Upload
tranphuc
View
216
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Aus: Behrend, Unternehmertum
Die Theorie des impliziten Wissens
Zwischenbetrachtung I: Die Theorie des impliziten Wissens
In betriebswirtschaftlichen Anwendungszusammenhängen wird Wissen
oftmals als reine Ressource betrachtet.66 Während aber der Ressourcenbegriff
üblicherweise derart verwandt wird, daß der Inhalt der Ressource angebbar ist,
können andererseits individuelle Handlungen physischer und psychischer
Natur ablaufen, bei denen der zugrundeliegende Inhalt der Wissensressource
nicht angebbar ist. In diesen individuellen Handlungen manifestiert sich ein
Wissen, welches nicht nur nicht angebbar ist, sondern über dessen Erwerb
kaum eine Aussage getroffen werden kann. Diese Eigenschaften der
beschriebenen Wissensform veranlassen Polanyi dazu, von »tacit knowledge«
- also »stillschweigendem Wissen« - zu sprechen. Da dieses Wissen nicht
extraindividuell verfügbar ist, sondern an die das Wissen innehabende Person
gebunden ist, wird es auch als »implizites Wissen« bezeichnet.
Nach einem kurzen Überblick über das Spektrum des Begriffs »Wissen«
und einer Einführung in die Theorie des impliziten Wissens von Michael
Polanyi im ersten Teil der Zwischenbetrachtung möchten wir uns im zweiten
Teil dem impliziten Wissen im organisatorischen Zusammenhang widmen.
1. Der Wissensbegriff und das Wesen des impliziten
Wissens - ein erster Zugang
Wenn wir im alltäglichen Sprachgebrauch den Terminus »Wissen«
verwenden, so ist dieser auf zwei Arten konnotiert. Zum einen wird mit
Wissen subjektive Sicherheit ausgedruckt, d. h. es besteht die Überzeugung,
daß die eigene Vorstellung der Realität dem tatsächlichen Zustand der Realität
entspricht. Zum anderen wird richtiges Erraten als Wissen' bezeichnet, d. h. ex
post wird ein tatsächlich eingetroffenes Ereignis als Bestätigung für einen
vorher ausgedruckten Glauben an dessen Eintreffen dargestellt (vgl. Sodian
1986: 20).
66 Vgl. dazu stellvertretend Rehäuser/Kremar (1994).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 53
Auseinandersetzungen mit Wissen sind allerdings weit vielfältiger, als
diese einführenden Bemerkungen den Anschein erwecken. Neben der langen
Tradition wissenschaftlicher Aussagen der Philosophie zum Wissen, entdeckt
erst in jüngster Zeit die Betriebswirtschaftslehre den Stellenwert des Wissens
in wirtschaftlichen Zusammenhängen. So konnte noch vor wenigen Jahren
relativ unwidersprochen behauptet werden, daß Wissen nicht zum Gegenstand
der Betriebswirtschaftslehre gehöre (vgl. etwa Kleinhans 1989: 6). Lediglich
in Zusammenhang mit dem Begriff der Information und in einigen
Ausnahmen (z. B. Wittmann 1979) fand das Wissen Erwähnung. In der
jüngsten Vergangenheit ist allerdings eine Vielzahl von Auseinandersetzungen
erkennbar, welche die Bedeutung des Wissens für Unternehmen heraus-
stellen.67
Für eine Diskussion um den Faktor Wissen im Unternehmertum im
vierten Kapitel erscheint eine Annäherung über das Wissensverständnis
einiger Autoren notwendig. Auch die Abgrenzung zu anderen, verwandten
Begriffen soll auf die Identifikation von Wissensspuren im Unternehmertum
vorbereiten (I). Daran schließt sich ein erster Überblick über die Theorie des
impliziten Wissens von Michael Polanyi an (2).
(1) Betrachtet man die Geschichte der theoretischen Wissensdiskussion,
so ist es lange Zeit den Philosophen vorbehalten, den Begriff des Wissens zu
explizieren. Häufig ist dabei die Verknüpfung von Wissen und Glauben
festzustellen. So verkörpert für Kant Wissen ein »sowohl subjektiv als auch
objektiv zureichendes Fürwahrhalten« (vgl. Brüggen 1974: 1724), woraus
abzuleiten ist, daß bloßes Meinen als subjektiv zureichendes Fürwahrhalten
nicht ausreicht, sondern. um eine objektive Komponente zu ergänzen ist.
Die besondere Bedeutung des Wissens ist aber nicht nur in den
philosophischen Traditionen erkennbar. Insbesondere die Soziologie stellt den
hohen Stellenwert des Wissens für die Gesellschaft heraus, indem sie die
postindustrielle Gesellschaft als »Knowledge Society« bezeichnet.68
67 Beispiele dafür sind die Werke von Pautzke (1989) und Kleinhans
(1989), die sich relativ allgemein mit Wissen auseinandersetzen. Auch
spezielle Aspekte, wie eine grundlagenorien. tierte Auseinandersetzung mit
der Ökologie des Wissens von Kirsch (Schink 1997) oder eben der Bedeutung
von implizitem Wissen (Eckert 1998) werden in neuerer Zeit verstärkt fokus-
siert. 68 Diese Kennzeichnung der postindustriellen Gesellschaft geht u. a. auf
Bell zurück (vg!. z. B. Bell 1973: 212). Die Bezeichnung der heutigen
Gesellschaft als Wissensgesellschaft findet sich u. a. auch bei Drucker (1969),
Richta (1977), StehrfBöhme (1986) und Borgmann (1992).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 54
Begründet wird dies damit, daß Wissen die fundamentale Ressource der
modemen Gesellschaft darstellt und deren Identität zunehmend durch Wissen
geprägt ist (vgl. Stehr 1994: 6). Für Bell ist Wissen dabei
»(...) a set of organized statements of facts or ideas, presenting a reasoned judgement or an experimental result, which is transmitted to others through some communication medium in some systematic form.« (Bell 1973: 175)
Bell wählt diese Begriffsfassung bewußt eng und grenzt sie damit von
verwandten Begriffen wie etwa »Nachrichten« ab, da das »reasoned
judgement or experimental result« die Notwendigkeit der Forschung zeigen.
Mit dem expliziten Einbezug der Kommunikation des Wissens grenzt Bell
sich bewußt strikt gegenüber der Wissenskonzeption von Machlup ab, der fünf
Klassen von Wissen nach dem Kriterium der Bedeutung rur den Wissenden
voneinander differenziert:
»(1) Practical knowledge: useful in the knower's work, his decisions, and actions; can be subdivided, according to his activities, into a) professional knowledge, b) business knowledge, c) workman's knowledge, d) political knowledge, e) household knowledge, f) other practical knowledge.
(2) Intellectual knowledge: satisfying his intellectual curiosity, regarded as part of liberal education, humanistic and scientific learning, general culture; acquired, as a rule, in active concentration with an appreciation of the existence of open problems and cultural values.
(3) Small-talk and pastime knowledge: satisfying the nonintellectual curiosity or his desire for light entertainment and emotional stimulation, including local gossip, news of crimes and accidents, light novels, stories, jokes, games, etc.; acquired, as a rule, in passive relaxation from 'serious' pursuits; apt to dull his sensitiveness.
(4) Spiritual knowledge: related to his religious knowledge of God and ofthe ways to the salvation of the soul. (5) Unwanted knowledgc: outside his interests, usually accidentally acquired, aimlessly retained.« (Machlup 1980:
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 55
108)
In Zusammenhang mit Organisationen differenzieren Kogut und Zander
(1992: 386) (organisatorisches) Wissen in »information« 69 und »know-
how«.Dabei beinhaltet »information« das Wissen über die jeweilige
Bedeutung, während »know-how« das Wissen über die jeweilige
Nutzungsmöglichkeit bildet. Ersteres stellt somit Faktenwissen, welches im
Gedächtnis gespeichert ist, dar, und wird von den Autoren auch als
deklaratives Wissen gekennzeichnet. Letzteres dagegen ist über die Zeit
erlerntes Wissen, das auch als prozedurales Wissen definiert werden kann.
