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Die Sozialversicherung in Luxemburg 1897 —1940. Gesetzgebung und soziale Wirklichkeit* Von Michael Braun, Bonn Die Entstehung der luxemburgischen Sozialversicherung bestätigt die Beobachtung Jean Halperin, der das nahezu gleichzeitige Auftreten von kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen und Versicherungen als „fonction historique" bezeichnete': Die parlamentarische Beratung der entsprechenden luxemburgischen Gesetze begann Ende des 19. Jahr -hunderts, also kurz vor Abschluß der Eisenindustriephase 2, der indu- striellen Revolution im Großherzogtum Luxemburg. Der langjährige Staatsminister Paul Eyschen legte in der Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 9. November 1897 zwei Gesetzentwürfe mit ausführlicher Begründung vor, die die Einrichtung einer obligatorischen Unfall- und einer Krankenversicherung vorsahen'. Eyschen hatte sich bereits seit längerem mit dieser Materie beschäftigt 4 . Seine Anregungen * Der vorliegende Aufsatz basiert im wesentlichen auf der im November 1979 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn angenommenen und bisher unveröffentlichten Dissertation des Verfassers unter dem Titel: „Die luxemburgische Sozialversicherung bis zum zweiten Weltkrieg. Entwick- lung, Probleme und Bedeutung ". Ich danke der ARBED Acieries Reunies de Burbach- Eich -Dudelange S. A., Luxembourg, und der Inspection generale de la Securite sociale (Direktor: Charles Reiffers) für die Benutzung ihrer Ar- chive. 1 Jean Halperin, La Notion de Securite dans 1'Histoire economique et sociale, in: Revue d'Histoire economique et sociale 30 (1952), S. 10. 2 Eine einsichtige Periodisierung der luxemburgischen Wirtschaftsge- schichte stellte Heinz Quasten, Die Wirtschaftsformation der Schwerindustrie im Luxemburger Minett (= Arbeiten aus dem Geographischen Institut der Universität des Saarlandes, Bd. 13), Saarbrücken 1970, auf: Er unterscheidet (S. 211 ff.) eine Aufbauphase (1840 - 1913), aufgeteilt in eine Bergbau- (1840 bis 1870) und eine Eisenindustriephase (1870 - 1913), eine Wandlungsphase (1914 - 1952) und schließlich eine Ausbauphase (1952 - 1963). 3 Vgl. Compte-Rendu des Seances de la Chambre des Deputes du Grand- Duche de Luxembourg, Session 1897/98 (im folgenden: CR mit Jahrgangsan- gabe), S. 9, Annexes S. 33 ff., 123 ff. 4 Ein erster Vorentwurf zur obligatorischen Krankenversicherung stammte aus dem Jahr 1887. Vgl. Eyschen, Expose des Motifs vom 25. 10. 1897, in: CR 1897/98, Annexes S. 152. Von katholischer Seite wurde die Regierung bereits seit 1892 auf die Notwendigkeit einer Unfallversicherung aufmerksam ge- macht. Vgl. Emile Prüm, L'assurance contre les accidents du travail dans le Grand-Duche de Luxembourg, in: L'Association catholique. Revue des questions sociales et ouvrieres 53 (ler semestre 1902), S. 322. 41*

Die Sozialversicherung in Luxemburg 1897–1940 Gesetzgebung und soziale Wirklichkeit

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Die Sozialversicherung in Luxemburg 1897 —1940.Gesetzgebung und soziale Wirklichkeit*

Von Michael Braun, Bonn

Die Entstehung der luxemburgischen Sozialversicherung bestätigt dieBeobachtung Jean Halperin, der das nahezu gleichzeitige Auftretenvon kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen und Versicherungen als„fonction historique" bezeichnete': Die parlamentarische Beratung derentsprechenden luxemburgischen Gesetze begann Ende des 19. Jahr

-hunderts, also kurz vor Abschluß der Eisenindustriephase 2, der indu-striellen Revolution im Großherzogtum Luxemburg.

Der langjährige Staatsminister Paul Eyschen legte in der Sitzung derAbgeordnetenkammer vom 9. November 1897 zwei Gesetzentwürfe mitausführlicher Begründung vor, die die Einrichtung einer obligatorischenUnfall- und einer Krankenversicherung vorsahen'. Eyschen hatte sichbereits seit längerem mit dieser Materie beschäftigt4. Seine Anregungen

* Der vorliegende Aufsatz basiert im wesentlichen auf der im November1979 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn angenommenenund bisher unveröffentlichten Dissertation des Verfassers unter dem Titel:„Die luxemburgische Sozialversicherung bis zum zweiten Weltkrieg. Entwick-lung, Probleme und Bedeutung ". Ich danke der ARBED Acieries Reunies deBurbach-Eich-Dudelange S. A., Luxembourg, und der Inspection generale dela Securite sociale (Direktor: Charles Reiffers) für die Benutzung ihrer Ar-chive.

1 Jean Halperin, La Notion de Securite dans 1'Histoire economique etsociale, in: Revue d'Histoire economique et sociale 30 (1952), S. 10.

2 Eine einsichtige Periodisierung der luxemburgischen Wirtschaftsge-schichte stellte Heinz Quasten, Die Wirtschaftsformation der Schwerindustrieim Luxemburger Minett (= Arbeiten aus dem Geographischen Institut derUniversität des Saarlandes, Bd. 13), Saarbrücken 1970, auf: Er unterscheidet(S. 211 ff.) eine Aufbauphase (1840 - 1913), aufgeteilt in eine Bergbau- (1840bis 1870) und eine Eisenindustriephase (1870 - 1913), eine Wandlungsphase(1914 - 1952) und schließlich eine Ausbauphase (1952 - 1963).

3 Vgl. Compte-Rendu des Seances de la Chambre des Deputes du Grand-Duche de Luxembourg, Session 1897/98 (im folgenden: CR mit Jahrgangsan-gabe), S. 9, Annexes S. 33 ff., 123 ff.

4 Ein erster Vorentwurf zur obligatorischen Krankenversicherung stammteaus dem Jahr 1887. Vgl. Eyschen, Expose des Motifs vom 25. 10. 1897, in: CR1897/98, Annexes S. 152. Von katholischer Seite wurde die Regierung bereitsseit 1892 auf die Notwendigkeit einer Unfallversicherung aufmerksam ge-macht. Vgl. Emile Prüm, L'assurance contre les accidents du travail dansle Grand-Duche de Luxembourg, in: L'Association catholique. Revue desquestions sociales et ouvrieres 53 (ler semestre 1902), S. 322.

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hatte er sich im wesentlichen aus Deutschland geholt, wo er von 1875bis 1888 als Geschäftsträger im luxemburgischen diplomatischen Dienststand und die entsprechenden deutschen Gesetze (Krankenversicherung1883, Unfallversicherung 18845) kennen- und schätzengelernt hatte6 .

Ursprünglich sollten Kranken- und Unfallversicherung zum gleichenZeitpunkt verabschiedet und in Kraft gesetzt werden. Dieses Vorhabenscheiterte jedoch an Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Abge-ordnetenkammer bzw. zwischen Parlament und Staatsrat über die Trä-gerschaft und das Finanzierungsverfahren der Unfallversicherung'. Soeinigte sich die Abgeordnetenkammer darauf, zunächst das Kranken

-versicherungsgesetz zu verabschieden, das — datierend vom 31. Juli1901 — am 1. Dezember 1902 in Kraft trat8. Ein Jahr später folgte dasUnfallversicherungsgesetz vom 5. April 1902, das am 15. April 1903rechtswirksam wurde°. Damit hatte die erste Phase der Sozialversiche-rungsgesetzgebung in Luxemburg begonnen. Sie währte bis zum1. Januar 1912, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Gesetz über die

Alters- und Invalidenversicherung vom 6. Mai 1911 in Kraft trat10 .

Diese Einführungsphase umschloß auch die Gesetze vom 23. April 1904und 20. Dezember 1909 11, durch die die Unfallversicherung (1905) aufdie Kleinindustrie, die kleinen Handwerksbetriebe und (1910) auf dieLand- und Forstwirtschaft ausgedehnt wurde. Diese Maßnahmen warenvon Anfang an geplant, sollten lediglich nicht bereits 1902/03 verwirk

-licht werden, um die Einführung der Unfallversicherung nicht zu sehr zuerschweren. Entgegen den ursprünglichen Vorstellungen Eyschenswurde die Mittelindustrie auf Initiative der Abgeordnetenkammer je

-doch bereits 1902/03 versicherungspflichtig12 .

5 Als Überblick mit zahlreicher weiterführender Literatur für die Ge-schichte der deutschen Sozialpolitik eignet sich: Albin Gladen, Geschichte derSozialpolitik in Deutschland. Eine Analyse ihrer Bedingungen, Formen, Ziel-setzungen und Auswirkungen (= Wissenschaftliche Paperbacks 5 Sozial- undWirtschaftsgeschichte, hrsg. v. Hans Pohl), Wiesbaden 1974.

6 Jules Mersch, Paul Eyschen 1841 - 1915, in: Biographie Nationale, 5mefascicule, Luxembourg 1953, S. 92.

7 Vgl. CR 1899/1900, Annexes S. 132 ff.; Sitzungen der Abgeordnetenkam-mer vom 5. - 7. März 1902, in: CR 1901/02, S. 1400 - 1485; Rapport de laSection Centrale vom 1. 5. 1900, in: CR 1899/1900, Annexes S. 291 - 299; Avisdu Conseil d'Etat vom 27. 7. 1900, in: CR 1899/1900, Annexes S. 326 - 341.

8 Vgl. Gesetz vom 31. 7. 1901, in: Memorial 1901, S. 745 - 776; Art. 21 Groß-herzoglicher Beschluß (im folgenden: GhB) vom 14. 7. 1902, in: Memorial 1902,

S. 730 f.9 Vgl. Gesetz vom 4. 4. 1902, in: Memorial 1902, S. 205 - 247; Art. 32 GhB

vom 23. 1. 1903, in: Memorial 1903, S. 51 f.10 Vgl. Gesetz vom 6.5. 1911, in: Memorial 1911, S. 593 - 639.11 Vgl. Gesetze vom 23.4.1904 und 20.12. 1909, in: Memorial 1904, S. 1077

bis 1080; 1909, S. 1097 - 1105.12 Vgl. Avant-projet de loi und Expose des Motifs vom 25. 10. 1897, in: CR

1897/98, Annexes S. 33 f., 86; Rapport de la Section Centrale vom 1. 5. 1900, in:CR 1899/1900, Annexes S. 271.

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Im Durchschnitt der Jahre 1903 bis 1912 waren in der Krankenver-sicherung 35 460 Personen pflichtversichert, die sich zu 41,1 Prozent aufdie Bezirks-, zu 58,4 Prozent auf die Betriebs- und zu 0,4 Prozent auf dievier Hilfskassen verteilten. Im Jahre 1903 gab es 21 Bezirks- und 48Betriebskrankenkassen 13. Die 36 888 Versicherten am Ende des Jahres1907 machten knapp 28 Prozent der Erwerbsbevölkerung und knapp15 Prozent der Wohnbevölkerung des gleichen Jahres aus14. Durch diestatutarisch mögliche Ausdehnung der Leistungen auf die Familienan

-gehörigen dürfte jedoch ein größerer Teil der Bevölkerung von derKrankenversicherung profitiert haben.

Die Leistungen der Krankenversicherung bestanden im wesentlichenaus freier ärztlicher Behandlung, freien Heilmitteln, einem Kranken-geld in Höhe von 50 Prozent des durchschnittlichen Tagelohnes desVersicherten, Krankenhausbehandlung bei schwerer Krankheit undaus Zahlung eines Hausgeldes von 25 Prozent des Durchschnittstage-lohnes bei stationärer Krankenhausbehandlung. Diese Leistungen muß-ten für mindestens 13 Wochen gewährt, konnten durch das Kassenstatutjedoch verlängert werden. Ferner umfaßten die Pflichtleistungen einWochengeld in Höhe des Krankengeldes für vier Wochen nach der Nie-derkunft und ein Sterbegeld in 20facher Höhe des Durchschnittstage

-lohnes15 .

