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Digitale Metaphysik - martin- · PDF fileDigitale Metaphysik In Merkur, 4/1988 Wenn es ein Bild gibt für das, was der Philosoph Neue ... vollzieht sich die Überwindung der Ideologi

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Martin Burckhardt

Digitale MetaphysikIn Merkur, 4/1988

Wenn es ein Bild gibt für das, was der Philosoph NeueUnübersichtlichkeit nennt, für diesen Zustand der Ver-flüssigung und Aufweichung des Verfestigten, so ist esdas elektronische Wabern des Videoclips, jene Farben-grelle, wo, im Rhythmus des Herzens, die Dinge denAufstand proben, wo Äpfel sich zu Birnen und schließ-lich zur Physiognomie irgendeines herausragenden Zeit-genossen mutieren, wo die Objekte zusammengeschrum-pelt, zerdrückt und zerknautscht ihre Form verlieren undsich in etwas anderes verwandeln - nämlich in frei flot-tierende Zeichen, die einer anderen Gesetzmäßigkeitfolgen als in der Realität. Herausgelöst aus ihrem Zu-sammenhang verwandeln sich die Dinge zurück, zu pu-rer Farbe und Form. Im Reich der Zeichen, das ist ihreBotschaft, ist nichts, was es ist.

Was im übrigen nicht eine besondere Errungenschaftdes Videoclips ist. Schon Cézanne wusste eine Betrach-terin seiner Bilder, die am Aussehen einer Birne her-ummäkelte, damit zu verwirren, dass er ihr sagte, dasssie es nicht mit einer Birne, sondern mit einem Bild zutun habe. Um derlei Feinheiten jedoch bekümmert sichder Videoclip nicht. Die Ästhetik des Videoclips (wennsie denn überhaupt beansprucht, dergleichen zu sein) lebtvor allem vom Crash, von der Kollision verschiedenerTexturen und Zeichenebenen, vom fröhlichen Einerlei,welche das Prinzip der Identität einem Härtetest unter-zieht, den es nicht überlebt. Und das ist die frohe Bot-

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schaft des Videoclips. Äpfel sind Birnen und Stalin istHitler und Mickey Mouse ist jedermann. Who cares.Natürlich ruft dieser späte dadaistische Reflex die Kultur-kritiker auf den Plan, welche, selbst alt und grau gewor-dene Revoluzzer, nun in der Misslichkeit sich befinden,dem Neuen eine abwehrende und konservative Haltunggegenüber einzunehmen, vor allem aber, sich verständ-nislos davon abzuwenden. Dann aber gibt es auch zeit-gemäßere Exegeten, wie etwa Baudrillard, welche in denfrei flottierenden Zeichen der entfesselten Massenkul-tur den Schwund von Wirklichkeit diagnostizieren. Undtatsächlich erscheint es durchaus naheliegend, im Einer-lei des Videoclips, im Taumel der Bilder und Bilderfetzen,ein letztes Abstrahlen des Wirklichen zu erkennen; undzu einer solchen Diagnose mag sich fügen, dass der Zeit-geist selbst, so munter er sich auch gebärden mag, mitdem Begriff des Postmodernen ein Etikett gefunden hat,das durchscheinen lässt, dass man sich des Schwundesdoch allzu bewusst ist. Man schaut zurück, wie auchimmer. Wehmütig oder mit der trotzigsten Entschlossen-heit, dass hinten vorn sei und der abgelegteste Hut derletzte Schrei. In Wahrheit jedoch ist durchaus etwashinzugekommen, und zwar eine Zeichenverarbeitungs-maschinerie, welche die Produktion der Zeichen auf einenie zuvor gekannte Art und Weise beschleunigen undvervielfachen wird, und tatsächlich ist der Schwund nurdie andere Erscheinungsform einer ungeheuerlichen Ex-plosion: nur dass man nicht weiß, was es ist.

