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Die Sümpfe von Cardhor

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Thorin Band 5

Die Sümpfe von Gardhor von Al Wallon

Gefangen in Modors Reich - in einer Welt des Grauens

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Es war eine Welt des Grauens, aus der noch nie ein Sterblicher zu-rückgekehrt war.

Hier herrschte der finstere Gott Modor und er wollte Thorin ver-nichten.

Denn der Nordlandwolf besaß die Macht, den dunkeln Herrschern gefährlich zu werden.

In den Sümpfen sollte sich sein Schicksal erfüllen...

*

Das Licht der aufgehenden Sonne bahnte sich nur mühsam seinen Weg durch die dichten Wipfel der riesigen Bäume. An einigen Stellen erreichte die Sonne den Boden überhaupt nicht und so herrschte auch hier tagsüber ein ständiges Dämmern, das seltsam unwirklich erschien.

Für die dunkelhäutigen Krieger, die ihr Dorf in den Wipfeln der von Wurzeln und Lianen umrankten Bäume bei Anbruch des Tages verlassen hatten, war dies jedoch nichts Ungewohntes. Denn das Volk der N'dele lebte schon seit unzähligen Generationen in den Fieber-sümpfen von Cardhor und hatte es gelernt, sich anzupassen. In einem menschenfeindlichen Landstrich wie den gefährlichen Sümpfen hatten sie jeden Tag immer wieder aufs neue lernen müssen, dass der Tod und die plötzliche Gefahr ein Teil ihres Lebens war. Deshalb lernten die N'dele schon von Kindesbeinen an, sich auf diese Gefahren einzustel-len - und nur deshalb hatten sie bisher überlebt.

Irgendwo hoch in den Wipfeln erklangen die Rufe Dutzender ver-schiedener Vögel, als die Krieger einem der verschlungenen Pfade folgten, die nur sie kannten. Ein anderer wäre unweigerlich in den tü-ckischen Sumpf geraten, wenn er auf sich allein gestellt gewesen wä-re. Denn der Boden war an manchen Stellen sehr trügerisch. Er sah fest und begehbar aus und war es dann doch nicht. Aber das merkte man leider erst, wenn es schon zu spät war. Für eine Rettung aus den tückischen Klauen des Sumpfes blieb dann keine Zeit mehr.

Maraco ging an der Spitze der fünf Krieger, die alle in seinem Alter waren. Genau wie die anderen N'dele hatte auch er die Kriegerweihe bereits hinter sich und zählte somit zu den Tapfersten seines Volkes.

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Das Leben eines Kriegers war geprägt von Kampf und Jagd, denn in den Sümpfen von Cardhor konnte man nur überleben, wenn man stär-ker war. Und wenn man überleben wollte, dann musste man jagen, um die Frauen und Kinder sowie die Älteren des Stammes zu versor-gen. Deshalb waren die fünf Krieger an diesem Morgen so früh auf-gebrochen, um auf die Jagd zu gehen und sie hatten rasch Glück ge-habt. Sie hatten nämlich die Fährte einer kleinen Carcaja-Herde unweit des Dorfes entdeckt, der sie nun folgten. Wenn es ihnen gelang, sich unbemerkt an die scheuen Tiere heranzuschleichen, dann würde der Stamm in den nächsten Tagen genug zu essen haben, denn die Fährte hatte den Kriegern gezeigt, dass es sich um mindestens zehn Tiere handelte.

Maraco und seine Gefährten schwiegen, als sie sich weiter auf die Fährte der Carcajas setzten, denn jedes Geräusch konnte die Tiere zu frühzeitig warnen und das wäre das Letzte gewesen, was die Krieger beabsichtigt hätten. Der Boden wurde jetzt zusehends feuchter und glitschiger - um so mehr mussten sie nun aufpassen, dass sie nicht vom Weg abkamen. Denn die Sumpfregion war tückisch und gefährlich - auch wenn die N'dele schon sehr lange hier lebten, kannten auch die erfahrenen Krieger nur einen Teil der riesigen Sümpfe. Jenseits des Ostens erstreckte sich ein ziemlich unzugängliches Gebiet, das zum größten Teil unter Wasser stand und die Heimat der gefährlichen Sumpfdrachen war. Maracos Volk hatte schon einige unliebsame Be-gegnungen mit diesen Kreaturen gehabt und jedes mal hatte es dabei Tote gegeben...

Sein Volk musste jeden Tag kämpfen, um zu überleben, denn der mächtige Modor erkannte nur Mut und Stärke an. Die Schwachen ver-nichtete er - denn er war ein zürnender Gott. Modor, der mächtige Herrscher der Sümpfe von Cardhor, dessen Reich noch jenseits der Heimat der Sumpfdrachen begann.

Die Priester seines Volkes beteten ihn an und verlangten auch von den übrigen N'dele absoluten Gehorsam. Denn sonst zürnte Modor dem ganzen Volk und löschte es unweigerlich aus. Viel Zeit war seit-dem vergangen, seit der Gott der Sümpfe den N'dele zum letzten mal seine Macht gezeigt hatte. Maraco war zu diesem Zeitpunkt noch ein

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Kind gewesen, als einige der N'dele es gewagt hatten, die Herrschaft Modors anzuzweifeln. Modor hatte sie alle vernichtet und dieses Bild des furchtbaren Schreckens war in Maracos Erinnerung haften geblie-ben - auch wenn schon sehr viel Zeit vergangen war. Manche Dinge vergaß man eben nie!

Der junge Krieger konzentrierte sich jetzt aber wieder auf den Weg unmittelbar vor seinen Füßen, denn er spürte die Nässe und setz-te seinen Weg nun um so langsamer fort. Er drehte sich kurz um, wandte sich seinen Gefährten zu und signalisierte ihnen, dass der Pfad nun immer tückischer wurde. Mückenschwärme tanzten vor Maracos Gesicht, aber darauf hatten sich die Krieger eingestellt. Sie hatten ihre Körper mit dem Saft der Amaracara-Pflanze eingerieben, der verhin-derte, dass sie von den winzigen Peinigern gestochen wurden. Denn die Stiche dieser Mücken verursachten manchmal Übelkeit und Fieber und ein Krieger durfte nicht krank werden, wenn er für das Wohl sei-nes Volkes weiterhin sorgen wollte.

Die Luft war schwül und feucht, als die Krieger vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzten. Schließlich wurde der Boden kurz darauf wieder etwas fester und trockener, so dass sie zumindest jetzt mit keiner unmittelbaren Gefahr rechnen mussten. Der Pfad, der durch dichtes Gebüsch geführt hatte, endete gut hundert Schritte weiter vorn in einem ebenen Flecken, der von dichtem braunen Gras bewachsen war. Nur wenige Bäume und Sträucher säumten die Stelle, so dass Maraco und seine Gefährten bereits frühzeitig die Carcajas bemerkten, die friedlich grasten und nichts davon ahnten, dass die Jäger sie nun eingeholt hatten.

Sofort duckten sich die N'dele tief in die Büsche und verharrten regungslos, während sie die Bögen und Pfeile griffbereit hielten. Sie wollten jetzt erst einmal abwarten und sich nicht durch unachtsame Geräusche verraten. Denn dann würden die Carcajas sofort fliehen - und die N'dele würden es um so schwerer haben, die Herde wieder einzuholen. Denn wenn die Carcajas erst einmal gewarnt waren, dann wurde die Jagd um so mühseliger.

Auch Maraco hatte schon einen Pfeil auf die Sehne des Bogens ge-legt und beobachtete die Herde. Die Krieger waren erfahren genug

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gewesen, um jetzt nicht überstürzt zu handeln. Auch wenn die Zeit nun quälend langsam verstrich, so warteten sie immer noch ab. Mara-co triumphierte schon innerlich, denn auf diese Entfernung hin würde er ganz sicher sein Ziel treffen - genauso wie seine Gefährten, die alle Pfeil und Bogen vortrefflich beherrschten. Wenn sie mit der erlegten Beute zurück ins Dorf kamen, würde es viele glückliche und zufriedene Gesichter geben. Aber Maraco dachte nur an einen einzigen Menschen - nämlich an Doka, die Tochter des alten Kriegers Samolo, die sein Herz gefangen hielt. Bald würde er sie zu seiner Frau erwählen und dann war es um so wichtiger, dass er ein erfolgreicher Jäger war. Ge-nau wie heute!

Der Augenblick war nun gekommen, wo Maraco den Bogen hob und dann die Sehne zu spannen begann. Er zielte auf ein Tier ganz rechts. Aber bevor er den Pfeil von der Sehne schnellen lassen konnte, geschah plötzlich etwas, womit keiner der N'dele gerechnet hatte.

Denn die Carcajas schreckten auf einmal auf, hoben die Köpfe und schienen etwas zu wittern. Nur wenige Augenblicke später stob die ganze Herde auch schon los und verschwand in den Büschen.

Fassungslos senkte Maraco den Bogen und sah zu den anderen Kriegern. Keiner von ihnen hatte ein Geräusch von sich gegeben, was die Carcajas hätte warnen können. Und doch hatten die Tiere plötzlich die Flucht ergriffen!

Das war der Moment, wo auf einmal das Brechen von Zweigen zu hören war. Maraco zuckte zusammen und duckte sich unwillkürlich noch tiefer in die Büsche. Seine Gefährten taten es ihm gleich. Sie blickten nun alle hinüber zu der Stelle, von wo dieses Geräusch ge-kommen war. Nur wenige Momente später sahen die N'dele dann et-was, was es bisher nur in den Erzählungen der Priester gegeben hat-te...

*

Wuchtige, geschuppte Gestalten schoben sich durch die Zweige und Wurzeln. Sie zertraten die trockenen Äste und schienen den Lärm zu ignorieren, mit dem sie die Carcaja-Herde verjagt hatten. Zuerst waren

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es nur Schemen, die die N'dele-Krieger von ihrem Versteck aus erken-nen konnten, aber dann wurden die Umrisse immer deutlicher und die dumpfe Ahnung, die Maraca und seine Gefährten erfasst hatte, be-wahrheitete sich nun immer mehr mit jedem verstreichenden Atem-zug.

Echsenkrieger, schrie eine Stimme in dem jungen Krieger, wäh-rend er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken strich. Bei allen Göttern - es sind wirklich Echsenkrieger! Die Kreaturen aus den alten Legenden sie leben wirklich...

Er brauchte nur kurz zur Seite zu blicken, um das sprichwörtliche Entsetzen in den Augen seiner Gefährten zu erkennen. Als sie alle noch Kinder gewesen waren, hatten die Älteren sie mit finsteren Ge-schichten über diese Wesen zu erschrecken versucht. Natürlich hatte nie einer der N'dele die Echsenkrieger jemals zu Gesicht bekommen - aber die alten Legenden erzählten davon, dass sie Modors gehorsame Diener waren. Und es gab keinen im Volk der N'dele, der jemals an der Existenz des Gottes der Sümpfe gezweifelt hätte. Lag es dann nicht auf der Hand, dass es auch diese Kreaturen wirklich gab? Zumal es hieß, dass sie in Modors Herrschaftsbereich lebten und den Kontakt mit den Sterblichen scheuten. Es mussten schon schwerwiegende Din-ge geschehen sein, dass sie nun bis in diesen Teil der Sümpfe vorge-drungen waren.

All das ging Maraco innerhalb von wenigen Sekunden durch den Kopf, während er mit einer eigenartigen Mischung aus Furcht und gleichzeitiger Neugier beobachtete, wie die Echsenkrieger aus den Büschen kamen und ihre kalten Augen das Gelände absuchten. Unwill-kürlich duckte er sich noch tiefer ins Unterholz, weil er fürchtete, von den schuppigen Wesen entdeckt zu werden.

Die Echsenkrieger überragten jeden N'dele spielend um fast zwei Häupter und ihre Körper waren stämmig gebaut. Sie trugen dunkle Rüstungen und waren alle bewaffnet. In ihren Pranken hielten sie Schwerter und Lanzen. Andere wiederum waren sogar beritten und saßen auf Tieren, die Maraco und die übrigen Krieger des Stammes auch noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Sie hatten vier Beine, besaßen einen schlanken Hals und waren kräftig genug, auch solche

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Wesen wie die Echsenkrieger mühelos zu tragen. Das Grauen war in diesen Teil der Sümpfe gekommen und es brachte namenlosen Schre-cken mit!

Maraco hörte die eigenartigen krächzenden Laute, die diese Ge-schöpfe der Finsternis ausstießen und er sah die Gesten, mit denen sie sich verständigten. Mehr als einmal fragte er sich in diesem Moment, ob es wirklich richtig war, dass sein Volk einen Gott anbetete, dem solche Geschöpfe dienten. Denn ein Gott, der nur herrschte, indem er Angst und Entsetzen verbreitete - konnte dieser Gott denn wirklich gerecht sein?

Hätte er diese Gedanken jemals ausgesprochen, so hätten ihn die Priester des Dorfes ganz sicher aufs Schärfste verurteilt und ihn wo-möglich sogar Modor ausgeliefert. Bei den N'dele gab es eben immer noch Dinge, über die man besser nicht redete, wenn man keinen Ärger haben wollte. Aber Maraco wusste auch, dass es insbesondere unter den jungen Kriegern einige gab, die an der Macht und dem bedin-gungslosen Gehorsam Modor gegenüber zu zweifeln begonnen hatten. Und wenn der Zweifel erst Fuß gefasst hatte, war das das erste Zei-chen einer sich ankündigenden Veränderung. Noch war sie nicht sicht-bar - aber man konnte sie spüren, wenn man Augen und Ohren offen hielt.

Einer der Echsenkrieger kam mit gezücktem Schwert in die Rich-tung, wo sich Maraco und die übrigen N'dele verborgen gehalten hat-ten. Was würde geschehen, wenn diese Wesen erst herausfanden, dass sich die N'dele hier versteckt hatten? Dann würde ganz sicher Blut fließen und es war klar, dass von den dunkelhäutigen Kriegern keiner mehr am Leben bleiben würde.

Maraco wagte kaum zu atmen, während er den Angstschweiß zwi-schen den Schulterblättern fühlte. Grenzenlose Erleichterung ergriff ihn, als er sah, wie sich der Echsenkrieger dann doch wieder abwandte und zu den anderen zurückging. Einige der Kreaturen hatten zwi-schenzeitlich den Boden nach Spuren abgesucht und waren jetzt wohl auf die Fährte der Carcaja-Herde gestoßen. Was für ein Glück, dass Maraco und die anderen von einer ganz anderen Seite gekommen wa-

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ren. Denn sonst hätten die Echsenkrieger ganz sicher die Spuren ent-deckt und ihre eigenen Schlüsse daraus gezogen.

Endlose Augenblicke verstrichen, bis sich die furcht erregenden Geschöpfe wieder abwandten. Diejenigen, die beritten waren, tauch-ten zuerst im Unterholz unter. Die anderen folgten ihnen nur wenige Atemzüge später. Nur das Knacken und Brechen einiger Zweige war zu hören, dann herrschte schließlich wieder Stille. Es war fast so, als habe nie stattgefunden, was Maraco und seine Gefährten mit eigenen Au-gen gesehen hatten - und doch war es so.

Trotzdem warteten die N'dele noch lange und quälende Minuten ab, bis sie sich schließlich aus ihrem Versteck wagten. Furcht stand noch in ihren Zügen geschrieben, als sie sich der Stelle näherten, wo ihr bisheriges Weltbild von einem Moment zum anderen ins Wanken geraten war.

»Sag mir, dass wir alle einen schlechten Traum hatten, Maraco«, ergriff nun der hagere Uboto als erster ganz leise das Wort. Dieser Satz kam fast flüsternd über seine Lippen, als wenn er sich fürchtete, dass die Echsenkrieger doch noch herausfanden, dass sie von einigen unsichtbaren Augenpaaren gesehen worden waren. »Es kann doch nicht sein, dass...«

»Ich weiß, was du meinst«, fiel ihm Maraco ins Wort. »Und doch ist es so. Die alten Legenden leben auf. Die Echsenkrieger haben Mo-dors Reich verlassen und sind in unsere Welt eingedrungen.«

»Aber was hat das zu bedeuten?«, wollte ein weiterer N'dele-Krieger wissen. »Wir müssen den Priestern berichten, was wir gesehen haben. Sie werden uns dann sagen, was...«

»Nein!«, entschied Maraco, als er sah, dass nicht alle der Krieger diese Meinung teilten. »Wir werden alle schweigen - keiner wird es den Priestern sagen, was wir gesehen haben. Wenn etwas hier ge-schieht, dann betrifft das nicht nur Modors Gottesdiener, sondern un-ser ganzes Volk. Es muss einen Grund geben, weshalb diese Wesen in diesen Teil der Sümpfe eingedrungen sind - und genau das will ich erst einmal selbst herausfinden.«

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»Vielleicht sollten wir doch besser zum Dorf zurückkehren«, schlug derselbe Krieger vor, der die Priester hatte informieren wollen. »Wir könnten den Echsenkriegern womöglich ein zweites mal begegnen.«

»Unsere Familien vertrauen uns, dass wir von der Jagd mit Beute zurückkehren«, hielt ihm Maraco entgegen, der sich selbst in diesem Moment über seine Kühnheit wunderte. »Nur deshalb sind wir hier draußen - nämlich um die Carcajas zu jagen. Gut, die Echsenkrieger haben sie vertrieben. Aber die Spur der Herde ist ganz deutlich zu er-kennen. Wir sollten ihr folgen. Denkt nicht mehr an das, was wir alle gerade erlebt und gesehen haben. Wichtiger ist es, Fleisch zu jagen. Das ist die heilige Pflicht eines Kriegers.«

Er ließ seine Blicke in die Runde schweifen und sah, dass er fast alle mit seinen Worten hatte überzeugen können. Und das gab dann auch den Ausschlag, dass Maraco und die übrigen Krieger ihre Jagd schließlich wieder fortsetzten. Sie folgten der Spur der geflohenen Car-cajaherde weiter in östlicher Richtung und entfernten sich damit auch immer weiter von ihrem Dorf. Aber die Tiere waren vom plötzlichen Auftauchen der Echsenkrieger wahrscheinlich so erschreckt worden, dass sie sicher erst einmal ihr Heil in der Flucht suchten.

*

Orcon Drac spürte eine dumpfe Ahnung von Furcht, als er die steiner-nen Wächter mit den rot leuchtenden Augen passierte und sich dem Heiligtum des Gottes Modor näherte. Natürlich wusste der Gott der Sümpfe schon längst von der Ankunft des dunklen Ritters und der Hü-ne in der schwarz glänzenden Rüstung fühlte bereits, wie unsichtbare Finger nach seinen Gedanken tasteten. Der Gott der Sümpfe wusste bereits, was geschehen war und sein Zorn war unbeschreiblich. Orcon Drac bekam jetzt diesen Zorn zu spüren und ihn ergriff eine unbe-stimmbare Furcht, weil er nicht wusste, welches Schicksal ihn erwarte-te. Der Gang war feucht und wurde von einem rötlichen Licht schwach erhellt. Zu Orcon Dracs Füßen wallte weißer Nebel auf, der immer stärker wurde, je tiefer der Ritter der Finsternis in den Gang eindrang. Bald verschwanden die Umrisse der Wände zu beiden Seiten des Gan-

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ges und Orcon Drac war umhüllt von dem dichten Nebel, der sich schwer und erdrückend auf seine Atemwege legte. Dennoch schüttelte er jeden weiteren Gedanken an Furcht jetzt ab, denn er trug keine Schuld an dem, was geschehen war. Sein Zauber hatte keine Wirkung gezeigt, denn die beiden Opfer waren nicht an der Stelle materialisiert, wo sie eigentlich hätten herauskommen müssen - nämlich in der Blut-halle des finsteren Herrschers.

Orcon Drac hatte natürlich sofort gehandelt und keine Zeit verlo-ren. Auf Geheiß Modors hatte er einige Trupps von Echsenkriegern ausgeschickt, die die Sümpfe nach Thorin und der Frau absuchen soll-ten. Aber bis jetzt hatten sie die beiden noch nicht finden können und das erfüllte den Ritter der Finsternis mit großer Sorge. Konnte es sein, dass das Schwert den blonden Krieger gerettet hatte?

Orcon Drac war seit den Tagen, als er sich für die finsteren Mäch-te entschieden hatte, noch niemals einem Menschen begegnet, mit dem er solch massive Probleme bekommen hatte. Dieser Thorin wuss-te wirklich mit den Mächten des Lichts in Verbindung stehen und zwei-felsohne verfügte er über eine sehr mächtige Waffe. Aber auch die hatte ihm nicht geholfen, als er und die Frau in Orcon Dracs Falle ge-tappt waren. Eigentlich hatte der Ritter der Finsternis gehofft, dass damit diese Sache erledigt war. Aber mittlerweile hatte er erkennen müssen, dass dem doch nicht so war. Er wusste nicht, was die Ursa-che dafür war, dass sein geschickt gewobener Zauber den Gegner nicht an den Ort seiner Bestimmung gebracht hatte - er wusste nur, dass der mächtige Modor ihm mit Recht zürnte. Weil der bereits be-schlossene Tod Thorins noch nicht stattgefunden hatte!

WARUM HAST DU IHN NOCH NICHT GEFUNDEN, ORCON DRAC?, hörte der Ritter der Finsternis die grausame Stimme in seinem Hirn. WARUM NICHT?

Seine Schritte klangen seltsam dumpf in dem feuchten Gang. Gleichzeitig ließ der wallende Nebel wieder etwas nach und der Blick war frei auf die Halle des finsteren Herrschers. Modor, der mächtige Gott, hätte allein durch seinen Anblick jeden normalen Sterblichen ganz sicher auf der Stelle getötet. Er war ein riesenhaftes Wesen mit dunkler, glänzender Haut. Auf seinen ausladenden Schultern saß ein

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Kopf, dessen Züge unvorstellbare Grausamkeit und Kälte ausstrahlten. Die großen Augen schimmerten rot, als er seine mächtige Faust dem Ritter der Finsternis drohend entgegenreckte.

»Vergebt mir, mächtiger Modor«, murmelte Orcon Drac und warf sich sofort zu Boden, berührte mit seiner Stirn den feuchten Boden der Bluthalle. »Ich weiß nicht, warum wir ihn noch nicht gefunden haben - aber ich sage Euch, dass wir ihn bald haben werden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit...«

ER IST NUR EIN STERBLICHER, bekam Orcon Drac stattdessen zu hören, während er den Zorn des Gottes immer heftiger in seinem Hirn zu spüren bekam. Schmerzen überkamen ihn und ließen ihn leise auf-stöhnen. EIN STERBLICHER IST KEIN GEGNER, ORCON DRAC - UND DOCH HAST DU VERSAGT!

»Ich weiß, mächtiger Herrscher«, entgegnete Orcon Drac rasch. »Aber es ist auch wahr, dass noch nie ein Mensch jemals wieder aus den Sümpfen von Cardhor entkommen ist. Es ist eine riesige Falle, in der Thorin jetzt sitzt und aus eigener Kraft wird er niemals wieder ent-kommen können. Sein Tod ist nur aufgeschoben worden...«

WENN ICH DICH NICHT SO DRINGEND BRAUCHEN WÜRDE, DANN WÜRDEST DU AN DEINEM EIGENEN LEIBE ZU SPÜREN BE-KOMMEN, WAS ICH VON DEINEM VERSAGEN HALTE, fuhr die kalte Stimme fort. ABER DU ALS MEIN PALADIN WIRST DIE DUNKLEN HEE-RE IN DIE LETZTE SCHLACHT FÜHREN. UND ICH RATE DIR GUT, DASS DU ALLES TUST, UM ZU SIEGEN. DENN GNADE FÜR EIN WEI-TERES VERSAGEN WIRD ES NICHT MEHR GEBEN. GEH JETZT UND ÜBERLASS MIR DIESEN STERBLICHEN. DEIN PLATZ IST BEIM HEER. WARTE DORT AUF MEIN ZEICHEN UND DAS MEINER BRÜDER R'LYEH UND AZACH.

»Ich höre und gehorche, mächtiger Modor«, erwiderte Orcon Drac und spürte, wie der Druck in seinem Kopf jetzt wieder etwas abflaute. Modor hatte die unsichtbaren Fesseln wieder gelöst. »Ich gelobe Euch auch weiterhin Treue. Es wird nur einen Sieger in der letzten Schlacht geben - die Finsternis.«

Falls Orcon Drac auf eine Antwort Modors zu seiner Bemerkung gehofft hatte, so wurde diese nicht erfüllt. Der finstere Gott schwieg

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und seine lodernden Augen richteten sich kalt auf Orcon Drac, der sich nun erhob mit gesenktem Haupt die Bluthalle verließ. Erst als er den wabernden Nebel hinter sich gebracht und auch die steinernen Wäch-ter am Eingang passiert hatte, wagte er wieder aufzuatmen. Modor hatte ihm tatsächlich noch eine Chance gegeben - und die würde er ganz sicher nützen.

Modor würde sich nun um Thorin kümmern und dieser Gedanke beruhigte den Ritter der Finsternis. Denn gegen Modors Kräfte kam niemand an - auch nicht ein Sterblicher mit einer Waffe, die ihn bisher vor dem Tod beschützt hatte.