Versicherungsträger in der Unfallversicherung waren nicht wie inDeutschland Berufsgenossenschaften, sondern eine regional organisierte,für das ganze Land zuständige „Association d'assurance contre les acci-dents", die 1909 in eine gewerbliche und eine land- und forstwirtschaft-liche Abteilung gegliedert wurde. Beide Abteilungen waren verwal-tungsmäßig und finanziell voneinander getrennt1e. Bei der gewerblichenAbteilung waren zwischen 1903 und 1912 durchschnittlich 39 034 Arbeit-nehmer versichert. Die Mitgliederstruktur in dieser Abteilung ändertesich 1905 erheblich: Hatte sie 1904 nur 636 Mitglieder, erhöhte sich dieZahl der Mitgliedsbetriebe 1905 durch die Einbeziehung von Klein-industrie und Handwerk sprunghaft auf 2 157, also um knapp 240 Pro-zent. Die versicherten Arbeitnehmer nahmen jedoch nur um knapp17 Prozent zu. Über die Zahl der Versicherten und der Mitgliedsbe-triebe in der land- und forstwirtschaftlichen Unfallversicherung liegenfür diese Zeit keine Angaben vor. Im Jahre 1937 waren dort 35 620Betriebe versichert17 .

13 Zahlenangaben aus: Braun, Luxemburgische Sozialversicherung, An-hang, Tabelle 2.

14 Berechnet nach: Annuaire statistique 1960, Luxembourg 1962, S. 44, 69, 452.15 Art. 14 - 16 Gesetz vom 31. 7. 1901.16 Art. 26 Abs. 1 Gesetz vom 4.4. 1902; Art. 16, 18, 19 Gesetz vom 20. 12. 1909;

deutsche Kurzbezeichnung des Versicherungsträgers: Versicherungsgenos-senschaft.

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Arbeitnehmer, die einen Betriebsunfall erlitten hatten und für diedie gewerbliche Abteilung zuständig war, galten in den ersten 13 Wo-chen als krank und erhielten die Leistungen der Krankenversicherung.Ab der fünften Woche erhöhte sich das Krankengeld allerdings aufzwei Drittel des beitragsfähigen Lohns. Die Kosten mußte die jeweiligeKrankenkasse übernehmen. Da die Land- und Forstwirtschaft nicht indie Krankenversicherungspflicht einbezogen war, war für Unfälle indiesem Wirtschaftsbereich die entsprechende Abteilung der Versiche-rungsgenossenschaft vom Unfalltag an zuständig. Sie zahlte allerdingskein Krankengeld. Zog ein Unfall Arbeitsunfähigkeit nach sich, bestandAnspruch auf eine Rente. Bei völliger Erwerbsunfähigkeit wurde dieVollrente (zwei Drittel des letzten Jahresverdienstes) gezahlt. Teilren-ten entsprachen dem •Grad der Erwerbsunfähigkeit, gemessen an dieserVollrente. Dabei war Luxemburg in den meisten Fällen großzügiger alsseine Nachbarn, wenn es darum ging, dem Verlust eines Körperteilsden entsprechenden Grad von Erwerbsunfähigkeit zuzuordnen 18. Beieinem Unfall mit Todesfolge wurden Hinterbliebenenrenten fällig, diezusammen 60 Prozent des Jahresverdienstes nicht übersteigen durften.Witwen und Waisen erhielten jeweils 20 Prozent des Jahresverdienstesals Rente. Unter bestimmten Voraussetzungen waren auch andere Ver-wandte des Verstorbenen rentenberechtigt. Außerdem erhielten dieHinterbliebenen — zusätzlich zu der entsprechenden Leistung der Kran

-kenversicherung — ein Sterbegeld in Höhe des fünfzehnten Teils desJahresverdienstes19 .

Als Träger der Alters- und Invalidenversicherung bestimmte der Ge-setzgeber das zu diesem Zweck neu gegründete „Etablissement d'assur-rance contre l'invalidite et la vieillesse " 20. Als Invalidität galt dieArbeitsinvalidität, die bei dem Versicherten bestand, der infolge vonKrankheit oder Gebrechen nicht ein Drittel dessen verdienen konnte,was vergleichbare gesunde Personen verdienten21. Alter war als einemildere Form von Invalidität definiert. Ein gewisses Maß an Arbeits-fähigkeit wurde bei einem Altersrentner noch vorausgesetzt. Entspre-chend hatte die Altersrente nur subsidiären Charakter. Die Alters-grenze war in Luxemburg zunächst auf 68 Jahre festgesetzt22, wurde

17 Angaben aus bzw. berechnet nach: Ministäre des Affaires Economiques,Statistiques economiques luxembourgeoises. Resume retrospectif, (Luxem-bourg) Aoüt 1949, S. 185, 190.

18 Vgl. Henri Neuman, Die Arbeiterversicherung in Luxemburg (= DieArbeiter-Versicherung im Auslande, hrsg. v. Georg Zacher, Heft XIV a), Ber-lin-Groß -Lichterfelde 1908, S. 31 f.

19 Art. 6 - 11, 13, 16 Gesetz vom 5.4. 1902; Art. 7, 10, 23 Gesetz vom 20. 12.1909.

20 Art. 16 Abs. 2 Gesetz vom 6. 5. 1911; deutsche Kurzbezeichnung: Versiche-rungsanstalt.

21 Art. 17 ebda.22 Art. 18 Abs. 2 ebda.

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allerdings 1914 rückwirkend zum 1. Januar 1912 auf 65 Jahre zurück-genommen23. In Deutschland bestand dagegen eine Altersgrenze von

70 Jahren bis 1916. Nach Erreichen der Altersgrenze bzw. im Falle derInvalidität bestand Anspruch auf eine Grundrente (180 Francs fürMänner, 144 Francs für Frauen, jeweils pro Jahr), von der Staat undGemeinden ein Drittel übernahmen. Die Grundrenten erhöhten sich,falls der Durchschnittsverdienst höher als 500 Francs und die Versiche-rungszeit länger als die Wartezeit von 1 350 Tagen war24. Während dieRenten Pflichtleistungen waren, stellte die Heilbehandlung in derAlters- und Invalidenversicherung eine freiwillige Leistung dar25. DieVersicherungsanstalt engagierte sich hier jedoch stark, besonders zurBekämpfung der Tuberkulose als eine der wichtigsten Invaliditätsursa-chen. In den Jahren 1915 bis 1921 und 1928 bis 1929 gab sie sogar mehrfür Heilbehandlung als für Renten aus26, was nicht ausschließlich aufdie inflationsbedingt niedrigen Renten zurückgeführt werden kann.

Als das Gerüst der Sozialversicherung stand, fehlten besonders zwi-schen Kranken- und Invalidenversicherung wichtige Querverstrebun-gen. Größtes Problem in der Sozialversicherungspolitik nach der Ein

-führungsphase war jedoch die rapide Geldentwertung, die 1915 ein-setzte und erst 1927 fühlbar gebremst werden konnte27 und die eineReorganisation der Sozialversicherung erforderlich machte.

So setzte in der Sozialversicherungspolitik eine Reformphase ein, die-- unterbrochen vom ersten Weltkrieg — bereits 1913 begann und bis1925/26 andauerte. Die zeitlichen Grenzmarken dieser Reformphasestellten einerseits der noch von Paul Eyschen vorgelegte „Vorentwurfzu einem neuen Krankenversicherungsgesetz" vom 7. April 1913 28 unddie Sozialversicherungsordnung vom 17. Dezember 1925 29 andererseitsdar.

Dieses am 1. Januar 1926 in Kraft getreteneGesetzgebungswerk, dasinsgesamt 321 Artikel umfaßte, war das Ergebnis rechtspolitischer Be-mühungen, das kaum noch übersehbare, in viele Einzelgesetze und -ver-

23 Gesetz vom 2. 6. 1914, in: Memorial 1914, S. 621 - 624.24 Art. 27 - 29, 60 Gesetz vom 6. 5. 1911.25 Art. 39 ebda.26 Vgl. Etablissement d'assurance contre l'invalidite et la vieillesse, Compte

Rendu, Exercice 1961 (im folgenden: Versicherungsanstalt, Geschäftsbericht,mit Angabe des Geschäftsjahres), Annexe II, S. 62.

27 100 Francs des Jahres 1914 waren 1927 nur noch 12,89 Francs wert, von1928 - 1940 durchschnittlich 13,74 Francs. Berechnet nach dem Index der Le-benshaltungskosten (1914 = 100), in: Annuaire statistique 1960, S. 411.

28 Eyschen, Vorentwurf zu einem neuen Krankenversicherungsgesetz vom7.4.1913 (= partie III, in: Die Krankenversicherung im GroßherzogtumLuxemburg von 1903 - 1913). Archiv der Inspection genorale de la Securitesociale, Cote 107.

29 Gesetz vom 17. 12. 1925 betr. die Sozialversicherungsordnung (im folgen-den: SVO), in: Memorial 1925, S. 877 - 1005,

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ordnungen zersplitterte Sozialversicherungsrecht formal zusammenzu-fassen: „Une des reformes ardemment desirees constitue done la codi-fication de nos differentes lois d'assurances sociales. "30 Eine Aufhebungder nach Risiken gegliederten Sozialversicherung war dabei jedoch vonkeiner Seite konkret beabsichtigt. Die Sozialisten forderten nur verbaleine beitragsfreie „vereinheitlichte Volksversorgung", waren sich aberbewußt, daß dies nur möglich war, „wenn wir eine sozial anders geglie-derte und aufgebaute Gesellschaft haben " 31 .

Die Sozialversicherungsordnung bestand aus vier Büchern: Das ersteumfaßte die Krankenversicherung, das zweite die Unfall- und das drittedie Alters- und Invalidenversicherung. Ein viertes Buch enthielt füralle Versicherungszweige gültige gemeinsame Bestimmungen, wie dieRechtsform der Versicherungsträger, die Oberaufsicht des Staates überdie einzelnen Versicherungszweige, Gebührenbefreiungen, Vorschriftenzur Geldanlage und die schieds- und zivilgerichtlichen Verfahren beiStreitigkeiten über Versicherungsleistungen. Durch dieses vierte Buchund entsprechende Ausführungsbestimmungen wurden z. B. für alledrei Versicherungszweige einheitliche Schiedsgerichte eingesetzt, die esbis 1925 nur in der Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung gegebenhatte. Für die Krankenversicherung existierten solche Schiedsgerichte,in denen Delegierte der Arbeitgeber und -nehmer neben einem unab-hängigen Juristen Entscheidungsbefugnis besaßen, also erst seit 1926.Die Schiedsgerichte wurden in Luxemburg-Stadt, Esch-sur-Alzette undDiekirch installiert. Die Beisitzer wechselten je nach Versicherungs-zweig.

Neben dieser formalen Zusammenfassung der Sozialversicherungs-gesetze hatte die Sozialversicherungsordnung jedoch auch und vor allemden Zweck, die einzelnen Versicherungszweige inhaltlich aufeinanderabzustimmen. Vordringliches Problem war eine 13wöchige Deckungs-lücke, die zwischen Kranken- und Invalidenversicherung klaffte: DieKrankenversicherung war nach dem Gesetz von 1901 nur für die ersten13 Wochen nach Eintritt der Krankheit für den Versicherten zuständig,die Invalidenversicherung setzte mit ihren Leistungen dagegen erst nachAblauf der 26. Woche ein32. Obwohl sich die Krankenkassen in einemseit 1912 verstärkten Umfang bemühten, diese Deckungslücke durchfreiwillige Mehrleistungen auszufüllen, konnte davon nur der geringereTeil der Versicherten profitieren: Im Jahre 1912 hatten nur knapp 40

3° Rene Blum u. a., Proposition de loi vom 17. 10./14. 11. 1919, in: CR 1919/20,Annexes S. 839.

