auch Jesca beim Aufstehen. Die Amazone lehnte sich für einen kurzen Moment an Thorins Schul-tern, weil sie noch nicht ganz sicher stehen konnte. Eine seltsame Ver-trautheit ergriff die beiden Menschen in diesem Moment - und obwohl sie sich erst seit kurzem kannten, wussten sie doch, dass sie ein un-sichtbares Band zusammenschweißte. Wie stark dieses Band war, das würde die Zukunft zeigen. Eine Zukunft, für die Thorin auch weiterhin kämpfen würde - entweder mit oder ohne den Willen der Götter des Lichts. Nie wieder durfte es soweit kommen wie jetzt! Niemals mehr durften die dunklen Mächte die Macht über diese Erde erringen...

Er tastete nach Jescas Hand und diese erwiderte seinen Hände-druck. Mit noch etwas unsicheren Schritten gingen die beiden weiter auf die Sonne zu - und die namenlosen Schrecken blieben nur noch undeutliche Schatten...

Ende