Diese Differenzierung steht in engem Zusammenhang mit der
Dichotomie von »explizitem Wissen« und »implizitem Wissen«, die vor allem
bei der Betrachtung des Prozesses der Wissenserschaffung70 relevant wird
(vgl. Nonaka 1994: 16). Die Möglichkeit zu dieser Differenzierung wurde
durch Polanyis Ausführungen zum »impliziten Wissen« (tacit knowledge)
gegeben. In Rückgriff auf Polanyi kennzeichnet Nonaka explizites Wissen als
solches, das vermittels einer formalen, systematischen Sprache übertragen
werden kann. Implizites Wissen dagegen ist durch eine personelle Qualität
gekennzeichnet, die eine Übertragbarkeit kaum möglich erscheinen läßt, da es
tief in individuellen Handlungen verwurzelt ist.71 Das Wesen des impliziten
Wissens wird deutlich, wenn man sich besonders stark verinnerlichte
physische Prozesse vergegenwärtigt. So erfordert die Fähigkeit zu laufen
lediglich unterbewußte motorische Aktivitäten einer Person, die keiner
geistigen Unterstützung bedürfen. Die Fähigkeit des Laufens läßt sich
allerdings noch relativ leicht beschreiben. Daher ist das Laufen nur Beispiel
für die technischen Elemente des impliziten Wissens. Die zweite Klasse
repräsentieren die kognitiven Elemente.
Durch sie bildet der Aktor mit Hilfe von Analogien mentale Modelle ab,
69 Auf die Differenzierung von Information und Wissen, die sehr
unterschiedlich vollzogen wird, kommen wir erst im nächsten Abschnitt
detailliert zu sprechen.
70 Auch wenn der Begriff des "Prozesses der Wissenserschaffung"
unserer Meinung nach hier nicht glücklich gewählt ist, da er eine
voluntaristische Haltung zur Erweiterung des Wissens suggeriert, soll er im
Sinne Nonakas in dieser Form verwendet werden. Für unsere Zwecke wird der
Begriff der "Wissensgenese" vorgezogen, der neben der aktiven
Wissenserschaffung auch die (passive) Entstehung von Wissen zuläßt.
71 In gleicher Weise unterscheidet Ryle (1949: 25 ff.) zwischen
"knowing how" und "knowing that".
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 56
die seine Schemata, Überzeugungen und Ansichten enthalten, die seinem
Modell die Funktionsfähigkeit geben (vgl. Nonaka 1994: 16). Sowohl die
ursprüngliche Theorie Polanyis, als auch die »Übersetzung« der Idee des
impliziten Wissens in den organisatorischen Zusammenhang werden uns im
Verlauf dieser Zwischenbetrachtung noch weiter beschäftigen.
Kirsch beschreibt ebenfalls die Trennung von explizitem und implizitem
Wissen, wobei für ihn diese Trennung im Ort der Speicherung des Wissens
besteht. Unter implizitem Wissen versteht er das lediglich in den Köpfen
untermehmerischer Aktoren gespeicherte Wissen, während das explizite
Wissen in den Medien außerhalb der Köpfe im Unternehmen gespeichert ist
(vgl. Kirsch 1991: 50 I). In letzterem ist auch das offizielle Wissen enthalten,
welches durch die unternehmerischen Organe autorisiert ist. Eine zweite, dazu
querliegende Dichotomie stellt die von privatem und kollektivem Wissen dar,
in der nach dem Kriterium der Zugänglichkeit unter schieden wird. Diese ist
bei kollektivem Wissen gleichzeitig möglich, bei privatem Wissen jedoch
nicht. Die Zugänglichkeit des Wissens führt schließlich auch zum Begriff des
bewußten Wissens, welches dann vorliegt, wenn Aktoren wissen, daß ihnen
ein bestimmtes Wissen zugänglich ist (vgl. Kirsch 1991: 50 I ff.).
Eine weitere bedeutsame Unterscheidung bildet diejenige zwischen
primärem und sekundärem Wissen, die in Zusammenhang mit der Frage nach
der Überzeugungskraft von Ideen generiert wird. Die Argumente, die eine
Idee faktisch begründen und denen eine gewisse Logik inhärent ist, werden als
primäres Wissen bezeichnet. Demgegenüber tritt im sekundären Wissen die
Problemlösungskraft der Idee selbst in den Hintergrund. Die Begleitumstände
einer Idee und vor allem der Ideenlieferant und dessen Reputation
konstituieren das sekundäre Wissen (vgl. dazu Kirsch 1997a: 351 ff.).
Die Vielfalt der Wissensdefinitionen und -klassifikationen läßt sich in
erster Linie auf den jeweils verfolgten Forschungszweck zurückführen.
Innerhalb der Betriebswirtschaftslehre erscheint es - wie zuvor bereits
angedeutet - notwendig, Wissen gegenüber einigen als synonym gebrauchten
Begriffen abzugrenzen. Der Ausdruck »Information« wird innerhalb der
Betriebswirtschaftslehre aufgrund seines teleologischen Charakters oftmals
gegenüber dem Begriff Wissen präferiert.72 Dies wird an der Kennzeichnung
von Information als »zweckorientiertes Wissen« (Wittmann 1959: 14) oder als
»entscheidungsrelevantes Wissen« (Schweitzer 1985: 17) deutlich, auch wenn
sich in diesen Begriffsfassungen eine etwas mechanische Sichtweise von
Unternehmen offenbart, die sich in der betriebswirtschaftlichen Literatur
72 Die speziellen Eigenschaften der Inormation werden hier nicht
ausfuhrlich erläutert (vgl. dazu beispielsweise PicotlReichwald 1991: 250)
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 57
jedoch zunehmend auflöst. Das Wissen selbst wird in solchen Fällen nicht
thematisiert, es dient lediglich als Oberbegriff der Information und soll den
Charakter des letzteren zeigen.
Der Terminus »Oberbegriff' spiegelt eine Inklusion von Information in
Wissen wider. Eine andere Art dieses Verhältnisses beschreiben Rehäuser und
Krcmar (1996). Sie gliedern beide Begriffe in eine Hierarchie ein, wobei
Wissen als Vernetzung zweckgerichteter Informationen auf einer höheren
Stufe erscheint (vgl. Rehäuser/Krcmar 1996: 4 f.). In indirekter Weise zeigt
sich somit auch, daß Wissen eine Bestandsgröße darstellt, während
Information die Flußgröße ist, die den Wissensbestand erweitern kann {vgl.
dazu z. B. Wessling 1991: 27 ff.)73 Mit dieser Unterscheidung kommt
wiederum die Ansicht zum Ausdruck, daß das Wissen selbst nicht thematisiert
wird, da es zwar in irgendeiner Form vorhanden, aber nicht nutzbar ist. Erst
die Informationen verhelfen dem Wissen und den Entscheidungsträgern zu
ihrer Entscheidungsgrundlage.
Die Kritik, die mit der Vernachlässigung des Wissens gegenüber der
Information verbunden ist, zeigt sich bereits bei Pautzke. Er betont etwa, daß
informationsorientierte Beiträge sich auf die Betrachtung faktischen Wissens
beschränken, während Werte vernachlässigt werden (vgl. Pautzke 1989: 9).
Ein letzter, gegenüber Information und Wissen abzugrenzender
Terminus ist der der Daten. Er wird vor allem in der betriebswirtschaftlichen
Auseinandersetzung mit der (elektronischen) Informationsverarbeitung
herangezogen. Daten gelten dabei als spezielles sprachliches Ausdrucksmittel
für die Mitteilung von Informationen (vgl. Barkow et al. 1989: 58). Greift man
auf die Dimensionen der Semiotik nach Morris (1946: 217 ff.) zurück, so
beinhalten Daten lediglich die syntaktische und die semantische Dimension,
während Information auch eine pragmatische Bedeutung aufweist (vgl. zu
dieser Unterscheidung Picot/Reichwald 1991: 252).
