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Nachgefragt/WiedereNtdeckt in den Ländern, in denen man die ausbildung zur sozialen arbeit überhaupt als ein geistiges Problem begreift, ist man sich darüber klar, dass es eine Wissenschaft von der sozialen arbeit noch nicht gibt. der Versuch, einer solchen Wissenschaft den rahmen zu ziehen, verdient daher Beachtung. ein solcher Versuch liegt in dem Buch von Maurice J. karpf, dem derzeitigen Vor- sitzenden der amerikanischen konferenz sozialer Schulen, vor. 1 es ist vielleicht das interessanteste der bisher erschienen Bücher, die sich grundsätzlich mit den aufgaben der sozialen Schulen auseinandersetzen. allerdings geschieht das vom amerikanischen Standpunkt. d. h. also von einer Betrachtungsweise aus, die – wie der Watson’sche Behaviourism menschliches Verhalten mit exakten, aus der Naturwissenschaft über- nommenen Methoden zu begreifen sucht und dem Verstand die beherrschende Stel- lung für das Beeinflussen menschlichen handelns einräumt. es geht karpf um die Intellektualisierung des Hilfsprozesses, um die erkenntnis von den Motiven mensch- licher handlungen, von den Möglichkeiten, solche handlungen zu beeinflussen. er glaubt, dass man eine Wissenschaft entwickeln kann, die für die soziale arbeit dasselbe bedeutet wie für den arzt die erkenntnis normaler und anormaler körperfunktionen, die kenntnis von den Mitteln, mit denen anormale zu beseitigen, normale zu fördern sind. ein Wissen, durch das er zuverlässige krankheitsdiagnosen stellen, durch das er den Verlauf der krankheit vorhersehen, beeinflussen und die heilung herbeiführen kann. ein Wissen, auch vergleichbar dem, das der ingenieur braucht, um Brücken zu bauen, tunnels zu bohren und im voraus die Sicherheit solcher anlagen berechnen und garantieren zu können. das bedeutet also, für den menschlichen geist und Willen den gleichen Maßstab der erkenntnis und der Beherrschung anzulegen wie für den menschlichen körper oder für anorganische Materie. 1 Maurice J. karpf, the Scienrific Basis of Social Work. a Study in family case Work. columbia University Press, New York 1931. Soz Passagen (2012) 4:119–125 dOi 10.1007/s12592-012-0104-4 Die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit Alice Salomon © VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012 ergänzender Originaltext zu rita Braches-chyrek „alice Salomon: die wissenschaftlichen grundlagen der sozialen arbeit“. abgedruckt in: Salomon, a. (2004/1933). die wissenschaftlichen grundlagen der sozialen arbeit. in a. feustel (hrsg.), Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte Schriften. (3. Band: 1918–1948) (S. 539–545). Neuwied: Luchterhand.

Die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit

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Page 1: Die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit

Nachgefragt/WiedereNtdeckt

in den Ländern, in denen man die ausbildung zur sozialen arbeit überhaupt als ein geistiges Problem begreift, ist man sich darüber klar, dass es eine Wissenschaft von der sozialen arbeit noch nicht gibt. der Versuch, einer solchen Wissenschaft den rahmen zu ziehen, verdient daher Beachtung.

ein solcher Versuch liegt in dem Buch von Maurice J. karpf, dem derzeitigen Vor-sitzenden der amerikanischen konferenz sozialer Schulen, vor.1 es ist vielleicht das interessanteste der bisher erschienen Bücher, die sich grundsätzlich mit den aufgaben der sozialen Schulen auseinandersetzen. allerdings geschieht das vom amerikanischen Standpunkt. d. h. also von einer Betrachtungsweise aus, die – wie der Watson’sche Behaviourism menschliches Verhalten mit exakten, aus der Naturwissenschaft über-nommenen Methoden zu begreifen sucht und dem Verstand die beherrschende Stel-lung für das Beeinflussen menschlichen handelns einräumt. es geht karpf um die Intellektualisierung des Hilfsprozesses, um die erkenntnis von den Motiven mensch-licher handlungen, von den Möglichkeiten, solche handlungen zu beeinflussen. er glaubt, dass man eine Wissenschaft entwickeln kann, die für die soziale arbeit dasselbe bedeutet wie für den arzt die erkenntnis normaler und anormaler körperfunktionen, die kenntnis von den Mitteln, mit denen anormale zu beseitigen, normale zu fördern sind. ein Wissen, durch das er zuverlässige krankheitsdiagnosen stellen, durch das er den Verlauf der krankheit vorhersehen, beeinflussen und die heilung herbeiführen kann. ein Wissen, auch vergleichbar dem, das der ingenieur braucht, um Brücken zu bauen, tunnels zu bohren und im voraus die Sicherheit solcher anlagen berechnen und garantieren zu können. das bedeutet also, für den menschlichen geist und Willen den gleichen Maßstab der erkenntnis und der Beherrschung anzulegen wie für den menschlichen körper oder für anorganische Materie.

