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Doris Schaeffer | Kerstin Hämel | Michael Ewers€¦ · Folglich zeigen sich auch bei der Verteilung der Gesund-heitsprofessionen Unterschiede zwischen prosperierenden, wohlhabenden

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Doris Schaeffer | Kerstin Hämel | Michael Ewers Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen

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Gesundheitsforschung Herausgegeben von Thomas Gerlinger | Petra Kolip | Oliver Razum | Doris Schaeffer

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Doris Schaeffer | Kerstin Hämel | Michael Ewers

Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen Anregungen aus Finnland und Kanada

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Die Autorinnen/der Autor

Doris Schaeffer, Jg. 1953, Dr. phil., Dipl. Päd., seit 1997 Professorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld sowie Direktorin des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW); Arbeitsschwerpunkte: Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf, patienten- und nutzerorientierte Versorgung, Patienteninformation, -beratung und -edukation, Gesundheitserhaltung und -versorgung im Alter.

Kerstin Hämel, Jg. 1978, Dr. rer. soc., Dipl. oec. troph., ist Professorin für Gesundheitswissenschaften mit Schwerpunkt pflegerische Versorgungs- forschung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheit und Pflege im Alter, regional differenzierte Versorgungsgestaltung, Primärversorgungskonzepte im internationalen Vergleich.

Michael Ewers, Jg. 1964, Dr. PH, MPH, ist Professor für Gesundheitswissen- schaften und ihre Didaktik sowie Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die ambulante Schwerkrankenversorgung, Strategien der Fall- und Versorgungssteuerung, edukative Aufgaben der Gesundheitsprofessionen sowie deren Qualifizierung und Professionalisierung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2015 Beltz Juventa · Weinheim und Basel www.beltz.de · www.juventa.de

ISBN 978-3-7799-

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Inhalt

Einleitung

1. Gesundheit und Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen . . . . . . 9

2. Drei Länder im Vergleich: Deutschland, Finnland, Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Neue Lösungen für die Primärversorgung

3. Family Health Teams: Primärversorgung im ländlichen Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

4. Nurse Practitioner-Led Clinics: Primärversorgung durch Pflegende in Kanada . . . . . 57

5. Gesundheitskioske: niederschwellige Primärversorgung in Finnland . . . . . . . . . . . . . . 75

6. Eine mobile Klinik für den ländlichen Raum in Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Integrierte Gesundheitszentren

7. Kommunale Gesundheitszentren in Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

8. Community Health Centres in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

9. Local Health Hubs: räumlich integrierte Versorgung in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Verbesserungen für die Krankenhausversorgung

10. Vernetzung ländlicher Kleinkrankenhäuser in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

11. Home First: Überleitungsmanagement in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Neuorganisation der häuslichen Versorgung

12. Community Care Access Centres: Zugang zur Langzeitversorgung in Kanada . . . . . . 189

13. Häusliche Pflege und Versorgung in Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Ausblick

14. Anregungen für die deutsche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Anhang

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

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Einleitung

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1. Gesundheit und Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen

Die Sicherstellung einer bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung ist eine Kernaufgabe der Gesundheits- und Sozialpolitik. Im Zuge des weltweit voranschreitenden demografischen und epidemiologischen Wandels wird sie verstärkt daran zu messen sein, ob es gelingt, die Versor gung an die gewandelten gesundheitlichen Bedarfslagen anzupassen und die Gesundheitschancen für alle Bevölkerungsgruppen und in allen Lebensphasen zu verbessern. Ebenso wichtig ist, allen Bürgern1 eines Landes unabhängig von ihrem Wohnort und der Region, in der sie leben, jeder-zeit ungehinderten Zugang zum Versorgungssystem zu eröffnen. Denn das ist heute keineswegs überall garantiert: Vor allem in strukturschwachen ländlichen Regionen besteht oft nur ein aus-gedünntes Versorgungsangebot.