31 Pierre Krier, Sitzungen der Abgeordnetenkammer vom 20. und 24.11.1925, in: CR 1925/26, S. 120, 131 - 136.

S2 Vgl. Art. 14 Nr.2 Gesetz vom 31. 7. 1901; Art. 20 Gesetz vom 6.5. 1911.33 Die Krankenversicherung im Großherzogtum Luxemburg, Geschäftsjahr

1912, S. 13,

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Prozent der Krankenversicherten Anspruch auf mindestens 26wöchigeKrankenunterstützung, während sich gut 60 Prozent mit der gesetz-lichen Mindestleistung von 13 Wochen zufriedengeben mußten33. DasProblem wurde in der Sozialversicherungsordnung gelöst, indem dieLeistungspflicht der Krankenversicherung auf mindestens 26 Wochenverdoppelt wurde34. In Anlehnung an die deutsche Reichsversicherungs-ordnung von 1911 hatte auch Eyschen diese Lösung in seinem Vorent-wurf von 1913 vorgesehen 35. Durch den ersten Weltkrieg trat jedocheine mehrjährige Verzögerung dieser Reform ein.

Auch das Verhältnis von Kranken- und Unfallversicherung wurdedurch die Sozialversicherungsordnung geändert. Das Gesetz von 1902definierte die Folgen von Betriebsunfällen während der ersten 13 Wo

-chen als „Krankheit ": Sie mußten aus Mitteln der Krankenversicherungbezahlt werden. Die Unfallversicherung übernahm die Behandlungs-kosten erst mit Beginn der 14. Woche38. Diese Regelung war dem deut

-schen Unfallversicherungsgesetz von 1884 entnommen und sollte — wiein Deutschland97 — die luxemburgische Industrie, die im Zollverein mitder deutschen konkurrieren mußte, entlasten: Die Unfallversicherungwurde allein von den Unternehmern finanziert, in der Krankenversiche-rung zahlten die Versicherten jedoch zwei Drittel der Beiträge selbst.Darüber hinaus sollte die 13wöchige Karenzzeit verhindern, die Un-fallversicherung durch eine Vielzahl kleiner Verletzungen von denschweren Unfällen abzulenken. Sie schien auch geeignet, die Simula-tionsgefahr einzudämmen, der die zentrale Unfallversicherungsgenos-senschaft stärker ausgesetzt wäre als die regionalen Krankenkassen mitihren Kontrollmöglichkeiten. Weiterhin sollten die Verwaltungskostendurch Unfalluntersuchungen, zu denen die Versicherungsgenossenschaftgesetzlich gezwungen war, nicht über das notwendige Maß hinaus auf

-gebläht werden39.

Noch 1897, bei der Vorlage der ersten Entwürfe zur Kranken- undUnfallversicherung, hatte Eyschen die 13wöchige Karenzzeit für dieLeistungen der Unfallversicherung mit der „Analogie" der kleinen Un-fälle mit den eigentlichen Krankheiten und mit einer gerechterenKostenverteilung zwischen Arbeitgebern und -nehmern gerechtfertigt40 .

Neun Jahre später sah er sich gezwungen, anders darüber zu denken:

34 Art. 8 Abs. 2 SVO.35 Eyschen, Vorentwurf von 1913, § 7 Abs. 2.3e Art. 6 Abs. 2 Gesetz vom 5.4. 1902.37 Gladen, Geschichte der Sozialpolitik, S. 60.S8 Eyschen, Expose des Motifs vom 25. 10. 1897, in: CR 1897/98, Annexes

S. 153.ss Vgl. Rapport de in Section Centrale vom 1. 5. 1900, in: CR 1899/1900,

Annexes S. 277 ff.40 Eyschen, Expose des Motifs vom 25. 10. 1897, in: CR 1897/98, Annexes

S. 90 f., 153.

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In der Gesetzesvorlage der Unfallversicherung für die Land- und Forst-wirtschaft — ein Wirtschaftszweig, der nicht krankenversicherungs-pflichtig war, — hatte er geplant, die Kosten der land- und forstwirt-schaftlichen Unfallversicherung während der 13wöchigen Karenzzeit zuzwei Dritteln den Gemeinden zu übertragen41. Dieses Ansinnen schei-terte jedoch am Widerspruch der Gemeinden42. So mußten die land- undforstwirtschaftlichen Arbeitgeber vom Unfalltag an die Leistungenfinanzieren. Eyschen begründete diese Regelung: „... eile semble sejustifier, meme au point de vue des patrons, si l'on songe que les depen-ses ä couvrir sont etrangeres aux maladies proprement dite ... " 43 .

Damit wollte Eyschen jedoch keineswegs der Abschaffung der Karenz-zeit auch in der gewerblichen Unfallversicherung zustimmen. Immerhin

konnte er nicht verhindern, daß mit der land- und forstwirtschaftlichenUnfallversicherung eine erste Bresche in das bis dahin gültige Prinzipder 13wöchigen Wartezeit für Leistungen der Unfallversicherung ge-

schlagen wurde. Freilich gab es bereits vorher Stimmen, die sich gegendiese Regelung aussprachen. Der Abgeordnete Welter, der zur erstenGeneration führender Sozialisten im luxemburgischen Parlament ge-hörte, kritisierte bereits 1902 die 13wöchige Karenzzeit als zu lang.Vier oder fünf Wochen schienen ihm ausreichend44 .

Daran anknüpfend forderte die sozialistische Fraktion in der Abge-ordnetenkammer anläßlich der Diskussion der Sozialversicherungsord-nung eine klare Trennung von Unfall- und Krankenversicherung. HatteEyschen 1897 die Karenzzeit noch mit einer gerechteren Verteilung derVersicherungskosten zwischen Arbeitgebern und -nehmern verteidigt,so wurde nun im Namen der Gerechtigkeit die Abschaffung der Warte-zeit gefordert. Außerdem sollten dadurch die Krankenkassen vor demfinanziellen Ruin bewahrt werden45. Gegen den Willen der von demchristlich-sozialen Emile Reuter geführten Regierung, des Staatsrates46

und der Zentralsektion der Abgeordnetenkammer, die eine Karenzzeitvon fünf Wochen vorgeschlagen hatte47, setzte eine Abstimmungskoali-

41 Eyschen, Expose des Motifs vom 12. 12. 1905, in: CR 1906/07, AnnexesS. 125 - 130.

42 Eyschen, D6peche au Conseil d'Etat vom 7. 11. 1906, in: CR 1907/08, An-nexes S. 153.

43 Ebda., S. 154.44 Welter, Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 11.3. 1902, in: CR 1901/02,

S. 1500.45 Vgl. Blum u. a., Proposition de loi, in: CR 1919/20, Annexes S. 843;

Kayser/Krier, Avis separe vom 5.9. 1923, in: CR 1922/23, Annexes S. 1257 f.46 Vgl. Expose des Motifs, in: CR 1920/21, Annexes S. 913 - 916; Avis du

Conseil d'Etat vom 24. 11. 1922, in: CR 1922/23, Annexes S. 133; de Waha,Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 30. 11. 1923, in: CR 1923/24, S. 436 ff.

47 Vgl. Rapport de la Section Centrale vom 5.9. 1923, in: CR 1922/23, An-nexes S. 1140.

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tion von Reuters eigener Rechtspartei48 und sozialistischer Partei durch,die Karenzzeit gänzlich abzuschaffen 49 .

Durch diese definitorische Änderung des Unfallbegriffs erklärt sichder enorme Anstieg der ersatzpflichtigen Unfälle in der gewerblichenUnfallversicherung zwischen 1925 und 1926: 1925 waren 1 813, ein Jahrspäter 20 669 Unfälle ersatzpflichtig. Daß es sich bei dieser Steigerungzumeist um kleinere, viel Verwaltungsaufwand erfordernde Unfällehandelte, zeigt die Ausgabensteigerung der gewerblichen Unfallversi-cherung für Heilverfahren von ca. 0,5 (1925) auf ca. 2,3 Millionen Francs(1926) und die Erhöhung der Verwaltungskosten von rund 0,7 (1925) auf1,2 Millionen Francs im Jahre 1926 an8°.

Diese Zahlen mögen andeuten, daß die bei Einführung der Unfall-versicherung befürchteten Nachteile einer Leistungspflicht der gewerb-

lichen -Genossenschaft ohne Karenzzeit auch eingetreten sind: wachsendeSimulation von Unfällen, unproduktive Steigerung der Verwaltungs-kosten, Spannungen zwischen Krankenkassen und Unfallversicherungs-genossenschaft. Die in der Versicherungsgenossenschaft zusammenge-schlossenen Unternehmer versuchten daher 1928, die Regelungen derSozialversicherungsordnung zu revidieren, indem sie eine dreiwöchigeKarenzzeit forderten61 . Sie blieben damit deutlich unter der in Deutsch-land gültigen achtwöchigen Karenzzeit. Dennoch waren diese Bemü-hungen erfolglos.

Neben der rechtspolitischen Zielsetzung und der inhaltlichen Abstim-mung der Versicherungszweige aufeinander wurden mit der Sozialver:sicherungsordnung auch innerhalb der einzelnen VersicherungszweigeReformen wirksam, die einerseits den organisatorischen Rahmen betra-fen, andererseits die Folgen der Inflation wenigstens abmildern sollten.

Auffälligste Änderung im organisatorischen Bereich war eine Neu-ordnung des Krankenkassenwesens. Bereits Eyschen ging es 1913 darum,nicht nur die Zahl der Krankenkassen zu verringern, sondern auch dieder Kassenarten: Die anerkannten Hilfskassen sollten innerhalb dergesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr zugelassen, sondern auf

48 Unter wesentlicher Wortführung von Pierre Dupong, der später — 1937— Reuter im Amt nachfolgte und in seine Koalitionsregierung mit PierreKrier und Rene Blum die führenden Vertreter der sozialistsichen Partei auf-nahm.

49 Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 30. 11. 1923, in: CR 1923/24,S. 439 f.; Art. 97 Abs. 2 SVO. In Deutschland wurde die Karenzzeit 1925 von13 auf acht Wochen verkürzt.

60 Vgl. Braun, Luxemburgische Sozialversicherung, Anhang, Tabelle 8.51 Comite-Directeur de l'Association d'Assurance contre les accidents,

Section industrielle, ä M. le Directeur general de la Prevoyance sociale, vom1.12.1928, in: Association d'assurance, Section industrielle, Compte-Rendu,Exercise 1928 (im folgenden: Versicherungsgenossenschaft, gewerbl. Abt., Ge-schäftsbericht, mit Angabe des Geschäftsjahres), S. 5 - 11.

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652 Michael Braun

Funktionen als Zuschußkassen beschränkt werden. Sie entzögen, so dieBegründung, den übrigen Kassen eine Anzahl Versicherter und suchtensich nur gesunde, zahlungsfähige Mitglieder aus, so daß sie — gefördertdurch öffentliche Subsidien52 — relativ niedrige Beiträge erheben könn-ten53. Bei der Diskussion der Sozialversicherungsordnung hatte sich andieser Zielsetzung nichts geändert. Regierung, Staatsrat und Abgeord-netenkammer stimmten einmütig darin überein, die Hilfskassen alsMitträger der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr zuzulassen54 .

Weitergehende Absichten der sozialistischen Partei, die Kassenartendurch Zusammenfassung der Betriebs- und Bezirkskrankenkassen nochweiter zu verringern, um so Verwaltungskosten zu sparen und diestatutarischen Bestimmungen zu vereinheitlichen55, fanden keine Mehr-heit. Hinter diesem Verlangen stand die Absicht, die ungleiche Risiko-verteilung zwischen Betriebs- und Bezirkskrankenkassen aufzuhebenund so zu besseren Leistungen für Mitglieder der Bezirkskassen zukommen. Auch politische Gründe spielten eine wichtige Rolle: Die So-zialisten wollten den Einfluß des Arbeitgebers in der Betriebskranken-kasse, den sie als „undemokratisch" bezeichnetenb 6, zugunsten stärkererMitverwaltung der Arbeitnehmer zurückdrängen. Die Arbeitnehmer-vertreter im Kassenvorstand sollten auch in der Praxis unabhängigwerden vom Unternehmer und seinen Einflußmöglichkeiten als Arbeit

-geberb7.