Diese vielfältigen Unterscheidungen innerhalb des Wissensbegriffs und
der synonym verwandten Begriffe gegenüber dem Wissen sind in bezug auf
das Unternehmertum allerdings nicht alle in gleicher Weise relevant. Die
Hervorhebung einiger der bisher dargestellten Ausdrücke und die Begründung
für deren Relevanz ebnet den Weg für die Identifikation von Spuren des
Wissens im Unternehmertum und den Zusammenhang von Wissen und
73 Die Analogie von Information und Wissen zu Einkommen und
Kapital als Bestands- und Flußgröße ist dabei nicht zutreffend, da lediglich die
Möglichkeit besteht, daß Infonnationen das Wissen erweitern, während
Einkommen stets das Kapital erhöht (vgl. Wessling 1991: 27).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 58
Unternehmertum im vierten Kapitel. In dieser Hinsicht halten wir
insbesondere auch die Ideen für relevant, die im Rahmen der Theorie des
impliziten Wissens von Michael Polanyi entwickelt wurden.
(2) Die Tatsache, daß die Beschäftigung mit implizitem Wissen trotz
seiner inzwischen über vierzigjährigen Geschichte74 im allgemeinen immer
noch relativ spärlich ist,75 mag damit zusammenhängen, daß diese
»Wissensform« in mancher Hinsicht der »westlichen« epistemologischen
Tradition widerspricht (vgl. dazu Nonaka/Takeuchi 1995: 20 ff.). In dieser
Hinsicht ist die Tatsache, daß Wissen grundsätzlich - wie von seinen
Verfechtern behauptet wird - impliziter Natur ist und lediglich ein kleiner Teil
davon explizierbar ist, vielfach nur schwer vermittelbar. Eckert bezeichnet
diesen Umstand im Hinblick auf die westliche Tradition als
»Perspektivenverkehrung« im Sinne der traditionellen Thematisierung und
führt dies wie folgt aus: »Nicht (nur) gilt: Das implizite Wissen ergänzt das hauptsächlich explizite Wissen, sondern (auch und vielmehr): Man unterscheidet zwischen einem (ex definitione) implizitem Wissen und zusätzlichen Wissensartikulationen, wobei man von einem grundsätzlichen Primat des impliziten Wissens ausgeht.« (Eckert 1998: 22)
Die Überlegungen Polanyis, die einen solchen Perspektivenwechsel
herbeiführen, gilt es im folgenden grundlegend zu betrachten.
Ausgangspunkt der Überlegungen Polanyis bildet die vielzitierte
Einschätzung über das menschliche Erkennen, nach der »wir mehr wissen, als
wir zu sagen wissen« (Polanyi 1985: 14). Der Gedanke, der hier von Polanyi
ausgedruckt wird, mutet dem Betrachter von Anfang an logisch an, auch wenn
die damit verbundenen Assoziationen nur teilweise Polanyis Intentionen
entsprechen. Eine mögliche Annahme mag darin bestehen, daß der Teil des
Wissens, der nicht sprachlich ausgedruckt werden kann, in irgendeiner Weise
aktuell nicht präsent ist, somit nicht im Bewußtsein liegt und daher ein Zugriff
nur über Assoziationen o. ä. erfolgen kann. Wie sich im folgenden zeigen
wird, ist dieser Gedanke nur partiell korrekt.
74 Dieser Zeitraum bezieht sich jedoch nur auf die Auseinandersetzung
Polanyis mit dieser Wissensfonn. Ähnliche Überlegungen finden sich bereits
bei Freud, Brentano, von Helmholtz und nicht zuletzt Ryle (vgl. Sanders 1988:
1).Weitere Hinweise auf die Beschäftigung mit implizitem Wissen lassen sich
bei Turner (1994: 2 f.) entdecken. 75 Vgl. zu dieser Einschätzung Eckert (1998: 1 f.).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 59
Polanyi selbst nutzt zu einer ersten Erläuterung das Beispiel der Physiognomie
eines menschlichen Gesichts: »Wir kennen das Gesicht von jemandem und können es unter Tausenden, ja unter Millionen wiedererkennen. Trotzdem können wir gewöhnlich nicht sagen, wie wir ein uns bekanntes Gesicht wiedererkennen.« (Polanyi 1985: 14)
Wenn nun ein Phantombild eines solchen Gesichts angefertigt wird, offenbart
sich diese von Polanyi angesprochene Defizienz in der Beschreibung.
Lediglich über die »gestützte Erinnerung« (vgl. von Rosenstiel/Neumann
1991: 102) durch Vorlage von Kollektionen einzelner physiognomischer
Merkmale gelingt die Herstellung eines Bildes, welches dem tatsächlichen
Gesicht mehr oder weniger ähnlich ist.76 Das Beschreibungsproblem besteht
demnach nicht aufgrund mangelnder Erinnerungsfähigkeit, sondern in der
sprachlichen Wiedergabe der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Zugleich zeigt
sich in letzterer »ein Wissen, das wir nicht mitzuteilen wissen« (vgl. von
Rosenstiel/Neumann 1991: 102) - also implizites Wissen.
Das implizite Wissen als »nicht-sprachliches Handlungswissen«
(Eckert 1998: 120) scheint nach diesen ersten Ausführungen eine Art
Gegenpol zum sprachlich ausdrückbaren Wissen - dem expliziten Wissen - zu
bilden. Eine solche »simple« Dichotomie ließe sich mit Ryles »knowing how«
und »knowing that« vergleichen (vgl. Ryle 1949: 25 ff.). Dieser Vergleich ist
zwar durchaus legitim, aber Polanyis Differenzierung als Dichotomie
aufzufassen, wird seiner Konzeption nicht gerecht, da das implizite Wissen
mehr ist, als der Gegensatz zum expliziten Wissen: »All knowledge is either tacit or rooted in tacit knowtedge.« (Polanyi 1969b: 144)
Obwohl also ein Gegensatz zwischen explizitem und implizitem Wissen
besteht wie Abbildung ZBI- I zeigt -, läßt sich keine feste Grenze ziehen, da
auch explizites Wissen letztlich auf implizites zurückzuführen ist. Daher
spricht Nonaka auch vom explizitem Wissen als »tip of the iceberg« der
Verkörperung des gesamten möglichen Wissens (vgl. Nonaka 1994: 16). Mit
der von Nonaka eingeführten Eisbergmetapher werden einige grundlegende
Gedanken Polanyis verdeutlicht. Zum einen wird mit der Spitze des Eisbergs
76 Die eventuell bestehende Unähnlichkeit, die dem Erstellenden des
Phantombildes möglicherweise im Nachhinein auffällt, kann dann (und nur
dann) zwar ausgedrtlckt, aber nicht spezifiziert werden.
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 60
üblicherweise immer auch der sichtbare Teil bezeichnet, während der Fuß des
Eisbergs nicht sichtbar bzw. nicht ermittelbar ist. Somit kann weder zum
Größenverhältnis zwischen Spitze und Fuß, noch zur Gestalt des Fußes eine
gesicherte Aussage getroffen werden. Zum anderen ist - trotz der
Unbestimmbarkeit des Größenverhältnisses. klar, daß der nicht sichtbare Teil
wesentlich größer als die sichtbare Spitze ist, wodurch Nonaka respektive
Polanyi die jeweilige Bedeutung beider Wissensformen darlegen möchte.
Die Eisbergmetapher muß jedoch im Hinblick auf die ursprünglichen
Gedanken Polanyis kritisch betrachtet werden. So wird zwar bei Polanyi
implizites von explizitem Wissen unterschieden, dies jedoch nicht im Sinne
einer festen Abgrenzung. Polanyi hält alles Wissen grundsätzlich für
implizites Wissen, von dem ein geringer Teil expliziert werden kann. Die
Eisbergmetapher ließe sich in dieser Hinsicht insofern modifizieren, als man
den gesamten Eisberg als implizites Wissen erachtet, von dem ein Teil
expliziert bzw. artikuliert werden kann. Dieser Teil entspräche jedoch nicht
der Spitze des Eisbergs, da - wenn man den gesamten Eisberg als implizites
Wissen betrachtet - nicht ein Teil davon bereits in expliziter Form vorliegen
kann. Vielmehr kann man sich explizites Wissen in bezug auf die Eis-
bergmetapher als das Schmelzwasser des Eisbergs vorstellen. Die
Veränderung des Aggregatzustandes spiegelt dabei die Möglichkeit der
Artikulation des (grundsätzlich impliziten) Wissens wider.77
Abb. Z81-1: Die Unterscheidung zwischen Nonak/lTakeuchi 1995: 61)
77 Insofern besteht in dieser Hinsicht ein Widerspruch zwischen den
ursprUnglichen Gedanken Polanyis und der Adaption und Verwendung
Nonakas, auf die im zweiten Teil der Zwischen betrachtung fokussiert wird.