Der kalkulierte Crash, die zerknautschten Objekte undBildermutanten der Videoclips, sie verkörpern das Prin-zip des Nichtidentischen, der Auflösbarkeit nicht nur derObjekte, sondern vor allem der Ordnungen, für die sie

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zeichenhaft stehen. Und eben darin, als symbolischeDeformation der Zeichensysteme, offenbart sich imVideoclip etwas, was man vielleicht als eine Art seman-tisch-morphologischer Kernschmelze interpretieren könn-te, als den Bankrott aller überkommenen Denkmuster,die auf die eine oder andere Weise Bedeutung, Zusam-menhang, kurzum Weltordnung suggeriert haben. Da-bei (wiederum im Rückgriff auf ein dadaistischesStrategem) vollzieht sich die Überwindung der Ideologi-en nicht im Diskurs, sondern von innen her, als Zerset-zung ihrer kleinsten Elemente, der Zeichen. Indem derVideoclip seine Objekte zerknautscht, zertrümmert undaus dem Zusammenhang reißt, attackiert er ja nicht dieObjekte selbst, sondern ihre Zeichenfunktion: Träger vonSinn und Bedeutung zu sein, Ferment eines Ganzen undseines Anspruchs auf Totalität. Deformiert und defor-mierbar indes ist jedes Ding bloßer Aggregatzustandseiner Veränderbarkeit, flüssige Erscheinungsform, Ei-nerlei. Und wenn es eine Botschaft des Videoclips gibt,so ist es diese: die praktizierte Indifferenz, das anythinggoes, für welche das technische Instrumentarium nur dassinnfälligste Zeugnis ablegt.

Aber sieht man von der grellen, regressiv anmuten-den Bilderwelt der Videoclips einmal ab, so entdeckt manrecht bald, dass eben darin, im anything goes, ein we-sentliches Charakteristikum des Digitalen selbst liegt. Derdadaistische Crash ist nur Entsprechung, kulturellerReflex dessen, was die Tiefenstruktur des Digitalen kenn-zeichnet. Denn die Beliebigkeit des anything goes ist daskonstituierende Moment selbst, jene Leere, die jeder nochso oberflächliche Computerbenutzer auf die eine oderandere Art und Weise erfährt (und sei es, dass er fas-

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sungslos vor seinem Gerät steht und feststellen muss, dasser gerade die Arbeit von Stunden, Tagen oder Monatengelöscht hat, unwiderruflich). Denn gerade darin, in derLeere des Systems, liegt die enorme Leistungsfähigkeitdes Computers und der Grund dafür, dass er als multipleMaschine, als Steuerungsinstrument für die verschieden-sten Arbeiten und Prozesse dienen kann. Die Transfor-mation zur Ziffer, zum reinen Zeichen erlaubt den Um-gang mit den verschiedensten Codes, mit Sprache, Bil-dern und Tönen - und darüber hinaus ermöglicht sieBearbeitungsprozeduren, die sich, prinzipiell zumindest,nicht um die optische, akustische oder semantische Ei-gengesetzlichkeit des Gegenstandes zu bekümmern ha-ben, sondern virtuos und gänzlich formal mit ihm umge-hen können, eben so, als hätten sie es mit Zahlen zu tun,mit reinen und abstrakten Zeichen.

Aber jene Transformation, wie sie das digitalisierteZeichen erfährt, macht auch nicht vor dem Bearbeitungs-mittel, dem jeweiligen Programm oder der Program-miersprache halt. Auch sie (insofern sie nichts anderessind als Codierungen jener Maschinensprache, welcheunmittelbar mit dem Prozessor kommuniziert) sind be-liebig zu bearbeiten, fakultativ, jederzeit erweiterbar undreversibel — und so steht dem Benutzer eines Compu-ters nicht nur die Wahl einer Programmiersprache zuGebot, sondern ebenso die Möglichkeit, diese nach Gut-dünken zu erweitern, ihre Syntax und ihre Semantik mit-oder umzugestalten. Und eben das ist die Leere des Com-puters: die vollkommene Reversibilität und der Umstand,dass alles, was geschieht, nur Konvention und Verabre-dung ist — und dass alles genausogut ganz anders seinkönnte.

