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http://www.mediaculture-online.de Autor: Krotz, Friedrich. Titel: Die Veränderung von Privatheit und Öffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft. Quelle: merz. medien+erziehung. 53. Jahrgang, Heft 8/ 09. München 2009, S.12-21. Verlag: kopaed. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Friedrich Krotz Die Veränderung von Privatheit und Öffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft. Verändertes Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit? Das Wissen darum, dass Öffentlichkeit, Privatheit und ihr Verhältnis Begriffe sind, die historisch und damit im Laufe der Geschichte wandelbar sind, geht auf ein lesenswertes Buch des Soziologen Richard Sennett zurück. Sennett (1986) analysiert das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit für verschiedene historische Phasen und zeigt insbesondere, wie sich in den letzten zweihundert Jahren Öffentlichkeit und Privatheit voneinander entkoppelt haben und daraus eine „Tyrannei der Intimität“ entstanden ist, die er als Psychologisierung politischen Handelns scharf kritisiert. Die heutige Diskussion über den Wandel von Öffentlichkeit und Privatheit im Zeitalter des Internets ist demgegenüber jedoch ganz anders gelagert. Sie geht davon aus, dass sich die Vorstellungen und Alltagspraxen der Menschen, was privat und was öffentlich sei, geändert hätten - was notwendigerweise aber noch empirisch zu prüfen wäre. Dabei wird weiter meist unterstellt, dass es der mediale Wandel sei, insbesondere also das Internet, das diese Veränderungen bewirkt habe. Derartige Ansichten sollten immer misstrauisch stimmen, denn sie siedeln sozialen Wandel in technischen Gegebenheiten an, was in der Regel nicht stimmt, wie alle historischen Untersuchungen zeigen: Medientechniken sind Potenziale und es kommt in einem ersten Schritt zunächst einmal darauf an, ob und wie diese Techniken sozial und kulturell von den Menschen verwendet werden. Erst auf der 1

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Autor: Krotz, Friedrich.

Titel: Die Veränderung von Privatheit und Öffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft.

Quelle: merz. medien+erziehung. 53. Jahrgang, Heft 8/ 09. München 2009, S.12-21.

Verlag: kopaed.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Friedrich Krotz

Die Veränderung von Privatheit undÖffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft.

Verändertes Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit?Das Wissen darum, dass Öffentlichkeit, Privatheit und ihr Verhältnis Begriffe sind, die

historisch und damit im Laufe der Geschichte wandelbar sind, geht auf ein lesenswertes

Buch des Soziologen Richard Sennett zurück. Sennett (1986) analysiert das Verhältnis

von Öffentlichkeit und Privatheit für verschiedene historische Phasen und zeigt

insbesondere, wie sich in den letzten zweihundert Jahren Öffentlichkeit und Privatheit

voneinander entkoppelt haben und daraus eine „Tyrannei der Intimität“ entstanden ist, die

er als Psychologisierung politischen Handelns scharf kritisiert.

Die heutige Diskussion über den Wandel von Öffentlichkeit und Privatheit im Zeitalter des

Internets ist demgegenüber jedoch ganz anders gelagert. Sie geht davon aus, dass sich

die Vorstellungen und Alltagspraxen der Menschen, was privat und was öffentlich sei,

geändert hätten - was notwendigerweise aber noch empirisch zu prüfen wäre. Dabei wird

weiter meist unterstellt, dass es der mediale Wandel sei, insbesondere also das Internet,

das diese Veränderungen bewirkt habe. Derartige Ansichten sollten immer misstrauisch

stimmen, denn sie siedeln sozialen Wandel in technischen Gegebenheiten an, was in der

Regel nicht stimmt, wie alle historischen Untersuchungen zeigen: Medientechniken sind

Potenziale und es kommt in einem ersten Schritt zunächst einmal darauf an, ob und wie

diese Techniken sozial und kulturell von den Menschen verwendet werden. Erst auf der

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Basis dieser Grundlage stellt sich die Frage, wie die Techniken, um die es geht, genau

funktionieren und wie sie ausgelegt sind. Dass und wie spezifische mediale Potenziale

verwendet werden, hat soziale und kulturelle Gründe, erst, was dann daraus wird, ist auch

von den technischen Bedingungen und Realisierungen abhängig.

Ob man die Gründe für Wandel im sozialen oder im technischen Feld ansiedelt, macht

durchaus einen Unterschied. Beispielsweise ist häufig in der Presse zu lesen oder in

Diskussionen zu hören, dass die Jugendlichen von heute ein ganz anderes Verhältnis zu

Privatheit und Öffentlichkeit hätten als frühere Generationen. Dies, so heißt es, könne

man daran erkennen, dass sie ganz private Dinge ins Internet stellten, etwa in Social

Communitys wie SchülerVZ oder StudiVZ, was, so wird dabei oft angedeutet, die heutigen

Erwachsenen nie täten. Aber das ist so nicht richtig. Aus der Tatsache, dass Jugendliche

Daten ins Netz stellen, kann man keineswegs schließen, dass es ihnen egal ist, was mit

diesen Daten passiert, und auch nicht, welche Vorstellungen von Öffentlichkeit und von

Privatheit sie haben. In der Regel denken sie über derartige Fragen kaum nach, und die

damit verbundenen Probleme werden ihnen erst allmählich bewusst.