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 61
Um den Charakter des impliziten Wissens weiter zu verdeutlichen, erläutert
Polanyi den Akt des Wissenserwerbs. Dazu können zwei Arten des
»Gewahrwerdens« unter schieden werden, die während des Wissenserwerbs
parallel verlaufen: das periphere, ungerichtete Gewahrwerden (subsidiary
awareness) und das fokale, gerichtete Gewahrwerden (focal awareness). Einen
ersten Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung der beiden Arten des
Gewahrwerdens liefert Sanders: »Obviously, the idea is !hat what we are aware of, but cannot tell, make explicit or specify, is that of which we have a subsidiary awareness. Focal awareness seems easy enough; it amounts to being attentively aware of something, as, for example, in per ception, purposive action and problem solving.« (Sanders 1988: 3)
Obwohl das periphere Gewahrwerden immer gleichzeitig mit dem fokalen
Gewahrwerden abläuft, zieht letzteres stets die Aufmerksamkeit auf sich und
von ersterem weg. Das aufmerksame Gewahrwerden findet dann in Form von
sinnlicher Wahrnehmung, zweckvoller Handlung oder Problemlösung statt.
Demnach wird zugleich explizites Wissen - über die Aufgabe bzw. das
Problem, welches sich offen stellt bzw. eine offensichtliche Tatsache - und
implizites Wissen - unabhängig von aufmerksamer Erfassung erworben.
Von Psychologen wird der Wissenserwerb über »subsidiary awareness«
als unterschwellige Wahrnehmung bezeichnet.78 Um die Existenz einer
solchen Wahrnehmungsform zu beweisen, wurde u. a. ein Experiment
durchgeführt, in welchem Versuchspersonen eine größere Anzahl sinnloser
Silben gezeigt wurde. Nach der Demonstration einiger dieser Silben erhielten
die Probanden einen elektrischen Schlag. Nach einiger Zeit zeigten die
Personen antizipative Symptome bei der Präsentation dieser Silben, auch
wenn sie nicht imstande waren, die Silben anzugeben (zu explizieren). Die
78 Vgl. dazu etwa Franke (1967) oder Koeppler (1972). Sanders weist
jedoch daraufhin, daß das periphere Gewahrwerden nicht notwendigerweise
"unbewußt, unterbewußt oder in einer Vorstufe des Bewußtseins" verlaufen
muß. Als Beispiel wird die Betrachtung eines stereoskopischen Bildes Uedes
Auge betrachtet ein Einzelbild, welches kleine Unterschiede aufweist,
wahrgenommen wird jedoch das Gesamtbild) herangezogen. Durch das
Abdecken eines Auges kann das periphere Gewahrwerden jederzeit zum
fokalen Gewahrwerden mutieren (vgl. dazu ausfLlhrlich Sanders 1988: 6).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 62
Personen hatten »gelernt«, »wann ein Schlag zu erwarten war, konnte[n] aber
nicht sagen, was sie zu dieser Erwartung veranlaßte« (Polanyi 1985: 17).
Polanyi spricht bezüglich dieser Art von Experiment von zwei Gliedern des
impliziten Wissens. Die Silben, die als Auslöser des elektrischen Schlags
dienen, bilden das erste Glied, der Stromstoß, der den Silben folgt, das zweite.
Die Verknüpfung zwischen Silbe und Stromstoß blieb im Versuch implizit, da
die Personen zwar antizipative Symptome zeigten, jedoch die Auslöser nicht
spezifizieren konnten. Das fokale Gewahrwerden des Stromstoßes ist nach
Polanyi nun genau darur verantwortlich, daß die Verknüpfung implizit bleibt
(vgl. Polanyi 1985: 17 f.).
Am Beispiel der sinnlichen Wahrnehmung (perception) läßt sich die
Differenzierung zwischen »subsidiary awareness« und »focal awareness«
weiter verdeutlichen. Ausgehend von der Definition sinnlicher Wahrnehmung
als »comprehension of clues in terms of a whole« (Polanyi 1958: 97) kann
man den Zusammenhang der drei zentralen Termini (»comprehension«,
»whole« und »clues«) wie folgt erläutern.
Über die »clues«, die hier als Teile aufgefaßt werden können, besteht ein
peripheres Gewahrwerden, während sich das fokale Gewahrwerden auf das
Ganze (»whole«) bezieht. Das Verständnis (»comprehension«) bildet
schließlich den Aspekt, durch den die Verbindung zwischen »clues« und
»whole« geschaffen wird (vgl. Sanders 1988: 4). Dies weist auf die triadische
Struktur des impliziten Wissens hin: das Wissen, welches weiter weg liegt,
wird als »distaler Term« bezeichnet und stellt das angebbare Wissen dar; der
»proximale Term« (das näherliegende Wissen) ist hin gegen nicht
artikulierbar; schließlich werden erst durch die Integrationsleistung die
einzelnen peripheren Wissensbestandteile zusammengefügt.79 Beim »Akt des
impliziten Wissens« wird demnach die Aufmerksamkeit vom proximalen
Term auf den distalen Term verschoben. Bei der Wahrnehmung eines Gesichts
bedeutet dies, daß sich die Aufmerksamkeit von den einzelnen Merkmalen auf
die gesamte Charakteristik des Gesichts verlegt, wodurch die Schwierigkeit
bei der Erstellung eines Phantombildes erklärbar wird (vgl. Polanyi 1985:
79 Ecken weist in diesem Zusammenhang auf die terminologische
Unsauberkeit in bezug auf Polanyis Triade hin. Polanyi spricht von einer
"triad of tacit knowing" (1969c: 182), wobei diese zugleich ein nicht-
artikulierbares als auch ein angebbares (und damit eigentlich explizi tes)
Wissen enthält, obwohl diese triadische Struktur sich auf das implizite Wissen
bezieht (v gl. Eckert 1998: 124). Auf die Problematik der Möglichkeit einer
sprachlichen Weitergabe impliziten Wissens werden wir im zweiten Teil
dieser Zwischenbetrachtung zurückkommen.
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 63
18 f.). Polanyi faßt diese Tatsache, die er als »phänomenologische Struktur«80
des impliziten Wissens bezeichnet, wie folgt zusammen:
»Allgemein läßt sich sagen, daß wir den proximalen Term eines Aktes impliziten Wissens im Lichte seines distalen Terms registrieren; wir wenden uns von etwas her etwas anderem zu und werden seiner im Lichte dieses andcrcn gewahr.« (Polanyi 1985: 20; Hervorhebungen im Original)
Nachdem die Vorstellung eines impliziten Wissens deutlich geworden ist,
bleibt die Frage offen, wie implizites Wissen erworben wird. Dazu nutzt
Polanyi in Anlehnung an Dilthey und Lipps das Konzept der Einfühlung oder
Empathic (»indwelling«). Diesen Autoren zufolge setzt ein Verständnis des
Geistes eines bestimmten Menschen bzw. eines Kunstwerkes ein nochmaliges
Durchleben des Schaffens bzw. die Einfühlung in den Geist voraus. Als
»Paradigma der Einfühlung« wird dabei der menschliche Körper gesehen,
denn »the body is the ultimate instrument of all intellectual and practical
knowledge« (Polanyi 1969b: 147). Damit ist wiederum der semantische
Aspekt impliziten Wissens angesprochen, der die körperlichen Empfindungen
als Spiegel äußerer Vorgänge beschreibt. Der Gedanke des Werkzeug-
gebrauchs, der ein Beispiel für diesen semantischen Aspekt bildet, wird in der
von Polanyi durchgeführten Akzentverlagerung der Konzeption impliziten
80 Neben der phänomenologischen Struktur impliziten Wissens
beschreibt Polanyi drei weitere Aspekte, die jedoch allesamt in enger
Beziehung zueinander stehen. So kennzeichnet er im Zusammenhang mit
einer motorischen AusfLIhrung (die einen weiteren bisher nicht ange-
sprochenen Bereich impliziten Wissens bildet und von Ecker! in Anlehnung
an Franck (1989: 149 ff.) als "Wissen-im-Tätigsein" bezeichnet wird (vgl.