Wie die Versorgung in ländlichen Regionen angesichts solcher Bedingungen zu gestalten ist, wird international seit vielen Jahren intensiv diskutiert – auch in der Forschung. Viele der vor-liegenden Studien zum Thema „Rural Health Care“ verweisen auf den engen Zusammenhang zwischen Region und Wohnort sowie Gesundheits- und Versorgungssituation („place matters to health“, Williams/Kulig 2012). Besonders in weitläufigen Flächenstaaten mit abgelegenen ländlichen Regionen wie den USA, Kanada oder Australien hat die ländliche Bevölkerung im Durchschnitt einen schlechteren Gesundheitsstatus als die Bevölkerung in städtischen Regionen (Blankenau 2010; CIHI 2006; DesMeules et al. 2012; Hartley 2004).

Auch die Verteilung der Versorgung ist in vielen Ländern durch große regionale Unterschiede geprägt. Auf dem Land sind Versorgungsangebote weniger dicht verteilt, weniger ausdiffe-renziert, schlechter erreichbar und häufig auch weniger gut entwickelt als in den städtischen Regionen (exemplarisch Huber et al. 2008; Scheil-Adlung/Kuhl 2011). Seit Jahren ist zudem ein Trend zur Zentralisierung und Spezialisierung der Versorgung zu beobachten, dessen Aus-wirkungen auf die Situation der ländlichen Bevölkerung oft unbeachtet bleiben (Halseth/Rhyser 2006; Ricketts 2000; WHO 2008). Hinzu kommt, dass der auch international zu beobachtende Mangel an Ärzten, Pflegenden und anderen Gesundheitsprofessionen sich häufig zuerst in ländlichen Regionen bemerkbar macht. Oft ist er dort sogar stärker ausgeprägt als in urbanen Zentren (exemplarisch Bushy/Winters 2013; Halseth/Ryser 2006: 74; Man thorpe/Livsey 2009: 15; Pitblado 2012; Ricketts 2005). Folglich zeigen sich auch bei der Verteilung der Ge sund-heitsprofessionen Unterschiede zwischen prosperierenden, wohlhabenden Regionen und abge-legenen, strukturschwachen Regionen.2 Erforderlich sind daher Versorgungskonzepte, die den spezifischen Herausforderungen in ländlichen Regionen Rechnung tragen.

1 Auch wenn im Folgenden aus Gründen einer besseren Lesbarkeit ausschließlich maskuline Formen verwen-det werden, sind damit stets Männer wie Frauen gleichermaßen gemeint.

2 Allerdings sollte trotz des Stadt-Land-Gefälles nicht übersehen werden, dass auch zwischen den ländlichen Regionen Unterschiede existieren (Manthorpe et al. 2008, Eberhardt/Pamuk 2004; Lavergne/Kephart 2012;

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10 Einleitung

In vielen Ländern ist in Reaktion auf sich wandelnde Bedarfslagen der ländlichen Bevöl-kerung, heterogene Lebensumstände und ungünstige infrastrukturelle Gegebenheiten die länd-liche Versorgungsgestaltung seit Längerem auf der Agenda von Politik und Wissenschaft. In Deutschland steht die Auseinandersetzung mit diesem Thema noch am Anfang. Das dürfte u. a. daran liegen, dass die Siedlungsstruktur hierzulande vergleichsweise dicht und die Infrastruktur insgesamt gut entwickelt ist. Zugleich stand längere Zeit die Angleichung der Lebensverhältnisse und der Versorgung in den ostdeutschen Bundesländern auf Westniveau im Zentrum der Aufmerksamkeit. Insgesamt war die Diskussion vor allem darauf ausgerichtet, allgemeine Struk turdefizite auszugleichen und die Versorgung an die Herausforderungen anzupassen, die die demografische Alterung und das veränderte Morbiditätsspektrum mit sich bringen. Eine Sensibilität für regionale Disparitäten fehlte weitgehend. Das beginnt sich allmählich zu ändern, denn auch hierzulande werden vermehrt Bedarfs- und Versorgungsunterschiede zwischen ur-banen und ländlichen Regionen sichtbar (Hämel et al. 2013). Betrachtet man die Situation in Deutschland, so lässt sich folgendes Bild zeichnen:• Ursächlich für regionale Bedarfsdifferenzen ist vor allem die regional unterschiedlich ver-