Allerdings gab es eine breite Strömung bei den gesetzgebenden Kör-perschaften, die Anzahl sowohl der Betriebs- als auch der Bezirkskas-

sen zu reduzieren. Vor allem den kleinen Betriebskassen sollte die Exi-stenzgrundlage entzogen werden. Die meisten Arbeitgeber, die für ihrUnternehmen eine Betriebskasse eingerichtet hatten, ließen ihre Arbei-ter und Angestellten vor der Einstellung in das Arbeitsverhältnis ärzt-lich untersuchen. Dadurch war den Betriebskassen in der Regel ein ge-sünderer Versichertenbestand gesichert als den Bezirkskassen. Mit einem

52 Vgl. Gesetz vom 11. 7. 1891, in: Memorial 1891, S. 513 - 518.53 Eyschen, Vorentwurf von 1913, § 26. Dabei berücksichtigte Eyschen nicht,

daß selbst pflichtversicherte Mitglieder der Hilfskassen ihren Beitrag alleine,d. h. ohne den Arbeitgeberanteil von einem Drittel zahlten. Freilich warenbei den Hilfskassen überwiegend freiwillig Versicherte Mitglieder, die auchbei Bezirks- und Betriebskassen den vollen Beitrag hätten bezahlen müssen,dann allerdings in den meisten Fällen einen höheren.

54 Vgl. Expose des Motifs, in: CR 1920/21, Annexes S. 900 f.; Avis du Con-seil d'Etat vom 24.11. 1922, in: CR 1922/23, Annexes 5. 124; Rapport de laSection Centrale vom 5. 9. 1923, in: CR 1922/23, Annexes S. 1134; Art. 25 SVO.

55 Kayser/Krier, Avis separe vom 5.9. 1923, in: CR 1922/23, Annexes S. 1253;Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 22. 11. 1923, in: CR 1923/24, S. 287 - 302.

56 Krier, Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 24. 11. 1925, in: CR 1925/26,S. 124.

b7 Krier, Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 22. 11. 1923, in: CR 1923/24,S. 301.

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Die Sozialversicherung in Luxemburg 1897 - 1940 653

gesetzlichen Minimum von nur 50 Mitgliedern für Betriebskassen be-

stand außerdem die latente Gefahr, daß Versicherte und Arbeitgeber,die zu einem Defizit bei den Bezirkskassen beigetragen hatten, bei Bei-

tragserhöhungen eine eigene Betriebskrankenkasse gründeten, um „sichden Opfern einer Sanierung (zu) entziehen " 58 .

Durch die Sozialversicherungsordnung wurde die Mindestversicher-tenzahl einer Betriebskrankenkasse von 50 auf 500 verzehnfacht, so daßvon 28 Kassen im Jahre 1925 ein Jahr später nur noch neun übrigblie-ben. Sie konzentrierten sich natürlich mit Mehrheit (sieben Kassen:ARBED vier, HADIR, Rodange, Terres Rouges je eine Kasse) auf den

Bereich der Eisen- und Stahlindustrie. Nachdem sie die Abschaffung derBetriebskassen nicht durchsetzen konnten, forderten die Sozialisten, zu-

mindest die Zahl der Betriebskassen weiter zu verringern. Ein gegen die

ARBED gerichteter Antrag des Abgeordneten Krier wollte pro Arbeit-geber nur eine Betriebskasse erlauben. Die Abgeordnetenkammer lehntejedoch auch diesen Vorschlag ab59.

Neben der Reduzierung der Betriebskassenzahl änderte der Gesetz-geber auch das Verhältnis zwischen den beiden verbleibenden Kassen-

arten zugunsten der Bezirkskrankenkassen. Dominierten im Gesetz von

1901 noch die Betriebskassen, so wurde in der Sozialversicherungsord-nung von 1925 primär an die finanzielle Sicherung der Bezirkskassengedacht. Eyschen bezeichnete bei den vorbereitenden Arbeiten zumersten Krankenversicherungsgesetz die Betriebskassen wegen der Gleich-

artigkeit der Risiken in einem Betrieb noch als „organisme par excel-

lence de l'assurance contre les maladies " 60. Nach 1925 durfte eine Be-

triebskasse nur noch gegründet werden, „si elle ne compromet pas l'exi-

stence et le fonctionnement des caisses regionales " 61 .

Mit ihren Vorstellungen, auch die Zahl der Bezirkskassen auf drei zureduzieren und die Versichertennähe durch Einrichtung von Hilfsbürosan den Orten der alten Bezirkskassen zu erhalten82, konnte sich die Re-

gierung im Parlament nicht durchsetzen. Die Abgeordneten aus denländlichen Regionen votierten dagegen, weil sie eine Vermengung der

schlechten Gesundheitsrisiken aus den Industriegemeinden mit den bes-

58 Eyschen, Vorentwurf von 1913, Kommentar zu § 30.59 Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 23. 11. 1923, in: CR 1923/24,

S. 328 - 332. Die Vereinheitlichung der ARBED-Betriebskassen erfolgte erstAnfang der 1970er Jahre und hatte primär nicht versicherungstechnische,sondern politische Gründe: Die kommunistische Kassenführung in Esch-Belval sollte ausgeschaltet werden. Interview mit Charles Reiffers am 21.3.1978.

60 Eyschen, Expose des Motifs vom 25. 10. 1897, in: CR 1897/98, AnnexesS. 154 f.

81 Art. 31 Ziff. 1 SVO.62 de Waha, Directeur general (= Minister) de la prevoyance sociale, Sit-

zung der Abgeordnetenkammer vom 23. 11. 1923, in: CR 1923/24, S. 305 - 309.

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654 Michael Braun

seren Risiken der ländlichen Regionen fürchteten: „Meine Herren, ichwill zuerst einen komischen Vergleich machen, nämlich zwischen derelektrischen Überlandzentrale und den Krankenversicherungskassen.Bei der Frage •der Elektrizität wollen die stark bevölkerten Zentrenvom Lande nichts ... wissen, jetzt bei den Krankenkassen, da wollensie uns haben. Jetzt wird es nämlich billiger, im andern Fall wird esteurer. " 63 Auch eine 1929 erneut vorgebrachte Initiative, die Zahl derBezirkskassen von 14 auf drei zu verringe rn", wurde nicht realisiert.So blieben die seit Februar 1909 bestehenden 14 Bezirkskassen erhalten,bis sie durch Verordnung des „Chefs der Zivilverwaltung" vom 14. März1941 aufgelöst und in drei „Allgemeine Ortskrankenkassen" in Luxem-burg-Stadt, Diekirch und Grevenmacher zusammengefaßt wurdenes.

Die Neuordnung des Krankenkassenwesens war der organisatorischeTeil der gesetzgeberischen Bemühungen, die Finanzlage besonders derBezirkskrankenkassen zu verbessern. Ein Bericht über die ersten zehnJahre Krankenversicherung wies von den 57 Bezirks- und Betriebs

-krankenkassen insgesamt 25 als „in finanzieller Hinsicht ungenügend"aus. Begründet wurde dies in erster Linie mit den im Verhältnis zu denGesamtausgaben stark steigenden Ausgaben für ärztliche Behandlungund Arzneien86. Bedingt durch Probleme mit dem System der freienArztwahl und durch eine stärkere Inanspruchnahme der Krankenver-sicherung87 beliefen sich die Arztkosten in der Krankenversicherung1903 noch auf 14,8, die Apothekerkosten im selben Jahr auf 10,3 Pro-zent der Gesamtausgaben, während sich die entsprechenden Anteile imJahre 1911 bereits auf 19,4 bzw. 15,1 Prozent stellten68. Die Finanzlageder Bezirkskrankenkassen war nicht nur angespannter, weil bei ihneneine Risikoauslese nicht in dem Maße möglich war, wie das bei den Be-triebskassen durch die Einstellungsuntersuchung der späteren Mitgliederindirekt geschah. Die Bezirkskassen mußten auch ihre Verwaltungs-kosten voll aus dem Beitragsaufkommen decken, während bei Betriebs-kassen die personalen Verwaltungskosten zu Lasten des Unternehmersgingen89. Deshalb bestanden zwischen diesen beiden Kassenarten er-

63 Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 23. 11. 1923, in: ebda., S. 312 - 324(Zitat: Diskussionsbeitrag Comte de Villers, S. 312).

84 Dupong, Depeche au Conseil d'Etat vom 16. 10. 1929, in: CR 1929/30, An-nexes S. 417 f.

65 Charles Reiffers, L'assurance maladie dans le Grand-Duche de Luxem-bourg de 1900 a nos temps, in: Chambre des Employes prives 1924 - 1974.Cinquantieme Anniversaire, (Luxembourg) 1974, S. 186.

66 Die Krankenversicherung im Großherzogtum Luxemburg von 1903 bis1913, S. 26, 28.

67 Durchschnittszahl der Krankheitsfälle mit Arbeitsunfähigkeit pro Ver-sichertem (alle Kassenarten): 1903: 1,15; 1911: 1,75. Vgl. Statistiques econo-miques luxembourgeoises, Aoüt 1949, S. 181.

88 Eyschen, Begründung zum Vorentwurf von 1913, S. 18.69 Art. 46 Ziff. 3 Gesetz vom 31.7. 1901.

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hebliche Unterschiede bei den Verwaltungskosten. Pro Mitglied lagensie bei den Bezirkskassen 1903 bei 2,21 und 1911 bei 4,05 Francs, wäh-rend die Betriebskassen lediglich 0,44 bzw. 0,55 Francs ausgeben mußten70 .

Um den Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen die Möglich-keit zu geben, die Finanzlage ihrer Kasse zu verbessern, wurde durch

das Gesetz vom 9. Februar 1918 der Spielraum für den Gesamtbeitrag(Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) von 3 - 4,5 auf 4,5 - 6,75 Prozenterhöht71. Die unterschiedliche Belastung von Bezirks- und Betriebs-krankenkassen durch die Verwaltungskosten milderte das Gesetz vom8. März 1919 ab: Fortan übernahm der Staat, also der Steuerzahler, dieHälfte oder Verwaltungskosten bei den Bezirkskassen''.

Derartig weitreichende organisatorische Reformmaßnahmen wie dieNeuordnung des Kassenwesens in der Krankenversicherung gab es inden anderen Versicherungszweigen nicht. Sie waren wohl auch nichtnotwendig. Die Versicherungsgenossenschaft mit ihren zwei Abteilun-gen und die Alters- und Invalidenversicherungsanstalt hatten sich inihrer Arbeitsweise offenbar bewährt.

Beide Verwaltungen wiesen zahlreiche organisatorische Parallelenauf, die Staatsminister Eyschen bei der Vorlage des ersten Entwurfs desAlters- und Invalidenversicherungsgesetzes bereits vorbereitet hatte73 .

Betroffen davon waren vor allem die Bereiche Wahlverfahren zu denOrganen, Schieds- und Zivilgerichtsverfahren, Verwaltungsstruktur,Rentenauszahlung und Beitragsfeststellung und -eintreibung. Um eineVerwaltungsvereinfachung und — bei aller gebotenen Trennung derEinnahmen und Ausgaben — eine Vereinheitlichung der Sozialversiche-rung zu ermöglichen, wurde die Regierung durch das Gesetz von 1911ermächtigt, durch ein öffentliches Verwaltungsreglement die Verwal-tungen der Unfall- und Alters- und Invalidenversicherung in einem„Office des assurances sociales" zusammenzufassen74. Dies geschah bis1925 jedoch nicht. Freilich arbeiteten die Versicherungsgenossenschaftund die Versicherungsanstalt eng zusammen. Äußerliches Zeichen da-für war die Personalunion im Vorsitz beider Abteilungen der Versiche-rungsgenossenschaft sowie der Versicherungsanstalt. Obwohl in Regie

-rungsbeschlüssen von einem offiziell gar nicht existierenden „Office d'as-surances" die Rede war75, blieben die Versicherungsgenossenschaft mitihren zwei Abteilungen und die Versicherungsanstalt also getrennteOrganisationen: „Exterieurement ces institutions apparaissent déjà

70 Statistiques economiques luxembourgeoises, Aoüt 1949, S. 184.71 Gesetz vom 9.2. 1918, in: Memorial 1918, S. 178 f.72 Vgl. Gesetz vom 8. 3. 1919, in: Memorial 1919, S. 257 f.73 Eyschen, Expose des Motifs vom 24.4. 1905, in: CR 1906/07, Annexes S. 90.74 Art. 132 Gesetz vom 6.5. 1911.75 Art. 5 Beschluß vom 12. 5. 1917, in: Memorial 1917, S. 517.