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Aber wo alles zur Disposition steht, erfasst das anythinggoes auch ein wesentliches Charakteristikum der Spra-che selbst: nämlich das der Allgemeinverbindlichkeit, oderin der Sprache der Soziologen und Linguisten: der Inter-subjektivität. Die befreite Sprache, der von der Allgemein-verbindlichkeit befreite Code enthält zugleich auch ihreAuflösung in sich bereit — und tatsächlich zeigt sich dieserZusammenhang wohl nirgends deutlicher als in der Exi-stenz der Computerviren, jener kinderleicht zu schreiben-den Virenprogramme, deren außerordentliche, unbere-chenbare Subversivität darin besteht, dass jedes beliebi-ge Wort, jedes beliebige Zeichen als das Codewort pro-grammiert werden kann, welches die Zerstörung desSystems auslöst. Sagen wir »Bitte« — und alles brichtzusammen.

Die Revolution des Digitalen ist ein Schwund an Wi-derstand, an Reibung mit ihrem Stoff. Das Knacken desPlattenspielers, das Knittern des Papiers, die Trägheit desUntergrundes verschwindet. Das Zeichen erhebt sich überder absoluten Stille. Rauschfrei und pur. Dort, wo beimCD-Player eine Pause ist, klafft plötzlich ein Loch, öff-net sich dem Gehör die Empfindung einer vollkomme-nen Abwesenheit, eines geradezu schwindelerregendenNichts - und wirklich, dort ist nichts, ist nichts als Leere,jene gänzlich unwirkliche Lautlosigkeit, wie sie in derNatur sich niemals mitteilt und wie sie nur in der Über-windung des Stofflichen möglich ist. Die Digitalisierungeines Klangs bedeutet tatsächlich nicht eine Perfektio-nierung des Trägermaterials, sondern genaugenommenseine Überwindung.

Immer wieder einmal, beim Durchblättern der ein-schlägigen Computerzeitschriften, passiert es, dass man

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über einen kurzen Aufsatz stolpert, der dem Unein-geweihten mindestens ebenso fremd und unverständlichsein muss wie der Jargon, der in solcherlei Zeitschriftenherrscht. Dort, wo ansonsten allein technische Fragenzur Erörterung anstehen, ausgerechnet dort also geschiehtes, dass irgendein Computeranwender von einer Odys-see in ein anderes System berichtet, und unversehens läuftihm seine Sprache davon und wird zur Sprache der My-stik, zum ekstatischen Gesang, dem Wunsch, das Gewölbedes Diesseits zu durchstoßen und jenseits, im Ganzen,aufzugehen. Und tatsächlich sind die modernen Kommuni-kationsnetze allein jenen mittelalterlichen Kathedralenvergleichbar, die, über Generationen hinweg, Denkmä-ler des Zusammenhangs und einer Weltordnung abge-geben haben. Und ebenso wie die Erbauer einer solchenKathedrale vor dem Werk gesichtslos wurden, nicht mehrSchöpfer, sondern bloß Ausführende eines ihnen über-tragenen Plans, wird auch der einzelne Programmierer,der im Datenweltverbund seine Signatur hinterlässt, ge-sichtslos, ein Nichts vor einer riesenhaften, übermensch-lichen Architektur. Und eben das ist es, was der namen-lose Schreiber im System, im universalen Informations-netz gewahrt. Unio mystica. Digitale Metaphysik.