Orcon Drac verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an Thorin, denn er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die ihm viel Kraft ab-verlangte. Sein Platz war jetzt bei den dunklen Heeren, die jenseits der Sümpfe auf ihren Einsatz warteten. In einem öden und verlassenen Land rüsteten sie sich zum Kampf gegen die Bastionen der Menschheit und der Ritter der Finsternis würde sie anführen, wenn die Stunde gekommen war!

*

Zuerst nahm sie die vielfältigen Geräusche der Vogelwelt hoch in den Wipfeln der Bäume nur wie aus weiter Ferne wahr, als sie die Augen aufschlug. Ihr Kopf schmerzte und sie stöhnte leise, als sie gegen die milchigen Schleier kämpfte, die vor ihren Augen tanzen und zuerst nicht weichen wollten. Jedoch konnte Lorys dann aber ihre unmittelba-re Umgebung deutlich wahrnehmen und zuckte zusammen, als sich vor ihren Augen eine vollkommen fremde Welt eröffnete.

Wohin sie auch blickte - sie sah nur dichten grünen Dschungel und gewaltige Bäume, deren ausladende Wipfel das Licht der Sonne nur kaum oder gar nicht durchkommen ließen. Feuchtschwüle Hitze herrschte und der ehemaligen Fürstin der mittlerweile zerstörten Stadt Samara brach der Schweiß aus.

»Thorin«, murmelte sie und atmete erleichtert auf, als sie die Ges-talt des blonden Kriegers nur wenige Schritte von ihr entfernt im feuchten Gras liegen sah. Sofort erhob sie sich und eilte zu ihm hin-

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über, beugte sich hinunter zu ihm, berührte ihn an den breiten Schul-tern. Grenzenlose Erleichterung ergriff Lorys, als sie sah, wie sich Tho-rins Brust hob und wieder senkte. Also lebte er noch und war nur be-wusstlos.

Dutzende verschiedener Gedanken strömten auf die blonde Frau ein, die immer noch nicht begreifen konnte, wie sie in diese fremde Umgebung gekommen waren. Eben noch hatten sie Orcon Drac in seiner Knochenhöhle gegenübergestanden - und jetzt das! Lorys er-schien dieser Dschungel irgendwie unwirklich - als befinde sich dieser Ort nicht auf der Welt, sondern stattdessen im Reich der Götter der Finsternis.

»Thorin, wach auf!«, rief Lorys und bemühte sich, den bewusstlo-sen Krieger jetzt aufzuwecken. Jedoch hatte sie dabei kein Glück. Al-les, was sie erreichte, war ein unverständliches Murmeln Thorins. »Bei den Göttern des Lichts - ich habe Angst, Thorin!«

Falls sie gehofft hatte, dass selbst dies Thorin jetzt aus seinem tie-fen Schlaf riss, so musste Lorys erkennen, dass sie sich getäuscht hat-te. Thorin wachte nicht auf. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Nur wenige Schritte weiter drüben wurde das Gelände zusehends feuchter. Das auch noch, dachte Lorys. Wir sind mitten im Sumpf!

Jeder weitere Schritt in dieser feindlichen Umgebung konnte töd-lich sein. Wie um alles in der Welt sollten sie es jemals schaffen, aus diesem Sumpf wieder herauszukommen? Oder hatte der Ritter der Finsternis das vielleicht erreichen wollen, als er Lorys und Thorin mit seinem dunklen Zauber an diesen Ort gebracht hatte?

Lorys setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, untersuchte misstrauisch ihre nähere Umgebung und kam so in die Nähe eines gewaltigen Baumes, dessen knorrige Wurzeln sich mehrere Mannslän-gen bis hinüber in das feucht schimmernde braune Sumpfwasser er-streckten. Das Holz war mit dichtem Moos und Schlingpflanzen be-wachsen und roch irgendwie alt und vergänglich.

Das war auch der Moment, wo sie plötzlich die bleich schimmern-den Knochen des Totenschädels entdeckte, dessen Fratze Lorys auf besonders intensive Weise noch lange nach dem Tode anzugrinsen

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schien. Die blonde Frau schrie erschrocken auf und ging hastig einige Schritte zurück. Eine Gänsehaut strich ihr über den Rücken, als sie dann auch die übrigen Gebeine des Unglücklichen entdeckte, der hier den Tod gefunden hatte. Die bleichen Knochen waren ziemlich zer-streut und Lorys konnte deshalb nur ahnen, was für eine Tragödie sich hier irgendwann einmal abgespielt haben musste. Wahrscheinlich war der Mann das Opfer von wilden Tieren geworden, die hier im Sumpf lebten und womöglich jetzt schon irgendwo im Dickicht lauerten und die beiden neuen Opfer bereits umzingelt hatten.

Aber auch wenn Lorys jetzt furchtsam nach allen Richtungen spähte, so wurde ihr doch bewusst, dass sie und Thorin nicht die ein-zigen Menschen in diesem Sumpf waren. Dieser Tote gehörte be-stimmt zu einem Stamm, der in dem Sümpfen lebte. Und genau diese Menschen mussten sie finden!

Der Speer des toten Kriegers lag etwas weiter drüben, direkt am bräunlichen Wasser. Auch wenn der Speer ziemlich mitgenommen aussah, so war es dennoch eine Waffe, mit der man sich verteidigen konnte. Und ein alter Speer war immer noch besser als sich mit bloßen Händen gegen wilde Tiere wehre zu müssen.

Lorys wunderte sich selbst darüber, woher sie eigentlich diesen Mut nahm. Die zahlreichen Schrecken, denen sie und ihr ungebornes Kind ausgesetzt waren, seit die Stadt Somara durch die Mächte der Finsternis in Schutt und Asche gelegt worden war, wollte einfach kein Ende nehmen. Und doch muss es irgendwie weitergehen. Auch wenn die Lage mehr als besorgniserregend war.

Lorys bückte sich, um den Speer hochzuheben. Genau in diesem Moment bewegten sich plötzlich die Wellen des Sumpfwassers um ihr und auf einmal tauchte ein Wesen aus den Tiefen des Sumpfes auf, das Lorys mit Angst lähmte. Es war eine große Schlange die ihr Opfer hatte kommen sehen und nur auf den richtigen Augenblick gewartet hatte um es dann zu ergreifen. Der glitschige Leib fuhr auf Lorys hin-unter, riss sie zu Boden.

Zwar versuchte die blonde Frau noch instinktiv den Speer hochzu-reißen und sich gegen die Schlange zu wehren. Aber der Angriff war viel zu plötzlich gekommen und so hat Lorys keine Chance mehr.

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»Hilfe!«, schrie Lorys mit sich überschlagender Stimme, als sich der Leib der Schlang um ihren eigenen Körper wand und sie den schmerzhaften Druck auf ihren Rippen spürte. »Thorin!«

Der Name des Nordlandwolfs war ein einziger, panikerfüllter Schrei, denn Lorys wusste, dass der Tod bereits seine knöchernen Fin-ger nach ihr ausgestreckt hatte. Die Schlange zog sie nämlich mit sich - genau in den Sumpf!

*

Thorin wusste nicht, ob der gellende Hilferuf ein Gespinst der wirren Träume war, die seinen Geist schon seit einer Ewigkeit gefangen hiel-ten. Sein Kopf dröhnte und er hörte einen Laut, der sich dann als Stöhnen aus seiner eigenen Kehle entpuppte. Schwach wälzte er sich herum und spürte das Gras unter seinem Rücken. Dann schlug er die Augen auf und sah die wild wuchernde grüne Pracht um sich herum. All diese Eindrücke nahm er in kürzester Zeit wahr, beachtete sie aber nicht weiter, denn nun erschallte wieder der gellende Schrei aus der Kehle einer Frau. Eine Stimme, die ihm seltsam vertraut erschien. Und dann begriff er.

»Lorys!«, keuchte er und erhob sich rasch, nachdem seine Finger nach dem Knauf der Götterklinge getastet und sie zum Glück dann gespürt hatten. Fest umschloss seine Hand das Schwert, während er dann drüben am Rand des Sumpfufers Zeuge eines schrecklichen Schauspiels wurde.

Eine gewaltige Schlange war aus den trüben Gewässern hervorge-kommen und hatte sich auf Lorys gestürzt, die früher aus der Be-wusstlosigkeit erwacht war als Thorin. Wahrscheinlich war sie im ers-ten Moment ihres Erwachens genauso verwirrt gewesen wie er selbst und diese Augenblicke des Unwissens waren ihr dann zum Verhängnis geworden. Denn sie hatte die tödliche Gefahr viel zu spät erkannt.

»Ich komme, Lorys!«, rief er und stürzte sich dann mit hoch em-porgereckter Klinge auf die Schlange, zielte mit dem Schwert auf den glitschigen Leib, der Lorys fest umschlossen hielt und die blonde Frau immer mehr in die bräunlichen Sumpfgewässer zog. Nur noch wenige

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Atemzüge, dann würde die Kreatur die unglückliche Lorys unter Was-ser gezogen haben - und das bedeutete dann das Ende für die ehema-lige Fürstin von Samara, die seit dem Betreten der Katakomben der Wüstenstadt einen Schrecken nach dem anderen hatte erleben müs-sen, nachdem ihr Gemahl Fürst Dion im entscheidenden Kampf der feindlichen Heere aus Kh'an Sor und Samara sein Leben verloren hat-te. Denn in diese Schlacht hatte eine dritte, tödliche Macht eingegrif-fen, deren Gefährlichkeit die meisten der Soldaten zu spät erkannt hatten...

Thorin durfte nicht länger zögern. Er musste jetzt eingreifen, sonst gab es keine Rettung mehr für Lorys. Er brauchte nur einen kurzen Blick auf die vom Schlangenleib gefangene Frau zu werfen, um die schreckliche Gewissheit zu begreifen. Deshalb zögerte er keinen Au-genblick mehr, sondern stieß Sternfeuer tief in eine Stelle des Schlan-genleibes, wo er am dicksten war und Lorys nicht verletzen konnte.

Schwärzliches Blut Schoß aus dem Leib des Wasserwesens und bespritzte den Nordlandwolf. Er roch den Gestank des Blutes, der sich schwer auf seine Atemwege legte. Thorin riss die Klinge heraus und stach sofort ein zweites mal zu. Der Leib der Schlange peitschte jetzt hin und her und die feste Umklammerung begann sich jetzt zu lösen. Die große Schlange ließ nun ihr Opfer los und wandte sich stattdessen dem Gegner zu, der weitaus gefährlicher war.

Thorin sah das Haupt der Schlange und blickte in das weit geöff-nete Maul. Er sah die hervorschnellende schleimige Zunge und spürte, wie sie über seinen Körper glitt und sich mit winzigen Widerhäkchen in seine Haut biss. Er machte jedoch eine rasche Drehung, so dass die Zunge keinen weiteren Halt fand. Das war eine Chance, die er nutzen musste!

Noch im selben Atemzug stieß er die Götterklinge von unten vor, so dass sie sich ein drittes mal in den Leib der Schlange bohrte. Erneut spritzte dunkles Blut auf, als die Schlange Lorys endgültig losließ. Wäh-rend die blonde Frau hastig davon kroch, drang Thorin erneut auf die glitschige Kreatur ein, versuchte ihr den Todesstoß zu versetzen. Dabei achtete er allerdings für einen winzigen Atemzug nicht auf den Boden unter seinen Füßen. Er hatte sich nämlich einen Schritt zu weit vorge-

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wagt und versank nun mit dem rechten Unterschenkel im braunen Sumpfwasser. Dadurch verlor Thorin das Gleichgewicht und konnte seinen Stoß nicht mehr vollenden.

Die Sumpfschlange war zwar schon sehr geschwächt von den Wunden, die ihr Thorin zugefügt hatte. Aber jetzt schien die Kreatur die augenblickliche Schwäche ihres Gegners zu spüren und reagierte sofort. Der Leib peitschte Thorin entgegen, schleuderte ihn weiter zur Seite, während das geifernde Maul der Schlange sich dem Haupt des Nordlandwolfs näherte.

Thorin sah die Fangzähne und wusste, dass er sein Leben verwirkt hatte, wenn er sich jetzt nicht wehrte. Instinktiv riss er Sternfeuer hoch und stieß die Klinge der Schlange entgegen und der geschuppte Leib der Kreatur, der sich auf Thorin hatte stürzen wollen, fiel genau in die Klinge hinein. Dort, wo der endlose Hals in den Kopf überging.

Thorin hörte das Zischen der Sumpfschlange und er sah die Zun-ge, die wild hin- und herpeitschte. Der Leib wand sich, schlug Wellen des braunen Wassers bis hinüber zu der Stelle, wo Lorys lag und mit schreckgeweiteten Augen den unerbittlichen Kampf mit ansah.

Dann ebbte das Zucken und Peitschen ab und der Leib der Schlange fiel zurück, als Thorin die Klinge herausriss. Die Kreatur tauchte unter im bräunlichen Wasser und nur wenige Atemzüge später war die Wasseroberfläche wieder so glatt, als habe es nie einen Kampf um Leben und Tod gegeben.

Erst jetzt wagte Thorin wieder aufzuatmen. Trotzdem ließ er die Klinge noch nicht sinken, sondern hielt sie zum Schutz vor sich, als er das Sumpfwasser wieder verließ und festen Boden erreichte.

Lorys Augen glänzten voller Sorge um Thorin, als sie auf ihn zuge-laufen kam und sich in seine Arme warf.

»Den Göttern sei Dank«, murmelte sie und barg ihr Haupt an sei-ner Brust. »Thorin, ich sah mich schon in den Fängen der Schlange. Ich hatte für einen winzigen Moment nicht auf die Gefahren geachtet, die hier am Ufer des Sumpfes lauerten...«

»Schon gut«, beruhigte sie Thorin und strich ihr sanft durch das vom Sumpfwasser durchnässte Haar. »Vergiss am besten, was gerade geschehen ist, Lorys. Es ist besser so...«

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»Das sagst du so einfach, Thorin«, meinte sie und löste sich wie-der aus seinen Armen. Für einen winzigen Moment hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt. Etwas, an das sie eigentlich gar nicht mehr ge-glaubt hatte, seit Dion tot war. »Wo bei allen Göttern sind wir hier eigentlich?«

Darauf hätte ihr Thorin gerne eine Antwort gegeben, wenn er sie gewusst hätte. Auch er hatte mittlerweile begriffen, dass der Zauber des dunklen Ritters sie beide an einen unbekannten Ort verschlagen hatte. Alles sah hier anders aus - fremd und ungewohnt. War dies viel-leicht der Vorhof zum Hort der Finsternis? Vielleicht warteten die dunk-len Mächte schon auf ihn und freuten sich über die Schrecken, die er und Lorys gerade erlebt hatten? Das konnte gut möglich sein, denn die Mächte der Finsternis wollten seinen Tod. Weil er ihren Plänen im We-ge stand!

Orcon Drac hatte den Nordlandwolf in diese Sümpfe verbannt. Al-lerdings konnte der Nordlandwolf zu dieser Stunde noch nicht ahnen, dass Sternfeuer ihn und Lorys selbst jetzt noch beschützte. Denn sie waren nicht an den Ort gelangt, wohin der Ritter der Finsternis sie hatte holen wollen. Er wusste nur, dass er jetzt so schnell wie möglich einen Weg aus diesem Sumpf finden musste.

Wahrscheinlich ahnte Lorys die Gedanken des blonden Kriegers, denn sie wies auf die Gebeine des Toten, die Thorin erst jetzt sah, als ihn Lorys darauf aufmerksam machte, indem sie auf die betreffende Stelle in der Nähe des gewaltigen Baumes zeigte.

»Hier müssen Menschen leben - irgendwo in diesem Dschungel, Thorin«, sagte sie. »Wenn es uns gelingt, sie zu finden, dann können wir wieder hoffen.«

»Das werden wir, Lorys«, versicherte ihr der Nordlandwolf. Auch wenn er selbst noch nicht so ganz davon überzeugt war. Aber er wollte Lorys beruhigen und ihr die Hoffnung auf Rettung geben, denn die ehemalige Fürstin war dem grauenhaften Tod nur knapp entronnen. Die Sumpfschlange hätte sie unter Wasser gezogen und sie dann un-weigerlich getötet. So hatte sie nur Lorys Kleid zerrissen und ihr einige Schrammen zugefügt. Das einstmals prächtige Seidengewand war nur noch ein Schatten seiner selbst. Es hing ihr in Fetzen vom Körper und

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zeigte eine Menge nackter Haut. Lorys besaß einen schlanken, wohl gerundeten Körper, der erst beim zweiten Hinsehen etwas davon er-kennen ließ, dass sie bald Mutter werden würde. Der Anblick der schö-nen Frau hätte Thorin normalerweise nicht kalt gelassen. Aber jetzt zählten andere Dinge. Sie mussten einen Weg aus diesem Sumpf fin-den und versuchen, Menschen zu erreichen.

»Lass uns gehen«, sagte er zu Lorys. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich weiß noch nicht, was das alles zu bedeuten hat - aber ich will gewappnet sein, wenn die Stunde der Entscheidung naht...«

Mit diesem Worten steckte er die Götterklinge in die Scheide auf seinem Rücken. Lorys nickte nur und griff nach dem Speer, den sie beim plötzlichen Angriff der Sumpfschlange hatte fallen lassen. Dann verließen sie de Ort des Schreckens und drangen tiefer ein in die grü-ne Dschungelhölle.

*

Der Weg wurde zusehends trügerischer. An manchen Stellen war der Boden bereits feucht geworden, dass Thorin bis zu den Knöcheln im Schlamm einsank. Ein Vorwärts kommen in dieser Richtung war mit einem ziemlichen Wagnis verbunden, denn wenn Thorin und Lorys erst tiefer im Sumpf steckten, so würden sie kaum wieder herausfinden. Ein grausamer und vor allen Dinge qualvoller Tod würde die Folge sein.

Der Nordlandwolf dachte fieberhaft darüber nach, welchen Weg sie nun einschlagen sollten. Es war schwer, sich nach dem Stand der Sonne zu richten, denn nach wie vor war da Blätterdach der Urwald-riesen so dicht, dass man nur ahnen konnte, wo sich die Sonne im Moment befand. Ob es noch Morgen war oder sich die Sonne allmäh-lich senkte - Thorin wusste es nicht. Hier unten in der grüne Hölle herrschte ein eigenartiges Dämmerlicht, wie man es oft kurz vor dem Morgengrauen oder vor Einbruch der Abenddämmerung findet.

Nach wie vor hatten sie noch keine Zeichen entdeckt, die auf eine Ansiedlung von Menschen hinwiesen. Es schien fast so, als seien Tho-rin und Lorys die einzigen Lebewesen.

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Wie viel Zeit vergangen war, seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht waren, konnten weder Thorin noch Lorys sagen. Sie wussten nicht, welche Richtung sie eingeschlagen hatten. Der Dschungel sah an vielen Stellen gleich aus und es konnte gut möglich sein, dass sie unter Umständen im Kreis gingen. Zum Glück hatten sie den feuchten Boden so gut wie möglich meiden können und kamen deshalb gut vor-an. Aber nach wie vor waren sie allein in einer fremden und unheimli-chen Welt - und die einzigen Geräusche, die sie hörten, waren die un-zähligen Stimmen der Vögel hoch oben in den Wipfeln der lianenum-rankten Bäume.

Manchmal war der Weg so schwer zugänglich, dass sich Thorin mit seinem Schwert einen Zugang verschaffen musste. Mit der schar-fen Klinge zerhackte er Dornensträucher und widerspenstigen Farn. Es war eine schweißtreibende Arbeit und sie kostete viel Kraft, denn es herrschte ohnehin eine feuchtschwüle Hitze, die Menschen, die solche Luft nicht gewohnt waren, unwillkürlich schneller atmen ließen.

Aber irgendwann öffnete sich die grüne Wand des Dschungels weiter vorn und der Blick war frei auf einen breiten Streifen Schilf, hinter dem das silbrig glitzernde Ufer eines Sees zu erkennen war. Die Hoffnung, dass der Dschungel hier zu Ende war, erfüllte sich dann aber doch nicht, als Thorin und Lorys näher kamen. Denn drüben am anderen Ufer des kleinen Sees setzte sich der dichte Dschungel wieder fort. Eine unerklärliche Laune der Natur musste diesen See hier ir-gendwann vor langer Zeit erschaffen haben. Ein See, dessen Wasser nicht die bräunliche Farbe des Sumpfes besaß!

Thorin und Lorys verspürten großen Durst und deshalb näherten sie sich rasch dem Ufer des Sees. Lorys hatte es noch eiliger als Tho-rin. Ihre Kehle war ziemlich ausgetrocknet und sie sehnte sich nach einem erfrischenden Schluck Wasser. Trotzdem hielt sie Thorin noch so lange zurück, bis er ganz sicher sein konnte, dass hier am Ufer kei-ne Gefahr drohte - weder von Tieren noch von Menschen.

Der See war an dieser Stelle ganz seicht, so dass Thorin und Lorys ohne Gefahr bis zu den Knien hineinwaten konnten. Das Wasser war kühl und schmeckte gut. Der Nordlandwolf und die ehemalige Fürstin genossen diesen Moment der Erholung, spürten die Erschöpfung, die

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ihre Körper gezeichnet hatte. Aber diese Ruhe hielt nicht lange an, denn weiter drüben jenseits des Schilfes hörte Thorin plötzlich ver-dächtige Geräusche.

Sofort duckte er sich und deutete auch Lorys mit einer knappen, aber dafür um so eindeutigeren Geste an, das gleiche zu tun. Lorys erschrak, als auch sie nun das Knacken und Brechen von Zweigen im Unterholz vernahm und blickte besorgt hinüber zu Thorin. Beide zogen sich nun tiefer ins Schilf zurück und hofften, so genügend Deckung zu erhalten, damit man sie nicht entdecken konnte.

Das war auch gut so, denn wenige Augenblicke später erkannten Thorin und Lorys, was die Ursache dieser Geräusche war. Zuerst wa-ren es nur schemenhafte Gestalten, die zwischen den grünen Farnen zu erkennen waren, aber sie erschienen Thorin seltsam vertraut.

Er hielt den Atem an, als er die gedrungenen Gestalten von fünf Echsenkriegern in dunklen Rüstungen erkannte, die nun ebenfalls das Ufer des kleinen Sees erreicht hatten und ihre Blicke in die Runde schweifen ließen. Lorys hätte beinahe beim Anblick dieser entsetzli-chen Wesen einen Schreckensschrei ausgestoßen, aber das konnte Thorin zum Glück noch verhindern, indem er Lorys seine Hand auf den Mund presste und ihr dann zu verstehen gab, keinen weiteren Laut zu verursachen.

Ein weiterer Krieger kam aus dem Dickicht des Dschungels heraus und er führte die Reittiere der Echsenkrieger am Zügel mit sich. Pferde waren es nicht, sondern Wesen, die selbst Thorin auf seinen zahlrei-chen Abenteuern bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Wäh-rend die übrigen Krieger ihre Blicke über das Schilfrohr schweifen lie-ßen, brachte der Krieger die Tiere zum Ufer, um sie zu tränken. Die anderen Kreaturen wechselten einige Worte miteinander. Sofern man bei diesen Wesen überhaupt von sprechen reden konnte. Es waren krächzende, unheimlich wirkende Laute - nicht aus der vertrauten Welt der Menschen.

Thorin und Lorys duckten sich bis zum Hals ins Wasser und waren froh darüber, dass das Schilfrohr an dieser Stelle besonders dicht wuchs. Denn sonst hätte der Krieger mit den Reittieren sie sicherlich

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entdeckt. So aber waren sie erst einmal sicher - aber wie lange diese Sicherheit noch anhielt, konnte niemand sagen.

Thorin spürte instinktiv, dass die Echsenkrieger nicht zufällig hier waren. Es musste ein Spähtrupp sein, der auf der Suche nach etwas war - und in diesem Moment begriff der Nordlandwolf auch, nach wem diese Kreaturen suchten. Die Mächte der Finsternis hatten sie ausge-sandt. Also bedeutete das, dass etwas schief gegangen war. Orcon Dracs Zauber hatte die verhoffte Wirkung nicht gezeigt, denn sonst hätten die Echsenkrieger den Dschungel nicht durchkämmen müssen!

Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis der Krieger endlich die Tiere getränkt hatte und sie dann wieder zurück zu den anderen führ-te. Wenige Atemzüge später entfernten sich die Echsenkrieger wieder vom Schilfufer des Sees und gingen zurück in den Dschungel. Trotz-dem warteten Thorin und Lorys noch eine gehörige Zeit lang ab, bis sie sich wieder aus dem Wasser wagten.

»Das war knapp«, murmelte Thorin. »Es schon fast ein Wunder, dass sie uns nicht gesehen haben. Odan sei Dank!«

Lorys nickte nur. Sie hatte noch Mühe, ihre Gedanken in Worte zu fassen.

»Sie suchen nach uns, nicht wahr?«, wollte sie dann von Thorin wissen.