Eckert 1998: 122» die Unfahigkeit, elementare Akte im einzelnen angeben zu
können, da die DurchfLlhrung des gesamten Zwecks im Vordergrund steht,
als "funktionale Struktur" impliziten Wissens. Den "semantischen Aspekt"
erläutert er anhand des Beispiels eines Werkzeuggebrauchs. Der Druck des
Werkzeugs auf die Hand spiegelt die Bedeutung des Werkzeugs in bezug auf
den zu bearbeitenden Gegenstand wider. Aus diesen drei Aspekten
(phänomenologische Struktur, funktionale Struktur und semantischer Aspekt)
wird dann der vierte in Gestalt des "ontologischen Aspekts" abgeleitet. Er
beinhaltet das Verstehen des gesamten Gegenstandes bzw. Objekts in seiner
Bedeutung, die über das Gewahrwerden der Einzelheiten bzw. "clues" erfolgt
(vgl. ausfUhrlich Polanyi 1985: 19 ff.).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 64
Wissens erheblich bedeutungsvoller. Die Akzentverlagerung besteht darin,
dass Polanyi die Tragfähigkeit des »indwelling« so hoch einstuft, daß er von
einer Gleichsetzung von implizitem Wissen und Einfühlung spricht. Die damit
verbundene Bedeutung körperlicher Wahrnehmung drückt er wie folgt aus:
»Wir können dies [die Empfindungen am Ende eines Werkzeugs; C. B.] als Verwandlung des Werkzeugs oder der Sonde in eine (...) empfindungsbegabte Verlängerung unseres Körpers betrachten. Der Umstand, daß wir uns äußeren Dingen zuwenden, indem wir unseres Körpers gewahr werden, legt es nahe, die Reichweite unserer Körperempfindungen auszuweiten. Wann immer wir bestimmte Dinge gebrauchen, um von ihnen aus auf andere Dinge zu achten - also so, wie wir unseren Körper stets gebrauchen -, verändern diese Dinge ihr Aussehen. Sie erscheinen uns als diejenigen Entitäten, auf die wir von jenen aus unsere Aufmerksamkeit richten, gerade so, wie wir unseren Körper als die äußeren Dinge empfinden, denen wir uns von ihm aus zuwenden. In diesem Sinne können wir sagen, daß wir uns die Dinge einverleiben, wenn wir sie als proximale Terme eines impliziten Wissens fungieren lassen - oder umgekehrt, daß wir unseren Körper soweit ausdehnen, bis er sie einschließt und sie uns innewohnen.« (Polanyi 1985: 23 f.; eigene Hervorhebungen)
Obwohl die körperliche Wahrnehmung somit zu einem wichtigen Bestandteil
des Wissenserwerbs wird, offenbart sich im umgekehrten Fall das implizite
Wissen nicht nur in der Anwendung praktischer (körperlicher) Fähigkeiten.
Polanyi zufolge zeigt sich implizites Wissen auch in sprachlichen,
technischen, athletischen, künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten. Für
die Ausübung all dieser Fähigkeiten ist es notwendig, Regeln zu befolgen (vgl.
dazu auch Smith 1988: 8 f.). Diese Regeln können zwar (teilweise auch
explizit) gewußt werden, aber insbesondere die Ausübung praktischer
Fähigkeiten läuft unter Befolgung nicht-angebbarer Regeln ab (vgl. Polanyi
1958: 49).81 Eines von Polanyis Beispielen dazu ist das Fahrradfahren, bei
welchem die Kenntnis der physikalischen Regeln, welche dem Fahrrad fahren
zugrunde liegen, nicht notwendig ist, um es ausüben zu können (vgl. Polanyi
81 "(...) knowledge of rules functions in the exercise of all skills, whether
physical or intellectual." (Sanders 1988: 11)
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 65
1969b: 144).82
Zwei wichtige Aspekte impliziten Wissens, die bei dessen Betrachtung
oftmals vernachlässigt werden, sollen die Ausführungen zu Polanyis Theorie
abschließen. Obwohl er selbst teilweise von »tacit knowledge« spricht (vgl.
etwa Polanyi 1969b: 144), unterstellt er dem impliziten Wissen einen
dynamischen Charakter, der als »process of knowing« (Sanders 1988:'21)
beschreibbar ist. Um diesen dynamischen Aspekt impliziten Wissens zu
würdigen, ist an anderen Stellen von »tacit knowing« (vgl. etwa Polanyi
I969d: 159) die Rede, um die besondere Bedeutung des Wissenserwerbs zu
verdeutlichen. Eine weitere wichtige Eigenschaft impliziten Wissens ist
dessen personenbezogener Charakter, d. h. die geistigen Fähigkeiten, die das
implizite Wissen erst ermöglichen, können niemandem außer dem Wissenden
selbst zugänglich sein. Dementsprechend ist implizites Wissen auch als
fehlbar zu bezeichnen und als »Wissen-im-Tätigsein« auch nur in der
Ausübung selbst überprüfbar (vgl. ausführlich Sanders 1988: 21 f.).
Ziel dieses ersten Teils war es, sich - neben einer kurzen Darstellung des
Spektrums des Begriffs Wissen - einen Überblick über einige grundlegende
Aspekte der Theorie Michael Polanyis zu verschaffen. Obwohl die Theorie
des impliziten Wissens große Verbreitung gefunden hat und bereits von
Polanyi selbst durch eine Reihe von Beispielen verifiziert worden ist, ziehen
einige Autoren die Existenz impliziten Wissens (insbesondere den
Wissenserwerb - das implizite Lernen) weiterhin in Zweifel. Insbesondere der
Umstand, daß implizit erworbenes Wissen in das Bewußtsein gelangen kann,
wird als inhärenter Widerspruch des Konzeptes gesehen. Reber faßt diesen
Gedankengang wie folgt zusammen:
»One ofthe more significant features [of implicit leaming; C. B.], the nonverbalizable properties ofthe knowledge can, it is argued, be viewed as little other than a failure to probe effectively the subjects' ability to explicate their knowledge. In short, implicit learning is implicit only to the extent that experimenters have failed to make it explicit. Ifthere is evidence that subjects have conscious knowledge then the learning cannot have been implicit.« (Reber 1993: 24 f.)
Auch wenn die Theorie impliziten Wissens heute als weitgehend anerkannt
gilt, zeigt dieses Zitat doch die Problematik eines Ansatzes, der etwas Nicht-
82 Vgl. zum Beispiel des Fahrradfahrens kritisch auch Nyiri (1988: 19).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 66
Mögliches zum Prinzip erhebt. Dadurch, daß implizites Wissen sich durch
Nicht-Artikulierbarkeit auszeichnet, ist es für Kritiker leicht, dessen Existenz
auf Defizite in Experimenten zurückzuführen.
Wir möchten uns jedoch nicht zu sehr mit dieser - für die Sozial-
wissenschaften nicht untypischen - Diskussion beschäftigen.83 Möglicherweise
können wir mit der für unseren Zusammenhang interessierenden Frage nach
der Weitergabe der verschiedenen Wissensformen (insbesondere des
impliziten Wissens) auch für die hier nicht ausgeführte Diskussion Hinweise
geben. Auf diese Weitergabe des Wissens wird im nun folgenden zweiten Teil
dieser Zwischenbetrachtung fokussiert.