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aujourd'hui comme unies, mais en realite elles sont distinctes, meine aupoint de vue administratif. " 76 Das Office des assurances sociales hatseine gesetzliche Basis in der Sozialversicherungsordnung von 1925,arbeitete unter dieser Bezeichnung also erst seit 1926. Diese Maßnahmehatte lediglich organisatorische Gründe und Effekte. Die nach Risikengegliederten unterschiedlichen Zuständigkeiten mit entsprechenderTrennung der Einnahmen und Ausgaben blieben davon unberührt. Sobildeten Versicherungsgenossenschaft und Versicherungsanstalt einegemeinsame Buchhaltung und organisierten einen gemeinsamen Dienst,um die von den Arbeitgebern zur Beitragsbemessung angemeldetenLöhne zu kontrollieren78 .

Die rechtspolitischen und organisatorischen Reformen hatten bei derVerabschiedung der Sozialversicherungsordnung zwar einen hohen Stel-lenwert. Oberstes Ziel der Sozialpolitiker nach dem ersten Weltkriegmußte jedoch sein, die Inflationsfolgen zu beseitigen: Der Index derLebenshaltungskosten war von 1914 = 100 auf 1921 = 401 und 1925 =520 gestiegen79. Die Geldentwertung wrikte sich vor allem in zwei Punk-ten negativ aus: Zum einen war davon der Zugang zur Pflichtversiche-rung betroffen, d. h. die von der Inflation entwerteten Versicherungs-pflichtgrenzen mußten erhöht werden. Zum anderen mußten die Lei-stungen der einzelnen Versicherungszweige den veränderten Verhält-nissen angepaßt werden, wollte man das sozialpolitische Ziel der Sozial

-versicherung nicht gänzlich aufgeben.

Von der Entwertung der alten Versicherungspflichtgrenzen waren inerster Linie die Angestellten6° betroffen. Die Arbeiter waren ohne Rück

-sicht auf die Höhe ihres jährlichen Lohnes pflichtversichert, die Ange-stellen jedoch nur bis zu bestimmten Verdienstgrenzen. Diese lagen inder Krankenversicherung bis 1925 bei 3 000 Francs pro Jahr, in der Un-fallversicherung von 1902 bis 1907 ebenfalls bei 3 000, von 1908 bis 1925bei 3 750 Francs und in der Alters- und Invalidenversicherung von 1912bis 1925 bei 3 750 Francs. Sie wurden durch die Sozialversicherungsord-nung auf einheitlich 10 000 Francs angehoben 81 .

Während die vor dem ersten Weltkrieg gültigen Versicherungspflicht-grenzen relativ hoch angesetzt waren, so daß viele Angestellte ver-

76 Avis du Conseil d'Etat vom 24. 11. 1922, in: CR 1922/23, Annexes S. 116.77 Art. 282 Abs. 1 SVO.78 Versicherungsanstalt, Geschäftsbericht 1929, S. 4; 1934, S. 14.79 Annuaire statistique 1960, S. 411.60 Unter diesen auch in Luxemburg nicht eindeutigen Begriff fielen fol-

gende Berufsgruppen: fonctionnaire d'exploitation, contre-maitres, employestechniques, employes.

81 Art. 1 Abs.? Gesetz vom 31.7.1901; Art. 1 Abs. 2 Gesetz vom 5.4.1902;Art. 2 Gesetz vom 21.4. 1908, in: Memorial 1908, S. 289; Art. 1 Abs. 2 Gesetzvom 6.5. 1911; Art. 1 Abs. 2, Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2, Art. 170 Abs. 2 SVO.

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Die Sozialversicherung in Luxemburg 1897 - 1940 657

sichert werden konnten82, läßt sich das von dem ab 1926 gültigen Limitnicht sagen. Setzt man die Vorkriegsgrenzen von 3 000 bzw. 3 750 gleich100, so ergaben 10 000 Francs einen Indexwert von 333 bzw. 267. Ver-glichen mit dem Index der Lebenshaltungskosten von 520 im Jahre 1925,waren dies völlig unzureichende Werte. Das läßt sich auch an der Ent-wicklung der Durchschnittsgehälter nachweisen, die offenbar sehr vielstärker mit der Bewegung des Lebenshaltungskostenindexes einher-ging. So zahlte die ARBED an the 757 Angestellten, die sie im Kalender-jahr 1920 in den Abteilungen Düdelingen, Dommeldingen, Esch, luxem-burgische Gruben und Zentralverwaltung beschäftigte, insgesamt7 048 055,63 Francs an Gehältern und diversen Zulagen und weitere1 315 614,90 Francs an Gratifikationen. Insgesamt ergab das einen fürdie Sozialversicherung entscheidenden Jahresverdienst14 von durch

-schnittlich 11 048,44 Francs85. Damit lagen die ARBED-Angestellten be-reits 1920 im Durchschnitt über der durch die Sozialversicherungsord-nung auf 10 000 Francs angehobenen Versicherungspflichtgrenze.

Diese ungenügende Anpassung der VersicherungspfLichtgrenzen andie Geldentwertung führte im Ergebnis dazu, daß die Sozialversiche-rung auch von den Zugangsmöglichkeiten her zu einer Arbeiterver-sicherung wurde. Diesen Charakter trug sie vor 1914 nur wegen deszahlenmäßigen Übergewichts der Arbeiter in den einzelnen Versiche-rungszweigen. Durch den ausreichend hohen Ansatz der Versicherungs-pflichtgrenzen stand den wenigen Angestellten" die Sozialversicherungin der Vorkriegszeit jedoch in weitem Maße offen.

Die Versicherungslücke, die sich für die Angestellten in der Nach-kriegszeit auftat, wurde in der Krankenversicherung durch Maßnahmender betrieblichen Sozialpolitik geschlossen: Die Societe Miniere et Me-tallurgique de Rodange gründete 1922 eine Betriebskrankenkasse fürAngestellte, die ARBED folgte ein Jahr später87. Auch bei der Alters-sicherung dürften die Angestellten wieder verstärkt die z. T. schon seitEnde des 19. Jahrhunderts bestehenden betrieblichen Alterskassen in

82 Frangois Beissel, La creation de l'assurance pension des employes prives,in: Chambre des Employes Prives 1924 - 1974. Cinquantieme aniversaire,(Luxembourg) 1974, S. 165, schreibt zur Alters- und Invalidenversicherung:„Si, au debut de l'assurance le nombre des employes affilies etait assezconsiderable, le plafond annuel de 3.750 fr. etant pour 1'epoque d'avant-guerrerelativement eleve ..."

83 ARBED-Archiv, Karton 7841, Dossier No. 21/53.84 Die Gratifikationen wurden in die Berechnung des Jahresverdienstes

einbezogen.85 Die Abweichung der einzelnen Gehälter von diesem Durchschnittswert

kann auf Grund der Quellenlage nicht berücksichtigt werden. Der angegebeneWert beansprucht nicht die Genauigkeit, die die Zahl vorzugeben scheint, son-dern will nur die Tendenz aufzeigen.

80 1907 wurden in Luxemburg 2 688, 1924 4 286 Angestellte gezählt.87 Cf. Reiffers, L'assurance maladie, S. 186, 189.

42 Zeitschr. t. d. g. Versicherungsw. 4

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Anspruch genommen haben. Für die wachsenden Schwierigkeiten sozia-ler Sicherung der Angestellten war es bezeichnend, daß gerade nach demersten Weltkrieg verschiedene gewerkschaftsähnliche Angestellten-organisationen entstanden, die sich 1920 in dem Vorläufer der heutigenFederation des Employes Prives (FEP) zusammenschlossen, und daßeiner der Schwerpunkte in der Arbeit dieser neuen Organisation die„politique ide defense contre les vicissitudes de la vie: chömage, accident,maladie, vieillesse" war88 .

Doch selbst wenn die Angestelltenausreichende Zugangsmöglichkei-ten zur Sozialversicherung gehabt hätten, wäre dies für sie kaum inter-essant gewesen, da die Geldleistungen aller Versicherungszweige nachdem ersten Weltkrieg völlig unzureichend waren.

In der Krankenversicherung galt dies in erster Linie für das Kranken-und Wochengeld, also für die Barleistungen, die bei Versicherungsfällenmit Arbeitsunfähigkeit gezahlt wurden. Das Krankengeld89 wurde nichtnach dem realen Verdienst berechnet, es existierten dafür sowohl Unter-als auch Obergrenzen. Angesichts der inflationären Geldentwertung isthier nicht das Minimum, sondern das Maximum von besonderem sozial

-geschichtlichen Interesse. Es war von 1902 bis 1918 auf fünf, von 1918bis 1925 auf zehn Francs pro Tag fixiert9°. Diese Beträge ergaben einenIndexwert (1914 = 100) von 100 im Jahre 1914 und von 200 ab 1918 —gegenüber einem Index der Lebenshaltungskosten von 401 (1921) bzw.520 (1925). Das Maximum des für die Berechnung des Krankengeldesausschlaggebenden Lohnes stand auch in keinem sozialpolitisch erträg-lichen Verhältnis zur Lohnentwicklung mehr: Der Index der Durch

-schnittsverdienste in der Eisen- und Stahlindustrie kletterte von 1914 =100 auf 352 (Hochöfen) bzw. 287 (Stahlwerke) bzw. 329 (Walzwerke) imJahre 1921 und auf 450 bzw. 390 bzw. 418 im Jahre 192591. Die nomina-len Lohnsteigerungen dieser Jahre lagen also unter dem Wachstum derLebenshaltungskosten, aber erheblich über dem Höchstsatz, nach demdas Krankengeld berechnet wurde. Die Barleistungen der Krankenver-sicherung, die sowieso nur die Hälfte von maximal fünf bzw. zehnFrancs pro Tag ausmachten, konnten also in keinem Fall den Verdienst

-ausfall ausgleichen, der bei Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheitoder Niederkunft entstand. Das betraf auch die Unfallverletzten, die jabis 1925 in den ersten 13 Wochen nach dem Unfall als „krank" galten

88 Kratochwil, L'employe prive, S. 111, 114; vgl. auch Bericht über dieGründungsversammlung der Privatbeamten von Wiltz vom 23.3. 1924, aus-zugsweise abgedruckt in: ebd., S. 36 f.

89 Kranken- und Wochengeld wurden auf gleiche Weise berechnet. Wennim folgenden von Krankengeld die Rede ist, gilt das also gleichermaßen fürdas Wochengeld.

9° Art. 14 Abs. 4 Gesetz vom 31.7.1901; Art. 1 Gesetz vom 6.2. 1918, in:Memorial 1918, S. 178.

91 Berechnet nach: Annuaire statistique 1960, S. 290.

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und auf die Leistungen der Krankenversicherung angewiesen waren.Ein großer Teil der Krankenkassen erhöhte das Krankengeld zwar perStatut auf 75 Prozent der Berechnungsbasis, konnte damit jedoch auchkeine grundsätzliche Verbesserung herbeiführen. Die großen Hoffnun-gen, daß nach Einführung der Krankenversicherung niemand mehr umAlmosen nachsuchen müsse, sondern einen Anspruch auf ausreichendeVersicherungsleistungen besaß°2, waren von der Geldentwertung auf-gesogen worden. „En resume on peut dire que ... en 1920 l'assure devaitbien souvent quemander en cas de maladie grave, et notamment en casde maladie des membres de sa famille ... " 93 .

Die novellierte Fassung des Artikels 7 der Sozialversicherungsord-nung, die in harter Auseinandersetzung gegen das Votum des Staats-rates durchgesetzt wurde, korrigierte die durch die Inflation hervorge-rufenen Fehlentwicklungen in den Leistungen der Krankenversiche-rung: Der Höchstsatz wurde nicht mehr durch Gesetz, sondern durch einöffentliches Verwaltungsreglement festgesetzt, wobei der Gesetzgeberdie Regierung verpflichtete, daß „les taux des prestations ne pourronttitre inferieurs ä ceux d'avant-guerre multiplies par le nombre-inditeofficiel"94. Dieser Richtlinie sind die Regierungen nach 1925 auch nach

-gekommen.