1 Maurice J. karpf, the Scienrific Basis of Social Work. a Study in family case Work. columbia University Press, New York 1931.

Soz Passagen (2012) 4:119–125dOi 10.1007/s12592-012-0104-4

Die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit

Alice Salomon

© VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012

ergänzender Originaltext zu rita Braches-chyrek „alice Salomon: die wissenschaftlichen grundlagen der sozialen arbeit“.abgedruckt in: Salomon, a. (2004/1933). die wissenschaftlichen grundlagen der sozialen arbeit. in a. feustel (hrsg.), Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte Schriften.(3. Band: 1918–1948) (S. 539–545). Neuwied: Luchterhand.

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auch wenn man diese Voraussetzungen nicht annimmt, kann man aus dem Buch wesentlichen Nutzen ziehen.

karpf macht den Versuch zu analysieren, welche besonderen inhalte der sozialen, psy-chologischen und biologischen Wissenschaften für den Sozialarbeiter nutzbar zu machen sind und unter welchen gesichtspunkten sie auf die soziale arbeit ausgerichtet werden müssen. er prüft zu dem Zweck die vorhandene Literatur über die soziale arbeit und die soziale ausbildung.

dabei trennt er scharf die Äußerungen von Sozialarbeitern, die in einem praktischen arbeitsfeld stehen, und von akademikern, Professoren, die nur peripher mit der sozialen arbeit in Berührung kommen, etwa als Lehrer an sozialen Schulen. es zeigt sich dabei, dass die einen allen Wert auf die praktischen aufgaben legen, im allgemeinen keine umfassende kenntnis von den betreffenden Wissenschaften haben und daher die erfor-dernisse und Möglichkeiten der wissenschaftlichen ausbildung nicht beurteilen können. die ändern sind vorwiegend theoretiker, ohne ausreichende kenntnis der praktischen aufgaben, auf die sie vorbereiten sollen, und neigen dazu, die menschliche Seite der sozialen aufgabe gegenüber allgemeinen theorien zu unterschätzen. die einen wollen den Unterricht ganz auf das individuum, die andern auf das Milieu und die gesellschaft ausrichten.

Bei karpfs auseinandersetzung mit der vorhandenen fachliteratur ist vorauszuschi-cken, dass die amerikanischen Bezeichnungen der Wissenschaften sich nicht ganz mit den deutschen decken, dass eine gruppierung der wissenschaftlichen gebiete nach ande-ren gesichtspunkten stattfindet. So wird zum gebiet der Sozialwissenschaften gerechnet: Nationalökonomie, anthropologie, geschichte, Politik, Soziologie, die jede ihrerseits nach Zweigen spezialisiert sind.

hier können nur einige der von ihm zusammengestellten gesichtspunkte herausge-griffen werden. aus der Sozialökonomie spielen für den Sozialarbeiter die Probleme der arbeitslosigkeit, der Lohnpolitik, der gewerbekrankheiten, der frauen- und kinderarbeit eine wesentliche rolle. aber dabei sollte auch der Zusammenhang wirtschaftlicher Pro-bleme mit außerwirtschaftlichen Ursachen behandelt werden, der von Sozialarbeitern, die dauernd mit armuts- und krankheitszuständen zu tun haben, leicht übersehen wird.

karpf führt an, dass Geschichte und Philosophie allgemein als notwendige Bestand-teile der sozialen Berufsausbildung genannt wurden, dass es sich dabei im wesentlichen um kultur- und Sozialgeschichte und um ethik handelt. „der philosophische Unterricht soll die zukünftigen Sozialarbeiter lehren, nach Ursprung und Sinn der gesellschaftsord-nung zu fragen, nach recht und Unrecht, nach den moralischen Maßstäben der gesell-schaft, der verschiedenen gruppen und individuen.“ der Sozialarbeiter muss sich damit auseinandersetzen, ob seine arbeit nur Schäden vorübergehender Natur auszugleichen hat oder ob sie eine funktion ausübt, die im rahmen jeder menschlichen Ordnung not-wendig bleiben wird. Ob die Menschen entwicklungsfähig, ob sie durch äußere faktoren, durch erfahrungen und menschliche einwirkungen zu beeinflussen sind. denn nur wenn der Sozialarbeiter diese frage bejaht, kann er an seine aufgabe mit dem glauben an ihren tieferen Sinn herangehen.

