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„Gorilla“ im Konzert: Gitarrensolo bleibt oft unbemerkt „Unaufmerksamkeitsblindheit“ gibt es auch beim Hören. Videos, in denen sich eine Person im Go- rillakostüm durch eine Gruppe Basketball spielender Menschen bewegt, kursieren immer wieder im Internet. Konzentrieren sich die Betrachter auf andere Aufgaben, bleibt der Affe oft unerkannt. Der Versuch illustriert den Effekt der „Unaufmerksam- keitsblindheit“, also der begrenzten Infor- mationsverarbeitungskapazität unseres Gehirns. Klagenfurter Psychologen fan- den diesen nun auch in der Akustik. Dazu spielten sie 100 Probanden Ri- chard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ vor, in das sie ein 20 Sekunden langes E-Gitarren-Solo – das akustische Pendant zum Gorilla – einbauten. Eine Gruppe sollte beim Hören die Anzahl der Pauken- schläge zählen, die zweite nicht. Es zeigte sich, dass dabei nur 43 Prozent der ersten Gruppe das Gitarrensolo wahrnahmen, in der zweiten Gruppe waren es 81 Prozent. Musikalische Vorbildung erhöhte die Chance, den „Gorilla“ zu erkennen. (APA) SAMSTAG, 9. MAI 2015 WISSEN & INNOVATION 35 FORSCHUNGSFRAGE VON ALICE GRANCY Wie lässt sich das Universum beschreiben? Forscher vermuten, dass dazu zwei Dimensionen ausreichen. A uch wenn die Welt dreidimensional wirkt, könnten zwei Dimensionen ge- nügen, um sie zu beschreiben. Physiker der TU Wien haben diese Idee nun mit neu- en Berechnungen untermauert. Funktio- niert unser Universum also wie ein Holo- gramm? Wie lässt sich das zeigen? Und: Was bedeutet das für unseren Alltag? Hologramme auf Geldscheinen oder Kreditkarten wirken dreidimensional, sind es aber nicht. Eine der Dimen- sionen ist nämlich eine Illusion. Ähn- lich könnte es sich mit dem Univer- sum verhalten. „Die Idee, dass das Universum nach dem holografischen Prinzip funktioniert, gibt es in der Physik seit rund zwei Jahrzehnten“, sagt Daniel Grumiller vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien. „Sie stammt eigentlich aus der Physik schwarzer Löcher.“ Die Wissenschaft- ler fanden nun in Berechnungen neue Hinweise auf die Gültigkeit die- ses Prinzips. Ihre Erkenntnisse veröf- fentlichten sie kürzlich in den Physi- cal Review Letters“. Bisher beruhten Bestätigungen des holografischen Prinzips auf nega- tiv gekrümmten Räumen. „Das Uni- versum ist aber eher flach, auf astro- nomische Distanz betrachtet sogar positiv gekrümmt“, so Grumiller. Die Forscher haben nun die sogenannte Verschränkungsentropie, eine Größe aus der Quantenmechanik, auf zwei Arten ausgerechnet. Die Berechnun- gen stimmten präzise überein. „Das ist ein Indiz dafür, dass das holografi- sche Prinzip auch im Flachen gilt“, so Grumiller. Tatsächlich waren dazu nicht einmal Supercomputer nötig, die Forscher rechneten alles hän- disch aus. Grumiller spricht von einer „fan- tastischen Erkenntnis mit großer Re- levanz für weitere wissenschaftliche Arbeiten“. Bis das Grundlagenwissen zum holografischen Prinzip Eingang in praktische Anwendungen findet, könne es aber noch ein halbes Jahr- hundert dauern: Auch der Laser sei einst aus wissenschaftlicher Neugier und als „Spielzeug“ der Experimen- talphysiker entwickelt worden, sagt der Forscher. Heute findet er sich in jedem CD-Player. Senden Sie Fragen an: [email protected] Die vergessenen Kinder des Krieges Kriegsfolgenforschung. Der Krieg nimmt und bringt Kinder: als Folge von Liebesaffären, Prostitution und Vergewaltigung. Doch die Kinder des Feindes waren zumeist nicht willkommen. Oktober 1945. „Immerhin – zu Seifenlauge und Stricknadel hast du nicht mehr gegrif- fen.