Bei der Bewertung der Tatsache, dass Jugendliche sich in Social Communitys, etwa in

Facebook oder bei den Lokalisten mit Selbstbeschreibungen oder Fotos präsentieren,

muss man zudem berücksichtigen, dass die Jugendlichen damit eigentlich etwas tun, was

für Jugendliche ganz selbstverständlich und für ihr Aufwachsen und ihr Erwachsenwerden

von großer Bedeutung ist: Es ist eine der wichtigen Entwicklungsaufgaben

Heranwachsender, aus dem Schutz der engeren Familie herauszutreten, sich selbst mit

den je eigenen Stärken und Schwächen zu präsentieren und zu erleben, darüber

Anerkennung, Freunde und Freundinnen zu gewinnen und so auch ein realistisches

Selbstbild zu entwickeln. Das tun Jugendliche schon immer in ihren Peergroups oder in

der Schule, und heute tun sie das eben auch in den sozialen

Vergemeinschaftungsformen, die das Internet anbietet, weil das Internet zu ihrem

normalen Lebensumfeld gehört. Sie tun es also nicht just for fun, und dass sie es tun,

unterscheidet sie nicht von früheren Generationen, sondern sie müssen dies tun, weil sie

nur über solche Entwicklungsschritte erwachsen werden können - neu ist nur, dass es

eben auch im Internet geschieht. Dass die Betreiber dieser Communitys diese Daten dann

weiter verkaufen, dass Boulevardzeitungen ihre Reporter in solche Communitys schicken,

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um diese Selbstdarstellungen publizistisch zu verwerten, dass Personalchefs versuchen,

an solche Daten heranzukommen und sie auszuwerten, um etwa möglichst angepasste

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen zu können, ist den Jugendlichen in der Regel

nicht bewusst.

Angesichts dieser komplexen Sachlage kann man jedenfalls nicht ohne Weiteres

behaupten, dass sich das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit durch das Internet

verändert; hier muss genauer hingesehen werden. Sagen kann man zunächst nur, dass

das Internet im Prinzip eine Handlungsumgebung der Menschen ist, in der jede Aktivität

Daten erzeugt, weil jede Aktivität im Internet als Datennetz ja gerade darin besteht, Daten

zu verändern oder zu produzieren, beabsichtigt oder nicht. Was sich verändert hat, ist,

dass diese so erzeugten Daten zunehmend auch gesammelt und ausgewertet werden.

Anders ausgedrückt: Private Daten werden öffentlich nutzbar gemacht, und zwar von

denjenigen, die sie sammeln, sortieren, analysieren und verkaufen, mit welchem Ziel auch

immer. Von daher müssen wir konzeptionell zwei Diskussionsfelder voneinander

unterscheiden, wenn es um den Wandel von Privatheit und Öffentlichkeit geht.

• Erstens geht es um die Frage, ob es einen Wandel des Verhältnisses von Öffentlichkeitund Privatheit gibt. Um sie zu beantworten, müsste man ein theoretisches Konzeptübermögliche Hintergründe, Zusammenhänge und Folgen entwickeln und dies dannsystematisch empirisch untersuchen, was aber beides bisher nicht geschehen ist.Einige konzeptionelle Überlegungen dazu werden wir nachfolgend anstellen.

• Zweitens geht es um die Frage, ob die Jugendlichen von heute dumm und leichtsinnigsind, weil sie ihre Daten ins Netz stellen. Diese Behauptung ist Unsinn, weil sieübersieht, dass sich in diesem Tun der Jugendlichen ihre subjektive Arbeit an wichtigenEntwicklungsaufgaben ausdrückt, für die die Gesellschaft einen sicheren Raum zurVerfügung stellen muss. Und sie ist eine Irreführung, weil sie die Schuld amDatenmissbrauch den Jugendlichen zuweist, deren Daten missbraucht werden, anstattdie Frage in den Vordergrund zu rücken, warum es nicht möglich sein soll, die Datender Jugendlichen in Social Communitys vor Ausspähung zu schützen. Die damitgestellte Frage nach dem Datenschutz im Zeitalter des Internets werden wir weiterunten behandeln. Abschließend werden dann einige Schlussfolgerungen gezogen.

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Social Communitys dienen zur Selbstdarstellung.