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Bei der Behandlung der Politik (political science) ist für den deutschen Leser die Zurechnung der gesamten juristischen disziplinen erstaunlich. es wird die soziale und Wohlfahrtsgesetzgebung einbegriffen, Verwaltungsrecht und Verwaltungskunde, das familienrecht, die arbeiterschutzgesetze.

der Unterricht in der Biologie erscheint karpf problematisch. Notwendig allerdings, weil der Sozialarbeiter etwas von den biologischen Streitfragen wissen muss. er braucht kenntnisse über die Vererbungslehre, das Problem der degeneration, über Schwach-sinn, geisteskrankheiten. die Biologie wird aber den Sozialarbeiter leicht entmutigen und hemmen, da die anwendung ihrer forschungsergebnisse sich sozial nur nach sehr langen Zeiträumen auswirken kann. es ist auch zu erwägen, ob die menschliche erblich-keitsforschung bereits weit genug gediehen ist, um als zuverlässige richtschnur für den einzelnen Sozialarbeiter zu dienen. Wir haben noch keine ausreichende kenntnis über das Verhältnis von ererbten und erworbenen eigenschaften, um auf grund biologischer gesichtspunkte auf hilfsmaßnahmen zu verzichten. Ohne die hoffnung und den Mut, den der glaube an soziale Ursachen und an die Wirkung sozialer Beeinflussungen geben, könnte niemand auf die dauer soziale arbeit leisten.

die Psychologie wird als grenzgebiet von Sozialwissenschaften und Naturwissen-schaften behandelt. Von der pädagogischen richtung der Psychologie kann der Sozial-arbeiter z. B. die einsicht in das trieb- und gefühlsleben gewinnen, in die Möglichkeit, es zu entwickeln und es zu lenken, in erkenntnisse über die formung und Beeinflussung von gewohnheiten; über die faktoren, die vernünftiges denken, Wünschen, Wollen, ent-schließen, entscheiden beeinflussen; einsichten in die Möglichkeit der entwicklung geis-tiger und sittlicher kräfte. das alles ist genau so wichtig für den Sozialarbeiter wie für den Lehrer. aber karpf erinnert daran, dass die aus der Naturwissenschaft stammende Blick-richtung der Psychologie auf den einzelnen Menschen leicht dazu verführt, die sozia-len faktoren bei der Persönlichkeitsentwicklung zu unterschätzen, und das schränkt ihre anwendbarkeit für den Sozialarbeiter ein, macht sie in gewisser Weise zu einer gefahr.

darum legt karpf den Schwerpunkt auf eine soziale Psychologie. darunter versteht er die einsichten in das menschliche Verhalten- in das Verhalten eines individuums oder einer geschlossenen gruppe gegenüber anderen individuen oder gruppen. es geht dabei um gleichgültigkeit oder interesse, furcht oder Vertrauen, Liebe und haß, Neid und eifersucht, Bosheit und Mitfreude, achtung und Zuneigung. Von der erkenntnis dieser eigenschaften und Verhaltungsweisen hängt für den Sozialarbeiter viel ab. denn er muss bei dem einen an das ehrgefühl, bei dem anderen an die soziale Verantwortlichkeit appel-lieren. dann wieder einmal das gefühl der Vereinsamung überwinden, eine normale ein-gliederung in familieninteressen herbeiführen oder einen konflikt mit den Sittengesetzen lösen.

es gibt bereits eine beträchtliche Literatur darüber, auf welche Weise das Verhalten von Menschen zu beeinflussen ist, was für eine rolle kultur und gesellschaftsordnung für die geistige entwicklung des einzelnen spielen, wie ideale, Maßstäbe, Sitten mit der sozialen Lage wechseln, welche Bedeutung die familie und die engste Lebensgemein-schaft haben, wie die einflüsse dieser gruppen sich von den einflüssen durch vorüber-gehende Beziehungen weiterer Lebenskreise unterscheiden, wie die Verpflanzung aus einem sozialen Milieu in ein anderes wirkt. hier liegen aufgaben, die die Wissenschaft im interesse der sozialen arbeit weiter fördern sollte.