“ Diese Worte richtet eine Grazerin, deren Vater ein britischer Soldat war, in ihrem auto- biografischen Text an ihre Mutter. Die Zeit- historikerin Barbara Stelzl-Marx schätzt die Zahl der Kinder von Besatzungssoldaten in Österreich zwischen 1945 und 1955 auf 30.000. Das ist in etwa die Einwohnerzahl von Bregenz. Der Krieg und die Besatzungszeit wirkten lang auf die Gesellschaft nach. Die abfällig „Russenkinder“ bezeichneten – und Kinder in anderen Besatzungszonen – wur- den jahrzehntelang diskriminiert und waren von einer Mauer des Schweigens umgeben. Die Leiterin des Grazer Ludwig-Boltz- mann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Stelzl-Marx, und Silke Satjukow, Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Magdeburg, bringen nun im Böhlau-Verlag ein Buch heraus, das den „vergessenen“ Kin- dern gewidmet ist. Das Buch „Besatzungs- kinder“ wagt erstmals einen Überblick mit wissenschaftlichen Ergebnissen von Histori- kern, Soziologen, Pädagogen und Psycholo- gen. Die eigentlichen Protagonisten werden aber nicht vergessen und berichten in meh- reren Aufsätzen über ihre Erlebnisse. Die Aufarbeitung ist wichtig, weil diese Kinder in der Forschung jahrzehntelang un- beachtet blieben. Auch der Staat unterstützte sie kaum, obwohl die meisten alleinerzie- henden Mütter in finanziell desaströsen Ver- hältnissen lebten und von der Gemeinschaft in Dorf und Stadt allzu oft stigmatisiert wur- den. Die Kinder waren – ob aus Liebesbezie- hungen, pragmatischen Versorgungspart- nerschaften oder durch sexuelle Gewalt ent- standen – schließlich „Kinder des Feindes“. Gerade die emotionalen, autobiografischen Texte veranschaulichen, was das für die Kindheits- und Jugendjahre bedeutete. Schwierige Suche nach dem Vater Die Mütter wussten, dass die Herkunft der Kinder eine gesellschaftliche Ächtung nach sich zog. Sie tabuisierten und verheimlichten die Abstammung des Nachwuchses häufig, sofern das möglich war. Denn Frauen gingen auch Beziehungen mit Afrikanern ein – in den US-amerikanischen Besatzungszonen oder im französisch-marokkanisch besetzten Vorarlberg. Doch die „braunen“ oder „schwarzen“ Nachkriegskinder schienen aus dem „weißen“ österreichischen Gedächtnis spurlos verschwunden zu sein. Entscheidend für die Kinder war und ist vor allem eines: die Suche nach dem Vater. Die Väter waren bereits oft in ihre Heimat zu- rückgekehrt, bevor der Nachwuchs zur Welt kam. Vaterschaftsfestlegungen ließen sich schwer oder gar nicht durchsetzen. In der sowjetischen Zone war dies gar verboten. Viele Betroffene erfuhren erst bei der Durch- sicht des mütterlichen Nachlasses etwas über ihre biologische Herkunft. Die Frage nach der eigenen Identität ist zentral und zieht sich durch sämtliche Texte des Buches. (por) Die Judenfeindlichkeit nach 1945 Geschichte. Der Holocaust war zwar eine Zäsur in der Geschichte des Antisemitismus, aber keine Stunde null. Judenfeindlichkeit überlebte das Jahr 1945 in verbrämter Form. VON RONALD POSCH M illionen Flüchtlinge, ehemalige KZ- Häftlinge und Zwangsarbeiter wa- ren nach dem Zweiten Weltkrieg heimatlos – sogenannte Displaced Persons oder DPs. Sie waren in ganz Europa zer- streut. Tausende von ihnen waren auch in Österreich, hunderte im Salzkammergut, das damals zur amerikanischen Besatzungszo- ne gehörte. Die zumeist jüdischen DPs wa- ren von den US-Truppen im Bad Ischler Hotel Goldenes Kreuz einquartiert wor- den. Die amerikanische Verwaltung ver- ordnete im August 1947 den Ersatz von Frischmilchrationen für Kleinkinder durch Trockenmilchzuteilung. Daraufhin demon- strierten Frauen, Mütter, lokale KPÖ-Politi- ker und ehemalige Nazis vor dem Bad Isch- ler Rathaus. Sie brauchten einen Sünden- bock für die schlechte Ernährungslage und griffen dabei auf altbewährte Feindbilder zu- rück: Die jüdischen DPs waren für die De- monstranten Schleichhändler. Sie skandier- ten antijüdische