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HEINZ-WERNER NÖRENBERG ERWIN WOLFF (1897-1966) Mit liebevollen und einfühlsamen Worten hat Wolfgang Schadewaldt in sei- nem schönen Nachruf auf Erwin Wolff diesen Gelehrten als Lehrer und sein wis- senschaftliches Werk, das im Vergleich zu manchen Publikationslisten anderer Philologen eher bescheiden zu nennen ist, gewürdigt.' Hier mögen nun einige Erinnerungen aus meiner Studienzeit an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt hinzukommen, die mir unvergessen sind, war Erwin Wolff doch neben Hermann Langerbeck und Helmut Rahn der Fachvertreter für Latein, der mich durch seine Persönlichkeit in besonderer Weise anzog. Allerdings gab es am Frankfurter Seminar für Klassische Philologie zu Beginn der 60er Jahre ohnehin eine nicht so strenge Trennung zwischen den beiden alten Sprachen, wie es andernorts durchaus üblich zu sein pflegt. Und so hatte ich das große Glück, Erwin Wolff auch als Gräzisten erleben zu dürfen, der auf eine faszinierende Art uns Studenten große Autoren griechischer Literatur der klassischen Zeit nahezubringen verstand und damit auf das glücklichste die Veranstaltungen des damaligen Frankfurter Gräzisten Harald Patzer, meines späteren Doktorvaters, ergänzte. Wohl nicht zufällig decken sich die Themen der bei Erwin Wolff besuchten Vorlesungen und Semi- nare 2 beinahe vollständig mit dem kleinen Katalog seiner Schriften, die Schadewaldt in dem genannten Nekrolog zitiert, in dem, für Erwin Wolff als Latinisten ganz bezeichnend, die Veröffentlichungen zu griechischen Autoren gegenüber den beiden Arbeiten zu Vergil und Tacitus, die freilich in der Forschungsgeschichte ihren festen Platz gefunden haben, überwiegen, spiegelt sich doch auch darin nach außen die tiefe Vertrautheit mit dieser reichen Literatur als dem unverzichtbaren Fundament wider, auf dem die lateinische Philologie, jedenfalls wie Erwin Wolff sie verstand und praktizierte, ruht. Freilich verlangte Wolff auch von den soge- nannten 'Nur-Lateinern', die Griechisch nicht als eigenes Fach studierten, solche Kenntnisse im Bereich der griechischen Literatur und war allenfalls bereit, wenn es um das Übersetzen ging, Konzessionen zu machen. Da Wolffs Personengedächtnis nicht allzu gut ausgeprägt war, konnte es schon einmal vorkommen, daß jemand, der sich nicht gut genug vorbereitet hatte und in einer Seminarsitzung beim Über- 1 Gnomon 39, 1967, 319-320. 2 SS 1960: Vergils Georgica (Vorlesung); WS 1960/61: Herodot (Proseminar); WS 1961/ 62: Vergils Aeneis (Vorlesung); WS 1962/63: Einführung in Sophokles (Vorlesung); SS 1965: Die griechische Elegie, eine Vorlesung, in der die Behandlung des Theognis, eines von Wolff besonders geschätzten Autors, einen der vielen Schwerpunkte bildete.

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HEINZ-WERNER NÖRENBERG

ERWIN WOLFF (1897-1966)