»Ja«, bestätigte er ihr. »Aber das bedeutet für uns, dass wir doch noch Hoffnung haben können, Lorys...« Er sah, dass sie nicht verstand worauf er hinauswollte und fuhr deshalb rasch fort. »Orcon Drac wollte uns in das Reich Modors verbannen, Lorys. Das ist ihm auch gelungen, denn sonst wären die Echsenkrieger nicht hier. Aber irgend etwas ist fehlgeschlagen, denn diese Kreaturen der Finsternis suchen nach uns. Modor und Orcon Drac wissen also nicht, wo wir uns befinden - und das verschafft uns Zeit, Lorys. Zeit, um in Ruhe über alles nachzuden-ken.«

»Bist du wirklich sicher, dass uns diese Zeit noch bleibt, Thorin?«, zweifelte sie. »Woher bist du dir dessen so sicher? Vielleicht ist das alles nur ein Spiel, dessen Regeln wir noch nicht begriffen haben?«

»Nein«, winkte Thorin ab. »Die Echsenkrieger suchen nach uns - wer sonst würde noch eine Gefahr für die Mächte der Finsternis dar-

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stellen? Wir befinden uns zwar im Reich des finsteren Gottes, aber er hat uns noch nicht. Und so lange ich noch atmen kann werde ich mich zu wehren wissen...«

»Aber was ist mit den Gebeinen, die wir gefunden haben, Thorin? Wenn hier Mensch leben - ist es dann richtig, dass wir sie zu finden versuchen? Vielleicht tappen wir dann erst recht in eine Falle. Oder glaubst du, das es Modor zulassen würde, dass hier Menschen leben, die ihm nicht treu ergeben sind?«

Je länger Thorin über Lorys Vermutung nachdachte, um so mehr kam er ins Zweifeln. Denn eigentlich hatte Lorys recht.

Der Nordlandwolf und die blonde Frau verließen nun das Ufer des Sees, gingen ebenfalls zurück in den Dschungel. Bestimmt waren noch andere Spähtrupps auf der Suche nach ihnen und deshalb war es nicht ratsam, länger als nötig an diesem Ort zu bleiben. Denn den Weg durch den Farn, den Thorin mit Sternfeuer geschlagen hatte, würden die Echsenkrieger bald entdecken - und dann kamen sie sicher zurück an diesen Ort, um nach ihnen zu suchen. Bis dahin mussten sie weit weg sein von hier!

*

Die Fährte der geflohenen Carcaja-Herde zeichnete sich ganz deutlich im feuchten Boden ab, so dass die Krieger der N'dele keine Mühe hat-ten, ihr zu folgen. Auch wenn Maraco und seine Gefährten sich immer weiter von der ihnen vertrauten Region des Sumpfgebietes entfernten, so dachte keiner von ihnen an eine Rückkehr. Es war wichtig, dass sie ihre Beute fanden und stellten, denn dann hatten ihre Familien wieder genügend Nahrung. In einem gefährlichen und ziemlich menschen-feindlichen Landstrich wie den Sümpfen von Cardhor galten eben an-dere Maßstäbe und das wussten die N'dele.

Der schlanke, dunkelhäutige Maraco hielt auf einmal inne. Das ge-schah so plötzlich, dass der hinter ihm gehende Uboto beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre. Der hagere N'dele-Krieger wollte etwas sa-gen, aber eine hastige Handbewegung Maracos ließ ihn verstummen.

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»Die Herde«, murmelte er ganz leise und deutete auf eine Stelle weiter vorn im Gebüsch. Weitere Worte waren gar nicht mehr notwen-dig, denn nun wussten die Krieger, was sie zu tun hatten. Sie griffen nach ihren Bögen und Pfeilen und näherten sich dann von zwei Seiten der Herde. Keiner der Krieger verursachte jetzt einen verräterischen Laut, denn wenn die Herde jetzt noch einmal aufgeschreckt wurde, dann würde es ihnen kein zweites mal mehr gelingen, sie aufzuspüren.

Maraco spürte, wie ihn ein unbeschreibliches Jagdfieber ergriff, als er sich tief zwischen die Büsche duckte und sich an die Carcaja-Herde heranschlich. Nur wenige Atemzüge später sah er dann durch die weit verzweigten Farne hindurch die Herde ganz deutlich. Die Tiere hielten sich bei einer Gruppe von weißlich schimmernden Pilzen überwucher-ter Bäume auf. Diese Pilze waren wohl eine willkommene Nahrung für die Herde und deshalb bemerkten sie auch nicht, dass die Krieger jetzt auf Pfeilschussweite herangekommen waren.

Maraco hatte ebenfalls einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens gelegt und spannte ihn nun. Er wartete zwei Atemzüge ab, in denen er auf eines der Tiere zielte und schließlich dann den Pfeil von der Sehne schnellen ließ. Der Pfeil bohrte sich in den Hals eines Carcajas, das einen gurgelnden Laut von sich gab und dann zusammenbrach. Noch bevor die Herde fliehen konnte, erreichten auch die Pfeile der anderen Krieger ihr Ziel. Jeder von ihnen konnte vortrefflich mit Pfeil und Bogen umgehen und deshalb traf jeder der abgeschossenen Pfeile. Vier wei-tere Tiere brachen tödlich getroffen zusammen. Maraco zögerte nicht und schickte gleich einen zweiten Pfeil hinterher, mit dem er ein weite-res Tier sicher erlegte. Uboto tat es ihm gleich und so konnten die Krieger innerhalb weniger Augenblicke alle zehn Tiere töten.

Wildes Triumphgefühl erfasste Maraco, als er nun mit seinen Ge-fährten aus den Büschen trat und die erlegte Beute betrachtete.

Es war richtig gewesen, nicht aufzugeben und der Herde zu fol-gen. Der ganze Stamm würde gewiss ihre Rückkehr feiern.

Die N'dele verloren jetzt keine Zeit mehr und schnitten nun einige stabile Äste aus den Bäumen. Die erlegten Tiere banden sie dann mit Lianenteilen an diesen Äste fest. Je zwei der Krieger hoben daraufhin diese Äste an und legten sie sich auf die Schultern. Die erlegten Carca-

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jas hingen zwischen ihnen an den Ästen herab, so dass sie sie ohne große Mühe tragen konnten. Es war keine leichte Last, die die Krieger tragen mussten und der Weg zurück war alles andere als nah. Aber sie hatten genügend Nahrung für ihre Familien und deshalb nahm jeder von ihnen gerne diese Strapazen auf sich.

»Wann wirst du endlich mit Dokas Vater sprechen?«, wollte Uboto von Maraco wissen, der zusammen mit ihm einen Teil der Beute trug. »Wie lange willst du denn noch warten? Sonst kommt eines Tages ein anderer und ist schneller als du. Du bist nicht der einzige, der ein Auge auf Doka geworfen hat...«

Maraco wusste nur zu gut, was sein Gefährte ihm damit zu ver-stehen geben wollte. Uboto wusste, dass Maracos Herz für Doka schlug. Aber noch immer hatten die beiden Liebenden es nicht ge-wagt, mit dem alten Samolo über ihre Zukunft zu sprechen. Vielleicht lag es auch daran, dass Samolo in seiner Jugend ein berühmter Krie-ger gewesen war und deshalb besonders hohe Ansprüche an denjeni-gen stellte, dem er seine Tochter eines Tages zur Frau geben würde.

Vielleicht änderte dieser Tag alles, denn es war ja Maraco gewe-sen, der vorgeschlagen hatte, nicht umzukehren und stattdessen der Fährte der Herde zu folgen. Eine solch gute Jagd hatten sie schon lan-ge nicht mehr gehabt und nun würde jeder wieder genug zu essen haben für die nächsten Tage. Das war doch ein Beweis dafür, dass er gut für Doka sorgen konnte und das würde auch der alte Samolo ein-sehen!

»Doka und ich gehören zusammen«, beantwortete Maraco nun die Frage seines Gefährten. »Samolo kann seine Augen nicht länger vor der Wirklichkeit verschließen. Er wird mich anhören müssen - und heu-te Abend werde ich mit ihm darüber reden.«

»Hoffentlich hast du Erfolg«, fügte Uboto hinzu, denn natürlich kannte auch er Samolo und wusste, dass Maraco keine leichte Aufgabe zu lösen hatte.

Dann brach das Gespräch der beiden Krieger ab, denn der Weg unter ihren Füßen wurde jetzt zusehends feuchter. Sie mussten nun ganz langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, denn die Sümpfe waren an vielen Stellen sehr tückisch. Einige Krieger aus

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dem Stamm hatten so in der Vergangenheit ihr Leben verloren. Sie hatten ihr Dorf verlassen und waren zur Jagd aufgebrochen aber sie waren niemals zurückgekehrt. Der Sumpf hatte sie verschlungen.

Seit dieser Zeit war es oberstes Gesetz, dass die Krieger immer in Gruppen aufbrachen, wenn sie auf die Jagd gingen. So konnte einer dem anderen in einer Gefahrensituation immer beistehen.

Maraco war mehr als erleichtert, als sie endlich den trügerischen Boden hinter sich gelassen hatten und dann auch wieder vertrautes Gelände erreichten. Von hier an würde es leichter werden, denn das Dorf des Stammes war nicht mehr weit entfernt. Wenn sie erst das Farndickicht hinter sich gebracht hatten, konnten sie die uralten Bäu-me vielleicht schon sehen, in deren weit ausladenden Ästen das Volk der N'dele ihr Dorf errichtet hatte. Heute Abend würden sie alle ein großes Fest feiern und die Gefahren der Sümpfe für eine kurze Zeit lang vergessen, die ansonsten zu ihrem Leben gehörten.

*

Dumpfer Trommelwirbel erschallte drüben bei den moosüberzogenen Bäumen und sagte Maraco und seinen Gefährten, dass man ihre Rück-kehr bereits bemerkt hatte. Die Späher und Wachen der N'dele, die das Dorf nach allen Seiten hin Tag und Nacht absicherten, hatten die Kunde von der Rückkehr der Jäger sicher schon längst ins Dorf ge-bracht und nun erwartete man sie dort. Die Trommelschläge bestätig-ten das, was jeder der Krieger im stillen erhofft hatte, denn die Trom-meln kündeten von einer großen und erfolgreichen Jagd!

Die N'dele-Jäger hatten es nun eilig, die Baumgruppe zu errei-chen. Bereits jetzt schon schauten ihnen oben von den weiten Platt-formen, auf denen die Hütten errichtet waren, zahlreiche Kinder ent-gegen, die mit staunenden Augen auf die erlegten Carcajas blickten. Der Hunger der letzten Tage hatte nun ein Ende gefunden und das freudige Wissen darüber spiegelte sich in den Augen der Jüngsten des Stammes wider.

Maraco und seine Gefährten setzten ihre Last ab, als sie die Bäu-me erreichten. Sie mussten nicht lange warten, denn andere kamen

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ihnen jetzt entgegen, um ihnen zu helfen. Die erlegten Tiere wurden hinauf ins Geäst der Bäume gezogen und dann folgten auch die Krie-ger. Geschickt kletterten sie mit Hilfe der Lianen hinauf ins Geäst der Urwaldriesen und dann wurden sie vom ganzen Stamm freudig be-grüßt.

Maracos Blicke schweiften umher, bis er endlich Doka in der Men-ge ausfindig gemacht hatte. Er sah das Lächeln in ihren anmutigen Gesichtszügen und er nickte ihr nur kurz zu. Noch war nicht der Zeit-punkt gekommen, wo er sie in seine Arme schließen konnte. Das musste noch warten, denn nun waren er und seine Gefährten erst einmal von den anderen umringt und es gab kaum einen, der nicht Worte des Dankes für die erfolgreichen Jäger übrig hatte.

Die erlegten Carcajas wurden gerecht auf die Familien aufgeteilt, so dass jeder etwas davon hatte. Schon bald erfüllte der Duft von ge-bratenem Fleisch die abendliche Luft, der sich mit dem markanten Aroma gekochter Jakura-Wurzeln mischte.

Maraco und seine Gefährten erhielten viele Worte des Lobes von Calaro, dem Häuptling des Stammes und auch der weise Hirano, der Schamane des Stammes, segnete sie für ihr Jagdglück. Das ließ die Herzen der Krieger natürlich höher schlagen, denn insbesondere Mara-co war es nicht entgangen, dass selbst der alte Samolo anerkennende Blicke für ihn und die übrigen erfolgreichen Krieger übrig gehabt hatte. Bedeutete das womöglich, dass sich seine Hoffnungen auf ein baldiges gemeinsames Glück mit Doka nun doch rascher erfüllten als er es ur-sprünglich angenommen hatte? Wieder und wieder mussten die Krie-ger erzählen, wie sie die Spur der Carcaja-Herde aufgenommen und dann verfolgt hatten. Keiner von ihnen erwähnte jedoch die kurze Be-gegnung mit den Echsenkriegern, denn dann würde die Freude des Festes ganz sicher von einem Augenblick zum anderen zerstört wer-den.

Maraco hatte natürlich nicht vergessen, was er gesehen hatte - und die anderen Krieger der N'dele auch nicht. Aber heute war die Nacht des Jagdfestes und der ganze Stamm war auf den Beinen. Wäh-rend am Fuße der Dschungelbäume der nächtliche Wald allmählich zum Leben erwachte, feierten die Menschen in den Ästen ein Fest, das

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sie zumindest heute vergessen ließ, dass sie im Grunde genommen in einer völlig menschenfeindlichen Umgebung lebten.

Denn der Dschungel umgab die N'dele von allen Seiten und somit auch die vielseitigen Gefahren. Es wäre zu gefährlich gewesen, die Hütten unten auf dem Boden zu errichten, denn der Dschungel hielt während der Nacht gefährliche Überraschungen bereit. Raubtiere und Schlangen, die ansonsten das Tageslicht eher mieden, erwachten jetzt erst zum Leben und sie waren tödliche Jäger!

*

Maraco hatte den richtigen Zeitpunkt abgewartet, um sich darin un-bemerkt zurückziehen zu können. Zwei seiner Gefährten saßen immer noch mit den anderen zusammen an den schwach glimmenden Feu-ern, aber viele andere hatten auch schon ihre Hütten aufgesucht. Der Höhepunkt der Feier war längst überschritten und Müdigkeit stellte sich ein.

Maraco war aber noch nicht müde, denn seine Gedanken waren bei Doka. Im Trubel der Feierlichkeiten hatte er es dennoch erreichen können, mit ihr kurz ein paar Worte zu wechseln. Der junge Krieger hatte mit Doka vereinbart, dass beide sich zu später Stunde weiter drüben trafen, wo sie ungestört sein konnten.

Er sah sich nur noch kurz um, als er sich auf den Weg zum ver-einbarten Treffpunkt machte. Aber es schien tatsächlich niemand be-merkt zu haben, wohin er ging. Sicherlich dachten die meisten, dass auch er schlafen wollte. Aber wenn man jung ist und das Herz voller Liebe entbrennt, dann denkt man nicht an Schlaf...

Die Plattform endete gut fünf Mannslängen auf der linken Seite. Aber selbst hier war das Geäst des Urwaldriesen noch so weit ver-zweigt, dass man auch hier ohne große Mühe noch diese Äste be-schreiten konnte, ohne in die Tiefe zu stürzen. Jeder der N'dele lernt das Klettern schon in ganz jungen Jahren und so war es für nieman-den schwierig, sich in den Zweigen und Ästen der Bäume einen Halt zu suchen. Denn die geschwungenen Lianen die überall üppig wuchsen, halfen den N'dele dabei.

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Er musste nicht lange suchen. Doka war schon dort, wo er sie vermutete. Maraco eilte auf sie zu und schloss sie in seine Arme, presste sie ganz fest an sich, als wolle er sie nie mehr loslassen. Die Lippen der beiden Liebenden verschmolzen in einem innigen Kuss der für beide Ewigkeiten anzuhalten schien. Erst dann lösten sie sich schließlich wieder schwer atmend voneinander.

»Maraco, ich bin so froh, dass du wieder zurück bist«, flüsterte die schlanke Doka an seiner Seite. »Jedes mal, wenn du zur Jagd in den Dschungel gehst, habe ich die schlimmste Befürchtungen.«

»Ich komme immer wieder zurück«, erwiderte Maraco und strich ihr sanft durch das lange Haar. »Weil ich an dich dabei denke und das gibt mir die Kraft, allen Gefahren zu trotzen. Deswegen ist auch nichts geschehen als wir...«

Mitten im Satz brach er ab, als ihm auf einmal bewusst wurde, was er Doka gerade hatte sagen wollen. Aber dazu war es jetzt zu spät denn sie hatte natürlich längst gespürt, dass es da doch etwas gab, was ihr Maraco bisher verschwiegen hatte.

»Wovon redest du?«, wollte sie sofort von ihm wissen. »Sag mir die Wahrheit, Maraco. Oder darf ich es nicht wissen?«

»Ich bin mir selbst nicht sicher«, antworte der junge Krieger dar-aufhin. »Aber ich muss mit jemandem darüber reden. Meine Gefährten und ich - wir sind in den Sümpfen einem Trupp Echsenkrieger begeg-net. Es gibt sie also wirklich - die Geschöpfe Modors...«

Er bemerkte, wie sich Doka bei diesen Worten hastig aus seinen Armen löste und dann erschrocken beide Hände vors Gesicht schlug.

»Nein«, flüsterte sie leise und schüttelte dabei immer wieder den Kopf. »Sag, dass es nicht wahr ist, was du mir gerade erzählt hast, Maraco.«

Sie sah ihn dabei an und begriff, dass er wirklich die Wahrheit ge-sprochen hatte. Bestürzt schlug sie die Augen nieder, während ein Gedanke den anderen jagte.

»Calaro und der Schamane müssen es erfahren«, stieß sie dann aufgeregt hervor. »Sie werden wissen, was zu tun ist. Ob uns der fins-tere Gott vielleicht zürnt? Ich habe gehört, dass der Schamane heute Mittag eine Vision hatte, die von Unheil kündete. Aber das kann viel

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bedeuten und muss nichts heißen - aber es ist wohl wahrscheinlich, dass in solch einem Fall ein Opfer gebracht werden muss, um den Zorn des Gottes zu besänftigen, Maraco.«

Natürlich wusste der junge Krieger, worauf Doka hinauswollte. Es war zwar schon lange her, seit das Volk der N'dele dem finsteren Herr-scher der Sümpfe zum letzten mal ein Opfer dargebracht hatte - aber vielleicht war nun die Zeit gekommen, wo Modor wieder sein Recht verlangte. Ein blutiges und grausames Recht!

»Was ist, wenn die Wahl auf mich fällt, Maraco?«, fuhr Doka wie-der fort. »Ich will nicht sterben - nicht jetzt, wo ich meine Liebe zu dir spüre. Ich weiß, dass es ein Frevel ist, den Willen Modors überhaupt anzuzweifeln, aber ich kann nicht anders...«

Erneut nahm sie Maraco in seine Arme, um sie zu beruhigen. »Ich denke genauso wie du, Doka«, sagte er mit leiser Stimme.

»Und wir beide sind nicht die einzigen bei den N'dele. Aber Hirano ist ein mächtiger Mann und es gibt viele, die seinem Wort folgen. Uns bleibt nichts übrig, als abzuwarten, was weiter geschieht. Es muss ja nichts bedeuten, dass die Echsenkrieger aufgetaucht sind. Denn keiner von uns ist jemals wieder aus Modors Reich zurückgekommen. Wir leben nur am Rande seines Herrschaftsbereichs. Für ihn sind wir Staubkörner im Wind, die er gar nicht beachtet. Ein Gott beschäftigt sich nicht mit Sterblichen wie wir es sind.«

»Ich wünschte, es wäre so wie du sagst«, erwiderte Doka darauf-hin. »Aber ich bin trotzdem sehr beunruhigt. Ich habe Angst vor dem, was auf uns zukommt, Maraco.«

»Gemeinsam sind wir stark - das darfst du niemals vergessen, Do-ka«, meinte Maraco und küsste sie nochmals. »Was meinst du? Ist nun der Zeitpunkt gekommen, wo ich endlich mit deinem Vater reden kann? Mir schien es so, als habe unsere erfolgreiche Jagd seine Aner-kennung gefunden. Nun hat er doch mit eigenen Augen sehen können, dass ich gut für dich sorgen kann...«

»Du kannst mit ihm reden - aber ich weiß nicht, was er daraufhin sagen wird«, antwortete Doka. »Mein Vater ist ein schweigsamer, in sich gekehrter Mensch, ich wünschte, ich könnte manchmal seine Ge-danken erahnen.«

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»Trotzdem - ich will nicht mehr länger warten, Doka. Wir beide gehören zusammen und jeder weiß das. Also lass es uns endlich auch besiegeln.«

Ein kurzes Umarmen, dann trennten sich die beiden wieder von-einander und gingen auf verschiedenen Wegen zu ihren Hütten zu-rück. Maraco hatte es ziemlich leicht, zu seinem Lager zu gelangen, denn die meisten seiner Gefährten schliefen bereits tief und fest. Nur Uboto grinste noch zu ihm hinüber, als Maraco sich sein Lager bereite-te. Der Blick des Kriegers sprach Bände, denn er ahnte natürlich, wo Maraco gewesen war. Er behielt aber dieses Wissen für sich.

Uboto war ein Freund, auf den sich Maraco bisher immer hatte verlassen können und solche Freunde waren rar.

Maraco versuchte zu schlafen, aber es verging doch eine geraume Zeit, bis sich schließlich die Müdigkeit einstellte. Und mit dem Schlaf kamen die Träume, die den jungen N'dele-Krieger peinigten. Es waren Träume von furcht erregenden Kreaturen aus den Sümpfen...

*

Die tanzenden Mückenschwärme machten ihnen schwer zu schaffen. Die winzigen Insekten peinigten Thorin und Lorys pausenlos und jedes mal, wenn der Nordlandwolf und die ehemalige Fürstin von Samara von den Mücken gestochen wurden, bildete sich ein unangenehmer Juckreiz auf der Haut. Erst als Thorin mehr durch Zufall auf eine wu-chernde Pflanze unmittelbar am Rand eines braunen Tümpels stieß und dabei entdeckte, dass dieser Ort von den Mücken gemieden wur-de, kam er auf die richtige Idee. Er riss einige der Pflanzenstängel aus und erkannte dann das weißliche Sekret, das sofort aus dem Stiel he-raustrat. Als er sich dann damit Arme und Beine einrieb, war es sofort vorbei mit der Mückenplage. Lorys rieb ebenfalls ihre Haut damit ein und anschließend konnten die beiden ihren Weg fortsetzen, ohne er-neut von den Insekten belästigt zu werden - denn der Mücken-schwarm machte nun einen großen Bogen um sie.

Auch wenn Thorin es nicht zugeben wollte - trotzdem musste er langsam oder sicher eingestehen, dass er nicht mehr wusste, welche

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Himmelsrichtung sie eingeschlagen hatten. All die ihm vertrauten Er-kennungszeichen in der Natur - hier galten sie nichts mehr.

Es gab nur noch eine wild wuchernde grüne Sumpfhölle, deren feuchtwarme Luft Thorin und Lorys bei der geringsten Anstrengung sofort schwitzen ließ. Falls sie darauf gehofft hatten, irgendwann ein-mal einen Pfad zu finden, nach dem sie sich wenigstens etwas orien-tieren konnten, so blieb es bei dieser Hoffnung. Stattdessen musste sich Thorin mit dem Schwert einen Weg durch die dichten Farne bah-nen, um so wenigstens den Boden besser erkennen zu können. Denn an manchen Stellen war er ziemlich feucht und das bedeutete, dass er und Lorys um so mehr auf passen mussten. Ein Fehltritt konnte in die-ser Umgebung den raschen Tod bedeuten!

Thorin drehte sich um zu Lorys, nachdem er mit Sternfeuer erneut eine Bresche ins dichte Gebüsch geschlagen hatte. Er wusste, dass die blonde Frau fast am Ende ihrer Kräfte war - aber sie wollte keine Last für Thorin sein und bemühte sich deshalb so gut sie konnte. Das einstmals prachtvolle Seidengewand war nur noch ein schmutziger Fetzen Stoff, so dass sie sich kurzerhand der Teile entledigt hatte, die sie beim Marsch durch den trügerischen, an manchen Stellen knöchel-tiefen Boden behinderten. Lorys Beine waren nun frei bis hoch zu den Oberschenkeln - genauso wie der größte Teil ihres Oberkörpers. Nur noch ein Tuch umhüllte ihre Brust und Hüften, ansonsten trug sie nichts mehr am Leibe.

Qual und Erschöpfung zeichneten ihre ebenmäßigen Gesichtszüge und Thorin wusste dass er bald eine Pause einlegen musste. Sonst würde Lorys zusammenbrechen und ein Weiterkommen dann unmög-lich sein.

»Wir bringen nur noch dieses Dickicht hinter uns«, versprach er ihr, bevor er wieder mit dem Schwert auf die Farnsträucher einschlug. »Dann halten wir Ausschau nach einem sicheren Ort, wo wir uns erst einmal ausruhen können. Bist du einverstanden?«

»Ich hatte schon Angst, du würdest mich gar nicht mehr danach fragen«, sagte Lorys mit einem deutlichen Seufzer der Erleichterung. »Aber solange halte ich schon noch durch darauf kannst du dich ver-lassen...«

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Thorin kam nicht umhin, Lorys für ihre Ausdauer zu bewundern. Eine andere Frau hätte sich ganz sicher schon längst aufgegeben - erst recht nach den grauenhaften Erlebnissen, die sie durch gestanden hatte.