Parolen. Die Amerikaner verurteilten die Organisatoren im sogenann- ten Bad Ischler Milchprozess. Das Beispiel zeigt, dass Ressentiments gegenüber Juden nach dem Krieg nicht ein- fach verschwanden. „Nach 1945 richtete sich der Antisemitismus sehr stark gegen die DPs, denen man vorwarf, sie seien wegen der amerikanischen Hilfe besser versorgt als die Österreicher“, sagt Margit Reiter vom Institut für Zeitgeschichte an der Uni Wien. Sie leitet das vom Wissen- schaftsfonds FWF finanzierte Projekt „Anti- semitismus nach der Shoah“. Reiter konzen- triert sich dabei auf die unmittelbare Nach- kriegszeit und besonders auf das bisher ver- nachlässigte Milieu ehemaliger Nationalso- zialisten. Diese nahmen – anders als die meisten Offiziellen und Politiker – die Opfer- theorie nicht an und standen nach wie vor zu ihren Überzeugungen. Berichte von Täterkindern Die Ehemaligen mussten aber lernen, dass sie keine offene Judenfeindlichkeit zeigen durften. Sie passten sich an. Dabei kam es zum „double speak“: „Nach außen hin gaben sie sich geläutert, nach innen – in ihren Fa- milien oder untereinander blieben sie überzeugt antisemitisch“, weiß Reiter von Erzählungen der Täterkinder. Die Forschung in Österreich vernachlässigte dieses Milieu bisher. Sie konzentrierte sich auf die Diskus- sionen im Parlament und den öffentlichen Diskursen, wo der Antisemitismus schneller verschwand als in den vorbelasteten Kreisen. Aber die „alte Gesinnung“ blieb gerade in der VdU-Partei (Verband der Unabhängi- gen) und der aus ihr hervorgegangenen FPÖ auch parlamentarisch langfristig haften. Dort sammelten sich die ehemaligen Nationalso- zialisten, die auch im demokratischen Öster- reich ihren Platz suchten. Der Nationalratabgeordnete der VdU Fritz Stüber etwa lös- te durch seine judenfeindli- chen Äußerungen immer wieder heftige Debatten im Parlament aus. Er stimmte dem Staatsvertrag von 1955 als einziger Abgeordneter nicht zu, weil dieser einen Keil zwi- schen Österreich und Deutschland trei- ben würde. „Wobei auch gesagt werden muss, dass andere Teile der politischen Elite ebenfalls antisemitisch anfällig blieben, ge- rade der katholische Antisemitismus war in der ÖVP etwa tief verwurzelt“, erklärt Reiter. Dennoch blieb das Jahr 1945 ein Bruch, denn die meisten Juden waren ermordet worden oder flohen. Viele jüdische DPs hiel- ten sich in den unmittelbaren Nachkriegs- jahren noch in Österreich auf und waren da- her bevorzugte Anfeindungsobjekte. Aber Judenfeindlichkeit funktioniert auch ohne Juden: „Antisemitismus braucht keine Objekte, weil er ohnehin von der Pro- jektion – der Vorstellung vom bösen anderen – lebt. Gerade in Gebieten mit wenig Juden ist der Antisemitismus oft sehr stark“, sagt Reiter. Die Abneigung gegenüber Juden blieb ein Breitenphänomen. Aber die Österreicher distanzierten sich nach dem Holocaust davon, weil ein „morali- sches Antisemitismusverbot“ herrschte. Sie tabuisierten die Vorurteile. Gleichzeitig konnte der Holocaust nicht geleugnet wer- den, daher relativierte man die Schuld mit Vergleichen: „Sobald über die Judenvernich- tung gesprochen wurde, wurde auf die Ver- brechen der Amerikaner oder der Russen verwiesen und damit die Schuld gegenei- nander aufgerechnet und relativiert“, erzählt die Historikerin. [ Wikicommons] Barbara Stelzl-Marx, Silke Satjukow (Hg.) „Besatzungskinder“ Böhlau-Verlag 538 Seiten 35 Euro LEXIKON Antisemitismus ist ein Sammelbegriff für die mit religiösen, völkischen oder rassischen Motiven begründete Ablehnung der Juden. Als Holocaust, oder hebräisch Shoah, wird der millionenfache Völkermord an den Juden bezeichnet. Er gründete auf dem von den National- sozialisten propagierten Antisemitismus, der auf die völlige Vernichtung der Juden abzielte.