Mit liebevollen und einfühlsamen Worten hat Wolfgang Schadewaldt in sei­nem schönen Nachruf auf Erwin Wolff diesen Gelehrten als Lehrer und sein wis­senschaftliches Werk, das im Vergleich zu manchen Publikationslisten anderer Philologen eher bescheiden zu nennen ist, gewürdigt.' Hier mögen nun einige Erinnerungen aus meiner Studienzeit an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt hinzukommen, die mir unvergessen sind, war Erwin Wolff doch neben Hermann Langerbeck und Helmut Rahn der Fachvertreter für Latein, der mich durch seine Persönlichkeit in besonderer Weise anzog. Allerdings gab es am Frankfurter Seminar für Klassische Philologie zu Beginn der 60er Jahre ohnehin eine nicht so strenge Trennung zwischen den beiden alten Sprachen, wie es andernorts durchaus üblich zu sein pflegt. Und so hatte ich das große Glück, Erwin Wolff auch als Gräzisten erleben zu dürfen, der auf eine faszinierende Art uns Studenten große Autoren griechischer Literatur der klassischen Zeit nahezubringen verstand und damit auf das glücklichste die Veranstaltungen des damaligen Frankfurter Gräzisten Harald Patzer, meines späteren Doktorvaters, ergänzte. Wohl nicht zufällig decken sich die Themen der bei Erwin Wolff besuchten Vorlesungen und Semi­nare2 beinahe vollständig mit dem kleinen Katalog seiner Schriften, die Schadewaldt in dem genannten Nekrolog zitiert, in dem, für Erwin Wolff als Latinisten ganz bezeichnend, die Veröffentlichungen zu griechischen Autoren gegenüber den beiden Arbeiten zu Vergil und Tacitus, die freilich in der Forschungsgeschichte ihren festen Platz gefunden haben, überwiegen, spiegelt sich doch auch darin nach außen die tiefe Vertrautheit mit dieser reichen Literatur als dem unverzichtbaren Fundament wider, auf dem die lateinische Philologie, jedenfalls wie Erwin Wolff sie verstand und praktizierte, ruht. Freilich verlangte Wolff auch von den soge­nannten 'Nur-Lateinern', die Griechisch nicht als eigenes Fach studierten, solche Kenntnisse im Bereich der griechischen Literatur und war allenfalls bereit, wenn es um das Übersetzen ging, Konzessionen zu machen. Da Wolffs Personengedächtnis nicht allzu gut ausgeprägt war, konnte es schon einmal vorkommen, daß jemand, der sich nicht gut genug vorbereitet hatte und in einer Seminarsitzung beim Über-

1 Gnomon 39, 1967, 319-320. 2 SS 1960: Vergils Georgica (Vorlesung); WS 1960/61: Herodot (Proseminar); WS 1961/

62: Vergils Aeneis (Vorlesung); WS 1962/63: Einführung in Sophokles (Vorlesung); SS 1965: Die griechische Elegie, eine Vorlesung, in der die Behandlung des Theognis, eines von Wolff besonders geschätzten Autors, einen der vielen Schwerpunkte bildete.

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setzen jämmerlich Schiffbruch erlitt, nachdem Wolff ihn mit an den Namen entlang­streichendem Finger herausgepickt hatte, nur zu sagen brauchte: "Entschuldigen Sie bitte, Herr Professor, aber eigentlich studiere ich gar kein Griechisch und bin nur aus Interesse an diesem Werk (oder Autor) hier", um dann noch von Erwin Wolff im höchsten Maß wegen seines Engagements gelobt zu werden. So gesche­hen z. B. im Wintersemester 1960/61 in dem Proseminar zu Herodot, in dem Wolff einen damals schon in einem höheren Semester stehenden Studenten, der später sogar Assistent am Seminar für Alte Geschichte wurde, übersetzen lassen wollte.

Zum Schmunzeln gab es auch sonst Anlaß in diesem Proseminar, da es im 'Großen' und 'Kleinen Übungsraum' des Frankfurter Seminars allein den Lehr­kräften erlaubt war zu rauchen und Wolff dieses Privileg auf unnachahmliche Weise zelebrierte. So holte er etwa nach 20 Minuten seines in die 'heutige' Ver­anstaltung einleitenden Vortrags ein silbernes Zigarettenetui heraus, um es zu­nächst vor sich auf den Tisch zu legen, natürlich ohne seinen Vortrag zu unterbre­chen. Als nächstes Utensil gesellte sich zu dem Etui ein Taschenmesser, und dann - der Vortrag ging ständig weiter - wurde das Etui geöffnet, Wolff entnahm ihm eine Zigarette, drittelte sie sorgfältig mit dem Messer, legte zwei Drittel der Zi­garette in das Etui zurück, kramte eine silberne Zigarettenspitze aus einer seiner Jackentaschen, steckte das erste Drittel der Zigarette hinein, suchte - ganz beiläu­fig - lange nach seinen Streichhölzern, entzündete endlich die Zigarette und rauchte genüßlich, während der Seminarbetrieb nicht abriß und wir natürlich gespannt Wolffs Zeiteinteilung verfolgten, da sich das letzte Drittel der Zigarette auf diese Weise auch erst dann in Rauch und Asche verwandelt hatte, als sich die übliche Zweistundenzeit des Seminars ihrem Ende näherte. Zu mehr als zu einer Zigarette reichte allerdings bei dieser streng ablaufenden Prozedur die Zeit einer Seminar­sitzung nicht.