Sieht man von derlei entrückten Vorstellungen ein-mal ab und kapriziert sich, ganz Musikliebhaber und kri-tischer Konsument, auf den Klang eines CD-Players, somag man — und mit einiger Berechtigung — den Stand-punkt einnehmen, dass allein der digital performierteKlang eine wahrhaft authentische Wiedergabe er-möglicht, welche bislang, durch die Unzulänglichkeit desanalogen Übertragungsmaterials nur verhindert wordenist. Und wirklich scheint jener Traum, wie er den her-

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kömmlichen Reproduktionstechniken stets inhärent ge-wesen ist, nämlich ein vollkommenes Abbild der Wirk-lichkeit zu schaffen, mit der digitalen Wiedergabe ein-gelöst zu sein. Tatsächlich jedoch unterschlägt dieseVorstellung die strukturelle Transformation, die das Seg-ment von Wirklichkeit mit seiner Digitalisierung erfährt.Das dechiffrierte Zeichen, in die binäre Logik einesComputers überführt, ist, obzwar ein genaues Duplikat,doch ein anderes, nämlich die Nullnummer einer Serie,welche mit anderen Begriffen als mit denen des Origi-nals und des Duplikats operiert. Deutlich wird diesinbesondere in der Technik der Musikcomputer, der so-genannten Sampler, die es erlauben, jedes beliebige Ge-räusch, jede Stimme, jedes Musikstück zu digitaler In-formation zu zerlegen und der weiteren Bearbeitung zu-zuführen (was im Bereich der Pop-Musik beispielsweise,wo man in Fragen geistigen Eigentums nicht gar so zim-perlich ist, zu einer Flut von Urheberrechtsprozessengeführt hat, welche den Begriff des herkömmlichen Ur-heberrechts nicht nur aufs äußerste strapazieren, son-dern schlicht obsolet erscheinen lassen).

Das Geräusch einer zuschlagenden Tür beispielswei-se, in einen Sampler eingespeist und dort zu digitaler In-formation zerlegt (wo es jederzeit abgerufen werden kann,als ein Zuschlagen der Tür), verweist zwar noch immerauf das Abbild, gleichwohl ist dieser Fall, der l:l-Refe-renz, im Grunde ein Sonderfall. Denn insofern dieDigitalisierung eines Klanges seine vollkommene Auflö-sung zu einem Zahlencode meint, heißt dies, dass es nichtsanderes als die Rohmasse darstellt, welche mittels be-stimmter Prozeduren neu bearbeitet werden kann, einerbestimmten Anzahl von Buchstaben vergleichbar, die,

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anagrammatisch, zu neuen Wörtern zusammengesetztwerden kann. Praktisch betrachtet heißt dies, dass jedesGeräusch, das einer zuschlagenden Tür ebenso wie einVogelgezwitscher, auf eine Tastatur gelegt, in allen Ton-lagen abrufbar ist, dass es weiterhin, wie eine beliebigeZeichenkette, vorwärts und rückwärts gelesen werdenund dass es schließlich als Steuerinstrument für ein an-deres Signal benutzt, verkettet und in einen kyberneti-schen Regelkreislauf eingebunden werden kann.Kurzum, dass es, ein Stück entschlüsselter Natur, belie-big zu bearbeiten ist. (Es wäre durchaus irrig, anzuneh-men, dass die Derivate eines solchen Klanges den syn-thetischen Klängen der Elektronik verwandt wären. Tat-sächlich folgen sie, in ihrer Beschaffenheit, dem, was mangemeinhin als natürlich zu bezeichnen gewohnt ist, unddemgemäß sollte man vielleicht eher von Mutanten odermutagenen Klängen sprechen.) Das Naturgeräusch, de-chiffriert, verwandelt sich zu einem puren Geräusch, zueinem Zeichen, zu einer Note in einem Stück Zukunfts-musik. — Hier, in der vollkommenen Ablösung des Zei-chens vom Bezeichneten, wird sichtbar, dass die Digitali-sierung keine Spiegelung, sondern im Grunde eine Trans-position auf eine neue semiotische Ebene darstellt, derÜbergang zu einer Realität, die nicht eigentlich synthe-tisch genannt werden kann, sondern, als eine Art Über-bietung des Bestehenden, als Hyperrealismus bezeich-net werden sollte.