DieJudenfeindlichkeitnach1945 FORSCHUNGSFRAGE

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Page 1: DieJudenfeindlichkeitnach1945 FORSCHUNGSFRAGE

„Gorilla“ im Konzert:Gitarrensolo bleibtoft unbemerkt„Unaufmerksamkeitsblindheit“ gibtes auch beim Hören.

Videos, in denen sich eine Person im Go-rillakostüm durch eine Gruppe Basketballspielender Menschen bewegt, kursierenimmer wieder im Internet. Konzentrierensich die Betrachter auf andere Aufgaben,bleibt der Affe oft unerkannt. Der Versuchillustriert den Effekt der „Unaufmerksam-keitsblindheit“, also der begrenzten Infor-mationsverarbeitungskapazität unseresGehirns. Klagenfurter Psychologen fan-den diesen nun auch in der Akustik.

Dazu spielten sie 100 Probanden Ri-chard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“vor, in das sie ein 20 Sekunden langesE-Gitarren-Solo – das akustische Pendantzum Gorilla – einbauten. Eine Gruppesollte beim Hören die Anzahl der Pauken-schläge zählen, die zweite nicht. Es zeigtesich, dass dabei nur 43 Prozent der erstenGruppe das Gitarrensolo wahrnahmen, inder zweiten Gruppe waren es 81 Prozent.Musikalische Vorbildung erhöhte dieChance, den „Gorilla“ zu erkennen. (APA)

SAMSTAG, 9. MAI 2015 WISSEN & INNOVATION 35

FORSCHUNGSFRAGEVON ALICE GRANCY

Wie lässt sich dasUniversumbeschreiben?Forscher vermuten, dass dazuzwei Dimensionen ausreichen.

A uch wenn die Welt dreidimensionalwirkt, könnten zwei Dimensionen ge-

nügen, um sie zu beschreiben. Physikerder TU Wien haben diese Idee nun mit neu-en Berechnungen untermauert. Funktio-niert unser Universum also wie ein Holo-gramm? Wie lässt sich das zeigen? Und:Was bedeutet das für unseren Alltag?

Hologramme auf Geldscheinen oderKreditkarten wirken dreidimensional,sind es aber nicht. Eine der Dimen-sionen ist nämlich eine Illusion. Ähn-lich könnte es sich mit dem Univer-sum verhalten. „Die Idee, dass dasUniversum nach dem holografischenPrinzip funktioniert, gibt es in derPhysik seit rund zwei Jahrzehnten“,sagt Daniel Grumiller vom Institut fürTheoretische Physik der TU Wien.„Sie stammt eigentlich aus der Physikschwarzer Löcher.“ Die Wissenschaft-ler fanden nun in Berechnungenneue Hinweise auf die Gültigkeit die-ses Prinzips. Ihre Erkenntnisse veröf-fentlichten sie kürzlich in den „Physi-cal Review Letters“.

Bisher beruhten Bestätigungendes holografischen Prinzips auf nega-tiv gekrümmten Räumen. „Das Uni-versum ist aber eher flach, auf astro-nomische Distanz betrachtet sogarpositiv gekrümmt“, so Grumiller. DieForscher haben nun die sogenannteVerschränkungsentropie, eine Größeaus der Quantenmechanik, auf zweiArten ausgerechnet. Die Berechnun-gen stimmten präzise überein. „Dasist ein Indiz dafür, dass das holografi-sche Prinzip auch im Flachen gilt“, soGrumiller. Tatsächlich waren dazunicht einmal Supercomputer nötig,die Forscher rechneten alles hän-disch aus.

Grumiller spricht von einer „fan-tastischen Erkenntnis mit großer Re-levanz für weitere wissenschaftlicheArbeiten“. Bis das Grundlagenwissenzum holografischen Prinzip Eingangin praktische Anwendungen findet,könne es aber noch ein halbes Jahr-hundert dauern: Auch der Laser seieinst aus wissenschaftlicher Neugierund als „Spielzeug“ der Experimen-talphysiker entwickelt worden, sagtder Forscher. Heute findet er sich injedem CD-Player.

Senden Sie Fragen an: [email protected]

Die vergessenen Kinder des KriegesKriegsfolgenforschung. Der Krieg nimmt und bringt Kinder: als Folge von Liebesaffären, Prostitution undVergewaltigung. Doch die Kinder des Feindes waren zumeist nicht willkommen.