Verschiedene Perspektiven von Öffentlichkeit und PrivatheitDas Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit ist Thema unterschiedlicher Diskurse -

oder anders ausgedrückt, es muss aus verschiedenen Perspektiven bedacht werden. In

einer politischen Perspektive ist einerseits weitgehende politische bzw. diskursive

Öffentlichkeit für die Demokratie notwendig, andererseits ist Privatheit ein individuelles

Menschenrecht. Denn einerseits ist Demokratie ohne Öffentlichkeit nicht denkbar, weil wir

uns nur über öffentliche Diskurse ein Bild von der Wirklichkeit machen können und uns

nur auf dieser Basis an ihrer politischen Gestaltung beteiligen können. Nur über

Öffentlichkeit kann Macht also kontrolliert werden. In seiner Habilitationsschrift hat Jürgen

Habermas (1990) gezeigt, wie sich die europäische Form von Öffentlichkeit in den

vergangenen Jahrhunderten entwickelt hat, durch die der Feudalismus überwunden und

Demokratie als Staatsform durchgesetzt wurde. Dazu haben sich die Zivilgesellschaft

zusammen mit der Wirtschaft, also die Bürgerinnen und Bürger als politische Wesen und

als wirtschaftlich Handelnde gegen den Fürstenstaat und seine Geheimräte, seine

Bürokratie und seinen Machtapparat zusammengetan und geänderte Spielregeln

durchgesetzt, beispielsweise in der französischen Revolution. Andererseits muss eine

Demokratie aber auch Privatheit als Menschenrecht garantieren - einen Raum für jeden

Menschen, in dem Staat und Wirtschaft und sonstige Einflüsse von außen keine Rolle

spielen, wenn es die Menschen nicht wollen. Ein solcher Privatraum ist wichtig für sie,

damit sie ganz zu sich selbst und zu ihren eigenen Lebensformen finden können -

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deswegen dürfen sich der Staat oder auch die werbetreibende Wirtschaft in solche

privaten Lebensumstände nur mit Erlaubnis der je betroffenen Bürgerinnen und Bürger

einmischen. Auch für ein erfolgreiches wirtschaftliches Handeln auf Märkten und unter

Konkurrenzbedingungen bedarf es sowohl öffentlicher als auch von Öffentlichkeit

abgegrenzter, nicht öffentlicher Kommunikations- und Handlungsräume. Privatheit wie

Öffentlichkeit sind dementsprechend ein Recht gegen den Staat, in dem Demokratie

gründet. Nicht so ohne Weiteres bestimmbar ist aus solchen Überlegungen heraus, wie

sich Privatheit und Öffentlichkeit gegeneinander abgrenzen. Öffentlichkeit wie auch

Privatheit sind beide auch in Demokratien immer wieder bedroht und deshalb müssen die

damit verbundenen Problemlagen immer wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit

gehoben werden.

Neben diesem politischen Diskurs wird das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im

Rahmen eines medienbezogenen Diskurses diskutiert. Die Rezeptionsmedien wie

Zeitung, Fernsehen oder Radio und heute auch das Internet oder Mobilfunkdienste haben

demokratietheoretisch die Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen. Die individuelle

Meinungsfreiheit und übrigens auch das Briefgeheimnis stehen als Grundrecht deswegen

direkt neben der Pressefreiheit. Dabei müssen allerdings unterschiedliche Funktionen, die

die Medien für die Demokratie haben können oder haben sollen, voneinander

unterschieden werden - als „vierte Gewalt“, wie sie gelegentlich bezeichnet werden,

kommt ihnen sicher eine umfangreichere Aufgabe zu, als wenn sie ‚nur' für die

Berichterstattung zuständig sind. Auch hängen die Vorstellungen, wie Medien

Öffentlichkeit herstellen, davon ab, ob man ein liberales Öffentlichkeitsmodell vertritt, wie

es etwa Neidhardt und Gerhards (1991) entwickelt haben, bei dem die Rolle der

Öffentlichkeit, grob gesagt, auf eine mehr oder weniger kritische Begleitung politischen

Geschehens beschränkt ist, oder ob man wie Habermas (1990) darüber hinaus ein

deliberatives Öffentlichkeitsverständnis vertritt, also der Öffentlichkeit und der

Zivilgesellschaft auf der Basis von Argumenten und Überzeugungskommunikation das

Recht und die Pflicht zuspricht, Entscheidungen zu treffen und gegebenenfalls

durchzusetzen. Schließlich spielt auch das jeweilige Demokratieverständnis eine Rolle -

wenn der Begründer der Journalismusforschung, Walter Lippman (1925), eigentlich eine

Demokratie befürwortet, bei der nur Experten zu entscheiden haben, so ist in der hier

angelegten Entmündigung der Normalbürgerinnen und -bürger zweifelsohne eine andere

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Presse notwendig als in einer Volldemokratie aller Bürgerinnen und Bürger, wie sie etwa

der US-amerikanische Sozialphilosoph und Pragmatist John Dewey (1927) verlangt hat.