In der gewerblichen Unfallversicherung richteten sich die Renten inder Regel nach dem wirklichen Jahresverdienst des Unfallverletzten95.Eine einmal festgestellte Rente änderte sich in ihrem Betrag nicht mehr,war also voll einer Geldentwertung ausgesetzt. Die Regierung reagierteim September 1920 auf die Probleme der Altunfallrentner, indem sierückwirkend zum 1. Juli 1920 Zuschüsse zu den Renten bewilligte, diezwischen 1903 und 1919 entstanden waren. Sie betrugen — je nach Un-falldatum und Kinderzahl — zwischen 1096 und 150 Prozent97 des Ren

-tenbetrages98. Diese Zuschüsse waren — im Gegensatz zu den bean-spruchbaren Renten — eine Fürsorgemaßnahme, sie wurden nämlichnur bei Bedürftigkeit gezahlt. Sie galten nur für Rentner der gewerb-lichen Unfallversicherung und wurden aus Steuermitteln finanziert.

92 Vgl. Eyschen, Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 21.6. 1901, in: CR1900/01, S. 1925.

93 Jules Pauly, Un demi-siele de progres social dans l'industrie luxem-bourgeoise, in: Echo de l'industrie 11 (1970), Numero special 1920 - 1970,S. 86; vgl. auch Biever, Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 20. 11. 1925, in:CR 1925/26, S. 87.

94 Gesetz vom 31. 12. 1925, in: Memorial 1925, S. 1005.95 In der land- und forstwirtschaftlichen Unfallversicherung berechneten

sich die Renten nach von der Regierung festgesetzten Durchschnittsverdien-sten, die bis Ende der 1920er Jahre nicht mit der Entwicklung der Lebenshal-tungskosten Schritt hielten.

96 Unfalldatum: 1919, für Rentenempfänger ohne Kinder.97 Unfalldatum: zwischen 1903 und 1915 (90 10/o), bei mindestens fünf Kin-

dern (60 6/o).

42*

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Diese Zuschüsse konnten die höheren Lebenshaltungskosten nicht aus-gleichen, da der Index der Lebenshaltungskosten seit 1914 auf über 400

gestiegen war. Die Forderungen der Ortsgruppe Eich-Dommeldingen des„Internationalen Unfall-Invaliden-Verbandes", vorgebracht in einer Pe-tition an die Abgeordnetenkammer vom 20. Dezember 1924, nach Zah-lung der Rente in Goldwährung und nach Revision sämtlicher Rentenund ihrer Anpassung an die jeweilige Teuerungsrate, war daher ver-ständlich99. Ebenso verständlich war allerdings auch die Stellungnahmeder Versicherungsgenossenschaft dazu, die diese Forderungen ablehnte.Ihre Argumente: Der Reservefonds sei auch nicht in Goldwährung an-gelegt worden und habe eine „depreciation integrale des obligations detoutes especes" zu verzeichnen100. Bei dieser Argumentation muß be-rücksichtigt werden, daß die Versicherungsgenossenschaft auf Grund desin der Unfallversicherung geltenden modifizierten Kapitaldeckungsver-fahrens jede Rente in Form eines Kapitalbetrages zum Zeitpunkt ihrerFälligkeit bereits einmal abgegolten hatte. Eine Revalorisierung desReservefonds entsprechend der Geldentwertung hätte die luxembur-gische Industrie viel Geld gekostet — und zwar in einer Zeit, in der sichnach Luxemburgs Austritt aus dem Zollverein die Eisen- und Stahlindu-strie gegen die belgische Konkurrenz in der 1922 gegründeten Unioneconomique Belgo-luxembourgeoise behaupten und ihr Produktions-programm in der „Wandlungsphase"lol mit erheblichen Investitionenauf dem Weltmarkt umstellen mußte. Deshalb wurden die mit Wirkungvom 1. Januar 1925 fälligen abermaligen Zuschüsse zu den Unfallren-ten, die die von 1920 um ein Drittel erhöhten, ebenfalls aus der Staats

-kasse bezahlt102. Auch diese Zuschüsse konnten keinen Infiationsaus-gleich erzielen und behielten ihren Fürsorgecharakter.

Besonders hart traf die Geldentwertung die Bezieher von Alters- undInvalidenrenten. Diese sollten niemals eine umfassende Sicherung desLebensstandards leisten und waren von Anfang an entsprechend niedrigkonzipiert. Die Grundrenten (180 Francs für Männer, 144 Francs fürFrauen, jeweils pro Jahr) sollten „fournir au moins les ressources neces-saires pour la plus stricte subsistance des pensionnaires, en prenant enconsideration la cherte croissante de la vie domestique dans le Grand-Duche" 103. Ob dieses Ziel mit den genannten Beträgen erreichbar war,wurde bereits 1906 angezweifelt: „Ces subventions seront generalement

98 Ministerialbeschluß vom 11. 9. 1920, in: Memorial 1920, S. 1090 f.99 Propositions du „Internationaler Unfall-Invaliden-Verband", Orts

-gruppe Eich-Dommeldingen, vom 20. 12. 1924. Archiv der Inspection generalede la Securite sociale, Dossier: Assurance sociales. Loi du 17. 12. 1925, Arbeitund soziale Fürsorge Nr. 344.

100 Ebda.101 Vgl. oben Anm. 2.102 Beschluß vom 21. 7. 1925, in: Memorial 1925, S. 459.103 Eyschen, Expose des Motifs vom 24.4. 1905, in: CR 1906/07, Annexes S. 72.

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insuffisantes pour l'entretien d'un menage, de sorte que la commune dudomicile de secours sera obligee de fournir encore un supplement deseccours assez eleve. " 104 In weitaus stärkerem Maße galt diese Bewer-tung für die Renten in der Kriegs- und Nachkriegszeit: Der Durch

-schnittsbetrag der Alters- und Invalidenrenten, die im Jahre 1925 neubewilligt wurden, belief sich auf rund 300 Francs pro Jahrlo 5. Dafürkonnten sich die Rentner 1925 drei Paar Männerschuhe kaufen, die zudieser Zeit rund 100 Francs kosteten10e. Im Jahre 1920 waren die Ver-waltungskosten der Versicherungsanstalt sogar höher als ihre Ausgabenfür Renten und Entschädigungen.

Die meisten Rentner dürften in dieser Zeit auf die kommunale Ar-menunterstützung angewiesen gewesen sein. Weitere Hilfen kamen von

der Versicherungsanstalt. Sie legte von 1921 bis 1924 freiwillig jederInvalidenrente vierteljährlich 50 Francs aus ihren Reserven zu. Ab 1925wurden sämtliche Renten — auch die Altersrenten107 — von der Versiche-rungsanstalt verdoppelt 108. Auch Unternehmen zahlten — z. T. seit 1913— Rentenzuschüsse an ehemalige Betriebsangehörige109. Die ARBED er-höhte z. B. ihre jährlichen Zuschüsse an Invalidenrentner im September1919 auf jährlich 900 (!) Francs, falls die Empfänger zwischen 15 und20 Jahre bei der ARBED gearbeitet hatten110. Der Gesetzgeber refor-mierte die Alters- und Invalidenversicherung schließlich durch eine Ver-dopplung der Rentenbeträge in der Sozialversicherungsordnung, wobeidie Unterschiede zwischen den Renten für Männer und Frauen fort-fielen. Gleichzeitig hob er die Beiträge von 2,1 auf 4 Prozent des Lohnsan111. Angesichts oder sehr viel höheren Geldentwertung und der niedri-gen Kaufkraft auch dieser verdoppelten Rentenbeträge wird die Hal-tung der sozialistischen Abgeordneten Kayser und Krier verständlich,die auch die erhöhten Sätze als „lächerliche Almosen" bezeichnetenl 12.

Die eigentliche Reform, die die Sozialversicherungsordnung in derAlters- und Invalidenversicherung brachte, war die Einführung derHinterbliebenenrenten. Zuvor hatte es lediglich Unterstützungen als Er-

104 Rapport du commissaire de district, Braun, vom 29.9.1906, in: CR1906/07, Annexes S. 187.

105 Vgl. Braun, Luxemburgische Sozialversicherung, Anhang, Tabelle 14.Es versteht sich, daß die vor 1925 bewilligten Renten noch niedriger waren.

106 Annuaire statistique 1960, S. 419.107 Die Altersrenten waren keine Altersruhegelder. Altersrentner mußten

weiterarbeiten, um ihren Anspruch auf Invalidenrente bzw. auf Leistungen anHinterbliebene nicht zu verlieren.

108 Versicherungsanstalt, Geschäftsbericht 1924, S. 4.109 Pauly, Un demi-siècle, S. 87.110 Emil Mayrisch, Avis vom 30. 9. 1919. ARBED-Archiv, Karton 7841, Dos-

sier No. 21/53.111 Art. 28 f., 65 Abs. 1 Gesetz vom 6. 5. 1911; Art. 204 f., 242 Abs. 1 SVO.112 Kayser/Krier, Avis separe vom 5.9.1923, in: CR 1922/23, Annexes

S. 1259.

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662 Michael Braun

satz für ein Sterbegeld gegeben'". Witwen, die selbst invalide warenoder mindestens 'drei Kinder hatten oder mindestens 55 Jahre alt waren,erhielten eine Witwenrente von 50, Waisen von 20 Prozent der Invali-denrente, ohne daß 100 Prozent der Invalidenrente überschritten wer-den konnten114 .

In der von 1913 bis 1925 währenden Reformphase konnten sozialpoli-tisch befriedigende Antworten auf die Folgen der Inflation lediglich inder Krankenversicherung, nicht jedoch in der Unfall- und Alters- undInvalidenversicherung gegeben werden. Diese und neu hinzutretendeProbleme und Aufgaben wurden in der von 1926 bis 1940 (BesetzungLuxemburgs, Einführung der deutschen Zivilverwaltung und der deut

-schen Reichsversicherungsordnung) reichenden Ausbau- und Konsolidie-rungsphase angegangen.

Zur langfristigen Absicherung der Praktikabilität der Krankenver-sicherung stand in diesem Versicherungszweig das Arztwahlsystem imVordergrund. Von Anfang an war den Versicherten die freie Arztwahlgesetzlich zugesichert. Die Krankenkassen konnten zwar Vertragsärztean sich binden, 'die Versicherten konnten jedoch auch andere als dieseVertragsärzte konsultieren. Diese mußten sich dann allerdings an dieTarife halten, die die Kassen mit ihren Vertragsärzten ausgehandelthatten und die somit eine normative Funktion besaßen". „On peutmeme faire venir un professeur de Strassbourg s'il vient au meinetarif. "116 Ebenso alt wie die freie Arztwahl waren die finanziellenSchwierigkeiten, die sich daraus ergaben"": Den Kassen gelang es nicht,finanzierbare Verträge mit den Ärzten abzuschließen, und wenn es Ver-träge gab, so fehlte zumeist eine Kosten-Nutzen-Kontrolle der ärzt-lichen Bemühungen. Ein Arzt konnte z. B. Honorare für eine im Prin-zip unbeschränkte Anzahl von Hausbesuchen liquidieren, solange erpro Hausbesuch nicht mehr anrechnete als vertraglich abgemacht. DenKassen fehlte eine ausreichend starke Verhandlungsposition gegenüberden Ärzten, da sie ärztliche und pharmazeutische Leistungen als Natu-ralleistungen erbringen mußten. Reformmaßnahmen der Sozialver-sicherungsordnung, nach denen notfalls die Arztleistungen in Geldformerbracht und die Versicherten an den Arzt- und Apothekerleistungenbis zu 25 Prozent beteiligt werden konnten11", brachten keine Besserung.