Oktober 1945. „Immerhin – zu Seifenlaugeund Stricknadel hast du nicht mehr gegrif-fen.“ Diese Worte richtet eine Grazerin, derenVater ein britischer Soldat war, in ihrem auto-biografischen Text an ihre Mutter. Die Zeit-historikerin Barbara Stelzl-Marx schätzt dieZahl der Kinder von Besatzungssoldaten inÖsterreich zwischen 1945 und 1955 auf30.000. Das ist in etwa die Einwohnerzahl vonBregenz. Der Krieg und die Besatzungszeitwirkten lang auf die Gesellschaft nach. Dieabfällig „Russenkinder“ bezeichneten – undKinder in anderen Besatzungszonen – wur-den jahrzehntelang diskriminiert und warenvon einer Mauer des Schweigens umgeben.

Die Leiterin des Grazer Ludwig-Boltz-mann-Instituts für Kriegsfolgenforschung,Stelzl-Marx, und Silke Satjukow, Professorinfür Geschichte der Neuzeit an der UniversitätMagdeburg, bringen nun im Böhlau-Verlagein Buch heraus, das den „vergessenen“ Kin-dern gewidmet ist. Das Buch „Besatzungs-kinder“ wagt erstmals einen Überblick mitwissenschaftlichen Ergebnissen von Histori-kern, Soziologen, Pädagogen und Psycholo-gen. Die eigentlichen Protagonisten werden

aber nicht vergessen und berichten in meh-reren Aufsätzen über ihre Erlebnisse.

Die Aufarbeitung ist wichtig, weil dieseKinder in der Forschung jahrzehntelang un-beachtet blieben. Auch der Staat unterstütztesie kaum, obwohl die meisten alleinerzie-henden Mütter in finanziell desaströsen Ver-hältnissen lebten und von der Gemeinschaftin Dorf und Stadt allzu oft stigmatisiert wur-den. Die Kinder waren – ob aus Liebesbezie-hungen, pragmatischen Versorgungspart-nerschaften oder durch sexuelle Gewalt ent-standen – schließlich „Kinder des Feindes“.Gerade die emotionalen, autobiografischenTexte veranschaulichen, was das für dieKindheits- und Jugendjahre bedeutete.

Schwierige Suche nach dem VaterDie Mütter wussten, dass die Herkunft derKinder eine gesellschaftliche Ächtung nachsich zog. Sie tabuisierten und verheimlichtendie Abstammung des Nachwuchses häufig,sofern das möglich war. Denn Frauen gingenauch Beziehungen mit Afrikanern ein – inden US-amerikanischen Besatzungszonenoder im französisch-marokkanisch besetzten

Vorarlberg. Doch die „braunen“ oder„schwarzen“ Nachkriegskinder schienen ausdem „weißen“ österreichischen Gedächtnisspurlos verschwunden zu sein.

Entscheidend für die Kinder war und istvor allem eines: die Suche nach dem Vater.Die Väter waren bereits oft in ihre Heimat zu-rückgekehrt, bevor der Nachwuchs zur Weltkam. Vaterschaftsfestlegungen ließen sichschwer oder gar nicht durchsetzen. In dersowjetischen Zone war dies gar verboten.Viele Betroffene erfuhren erst bei der Durch-sicht des mütterlichen Nachlasses etwas überihre biologische Herkunft. Die Frage nach dereigenen Identität ist zentral und zieht sichdurch sämtliche Texte des Buches. (por)

Die Judenfeindlichkeit nach 1945Geschichte. Der Holocaust war zwar eine Zäsur in der Geschichte des Antisemitismus, aberkeine Stunde null. Judenfeindlichkeit überlebte das Jahr 1945 in verbrämter Form.

VON RONALD POSCH

M illionen Flüchtlinge, ehemalige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter wa-ren nach dem Zweiten Weltkrieg

heimatlos – sogenannte Displaced Personsoder DPs. Sie waren in ganz Europa zer-streut. Tausende von ihnen waren auch inÖsterreich, hunderte im Salzkammergut, dasdamals zur amerikanischen Besatzungszo-ne gehörte. Die zumeist jüdischen DPs wa-ren von den US-Truppen im Bad IschlerHotel Goldenes Kreuz einquartiert wor-den. Die amerikanische Verwaltung ver-ordnete im August 1947 den Ersatz vonFrischmilchrationen für Kleinkinder durchTrockenmilchzuteilung. Daraufhin demon-strierten Frauen, Mütter, lokale KPÖ-Politi-ker und ehemalige Nazis vor dem Bad Isch-ler Rathaus. Sie brauchten einen Sünden-bock für die schlechte Ernährungslage undgriffen dabei auf altbewährte Feindbilder zu-rück: Die jüdischen DPs waren für die De-monstranten Schleichhändler. Sie skandier-ten antijüdische Parolen. Die Amerikanerverurteilten die Organisatoren im sogenann-ten Bad Ischler Milchprozess.