Eine dritte Perspektive auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit ergibt sich,

wenn man die Medien nicht an ihrer Rolle für die Demokratie misst, sondern an ihrer

Praxis. Dann zeigt sich nämlich, dass Medien sich keineswegs darauf beschränken, die

Aufgaben zu erfüllen, die die Demokratietheorie ihnen zuweist. Vielmehr gibt es in den

Rezeptionsmedien, wie wir alle wissen, auch Unterhaltung und Werbung und andere

Genres, die eher nur mittelbar Bedeutung für politische Diskussionen in der Öffentlichkeit

haben. Der Diskurs um Privatheit und Öffentlichkeit macht sich nun in dieser Perspektive

daran fest, dass die Medien miteinander konkurrieren und von daher dazu neigen, Tabus

zu verletzen um Aufmerksamkeit zu bekommen - dies gilt vor allem für privatwirtschaftlich

organisierte Medien, deren Zweck es im Grunde ja nicht ist, Demokratie zu garantieren

und zu entwickeln, sondern, bei Strafe des Untergangs, Geld zu verdienen. Vor allem die

Boulevardpresse und die kommerziellen Fernsehsender verletzten immer wieder die

Menschenwürde Einzelner, indem sie ganz private Informationen mit oder ohne

Einwilligung der Betroffenen veröffentlichen, um damit Publikum zu gewinnen. Das

geschieht auch im politischen Bereich - etwa wenn, wie in Großbritannien, Mitschnitte von

illegal abgehörten Telefongesprächen prominenter oder semiprominenter Persönlichkeiten

veröffentlicht werden. Gelegentlich werden Fernsehsendungen, die darin bestehen,

Menschen mit Ratten in einen Käfig zu sperren oder sie sonst irgendwie zu quälen, damit

sie ihre Scham- und Ekelschwellen überschreiten, mit der Behauptung verteidigt, eine

Einschränkung derartiger Sendungen verletze die Pressefreiheit. Wenn man sich

derartige mediale Veranstaltungen ansieht - Deutschland sucht den Superstar, Ich bin ein

Star - holt mich hier raus, aber auch manche Daily Talkshow oder Sendungen wie

Supernanny oder die Camps zur Besserung böser' Jugendlicher - dann könnte man diese

als Bestätigung dafür nehmen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer offensichtlich

bereitwillig dabei sind, ihre privates Leben der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das

gilt auch für Internetübertragungen, die einen Menschen und sein Leben rund um die Uhr

abbilden und vorführen. Aber auch hier muss man vorsichtig mit Schlussfolgerungen sein.

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© RTL

Ich bin ein Star - holt mich hier raus: Menschenquälerei oder Pressefreiheit?

Denn auch wenn die Kameras beispielsweise rund um die Uhr laufen und eigentlich

Geschehen zeigen, das zur Privatsphäre der dargestellten Menschen gehört, dann sind

diese Menschen dabei dennoch nicht privat. Vielmehr sind sie dabei, sich in bestimmter

Weise zu inszenieren, als ob sie eigentlich privat wären, aber sie sind es nicht. Sie

versuchen vielmehr, berühmt oder ein Star zu werden oder auch Geld zu verdienen, und

sind von daher dabei gerade nicht im Privatleben. Sie inszenieren vielmehr Privatleben,

wie die Sender es von ihnen erwarten, und das ist etwas anderes als das, was man unter

Privatleben verstehen sollte. Das Ziel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist eine

institutionalisierte Anerkennung mit einigen daran anknüpfenden Konsequenzen, und

dafür nehmen sie gegebenenfalls auch Herabwürdigungen in Kauf, die jeden Respekt vor

dem anderen Menschen vermissen lassen. Man kann deshalb sagen, dass hier der

Leistungswille der Teilnehmenden und ihr Bedürfnis, Anerkennung zu finden,

funktionalisiert wird, um Einschaltquoten zu erhöhen oder wenigstens Hingucker zu

produzieren. Auch hier wird also die Privatsphäre für kommerzielle Zwecke missbraucht,

wenn auch, wenigstens vordergründig, mit Einwilligung der Beteiligten, die häufig nicht

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den Eindruck machen, als ob sie sich der stigmatisierenden Konsequenzen ihres Tuns

wirklich bewusst sind. Insgesamt kann man in einem kapitalistischen System

dementsprechend davon ausgehen, dass sich die verlangte Ethik der Medien und der

Unternehmen letztlich immer der Gewinnmaximierung beugen muss, erst recht, wenn der

Insolvenzverwalter vor der Tür steht. Aber auch die umgekehrte Problematik kann

bestehen - gerade in Deutschland haben die Medien immer eine relativ staatstragende

Rolle gespielt und der Öffentlichkeit immer wieder Informationen vorenthalten, die nicht

veröffentlicht wurden, weil der Staat das nicht wollte - beispielsweise Skandale von

Politikerinnen und Politikern oder Sachverhalte, die solche Skandale hätten auslösen

können. Manche publizistischen Einheiten verfügen auch über komplexe Datenbanken -

zum Beispiel die FAZ über eine bekannte Wirtschaftsdatenbank- in denen man nur gegen

hohe Gebühren recherchieren kann. Ob eine Information in der Regel erst im

tagesaktuellen Medium oder erst in der Datenbank für die Abonnenten veröffentlicht wird,

spielt eine Rolle. Aber darüber gibt es meines Wissens keine Untersuchungen.