2. Die Bedeutung impliziten Wissens im
organisatorischen Zusammenhang
Nonaka (1994) und Nonaka/Takeuchi (1995) entwerfen - aufbauend auf
Polanyis Differenzierung von explizitem und implizitem Wissen84 - eine
dynamische Theorie der Schaffung von Wissen in Organisationen.85 Weil sie
dabei versuchen, relativ authentisch Polanyis Konzeption für einen
organisatorischen Zusammenhang zu adaptieren, tauchen in ihren
Überlegungen teilweise Schwierigkeiten auf, die zwar einer Lösung zugeführt
werden, welche sich jedoch in manchen Aspekten strenggenommen als
unzulänglich erweist. Insbesondere dieser Problematik werden wir uns im
Folgenden widmen.
Ausgangspunkt der Bemühungen Nonakas und Takeuchis bildet die
These vom größeren wirtschaftlichen Erfolg japanischer Unternehmen
gegenüber ihrer westlichen Konkurrenz. Die Hauptursache dafür sehen sie
83 Vgl. dazu ausführlich das zweite Kapitel Rebers (1993). 84 Obwohl im ersten Teil erläutert wurde, daß die Unterscheidung
zwischen explizitem und implizitem Wissen keine wirkliche Abgrenzung
darstellt, sondern ein geringer Teil des grundsätzlich impliziten Wissens
explizierbar ist, wird auf diese Problematik erst nach der Darstellung des
Ansatzes von Nonaka/Takeuchi eingegangen. 85 Ein Beitrag, der sich vorwiegend unter untemehmenskulturellen
Gesichtspunkten mit implizitem Wissen auseinandersetzt, ist jener von
1ngersoil/Adams (1992).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 67
nicht in verschiedenen Organisationsprinzipien, sondern in der Bedeutung und
der Definition von Wissen und von Prozessen des Wissenserwerbs. Während
in der westlichen Gesellschaft (und damit auch in westlichen Organisationen)
Wissen notwendigerweise als explizit86 betrachtet wird, ist diese Form des
Wissens - ganz im Sinne Polanyis - in der japanischen Gesellschaft (und
seinen Organisationen) nur die »Spitze des Eisbergs« allen Wissens. Die
grundlegende Sichtweise der hier interessierenden Form des impliziten
Wissens beschreiben sie folgendermaßen: »Tacit knowledge is highly personal and hard to formalize, making it difficult to communicate or to share with others. Subjective insights, intuitions, and hunches fall into this category of knowledge. Furthermore, tacit knowledge is deeply rooted in an individual's action and experience, as well as in the ideals, values, or emotions he or she embraces.« (Nonaka/Takeuchi 1995: 8)
Das im organisatorischen Zusammenhang bedeutsamste Merkmal dieser
Beschreibung impliziten Wissens ist das Problem der Kommunizierbarkeit
bzw. der Teilung mit anderen. Die Frage nach der Kommunizierbarkeit wird
den Abschluß unserer Überlegungen bilden.
Die Kennzeichnung impliziten Wissens als in starkem Maße
personenbezogen und die damit verbundene Diskussion über die Existenz
impliziten Wissens, die zum Ende des ersten Teils angesprochen wurde,
verschärfen die Schwierigkeit der beiden Autoren, dieses Konzept für einen
organisationstheoretischen Zusammenhang fruchtbar zu machen. So soll die
Interaktion zwischen Individuum und Organisation die zweite Dimension der
Betrachtung bilden,87 während die erste Dimension die Wissensverwandlung
durch soziale Interaktion betriffi, die zugleich als Schaffung von Wissen
aufzufassen ist. Zusammen ermöglichen diese Dimensionen ein dynamisches
Modell der Schaffung von Wissen (vgl. Nonakaffakeuchi 1995: 61). Wissen
wird dabei insofern erschaffen bzw. verwandelt, als es nicht nur darum geht,
individuelles Wissen einer Gruppe oder der Gesamtorganisation zugänglich zu
86 Explizites Wissen kann durch Worte und Zahlen ausgedruckt werden
und manifestiert sich in Daten, wissenschaftlichen Formeln, festgelegten
Prozeduren und allgemeinen Prinzipien. Somit ist es nach Meinung von
Nonaka und Takeuchi z. B. mit einer chemischen Formel gleichzusetzen (vgl.
NonakafTakeuchi 1995: 8). 87 Dem Modell von Nonaka (1994) bzw. NonakafTakeuchi (1995) liegt
die Betrachtung dreier Ebenen zugrunde: die individuelle Ebene, die
Gruppenebene und die organisatorische Ebene.
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 68
machen, vielmehr ist mit dem Akt der Weitergabe auch eine Veränderung des
ursprünglich individuellen Wissens verbunden, so daß »neues« Wissen
entsteht.88
Die Schaffung von Wissen in Form der Verwandlung kann in vier
verschiedenen Möglichkeiten geschehen, wie Abbildung ZBI-2 verdeutlicht. 89
Abb. 2B/-2: Erscheinungsformen der Wissensverwandlung (aus:
Nonaka/Takeuchi 1995: 62)
Nonaka und Takeuchi bezeichnen die Verwandlung von implizitem in
(verändertes) implizites Wissen als »socialization«90,91 Da grundsätzlich
implizites Wissen nicht verrnittels Sprache erworben werden kann, findet
dieser Weitergabeprozeß über ein »Teilen« individueller Erfahrungen statt.
Das dadurch geschaffene implizite Wissen besteht aus gemeinsamen mentalen
Modellen und technischen Fertigkeiten.92 Ohne das Medium der Erfahrungen
88 Wenn keine Veränderung durch Wissensweitergabe erfolgen wUrde,
wäre die Bezeichnung "Wissensverwandlung" für zwei der vier
Veränderungsmodi verfehlt.
89 Die folgenden AusftJhrungen beziehen sich auf Nonaka (1994: 18
ff.) und NonakafTakeuchi (1995: 61 ff.).
90 Der Begriff der Sozialisation ist allerdings nicht besonders glUcklich
gewählt, da mit Sozialisation im allgemeinen die Vorstellung der Prägung von
Individuen durch die Gesellschaft verbunden ist. NonakafTakeuchi verfolgen
hier jedoch einen bescheideneren Anspruch.
91 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Weitergabe bzw.
Verwandlung impliziten Wissens findet sich bei Turner (1994: 44 ff.).
92 Der Charakter impliziten Wissens bleibt dabei jedoch erhalten, d. h.
auch wenn bestimmte mentale Modelle im impliziten Wissen mehrerer
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 69
ist diese Form der Wissensverwandlung erschwert, da die jeweiligen
individuellen Denkprozesse nicht nachvollziehbar sind. Das Teilen
individueller Erfahrungen erfolgt wegen des Charakters impliziten Wissens
folge richtig über die Ausübung bzw. Imitation von Handlungen des
Wissenden, so daß keine Explizierung notwendig ist.
Die zweite Art der Wissensverwandlung bei Nonaka/Takeuchi ist
diejenige von explizitem Wissen zu implizitem Wissen und wird von ihnen als
»internalization« bezeichnet. Die individuellen Erfahrungen, die über die drei
übrigen Arten der Wissensverwandlung gewonnen wurden, gilt es in
implizites Wissen zu überführen. In diesem Fall findet ein »Erleben« der
ursprünglichen Erlebnisse bzw. Erfahrungen mit Hilfe der intensiven
Auseinandersetzung mit den schriftlich oder mündlich festgehaltenen (und
damit explizit vorliegenden) Erlebnissen statt.93 Je umfangreicher und
detaillierter dabei die Dokumentation - die damit eine Art »re-experience«
ermöglicht -, desto leichter kann das explizite in implizites Wissen verwandelt
werden. Die Beschreibung dieses Prozesses der Wissensverwandlung in
Nonaka/Takeuchi erscheint jedoch relativ voluntaristisch. Wenn explizites
Wissen tatsächlich in implizites überführt werden soll, so wird dieser Prozeß
einerseits relativ langwierig sein, andererseits ist davon auszugehen, daß eine
solche Wissensverwandlung nicht in vollem Umfange gelingen wird.
Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus die Beispiele Polanyis, so wird das
Studium von Dokumentationen nicht ausreichen, um in eine implizite Form
von Wissen zu mutieren.
Die einfachste Form der Wissensverwandlung wird als »combination«
bezeichnet. Hierbei findet eine Verwandlung von explizitem in »neues«
explizites Wissen statt. Individuelles explizites Wissen wird über Medien wie
Sitzungen94, »EDV-Mailsysteme« oder Telefongespräche ausgetauscht und
Individuen vorhanden sind, so sind dies lediglich grundsätzliche und partielle
Übereinstimmungen, da der personen bezogene Charakter ftjr das implizite
Wissen konstituierend ist.
93 93 Die Aussage von Nonaka und Takeuchi, daß es dabei "hilft",
wenn dieses Wissen schriftlich oder graphisch festgehalten bzw. in Form einer
Erzählung vorliegt, ist zu vorsichtig formuliert. Die Fixierung des Wissens in
irgendeiner Form ist das wesentliche Merkmal expliziten Wissens.
94 Eine Sitzungsform, die relativ informell abläuft, indem sie an
verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten und mit wechselnden
Teilnehmern stattfindet, wird im Japanischen als "tamadashi kai" bezeichnet
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 70
kombiniert. Nonaka spricht von einem »Rekonfigurieren« existierenden
Wissens durch Prozesse des »sorting, adding, recategorizing and
recontextualizing« (Nonaka 1994: 19). An anderer Stelle wird von
Systematisierung individuell verteilten expliziten Wissens zu einem Wis-
senssystem gesprochen.
Die am schwierigsten durchführbare und umstrittenste Form der
Wissensverwandlung ist die Überführung von implizitem in explizites Wissen,
welche als »externalization« bezeichnet wird. Zugleich ist sie für die
Unternehmensentwicklung den Autoren zufolge praktisch unerläßlich. Den
grundsätzlichen Widerspruch in sich, implizites Wissen explizieren zu wollen,
versuchen Nonaka und Takeuchi mit Hilfe geeigneter Übertragungsmedien zu
umgehen, auch wenn dabei wiederum der Vorwurf einer zu voluntaristischen
Sichtweise geäußert werden kann.95 Die Übertragung, die zumeist in bildhafter
Form verläuft, geschieht dabei über Metaphern, Analogien, Vorstellungen,
Hypothesen oder Muster. In Kauf genommen wird bei einer solchen
Übertragung die beim Empfänger entstehende Doppeldeutigkeit des
ursprünglich impliziten Wissens, die aus der Unzulänglichkeit und
Inkonsistenz der Formalisierung impliziten Wissens erwächst. Diese Aspekte
werden jedoch als positiv erachtet, da durch sie Reflexionen und Interaktionen
entstehen, die wiederum neues Wissen erschaffen bzw. dem ursprünglich
impliziten Wissen in expliziter Form neue Bedeutungen eröffnen. Metaphern
sind bezüglich der »externalization« als primus inter pares zu betrachten, da -
wie Gloor betont - sie »unsere einzige sprachschöpferische Möglichkeit [sind;
C. B. J, die trotz Neuheit von der Sprachgemeinschaft verstanden wird«
(Gloor 1987: 24). Daher möchten wir an dieser Stelle kurz auf den Charakter
von Metaphern eingehen.
Eine Vorstellung von Metaphern, die für unseren Zusammenhang
interessant ist. liefert Ulrich (1993). In Anlehnung an Weinrichs Theorie der
Bildfelder (l976a, b. 1983) können Metaphern als »überindividuell angelegte
Bildwelt von Kontextgemeinschaften« beschrieben werden.96 Sie kommen
(vgl. dazu ausführlich Nonaka 1997: 496).
95 Vgl. dazu auch die kritischen Ausführungen zur Beschäftigung mit
dem Wissensmanagement in Schneider (1996a: 7 ff.) 95 Vgl. dazu auch die kritischen Ausführungen zur Beschäftigung mit
dem Wissensmanagement in Schneider (1996a: 7 ff.). 96 Vgl. dazu ausführlich Ulrich (1993: 122). Auf den Begriff der
Kontextgemeinschaften werden wir im Rahmen des vierten Kapitels
zurtlckkommen, wenn das organisatorische LebensweItkonzept Kirschs
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 71
insbesondere dort zum Einsatz, wo die Kommunikation über formalisierte
Medien nicht ausreicht. Mit der Kennzeichnung von Organisationen als
Kontextgemeinschaften ist dann - in Anlehnung an Ulrich - auch die
Vorstellung verbunden, daß eine Art »Bildwelt« der Organisation existiert, die
die Kommunikation und vor allem das Verständnis des Empfängers der
Metapher vereinfacht. Somit bewirkt der Gebrauch von Metaphern über den
Transfer von einer Situation zu einer anderen nicht nur die Erschaffung neuer
Worte und Bedeutungen (vgl. Morgan 1980: 610), sondern auch von neuem
Wissen.97
Obwohl Nisbet ausführt, daß »(...) much of what Michael Polanyi has
called 'tacit knowledge' is expressible - in so far as it is expressible at all - in
metaphor« (Nisbet 1969: 5), kann die Explikation impliziten Wissens über
Metaphern letztlich nur als teilweise unzulängliches Hilfsmittel gesehen
werden. Polanyis Beispiel des Fahrradfahrens mag dies nochmals
verdeutlichen. Die Kenntnis physikalischer Regeln und die bildhafte
Erläuterung des Vorgangs kann einen ersten Eindruck vermitteln, aber die
daraus erwachsende Vorstellung ist mit der tatsächlichen Erfahrung nicht zu
vergleichen.
Als weiteres Hilfsmittel der Verwandlung von implizitem in explizites
Wissen nennt Nonaka die Analogie. Der Gebrauch von Analogien soll dazu
dienen, die Widersprüche bzw. Inkonsistenzen, die durch die metaphorische
Ausdrucksform beim Empfänger des ursprünglich impliziten Wissens
entstanden ist, zu »harmonisieren« (vgl. Nonaka 1994: 21). Dies geschieht
dadurch, daß über die Analogie der Widerspruch verschwindet und ein
rational-logisches Wissen in Form des expliziten Wissens entsteht. Diese
»Qualität« expliziten Wissens aus dem ursprünglich impliziten Wissen zu
erreichen, dürfte jedoch nur schwer möglich sein. Implizites Wissen zeichnet
angesprochen wird. An dieser Stelle wird jedoch bereits deutlich, daß Kon-
textgemeinschaften auch einen relativ engen Zusammenhang zur zuvor
erläuterten "socialization" aufweisen. Das Teilen individueller Erfahrungen
trägt letztlich auch zur Bildung von Kontextgemeinschaften bei, allerdings
scheinen Nonakaffakeuchi das Teilen von Erfahrungen auf konkrete,
ausführungsbezogene individuelle Erfahrungen zu beziehen. wohingegen die
Bildung von Kontextgemeinschaften darüber hinausgeht.
97 Vgl. dazu auch die Funktion von Metaphern in
organisationstheoretischen Zusammenhängen bei Morgan (1980, 1983) und
die Idee eines Lebenszyklusses von Metaphern bei Kronast (1989: 38).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 72
sich gerade durch seine Nicht-Angebbarkeit aus, da es Elemente enthält, die
nicht sprachlich übertragbar sind. Sprachliche Hilfsmittel mögen implizites
Wissen bis zu einem bestimmten Grad explizieren, jedoch nicht in seiner
Authentizität erfassen können.