»Sei vorsichtig jetzt«, warnte er Lorys. »Der Boden hier vorn wird immer feuchter und...«

Er stieß einen Fluch aus, als er urplötzlich bis zu den Knien in der braunen Brühe versank und dabei beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Im ersten Augenblick dachte er, in ein Sumpfloch geraten zu sein, aber dem war nicht so. Er spürte wieder festen Boden unter den Füßen. Es war nur ein Schlammloch, in das er geraten war und aus dem er sich rasch wieder herauszog.

Was er dann sah, ließ ihn beinahe verzweifeln. Vor seinen Augen erstreckte sich das bräunliche Sumpfwasser bis weit nach drüben. Wo-hin er auch blickte, es gab keinen Fußbreit trockenen Boden mehr. Umkehren konnten sie auch nicht mehr, denn dann bestand die Ge-fahr, dass sie den Echsenkriegern in die Hände fielen - und das würde ihr Todesurteil bedeuten.

Aber wie tief war das Sumpfwasser, das sie jetzt erreicht hatten? Befand sich unterhalb der braunen Brühe tödlicher Morast, der sie in die Tiefe zog, oder gab es dennoch einen Weg, der durch dieses trü-gerische Gewässer führte?

Noch bevor Thorin diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, ver-nahm er plötzlich ein lautes Knacken seitlich im Unterholz. Kurz darauf tauchte ein hirschähnliches Tier auf, das die Anwesenheit der Men-schen gewittert hatte und nun in langen Sätzen das Weite suchte. Das Tier durchquerte das stehende Gewässer und tauchte darin nicht un-ter. Es versank mit den Läufen nur wenige Handspannen im bräunli-chen Wasser.

»Den Göttern sei Dank«, murmelte Thorin, während er gespannt beobachtete, wo das Tier seinen Weg wählte und wenig später zwi-schen den moosüberwucherten Bäumen wieder verschwand. »Sieh doch - hier gibt es eine Furt, Lorys. Wir müssen nur versuchen, der Richtung zu folgen, die das Tier eingeschlagen hat. Dann sind wir si-cher.«

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Trotzdem gab es aber immer noch ein ziemliches Risiko und das wusste Thorin auch. Aber umkehren konnten sie nicht und langes Grü-beln änderte auch nichts an der Situation. Also machten sie das Beste daraus und schlugen die Richtung ein, die das Tier genommen hatte. So bahnten sie sich langsam einen Weg durch das braune Gewässer. Mehr als einmal kam Thorin von der Furt ab und spürte sofort, wie der Boden unter seinen Füßen nachzugeben begann. Aber er merkte es immer noch rechtzeitig genug, um zu handeln. In der rechten Hand hielt er Sternfeuer und seine Linke umschloss Lorys Hand, um ihr so mehr Schutz und Sicherheit zu geben.

Sie hatten schon einen gehörigen Teil des unsicheren Weges hin-ter sich, als die braunen Wellen sich zu bewegen begannen. Strömung gab es aber hier keine, also musste dies eine andere Ursache haben!

»Bleib hinter mir«, raunte Thorin der ehemaligen Fürstin zu, ließ ihre Hand los und umschloss stattdessen den Knauf der Götterklinge mit beiden Händen.

Das war der Moment, wo sich das Wasser plötzlich teilte und der plumpe Kopf eines großen Tieres auftauchte, das seinen Rachen ganz weit aufriss, so dass die scharfen Zähne zu erkennen waren. Gleichzei-tig stieß es ein lautes Brüllen aus, das Thorin und Lorys zusammenzu-cken ließ.

Im selben Augenblick ertönte ein grollender Laut hinter Thorin. Als der Nordlandwolf Lorys erschrockenen Schrei hörte, drehte er sich rasch um und sah eine aufrecht gehende Kreatur, die gut vier Manns-längen groß war und nun geradewegs auf sie beide zukam. Die großen Pranken waren weit ausgestreckt und die scharfen Klauen konnten einen Menschen sicherlich ohne große Mühe zerreißen.

Für Lorys war das jetzt zuviel. Sie rannte einfach los, ohne darauf zu achten, dass sie wahrscheinlich nicht mehr der sicheren Furt folgte. Aber der Anblick dieser schrecklichen Wesen war einfach zuviel für die ehemalige Fürstin von Samara.

Thorin folgte ihr, holte sie wenige Augenblicke später auch schon ein und begriff dann erst, dass keines der beiden Wesen ihnen folgte. Stattdessen lieferten sich die beiden Kreaturen einen tödlichen Kampf.

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Die beiden Menschen schienen sie nur ganz kurz wahrgenommen zu haben.

»Warte, Lorys!«, rief er ihr zu und packte sie dann ganz fest am Arm, riss sie herum.

Lorys war so verängstigt, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Deshalb riss sie Thorin einfach mit sich, bis die beiden endlich wieder halbwegs trockenen Boden erreicht hatten. Erst dann wagten sie anzuhalten und riskierten einen Blick zurück.

Dort lieferten sich die beiden Bestien aus dem Sumpf einen Kampf auf Leben und Tod. Die aufrecht gehende Kreatur hieb mit beiden Pranken auf das andere Wesen ein, das sich mit seinen messerschar-fen Zähnen bereits im Körper verbissen hatte. Schauriges Brüllen er-füllte die Luft und immer wieder hieben und bissen die beiden Bestien aufeinander ein.

Das bräunliche Sumpfgewässer lag erst einmal hinter ihnen und vor ihren Augen breitete sich nun ein kleiner Wald aus. Zwar war der Boden hier immer noch etwas feucht und glitschig, aber sie konnten zumindest sehen, wohin sie gingen.

Beide beschleunigten nun ihre Schritte, denn der Anblick der bei-den kämpfenden Bestien war einfach schrecklich. In diesem Moment erhielt die kleinere Kreatur einen solch harten Prankenhieb, dass die Gegenwehr für einen winzigen Augenblick abbrach und die andere Bestie nutzte diese Schwäche, um den Gegner gnadenlos zu töten.

Ein lautes Brüllen erfüllte die Luft, aber Thorin und Lorys verfolg-ten nicht mehr weiter, was geschah. Sie beeilten sich, von hier wegzu-kommen. Sie rannten einfach los und achteten dabei nicht auf die Richtung, die sie einschlugen. Hauptsache, die Bestie konnte sie nicht mehr finden.

Keiner von beiden wusste, wie viel Zeit verstrichen war, als Lorys schließlich stolperte und zusammenbrach. Das geschah so plötzlich, dass Thorin sie nicht mehr auffangen konnte. Sofort beugte er sich über sie und sah die Erschöpfung in ihren Zügen.

»Ich... ich kann nicht mehr, Thorin«, murmelte sie mit leiser Stimme. »Ich schaffe es nicht mehr. Sind wir... hier sicher?«

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»Die Bestie wird uns nicht mehr finden, Lorys«, versicherte ihr Thorin, obwohl er das nur vermuten konnte. »Mach dir jetzt keine Sorgen. Wir werden uns ausruhen, damit du wieder zu Kräften kommst...«

Während er das sagte, ließ er seine Blicke in die Runde schweifen und entdeckte eine Gruppe von Bäumen, deren Aste ein dichtes Ge-flecht bildeten. Sofort kam ihm ein rettender Gedanke, der dann auch rasch konkrete Formen annahm.

Kurz entschlossen beugte er sich zu Lorys hinunter und hob sie mit seinen starken Armer auf. Dann trug er sie hinüber zu den Bäumen und entdeckte dort, dass es nicht schwer war an den Wurzelsträngen hinaufzuklettern.

»Halt dich gut an mir fest«, sagte er zu der blonden Frau. »Ich bringe dich erst mal nach oben...«

Lorys nickte nur. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und ver-traute ihm, dass er für sie beide das Richtige tat. Wenig später hatten die beiden auch das Geäst des Baumes erreicht, wo Thorin Lorys vor-sichtig absetzte. An dieser Stelle bildeten die zahlreichen Äste ein solch dickes Geflecht, dass es unmöglich war, hinunterzufallen. Sie waren breit und ausladend genug, um auch das Gewicht von zwei Menschen zu tragen. Eine bessere Stelle, um hier etwas Ruhe und Schutz finden zu können, gab es wahrscheinlich nicht.

»Bleib hier und warte auf mich«, sagte Thorin dann zu ihr. »Ich will mich nur noch kurz umsehen. Es ist immer gut zu wissen, was in der unmittelbaren Umgebung geschieht.«

»Lass mich nicht zu lange allein, Thorin«, bat sie ihn dann mit be-sorgter Stimme. »Ich würde verrückt werden bei dem Gedanken, dass ich hier ohne dich...«

»Ich werde dich hören, wenn du nach mir rufst«, erwiderte Tho-rin. »Ich bin nicht weit weg - du musst keine Angst haben.«

Mit diesen Worten wandte er sich ab, kletterte wieder nach unten und sah sich dann um. Dabei entdeckte er drüben bei den benachbar-ten Bäumen einige Sträucher, an denen gelb glänzende Früchte wuch-sen. Sofort ging er dort hinüber und fand dann unweit dieser Stelle die Spuren von kleineren Tieren. Reste der Früchte lagen dicht neben den

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Sträuchern und das sagte Thorin, dass er von diesen Früchten unbe-sorgt essen konnte, denn die Tiere taten es ja wohl auch.

Er pflückte einige der Früchte und kam dann zurück zu Lorys, de-ren Blicke deutliche Erleichterung zeigten, als er wieder bei ihr war.

»Wir müssen uns stärken«, sagte er und gab Lorys drei der Früch-te. »Du kannst sie essen, ohne darüber nachzudenken...«

Er sah immer noch den Zweifel in Lorys Augen. Deshalb biss er kurz entschlossen in die gelbliche Frucht und stellte fest, dass sie ei-nen ziemlich säuerlichen Geschmack hatte. Das hielt aber nur im ers-ten Moment an, dann hatte er sich auch schon daran gewöhnt.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte er Lorys mit einem Lächeln und biss dann ein zweites mal in die vor Saft triefende Frucht hinein. »Et-was anderes kann ich dir leider nicht bieten.«

Da nickte Lorys und begann ebenfalls zu essen. Erst jetzt spürte sie, wie hungrig sie eigentlich war. Die Früchte, die Thorin geholt hat-te, hielten nicht lange an, denn der Nordlandwolf und die ehemalige Fürstin von Samara waren ziemlich entkräftet. Deshalb musste Thorin noch einmal hinunterklettern und weitere Früchte holen. Erst als sie ihren Hunger gestillt hatten, fühlten sie sich wieder gestärkt.

»Wir werden hier bleiben und einige Stunden schlafen«, sagte Thorin dann zu ihr. »Hier oben in den Zweigen des Baumes sind wir wohl sicher vor den schlimmsten Gefahren. Verlass dich drauf.«

»Ich glaube, das ist wohl auch das Beste«, stimmte ihm Lorys zu. »Thorin, wann wird dieser grässliche Sumpf endlich hinter uns liegen? Ich weiß schon gar nicht mehr, wie die Welt der Menschen aussieht - nach allem, was wir hinter uns haben...«

»Wenn ich es wusste, würde ich es dir auch sagen«, antwortete Thorin. »Ich weiß nicht, was uns noch erwartet, Lorys - aber mit jeder Stunde, die verstreicht, gewinnen wir. Denn die Mächte der Finsternis haben uns immer noch nicht gefunden. Vielleicht werden sie sogar die Suche nach uns aufgeben...«

Aber irgendwie fehlte seinen Worten der überzeugende Ton, als er das sagte.

*

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Er dämmerte mehr vor sich hin als das er in einen tiefen Schlaf fiel. Lorys erging es dagegen besser als Thorin, denn er brauchte nur einen kurzen Blick zur Seite zu werfen, um zu sehen, dass sie wirklich tief und fest schlief. Er hörte ihre regelmäßigen Atemzüge und war froh darüber, dass zumindest sie jetzt etwas Ruhe fand und im Schlaf die Erlebnisse vergessen konnte.

Thorin selbst jedoch wurde von einer eigenartigen Unruhe ergrif-fen. Zwar war er auch müde und abgespannt, aber irgendwie wollte sich der erholende Schlaf noch nicht einstellen. Vielleicht deshalb nicht, weil ihm alles mögliche durch den Kopf ging. Er erlebte in seiner Erin-nerung noch einmal alles, was ihm und Lorys widerfahren war, seit sie die Katakomben von Samara betreten hatten und dann durch Orcon Dracs Zauberkräfte an diesen Ort verbannt worden waren.

Mehr als einmal hatte er die Götterklinge inspiziert. Aber das Leuchten, das von Sternfeuer jedes mal dann ausging, wenn Gefahr drohte, war schon lange erloschen. Er konnte sich nicht mehr darauf verlassen, denn als die beiden Bestien so plötzlich aufgetaucht waren, hatte das Schwert auch nicht geleuchtet. Nach Lage der Dinge bedeu-tete das, dass die Kräfte der Götterklinge zumindest an diesem Ort erloschen waren. So traurig diese Tatsache auch war - es bedeutete aber auch, dass die Mächte der Finsternis deshalb Schwierigkeiten hatten, ihn und Lorys zu lokalisieren. Das war aber auch schon das einzig Gute an der ganzen Sache. Sie hatten etwas Zeit gewonnen. Zeit, die sie nützen konnten, um so viel wie möglich über diese gewal-tigen Sümpfe in Erfahrung zu bringen. Wie weit mochten sie sich noch erstrecken? Waren sie überhaupt noch ein Teil der ihm bekannten Welt, oder hatten Thorin und Lorys womöglich schon längst die Welt der Menschen verlassen ohne es zu wissen? Das waren Fragen, auf die Thorin jetzt gerne eine Antwort gehabt hätte, aber das war zu diesem Zeitpunkt unmöglich. Was geschah mittlerweile draußen in der ande-ren Welt? Hatten die Mächte der Finsternis bereits ihren Angriff gestar-tet? Tobte die entscheidende Schlacht zwischen Licht und Finsternis schon?

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Je länger Thorin über diese Fragen nachzudenken begann, um so größer wurde der innere Druck, der auf ihm lastete. Denn er wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war seit er und Lorys in den Sümpfen aufgewacht waren. Vielleicht hatte die Schlacht auch schon längst stattgefunden und das war die Welt, wie sie jetzt nach der Aus-einandersetzung aussah! Vielleicht gab es überhaupt keine anderen Menschen mehr...

Seine Gedanken brachen ab, als er unten am Fuße des Baumes ein Rascheln in den Zweigen vernahm. Sofort beugte er sich etwas weiter vor und spähte nach unten, aber das ohnehin schon trübe Licht, das hier im dichten Dschungel herrschte, war jetzt noch etwas dunkler geworden - ein Zeichen dafür, das sich der Tag unweigerlich dem En-de neigte und nun der Dschungel zu seinem nächtlichen Leben er-wachte.

Thorin erkannte nur die Konturen eines ekelhaften Vierbeiners, der durch die Büsche schlich und schon wenige Atemzüge später sei-nen Blicken entschwunden war. Aber bald darauf hörte Thorin weiter hinten im Wald ein lautes Fauchen und ein Bersten - dann war es auch schon wieder still.

Es war richtig, dass sich Thorin und Lot diesen Ort ausgesucht hatten, um sich auszuruhen. Keiner von ihnen wusste welche Gefahren der Dschungel noch für sie bereithielt. Umso vorsichtiger mussten sie deshalb sein.

Schließlich kam er zu der Überzeugung, dass es nichts nützte, sich den Kopf über alle nur erdenklichen Gefahren zu zerbrechen, die sich ihnen unter Umständen noch in den Weg stellten. Es änderte ohnehin nichts an der Lage, in der sie sich befanden. Thorin hatte bisher noch niemals seinen Mut verloren, wenn sein Leben bedroht war - und er würde es auch jetzt nicht tun.

Er blickte auf die prachtvoll geschmiedete Götterklinge, die ihm bisher immer geholfen hatte. Es war eine herrlich geschmiedete Waffe. Nur einmal hatte sie bisher versagt, als er dem Nachtherzog Arian das erste mal gegenübergestanden hatte. Die Klinge war dann in der Schmiede der Götter von den kundigen Händen des Zwerges Erz wie-der neu geschaffen worden.

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Während er sich an all das erinnerte, glaubte er auf einmal eine leise Stimme zu hören, die von irgendwoher zu kommen schien. Über-rascht hob er den Kopf und blickte nun hinauf in das Geäst des riesi-gen Baumes. Aber er konnte nichts entdecken. Und doch war die Stimme da gewesen! Seltsam vertraut war sie ihm erschienen, aber auch gleichzeitig unendlich weit entfernt.

Wieder lauschte er und auf einmal glaubte er, weiter oben in den Blättern eine konturenhafte Gestalt erkannt zu haben. Eine Gestalt in einem weiten Kapuzengewand!

»Einar«, murmelte Thorin erschrocken und hörte erneut die Stim-me, konnte die Worte aber nicht verstehen. Er sah nur die Gestalt und bemerkte gleichzeitig, wie sie immer mehr zu verblassen begann. Gleichzeitig ließ die Intensität der Stimme ebenfalls nach und wurde schließlich zu einem leisen Wispern, das schon bald darauf ganz ver-stummte. Als habe es diese flüsternde Stimme niemals gegeben...

»Einar«, murmelte Thorin erneut, als es nun zur Gewissheit wur-de, dass sich der allwissende Gott mit ihm hatte in Verbindung setzen wollen, es jedoch nicht geschafft hatte. Das Reich der Finsternis und die alles überlagernden dunklen Mächte schienen an diesem Ort zu stark zu sein - selbst für einen Gott wie Einar!

Thorin war bestürzt, weil er nicht verstanden hatte, was ihm der Gott hatte sagen wollen. Er hatte die vertraute Stimme nur wenige Atemzüge lang vernommen, aber ihr Klang war von anderen Empfin-dungen so überlagert worden, dass er nichts hatte verstehen können.

»Sie wissen, wo ich bin«, murmelte Thorin leise vor sich hin, als er sich bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte. »Aber sie können mir nicht helfen...«

Bedeutete das, dass die Mächte der Finsternis nun doch stärker waren als die heilenden Kräfte des Lichts? Wenn dem so war, dann stand der Ausgang der letzten Schlacht doch eigentlich jetzt schon fest. Thorin erschrak bei diesem Gedanken, denn er konnte und wollte sich nicht damit abfinden, dass die Zukunft und das weitere Schicksal der Menschheit womöglich schon längst entschieden war. Aber dann erinnerte er sich doch wieder an die alten Schriften von Ushar und an die dort aufgezeichneten Prophezeiungen, von denen Einar ihm berich-

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tet hatte. Und dort stand geschrieben, dass ein Sterblicher mit der Waffe der Götter eine wichtige Rolle in all den Ereignissen spielte.

Nein, es konnte und durfte noch nichts verloren sein, denn sonst wären die Echsenkrieger nicht auf der Suche nach ihm und Lorys ge-wesen. Modor und seine Kreaturen setzten immer noch alles daran, um ihn aufzuspüren und zu vernichten. Vielleicht wusste das Einar und hatte ihm Mut zusprechen wollen.

Er durfte die drei Götter des Lichts jetzt nicht enttäuschen - auch wenn die Situation, in der er sich jetzt befand, so ausweglos war wie noch niemals zuvor! Es gab immer einen Ausweg und er war ent-schlossen, seinen Mann zu stehen. Modor mochte ein schrecklicher Herrscher sein - aber Thorin würde gewappnet sein, wenn der Augen-blick kam, wo er ihm gegenüberstand. Und diese Stunde würde ir-gendwann schlagen...

*

Hirano betete schon seit Stunden zu dem Gott der Sümpfe und erfleh-te seinen Beistand. Er hatte in dieser Nacht keinen Schlaf finden kön-nen. Auch wenn der Stamm der N'dele die erfolgreiche Jagd der Krie-ger gefeiert hatte, so konnte der Schamane doch keine aufrichtige Freude empfinden. Denn auch ihn peinigten schon seit Tagen schlim-me Träume, die viele Fragen unbeantwortet ließen. Aber er war der Schamane seines Volkes und somit der einzige, der Zwiesprache mit dem finsteren Herrscher halten konnte. Zumindest glaubte er das, denn einmal war ihm Modor in seinen Träumen erschienen - das war aber bereits vor vielen Jahren gewesen. Seit dieser Zeit behauptete er von sich, dass er der Mittler zwischen seinem Volk und den Mächten der Finsternis war und deshalb hörte jeder auf seine Worte.

In dieser Nacht war es jedoch anders. Hirano spürte die eigenarti-ge Unruhe, aber er konnte sie sich nicht erklären. Irgend etwas ge-schah, aber er wusste nicht, was es war. Er wusste nur, dass sein Volk sich wappnen musste, denn ihm drohte Gefahr. Eine Gefahr, die er bisher nur ahnen konnte - und deshalb war es um so wichtiger, dass er so rasch wie möglich diese Gefahr von seinem Volk abwendete.

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Hirano versetzte sich selbst in Trance und versuchte auf diese Weise, einen Weg zu finden, der ihm half, sein Volk zu beschützen. Er kaute die Blätter des Huvalpai-Baumes, die ihn weitsichtig für Dinge machten, die man sonst nicht sah. Sein Geist glitt ab in Bereiche, die nur ein weiser Schamane sehen konnte und die Vergangenheit wurde wieder lebendig vor Hiranos Augen. Er sah, wie das Opfer für Modor auserwählt und dann in das Reich des finsteren Gottes verbannt wur-de. All diese Dinge sah er mit eigenartiger Klarheit, als wenn sie erst gestern stattgefunden hätten. War das womöglich das Zeichen, das er herbeigesehnt hatte?

Von einem Augenblick zum anderen glitt Hiranos Bewusstsein wieder in die Wirklichkeit zurück. Zuerst hatte er noch Mühe, zu ver-stehen, dass seine Visionen ein Ende gefunden hatten. Aber dann wusste er, was zu tun war. Und als draußen vor den Hütten der N'dele die Schatten der Nacht allmählich verschwanden und der neue Tag sich ankündigte, wusste er, dass dies der Tag war, an dem sein Volk den Zorn des mächtigen Modor besänftigen musste. Und das war nur möglich, wenn sein Volk ihm ein Menschenopfer darbrachte.

Innerlich darüber erleichtert, dass er nun die Dinge wieder klarer sah, erhob er sich von seinem Lager und ging hinaus ins Freie. Sein erster Weg führte ihn sofort zu Calaro, dem Häuptling und er schilder-te ihm in kurzen Worten von seiner Vision und der Gefahr, die dem Volk der N'dele drohte.

Calaro hörte sich die Worte des Schamanen mit steinerner Miene an. Auch ihm war klar, was dies bedeutete und er spürte die große Verantwortung, die auch auf ihm lastete, weil er der Oberste seines Volkes war. Trotzdem musste selbst er auf den Rat des weisen Hirano hören, denn nur er wusste um die Dinge, die in der Zukunft lagen.

Auf den Rat des Schamanen schickte Calaro einen Trupp Jäger aus, die die Wachen, die Tag und Nacht das Dorf bewachten, zusätz-lich verstärken sollten. Denn Hirano hatte in seinem Traum die Gefahr nur undeutlich gesehen, die sich dem Dorf näherte. Und er hoffte, dadurch diese Bedrohung abschwächen zu können, wenn sich das Volk rechtzeitig dagegen wappnete.

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Er selbst zog sich anschließend wieder in seine Hütte zurück, nachdem er sich versichert hatte, dass alles in seinem Sinne geschah. Noch während die Jäger im Dickicht des Dschungels untertauchten, betete Hirano erneut zu den finsteren Mächten...

*

Sie fühlten sich gestärkt und kräftiger, als sie am nächsten Morgen erwachten und dann ihren Weg durch den ewigen Dschungel fortsetz-ten. Lorys hatten die Stunden der Ruhe neue Kräfte gegeben und Tho-rin war darüber sehr erleichtert. Denn die ehemalige Fürstin von Sa-mara war gestern so erschöpft gewesen, dass er daran gezweifelt hat-te, ob sie überhaupt noch weiter konnte. Zum Glück war dem aber nicht so.

Sie schienen die Ausläufer der Sümpfe erreicht zu haben, denn mit jedem Schritt, den sie weiter nach Norden gingen - zumindest glaubte Thorin, dass es Norden war - wurde der Boden zusehends trockener. Das war ein gutes Zeichen und deshalb folgten Thorin und Lorys wei-ter dieser Richtung. Denn auch der grüne Dschungel würde sich ir-gendwann auch einmal lichten.

Große Bäume mit weit verzweigten Ästen erhoben sich vor ihren Augen. Gewaltige Riesen, deren Wurzelwerk ganz bizarre Formen an-genommen hatten - eine Laune der Natur?