Dies führt zu einer vierten Perspektive im Hinblick auf das Verhältnis von Öffentlichkeit

und Privatheft, die damit verbunden ist, dass die Medien als Unternehmen auch

Informationen gegen Geld vertreiben, oder anders ausgedrückt, Zeitungen drucken

Werbung, Fernseh- oder Radiosender unterbrechen ihr Programm, um den

Zuschauerinnen und Zuschauern etwas mitzuteilen, wofür jene das jeweilige Programm in

der Regel nicht eingeschaltet haben; ebenso pflastern kommerzielle Internetanbieter

Bildschirme von eigentlich interessierten Besucherinnen und Besuchern mit Bannern, auf

die man klicken kann, oder überfluten sie immer wieder kurzzeitig mit Werbeangeboten.

Dies ist deswegen im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit

wichtig, weil sich darüber ein direkter Zusammenhang zum Problem des Datenschutzes

herstellen lässt: Medien sind in der Regel nicht nur Träger von Werbung, sondern sie sind

Komplizen der werbetreibenden Industrie. Sie helfen ihr, genau die Zielgruppen zu

erreichen, die sie haben will. In diesem Komplizentum ist angelegt, dass die Medien

behilflich sind, Zielgruppen zu identifizieren und damit Daten über die Individuen zu

sammeln - und damit sind sie an Prozessen beteiligt, die in einer fünften und genauer zu

besprechenden Perspektive auf das Verhältnis Privatheit/Öffentlichkeit zu diskutieren

sind, nämlich das gezielte Ausspähen und Missbrauchen von Daten. Dies wird im letzten

Teilkapitel diskutiert. Um das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit in seiner

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geschichtlichen Entwicklung zu beleuchten, ist hier kein Raum (vgl. Burkart in merz 2/

2009). Insgesamt kann man aber sagen, dass das Verhältnis von Öffentlichkeit zu

Privatheit von vielen Einflüssen abhängig ist. Eine klare und endgültige Grenzziehung war

immer umstritten und wird wohl auch in Zukunft umstritten bleiben. Dementsprechend

sollte es nicht das Ziel sein, ein allgemeingültiges Regelsystem zu entwickeln. Stattdessen

brauchen wir eine kontinuierliche öffentliche und gesellschaftliche Diskussion, in der die

Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit immer neu diskutiert und so die damit

verbundenen Probleme im Bewusstsein der Bevölkerugg gehalten werden - nur wenn sich

sowohl die Medienmacher, die, die die Demokratie bekämpfen, die, die sie schützen

wollen, und insbesondere auch die Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft immer

wieder mit dieser Problematik beschäftigen, nur wenn die Mächtigen immer neu vor der

Notwendigkeit stehen, ihr Handeln zu begründen und zu legitimieren und von daher

überhaupt erst zu bedenken, nur dann kann die je angemessene Form einer Abgrenzung

und Sicherung von notwendiger Öffentlichkeit und damit zugleich angemessener

Privatheit gefunden werden.

Datenmissbrauch und DatenschutzIn den letzten Monaten ist eine ganze Reihe von skandalösen Formen der Ausspähung

und des Datenmissbrauchs in betrieblichen Zusammenhängen bekannt geworden - die

Telekom und die Bundesbahn, Siemens und Lidl, sie alle haben anscheinend unter

Missachtung des Datenschutzrechts Daten über ihre Angestellten gesammelt und

analysiert. Daneben interessiert sich die Wirtschaft immer mehr für die Daten ihrer

Kunden und der marketingbezogen ins Visier genommenen Zielgruppen. Versucht wird,

Kontendaten auszuwerten, Kreditkartenbewegungen und Bonuskarten zur Herstellung von

personenbezogenen Datensätzen zu benutzen; in diesem Zusammenhang ist auch auf

den boomenden Adressenhandel, ‚angereichert' mit allerlei weiteren Daten hinzuweisen.

Erwähnenswert ist hier auch die Zunahme von Preisausschreiben oder sonstigen

Aktionen, die einen Gewinn versprechen, aber auf ganz unredliche Weise eigentlich nur

darauf aus sind, Adressen einzusammeln. Neben der Privatwirtschaft sind aber auch der

Staat und seine Einrichtungen mit dem Datensammeln beschäftigt - der

Verfassungsschutz hat bekanntlich das Recht erhalten, private Wohnungen zu verwanzen

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und persönliche Computer auszuspähen, er zwingt seine Bürgerinnen und Bürger,

Fingerabdrücke oder andere biometrische Daten im Pass mit sich zu führen oder zu

hinterlegen, und er stellt die Welt mit immer mehr Videokameras voll -allein in London

sind unfassbare 600.000 solche Geräte im Einsatz.

Das sind nur einige, eigentlich bekannte Beispiele für die heutigen Möglichkeiten, Daten

zu sammeln, die allerdings immer vielfältiger und immer schwerer zu systematisieren sind.