Das Beispiel zeigt, dass Ressentimentsgegenüber Juden nach dem Krieg nicht ein-fach verschwanden. „Nach 1945 richtetesich der Antisemitismus sehr stark gegendie DPs, denen man vorwarf, sie seienwegen der amerikanischen Hilfe besserversorgt als die Österreicher“, sagt MargitReiter vom Institut für Zeitgeschichte ander Uni Wien. Sie leitet das vom Wissen-schaftsfonds FWF finanzierte Projekt „Anti-semitismus nach der Shoah“. Reiter konzen-triert sich dabei auf die unmittelbare Nach-kriegszeit und besonders auf das bisher ver-nachlässigte Milieu ehemaliger Nationalso-zialisten. Diese nahmen – anders als diemeisten Offiziellen und Politiker – die Opfer-theorie nicht an und standen nach wie vor zuihren Überzeugungen.

Berichte von TäterkindernDie Ehemaligen mussten aber lernen, dasssie keine offene Judenfeindlichkeit zeigendurften. Sie passten sich an. Dabei kam eszum „double speak“: „Nach außen hin gabensie sich geläutert, nach innen – in ihren Fa-milien oder untereinander – blieben sieüberzeugt antisemitisch“, weiß Reiter vonErzählungen der Täterkinder. Die Forschungin Österreich vernachlässigte dieses Milieubisher. Sie konzentrierte sich auf die Diskus-sionen im Parlament und den öffentlichenDiskursen, wo der Antisemitismus schnellerverschwand als in den vorbelasteten Kreisen.

Aber die „alte Gesinnung“ blieb geradein der VdU-Partei (Verband der Unabhängi-gen) und der aus ihr hervorgegangenen FPÖauch parlamentarisch langfristig haften. Dortsammelten sich die ehemaligen Nationalso-

zialisten, die auch imdemokratischen Öster-reich ihren Platz suchten.Der Nationalratabgeordneteder VdU Fritz Stüber etwa lös-te durch seine judenfeindli-chen Äußerungen immer wiederheftige Debatten im Parlamentaus. Er stimmte dem Staatsvertragvon 1955 als einziger Abgeordneternicht zu, weil dieser einen Keil zwi-schen Österreich und Deutschland trei-ben würde. „Wobei auch gesagt werdenmuss, dass andere Teile der politischen Eliteebenfalls antisemitisch anfällig blieben, ge-rade der katholische Antisemitismus war inder ÖVP etwa tief verwurzelt“, erklärt Reiter.

Dennoch blieb das Jahr 1945 ein Bruch,denn die meisten Juden waren ermordetworden oder flohen. Viele jüdische DPs hiel-ten sich in den unmittelbaren Nachkriegs-jahren noch in Österreich auf und waren da-her bevorzugte Anfeindungsobjekte.

Aber Judenfeindlichkeit funktioniertauch ohne Juden: „Antisemitismus brauchtkeine Objekte, weil er ohnehin von der Pro-jektion – der Vorstellung vom bösen anderen– lebt. Gerade in Gebieten mit wenig Juden

ist der Antisemitismus oft sehrstark“, sagt Reiter.

Die Abneigung gegenüber Judenblieb ein Breitenphänomen. Aber die

Österreicher distanzierten sich nachdem Holocaust davon, weil ein „morali-

sches Antisemitismusverbot“ herrschte. Sietabuisierten die Vorurteile. Gleichzeitigkonnte der Holocaust nicht geleugnet wer-den, daher relativierte man die Schuld mitVergleichen: „Sobald über die Judenvernich-tung gesprochen wurde, wurde auf die Ver-brechen der Amerikaner oder der Russenverwiesen und damit die Schuld gegenei-nander aufgerechnet und relativiert“, erzähltdie Historikerin. [ Wikicommons]

Barbara Stelzl-Marx,Silke Satjukow (Hg.)„Besatzungskinder“Böhlau-Verlag538 Seiten35 Euro

LEXIKON

Antisemitismus ist ein Sammelbegriff für die mitreligiösen, völkischen oder rassischen Motivenbegründete Ablehnung der Juden.

Als Holocaust, oder hebräisch Shoah, wird dermillionenfache Völkermord an den Judenbezeichnet. Er gründete auf dem von den National-sozialisten propagierten Antisemitismus, der auf dievöllige Vernichtung der Juden abzielte.