Im Gegensatz zu den herkömmlichen Reproduktions-techniken, die nichts anderes bedeutet haben als diemassenhafte Vervielfältigung eines Urbildes, löst sich diedigitale Reproduktion vom Dualismus des Ur- und Ab-bildes, vom Spannungsverhältnis zwischen Original und

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Kopie. Jener Verlust des Auratischen, den Benjamin imAufkommen der Reproduktionstechniken konstatiert hat,findet hier, auf einer höheren Ebene allerdings, seine kon-sequente Fortschreibung. Nicht mehr die Aura des ver-vielfältigten und sich darin dissimilierenden Objektes wirdzerstört, sondern tatsächlich sein Begriff von Identität.Der Klang, entziffert, stellt nichts anderes mehr dar alsdie Rohmasse seiner Variationen, einem Genpool ver-gleichbar, aus dem Filiationen, Abwandlungen und Va-riationen hervorgehen.

Dechiffriert, in den Computer eingespeist, verliert sichdie bestimmte Form eines Objektes, seine unverwechsel-bare Kontur - und tatsächlich, wird es nicht ausdrück-lich als Original markiert, wird es in der Reihe seinerClons und Mutanten kaum mehr als solches erkennbarsein. In der Serialisierung verschwindet das Eine, undstatt seiner schält sich, in seinen Abstufungen, Variatio-nen und Differenzen, sein Bauplan hervor, jenes Modell,das all seinen Erscheinungsformen zugrunde liegt. Mitdem Schwund des Identischen kommt somit die tiefer-liegende Struktur der Programme, Systeme und Regel-kreisläufe zum Vorschein, und auch: die Idee derProgrammierbarkeit.

Der entscheidende Gedanke, welcher der Praxis desDigitalen innewohnt, ist die Vorstellung, dass jedes Ob-jekt, morphologisch betrachtet, nichts anderes darstelltals die Nullnummer seiner Variationen, die Ausgangs-konfiguration seiner Serialisierbarkeit. Also wieder ein-mal anything goes, nur dass hier weniger die schnoddrigcoole Geste im Vordergrund steht als die Erwägung, dassdas, was ist, nur zufällige Erscheinungsform, nur eine

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Möglichkeit unter anderen ist. Das Segment von Wirk-lichkeit, ins Reich der Zeichen überführt, verliert gleich-sam sein Vorrecht, — im Gegensatz zu den Simulakrades Kulturprozesses —, Ausweis und Zeichen des Le-bens zu sein. Hier, wo die Realität zur Zeichenmasseübergeht, wird eklatant spürbar, dass das Pathos desAuthentischen, welches die Moderne und die Entwick-lung der technischen Reproduktionsmittel begleitet hat,von der eigenen Entwicklung überholt und schließlichganz aufgehoben wird — und wirklich, wo das vermeint-lich Authentische der freien Gestaltung überantwortetwird, wo die Spiegelung der Realität immer schon einengenuin gestalterischen Akt (und damit ihre Aufhebung)bereithält, ist es sinnlos, Begriffe wie den der Authenti-zität und des Originaltons zu verwenden.

Jene Illusion, dass eine technische Apparatur eine »ob-jektive« Spiegelung zu leisten vermöchte, wird durch dieFortentwicklung des technischen Apparats selbst aufge-hoben — und im Grunde, dieser Illusion entkleidet, ver-wandelt sich die Welt wieder zu jener rätselhaften wei-ßen Fläche zurück, die allein die Sinneswahrnehmungdes Betrachters zu entschlüsseln vermag. Hier findet, nichtvon ungefähr, eine Aufwertung der ästhetischen Perspek-tive statt — und tatsächlich (zumindest ist dies im Be-reich der audiovisuellen Künste spürbar) bedeuten dieneuen technischen Möglichkeiten eine Freisetzung bis-lang noch kaum erfasster ästhetischer Möglichkeiten, umso mehr, als sie dem Künstler Werkzeuge in die Handgeben, die es ihm erlauben, nicht bloß einen Abklatschvon Wirklichkeit herzustellen, sondern ganz und gar sou-verän, mit dem Bestehenden spielend, seinen Möglich-keitssinn zu befriedigen.