Dies zeigt auch ein Blick in die angesichts der Bedeutung des Geschehens recht wenigen

vertrauenswürdigen Publikationen, die sich mit derartigen Fragen beschäftigen: Das Buch

von Schulzki-Haddouti (2004) konzentriert sich beispielsweise auf die breite Palette

staatlicher Überwachungsaktivitäten in der Folge des Terroranschlags auf das

Welthandelszentrum in New York von 2001. Sie leitet ihr Buch mit dem Kapitel „Politik der

Angst“ ein und beendet es mit einer Erwägung der Frage, ob wir in einen totalitären

Sicherheitsstaat hineinrutschen. Pär Ström (2006) spricht von der Überwachungsmafia

und stellt das „lukrative Geschäft mit unseren Daten“ in den Vordergrund - in einer

geradezu endlosen Aufzählung benennt er Kontrollverfahren, die er dann im Hinblick auf

ihr Potenzial einer Bedrohung der Privatsphäre diskutiert. Der renommierte US-

amerikanische Soziologe Amitai Etzioni (1999) beschränkt sich dagegen auf wenige

Ausforschungstendenzen, insbesondere die zunehmende Rolle der staatlichen

Gesundheitsvorsorge beim Sammeln und Erzwingen von Daten im Namen eines „Das tun

wir doch für euch“, und analysiert dann genauer, welche Bedrohung sich daraus für

soziale Beziehungen und Gemeinschaft ergeben. Singelnstein und Stolle (2006) erweitern

diese auf Daten konzentrierten Darstellungen, sie beschäftigen sich systematisch-

empirisch mit „sozialer Kontrolle im 21. Jahrhundert“, und entwickeln einen Begriff der

Sicherheitsgesellschaft, um die sich entwickelnden komplexen Formen der

Verhaltenssteuerung durch Überwachen und Strafen, aber auch durch die Verinnerlichung

von Normen konzeptionell zu fassen. All dies sind interessante Bücher. Aber das

weitergehende Problem ist, dass neben den vielen in diesen Büchern dargestellten Fällen

von Datenmissbrauch viele Risiken heute noch gar nicht erkannt sind, und dass viele

neue Risiken gerade entstehen. Beispielsweise wird derzeit gerade die neue

Gesundheitskarte eingeführt und für alle verpflichtend gemacht, auf der alle Krankheiten,

Gefährdungen und Medikamente verzeichnet sind, die zu einer Person gehören - die aber

an hunderttausenden Lesegeräten gelesen werden kann, und der natürlich eine

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gigantische Datensammlung entspricht, die alle diese Gesundheitskartendaten noch

einmal gebündelt enthält, schon zu Kontroll- und Sicherheitszwecken, und von der

niemand weiß, wie man sie schützen soll. Ein weiteres Problem ist die mittlerweile

erlaubte Verwendung von winzig kleinen RFiD-Chips. Weil Läden und Großhandel sie gut

brauchen können, um ihre Inventur zu vereinfachen und ihre Planungen leistungsfähiger

zu machen, werden diese RFiD-Chips in naher Zukunft auf allen Objekten angebracht

werden. Problematisch ist das nicht für die Unternehmen, die viel Geld sparen, sondern

für die Bürgerinnen und Bürger, weil diese Chips Informationen speichern können, die mit

Kommunikationsgeräten unkontrolliert und berührungsfrei aus einigen dutzend Metern

gelesen werden können - alle Welt kann dann feststellen, welche Medikamente jemand

mit sich herumträgt, wo und wann er seine Kleider gekauft hat und was sonst noch

irgendwelche Unternehmen über ihre Kunden gerne wüssten. Auch wird mittlerweile jedes

Telefongespräch, jede SMS, jede E-Mail, jede Website, die jemand besucht, registriert,

wenn auch unter dem Titel der Vorratsdatenspeicherung zunächst nur für eventuelle

Verwendungen, aber so haben auch schon andere inzwischen alltäglich genutzten

Datensammlungen begonnen, etwa die Lastwagenmaut. Die Polizei darf mittlerweile nicht

nur Wohnungen verwanzen und Computer mit sogenannten Trojanern durchsuchen,

sondern auch Dateien löschen oder verändern und so immer auch belastende Indizien

erzeugen, sie kann auch Bilder fälschen oder ganze Demonstrationen, wie bei dem

Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm geschehen, durch entsprechend

ausgerüstete Flugzeuge der Bundeswehr filmen lassen. Die Technik ist mittlerweile sogar

so gut, dass man damit jedes einzelne Gesicht erkennen und speichern kann. Auch das