laufende demografische Alterung. Schon heute ist der Anteil älterer Menschen in ländlichen Regionen leicht erhöht. Beispielsweise waren im Jahr 2010 insgesamt 21,4 % der Einwohner im ländlichen Raum 65 Jahre und älter. In städtischen Regionen lag ihr Anteil mit 20,2 % et-was darunter. Unterschiede zeigen sich gegenwärtig vor allem in Ostdeutschland. Sie werden künftig auch die westdeutschen Bundesländer erfassen, und insgesamt wird der Stadt-Land-Unterschied anwachsen. Für 2030 wird der Anteil der 65-jährigen und älteren Bevölkerung auf dem Land mit 30,7 % prognostiziert, in städtischen Regionen mit 26,6 % (BBSR 2012).

• Im Zuge des demografischen Wandels wird ein Rückgang der Bevölkerungszahl in Deutsch-land von etwa 82 Millionen im Jahr 2008 auf rund 65 Millionen bis zum Jahr 2060 prog-nostiziert (Statistisches Bundesamt 2009). Der Schrumpfungsprozess wird ebenfalls nicht gleichförmig verlaufen. Einige Regionen können weiterhin einen Bevölkerungszuwachs er-warten. Dazu gehören vor allem die Metropolen und urbanen Zentren, in Teilen aber auch ökonomisch leistungskräftige suburbane und ländlich geprägte Gebiete, beispielsweise in den südwestlichen Landesteilen Deutschlands. In der Mehrzahl ländlicher Regionen steht der steigenden Zahl älterer Menschen jedoch eine Abwanderung junger und erwerbstätiger Bevölkerungsgruppen gegenüber (Milbert et al. 2013).

• In den gegenwärtigen Bevölkerungsprognosen werden regionale Unterschiede der Alters-struktur und die drohende Kluft zwischen Stadt und Land vermutlich unterschätzt. Denn ist die Abwanderung einmal in Gang gesetzt, droht eine Abwärtsspirale einzusetzen, die Infrastrukturabbau und im Zuge dessen weiteren Bevölkerungsschwund nach sich zieht: Ökonomische Probleme, demografischer Wandel und Abwanderung wirken sich auf viele

Ricketts 2000; Smith et al. 2008). Vor al lem in strukturschwachen Regionen, in denen auch vermehrt sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen leben, kumulieren Gesundheitsprobleme, soziale Probleme und ein erhöhter Versorgungsbedarf mit Abwanderungstendenzen und Infrastrukturabbau.

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1. Gesundheit und Versorgung in strukturschwachen und ländlichen Regionen 11

Bereiche in den Regionen und Kommunen aus. Sie schaffen Lücken im Öffentlichen Per-sonen nahverkehr (ÖPNV), führen zu Leerständen von Wohn- und Geschäftsräumen, zur Schließung von Kitas, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen und stellen generell für selbstverständlich gehaltene Einrichtungen – etwa im Bereich gesellschaftlicher Teilhabe − in Frage. Diese „demografische De-Infrastrukturalisierung“ (Kersten et al. 2012) führt zu einem weiteren Attraktivitätsverlust der Regionen – auch für die Gesundheitsprofessionen sich dort niederzulassen und beruflich tätig zu werden. Für die Sicherstellung einer bedarfs-gerechten Versorgung und Pflege wirft dies etliche Herausforderungen auf.

• Hinzu kommt, dass Unterschiede der Morbiditäts- und Pflegelast zwischen den Regionen nicht allein auf Unterschiede in der Altersstruktur zurückzuführen sind, sondern mit dem sozio ökonomischen Status der regionalen Bevölkerung schwanken. Gesund heitschancen sind auch bei alten und hochaltrigen Menschen von Bildung, Schicht, Einkommen etc. ab-hängig (Kümpers 2008; Lampert/Kroll 2014), und diese sind regional ungleich verteilt (ex. Voigt länder et al. 2011).