Thorin hatte auf seinen gefahrvollen Abenteuern zwar schon des öfteren gefährliche Landstriche durchquert, aber solch eine eigenartige Natur hatte auch er noch nicht gesehen. Es schien so, als wenn es eine Welt war, die sich schon seit Äonen nicht mehr verändert hatte. Eine Welt, die nun zum ersten mal von Menschen betreten wurde...

Bereits jetzt schon war die Luft wieder so feucht und schwül, dass ihnen Schweiß auf der Stirn stand. Die frische und klare Luft der Eis-länder des Nordens - Thorin sehnte sich förmlich danach. Aber seine Heimat war weit entfernt und unerreichbar für ihn. Und trotzdem dachte er zumindest in diesen Momenten daran.

Wieder bahnte er sich mit seinem Schwert einen Weg durch das Dickicht, aber zum Glück waren die Farne an dieser Stelle des Dschun-

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gels nicht ganz so widerspenstig wie in den Sümpfen. So konnte Tho-rin seine Kräfte etwas schonen und beide kamen verhältnismäßig gut voran.

Sie wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die wild wu-chernde Natur endlich etwas nachließ und sie somit das vor ihnen lie-gende Gelände etwas besser überblicken konnten. Zwar hatte der Dschungel noch längst kein Ende genommen, aber zumindest sahen sie, wohin ihr Weg jetzt führte. Nämlich zu einer Gruppe Bäume, deren Äste so sehr ineinander verwachsen waren, dass sie ein einziges gro-ßes Dach bildeten.

»Ich denke, es wird jetzt leichter werden«, sagte Thorin und lä-chelte ihr zum ersten mal an diesem Tag zu. »Wir schaffen es, Lorys.«

Genau in dem Augenblick, als er wieder einen Schritt machte, spürte er plötzlich, wie sein Fuß von einer unsichtbaren Hand nach vorn gerissen und von etwas umschlossen wurde. Thorin taumelte und fiel, versuchte aber dennoch, das Gleichgewicht zu halten.

Aber das war unmöglich, denn seine Füße steckten in einem eng-maschigen Netz, das nun noch oben gerissen wurde und sich dicht um ihn schloss.

Thorin hörte Lorys laute Schreie und sah gleichzeitig eine Schar dunkelhäutiger Gestalten, die aus den Wipfeln der Bäume herunterka-men. All dies geschah jedoch so unerwartet, dass Thorin nicht mehr dazu kam, sich gegen diesen Angriff zu wehren. Denn das ausgelegte Netz hatte ihn noch oben gerissen und ihn fest umschlossen. Mit dem Kopf nach unten hing er nun im Netz gefangen und sah gleichzeitig, wie sich die dunkelhäutigen Gestalten auf Lorys stürzten und sie zu Boden rissen.

»Lorys!«, brüllte Thorin voller Zorn und versuchte sich mit Hilfe seines Schwertes trotz der aussichtslosen Lage aus dem Netz zu be-freien. Aber das gelang ihm nicht, denn die Gegner hatten seine Ab-sicht bereits erkannt. Zwei der Krieger kamen nun auf Thorin zugeeilt und bedrohten ihn mit scharfen Speeren. Ein Dritter kam von hinten und holte mit einer Keule zu einem Schlag aus, der einen Atemzug später Thorins Kopf traf.

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Die Welt um Thorin herum versank in einer Explosion bunter Far-ben. Das letzte, was der Nordlandwolf noch hörte, waren die lauten und ängstlichen Schreie von Lorys, aber auch die brachen kurz vor der Sekunde ab, als der blonde Krieger in ein Meer aus Schwärze ver-sank...

*

Ungläubig blickte Maraco auf den hünenhaften Menschen mit der hel-len Haut, den Uboto mit der Keule niedergestreckt hatte. Erst jetzt wagten es die Krieger der N'dele, das Netz herunterzulassen, in dem sie den Fremden wie ein ahnungsloses Wild gefangen hatten. Auch die Frau war mittlerweile mit einem gezielten Hieb niedergestreckt worden und lag bewusstlos am Boden - genau wie der große Krieger, der in seinen Händen ein gewaltiges Schwert von einer Art hielt, wie es noch keiner der N'dele jemals zuvor gesehen hatte.

»Das sind Dämonen«, flüsterte Uboto voller Furcht. »Der weise Hirano hat recht gehabt, als er uns aussandte, das Gelände zu beo-bachten. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn es diesen Kreaturen gelungen wäre, unser Dorf zu überfallen. Sieh dir diesen Krieger an, Maraco. Er überragt uns alle um fast zwei Häupter und seine Haut ist ganz blass. Er ist ganz sicher ein Dämon!«

Uboto brauchte nur kurz in die Gesichter der umstehenden Krieger zu blicken, um festzustellen, dass seine Worte nicht ohne Wirkung geblieben waren. Auch wenn es keiner sagte aber die Blicke der ande-ren Krieger sprachen Bände!

»Ich weiß nicht, ob es Dämonen sind«, erwiderte Maraco nach ei-ner Weile. »Vielleicht sind es ja auch Menschen aus einem anderen Teil dieser Welt...«

»Was redest du da, Maraco?«, fiel ihm ein anderer Krieger ins Wort. »Jeder weiß doch, dass die Welt außerhalb der Sümpfe von Cardhor zu Ende ist. Dort gibt es dann nur noch das Reich Modors!«

Maraco wusste nicht so recht, was er darauf hätte erwidern sollen, denn im Grunde genommen hatte sein Gefährte ja recht mit dem, was er gerade gesagt hatte. Das war das Weltbild, das man den N'dele

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schon immer geschildert hatte. Warum aber überkamen Maraco aus-gerechnet in diesem Moment jetzt Zweifel?

»Wir bringen die Dämonen in unser Dorf!«, schlug Uboto nun vor. »Hirano und Calaro sollen entscheiden, was dann geschieht!«

»Uboto hat recht!«, meldete sich nun auch ein weiterer N'dele zu Wort. »Unsere Anführer sollen entscheiden, was mit ihnen zu gesche-hen hat.«

Maraco nickte schließlich nur. Der bewusstlose hellhäutige Krieger blieb vom Netz ganz umhüllt. Um ganz sicherzugehen, dass er sich nicht doch noch befreien konnte, banden sie außen um das Netz her-um noch einige starke Lianenstricke. Auch die Frau wurde an Händen und Füßen gefesselt. Erst als die Krieger der N'dele ganz sicher waren, dass ihnen von den Hellhäutigen keine Gefahr mehr drohte, machten sie sich wieder auf den Rückweg.

Maraco war aber immer noch mit seinen eigenen Gedanken be-schäftigt. Seltsam, dass es ihm gerade jetzt wieder durch den Kopf ging - aber im Grunde genommen hatte alles mit dem Auftauchen der Echsenkrieger begonnen. Er erinnerte sich wieder daran, dass diese Kreaturen der Finsternis auf der Suche nach jemand gewesen waren, denn sie hatten das Ufer in der Nähe des kleinen Sees nach Spuren abgesucht. Vielleicht waren es die Spuren der beiden Fremden, die den N'dele heute in die Falle gegangen waren. Und wenn das so war, dann waren der Krieger und die Frau auf keinen Fall Dämonen, son-dern Menschen wie das Volk der N'dele - auch wenn sie eine andere Hautfarbe besaßen.

Aber Maraco war nur ein Krieger und ahnte nichts von den Zu-sammenhängen zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis und deren seit ewigen Zeiten währenden Auseinandersetzungen. Er begann nur langsam zu begreifen, dass mit dem Auftauchen der bei-den Fremden auch die Zeit des Friedens für die N'dele vorbei war. Denn der weise Schamane würde das sicherlich als ein Zeichen erken-nen und unverzüglich handeln. Und wenn der finstere Herrscher der Sümpfe dem Volk der N'dele zürnte, dann gab es nur einen einzigen Weg, um ihn zu besänftigen!

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*

»Thorin!«, hörte er eine ihm vertraute Stimme ganz aus weiter Entfer-nung. Er murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin, die ihm nur sehr schwer über die Lippen kamen. Sein Kopf schmerzte entsetz-lich und er fühlte die bleierne Schwere, die noch von seinem übrigen Körper Besitz ergriffen hatte, denn er konnte weder Arme noch Beine bewegen.

Erst dann begriff er, dass das nichts mit der Schwäche seines Kör-pers zu tun hatte, denn als er die Augen öffnete und sich erneut zu bewegen versuchte, erkannte er, dass man ihm Arme und Beine ganz fest verschnürt hatte. Ein weiterer dicker Strick war in mehreren Win-dungen um seine Brust gepresst und verband ihn untrennbar mit ei-nem dicken Holzpfahl in der Mitte der Hütte, in der er sich befand.

Lorys, die nur wenige Schritte von ihm entfernt lag, war ebenfalls gefesselt und auch nicht in der Lage, sich zu bewegen. Denn obwohl sie eine Frau war, hatte man sie gefesselt und an den zweiten Pfahl in der Hütte gebunden.

»Endlich bist du wach!«, rief Lorys mit sichtlicher Erleichterung in der Stimme. »Ich hatte fast schon gedacht, diese Barbaren hätten dich totgeschlagen...«

»Wo bei allen Göttern sind wir?«, murmelte Thorin mit einem lei-sen Stöhnen, als eine plötzlich aufklingende Schmerzwelle seinen Kopf peinigte. »Da war dieses Netz und dann kamen plötzlich die dunkel-häutigen Krieger, die uns...«

»Wir sind in ihre Falle getappt!«, unterbrach ihn Lorys. »Sie hat-ten uns wohl schon längst erspäht und warteten nur noch einen güns-tigen Augenblick ab, um uns zu überrumpeln.«

»Was ihnen auch gelungen ist!«, erwiderte der Nordlandwolf mit bitterer Stimme. »Ich habe tatsächlich nichts geahnt. Diese Dunkel-häutigen sind eins mit dem Dschungel. Die anderen Menschen, nach denen wir gesucht haben - nun haben wir sie gefunden. Jedoch hatte ich mir die erste Begegnung etwas friedlicher vorgestellt, Lorys.«

»Was werden sie mit uns machen, Thorin?« Sorge stand in ihren hübschen Gesichtszügen geschrieben. »Ich bin aus der Bewusstlosig-

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keit erwacht, bevor sie uns in diese Hütte geschleppt haben. Es waren alles andere als freundliche Gesichter. Die Blicke waren voller Hass - selbst die der Frauen und Kinder. Wir haben ihnen doch gar nichts getan! Aber das werden wir ihnen wohl kaum klarmachen können, denn ich verstehe ihre Sprache nicht. Sie ist nicht verwandt mit ir-gendeinem, mir vertrauten Dialekt - und was das bedeutet, weißt du. Wir werden uns überhaupt nicht verständlich machen können...«

Thorin wollte darauf gerade etwas erwidern, als er plötzlich dump-fe Schritte draußen vor der Hütte hörte. Augenblicke später betraten zwei ältere Mitglieder des Stammes die kleine Hütte. Der eine von bei-den war sichtlich älter und hatte fast weiße Haare. Strenge Blicke rich-teten sich auf Thorin, während sein Begleiter einige Worte an den blonden Krieger richtete. Es war eine Sprache, die seltsam fremd in Thorins Ohren klang. So fremd, dass er nur ahnen konnte, was der Dunkelhäutige ihn fragen wollte.

»Ich verstehe eure Sprache nicht«, bemühte er sich dann mit ru-higer Stimme zu antworten. »Aber wir sind keine Feinde eures Stam-mes, sondern wir kommen in Frieden.«

Falls er doch noch im stillen gehofft hatte, mit diesen Worten et-was zu erreichen, so sah er sich sehr bald eines Besseren belehrt, denn in diesem Moment verpasste ihm der Weißhaarige einen schmerzhaften Fußtritt.

Erneut redete der andere auf Thorin ein und begriff dann erst, dass Thorin ihn überhaupt nicht verstand. Er redete noch kurz mit dem Weißhaarigen, warf Thorin und Lorys noch einen drohenden Blick zu und verschwand dann wieder mit seinem Begleiter aus der Hütte. Draußen erklangen dann aufgeregte Stimmen, die Thorin ziemlich be-unruhigten.

»Ich wünschte, ich könnte mich verständlich machen«, sagte Tho-rin. »Aber das kann ich nicht.«

Noch während ihm diese Worte über die Lippen kamen, erklangen draußen laute Rufe aus Dutzenden von Kehlen. Dann ertönte ein mo-notoner Gesang, in den einige Stammesmitglieder einfielen. Ein Ge-sang, der so eigenartig klang, dass Thorin nur ahnen konnte, was der Inhalt dieses Liedes war. Er hatte seine eigenen Erfahrungen mit Ze-

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remonien verschiedener Völker gemacht und die waren nicht immer die besten gewesen.

»Was ist, wenn sie uns für Dämonen halten?«, fragte Lorys. »Tho-rin, wenn du die Blicke in den Augen der Frauen und Kinder gesehen hättest! Sie erkannten in mir keine Frau, sondern irgend etwas... ande-res!«

»Bedenke, wo wir sind«, sagte Thorin und versuchte trotz der ziemlich ausweglosen Lage einen klaren Kopf zu behalten. »Zuerst hatten wir ja auch angenommen, dass wir die bekannte Welt der Men-schen verlassen haben, als wir in den Sümpfen erwachten. Vielleicht lebt dieser Stamm schon seit sehr langer Zeit hier und weiß gar nicht, dass es noch Menschen anderer Hautfarbe gibt. Und wenn das so ist, dann kann ich ihre erschrockenen Blicke gut verstehen. Die Götter mögen wissen, was dieses Volk in die Sümpfe getrieben hat - und da-zu noch in die Nähe von Modors Reich. Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren...« Er brach ab, um Lorys nicht ganz zu entmutigen.

Grenzenlose Wut ergriff ihn, weil er wie ein ahnungsloser Narr in diese Falle getappt war. Und das wurde nun ihm und Lorys zum Ver-hängnis!

*

Hirano blickte in die umstehenden Gesichter der Männer, Frauen und Kinder des Stammes, die sich alle vor der Hütte versammelt hatten, in der man die beiden hellhäutigen Dämonen untergebracht hatte. Der weißhaarige Schamane wusste, dass die Furcht vor den beiden Hell-häutigen groß war und deshalb hielt er den richtigen Augenblick für gekommen, um das durchzuführen, an das er schon in der letzten Nacht gedacht hatte. Seine Visionen hatten sich bewahrheitet. Das Auftauchen der beiden Fremden mit der hellen Haut musste etwas zu bedeuten haben. Sie waren wohl keine Kreaturen der Finsternis, wie es einige der Jäger befürchtet hatten, jedoch gehörten sie zu einem Volk, von dessen Existenz selbst Hirano nichts gewusst hatte. Denn selbst er kannte die überlieferten Erzählungen seines Stammes, die davon berichteten, dass es außerhalb der Sümpfe von Cardhor nur

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eine leere und öde Welt gab, die längst von den Menschen verlassen worden war. Sollten sich die alten Überlieferungen vielleicht als falsch herausgestellt haben?

Hirano war unsicher, aber er zeigte das nicht nach außen, denn gerade jetzt musste er Stärke und Überlegenheit gegenüber den Din-gen beweisen, die sein Volk betrafen. Und da gab es nur noch eine einzige Lösung.

»Wir müssen den mächtigen Modor besänftigen und zwar noch heute. Wir werden ihm ein Opfer aus unseren Reihen übergeben zu-sammen mit den beiden Fremden. Dann werden wir sicher sein vor dem Unheil!«

Seine Blicke schweiften in die Runde, während er beide Hände hob und einen eintönigen Gesang anstimmte, in den dann etliche an-dere des Stammes einfielen. Das war der Auftakt zu einer Zeremonie, die bei den N'dele zum letzten mal vor einigen Jahren stattgefunden hatte. Seit dieser Zeit hatten sie in Frieden gelebt und selbst Hirano hatte keine Anzeichen einer Bedrohung in seinen Visionen gesehen - bis gestern. Aber das Auftauchen der beiden Hellhäutigen war ein ein-deutiges Zeichen - und das begriffen auch die unter den Stammesmit-gliedern, die zu Beginn vielleicht noch gezögert hatten.

Während Hirano das Lied Modors anstimmte, holten die übrigen N'dele ihre Opfersteine aus den Hütten. Es waren kleine, geschliffene Steine, auf denen jeweils das Symbol der Familie markiert war - und es betraf diejenigen, die Töchter hatten. Denn der Herrscher der Fins-ternis verlangte Frauen als Opfer und diesem Wunsch mussten die N'dele nachkommen.

Jeder der Väter, die Töchter hatten, warfen ihren Stein dann in ei-nen Krug und traten dann wieder in die Menge zurück. Hirano sah die ganze Zeit über zu und sang ununterbrochen weiter. Erst als der letzte Stein mit einem dumpfen Geräusch in den Krug gefallen war, hielt er in seinen Gesängen inne und ergriff dann wieder das Wort.

»Die Wahl des Opfers beginnt!«, rief er dann mit lauter Stimme. »Betet zu dem allmächtigen Modor und dankt ihm jetzt schon dafür, dass er eine von euch erwählen wird!«

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Die letzten Worte galten den jungen Frauen, um die es schließlich ging. Ihre Blicke waren gelassen und abwartend, aber unter dieser Maske schwelte ein Brand, der mit jeder verstreichenden Minute zu-nahm. Auch wenn es eine Ehre war, auserwählt zu sein, so bedeutete es den Tod für eine der jungen Frauen!

Hirano betete noch einmal mit lauter Stimme zu dem Herrscher der Finsternis, bevor er dann seine Hand ausstreckte und tief in den Krug griff. Quälende Sekunden wurden zur Ewigkeit, bis schließlich Hirano einen der Steine herausgeholt hatte. Er warf einen kurzen Blick herauf, erkannte das Familienzeichen und sah dann hinüber zu den jungen Frauen.

»Modor wird ein würdiges Opfer erhalten!«, rief er dann. »Stimmt die Freudengesänge an, denn es ist Doka, auf die die Wahl fiel. Die Tochter des berühmten Kriegers Samolo wird unser Volk retten. Es ist eine Ehre für die ganze Familie!«

*

Als Doka ihren Namen aus dem Mund des weißhaarigen Schamanen vernahm, war sie vor Schreck fast wie gelähmt. Namenloses Entsetzen überkam sie, als ihr klar wurde, was das für sie bedeutete. Im ersten Moment sah sie hinüber zu ihrem Vater. Aber selbst wenn Samolo schockiert darüber war, dass das Los des Schicksals ausgerechnet sei-ne einigste Tochter getroffen hatte, so ließ er sich das nicht anmerken, denn er war ein Krieger, der die alten Traditionen des Stammes immer eingehalten hatte und diese als ungeschriebene Gesetze auch respek-tierte. Auch wenn dies seine Tochter das Leben kosten würde.

Doka begriff, dass sie von ihrem Vater keine Hilfe zu erwarten hat-te. Deshalb suchten ihre Blicke jetzt Maraco in der Menge. Sekunden später entdeckte sie ihren Geliebten und sah auch die Angst, die in seinen Augen zu lesen war. Aber dann schlich sich ein leises aufmun-terndes Lächeln in seine Züge.

Du musst keine Angst haben, Doka, glaubte sie aus seinen Blicken zu lesen. Ich helfe dir...

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Weiter darüber nachdenken konnte sie aber nicht mehr, denn nun nahm die bereits begonnene Zeremonie ihren Fortlauf. Zwei der Krie-ger traten zu Doka und ergriffen sie an beiden Armen, brachten sie dann hinüber zu dem Schamanen, der sie streng anschaute.

»Du bist auserwählt, Doka«, sagte er dann so laut, dass es jeder hören konnte. »Es lastet eine große Verantwortung auf dir, denn es ist deine Aufgabe, den mächtigen Modor durch dein Opfer zu besänftigen. Dadurch wirst du den ganzen Stamm retten - vergiss das nicht, wenn du nun gleich Abschied von deiner Familie nehmen wirst. Aber wir alle werden deinen Namen stets in Ehren halten. Und du wirst nicht allein gehen. Die beiden hellhäutigen Fremden werden bei dir sein, wenn du Modors Reich betrittst...«

Ich will nicht sterben, schrie eine innere Stimme in Doka und sie spürte, wie die Panik in ihr immer stärker wurde und beinahe jeden vernünftigen Gedanken überlagerte. Es würde aber nichts ändern, wenn sie jetzt um ihr Leben bettelte, denn niemand würde die alten Gesetze des Stammes ändern, nur weil sie nicht sterben wollte. Im Gegenteil - sie würde sogar Schimpf und Schande über ihren Vater bringen, wenn sie jetzt nicht nach außen hin Mut zeigte.

»Holt die Fremden aus der Hütte!«, befahl Doka nun drei anderen Kriegern. »Dann bringt ihr sie alle an die Grenze zu Modors Reich und lasst sie dort zurück. Es wird nicht lange dauern, bis der mächtige Gott der Finsternis seine Opfer holen wird - und dies ist dann der Augen-blick, wo unser Volk wieder sicher sein wird. Die dunklen Schatten des Unheils werden weiterziehen...«

Damit war alles gesagt. Bevor Doka von den Kriegern gepackt und weggezerrt wurde, sah sie noch ein letztes mal zu Maraco. Erneut hiel-ten ihre Blicke stumme Zwiesprache.

Aber ihre Blicke tauchten nur für wenige Atemzüge ineinander, dann rissen die beiden Krieger auch schon Doka weiter, so dass sie ihren Geliebten nicht mehr sehen konnte. Und auch die beiden gefan-genen Hellhäutigen wurden nun unter lautem Gejubel des Stammes aus der Hütte gezerrt. Der große hünenhafte Krieger war nach wie vor mit starken Stricken gefesselt und versuchte sich gegen den Zugriff der Jäger des Stammes zu wehren. Doka sah aus den Augenwinkeln,

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wie er sich gegen die beiden Männer stemmte, die ihn und die Frau mitrissen. Offensichtlich schien auch er zu ahnen, welches Schicksal ihn erwartete. Aber die Stricke um seinen muskulösen Körper saßen zu fest. Ein Hieb mit der flachen Seite eines Speers belehrte ihn sehr rasch eines Besseren. Die Frau hatte jeden Gedanken an Gegenwehr bereits aufgegeben und ließ sich von den Kriegern mitzerren. Aber ihr Begleiter schrie den Kriegern einige zornige Worte zu. Doka konnte nicht verstehen, was der Fremde gesagt hatte, aber aus seiner zorni-gen Miene konnte sie schließen, dass er wahrscheinlich den Schama-nen und das gesamte Volk der N'dele verfluchte. Denn auch er schien bereits zu ahnen, dass ihn und die Frau der Tod erwartete - genau wie Doka auch. Jedoch hatte er wenigstens in der Stunde des Todes seine Frau bei sich - Doka dagegen war ganz allein, wenn ihr Maraco nicht zu Hilfe kam.

Die drei wurden nun nach unten zum Boden des Dschungels ge-bracht und mit einer starken Eskorte sofort vorangetrieben. Es galt keine Zeit mehr zu verlieren und die Anordnungen Hiranos unverzüg-lich zu befolgen. Denn einen zürnenden Gott wie den mächtigen Modor durfte man nicht warten lassen.

Ein letztes mal schaute Doka noch zurück, bevor das Dorf und die vertraute Umgebung ihrer Heimat schließlich im dichten Grün des wu-chernden Dschungels verschwanden.

*

Drei dunkelhäutige Krieger bedrohten den Nordlandwolf mit ihren scharfen Speeren. Kein Zweifel, sie würden sofort zustoßen, falls Tho-rin nur einen winzigen Atemzug mit dem Gedanken spielen würde, sich wehren zu wollen. So musste er sich notgedrungen fügen und zusam-men mit Lorys den Männern in den Dschungel folgen.

Es war nicht gerade leicht, mit auf den Rücken gefesselten Hän-den durchs Dickicht zu gelangen, aber darauf nahmen die Dunkelhäu-tigen keine Rücksicht. Noch nicht einmal auf die junge Frau von ihrem Stamm, deren Blicke Thorin mehr sagten als tausend Worte. Er konnte nur ahnen, was sich während ihrer kurzen Gefangenschaft draußen vor

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der Hütte abgespielt hatte. Aber es musste irgendwie mit dem finste-ren Gott Modor zu tun haben, denn Thorin glaubte, ein oder zweimal den Namen des Herrschers der Sümpfe vernommen zu haben.

Die bewaffneten Krieger verhinderten, dass er mit Lorys sprach. Sobald er nur den Versuch machte und sich zu ihr umdrehen wollte, verpasste ihm einer der Krieger einen schmerzhaften Stoß mit der Breitseite des Speers. So blieb dem Nordlandwolf nach Lage der Dinge nichts anderes übrig, als den Befehlen der Krieger Folge zu leisten. Ihre Gesten und Blicke waren eindeutig genug - er hatte auch so beg-riffen, was er tun sollte.

Wie lange der Marsch durch den Dschungel dauerte, konnte Tho-rin nicht sagen, denn er hatte mittlerweile jedes Zeitgefühl verloren. Die Sonne war ohnehin nicht mehr zu sehen, denn je tiefer die Krieger mit ihren Gefangenen im grünen Dickicht untertauchten, um so dichter wurde der Blätterwald über ihren Köpfen.