Als „une des pieces maitresses de l'organisation de l'assurance mala-die"un 9 wurde daher der Artikel 3ü8bis 1933 in die Sozialversicherungs-

113 Art. 38 Gesetz vom 6.5. 1911.114 Art. 191 f., 206 SVO.115 Art. 21 Gesetz vom 31.7.1901; Art. 66 SVO.116 Brasseur, Sitzung der Abgeordnetenkammer vom 21.6. 1901, in: CR

1900/01, S. 1943.117 Vgl. Neuman, Arbeiterversicherung in Luxemburg, S. 1 ff.118 Art. 305 f. SVO.

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ordnung eingefügt, der Krankenkassen und Ärzte verpflichtete, ihreBeziehungen ausschließlich durch schriftlichen Vertrag zu reglen. DieseVerträge mußten von einer neuen Schieds- und Schlichtungskommissiongenehmigt werden120, deren Aufgaben und Zusammensetzung — unterstarker Beteiligung der Regierung — 1936 durch entsprechende Aus

-führungsbestimmungen festgelegt wurden121. Ziel des Artikels 308biswar, zwischen Krankenkassen und Ärzten eine Einigungspflicht einzu-führen, die in den Kompetenzen der genannten Kommission den nötigenRückhalt besaß: Deren Entscheide konnten frei ausgehandelte Ver-träge ersetzen. Damit wurde das Verhältnis zwischen Ärzten und Ver-sicherten auf eine ähnliche Grundlage gestellt, wie es sie in der Unfall

-versicherung schon länger gab122, allerdings mit dem entscheidendenUnterschied, daß in der Unfallversicherung die Selbstverwaltungsorganediese Regelungen herbeigeführt hatten, während sie in der Kranken

-versicherung auf die Initiative des Gesetzgebers zurückzuführen waren.

Die Konsolidierung der Unfallversicherung im Sinne einer Festi-gung der ihr zugedachten Funktion setzte nicht bei der Finanzierung,sondern im Leistungsbereich an, da die Folgen der Geldentwertung aufdie Unfallrenten 1925 nicht beseitigt worden waren. Das Gesetz vom21. Juli 1927123, durch das die Unfallrenten rückwirkend zum 1. Januar1927 aufgewertet wurden, besaß gegenüber den Zuschüssen der 1920erJahre entscheidende Unterschiede: Es galt generell, die Erhöhungenwaren also nicht an Bedürftigkeit gebunden, bezogen sich auch auf dieland- und forstwirtschaftlichen Unfallrenten und wurden nicht nurvom Staat, sondern zu 40 Prozent auch von der Versicherungsgenossen

-schaft, also den Arbeitgebern bezahlt. Dies hielt der Gesetzgeber offen-bar für zumutbar, da die Nachkriegskrise in der luxemburgischenWirtschaft überwunden war und die Eisenindustrie 1926 bereits wiedermehr Eisen produzierte als im bisherigen Rekordjahr 1913 124.

Die Renten wurden 1927 aufgewertet, indem die Bemessungsgrund-lage — gestaffelt nach dem Verletzungsgrad — auf 6 000 bis 8 000 Francserhöht wurde125, so daß die Rentner, die am meisten von der Unfall-

119 Reiffers, L'assurance maladie, S. 193; vgl. Armand Kayser, Les relationsentre les medecins et la Securite sociale au Grand-Duche de Luxembourg, in:Revue francaise du Travail 3 (1965), S. 33 f., 38 f.

120 Einziger Artikel Ziff. 13, 39 Gesetz vom 6.9.1933, in: Memorial 1933,S. 695, 701 f.

121 GhB vom 30.5. 1936, in: Memorial 1936, S. 651 - 657.122 Vgl. Versicherungsgenossenschaft, gewerbl. Abt., Geschäftsbericht 1930,

S. 21.123 In: Memorial 1927, S. 533 - 535.124 Gilbert Trausch, Le Luxembourg ä 1'epoque contemporaine (= Manuel

d'histoire luxembourgeoise, t. IV), Luxembourg 1975, S. 144.125 Vgl. auch Andre Thill, Esquisse de l'evolution de l'Assurance-accidents

industrielle et de l'Assurance-Vieillesse-Invalidite, in: CinquantenaireChambre du Travail, (Luxembourg 1974), S. 129.

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rente abhängig waren, fortan die höchsten Renten erhielten. Obwohlauch diese Rentenerhöhung keinen Inflationsausgleich brachte, ver-stand sich der Gesetzgeber erst ab 1. April 1938 zu einer weiteren Erhö-hung um 30 Prozent126. Auch diese Zuschüsse wurden zu 60 Prozent ausSteuergeldern und zu 40 Prozent von Aden beiden Abteilungen der Ver-sicherungsgenossenschaft finanziert.

Der Ausbau der Versicherungsleistungen bezog sich auf die Ausdeh-nung des Unfallbegriffs auf die Wegeunfälle durch das Gesetz vom6. September 1933 127. Die Kritik der Versicherungsgenossenschaft andiesem Ausbau der Versicherungsleistungen zu dieser Zeit verhalltenicht ungehört: Er trat erst 1936 in Kraft 128. Als nach dem Scheitern des„Maulkorbgesetzes" der Sozialist Pierre Kris°r als Arbeitsminister Re-gierungsmitglied geworden war, wurden die Wegeunfälle jedoch zu-mindest teilweise rückwirkend ab 1933 entschädigungspflichtig 129. Mitder Einbeziehung der Berufskrankheiten in den Unfallbegriff verlordieser seinen Charakter, ein nur mit Plötzlichkeit eintretendes Ereigniszu bezeichnen. Auf der Basis der Sozialversicherungsordnung 13o wur-den ab 1928 drei, ab 1939 weitere sieben Gruppen von Berufskrank-heiten in die Unfallversicherung einbezogen131 .

In der Alters- und Invalidenversicherung ergaben sich zwar keinefinanziellen Probleme derart, daß die Renten nicht mehr ausgezahltwerden konnten, allerdings mußte die Versicherungsanstalt seit 1931z. T. erhebliche versicherungstechnische Defizite ausweisen: Ihre Ein

-nahmen reichten aufgrund der rückläufigen Beschäftigtenzahl (vor-nehmlich bei Ausländern) und des sinkenden Lohnniveaus bei gleich-

zeitig verstärkter Inanspruchnahme der Invalidenrente nicht mehr aus,um die anfallenden Alters- und Invalidenrenten nach dem vorgeschrie-benen Kapitaldeckungsverfahren und die Hinterbliebenenrenten nachdem Anwartschaftsdeckungsverfahren abzu'sichern 132. Die Beitragserhö-hungen auf fünf (1935) bzw. sechs Prozent (1939) 113 erwiesen sich alsungenügend, 7,6 Prozent wären nötig gewesen134.

Während also in der Finanzierung der Alters- und Invalidenversiche-rung Konsolidierungsmaßnahmen ergriffen wurden, ohne daß aktuelleLiquiditätsschwierigkeiten bestanden, erwiesen sich im Leistungsbereich

126 Gesetz vom 27. 7. 1938, in: Memorial 1938, S. 821 f.127 Einziger Artikel Ziff. 17 Gesetz vom 6.9. 1933.128 GhB vom 22. 8. 1936, in: Memorial 1936, S. 1121 f.19 Gesetz vom 13. 3. 1939, in: Memorial 1939, S. 195 f.130 Art. 94 SVO.131 GhB vom 30.7. 1928 (in: Memorial 1928, S. 693 f.) und vom 31. 3. 1939 (in:

Memorial 1939, S. 244 - 246).132 Vgl. Versicherungsanstalt, Geschäftsbericht 1933, S. 14 - 17.13 GhB vom 31.12. 1934 (in: Memorial 1934, S. 1185), vom 28.12.1936 (in:

Memorial 1936, S. 1395 f.), vom 31. 12. 1938 (in: Memorial 1938, S. 1368).134 Versicherungsanstalt, Geschäftsbericht 1939, S. 7.

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zusätzliche Regelungen als notwendig, um die auch nach der Sozialver-sicherungsordnung gegenwärtigen unzureichenden Renten zu erhöhen.Das Gesetz, das hier im Mittelpunkt stand, das vom 20. November 1929,leistete mehr, als sein Titel „portant revalorisation des rentes de vieil-lesse et d'invalidite "

135 erschließen läßt. Es verkürzte nicht nur dieWartezeiten für Invalidenrenten um ca. ein halbes und für Altersrentenum ca. ein Jahr, es führte vielmehr auch ein neues Rentenberechnungs-system ein. Dabei fielen besonders zwei Neuerungen auf: Der Staats-anteil, der zuvor ein Drittel der Grundrente betragen hatte, war nunnicht mehr Bestandteil der Renten, sondern wurde von diesen getrenntin Form von Zuschüssen ausgezahlt. Darüber hinaus wurden diese Zu-schüsse flexibel gestaltet (zwischen 250 und 800 Francs jährlich, wobeiRenten über 8 000 Francs pro Jahr ohne Staatszuschuß blieben) und er-hielten so einen zuvor unbekannten, die erworbenen Rentenansprüchenivellierenden Charakter. Außerdem — und dies war die wichtigsteNeuerung — schrieb der Gesetzgeber die dem individuellen Durch

-schnittsverdienst entsprechende Rente nicht mehr in absoluten Zahlen(und damit höchst inflationsgefährdet) im Gesetz fest, sondern band sieprozentual an diese Bemessungsgrundlage. Der dabei gewählte Satzvon 25 Prozent stellte gleichzeitig eine deutliche Verbesserung der Ver-sicherungsleistungen dar. Auch auf Grund anderer Maßnahmen, vorallem der rechnerischen Aufwertung -der zwischen 1912 und 1925 ver-dienten Löhne, die bis dahin mit einem nur nominal niedrigen Satz indie Berechnung des Durchschnittsjahresverdienstes eingingen, ungefährauf das Lohnniveau von 1926 118, erhöhten sich die Renten durch dasGesetz von 1929 erheblich"':

Durchschnittlicher Betrag der neu zuerkannten Renten (in Francs/Jahr)

Altersrenten Invalidenrenten

1926 -1928 795 774

1930 - 1939 3 528 3 469

Durchschnittlicher Betrag der neu zuerkannten Renten, in Prozent desDurchschnittsverdienstes eines Walzwerksarbeiters

Altersrenten Invalidenrenten

1926 - 1928 6,2 6,1

1930 - 1939 25,1 24,8

135 Gesetz vom 20. 11. 1929, in: Memorial 1929, S. 1010 - 1017.1313 Das arithmetische Mittel der mit den Aufwertungsfaktoren des Ge-

setzes von 1929 multiplizierten durchschnittlichen Jahresverdienste einesWalzwerksarbeiters (Quelle: Annuaire statistique 1960, S. 290) der Jahre1914 -1925 entspricht dem durchschnittlichen Jahresverdienst eines Walz-werksarbeiters im Jahre 1926.

137 Berechnet nach: Braun, Luxemburgische Sozialversicherung, Anhang,Tabelle 14.

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Das neue Rentenberechnungssystem einschließlich der Aufwertungdes Durchschnittsjahresverdienstes galt — hier gingen Konsolidierungund Ausbau Hand in Hand — rückwirkend für alle ab 1926 neu zuer-kannten Renten. Die vor 1926 bewilligten Renten setzte der Gesetzgeberauf das Dreifache des ursprünglichen, nach demGesetz von 1911 berech-neten Betrages fest. Darüber hinaus erhielten alle vor Ende 1929 bewil-ligten Renten einen in der Höhe nach dem Bewilligungszeitpunkt aus

-gerichteten Zuschuß, der sowohl aus Mitteln der Versicherungsanstaltals auch aus Steuergeldern finanziert wurde.