Auch der erste Eindruck von diesem Latein-Professor im Sommersemester 1960 - vor nunmehr 30 Jahren - , als Wolff über Vergils Georgica las, ist mir noch deutlich in Erinnerung. Klein von Gestalt und vom äußeren Erscheinungsbild her unauffällig gekleidet, betrat er mit einem Sonnenhut aus Stroh den Hörsaal D im Hauptgebäude der Universität, in dem damals die Vorlesungen stattfanden. Wolff trug mit leiser Stimme vor, häufig ohne schriftlich ausgearbeitetes Konzept, manchmal nur mit einer aus ihrer Ausgabe herausgelösten Textseite, die schon ein wenig vergilbt und am Rand abgegriffen und eingerissen war, in der Hand. Dabei be­diente er sich einer Sprache, die nicht nur durch ihren leisen Tonfall zu fesseln vermochte, sondern sich auch durch gedankliche Klarheit in einer Konzeption auszeichnete, in der Wolff weit auszuholen verstand und von der griechischen Literatur über die des Mittelalters - Dante war einer seiner Lieblingsautoren - bis hin zur europäischen Moderne die großen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge herausarbeitete. Wir Anfangssemester waren häufig von der Agilität und dem reichen Fundus dieses "in pausenloser Denkarbeit aus der innersten Präsenz eines weit über die Antike hinausreichenden Wissens tätigen Geistes, der so auch auf

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eine unkonventionelle Art Lehrer war",3 überfordert - und fasziniert. Freilich ging zuweilen auch der in dem Hörsaal zunächst vorhandene Kontakt zwischen Wolffund seinen kaum mehr als 20 bis 30 Zuhörern verloren, wenn sich der Blick des Vortragenden, einem Gedanken nachhängend, vom Auditorium löste und aus dem Fenster verloren in die Weite abschweifte, die Stimme immer noch leiser wurde und sich schließlich nur noch unhörbar die Lippen bewegten, bis Wolff in die Gegenwart des Hörsaals zurückfand und den roten Faden seines Vortrags wieder aufnahm.

Da Wolff durch seine Krankheit in den folgenden Jahren zusehends schwä­cher wurde, begleitete ihn seine Gattin nach der Emeritierung immer häufiger in die Universität, denn die Anfahrt von seiner Wohnung in Bödigheim, einem im südöstlichen Odenwald gelegenen kleinen Dorf, war für ihn recht beschwerlich. Es war rührend mitanzusehen, wie Frau Wolff ihren Mann im Winter aus einem langen Schal wickelte, seinen Mantel auf einen altmodischen Kleiderständer aus Holz mit vier gußeisernen Füßen und Haken hängte und ihren Gatten behutsam zum Katheder führte, wo er dann seine Vorlesung hielt, während sie in der letzten Reihe des Hörsaals sitzend und meist strickend das Ende der Veranstaltung ab­wartete, um ihn dann genauso sorgfältig und liebevoll wieder anzuziehen und hinauszubegleiten.

Wie Erwin Wolff es als Lehrer verstand, seine Studenten zugleich mit dem philologischen Gegenstand seiner Veranstaltung vertraut zu machen und dabei auch kritisch die Forschungssituation, deren aktuellen Stand er freilich kaum noch wahrnahm, - beinahe beiläufig, und doch durch seine bildhafte Sprache überaus einprägsam - aufzuarbeiten, will ich an Hand einiger Notizen aus dem Winter­semester 1962/63 über Wolffs 'Einführung in Sophokles' deutlich zu machen versuchen. Dabei kommt es mir weder auf Vollständigkeit in der Wiedergabe von Wolffs Ausführungen noch auf eine lückenlose und kritisch wertende Darstellung des Sophoklesbildes in der damals, zu Beginn der 60er Jahre, noch vorwiegend deutschen Forschung an, so, wie Wolff sie darstellte, sondern ich möchte in eini­gen Streiflichtern exemplarisch nur das hervorheben, was mir für Wolffs Umgang mit seinem Autor besonders charakteristisch zu sein scheint.