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die Soziologie soll zeigen, dass die Verhaltungsweisen durch die psycho-soziale Umge-bung bedingt sind, dass man „Betragen“ lernt, nicht ererbt. grade aus diesen einsichten gewinnt die Sozialarbeit ihre raison d’etre und ihre grundgesetze.

anscheinend werden bei den amerikanern die kenntnisse viel stärker als bei uns gewertet, die dazu führen, menschliches Verhalten zu begreifen und einsichten in die Möglichkeit der Beeinflussung zu gewinnen. alles ist auf die unmittelbare anwendbar-keit bezogen. in gewisser Weise ist das utilitarisch – eine konsequente ausmerzung alles dessen, was nicht praktisch verwertbar ist, was nicht unmittelbar dem Leben dient.

Von besonderem interesse sind ausführungen über „soziale forschung“ als Unter-richtsfach, weil hier keinerlei analogie mit den deutschen Schulen vorliegt. karpf weist ganz richtig darauf hin, dass es sich hier um keinen besonderen Wissenszweig, sondern um eine wissenschaftliche Methode handelt. die Vorteile, die man sich aus der teilnahme der zukünftigen Sozialarbeiter an forschungsaufgaben verspricht, werden sehr verschie-den begründet.

einige autoren sehen sie darin, dass die Schüler an positivem sozialen Wissen gewin-nen würden, andere darin, dass die Schüler zu kritischer Stellungnahme und zu dem Wunsch gelangen würden, die soziale arbeit wissenschaftlich besser zu begründen. Wie-der andere meinen, die Sozialarbeiter würden dabei lernen, die Methoden und ergeb-nisse der sozialen arbeit nachzuprüfen, und das würde sie zur herbeiführung sozialer reformen befähigen. karpf lässt nur den Standpunkt gelten, dass die Beteiligung an einer forschungsaufgabe die fähigkeit zu klarem denken und genauigkeit des ausdrucks ent-wickeln wird.2

in dem bisher erörterten ersten teil des karpfschen Buches handelt es sich nur um Wiedergabe von Meinungen, die er in der Literatur über die soziale ausbildung vor-fand, und um seine eigene Stellungnahme dazu. der zweite teil ist eigenartiger. hier stellt karpf in einer Untersuchung an der hand von fürsorgeakten aus der familienfür-sorge3 fest, was für kenntnisse die Sozialarbeiter tatsächlich brauchen und wie weit diese kenntnisse vorhanden sind.

eine solche analyse – nicht an der hand einzelner fälle, sondern statistisch unterbaut – ist nie vorher unternommen worden, und die ergebnisse sind auch für Länder mit ande-ren sozialen Verhältnissen und anderen fürsorgemethoden sehr lehrreich.

karpf hat dazu 100 fürsorgeakten, von denen 40 zu Lehrzwecken veröffentlicht waren und 60 von zwei großen fürsorgeorganisationen stammen, benutzt. aus diesen wurden

2 Obwohl die meisten amerikanischen Schulen kurse über forschungen in ihrem Programm haben, handelt es sich nach karpf vielfach nur um einen kursus in Statistik oder um kurse über die Methoden für soziale erhebungen. Nur elf von achtundzwanzig Schulen verlangen eine abschlussarbeit. karpf ist der ansicht, dass der Zweck, dem diese kurse dienen, nicht durch erörterungen in einer Schulklasse erreicht werden kann; dass das nur durch irgendeine selbständige erhebung möglich ist. Nur wenn man Material sammelt, ordnet usw., kann man zu einer sorgfältigen Prüfung von ergebnissen gelangen, und das muss von den sozialen Berufs-arbeitern gefordert werden, sofern sie ihre aufgaben aus einer gesicherten, wissenschaftlichen begründeten erkenntnis heraus lösen sollen.

3 die arbeit wurde auf dieses gebiet beschränkt unter hinweis darauf, dass die Überzeugung sich mehr und mehr durchsetzt, dass alle offene fürsorge und im wesentlichen auch die geschlossene fürsorge es mit gleichartigen Methoden zu tun hat.