Durch die respektable Rentenerhöhung im Gefolge des ab Ende 1929geltenden Berechnungssystems dürften zumindest die Altersrenten erst-mals in der Geschichte der luxemburgischen Altersversicherung einerSicherung des Existenzminimums nahegekommen sein. Überträgt mandie für Deutschland ermittelte Tatsache, daß ein Arbeiter Ende der1930er Jahre etwa 50 Prozent seines durchschnittlichen Einkommensaufwenden mußte, um die Kosten des alltäglichen Lebensmittelbedarfszu decken138, auf Luxemburg und stellt dabei in Rechnung, daß diePersonenzahl in den Haushalten oder Altersrentner in der Regel zweibetrug, da die Kinder aus dem Familienverband ausgeschieden waren,und daß der Index der Lebenshaltungskosten von 1929 bis 1935 starkabfiel und auch 1939 noch weit unter dem Wert von 1929 lag 139, so kannmit einiger Sicherheit gefolgert werden, daß ein Altersrentner mit einerRente in Höhe von 25 Prozent des Durchschnittsverdienstes eines Walz

-werksarbeiters zumindest den Lebensmittelbedarf seines Haushaltsdecken konnte. Da Invalidität auch vor Beginn des 66. Lebensjahreseintreten konnte und die Invalidenrenten daher auch geringfügig nied-riger als die Altersrenten waren, kann der gleiche Schluß für Invaliden-rentner nur mit größter Vorsicht gezogen werden. In keinem Fall stell-ten die Alters- und Invalidenrenten eine umfassende materielle Siche-rung des Lebensabends bzw. der Invalidität dar. Die Kosten für anderelebensnotwendige Güter neben den Lebensmitteln (Kleidung, Woh-nung) konnten im Durchschnitt kaum mit den Renten finanziert wer-den. Trotz der Verdreifachung ihrer Renten waren davon besondersdie Rentner betroffen, deren Renten vor 1926 zuerkannt worden warenund die daher nicht in den Genuß der rechnerischen Aufwertung derDurchschnittsjahresverdienste gekommen waren. Für sie waren haupt-sächlich die fürsorgeähnlichen Zuschüsse gedacht, die ab 1938 gezahltwurden'Uo.

138 Gladen, Geschichte der Sozialpolitik, S. 109.139 Vgl. Annuaire statistique 1960, S. 411.140 Vgl. GhB vom 27. 12. 1937, in: Memorial 1937, S. 887 - 890; vgl. auch ebda.,

S. 891 - 896; Gesetz vom 29. 1.2. 1938, in: Memorial 1938, S. 1365 f.; Gesetz vom23. 12. 1939, in: Memorial 1939, S. 1127 f.

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Mit einem Gesetz, das sich ebenfalls sowohl unter dem Stichwort„Konsolidierung" als auch unter „Ausbau" einordnen läßt, schuf dieAbgeordnetenkammer den vierten Zweig der luxemburgischen Sozial

-versicherung, die Pensionsversicherung für Angestellte. Es datiertevom 29. Januar 1931 141 und wies somit gegenüber Deutschland das 20-jährige time-lag auf, das auch das erste Krankenversicherungsgesetzvon 1901 besaß 142. Die Konsolidierung bestand darin, daß für die Ange-stellten, die wegen unzureichender Anpassung der Versicherungspfiicht-grenzen aus der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter heraus-gefallen waren, nun eine neue Versicherungsmöglichkeit geschaffenwurde. Der Ausbau schlug sich nicht nur in den höheren Leistungen(und Beiträgen) der Pensionsversicherung nieder, sondern auch darin,daß für die Angestellten eine separate Versicherung gegründet wurde.Mit ihrer zahlenmäßigen Zunahme als Folge der Entwicklung des ter-tiären Wirtschaftssektors und der wachsenden Verwaltungsaufgabenauch in den anderen Wirtschaftsbereichen' 43 und aus der Erfahrungheraus, von der Inflation während des ersten Weltkrieges zumindestnicht weniger als die Arbeiter betroffen worden zu sein144, entwickeltendie Angestellten ein vor allem gegenüber den Arbeitern abgegrenztesSonderbewußtsein145. Das äußerte sich nicht nur in der Forderung nacheiner separaten Berufskammer146, die sie 1924 auch erhielten147, sondernauch in dem Wunsch nach einer eigenen Altersversicherung mit höherenLeistungen als in der Arbeiterversicherung und — das war ein sehrwichtiges Verlangen — mit ausreichender Witwenpension ohne Bedarfs

-voraussetzungen148.

In der Pensionsversicherung waren alle Angestellten versichert, eineVersicherungspflichtgrenze gab es nicht. Minimum bzw. Maximum derBeitragsbemessungsgrenze lagen bei 7 200 bzw. 40 000 Francs/Jahr149 .

141 Gesetz vom 29. 1. 1931, in: Memorial 1931, S. 243 - 276. Es trat am 1.6. 1931in Kraft. Vgl. GhB vom 29.5. 1931, in: Memorial 1931, S. 399.

142 Erstes Krankenversicherungsgesetz in Deutschland: 1883, erste separateAltersversicherung für Angestellte: 1911. Vgl. Gladen, Geschichte der Sozial-politik, S. 60 ff., 87.

143 Eine historische Analyse der Entwicklung der Angestellten in Luxem-burg steht noch aus. Vgl. jedoch Raymond Kirsch, La revolution tertiaire etla montee des „cols blancs" au Luxembourg, in: Chambre des Employes pri-ves 1924 - 1974. Cinquantieme Anniversaire, (Luxembourg) 1974, S. 197 - 218;Kratochwil, L'employe prive, S. 102, 107 - 110.

144 Vgl. Gilbert Trausch, Contributions ä 1'histoire sociale de la questiondu Luxembourg 1914 - 1922, in: Hemecht 1 (1974), S. 16.

145 Vgl. die Haltung der Federation des Employes Prives (FEP) zu denStreiks von 1921, in: Kratochwil, L'employe prive, S. 115 f.

146 Theo Wiltgen, La Chambre des Employes prives, in: Chambre desEmployes prives 1924 - 1974. Cinquantieme Anniversaire, (Luxembourg) 1974,S. 46.

147 Vgl. Gesetz vom 4.4. 1924, in: Memorial 1924, S. 257 - 278.148 Vgl. Beissel, La creation de 1'assurance pension, S. 165 f.

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Im Durchschnitt der Jahre 1931-1939 waren in diesem Versicherungs-zweig 6 700 Angestellte versichert, die zur Hälfte (Durchschnitt 1931 bis1939) aus dem tertiären Sektor kamen (Handel, Banken und Versiche-rungen). Die Angestellten aus der Groß- und Mittelindustrie stelltenrund 38 Prozent der Versicherten 150. Der Beitrag, je zur Hälfte vonVersicherten und Arbeitgebern getragen, betrug zehn Prozent151 .

Diesem höheren Beitrag standen bessere Leistungen als in der Arbei-terversicherung gegenüber. Für die Angestellten galt nicht die Arbeits-,sondern die „Standesinvalidität"

152. Die Altersgrenze betrug 60 Jahre,war dann allerdings aus arbeitsmarktpolitischen Gründen mit dem Ver-bot weiterer Berufstätigkeit verbunden, ansonsten 65 Jahre153. DerDurchschnittsbetrag der Pensionen (ohne Staatszuschuß), die nach Ab-lauf der fünfjährigen Wartezeit, also in den Jahren 1936 bis 1939 neuzuerkannt wurden, betrug 6 955 Francs/Jahr bei den Alters- und 5 970Francs/Jahr bei den Invalidenpensionen, wobei es allerdings erheblicheSchwankungen gab 154. Die genannten Beträge (ohne Staatszuschuß)lagen erheblich über den Renten (incl. Staatszuschuß), die zwischen 1936und 1939 von der Arbeiterversicherung neu bewilligt worden waren:um 83 Prozent über den Alters- und um 65 Prozent über den Invaliden-renten. Die Leistungen der Pensionsversicherung haben somit im Durch

-schnitt zwar ein Existenzminimum, nicht aber den Lebensstandardsichern können: Schließlich machten zwischen 1936 und 1939 die Durch

-schnittsbeträge sämtlicher am Jahresende laufenden Pensionen bei denAlterspensionen ca. 27 und bei den Invalidenpensionen ca. 24 Prozentdes beitragsfähigen Gehalts aus155 .

Den pensionierten Angestellten standen die gleichen nach Pensions-höhe gestafftelten Staatszuschüsse zu wie den Alters- und Invaliden-rentnern. Da die Pensionen im Durchschnitt jedoch sehr viel höherwaren als die Renten, machte der Staatsanteil an den gesamten Pen-sionsleistungen im Durchschnitt der Jahre 1932 -1939 lediglich 4,1, anden Renten aus der Alters- und Invalidenversicherung dagegen 22,3Prozent aus. Hier wird deutlich, daß der Staat aus sozial- und gesell

-schaftspolitischen Gründen die Arbeiter sehr viel stärker unterstützteals die Angestellten.

149 Art. 3 Abs. 2 Gesetz vom 29.1. 1931; GhB vom 29.5.1931, in: Memorial1931, S. 400.

150 Berechnet nach: Statistiques economiques luxembourgeoises, Aoüt1949, S. 194.

151 Art. 44 Gesetz vom 29. 1. 1931.152 Vgl. Beissel, La creation de l'assurance pension, S. 170 f.; Nicolas Kuf-

fer, Memoire sur l'assurance-pension des employes prives vom 9.5. 1928, in:CR 1929/30, Annexes S. 269 - 271.

153 Art. 9 Abs. 3, 4 Gesetz vom 29. 1. 1931.154 Vgl. Geschäftsberichte des Trägers der Pensionsversicherung, der Caisse

de pension des employes prives, der Jahre 1936 - 1939.155 Vgl. Braun, Luxemburgische Sozialversicherung, Anhang, Tabelle 18.

Page 27: Die Sozialversicherung in Luxemburg 1897–1940 Gesetzgebung und soziale Wirklichkeit

Die Sozialversicherung in Luxemburg 1897 - 1940 669

Das erste Krankenversicherungsgesetz und damit die ersten Anfängeder luxemburgischen Sozialversicherung datieren aus dem Jahre 1901und lagen damit in der zweiten Hälfte des Industrialisierungsprozessesim Großherzogtum. Die Sozialversicherung entwickelte sich bis 1940,dem Zeitpunkt, an dem die luxemburgischen Gesetze von der deutschenBesatzungsmacht abgeschafft und — mit einigen Modifikationen —durch die deutschen ersetzt wurden, in drei Phasen: In der Einführungs-phase (Ende 19. Jahrhundert bis 1911/12) entstanden die drei Zweigeder Sozialversicherung: Kranken-, Unfall- (mit je einer Abteilung fürden gewerblichen und den land- und forstwirtschaftlichen Bereich) undAlters- und Invalidenversicherung. Geldentwertung, mangelnde inhalt-liche Abstimmung der einzelnen Versicherungszweige aufeinander unddie Zersplitterung der Einzelgesetze führten in einer vom ersten Welt-krieg unterbrochenen Reformphase (1913 bis 1925/26) zur Verabschie-dung der Sozialversicherungsordnung (1925). Die Einführung der Hin

-terbliebenenversicherung war die wichtigste Neuerung dieses Gesetz-gebungswerks. Die als Folge der Geldentwertung massiv auftretendensozialpolitischen Probleme konnten in dieser Phase nur in der Kran

-kenversicherung behoben werden. In einer Konsolidierungs- und Aus-bauphase (1926 - 1940) wurden mit der Normalisierung der wirtschaft-

lichen Entwicklung in Luxemburg auch die sozialen Probleme mit sehrviel größerem Erfolg als zuvor angegangen und Leistungen vor allemin der Unfall- und Alters- und Invalidenversicherung verbessert. Dazugehörte auch die neue Pensionsversicherung für Angestellte (1931) alsvierter Zweig der Sozialversicherung.

Die Renten aus der Alters- und Invalidenversicherung, nach demersten Weltkrieg z. T. auch aus der Unfallversicherung reichten imDurchschnitt kaum für die Sicherung eines Existenzminimums aus. DiePensionen für die Angestellten konnten im Durchschnitt zwar ein Exi-stenzminimum, aber keinen finanziell sorglosen Lebensabend gewähr-leisten. Dennoch stellte die Sozialversicherung einen großen Fortschrittgegenüber der Zeit dar, als es sie noch nicht gab. Anderen Vorsorge

-möglichkeiten, namentlich der Privatversicherung, blieb jedoch ein wei-tes Betätigungsfeld.