Militär hat neue Aufklärungsgeräte getestet und eingesetzt - von den Drohnen, über die

man Raketen steuern kann, bis hin zu Küchenschaben, die mit Minikameras und -sendern

ausgerüstet sind und per Funk gesteuert werden können. Weiter verfügen die Polizeien in

vielen Ländern mittlerweile über „intelligente“ Software, die Gesichter erkennen und

zuordnen kann, die von irgendwelchen Überwachungskameras irgendwo in der Stadt, in

der U-Bahn, in Parkhäusern oder sonst wo aufgenommen worden sind, sodass alle Wege

und alle Bewegungsgewohnheiten einer Person rekonstruierbar werden. Die Ingenieure

experimentieren mit winzigen Prozessoren, die als ‚intelligenter Staub' über ganze

Demonstrationen ausgekippt werden, aber nur mit Spezialgeräten wahrgenommen

werden können - die Technik, so lässt sich zusammenfassen, ist weit genug, um

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gigantische Datenmengen zu sammeln und in Bezug auf einzelne Individuen

auszuwerten, und die einheitliche lebenslange Steuernummer kann der

verwechslungsfreien Organisation all dieser Daten und der Zuordnung der Daten zu

einem Individuum dienen. Wenn wir in Zukunft in der Innenstadt spazieren gehen, werden

uns die Kameras filmen, die Computer identifizieren, die in die Netze weitergeleiteten und

zugeordneten Daten dann erkennen lassen, dass wir diese und jene Markenklamotten

tragen, und dann wird uns eine charmante Computerstimme auf dem Mobiltelefon

anrufen, es gäbe in dem Kaufhaus an der Ecke, vor dem wir stehen, das dann vielleicht

nicht mehr Karstadt heißt, ein Sonderangebot der Schuhe, die wir doch immer tragen

würden.

Besonders sollte zur Besorgnis beitragen, dass auch der Bundesdatenschutzbeauftragte

Peter Schaar ein Buch verfasst hat, das das Ende der Privatsphäre und den Weg in die

Überwachungsgesellschaft ankündigt - ohne dass dies einen hörbaren Aufschrei aller

Demokraten bewirkt (Schaar 2007). Deutschland leistet sich folglich einen

Datenschutzbeauftragten, der sein Amt zwar eigentlich ernst nehmen will und dafür auch

der richtige Mann wäre, der aber offensichtlich nicht mehr so recht auf die Wirkung seiner

Arbeit vertraut, sondern ein Buch schreibt, das seine Aktivitäten eigentlich ziemlich unnütz

aussehen lässt. Kommen wir nun wieder auf die Frage zurück, wie dumm die

Jugendlichen sind, die ihre Daten in StudiVZ oder einer anderen sozialen Community

veröffentlichen. Es ist sicher ein Teil des Problemfelds Datenschutz, dass wir alle mit

unseren Daten leichtfertig umgehen. Und natürlich gehört es zu den elementaren Formen

von Medienkompetenz, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer digitaler Medien darüber

bewusst sein sollen, welche Risiken sie eingehen - und ob sie das wollen. Gerade auch

Jugendliche müssen aber dafür erst ein Gespür entwickeln, in was sie sich darüber

hineinmanövrieren; und das fällt nicht nur Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen

schwer, weil uns das Internet mittlerweile wie eine ,natürliche' Kommunikationsweise

vorkommt. Dass das viele nicht tun, ist ein Problem, aber wie die obige Aufzählung zeigt,

ist es in keiner Weise die wichtigste aller Verhaltensweisen, die Datenmissbrauch

ermöglichen: Die wirklichen Gefahren moderner Datenhaltung und -akkumulation und

deren Auswertung liegen ganz woanders, nämlich in den gesetzlich eröffneten und

legitimierten und demokratisch oder individuell nicht mehr kontrollierten Aktivitäten der

Polizei und des Verfassungsschutzes, und den nicht kontrollierbaren Aktivitäten der

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privaten Wirtschaft. Insbesondere muss man heute sagen, dass der Staat die

Jugendlichen in ihren Entwicklungsprozessen nicht angemessen schützt und sogar so tut,

als ob das nicht zu seinen Kernaufgaben gehörte, indem er nicht die Datensammler,

sondern die Jugendlichen für den Missbrauch für schuldig erklärt.

© wikipedia

In diesem Gefängnis stehen alle Insassen jederzeit potenziell unter Beobachtung.

Dabei wäre es technisch ein Leichtes, die in einer sozialen Community veröffentlichten

Daten zu schützen, indem sie markiert werden. Dann wäre feststellbar, woher die oft

privaten Daten stammen, über die etwa die Boulevardpresse verfügt, und ob die

Menschen, deren Daten es sind, dieser Verwendung überhaupt zugestimmt haben.

Gerade im Falle von Jugendlichen wäre ein solches Vorgehen wichtig, auch, um sie vor

unbedachten Konsequenzen zu schützen - vor allem, wenn man berücksichtigt, dass ihre

Aktivitäten im Internet in der Regel für ihr Erwachsenwerden wichtig sind, wie wir dies

weiter oben bereits begründet haben.