Die Vogelstimmen oben in den Wipfeln der Bäume, die ihr ständi-ger Begleiter gewesen waren, begannen irgendwann spärlicher zu werden und schließlich ganz zu verstummen. Das war auch der Au-genblick, wo es die Krieger noch eiliger hatten. Nicht gerade ein gutes Zeichen für die Richtung, die sie einschlugen, dachte Thorin.

Irgendwann erreichten sie wieder sumpfigen Boden, der an man-chen Stellen ziemlich tief war. Aber die Dunkelhäutigen schienen den Weg genau zu kennen und gerieten deshalb nicht in Gefahr, an irgend einer trügerischen Stelle einzusinken.

Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Thorin wurde mit vorgehaltenen Speeren gezwungen, sich mit dem Rücken an einen mächtigen ver-wurzelten Baum zu lehnen. Während zwei der Krieger noch zusätzlich einen starken Strick um seine Brust wanden und diesen dann auf der Rückseite des Baumes zu einem dicken Knoten vertäuten, zielte ein anderer Krieger mit der Speerspitze auf Thorins Magen. Die Waffe ließ er erst sinken, als seine Gefährten ihm mit kurzem Nicken zu verste-hen gaben, dass sie ihr Handwerk vollendet hatten.

Nun kamen auch Lorys und die junge Frau aus dem Stamm an die Reihe. Sie wurden an zwei weiteren Bäumen ebenso hart festgebun-den wie Thorin. Noch während die beiden Frauen fest verschnürt wur-

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den, gingen zwei andere Krieger ans Werk und tauchten im grünen Dickicht unter. Aber nur für kurze Zeit. Als sie wiederkamen, hatte jeder von ihnen einige trockene Zweige unter dem Arm, die sie dann in der Mitte zwischen den Bäumen zu einem kleinen Haufen aufschichte-ten.

Einer der Männer entzündete dann ein kleines Feuer mit Hilfe ei-nes Reibstockes und einem Stück trockener Baumrinde. Mit geübten Bewegungen erreichte er es, dass die Rinde zu qualmen anfing und kurz darauf züngelten auch schon die ersten Flammen empor, die gie-rig nach dem trockenen Holz leckten.

Einer der Krieger ging nun hinüber zu der jungen Frau und redete kurz auf sie ein. Sie antwortete etwas, was weder Thorin noch Lorys verstehen konnten. Aber erneut fiel der Name des finsteren Herr-schers. Das hatte Thorin genau gehört.

Ein letztes mal versicherten sich die Krieger, dass die Stricke der Gefesselten auch fest saßen und dass sie sich aus eigener Kraft nie-mals befreien würden können. Dann war ihre Arbeit erledigt und sie entfernten sich rasch von diesem Ort. Nur wenige Atemzüge später hatte der dichte Dschungel die Schritte der Krieger verschluckt.

Sofort riss Thorin an seinen Fesseln, versuchte sie zu lockern, aber alles, was er damit erreichte, war, dass sich die Stricke noch tiefer in seine Haut gruben.

»Ich komme nicht los, Lorys!«, rief er zu der blonden Frau hin-über. »Die Stricke sitzen zu fest!«

Lorys kam nicht mehr dazu, darauf etwas zu erwidern, denn die dunkelhäutige Frau, die ihr Los teilte, war schneller. Sie blickte von Thorin zu Lorys, redete hastig auf die beiden ein. Immer wieder fiel der Name des Sumpfgottes, sowie zwei andere Namen. Das kam alles so schnell über die Lippen der Frau, dass weder Thorin noch Lorys wussten, was sie davon halten sollten. Wahrscheinlich sollten sie alle dem finsteren Gott geopfert werden und hier auf ihr Schicksal warten wie Lämmer, die man zur Schlachtbank führte. Auch wenn sich in Tho-rin alles gegen diesen Gedanken sträubte, so war und blieb es eine Tatsache, dass er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte. Und

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Sternfeuer, das Schwert der Götter, hatte man ihm abgenommen. Die Klinge war im Dorf zurückgeblieben.

»Ich bin Thorin!«, rief der Nordlandwolf nun zu der dunkelhäuti-gen Frau hinüber und sah dann zu Lorys. »Das dort ist Lorys. Thorin und Lorys, verstehst du? Und wer bist du?«

Aufgrund seiner Blicke schien die Frau verstanden zu haben, was er hatte sagen wollen. Sie wiederholte den Namen des Nordlandwolfes und nannte dann ihren eigenen. Doka.

»Doka«, wiederholte Thorin sofort diesen Namen, um ihr zu zei-gen, dass er verstanden hatte. »Du heißt also Doka. Weshalb hat uns dein Stamm gefangen?«

Er ließ den Kopf dabei sinken, riss an seinen Fesseln und blickte dann hinüber zum brennenden Feuer, dessen Flammen schon ziemlich groß geworden waren.

Doka schien zu ahnen, was sie Thorin hatte fragen wollen. Ihr Ge-sicht verfinsterte sich zusehends und nahm einen Ausdruck des Grau-ens an, als sie dann den Namen des finsteren Gottes nannte.

»Wie ich es mir gedacht habe«, murmelte der Nordlandwolf voller Zorn. »Sie wollen uns Modor opfern - vielleicht erhoffen sie dadurch den Gott zu besänftigen, indem sie außer uns auch noch eine Frau aus ihrem Volk opfern...«

Lorys hatte Thorins Worte vernommen und wurde noch eine Spur blasser als es ohnehin schon der Fall war. Denn sie wusste nun auch, warum die dunkelhäutigen Krieger das Feuer entzündet hatten. Dieje-nigen Mächte, denen man sie ausliefern wollte, sollten auf das bren-nende Feuer aufmerksam werden und den aufsteigenden Rauch er-kennen. Dann würden sie wissen, dass hier ein Opfer auf sie wartete und sie würden kommen, um es sich zu holen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie alle ein grauenhaftes Schicksal ereilte!

*

Maraco wurde von einer unbeschreiblichen Wut erfasst, als er zusehen musste, wie ein Kriegertrupp seine geliebte Doka zusammen mit den beiden Fremden aus dem Dorf brachte. Es war ein schrecklicher Ge-

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danke, zu akzeptieren, dass er Doka nun niemals mehr wieder sehen würde. Der Schamane hatte davon gesprochen, dass Doka eine heilige Pflicht zu erfüllen hatte - indem sie durch ihren Opfergang den ganzen Stamm vor dem Untergang rettete. Aber je länger Maraco darüber nachdachte, um so mehr geriet er ins Zweifeln, ob die Entscheidung des Schamanen wirklich richtig gewesen war.

Schließlich tat er das, wozu ihn die Stimme seines Herzens rief. In einem unbeobachteten Moment schlich er sich in die Hütte Hiranos, der sich gerade mit dem Stammeshäuptling beriet. Er brauchte nicht lange, um das prächtige Schwert des hellhäutigen Kriegers zu finden. Maraco nahm es an sich und verließ dann die Hütte so schnell wieder wie er sie betreten hatte. Seinen eigenen Speer hatte er schon zuvor aus seiner Hütte geholt und wollte nun mit Hilfe einer der Lianen noch unten klettern, als ihm plötzlich sein Gefährte Uboto in den Weg trat.

»Wo willst du hin?«, fragte er Maraco mit misstrauischer Stimme, während sein Blick auf das Schwert des fremden Kriegers fiel.

»Halte mich nicht auf, Uboto«, kam es hastig über Maracos Lip-pen. »Ich tue jetzt, was ich tun muss. Und wenn du wirklich mein Freund bist, dann hinderst du mich nicht daran...«

»Es ist Wahnsinn, Maraco«, fiel ihm Uboto ins Wort und blickte kurz nach allen Seiten. Weil er sich vergewissern wollte, dass niemand sah, was sich hier gerade abspielte. »Du gehst in den sicheren Tod - weißt du das?«

»Es geht nicht um mich«, hielt ihm Maraco entgegen. »Ich werde nicht zulassen, dass Doka stirbt. Ich muss sie vor Modor retten!«

»Du gehst in den Tod, Maraco. Niemand kann Doka mehr retten. Modor wird dich vernichten. Bleib hier und versuch zu verstehen, dass es Dokas Schicksal ist, dass sie...«

»Geh beiseite!«, fiel ihm Maraco mit ungeduldiger Stimme ins Wort. »Es ist nicht die Zeit zum Reden, sondern zum Handeln. Wenn du wirklich mein Freund bist, dann bete für mich, ich werde es brau-chen!«

Mit diesen Worten griff er nach der Liane und ließ sich nach un-ten, nachdem er Schwert und Speer bereits hinuntergeworfen hatte. Er dachte nur einen kurzen Augenblick daran, dass Uboto auch anders

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hätte handeln können. Aber dann zeigte sich doch, dass der N'dele Maracos Freund war. Denn anstatt die anderen Krieger zu rufen und sie auf Maracos Verrat hinzuweisen, schwieg er. Und diesen Moment nutzte Maraco, um im Dickicht des Dschungels unterzutauchen. Er folgte der Richtung, die die anderen Krieger mit ihren Opfern einge-schlagen hatten und ging dabei so geschickt ans Werk, dass ihn keiner der übrigen Posten bemerkte, die das Dorf der N'dele bewachten. Der Mut der Verzweiflung trieb Maraco voran, denn seine Gedanken kreis-ten einzig und allein um Doka und wie er sie aus den Klauen des Got-tes der Sümpfe befreien konnte.

Er setzte seine ganze Hoffnung darauf, dass ihm der fremde Krie-ger Dank schuldete, wenn Maraco ihm und seiner Begleiterin ebenfalls half. Und gemeinsam hatten sie wenigstens eine winzige Chance!

Er wurde eins mit dem wild wuchernden Dschungel, schlich sich durch das Dickicht und folgte der Spur, die die Krieger dort hinterlas-sen hatten. Maraco hatte den Opferplatz zwar noch nie zuvor mit ei-genen Augen gesehen, aber er kannte ihn aus den Erzählungen der älteren Krieger, die schon einmal dort gewesen waren. Deshalb wusste er, welche Richtung er einzuschlagen hatte und die Spuren, die die anderen hinterlassen hatten, halfen ihm dabei.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, während er sich sei-nen Weg durch die dichten Farne und die Sümpfe bahnte. Aber plötz-lich hörte er irgendwo weiter vor sich mehrere Stimmen. Geistesge-genwärtig tauchte er sofort unter, verbarg sich in den dornigen Bü-schen seitlich des schmalen Pfades. Das gelang ihm gerade noch rechtzeitig, bevor er die dunkelhäutigen Krieger erkannte. Sie hatten ihre Opfer zurückgelassen und waren nun wieder auf dem Rückweg zum Stamm. Maraco rührte sich nicht, als die Krieger ganz nahe an ihm vorbeigingen, ohne ihn zu bemerken. Denn natürlich rechnete keiner von ihnen damit, dass ihnen jemand gefolgt war.

Nur wenige Atemzüge später waren die Krieger bereits wieder verschwunden. Trotzdem wartete Maraco aber noch etwas, bevor er sich wieder aus seinem Versteck wagte und dann den Weg wieder fortsetzte. Diesmal hatte er es noch eiliger als zuvor, denn er spürte

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die wachsende Ungeduld in seinem Inneren, die mit jedem verstrei-chenden Augenblick immer stärker wurde.

Plötzlich roch er den vertrauten Rauch eines Feuers. Ein Krieger wie Maraco, der in dieser menschenfeindlichen Umgebung geboren und aufgewachsen war, hatte es frühzeitig gelernt, seine Instinkte zu schulen - und genau deshalb war ihm das nicht entgangen.

Das Schwert des fremden Kriegers in der linken und den vertrau-ten Speer in der rechten Hand - so setzte er seinen Weg fort und er-reichte wenig später eine kleine Lichtung zwischen den Urwaldriesen.

Im selben Moment sah er auch Doka. Sie war an einen Baum ge-fesselt, genau wie der fremde Krieger und seine Begleiterin. Und in der Mitte der Lichtung brannte ein Feuer.

Jetzt konnte sich Maraco nicht länger zurückhalten. Er eilte auf die Lichtung zu und rief Dokas Namen ganz laut. Die junge Frau fuhr er-schrocken zusammen, als sie Maraco sah.

»Maraco!«, rief sie. »Ich wusste, dass du kommen würdest!« »Ich lasse nicht zu, dass man dich Modor opfert, Doka«, sagte

Maraco und durchtrennte mit seiner Lanze rasch die Stricke. Dann schloss er sie in die Arme, aber nur für wenige Augenblicke. Denn an-schließend richtete er seine Blicke auf den hellhäutigen Krieger und seine Begleiterin.

»Hör mir gut zu, Fremder!«, wandte sich Maraco dann an ihn - in der Hoffnung, dass ihn der andere verstand, wenn er seine Worte mit den entsprechenden Gesten untermalte. »Ich werde dich und deine Begleiterin auch befreien, wenn du mir hilfst, den Gott der Sümpfe zu vernichten. Modor ist ein finsterer und ungerechter Gott - mein Volk darf ihm nicht länger opfern. Verstehst du?«

»Er heißt Thorin, Maraco«, sagte Doka nun zu ihm. »Die Frau dort ist Lorys. Er hat versucht, mit mir zu sprechen. Ich glaube jedenfalls, diese Namen verstanden zu haben. Und ich denke, dass sie ahnen, dass all dies hier mit Modor zu tun hat. Sie kennen den Gott der Sümpfe ebenfalls, Maraco.«

Während der dunkelhäutige Krieger Dokas Worte vernahm, behielt er die ganze Zeit über den Fremden im Auge.

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»Bist du Thorin?«, versuchte er es dann noch einmal und bemerk-te, wie der andere nun kurz nickte und trotz seiner Lage zu lächeln versuchte. Das gab schließlich den Ausschlag.

Maraco ging auf Thorin zu und befreite ihn ebenfalls von seinen Fesseln, drückte ihm dann das Schwert in die Hand.

Der dunkelhäutige Krieger sah, wie Thorins Augen vor Triumph aufleuchteten, als sich seine Hände um den Knauf des Schwertes schlossen. Diese Waffe schien ihm sehr viel zu bedeuten - wahrschein-lich mehr als sich Maraco vorstellen konnte.

Sofort eilte Thorin hinüber zu dem anderen Baum und befreite seine Begleiterin von ihren Fesseln. Anschließend sagte er etwas zu Maraco, was dieser nicht genau verstehen konnte. Denn die Sprache der beiden Hellhäutigen war ganz anders als der vertraute Dialekt der N'dele. Aber manchmal gibt es eben Situationen und Augenblicke, in denen sich auch Menschen untereinander verständigen können - selbst wenn sie nicht dieselbe Sprache sprechen. So ein Augenblick war jetzt gekommen. Denn nun ging Thorin auf Maraco zu und legte seine Hand auf dessen Schulter. Seine Blicke waren nicht die eines Feindes oder gar eines Dämons, wie einige der N'dele zu Beginn vermutet hatten. Nein, diese Blicke kündeten von Dank und Erleichterung, weil Maraco ihm geholfen hatte!

*

Zuerst hatte Thorin gar nicht glauben wollen, was er sah. Aber dann wurde ihm klar, dass er nicht träumte. Er sah einen dunkelhäutigen Krieger aus dem Dickicht kommen, der in seiner linken Hand Sternfeu-er trug. Er eilte sofort auf Doka zu und befreite sie von ihren Fesseln. Die junge Frau schien ihm sehr viel zu bedeuten, denn er schloss sie sofort in seine Arme und blickte sie auf eine Weise an, die nur Lieben-de kennen.

Es bedurfte keiner großen Phantasie, um die Zusammenhänge so-fort zu erkennen. Der Krieger hatte den Opfergang seiner Geliebten verhindern wollen und war ihr deshalb rasch gefolgt. Und wahrschein-

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lich hatte das Doka geahnt, denn nun löste sie sich wieder aus den Armen des Kriegers und zeigte auf Thorin.

Sie redete mit hastigen Worten auf den dunkelhäutigen Krieger ein und zeigte dabei immer wieder auf Thorin. Dann redete ihn der Krieger mit seinem Namen an und Thorin nickte daraufhin. Schließlich ging der Krieger auf Thorin zu und schnitt ihm die Fesseln durch. Das angestaute Blut schoss mit einem schmerzhaften Prickeln in Thorins Handgelenke zurück, so dass er im ersten Moment Mühe hatte, Stern-feuer festzuhalten, nachdem der Krieger es ihm wortlos gegeben hat-te.

Dann aber kam wieder Gefühl in seine Hände und das erste, was Thorin tat, war Lorys auch aus ihrer unbequemen Lage zu befreien. Hoffnung leuchtete in ihren Augen, als sie ihn ansah, aber Thorins Aufmerksamkeit galt nun dem so plötzlich aufgetauchten Krieger.

»Ich danke dir«, wandte sich Thorin an ihn, kam näher und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Er setzte dabei ein Lächeln auf und das reichte aus, dass der Dunkelhäutige ebenfalls lächelte. »Ich bin Thorin - und wer bist du?«

Er untermalte seine Worte mit den entsprechenden Gesten, so dass der Krieger rasch begriff, was ihn Thorin hatte fragen wollen.

»Maraco«, nannte der Krieger dann seinen Namen, wies dann auf sich und Doka und sagte dann »N'dele.« Wahrscheinlich war das der Name des Volkes, dem die beiden Menschen angehörten.

Thorin nickte nur. Weitere Worte wollte er nicht mehr verlieren, denn jetzt gab es wichtigere Dinge. Er deutete Maraco an, mit ihm zu kommen. Hinüber zum brennenden Feuer, dessen weißlicher Rauch immer dichter wurde. Thorin stieß mit Hilfe der Götterklinge die bren-nenden Äste auseinander, so dass das Feuer nicht mehr genügend Nahrung fand.

Auch Maraco hatte rasch begriffen, was Thorin damit bezweckte und half ihm so gut er konnte. Gemeinsam versuchten die beiden, die Flammen des Feuers zu vernichten.

Schließlich gelang ihnen das auch, aber trotzdem konnte niemand sagen, ob die dichten Rauchwolken nicht schon längst bemerkt worden waren. Und falls dies so war, dann durften sie keine weitere Zeit ver-

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lieren, sondern mussten stattdessen zusehen, dass sie so rasch wie möglich von hier verschwanden.

Das war auch der Moment, wo der Boden plötzlich von einem hef-tigen Zittern erfüllt wurde. Weiter hinten, wo die Farne am dichtesten waren, erklang auf einmal ein dumpfes Bersten und erneut spürte Thorin, wie der Boden unter seinen Füßen zu beben begann. Er sah kurz hinüber zu Lorys, Maraco und Doka und auch die hatten es längst bemerkt.

Ein lautes Brüllen durchbrach das Donnern und nur wenige Atem-züge später tauchte der riesenhafte Körper einer geschuppten Echse zwischen den Farnsträuchern auf. Sie ging aufrecht und die rot fun-kelnden Augen des grauenhaften Schädels richteten sich nun auf die vier Menschen. Die Bestie hatte beide Pranken weit ausgestreckt und Thorin sah die messerscharfen Krallen, die einen Menschen sicherlich innerhalb weniger Augenblicke zerreißen konnten.

Die Sumpfechse hatte den Rauch gewittert und war deshalb ge-kommen. Wahrscheinlich hoffte die riesenhafte Kreatur auf Beute und die würde sie auch bekommen, wenn Thorin und Maraco nicht sofort etwas unternahmen.

»Nach hinten!«, rief Thorin Lorys und Doka zu. »Versteckt euch hinter den Bäumen! Maraco und ich versuchen, die Bestie abzuwehren - beeilt euch!«

Weiterer Worte bedurfte es nicht. Thorin sah aus den Augenwin-keln, wie Lorys nach Dokas Hand griff und das dunkelhäutige Mädchen mit sich zerrte. Inzwischen hatte Maraco bereits seinen scharfen Speer hochgerissen und zielte damit nach der geschuppten Echse, die mit bebenden Schritten näher kam.

»Nein - warte!«, schrie Thorin Maraco zu, als er sah, wie der dun-kelhäutige Krieger mit dem Speer ausholte. Aber Maraco hörte die Warnung des Nordlandwolfs nicht, denn der Anblick der riesenhaften Sumpfechse ließ ihm buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren. Er schleuderte den scharfen Speer der Bestie entgegen und die Spitze bohrte sich in die Flanke des Ungeheuers. Natürlich richtete der Speer aus dieser Entfernung keinen großen Schaden an - und genau das hatte Thorin Maraco auch zurufen wollen. Aber in solch schrecklichen

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Sekunden, wo sich diese grauenhafte Kreatur auf einmal zeigte, konn-te Maraco keine Vernunft mehr bewahren. Er hatte Angst, furchtbare Angst davor, dass Doka etwas zustieß. Und deshalb griff er ohne Zö-gern die Bestie an, weil er sie von Doka und Lorys ablenken wollte.

Aber alles, was Maraco damit erreichte, war, dass die Sumpfechse noch lauter brüllte und die Pranken noch höher streckte. Der Speer hatte die Echse verwundet und die Kreatur spürte den Schmerz, der sie rasend machte.

Thorin begriff, dass der Zorn der Echse sich auf Maraco konzent-rierte und ihn das Ungeheuer deshalb für einige Sekunden ignorierte. Diese kurze Zeitspanne, die ihm blieb, musste er nützen, wenn er sein eigenes Leben und das der anderen noch retten wollte!

Mit hoch emporgereckter Klinge sprang er seitlich auf die Echse zu und stieß die scharfe Klinge vor. Sie bohrte sich unterhalb des Rückens in den Körper der Bestie. Rasch riss der Nordlandwolf die Klinge wie-der heraus und versetzte dem Ungeheuer einen zweiten Stich, bevor er wieder zurücksprang.

Nun wirbelte die Echse herum, wollte mit den scharfen Pranken den zweiten Feind ergreifen, um ihn zu zerreißen. Aber Thorin hatte das bereits kommen sehen und befand sich deshalb nicht mehr an der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Nun hielt er sich seitlich hin-ter der Echse und setzte alles auf eine Karte. Mutig sprang er mit ei-nem geschmeidigen Satz auf den Rücken der Echse, klammerte sich mit einer Hand an einigen hornigen Schuppen fest und stieß mit der anderen Hand die Klinge fast bis zum Knauf von hinten in den Hals der Bestie.

Ein unbeschreibliches Brüllen kam aus der Kehle des Ungeheuers, während Blut austrat und Thorin besprühte. Die Echse spürte ihren Gegner, versuchte ihn mit den Pranken noch zu ergreifen, bevor sie immer schwächer wurde. Aber Thorin hatte bereits zum zweiten mal zugestoßen und sprang dann wieder vom Rücken der Kreatur herun-ter, kam hart auf dem Boden auf und rollte sich rasch beiseite.

Als er sich dann hastig wieder erhob und mit Sternfeuer erneut auf das Ungeheuer eindringen wollte, sah er, dass das gar nicht mehr nötig war. Beide Stöße Sternfeuers hatten die Bestie tödlich getroffen.

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Sie geriet jetzt ins Wanken, ruderte noch einmal hilflos mit beiden Pranken und stürzte dann so heftig zu Boden, dass die Erde erzitterte. Ein letztes Röcheln kam aus der Kehle der Bestie, dann zuckte sie kurz und rührte sich danach überhaupt nicht mehr.

Trotzdem wartete Thorin noch einige Sekunden ab, bevor er mit der Klinge in der Hand auf die Sumpfechse zuging. Dann sah er mit eigenen Augen, dass die Gefahr endgültig vorüber war. Die Bestie war tot!

»Thorin!«, hörte er hinter sich Lorys Stimme. »Bei allen Göttern, ich hatte schon dein Ende gesehen, als du diese Kreatur angreifen wolltest und...«

»Ich habe Sternfeuer wieder - vergiss das nicht«, erwiderte Thorin mit einem müden Lächeln, denn der kurze, aber um so heftigere Kampf hatte ihn ziemlich angestrengt. »Es ist eine besondere Waffe.«

»Und du bist ein besonderer Krieger«, sagte Lorys mit einem kur-zen Seitenblick zu dem Kadaver des Ungeheuers. Noch eben war sie dem Tode so nahe gewesen - aber jetzt fühlte sie sich, als hätte man ihr das Leben noch einmal neu geschenkt!

Auch Maraco und Doka blickten Thorin mit staunenden Augen an. Der dunkelhäutige Krieger wollte sich schon zu Boden werfen und Tho-rin damit seinen Dank erweisen, aber Thorins Stimme ließ ihn innehal-ten. Er deutete Maraco mit einem stummen Kopfschütteln an, was er von solchen Dankesbezeugungen hielt und winkte kurz ab.

»Die Echse ist besiegt«, sagte er knapp. »Nun erwartet uns noch ein weitaus gefährlicherer Gegner - nämlich Modor.«

Als der Name des Sumpfgottes fiel, ergriff auch Maraco wieder das Wort. Seine Miene war erfüllt von Zorn, als er mit eindeutigen Gesten in die Richtung zeigte, aus der die Echse gekommen war. Erneut wie-derholte er den Namen des dunklen Gottes und gab Thorin damit zu verstehen, dass der Weg zu Modor genau in diese Richtung führte.