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alle Meinungen und Urteile (im ganzen 18.000), die die Sozialarbeiter ausgesprochen hatten, die ratschläge, die sie erteilten, und die Bemühungen, einfluss zu gewinnen, klas-sifiziert und nach ihrer häufigkeit geordnet. auf diese Weise wollte er einen einblick in die geistige arbeit der familienfürsorger tun. daran zeigt karpf nun die Lücken auf, die sich in der ausbildung der Sozialarbeiter finden.

„es ergab sich, daß von allen Urteilen 28 % das Verhalten der klienten betrafen, 18 % die erscheinung, Persönlichkeit und charakterzüge, nur 9 % den gesundheitszustand, ebenfalls 9 % die elterliche fürsorge für die kinder, 8 % die häuslichkeit, 6 % die Woh-nungsverhältnisse und 18 % Versuche, die klienten zu beeinflussen. diese Urteile sind weiterhin aufgeteilt nach ihrem qualitativem inhalt.“

karpf stellt fest, dass die Urteile über die Persönlichkeit der klienten (äußere erschei-nung, körperbau, kleidung wie charakter, intelligenz, temperament) ebenso wie die Urteile über das Verhalten der klienten fast nirgends objektiv begründet sind; dass es sich dabei um vage eindrücke der Sozialarbeiter handelt. karpf fordert, sie zuverläs-siger zu machen, l. indem für jedes Urteil eine Begründung gegeben wird, 2. indem ein berufliches Wörterbuch entwickelt wird, ohne das weder eine charakteranalyse noch eine darstellung der sozialen Situation allgemein verständlich ist, 3. indem Normen für alle tatsachen, zu denen die Sozialarbeiter sich zu äußern haben, aufgestellt werden.

karpf hält ferner für eine Wissenschaft von der sozialen arbeit die entwicklung von einwandfreien tests und Methoden zur erfassung der Persönlichkeit und ihrer charak-terzüge, des gefühlslebens und der denk- und Urteilsfähigkeit für unerlässlich. ein gewisses Maß von erkenntnissen ist auf diesen gebieten bereits erarbeitet. aber es wird, wie z. B. die intelligenzprüfungen, von den Sozialarbeitern nicht angewendet.

dabei ist allerdings einzuwenden, dass die Vornahme von intelligenzprüfungen in der familienfürsorge doch nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist (z. B. einschu-lung in bestimmte Schulformen, Berufswahl oder -Umschulung), dass für alle anderen Zwecke die Wiedergabe eines allgemeinen eindrucks durchaus berechtigt erscheint.

karpf tritt eben grundsätzlich für die exakte, naturwissenschaftliche Methode des erkennens ein.

auch bei den Urteilen der Sozialarbeiter über den Lebensstandard, über fürsorge für die kinder, über die häuslichkeit und die Wohnungsverhältnisse tadelt karpf den Mangel an objektiven Maßstäben. er hält es für aufgabe der Sozialarbeit, sie zu entwickeln. er führt die von der Whittier Schule4 aufgestellte Skala für die Bewertung von häuslich-keiten an und macht die these geradezu zum hauptinhalt seines Buches, dass soziale Zustände und soziale Beziehungen meßbar sind, dass wir sie unbewusst beständig messen und dass die soziale Arbeit erst ihre volle Bedeutung gewinnen kann, wenn sie diesen Grundsatz akzeptiert, die Folgen daraus zieht und ihn soweit wie möglich anwendet. hier liegen anklänge an die von ilse von arlt aufgestellte Skala von Bedürfnisbefriedigungen vor.

karpf setzt sich mit der auffassung auseinander, dass es einsichten gibt, die auf sol-che Weise nicht zu gewinnen sind, die auf intuition begründet sind, auf einer Weisheit, die nicht analysiert oder erklärt werden kann und die wahrscheinlich nicht lehrbar ist; eine Weisheit, die eine persönliche gabe, sofern nicht nur angeboren, durch persön-

4 eine anstalt für jugendliche rechtsbrecher in californien.