Das Zentralproblem jener Einführungsvorlesung war Sophokles' Religion, und Wolff stellte uns die Einzigartigkeit dieses genialen Tragikers in einem be­eindruckenden, romantisierenden Bild vor Augen: die großartige Kuppel des (rö­mischen) Pantheon sei der Bau des sophokleischen Dramas, der blutrote Porphyr des Bodens die blutende Seele seines Helden und die Sonne, die durch die Kuppel­öffnung bricht, Sophokles selbst. Gleich anschließend, noch ehe wir Zeit hatten, dieses unerwartete Bild auf uns wirken zu lassen, wies Wolff, ganz pragmatisch, auf den großen Sophokleskommentar von Richard C. Jebb, dem Meister der Einzel-

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Interpretation, hin und auf dessen Antipoden, Gilbert Murray, den großen Aischylos-und Euripidesverehrer, der mit Sophokles nun gar nichts anzufangen wußte. Euripides als 'Vater des hellenistischen Geistes' - das Bild des Vaters war eine Lieblings­metapher Wolffs - war expansiv und leistungsfähig, und dem entsprach seine Protesthaltung gegen das Oeiov. An dieser Stelle bot sich natürlich ein Exkurs über Karl Reinhardts 'Die Sinneskrise bei Euripides'4 an, und so hatte Wolffeine Folie, vor deren Hintergrund er Sophokles als den OeoöiXeGiaxov der Antike abheben konnte. Sein Fazit: Sophokles passe einfach nicht zu den beiden anderen Tragikern, und man übe daher bei ihm die 'Taktik des Verschweigens'. Damit war Wolff bei Arthur Schopenhauer, kam dann aber wieder rasch über Pohlenz, Wein­stock und Lesky5 zu Karl Reinhardt zurück, um zu zeigen, daß Reinhardts Sophoklesbild seltsame Lücken habe; so läßt Reinhardt in seiner Sophokles­darstellung6 die Chorlieder ganz aus, obwohl doch der Chor eine 'ungeheuer wichtige' Funktion im Drama habe, da er von allen Beteiligten noch am meisten in die göttlichen Beziehungen eingeweiht und vom tragischen Geschehen am wenigsten betroffen sei; überdies hebe er z.B. im Kommos die Isolierung auf, die zwischen Skene und Orchestra bestehe, indem er sie durchbricht. Im Kommos fühle sich der Held somit nicht mehr einsam, da er mit dem Chor vereinigt sei, und könne sich so den Weg zu einer logischen, geisterfüllten Rechenschaftsabgabe vor sich selbst brechen. Bei Sophokles stelle der Chor immer zugleich auch die Verbindung zu den Göttern her. Ebenso kämen bei Reinhardt die Epiloge, die Ausklänge sophokleischer Dramen, nicht zu ihrem vollen Recht: "Sophokles war auch ihm ein Rätsel. Wie konnte er an diese Götter glauben!" Von hier war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Wilamowitz und Erwin Rohde als den 'Vätern der Krise um Sophokles'.

Daß diese Krise ihre Wurzeln bereits in der Antike hatte, zeigte uns dann sehr rasch ein kurzer Überblick über zeitgenössische Meinungen zu Sophokles und dessen Wirken auf spätere Autoren, hier zunächst auf Piaton, der sich Sophokles nach Wolffs Meinung sehr verbunden fühlte. Und so brachte Wolff dieses Ver­hältnis auf die griffige Formel: Sokrates und Sophokles waren die Leuchttürme in der (sc. religiösen) Krise; denn bei Sophokles habe man den Eindruck, als ob ihm diese Krise nichts ausgemacht hätte, bei Sokrates, als ob er diese Krise dadurch überwunden hätte, daß er den Zweifel an den Göttern selbst durchlebt habe. Mit dem sophokleischen Ideal der EÜKoÄia, der Fähigkeit, mit allen Widerwärtigkeiten des Lebens leicht fertig zu werden, war Wolff dann zunächst beim Eingang der platonischen 'Politeia', um danach sogleich - wieder über die euripideische Folie

4 Jetzt in 'Tradition und Geist'. Hrsg. von C. Becker, Göttingen 1960, 227-256. s M. Pohlenz, Griechische Tragödie, Göttingen 1930 (21954); H. Weinstock, Sophokles.

Wuppertal 1931 ("1948); A. Lesky, Sophokles und das Humane, Wien 1951 (= Gottheit und Mensch in den Tragödien des Sophokles, Darmstadt 1963).

" K. Reinhardt, Sophokles, Frankfurt 1933 ("1947).