• Größerer Beachtung bedürfen zudem Veränderungen der familialen und sozialen Unter-stützungspotenziale in ländlichen Regionen. Die These, dass familiale und nachbarschaftli-che Unterstützungsleistungen auf dem Land besonders hoch sind, wird seit Langem hinter-fragt (ex. Engel 2001: 151ff.). Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass dort durchaus bis heute ein höheres informelles Hilfepotenzial in der Pflege existiert.3 So werden nach einer – aller-dings Mitte der 2000er-Jahre durchgeführten – Studie von Blinkert und Klie pflegebedürf-tige Menschen in ländlichen Regionen häufiger und intensiver von Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn unterstützt als Pflegebedürftige in städtischen Regionen (Blinkert 2008; Blinkert/Klie 2006). Andere Autoren betonen, dass infolge von Singularisierung, Wandel der Geschlechterrollen und Wegzug jüngerer Generationen ganze Nachbarschaften altern und traditionelle Unterstützungsstrukturen in den Dörfern und Kleinstädten brüchi-ger werden (ex. Sternberg 2010). Die Übernahme von Pflegeaufgaben durch Familien-mitglieder ist oft erschwert, weil größere räumliche Distanzen zu überwinden sind (SVR 2014). Unbestritten ist, dass angesichts der beschriebenen Dynamiken das informelle Pflege- und Unterstützungspotential auf dem Land sinkt (Rothgang et al. 2012: 16) und sich der Fachkräftemangel in der Pflege künftig vor allem hier ausweiten wird (ex. Fuchs 2013; Lauxen/Bieräugel 2013; SVR 2014).

Angesichts dieser Ausgangsbedingungen ist es auch in Deutschland wichtig, zu regional differen-zierten Versorgungskonzepten zu gelangen. Handlungsbedarf besteht vor allem in ländlichen und strukturschwachen Regionen, um dort drohende Unterversorgungserscheinungen zu verhindern und die Entwicklung und Erprobung innovativer, regional passgenauer Versorgungskonzepte anzustoßen. Dabei ist allerdings problematisch, dass hierzulande – so eine Analyse der OECD –

3 Generell fehlen aktuelle Studien über die Versorgungssituation hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in ländlichen Regionen und ebenso über die familialen Solidar- und Unterstützungspotenziale.

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12 Einleitung

bislang kaum Erfahrungen mit einer spezifisch auf ländliche Bedingungen ausgerichteten Ver-sorgungs- und Infrastrukturgestaltung gesammelt wurden (OECD 2007). Stattdessen wurde zumeist der „Anschluss“ ländlicher Regionen an den allgemeinen Standard favorisiert und zu diesem Zweck auf Ausgleichszahlungen für den Aufbau flächendeckend einheitlicher Strukturen gesetzt – ein nicht unbedingt immer zielführendes Prinzip, wie sich rückblickend zeigt.

Vor dem Hintergrund der angespannten Situation öffentlicher und kommunaler Haushalte, aber auch in Anbetracht erschwerter, durch Schrumpfung und demografische Alterung begrenz-ter Hand lungsspielräume wird inzwischen von sozial-, gesundheits- und kommunalpolitischer Seite intensiv über alternative Lösungsansätze diskutiert (ex. Küpper 2011). Dabei steht meist die Frage im Mittelpunkt, wie die im Grundgesetz der Bundesrepublik enthaltene Forderung nach „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ (Artikel 71 Abs. 2 GG) unter heutigen Bedingungen zu verstehen und auszugestalten ist (Barlösius 2006; Barlösius/Spohr 2014). Zuweilen wird in diesen Diskussionen auf vermeintliche Sachzwänge verwiesen, die allein den Ausstieg aus ga-rantierten Leistungen der Daseinsvorsorge attraktiv erscheinen lassen. Selbst ein „geordneter Rückzug aus der Fläche“ wird in Erwägung gezogen – eine Entwicklung, von der insbesondere in Ostdeutschland ganze Regionen betroffen wären (ex. Eichhorn/Oertel 2011; Küpper 2011).