»Ich habe dich verstanden, mein Freund«, murmelte Thorin. »Also lasst uns aufbrechen. Wir haben nicht viel Zeit. Denn der dichte Rauch ist bestimmt nicht nur der Echse in die Nase gestiegen...«

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Zwischenspiel Einar saß allein in einem abgeschiedenen Raum inmitten des gewalti-gen Wolkenhortes seines Götterbruders Odan, dem Weltenzerstörer. Schon seit Stunden hatte er sich mehr als einmal bemüht, Kontakt zu Thorin zu bekommen. Aber jedes mal dann, wenn er seinen Geist auf die Reise geschickt hatte, so war es ihm doch nur ganz kurz gelungen, die Barriere der finsteren Mächte zu durchdringen, bevor sich die dunklen Mächte gegen ihn stemmten und ihn wieder zurückschleuder-ten. Dennoch hatte aber diese kurze Zeitspanne ausgereicht, um sich zu überzeugen, dass Thorin immer noch am Leben war. Und er war auch weiterhin auf dem Weg durch die Sümpfe, näherte sich unauf-haltsam Modors Reich.

Erneut versuchte Einar, Kontakt zu Thorin zu bekommen, versetz-te sich noch einmal in Trance und schickte seinen Geist auf die Reise in die weit entfernte Dimension des Grauens - in einen Teil der menschlichen Welt, der bereits vollkommen im Bann der dunklen Mächte stand. Das Leben war hier erloschen und hier regierte nur noch die Finsternis. Und wenn es Einar nicht gelang, Thorins Kräfte zu stärken, dann würde der Götterkrieger seine Aufgabe niemals erfüllen können.

Aber bisher waren die meisten Versuche fehlgeschlagen. Selbst als Einar, Odan und Thunor ihre geistigen Mächte gebündelt hatten, um Thorin vor dem Tod im Feuersee zu retten.

Ewigkeiten schienen vergangen zu sein, seit Einar dem Nordland-wolf zum letzten mal gegenübergestanden und ihm von den Zusam-menhängen zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis be-richtet hatte. Thorin wusste nun um seine Aufgabe und Einar konnte nur hoffen, dass er sie meisterte. Denn die Mächte der Finsternis wa-ren stark und Thorin war auf sich allein gestellt. Würden sich die Pro-phezeiungen der geheimnisvollen Schriften von Ushar bewahrheiten, dass ein Sterblicher den Ausgang der Schlacht entscheidend bestim-men würde? Selbst Einar begann jetzt zum ersten mal zu zweifeln.

Wieder und wieder grübelte er über den Sinn der Worte nach, wie sie in den Schriften aufgezeichnet waren und die er über einen Zeit-

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raum studiert hatte, die ein menschlicher Verstand nicht mehr erfassen konnte. Und doch wusste Einar immer noch nicht, was er nun tun soll-te. Er hatte seinen Paladin mitten in das Reich der Dunkelheit ge-schickt und sich darauf verlassen, ihm jederzeit beistehen zu können, wenn Thorin Gefahr drohte. Aber diese Hoffnung hatte sich als trüge-risch erwiesen.

Deshalb hatte sich Einar jetzt ganz zurückgezogen, um noch ein-mal in Ruhe über alles nachzudenken. Hatte er vielleicht einen Fehler gemacht oder irgend etwas übersehen, das von großer Wichtigkeit war?

Dieser Gedanke ließ Einar keine Ruhe mehr und deshalb beschäf-tigte er sich nochmals mit den alten Schriftrollen von Ushar, die tief in den Gewölben des Wolkenhorts in einem Raum verborgen waren, zu dem nur Einar Zugang hatte. Denn er war derjenige der Götter des Lichts, die um die Mysterien der Vergangenheit und der Zukunft wuss-ten und deshalb war es auch seine Aufgabe, wieder Licht ins Dunkel zu bringen. Denn mit jeder verstreichenden Stunde gewannen die Mächte der Finsternis immer mehr an Boden auf der Welt der Menschen.

Einar eilte durch lange Gänge und Flure, stieg Treppen hinab, bis er schließlich die Gewölbe erreichte, in denen die alten Schriften sicher aufbewahrt wurden. Kraft seines Geistes öffnete Einar die Tür und betrat wenige Augenblicke später einen Raum, dessen Mittelpunkt eine kunstvoll gearbeitete Truhe mit Eisenbeschlägen bildete. Ein ewiges Licht erhellte diesen Raum Tag und Nacht.

Der einäugige Gott ging auf die Truhe zu und öffnete sie. Das hel-le Leuchten, das ihm vom Boden her entgegenstrahlte, verdichtete sich jetzt, als er die alten Schriftrollen an sich nahm und sie vorsichtig auf einem nahen Tisch ausbreitete.

Erneut studierte er den Inhalt der Prophezeiungen, die ein menschlicher Verstand niemals hätte erfassen können. Denn es waren Worte in einer bereits vergessenen Sprache und sie hatten einen Sym-bolcharakter, den nur ein Gott verstehen konnte. Aber auch wenn Ei-nar jedes einzelne Wort der Schriften klar und deutlich lesen konnte, so war es doch eine ganz andere Sache, ihren tatsächlichen Sinn wirk-lich ganz genau zu erfassen.

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Denn eine Prophezeiung konnte immer mehrere Wege gehen - vielleicht hatte er ja die ganze Zeit über nicht den richtigen Weg gese-hen, weil auch er sich irren konnte.

Einar blieb ganz ruhig, auch wenn er wusste, welch schwierige Aufgabe ihm bevorstand. Aber er vergaß alle Gedanken, die sich mit Thorins ungewissem Schicksal beschäftigten und konzentrierte sich stattdessen auf die alten Schriften von Ushar, von denen selbst die Götter des Lichts nicht mehr wussten, welche Hand sie einst aufge-zeichnet hatte.

... die Mächte des Lichts kämpfen einen ewigen Kampf gegen die Finsternis, las Einar in den Schriftrollen. Und die Welt wird untergehen, wenn nicht ein Sterblicher mit der Waffe des Lichts gegen sie antritt. Er ist es, der das Schicksal aller Menschen eines Tages entscheiden wird. Aber die dunklen Mächte wissen um diesen Kämpfer und sie werden alles tun, um ihn zu besiegen, denn sie fürchten das Schwert des Lichts...

All diese Prophezeiungen waren Einar bestens vertraut und er war eigentlich sicher, dass er den Sinn dieser Worte richtig gedeutet hatte. Denn der Sterbliche war Thorin und das Schwert des Lichts war zwei-felsohne Sternfeuer. Wieder und wieder las er jede einzelne Zeile der Schriftrolle durch und nahm sich dann die nächste vor.

... er wird eindringen in die finsteren Sphären der Dunkelheit und er wird allein sein. Nur die Reinheit des unschuldigen Lebens wird ihn noch beschützen können, denn die dunklen Mächte sind auf seiner Spur. Und sie haben die längst vergessenen Kräfte auf ihrer Seite...

Hier hielt Einar das erste mal kurz inne, weil er sich erneute Ge-danken über den Sinn dieser Worte machte. Es war die Rede von be-reits vergessenen Kräften - aber welchen Ursprung hatten diese? Au-ßer den alten Schriften von Ushar gab es doch nichts anderes. Oder hatten die Mächte der Finsternis ebenfalls Prophezeiungen zu Rate gezogen, von denen die Götter des Lichts überhaupt nichts wussten? Einar war sich nicht ganz sicher und deshalb las er rasch weiter.

... die kosmischen Kräfte sind allgegenwärtig, denn selbst ein Staubkorn ist von großer Bedeutung in diesen unendlichen Sphären. Gegenwart und Vergangenheit - niemand kennt Anfang und Ende.

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Auch die alten Tafeln nicht, aber vielleicht werden sie zum richtigen Zeitpunkt viel Leid auslösen. Es wird die Stunde kommen, in denen der Paladin der Finsternis handeln wird...

Erneut stoppte Einar beim Lesen der Schriften, denn jetzt fiel ihm etwas auf, dessen Tragweite ihm bisher noch nicht so recht klar ge-worden war. Dies war die Stelle in den Schriften von Ushar, in denen zum ersten mal die Rolle des dunklen Paladins erwähnt und auf seine Bedeutung hingewiesen wurde. Aber nun sah Einar noch etwas ande-res, was er zuvor übersehen hatte.

Die Prophezeiungen berichteten von alten Tafeln, die Leid und Tod bringen sollten. Einar wusste zunächst nicht, was die Schriften damit sagen wollten, aber dann erinnerte er sich auf einmal an eine andere Stelle in den Prophezeiungen und legte sich rasch die betref-fende Schriftrolle zurecht.

Besorgt las er den Inhalt und erkannte dann auf einmal, welchen Fehler er gemacht hatte.

... er kennt seine Macht und er wird sie auch einsetzen - er hat die Finsternis auf seiner Seite. Das Böse kommt aus den Tälern der blauen Ebenen - und es richtet sich gegen den Krieger des Lichts. Von nun an wird er allein auf sich gestellt sein, denn das Buch trennt ihm vom Schutze des Lichts...

»Vharya«, murmelte Einar. »Es ist das Buch von Vharya - ich hät-te es sofort erkennen müssen. Hoffentlich ist es jetzt noch nicht zu spät für das, was getan werden muss...«

Sofort verbarg er die Schriften wieder in der Truhe, versiegelte sie und eilte dann hinaus aus den Gewölben. Sein Ziel war der Thronsaal des Wolkenhorts, in dem seine beiden Brüder Odan und Thunor zur Stunde darüber berieten, wann die Stunde des Angriffs kommen wür-de.

Augenblicke später betrat der einäugige Gott ebenfalls den Thron-saal. Odar und Thunor erkannten sofort, dass er eine wichtige Nach-richt mit sich führte, denn seine Züge, die das Kapuzengewand frei-gab, kündeten von großer Sorge.

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»Die Barriere!«, stieß Einar hastig hervor, während er auf den Thron zueilte, auf dem Odan saß. »Ich glaube, wir können sie jetzt durchdringen!«

»Wie willst du das schaffen, Bruder?«, fragte der Weltenzerstörer. »Wir haben es schon mehrmals versucht und sind immer wieder daran gescheitert.«

»Weil wir des Rätsels Lösung nicht kannten«, fiel ihm Einar ins Wort. »Dabei stand alles in den Schriften von Ushar. Es ist mein Feh-ler, Odan - ich habe die Prophezeiungen nicht richtig gedeutet. Die Mächte der Finsternis haben die Kräfte des Buches von Vharya herauf-beschworen - und dagegen müssen wir nun ankämpfen.«

»Das Buch von Vharya«, murmelte der Weltenzerstörer und ballte vor Zorn die Faust. »Wir hätten es wissen sollen - vor allem du, Ei-nar...«

Die letzten Worte klangen vorwurfsvoll und richteten sich gegen den einäugigen Gott. Auch Thunor, der Donnerer, sah zu Einar und in seiner Miene war ebenfalls ein stummer Vorwurf zu erkennen.

»Ich weiß, Brüder«, entgegnete der Gott im Kapuzengewand. »A-ber es ist noch nicht zu spät, um einzugreifen. Ich kenne einen alten Bannspruch, mit dem wir die Macht des Buches von Vharya stoppen oder vielleicht sogar aufheben können. Lasst uns unsere Kräfte erneut vereinen, Brüder - diesmal werden wir es schaffen. Und wenn wir bis zu Thorin vorgedrungen sind, dann werden seine Kräfte neu erstär-ken.«

Weiterer Worte bedurfte es nicht mehr. Die drei Götter des Lichts gaben ihre geistigen Kräfte frei und vereinten sie zu einer geballten Macht, während Einar mit monotoner Stimme in einen Gesang einfiel, der Worte zum Inhalt hatte, die selbst seine Brüder Thunor und Odan nicht mehr kannten. Sie vertrauten sich seiner Führung an, überließen sich seinem Willen und drangen somit erneut gegen die Barriere vor, die das Reich des dunklen Herrschers vor dem Zugriff des Lichts schützte. Und die uralten Worte, von denen Einar gehofft hatte, dass sie die Barriere durchlässig machten, erfüllten ihren Zweck. Die Götter des Lichts durchstießen die unsichtbare Mauer...

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Modor spürte, dass sich Sterbliche seinem Reich näherten. Er fühlte die Anwesenheit von Menschen und triumphierte, dass der Feind nicht bemerkte, dass er mit geöffneten Augen in die Falle tappte. Der Herr-scher der Sümpfe von Cardhor betrachtete den Sterblichen mit der Götterwaffe des Lichts wie ein lästiges Insekt, das man erst tötete, wenn es einem zu nahe gekommen war. Und diesmal würde auch Thorin ihm nicht mehr entkommen können, denn seine mächtige Waf-fe war längst stumpf geworden und beschützte ihn nicht mehr. Es war nur noch ein scharfes Schwert, aber die Kräfte des Lichts, die in ihm wohnten, waren durch die Barriere des Buches von Vharya neutrali-siert worden.

Der sterbliche Krieger würde ein willkommenes Opfer für Modor darstellen. Der Gott der Sümpfe würde ihn mit seinen gewaltigen Pranken zerreißen, wenn er erst seiner habhaft geworden war und diesen Moment sehnte er förmlich herbei.

Deshalb zürnte er auch den Echsenkriegern nicht, die trotz allem bisher noch keine Spur von Thorin gefunden hatten. Dieser Mensch hatte mehr Glück als Verstand, dass er sich bisher Modors Schergen hatte entziehen können. Aber hier in Modors unmittelbarem Einfluss-bereich gab es keine schützenden Wälder und Farne mehr. Denn die Burg des dunklen Gottes stand auf einem bizarren Felsen inmitten ei-ner von Steinen und Geröll bedeckten Ebene, wo jenseits des Horizon-tes das Heer der dunklen Schatten auf sein Zeichen wartete. Orcon Drac hielt sich zu dieser Stunde dort auf und wartete auf das Signal Modors. Wenn der Befehl erst erteilt war, würden die dunklen Horden die Bastionen der Menschen angreifen und sie zerstören. Dann würde auch die übrige Welt ein Teil der Finsternis werden, deren düstere Atmosphäre hier allgegenwärtig war.

Die letzte Schlacht war greifbar nahe und ein einzelner Sterblicher würde sie erst recht nicht verhindern können!

Modor brauchte noch nichts zu unternehmen. Selbst wenn es dem sterblichen Krieger gelingen sollte, bis in die unmittelbare Nähe seiner dunklen Burg zu gelangen, so würde sein Glück spätestens dort enden.

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Und dann erwartete ihn ein Tod, der viel schrecklicher war als er je-mals ahnen würde.

Das war der Moment, wo Modor plötzlich das Wirken von Kräften spürte, denen dieser Ort völlig fremd war. Es waren Kräfte, die eigent-lich gar nicht hier sein durften, weil sie von der Barriere daran gehin-dert wurden, in diesen Teil der Welt einzudringen, den sich die Mächte der Finsternis untertan gemacht hatten. Und doch fühlte Modor die wachsenden Kräfte des Lichts!

Der Gott der Sümpfe stieß einen grässlichen Fluch aus, als ihm klar wurde, was dies bedeutete - und er handelte unverzüglich. Denn er würde nicht zulassen, dass sich das Licht an Orten ausbreitete, wo längst die Schatten der Finsternis herrschten!

*

Der dichte Dschungel und der feuchte Boden unter ihren Füßen schien allmählich nachzulassen. Hier und da wucherten die grünen Farnsträu-cher nicht mehr so wild, so dass es leichter war, voranzukommen. Was aber auch den Nachteil hatte, dass Thorin und seine Begleiter sich nicht mehr so gut verbergen konnten. Daher mussten sie um so vor-sichtiger ans Werk gehen, wenn sie nicht doch noch im letzten Mo-ment in eine Falle tappen wollten.

Thorin spürte, dass die Stunde der Entscheidung immer näher rückte und er hatte auch keine Furcht davor. Er suchte die letzte Aus-einandersetzung mit den dunklen Mächten, denn er musste sie aufhal-ten - koste es was es wolle!

Er ging mit gezogenem Schwert voran, die beiden Frauen mar-schierten dicht hinter ihm und Maraco sicherte das Ende des Weges mit seinem scharfen Speer. Eine vollständige Sicherheit bedeutete das natürlich nicht, aber zumindest tat es gut zu wissen, dass es außer Thorin noch einen zweiten mutigen Krieger gab, der mit seiner Waffe gut umgehen konnte und auch nicht zögern würde, das Leben der Frauen zu verteidigen, wenn Gefahr drohte.

Auf einmal hielt Thorin inne, als er plötzlich etwas in seiner Nähe spürte, das er nicht zu lokalisieren wusste. Verwirrt blickte er sich nach

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allen Seiten um und erkannte, dass seine Nervosität auch auf die an-deren übergegriffen hatte. Im selben Moment bildete sich zwischen den Bäumen ein weißlicher Nebel. Zuerst nur ein feines Gespinst, aber dann wurden die Schleier immer dichter und hüllten Bäume und Bü-sche fast vollständig ein.

Gleichzeitig zeichneten sich im Nebelgespinst die seltsam vertrau-ten Konturen einer Gestalt ab, die in ein weites Kapuzengewand ge-hüllt war. Und es war nicht die einzige Gestalt. Hinter ihr erblickte Tho-rin die Umrisse von zwei mächtigen Kriegern, auf deren Köpfen wuch-tige Helme mit weit ausladenden Hörnern saßen.

»Thorin!«, vernahm der Nordlandwolf dann eine Stimme, die di-rekt in seinem Kopf aufzutauchen schien. »Thorin, die Mächte des Lichts werden dir beistehen...«

Die Zeit schien in diesem Augenblick stillzustehen. Der blonde Krieger nahm nur am Rande wahr, wie Lorys, Maraco und Doka in stummer Ehrfurcht ganz still verharrten und sich nicht zu rühren wag-ten. Er dagegen konnte sich frei bewegen und schritt nun auf die Stel-le zu, wo sich die drei Gestalten ihm gezeigt hatten und deren Kontu-ren immer deutlicher zu erkennen waren.

Nun erkannte er auch die beiden anderen Gestalten neben der Er-scheinung im Kapuzengewand. Der allwissende Gott Einar war nicht allein gekommen - seine Brüder Odan und Thunor standen ihm zur Seite.

»Wir haben dich eine Zeitlang aus den Augen verloren, Thorin«, hörte er dann die Stimme des einäugigen Gottes. »Die dunklen Mächte hatten uns übertrumpft - aber das ist jetzt anders geworden. Wir sind gekommen, um dir die Kräfte zu geben, die du brauchst, um den Herr-scher der Sümpfe endgültig zu vernichten...«

Thorin hörte Einars Worte und spürte in diesem Augenblick wieder die Ausmaße der Geschehnisse, in die er verwickelt war, seit das Schwert der Götter ihm gehörte.

»Ich bin nicht allein, Einar«, sagte Thorin daraufhin und wies auf die beiden dunkelhäutigen Menschen und Lorys hinter sich. »Auch diese brauchen Euren Schutz. Werdet Ihr das auch für sie tun?«

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Einars Blicke richteten sich für einen kurzen Moment auf Maraco und Doka, blieben etwas länger auf Lorys haften und genau in diesem Moment schlich sich ein kurzes Lächeln in seine Züge.

»Die Reinheit des unschuldigen Lebens«, kam es dann über seine Lippen. »Nun ergibt auch das einen Sinn.«

Er blickte kurz zu seinen Götterbrüdern und sah, wie diese eben-falls nickten. Natürlich begriff Thorin in diesem Augenblick nicht, wor-um es hier eigentlich ging. Er kannte weder den genauen Inhalt der geheimnisvollen Schriften von Ushar, noch hatte er jemals von der Existenz des Buches von Vharya gehört. Schließlich war er trotz allem nur ein einfacher Krieger!

»Die Zeit ist knapp, Thorin - deshalb hör mir nun gut zu«, fuhr Ei-nar schließlich fort. »Du und die Frau dort...«, dabei wies er auf Lorys »... ihr werdet nun in Modors Burg eindringen. Es wird euch dabei nichts geschehen, denn meine Brüder und ich weben den Schleier des Unsichtbaren um euch. Modor wird nicht bemerken, dass ihr ihm nahe seid. Nutze diesen Moment, Thorin - und wenn du ihm dann gegenü-berstehst, vernichte ihn!«

»Weshalb soll mich Lorys begleiten?«, hielt ihm Thorin entgegen, der bei diesem gefährlichen Vorhaben natürlich um das Leben von Lorys und ihrem ungeborenen Kind fürchtete. »Bedenkt, was Ihr da tut, Einar...«

»Wir wissen immer, was wir tun, Thorin!«, fiel ihm Einar sofort ins Wort. »Du wirst es doch nicht wagen, unsere Worte anzuzweifeln? Ausgerechnet du - ein Krieger, der niemals zuvor solche Kräfte beses-sen hat, wie sie in Sternfeuer innewohnen und schon bald wieder zum Leben erweckt werden?«

Thorin spürte den Vorwurf in der Stimme des einäugigen Gottes und antwortete ihm deshalb rasch.

»Verzeiht, Einar«, murmelte er. »Natürlich vertraue ich Euch - ich habe es immer getan und jetzt erst recht. Es ist also wichtig, dass Lo-rys mich unbedingt begleitet?«

»Neues Leben reift in ihr heran«, erwiderte Einar nun zum großen Erstaunen von Lorys und Thorin. »Es ist unschuldiges Leben - und genau dieses Leben wird ebenfalls mit dazu beitragen, den Herrscher

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der Sümpfe zu vernichten. Nichts ist zufällig, Thorin - wirklich gar nichts. Was hier geschieht, wurde schon vor sehr langer Zeit aufge-schrieben. Denke genau darüber nach, wenn du und die Frau nun eure Aufgabe erfüllt! Tritt an Thorins Seite«, forderte Einar Lorys auf und sah, wie diese daraufhin rasch zu ihm eilte. »Gleich umgibt euch der Schleier des Unsichtbaren. Kein Geschöpf der dunklen Mächte wird jemals eure Aura spüren können - es ist so, als wenn ihr niemals exis-tieren würdet. Ihr beide jedoch werdet euch gegenseitig sehen...«

Dann hob Einar beide Hände und murmelte Worte in einer Spra-che, die so fremd und eigenartig klang, dass weder Thorin noch Lorys ihren Ursprung erfassen konnten. Gleichzeitig fühlten der Nordlandwolf und die blonde Frau, wie sie von den milchigen Nebeln eingehüllt wur-den. Eine eigenartige Wärme erfüllte Thorin und er spürte plötzlich eine unbeschreibliche Kraft und Zuversicht. Als er kurz zu Lorys sah, erkannte er, dass sie ebenfalls ähnliche Empfindungen zu haben schien, denn sie lächelte ihm kurz zu. Als wenn sie ihm damit zu ver-stehen geben wollte, dass sie von nun an nicht mehr in Gefahr wa-ren...

»Modors Burg ist nicht mehr weit von hier entfernt«, ergriff nun Odan, der Weltenzerstörer das Wort. »Seine Schergen sind schon auf der Suche nach euch - und sie hätten euch ganz bestimmt gefunden. Macht euch keine Sorgen um eure Freunde«, fuhr Odan dann fort und wies auf die beiden N'dele. »Es wird ihnen nichts geschehen, solange ihr eure Aufgabe erfüllt. Denn die Zeit wird an diesem Ort nicht wei-tergehen...«

Er nickte Einar zu und der murmelte wiederum einige Worte in derselben fremden Sprache wie zuvor. Als Thorin sich daraufhin um-drehte, erkannte er zu seiner Verwunderung, dass Maraco und Doka sich gar nicht mehr bewegten, sondern stummen Statuen gleich dort verharrten.

»Sorgt euch nicht um sie«, beruhigte Einar den Nordlandwolf, weil er dessen Blicke richtig deutete. »Für sie verstreicht nur ein einziger Atemzug, bis ihr eure Aufgabe erfüllt habt. Und nun geht und tut das, was vor langer Zeit aufgezeichnet wurde. Die Mächte des Lichts sind auf eurer Seite!«

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Noch während die letzten Worte über seine Lippen kamen, began-nen die Schleier, die die drei Gestalten der Götter des Lichts umwoben, dichter zu werden. Bis Einar, Odan und Thunor schließlich gar nicht mehr zu sehen waren.

»Bei allen Göttern«, murmelte Lorys ganz aufgeregt. »Thorin - was geschieht hier mit uns?«

»Wir erfüllen den Teil einer uralten Bestimmung«, erwiderte die-ser. »Es ist nur ein winziges Stück eines gigantischen Planes, den un-sere Sinne nur schwer erfassen können, Lorys. Denk nicht länger dar-über nach, sondern lass uns das tun, was uns die Götter des Lichts aufgetragen haben!«

Sie sahen noch einmal kurz hinüber zu Doka und Maraco. Leblos und stumm wirkten die beiden N'dele, als wenn das Leben vollständig von ihnen gewichen wäre. Aber Thorin und Lorys wussten, dass dem nicht so war. Die Götter des Lichts hatten auch hier dafür gesorgt, dass die beiden Angehörigen des dunkelhäutigen Volkes sicher vor dem Zugriff der dunklen Mächte waren. Und nur das war wichtig!