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- zur Dichterkritik Piatons überzuleiten: Euripides vergifte durch aufgeklärte grundsätzliche Zweifel an der Gottheit; der Mensch ist gut, die Götter sind es nicht; der Mensch ist moralisch, die Götter sind amoralisch. Das alles münde bei Euripides in das nihilistische Argument: nur der Mensch kann dem Menschen helfen. Piaton habe von Sophokles keine Verse zitiert, und auch sonst gebe es bei ihm keinerlei Anspielungen auf dessen Dramen. Daraus folge als argumentum e silentio: Piaton hatte nicht die Absicht, Sophokles in seine Dichtervertreibung miteinzubeziehen, weil Sophokles auch den Göttern gegenüber ein e\)Ko?ioc war. So ist er es auch in der Unterwelt der aristophaneischen 'Frösche', er ist die Ausnahme unter den drei Tragikern, er ist als einziger nicht ehrgeizig und erfolgs­lüstern, er ist nicht neidisch und hat auch kein Programm!

Unter Hinweis auf Schadewaldts bekannte Arbeit 'Sophokles und das Leid'7

näherte sich Wolff dann seinem Autor von einer anderen Seite: Sophokles sei ein Meister des Schönen. Diese Schönheit blühe bei ihm aus einer dunklen Tiefe herauf - und hier folgte wieder ein kurzer, aber für Wolff bezeichnender Exkurs zu Mozart und dessen Schönheitsideal - , Schmerz und Schönheit klingen bei Sophokles in Harmonie zusammen. Darin liege das Geheimnis der Wirkung sophokleischer Dramen, und daran schieden sich auch die Geister seiner Interpreten.

So sei Sophokles z. B. Wilamowitz unsympathisch gewesen, weil diese Schönheit bei Wilamowitz nicht recht wirkte, was sich auf Schritt und Tritt an dessen Sophoklesübersetzung zeige. Nur als technischer Könner habe Sophokles durch die dramatische Schlagkraft der Stücke und seine Beherrschung der Bühne, dazu als Virtuose in der Pathologie des Leidens Wilamowitz Respekt abgefordert, doch Sophokles' eijoeßeia - und hier wiederholt sich das Urteil über Karl Rein­hardt - , d. h. wie dieser Mensch sich noch zu den alten Göttern habe bekennen können, das sei auch Wilamowitz ein Rätsel geblieben. Dieses 'Rätsel Sophokles', das Wolff auf den einfachen Nenner 'religiöser Ernst + raffiniertes Könnertum + Schönheit' brachte, versuchte er uns dann gewissermaßen 'mikrokosmisch' durch eine exemplarische Interpretation der Rede des Ödipus nach dessen Blendung nahezubringen und 'makrokosmisch' durch eine Paraphrase der 'Elektra', des 'Ödipus auf Kolonos' und des 'Philoktet' unter diesen drei Aspekten seiner Fremdartigkeit zu entkleiden.

Danach kehrte Wolff noch einmal zu den Sophoklesbildern bei Wilamowitz und Erwin Rohde zurück, um mit beiden Interpreten 'ins Gericht zu gehen'. Seine Kritik an Wilamowitz mag hier aus Platzgründen beiseitebleiben, Rohde aber habe der Haß blind gegen Sophokles gemacht, da bei ihm als einem Schüler Schopenhauers die Abneigung gegen Sophokles aus seiner Abneigung gegen die

'Geschrieben 1941; Potsdamer Vorträge IV, bei Eduard Stichnote in Potsdam 1948 zu­erst veröffentlicht; jetzt in: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, Zürich/Stuttgart 1960, 231-247.

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Götter überhaupt hervorgegangen sei. Rohde habe die Welt für das denkbar Schlech­teste gehalten und sei in Rage geraten, wenn jemand nur das Wort 'gut' in den Mund nahm: 'Verruchter Optimismus, wer wie Sophokles die Welt als schlecht erkennt und trotzdem lobt!' An Hand des 'Aias' versuchte Wolff, Rohdes einsei­tig pessimistische Sophoklesinterpretation wieder zurechtzurücken, als ob es denn nach den Arbeiten von Perrotta, Bowra, Whitman, Kirkwood und Carl Becker,8