Abb. lEI-3: Die Wissensspirale
(aus: Nonaka/Takeuchi 1995: 71)
Die vier Formen der Wissensverwandlung sind nun nicht vollkommen
unabhängig voneinander zu sehen. Zusammen bilden sie eine
»Wissensspirale«, deren Startpunkt in der »socialization« zu sehen ist
(vgl. Abbildung ZBI-3). Dabei steht das »field building« im Vordergrund,
welches zum Ausdruck bringt, daß durch den Aufbau des Feldes Interaktion in
Form von »Teilen« individueller Erfahrungen und mentaler Modelle
ermöglicht wird. Die Voraussetzung für die »externalization« bildet dann der
Dialog respektive kollektive Reflexionen, um über bildhafte Ausdrucksformen
individuelles implizites Wissen durch Kommunikationen in explizites zu
überführen und dadurch zugänglich zu machen. Die Wissensverwandlung in
Form der »combination« wird dadurch initiiert, daß explizites Wissen aus
verschiedenen Teilen der Organisation miteinander verbunden wird
(»networking«). Der Auslöser für die »internalization« ist schließlich im
Handeln bzw. »Learning by Doing« zu sehen (vgl. Nonaka /Takeuchi
1995: 70).
In der Wissensspirale kommt auch verstärkt die anfangs angesprochene
zweite Dimension - die Interaktion zwischen Individuum und Organisation -
zum Ausdruck, indem Individuen, Gruppen und zum Teil die Organisation als
Ganzes betrachtet wird.
Nonaka und Takeuchi versuchen, eine dynamische Theorie
organisationaler Schaffung von Wissen zu entwerfen, die auch die Verkürzung
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 73
westlicher Vorstellungen des organisatorischen Lernens aufdeckt. Diese sind
zurückzuführen auf westliche philosophische Traditionen, die sich nach
Meinung der Autoren auch in der Organisationstheorie niederschlagen und
eine Trennung von »Subjekt«, »Geist« und »Selbst« einerseits und »Objekt«,
»Körper« und »Andere« andererseits vorsehen. Die japanische intellektuelle
Tradition weist demgegenüber drei Traditionen der »Einheit« auf: die »Einheit
von Mensch und Natur«, die »Einheit von Körper und Geist« sowie die
»Einheit des Selbst und des Anderen (Gegenstand oder Person)«
Daraus leiten sie ab, daß sich in der westlichen Organisationstheorie
Lernen auf explizite Wissensbestandteile beschränkt, während implizites
Wissen für organisatorische Zwecke nicht beachtet oder schlicht negiert wird.
In Kenntnis dessen, dass aber explizites Wissen lediglich die »Spitze des
Eisbergs« allen Wissens ist, versuchen die Autoren mit Hilfe der vier
genannten Modi der Schaffung von Wissen bzw. Wissensverwandlung
(»socialization«, »internalization«, »combination« und »externalization«)
explizites und implizites Wissen für die Organisation nutzbar zu machen.
Auch wenn Nonaka und Takeuchi versuchen, in ihrer Adaption der
Gedanken Polanyis diese möglichst authentisch zu verwenden, so ist ihr
Vorgehen dennoch auch kritisch zu sehen. Vor allem die ihrer Ansicht nach
problemlose Übertragbarkeit impliziten in explizites Wissen vermittelt ein in
dieser Hinsicht allzu voluntaristisches Bild. Diesbezüglich erscheinen (i.O.;
erwscheint) die Ausführung Eckerts, die von einem Primat impliziten Wissens
ausgeht, vorsichtiger: »Im Mittelpunkt steht dabei die These von einem Primat impliziten Wissens, d. h. die Annahme, daß Wissen ex definitione implizites Wissen darstellt. Dennoch schließt diese Annahme nicht aus, daß der Versuch, dieses implizite Wissen zumindest in Teilen bzw. Ansätzen explizit zu machen, in mehr oder weniger authentische Wissensartikulationen münden kann.« (Eckert 1998: 139)
Nonaka und Takeuchi hingegen schränken die Möglichkeit der
Übertragbarkeit von Wissen nicht ein. Sie vermitteln den Eindruck, als sei das
Problem der Übertragung letztlich reduzierbar auf das Finden geeigneter
Übertragungsmedien, so daß grundsätzlich jegliches implizites Wissen auch in
explizites überführt werden kann.
Kirsch geht insofern noch einen Schritt weiter, als er zwar ebenfalls dem
Primat impliziten Wissens folgt, die Begriffe »implizites« und »explizites
Wissen« jedoch vermeidet und sie ersetzt durch eine »grundlegende
Unterscheidung zwischen einem (stets und ex definitione impliziten) Wissen
und Wissensartikulationen (Kirsch A1997: 81).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 74
Trotz dieser kritischen Anmerkungen zeigt die zunehmende
Auseinandersetzung wirtschaftswissenschaftlicher Autoren mit der Theorie
des impliziten Wissens, daß ein Umgang mit Wissen angestrebt wird, der
neben der individuellen Zugänglichkeit zu den expliziten Wissensressourcen
der Organisation über verschiedene Arten elektronischer Medien auch die mit
der Form des Wissens selbst verbundene Problematik der Nutzung individuell
impliziten Wissens berücksichtigen möchte.
Ziel dieses zweiten Teils der vorliegenden Zwischenbetrachtung war es,
diese Bemühungen vor dem Hintergrund der Theorie impliziten Wissens
Polanyis kritisch zu beleuchten. Dabei wurde deutlich, daß insbesondere im
Umgang mit implizitem Wissen oftmals eine allzu voluntaristische Haltung
eingenommen wird. Während der Weg vom explizitem zu (neuern) expliziten
Wissen und die Verwandlung von individuell implizitem zu (geteiltem)
impliziten Wissen über den Prozeß der »socialization« weitgehend
unproblematisch erscheinen, sind die beiden anderen Modi mit Problemen
behaftet. Die Verwandlung von explizitem in implizites Wissen ist dabei
hauptsächlich mit einem Zeitproblem konfrontiert, selbst wenn sie aktiv
unterstützt wird. Die Konversion von implizitem in explizites Wissen scheint
den Widerspruch zu Polanyis Aussagen trotz Nutzung bildhafter
Kommunikation nicht vollständig beiseite räumen zu können. Dennoch ist die
Konzeption von Nonakaf/Takeuchi als einer der ersten wegweisenden
Versuche zu werten, implizites Wissen für die Organisation fruchtbar zu
machen.98
Eine zentrale Rolle sowohl bei Polanyi selbst als auch im Modell von
Nonaka und Takeuchi spielt das dynamische Element des Wissens. Wissen
wird nicht nur als feste Basis betrachtet, die eine Grundlage des Handeins
darstellt. Diese Beschreibung trifft höchstens für den Teil des expliziten
Wissens zu. Implizites Wissen hin gegen manifestiert sich in der Handlung
selbst, weswegen Polanyi auch von »knowing« spricht. Schmitz/Zucker
bringen dies wie folgt zum Ausdruck:
»Es sind zwei verschiedene Dimensionen des Wissens. Wir haben Wissen, wir besitzen Knowledge. Und wir handeln,
und dieses Handeln verkörpert sein eigenes Wissen [knowing; C. B.].« (Schmitz/Zucker 1996: 58; eigene
98 Lewin gesteht dieser Konzeption sogar das Potential zu, eine neue
Welle in der Forschung zum organisationalen Lernen auslösen zu können
(vgl. Nonaka 1994: 14).
Behrend, Unternehmertum. Die Theorie des impliziten Wissens. S. / 0505
S. 75
Hervorhebungen)
Obwohl der kulturelle Schwerpunkt in der westlichen Tradition auf explizitem
Wissen liegt, ist - wie etwa bei Eckert (1998) zu beobachten - auch bei uns
von einem Primat impliziten Wissens auszugehen. Da letzteres an seinen
Besitzer im Gegensatz zum expliziten Wissen »zeitlich und sozial gebunden«
(Schmitz/Zucker 1996: 44) ist, zeichnet es sich zum einen durch seine
begrenzte Verfügbarkeit, zum anderen durch seine ständige Veränderung aus.
Auch wenn Nonaka/Takeuchi davon ausgehen, daß Individuen, Gruppen und
sogar Organisationen Besitzer impliziten Wissens sein können, bleibt dieser
Aspekt umstritten.
Veränderungen auf individuellem und aggregiertem Niveau bilden auch
den Schwerpunkt des folgenden Kapitels, welches sich mit verschiedenen
Perspektiven solcher Veränderungen auseinandersetzt.