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liche Lebenserfahrungen erworben ist. „Wie dem auch sei“, sagt karpf, – „ob es solche Weisheit gibt oder nicht – man kann keinen Beruf darauf begründen; keinen Berufsstand anders als mit erlernbarem Wissen aufbauen.“

karpf rubriziert dann zum Schluß aus den verarbeiteten akten alle Versuche, die Klien-ten zu beeinflussen. dabei geht es in 22,6 % der fälle darum, das Vertrauen des klienten zu gewinnen, in 22,4 % das Verhalten zu ändern und familienschwierigkeiten zu beseitigen, in 17,6 % den Lebensstandard zu beeinflussen, in 15,5 % den klienten zu gesundheitsge-mäßem Verhalten zu bestimmen, in 7,7 % eine bessere Pflege der kinder durchzusetzen, in 7,7 % ihn zur Übernahme einer arbeit oder zu einem Berufswechsel zu veranlassen usw.

die Beeinflussungsmethoden, die sich aus den akten über familienfürsorge feststellen ließen, werden von karpf analysiert, und zwar nach der häufigkeit ihres Vorkommens als: l. erklären, 2. erörtern und überreden, 3. anordnen und drohen, 4. raten. 5. suggerieren.

karpf stellt aus den einschlägigen Wissenschaften alles zusammen, was dem Sozi-alarbeiter die Bedeutung dieser verschiedenen Methoden klarmachen und was ihn zu einer Beherrschung dieser Methoden führen kann. hier liegen aufgaben, mit denen die sozialen Schulen sich auseinandersetzen müssten. denn niemand würde sich einen arzt, Lehrer, anwalt, architekten, einer krankenpflegerin anvertrauen, wenn er nicht über-zeugt wäre, dass ihr Wissen um die angelegenheiten, die sie ordnen, lehren, vertreten sollen, das seine überragt. die klienten der Sozialarbeiter unterscheiden sich von denen anderer helfender Berufe vor allem darin, dass sie ihre Berater nicht selbst wählen und dass sie oft nicht in der Lage sind, ihrer Unzufriedenheit über deren Leistung ausdruck zu geben. aber das darf nicht dazu führen, den anspruch an die höhe der Berufsleistung zu verringern.

karpf kommt an der hand dieser Untersuchungen über die kenntnisse, die den Sozial-arbeitern nötig sind, zu einer scharfen kritik an dem System der amerikanischen sozialen Schulen. es kann in diesem Zusammenhang nicht darauf eingegangen werden. für ihn liegt die zukünftige aufgabe der sozialen Schulen darin, bei den Schülern Verständnis für die Bedeutung wissenschaftlicher kenntnisse und eine wissenschaftliche haltung zu erziehen.

das Suchen nach wissenschaftlicher erkenntnis, die der Praxis dienen kann, unter-scheidet den Berufsarbeiter vom Laien. Beim Sozialarbeiter ist es gebunden an den glau-ben, dass im ablauf menschlichen handelns und in der geistlich sittlichen Sphäre eine gesetzmäßigkeit obwaltet gleich der, die für die Naturphänomene längst anerkannt wird. karpf erinnert daran, das tausendjährige irrtümer des „gesunden Menschenverstandes“ durch die Naturwissenschaften überwunden worden sind. auch die umfassendsten indi-viduellen erfahrungen über das menschliche Verhalten lassen keine Verallgemeinerungen zu, die als zuverlässige führer für ein soziales hilfsprogramm dienen können.

hiergegen ist allerdings die frage aufzuwerfen, ob kulturphänomene mit densel-ben Methoden und Mitteln zu begreifen sind wie Naturerscheinungen, ob dafür nicht geisteswissenschaftliche Methoden erforderlich sind. auch die auf tiefenpsychologie begründete Psychotherapie arbeitet doch mit einer anderen Methode als die exakten Naturwissenschaften. im Bereich des Psychologischen bleibt jede theorie zuletzt deu-tung, die nur für eine bestimmte Bewusstseinslage richtig sein kann.

Überhaupt, so anregend und fruchtbar die erhebungen und forderungen von karpf sind: ihre letzten geistigen grundlagen sind für uns unannehmbar. der Mensch ist eben

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nicht nur ein rationales Wesen, nicht nur durch logische erwägungen zu begreifen, nicht in meßbare Wahrnehmungen aufzulösen. Und jeder Mensch ist etwas einmaliges, nie-mals einem anderen gleich, niemals durch allgemeine Begriffe ganz zu erfassen. Um Menschen zu verstehen, um ihnen zu helfen, um sie zu beeinflussen, dazu bedarf es – trotz karpf – einer bestimmten Begabung. Soziale arbeit ist nicht nur Wissenschaft, kann nicht nur mit den kräften des Bewusstseins vollzogen werden. Sie ist auch Kunst. Und jeder künstler muss das Beste – die unbewusste künstlerische Schau – selbst in seinen Beruf hineintragen.