um nur einige zu nennen, einer solchen Korrektur noch bedurft hätte. Für Wolff war sie indes unverzichtbar. Rachsucht und kalte Grausamkeit haben nach Rohde Athenes Handeln bestimmt, aber - so klagte Wolff- Rohde verschweigt, daß Aias aus berechtigter Wut eine unberechtigte Rache an dem ganzen Heer hat nehmen wollen. So hat Athene das Heer durch Verblendung des Aias gerettet, und dieser hatte seine Wut kühlen können nach Art eines Don Quichotte! Der Zorn der Göttin ist also verdient. Sie greift zwar ein, aber zugleich denkbar milde, milder, als es Menschen getan hätten! Sie straft ihn nur einen Tag. Wenn er an diesem Tag bewahrt werden kann, ist er vor dem weiteren Zorn der Göttin sicher. So Kalchas. Aias hatte vergessen, daß er in einer unmenschlichen Lage nur ein Mensch ist; er hat sich nicht an menschliche Grenzen gehalten. Mensch aber ist bei Sophokles, wer Götterhilfe braucht. Das sollten Aias und die anderen lernen, daß sich solches Vergessen naturgemäß rächt. Sophokles lehrt nicht, so Wolff, die höhere Gewalt, wenn sie amoralisch ist, hinzunehmen, sondern auch den berechtigten Zorn lie­bend anzunehmen. Ganz anders Rohde. Seine Beschreibung der grausamen Gottheit stammt daher, daß er mit den Göttern nichts anfangen kann. Für ihn ist Sophokles spezifisch fromm, d.h. ein Winkelpietist, der mit gefalteten Händen herumhockt, wo er eingreifen müßte, um zu helfen. Demgegenüber unterstrich Wolff apodiktisch noch einmal seine Position: für Sophokles sind die Mythen heilige Wahrheit, er ändert niemals ihren Charakter. Der dunkle Vorgang der Tragödie steht auf einem schönen, erhebenden göttlichen Hintergrund, der das ganze Stück durchzieht. Hölderlin findet beim Helden nach der Katastrophe das Freudige am freudigsten ausgesprochen, Wilamowitz und Rohde finden dagegen das Nichts.

Ich breche ab, obwohl noch vieles zu dieser 'Einführung in Sophokles' zu sagen wäre, etwa zu Wolffs Interpretation der 'Trachinierinnen', zu seiner Gegen­überstellung der beiden Ödipus-Dramen mit der aischyleischen Trilogie 'Laios, Oidipus, Sieben gegen Theben' oder zum sophokleischen Schicksalsbegriff, zum Verhalten der Helden nach der Katastrophe, zur Auffassung der tragischen Ver­nichtung und des Tragischen an sich (z. B. in der 'Antigone': wo Tragik ist, ist keine Vernichtung, sondern das Gegenteil; Kreon wird vernichtet, aber nur, weil er nichtig ist; da ist aber keine Tragik), zu den Kommoi, zur Rolle des Fluches bei

x G. Perrotta, Sofocle, Messina-Milano 1935 (Ndr. 1963); CM. Bowra, Sophoclean Tragedy, Oxford 1944; C.H. Whitman, Sophocles. A Study of Heroic Humanism, Cambridge, Mass. 1951; G.M. Kirkwood, A Study of Sophoclean Drama, Ithaca 1958; C. Becker, Studien zum Sophokleischen Chor, Diss. Frankfurt 1950.

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Sophokles, zu den großen Reden, zum Problem der Schlüsse. Hier ging es ja vor allem um Erwin Wolff als Lehrer, der es meisterhaft verstand, seinen antiken Autor mit Leben zu erfüllen, ihn in einem beeindruckenden Geflecht von Fakten und Meinungen zugleich mit seiner Wirkungsgeschichte zu konfrontieren und dabei durch verblüffende Wendungen, überraschende Formeln und Metaphern zur Diskussion und zum eigenen Nach-Denken herauszufordern, ohne durch ein allzu ausgeprägtes Methodenbewußtsein die Werkzeuge gewissermaßen erst schärfen zu müssen, mit denen eine eher nüchterne und rational abwägende Interpretation ihren zugrundeliegenden Text auf einer wissenschaftlich methodisch abgesicher­ten Basis zum Sprechen bringt. Erwin Wolff interpretierte bei allem Scharfsinn und profunder Belesenheit mit dem Herzen, und er trug dabei sein philologisches Herz auf der Zunge.

Finkenweg 3a DR. HEINZ-WERNER NÖRENBERG

D(W)-8031 Wörthsee (geb. 1940)

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