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Jener »offene Musikbegriff«, wie ihn John Cage in densechziger Jahren postuliert hat, nämlich die Vorstellung,dass virtuell jedes Geräusch, jeder Klang, zum Bestand-teil eines musikalischen (also geradezu paradigmatisch:zeichenhaften) Werkes werden könnte, ist mit der Deco-dierung der Klänge längst zu einer technischen Realitätund Selbstverständlichkeit geworden, welche es demKomponisten ermöglicht, jedes beliebige Geräusch zueinem Instrument zu verwandeln. Jene Demiurgen-sehnsucht, wie sie wohl jeder Künstler verspürt, gewinnthier auf eine kaum für möglich gehaltene Art und WeiseRaum, vor allem aber entschlägt sie sich, insofern derNaturprozess zum Teil des Werkes selbst werden kann,jenes Defizits, wie es aller Mimesis stets inhärent war:eine bloße Nachahmung von Naturprozessen zu sein.Nicht umsonst bedeutet die Auseinandersetzung mitComputern, auf einer allerdings doch sehr entrücktenEbene, eine besondere Beschäftigung mit Prozessen, wiesie der Natur eigentümlich sind: mit kybernetischen Struk-turen und Regelkreisläufen, mit einem Begriff von orga-nischem Wachstum und Evolution — nur dass diese Aus-einandersetzung im symbolischen Raum, nämlich in derAuseinandersetzung mit der Zeichennatur stattfindet. DieEntzifferung der Welt fällt zusammen mit ihrer Neuer-schaffung, ihrer Abwandlung, ihrer vermeintlichen Perfek-tionierung. Im Grunde ist diese Demiurgensehnsuchtdurchaus nichts Neues, sondern vielleicht immer schonein wesentlicher Antrieb, wenn nicht gar der Ursprungder Kunst gewesen - und gewiss ist ein solcher Gedanke,in der Kunst gleichsam die symbolische Bewältigung je-ner Ersten Schmach zu sehen, sich nicht selbst geschaf-fen zu haben, nicht ganz von der Hand zu weisen. Je-

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doch findet, was im Bereich des Symbolischen immerschon geheime Antriebskraft war, nun in der Genetik eineEntsprechung, die es durchaus nicht beim bloß symboli-schen Vollzug und bei der Mimesis belässt, sondern dietatsächlich und ohne viel Federlesens demiurgisch tätigwird. Die Freiheit der Kunst, als des bloß Symbolischen,wird zur Freiheit der Wissenschaft, all das, was gedachtwerden kann, auch zu tun. Die Entzifferung des geneti-schen Codes setzt den Wissenschaftler in die Position desDemiurgen, und es ist durchaus anzunehmen, dass er sichnicht damit begnügt, dem Naturprozess symbolisch Tri-but zu zollen, sondern es darauf anlegt, ihn eigenmäch-tig zu verändern. Und möglicherweise ist das, was mankulturelle Digitalisierung nennen könnte, so etwas wieein Vorschein, eine Vorübung dessen, was mit einigerVerzögerung im Bereich der Natur selbst geschehen wird.Dass dem Hyperrealismus eine Hypernatur, ein neuzusammenbuchstabiertes Bestiarium nachfolgen wird;dass den Bildermutanten, den geclonten Klängen, denserialisierten Objekten ebensolche Lebewesen nachfol-gen werden; und dass das, was im Bereich der Kunstund Philosophie längst ein abgestandener Gemeinplatzist, nämlich dass das Individuum tot und nichts als eineklapprige Maschine des letzten, bürgerlichen Jahrhun-derts ist, aus dem bloß Gedachten hervortritt und Ge-stalt annimmt - nicht als Zerstörung des Einzelnen selbst,sondern in Gestalt seines Clons, seiner korrigierten, leichtumprogrammierten und verbesserten Version. Der, deraus der Arbeit am Erbmaterial hervorgehen wird, ist nichtmehr das Urbild, sondern bereits Teil einer Serie, all je-ner Entwürfe, aus der man ihn, als die beste Lösung,ausgewählt hat.