*

Wie viel Zeit verstrichen war, seit die Götter des Lichts in die Ereignis-se eingegriffen hatten, wusste Thorin nicht. Sie waren in die Richtung gegangen, in der sich Modors finstere Burg befand und er spürte gleichzeitig, wie von der Götterklinge ein sanfter heller Schimmer aus-ging. Das zeigte ihm, dass die Worte Einars sich bereits zu bewahrhei-ten begannen. Die Kräfte Sternfeuers erwachten zu neuem Leben und sie wurden mit jedem Augenblick immer stärker.

Schließlich erreichten sie eine Stelle, wo die Bäume nicht mehr so dicht wuchsen. Zu ihrem Erstaunen erblickten sie nun eine kahle und öde Landschaft inmitten der Sümpfe!

Vor ihren Augen breitete sich eine von Felsen verwitterte Land-schaft aus und in ihrer Mitte ragte ein furcht erregendes Bauwerk em-por - Modors Burg! Dichte Mauern umgaben einen dunklen Turm, der steil in den Himmel emporragte. Vögel kreisten am Himmel und stie-

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ßen klagende Schreie aus. Thorin spürte die düstere Atmosphäre, die von diesem Gemäuer ausging. Genau wie Lorys.

Das war der Moment, wo Thorin und Lorys ebenfalls die Echsen-krieger entdeckten, die aus dem Inneren der Burg kamen und schon bald darauf wieder zwischen den Felsen untertauchten. Einar und sei-ne Götterbrüder hatten recht gehabt - Modor hatte seine dunklen Schergen ausgeschickt und ließ immer noch nach ihm suchen! Und es war ein Wunder, dass sie ihn noch nicht entdeckt hatten...

Thorin sah, wie Lorys beim Anblick der Echsenkrieger sichtlich zu-sammenzuckte, jedoch erinnerte er sich dann aber wieder an die Wor-te des einäugigen Gottes, der ihnen zugesichert hatte, dass sie für die Augen der dunklen Geschöpfe unsichtbar bleiben würden.

Nur Sekunden später konnte er sich dann selbst davon überzeu-gen, dass Einars Worte der Wahrheit entsprachen. Denn genau in dem Augenblick, als Thorin und Lorys hinüber zu Modors Burg sahen, nä-herten sich ihnen seitlich aus dem Dschungel vier Echsenkrieger. Laut-los waren ihre Schritte, so dass weder Thorin noch Lorys ihre Anwe-senheit bemerkt hatten. Sie befanden sich genau im Blickfeld der fins-teren Kreaturen und deshalb griff Thorin unwillkürlich nach dem Knauf Sternfeuers, wollte die Götterklinge aus der Scheide ziehen. Erst dann erkannte er, dass ihn die dunklen Geschöpfe wirklich nicht sehen konnten - denn sie zogen nur wenige Schritte an ihm und Lorys vorbei. Die Aura des Lichts verbarg Thorin und Lorys vor ihren Blicken - Einars Kräfte waren stärker als die der Finsternis!

Aber auch wenn sie jetzt unsichtbar waren, so durften sie den-noch keinen verräterischen Laut verursachen. Deshalb warteten sie so lange ab, bis sich die Echsenkrieger wieder entfernt hatten und setzten dann ihren Weg zu Modors Burg fort.

Es war ein eigenartiges Gefühl, im Herz des dunklen Reiches un-behelligt zu bleiben. Thorin kam sich vor wie in einer Glaskugel, die ihn nach außen hin unverwundbar machte und er konnte dennoch alles genau erkennen, was um ihn herum geschah. Welche Kräfte mussten das sein, die so etwas überhaupt ermöglichen konnten?

Die klagenden Schreie der Vögel hoch über den dunklen Zinnen der Burg wurden immer lauter, je weiter Thorin und Lorys sich dem

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geöffneten Tor näherten. Sternfeuers Klinge pulsierte jetzt ganz deut-lich in einem hellen Licht und dieses Leuchten nahm sogar noch zu, wurde so hell, dass Thorin seine Blicke für einen winzigen Moment von der schimmernden Klinge nehmen musste, weil diese Helligkeit in sei-nen Augen schmerzte.

Schließlich erreichten sie das verwitterte Eingangsportal der Burg und durchschritten es, ohne von irgendeiner Kreatur der Finsternis behelligt zu werden. Thorin und Lorys wurden von niemanden regist-riert - von keinem der Echsenkrieger, von denen sich noch eine gute Handvoll inmitten der Mauern aufhielt. Unter normalen Umständen hätten sich der Nordlandwolf und erst recht Lorys in Todesgefahr be-geben, wenn die Mächte des Lichts sie nicht beschützt hätten. Seltsa-merweise musste Thorin ausgerechnet jetzt wieder an Einars Worte denken. Er hatte ihm gesagt, dass alles in den Schriften von Ushar aufgezeichnet war und dass sich die uralten Prophezeiungen nun end-lich erfüllen würden. Wie konnte das nur möglich sein, das in einer Zeit, die schon Äonen zurücklag, der ewige Kampf zwischen Licht und Finsternis so genau in allen Einzelheiten vorausgesagt worden war?

Je länger er darüber nachdachte, um so mehr begriff er, dass dies Geschehnisse waren, die sich seinem eigenen Gedankenfeld entzogen. Stattdessen musste er sich vielmehr auf eigentliche Aufgabe konzent-rieren und das tat er jetzt auch. Sternfeuers Leuchten zeigte ihm den Weg an, den er gehen musste. Denn als er sich einem der vier Tore näherte, die in das Innere der Burg führten, blitzte die Götterklinge ganz gleißend auf. Da wusste Thorin, wo er nun den Gott der Sümpfe zu suchen hatte! Und er fürchtete sich nicht vor dem Moment, wo er dem finsteren Herrscher endlich gegenüberstehen würde.

Eins konnte Thorin in diesem Augenblick jedoch nicht wissen - nämlich die Tatsache, dass der Herrscher der Sümpfe durchaus be-merkt hatte, dass die Aura der beiden Sterblichen, die in sein Reich eingedrungen waren, auf einmal plötzlich erloschen war. Und deshalb nahm Modor Verbindung zu seinen Brüdern Azach und R'Lyeh auf...

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ICH SPÜRE SEINE AURA NICHT MEHR - DER STERBLICHE IST VER-SCHWUNDEN ALS HABE ER NIE EXISTIERT. BRÜDER, ICH FÜHLE DIE GEFAHR, ABER ICH KANN SIE NICHT ERKENNEN.

Modor hatte sein Bewusstsein auf die Reise geschickt und sprach so mit seinen beiden Götterbrüdern, die seine Nachricht empfangen konnten, auch wenn sie weit entfernt waren.

ES KANN NICHT SEIN, WAS DU SAGST, BRUDER, vernahm der Gott der Sümpfe nun die Stimme Azachs. MIT DEM BUCH VON VHA-RYA GIBT ES EINEN WIRKSAMEN SCHUTZ GEGEN DIE KRÄFTE DES LICHTS.

ICH STIMME AZACH ZU, meldete sich nun auch der finstere R'Ly-eh zu Wort. ES IST VIELLEICHT EINE TÄUSCHUNG.

NEIN!, schrieen Modors Gedanken seinen beiden Götterbrüdern zu. ICH WEISS, DASS ICH MICH NICHT GEIRRT HABE. ETWAS IST ANDERS GEWORDEN UND DIESES ETWAS BEDEUTET GEFAHR. WIR MÜSSEN UNS DAGEGEN WAPPNEN. BEVOR ES ZU SPÄT IST. VEREI-NIGT EUCH MIT MIR, BRÜDER. ICH BRAUCHE EURE HILFE.

Kurz nachdem Modor seine Bitte geäußert hatte, öffnete er seinen Geist, um es Azach und R'Lyeh leichter zu machen. Denn selbst für dunkle Götter war es nicht leicht, auf große Entfernungen hin zu einer einzigen geballten Macht zu verschmelzen. Zu einer Macht, die sich gegen die Kräfte des Lichts erneut zu wehren begann, weil Modor im-mer mehr spürte, dass hier etwas falsch war. Und diese Ahnung be-drohte ihn unmittelbar.

Aber ein Verschmelzen aller drei Bewusstseine kostete viel Kraft - und in diesen so wichtigen Augenblicken der Entscheidung überschlu-gen sich die Ereignisse...

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Thorin spürte die furcht erregende Kälte, die in den Mauern dieses finsteren Gemäuers innewohnte und mit jeder verstreichenden Sekun-de immer intensiver zu fühlen war. Der Nordlandwolf fühlte die Nähe Modors und er packte die Götterklinge unwillkürlich noch fester am Knauf als es ohnehin schon der Fall war.

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Es herrschte eine geheimnisvolle Stille um sie herum. Von den Echsenkriegern entdeckten sie niemanden mehr. Lorys ging ganz dicht hinter Thorin. Mehr als einmal drehte sie sich um und blickte zurück. Als wenn sie ganz sichergehen wollte, dass ihnen auch keine Gefahr von dieser Seite drohte.

Beide schwiegen und folgten nun dem Gang, der tiefer ins Innere der Burg führte. Von irgendwoher erhellte ein geheimnisvolles rötliches Schimmern die Mauern und ließ Thorin und Lorys ihren Weg recht gut erkennen.

Gleichzeitig kam plötzlich weißer wallender Nebel auf, der immer dichter wurde, je weiter Thorin und Lorys diesem Gang folgten. Im ersten Moment zweifelte Thorin, ob es wirklich richtig war, weiterzu-gehen.

Aber dann geschahen Dinge, die Thorin ganz deutlich zeigten, dass die alten Schriften von Ushar sich zu bewahrheiten begannen. Denn er sah, wie Lorys einfach weiterging, ohne Thorin wahrzuneh-men. Ihr Blick war seltsam verklärt, als befinde sie sich in einer Art Trance. Thorin wollte sie im ersten Moment zurückhalten, begriff aber, dass er erst recht nicht jetzt und hier seiner eigentlichen Bestimmung entfliehen konnte. Lorys und er, sie hatten hier eine Aufgabe zu erfül-len. Eine Aufgabe, die schon vor unglaublich langer Zeit aufgeschrie-ben worden war.

Mit dem Schwert in der Hand folgte er Lorys und erreichte so schließlich eine große Halle, deren Mittelpunkt ein Podest bildete, auf dem ein wuchtiger Thron errichtet worden war. Und eben auf diesem Thron saß ein Wesen von solch schrecklicher Gestalt, dass Thorin un-willkürlich ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Ein riesenhaftes Wesen mit ganz dunkler, glänzender Haut und seine Augen richteten sich genau auf Thorin und Lorys. Dennoch schien Modor die beiden Eindringlinge immer noch nicht wahrzunehmen - also besaß der Zau-ber des Lichts immer noch seine Kraft und das war gut so.

Der allgegenwärtige Nebel, der zu Lorys Füßen wallte, wich auf einmal einem intensiven hellen Leuchten, das das kalte rötliche Licht aus diesem Teil der Halle vertrieb. Lorys selbst schien das gar nicht

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wahrzunehmen, denn sie hatte ihre Augen geschlossen und verharrte auf der Stelle wie eine leblose Statue.

Gleichzeitig ertönten von irgendwoher sphärenhafte Klänge, die die dunkle Halle erfüllten und intensive Wärme mit sich brachten. Eine Wärme, wie sie nur von den Mächten des Lichts ausgestrahlt werden konnte. Da wusste Thorin, dass nun die Stunde der Entscheidung ge-kommen war - die Stunde, auf die er schon so lange gewartet hatte.

Modor, der finstere Herrscher der Sümpfe, hatte viel Leid und Schrecken in diesen Teil der Welt gebracht. Es wurde Zeit, dass er nun dafür bezahlte.

Aber ausgerechnet in dem Moment, als der Nordlandwolf mit Sternfeuer auf den Gott der Sümpfe zueilte, nahmen die Augen auf einmal einen klaren Ausdruck an. Einen Ausdruck, der Hass und Er-kenntnis beinhaltete. Sternfeuers Klinge strahlte so hell wie niemals zuvor und Thorin begriff, dass Modor ihn sah!

»Odan, steh mir bei!«, schrie Thorin, als er mit der Klinge zu ei-nem vernichtenden Hieb ausholte. »Stirb, Kreatur der Dunkelheit!«

Er sah nicht, was hinter ihm geschah, denn seine ganze Aufmerk-samkeit galt dem Gott der Sümpfe und der Tatsache, dass ihm nur wenige Atemzüge Zeit blieb. Lorys dagegen hatte nun beide Hände erhoben und sang Worte in einer Sprache, die ihr bei Bewusstsein niemals über die Lippen gekommen wären, weil sie dieser Sprache gar nicht mächtig gewesen wäre. Aber zu dieser Zeit und an diesem Ort erfüllte sich auch ihre Bestimmung, genau wie es in den alten Schrif-ten aufgezeichnet worden war. Das unschuldige Leben, das in ihrem Körper heranreifte, spürte die Anwesenheit der Finsternis und begann sich dagegen zu wehren. Und diese Kräfte lähmten Modor, hinderten ihn daran, den heranstürmenden Thorin mit einem einzigen Hieb sei-ner furchtbaren Pranken zu vernichten.

Die Zeit in der Bluthalle schien in diesem Augenblick stillzustehen. Von ganz fern hörte Thorin einen wütenden Aufschrei, als er mit der Klinge nach Modor zielte und das scharfe Schwert dann tief in den Körper des dunklen Gottes bohrte. Sternfeuer versank fast bis zum Heft in Modors Leib und ein gewaltiger Donnerschlag kam auf.

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Die Klänge und deren Intensität nahmen nun noch zu und ein wei-terer Donnerschlag erfüllte die Halle des Blutes. Gleichzeitig kam ein unbeschreibliches Brüllen ganz tief aus der Kehle des dunklen Gottes, als er die tödliche Wunde spürte und sich trotzdem dagegen wehrte. Aber dazu war es schon zu spät, denn Thorin hatte bereits zu einem zweiten Hieb ausgeholt und landete auch jetzt einen Treffer. Mit einem hellen Klingen bohrte sich Sternfeuer tief in den Schädel Modors und spaltete ihn. Der dunkle Gott brüllte ein letztes mal auf und brach dann zusammen. Noch im Todeskampf hatte er um sich geschlagen und Thorin dabei leicht gestreift. Aber er hatte ihn nicht ernsthaft ver-letzt.

Thorin riss die Klinge zurück und reckte sie hoch empor. »Danke, Odan, Thunor und Einar!«, rief er mit lauter Stimme und

sah, wie sein Schwert nun erneut von einem gleißenden Leuchten er-füllt wurde. Ein Leuchten, das das rötliche Licht in den Mauern der Burg vertrieb und auch den wallenden Nebel schließlich ganz auslösch-te.

Auf einmal begann der Boden unter Thorins Füßen zu beben. Er-neut erfüllte ein Donnern die Halle und einige Steine lösten sich aus der gewölbten Decke, prallten mit einem berstenden Geräusch auf den Boden.

Thorin hatte keine Blicke für den getöteten Gott mehr übrig, son-dern eilte rasch hinüber zu Lorys, die in diesem Moment aus ihrer Trance erwachte und fassungslos auf den entsetzlichen Modor starrte. Dann hatte sie Thorin auch schon am Arm gepackt und riss sie mit sich.

»Die Burg stürzt ein!«, rief er ihr zu. »Wir müssen weg von hier!« Da begriff auch Lorys, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Denn

immer mehr Steine fielen von der Decke herunter, begruben den Gott der Sümpfe mitsamt seinem Thron unter sich. Bereits jetzt schon war die Halle des Blutes ein einziges Bild der Zerstörung, aber das nahmen Thorin und Lorys nicht mehr wahr, denn sie rannten um ihr Leben.

Erneut spürten sie das immer stärker werdende Beben, das sie mehr als einmal wanken ließ. Aber zum Glück konnten sie sich immer

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wieder fangen und liefen dann weiter. Hinaus aus der Burg, schrieen Thorins Gedanken.

Sie liefen durch den engen Gang, erreichten schließlich den Hof und sahen, dass das Beben bereits auch hier schon ein Werk der Zer-störung begonnen hatte. Für einige der Echsenkrieger war dies zu ü-berraschend gekommen, denn sie hatten sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Sie waren von den einstürzenden Mauern begraben worden!

»Thorin!«, rief Lorys, als sie auf einmal zwei andere Echsenkrieger in der Nähe des Tores entdeckte. »Pass auf!«

Die beiden Kreaturen hatten den Nordlandwolf und die Frau schon früher gesehen und kamen bereits auf sie zu gerannt. In ihren Pran-ken schwangen sie scharfe Schwerter. Sie schienen zu ahnen, was in den Mauern der Burg geschehen war.

Thorin wehrte den ersten Hieb des Echsenkriegers ab, wirbelte herum und verpasste dem zweiten Gegner einen Stich, der ihn zurück-taumeln ließ. Diese kurze Zeitspanne nutzte Thorin sofort, um dem ersten Krieger einen tödlichen Stoß zu versetzen. Sternfeuer besaß jetzt solch mächtige Kräfte wie niemals zuvor. Die dunkle Kreatur starb auf der Stelle und die zweite folgte ihr wenige Momente später, als Thorin mit einem zweiten gezielten Hieb das Leben der Bestie aus-löschte. Der Kampf hatte zwar nur wenige Atemzüge lang gedauert, aber er war trotzdem mit gnadenloser Härte geführt worden. Ein Kampf, bei dem es nur einen Sieger geben konnte - und auf die Verlie-rer wartete nur der Tod!

Während des kurzen Kampfes hatte das Beben um sie herum an Heftigkeit zugenommen und ließ die Mauern der Burg bröckeln. Thorin und Lorys hasteten schnellstens weiter, erreichten das Haupttor und passierten es, bevor ein weiterer Erdstoß einen der beiden Türme ne-ben dem Tor einstürzen ließen. Aber da hatten der Nordlandwolf und die ehemalige Fürstin schon längst sicheres Gelände erreicht und sa-hen von dort aus zu, wie Modors dunkle Burg einstürzte. Eine dichte Staubwolke breitete sich aus, während der Boden immer noch heftig zitterte und sich nur ganz langsam wieder beruhigte. Erst nach einiger

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Zeit beruhigte sich die Erde wieder und Stille kehrte ein - eine Stille, die spürbar war...

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Sie erreichten die Stelle wenig später, wo Maraco und Doka zurück-geblieben waren. Aber bevor sie darüber nachdachten, wie es ihnen gelingen würde, die beiden Menschen vom Volk der N'dele aus der von den Göttern des Lichts verhängten Starre wieder zu erwecken, ge-schah es von selbst. Zuerst ging nur eine winzige Bewegung durch die beiden Körper, dann wich auch das helle Licht, das die Lichtung um-geben hatte - und Thorin sah die staunenden, ungläubigen Gesichter der beiden N'dele, die in diesen Sekunden sicher nicht begriffen hat-ten, was mit ihnen geschehen war. Wahrscheinlich würden sie es nie verstehen, dass es noch viele Welten jenseits der ihren gab. Welten und Sphären, zu denen selbst der Verstand eines Kriegers wie Thorin nur sehr schwer Zugang finden würde.

Deshalb versuchte er, Maraco und Doka zu beruhigen. Er zeigte auf sein Schwert und wies dann in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.

»Modor ist tot!«, sagte er und untermalte seine Worte mit ver-ständlichen Gesten - in der Hoffnung, dass die beiden N'dele verstan-den, was er ihnen sagen wollte.

Weit drüben, wo sich die karge Ebene ausbreitete, stieg eine Wol-ke braunen Staubes in den Himmel - man konnte selbst von hier aus noch erkennen, dass dort etwas Folgenschweres geschehen sein musste.

Im ersten Moment blickte Maraco verwirrt drein, aber dann sah auch er die große Staubwolke und schien zu verstehen, was ihm Tho-rin hatte sagen wollen. Etwas war geschehen, das viel mehr verändern würde, als er sich jetzt ausmalen konnte. Von nun an war nichts mehr so wie er und sein Volk es gekannt hatten. Die finstere Geißel des Sumpfes war endlich vernichtet worden und andere Zeiten würden anbrechen - bessere Zeiten für ihn und sein Volk.

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Thorin sah, wie Maraco hastig auf Doka einredete und diese dar-aufhin zu nicken begann. Dann wandte sich der N'dele-Krieger wieder an den Nordlandwolf und gab ihm mit Gesten zu verstehen, dass er und Lorys die beiden N'dele zurück zu ihrem Dorf begleiten sollten. Das aber lehnte Thorin ab, denn Modors Tod bedeutete keinesfalls das Ende der Herrschaft der dunklen Götter. Einen der drei Finsteren hatte er vernichtet - aber das war nur der Anfang!

»Wir müssen weiter, Lorys!«, sagte er dann zu seiner blonden Begleiterin. »Azach und R'Lyeh wissen bestimmt von Tode Modors. Ich weiß nicht, was sie jetzt tun werden, aber für mich geht der Kampf weiter. Willst du mich begleiten?«

»Wohin sollte ich sonst gehen?«, erwiderte die ehemalige Fürstin von Samara daraufhin. »Alle die ich kannte, leben entweder nicht mehr oder sind in der Sklaverei.«

Lorys bittere Miene war das Spiegelbild ihrer Seele. Thorin brauch-te sie nur kurz anzusehen, um sofort zu erkennen, was diese Frau durchmachte. Sie war völlig auf sich allein gestellt - und da war noch das Kind, das irgendwann das Licht der Welt erblicken würde. Aber was für eine Welt würde das dann sein? Eine Welt, in der es noch Platz für Menschen gab?

Der Abschied von Maraco und Doka war kurz. Ein knapper Hände-druck und ein Zuwinken - dann trennten sich bereits wieder die Wege der so unterschiedlichen Menschen. Während die beiden N'dele wieder im dichten Dschungel untertauchten und zurück zu ihrem Volk kehr-ten, setzten Thorin und Lorys ihren Weg fort. Die schützende Hand der Götter des Lichts schien auch jetzt noch unsichtbar über ihnen zu schweben, denn sie stießen auf zwei Reittiere der Echsenkrieger, die wohl ausgebrochen waren, als das Erdbeben begonnen und schließlich Modors dunkle Burg vernichtet hatte.

Mit etwas Glück schaffte es Thorin, die beiden Tiere einzufangen und schon bald darauf ging es weiter. Aber jenseits des Horizontes wartete das dunkle Heer der Schattenkreaturen auf den Einsatzbefehl zur letzten Schlacht zwischen Licht und Finsternis...

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Weit oben im Norden, fern abseits der Dörfer der Menschen, spürte Azach den Schock, der ihn erfasste, als er den Tod seines Götterbru-ders fühlte und wusste, dass Modors Leben auf einmal verlöschte. Die gedankliche Verbindung war ganz abgerissen. Alles was Azach noch gespürt hatte, war der schreckliche Zorn Modors gewesen, als ihn der Tod ereilt hatte - aus der Hand eines Sterblichen!

ER IST TOT, vernahm Azach dann die Stimme seines anderen Bruders R'Lyeh. MODOR IST TOT!

DIE GÖTTER DES LICHTS HABEN UNS MIT EINER LIST GE-TÄUSCHT, teilte ihm Azach daraufhin mit. NUN WIRD ENDLICH DIE SCHLACHT BEGINNEN - DIE HEERE WERDEN SICH IN BEWEGUNG SETZEN.

Azach spürte die Gedanken R'Lyehs selbst auf diese große Distanz hinweg. Denn auch er war maßlos zornig darüber, dass Modor getötet worden war - von einem Sterblichen noch dazu!

ORCON DRAC WIRD UNSEREN BEFEHL BEKOMMEN, BRUDER, teil-te R'Lyeh seinem Götterbruder mit. NUN WERDEN WIR ALS ERSTE HANDELN - UND DIESMAL WERDEN WIR SIEGEN UND DIE BRUT DER MENSCHEN VON DIESER WELT TILGEN - MITSAMT DEN GÖTTERN, DIE SIE ANBETEN!

Der Geist der beiden dunklen Götter vereinigte sich wieder zu ei-ner geballten Kraft und gelangte so in Bruchteilen von Sekunden an den Ort der Bestimmung. In das öde und verwüstete Land jenseits der Sümpfe von Cardhor, in das sich der Ritter der Finsternis zurückgezo-gen hatte, um dort auf den Befehl der finsteren Götter zu warten. Und wenn ihn dieser Befehl erreichte, dann würden die dunklen Heere in die Welt der Menschen aufbrechen. Und dieses Heer würde Tod und Vernichtung mit sich bringen - sowie eine beispiellose Spur der Zerstö-rung. Denn dort wo das Heer der Finsternis erschienen war, war die Welt nicht mehr so wie man sie einmal gekannt hatte. Das Licht war dort der kalten Finsternis gewichen. Und die letzte Schlacht würde das Schicksal dieser Welt ein für alle mal verändern...

Ende