Ein Blick in die ZukunftDas führt nun zu der Frage, was denn zu tun ist. Das Problem beim Datenschutz ist, dass

hier Staat und Wirtschaft eigentlich gleich gelagerte und kompatible Interessen haben. Wir

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haben eingangs daran erinnert, dass sich Demokratie und Öffentlichkeit gegen den

Feudalstaat entwickelt haben, weil Zivilgesellschaft und Wirtschaft sich gegen die

Fürstenherrschaft zur Wehr gesetzt haben. Heute haben sich aber, und das ist das

Bedrohliche an dieser Entwicklung, die Koalitionen geändert, weil sowohl der Staat als

auch die Wirtschaft die Privatsphäre ihren Zwecken unterwerfen und sie öffentlich

machen wollen, indem sie Daten sammeln - die Wirtschaft zielt auf Verhaltenssteuerung,

um ihre Produkte verkaufen zu können, der Staat zielt auf die Durchsetzung seiner

Rationalität und die dahinter stehenden Zielsetzungen, auf Konformität und Anpassung,

immer schon die erste Bürgerpflicht, und erst recht in Zeiten der Bedrohung. Konzeptionell

kann man hier an Foucault und an Bourdieu anknüpfen, die beide an Theorien gearbeitet

haben, um derartige neue Machtformen zu beschreiben und zu analysieren. Die Probleme

einer Durchsetzung der Demokratie mit Macht sind aber natürlich schon viel älter. Der

Philosoph und Architekt Jeremy Bentham, der von 1748 bis 1832 lebte, hat

Gefängnisformen entwickelt, in denen der Einzelne immer unter Beobachtung stehen

kann und nie weiß, ob er gerade beobachtet wird. Derartige Gefängnisse sind auch

gebaut worden, beispielsweise im Kuba vor Fidel Castro, der selbst nach seinem ersten

Putschversuch in einer derartigen Anstalt einsaß: Das Gefängnis besteht aus einem

mehrstöckigen Ring aus Zellen, die nach innen offen sind; in der Mitte des Zellenrings

befindet sich ein Turm, in dem der oder die Wächter sitzen und alles sehen können (Bilder

davon finden sich in der englischsprachigen Wikipedia). Was ist ein derartiges Gefängnis

aber gegen ein systematisch auf Datengewinn ausgerichtetes Internet, in dem nicht nur

das aktuelle Geschehen, sondern auch alles gesammelt, zugeordnet und analysiert wird,

was jede und jeder von uns jemals dort gemacht hat, angereichert um all die anderen

Daten, die im Laufe eines menschlichen Lebens zwangsläufig entstehen, die aber noch

nicht im Internet zugänglich sind?

Das aber bedroht die Demokratie in ihrem Kern, weil es die Zivilgesellschaft ruiniert. Ohne

Zivilgesellschaft, die auf der freien Meinungsäußerung, auf dem vernünftigen Diskurs aller

und auf dem Recht staats- und auch wirtschaftsfrei gestalteter privater Räume beruht,

wird die Demokratie zum Objekt der Kompromisse zwischen Wirtschaft und Politik -

Habermas (1983) hat die Kolonialisierung der Lebenswelt angekündigt. Hinzu kommt,

dass es für die Wirtschaft eigentlich um alles geht. Die zunehmende Technisierung sorgt

für eine zunehmende Produktivität, die aber nicht auf die Güter gerichtet ist, die benötigt

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werden - Bildung, sauberes Wasser, gesunde Ernährung, menschenwürdige Medizin et

cetera-, sondern die sich an den Preisen orientiert, die bei Individuen erzielt werden

können und so Produkte erzeugt, die mit maximalem Gewinn verkauft werden können.

Von daher steigt der Werbedruck, um die produzierten Dinge bei immer weniger

potenziellen Kunden loswerden zu können, immer weniger, weil sich die Gesellschaft

immer mehr in wenige Reiche und viele Arme spaltet. Mit aller Gewalt versucht die Lobby

der entsprechenden Industrien deshalb, den Datenschutz klein zu halten, wogegen der

Staat und die Politik wenig aufzubieten haben. In wenigen Jahren werden wir alle

mehrfach existieren - real als Bewegungseinheit mit unserem Körper, und irreal durch

unsere Inszenierungen in den Datennetzen. Von den meisten dieser Inszenierungen

werden wir nichts wissen, weil wir sie nicht kontrollieren, es sind Wszenierungen der

Banken und Medien, der Firmenkonglomerate und Dienstleistungsagenturen, die all das

zusammentragen, auswerten und dann die Ansprache an uns optimieren werden. Nur mit

Kreativität und mit Solidarität werden wir diese Entwicklung verhindern können.

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Etzioni, Amitai (1999): The Limits of Privacy. New York: Basic Books.

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Lingenberg, Swantje (2009): Europäische Öffentlichkeit - Öffentlichkeit ohne Publikum?

Ein pragmatischer Ansatz mit Fallstudien zur europäischen Verfassungsdebatte.

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Schaar, Peter (2007): Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die

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München: Wilhelm Heyne.

Prof. Dr Friedrich Krotz ist Professor für Kommunikationswissenschaft und Soziale

Kommunikation an der Universität Erfurt.

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