Geht es aber darum, Visionen einer bedarfsgerechten ländlichen Gesundheits- und Sozial-versorgung auf dem Land zu entwickeln und dabei neue und innovative Wege zu be schreiten, herrscht in Deutschland noch weitgehend Ratlosigkeit. Favorisiert werden Maß nahmen wie die Schaffung finanzieller Anreize, um Ärzte zu bewegen, sich auf dem Land niederzulassen. Ebenso sollen „neue Solidaritäten“ in bürgerschaftlicher Selbstorganisation die entstandenen Lücken in der sozialen und gesundheitlichen Infrastruktur schließen helfen. So sinnvoll diese und andere Maßnahmen sein mögen: Isoliert vorgenommen, werden sie keine Wende einleiten.

Um in ländlichen Regionen eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung sicherstellen zu können, sind innovative Versorgungskonzepte und -modelle mit einer Bündelung der vor-handenen Ressourcen und neuen Kooperationsformen und Aufgabenzuschnitten zwischen den Gesundheitsprofessionen erforderlich. Allmählich beginnt diese Erkenntnis sich durchzu-setzen, ebenso die, dass diese Modelle über einzelne Sektoren und Versorgungseinrichtungen hinausreichen und regionalen Unterschieden mehr Aufmerksamkeit widmen müssen (SVR 2009, 2014). Doch noch ist weitgehend unklar, wie neue Versorgungskonzepte und -modelle für ländliche Regionen in Deutschland aussehen sollten. Daher ist es sinnvoll, international nach Anregungen Ausschau zu halten und dabei besonders auf Länder zu blicken, die die ländliche Versorgungsgestaltung schon früher in den Fokus gerückt und entsprechende Erfahrungen ge-sammelt haben. Dazu gehören auch Finnland und Kanada, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen.

Finnland und Kanada unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihrer Gesundheitssysteme, Wohl-fahrtskultur und Siedlungsstruktur von Deutschland, doch teilen sie die Herausforderungen, die der demografische und epidemiologische Wandel mit sich bringt (vgl. Kap. 2): In allen drei Ländern und dort besonders in ländlichen strukturschwachen Regionen nimmt die Zahl alter und chronisch kranker Menschen mit meist komplexen sozialen und gesundheitlichen

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Problemlagen absehbar zu, während durch Wegzug, Zentralisierung und Spezialisierung Ressourcen verloren gehen und somit die Versorgung zunehmend fragil und lückenhaft wird. Welche Antworten seitens des Versorgungssystems in Finnland und Kanada gesucht wurden, um dennoch bedarfsgerechte Strukturen in ländlichen und strukturschwachen Regionen sicher-zustellen, ist Thema dieses Buches. In ihm werden konkrete Versorgungskonzepte und -modelle aus beiden Ländern dargestellt, die auch für Deutschland interessant erscheinen und vielver-sprechende Ansatzpunkte liefern.4

Methodisches Vorgehen bei der Modellauswahl und -analyse

Bevor die Konzepte und Modelle geschildert werden, soll zum besseren Verständnis kurz be-schrieben werden, wie ihre Auswahl zustande gekommen ist oder anders ausgedrückt – wie sich das methodische Vorgehen der dem Buch zugrundeliegenden Untersuchung darstellt. Es war durch eine qualitative Herangehensweise geprägt, die verschiedene Erhebungs- und Analyseschritte beinhaltete:• Ausgangsanalyse:In einem ersten Schritt erfolgte eine literaturgestützte Auseinandersetzung

mit den Ordnungsprinzipien und Strukturen beider Gesundheitssysteme, die eine spätere Einordnung der Versorgungsmodelle ermöglichen sollte. Daran anknüpfend erfolgte eine systematische Recherche und Analyse von Literatur und Dokumenten, um einen ersten Überblick über den Diskurs zur ländlichen Gesundheitsversorgung zu erhalten. Für den kanadischen Raum erwies sich dieses Vorgehen als erfolgreich, da zahlreiche englischspra-chige Publikationen wie auch Regierungsdokumente oder Projektdokumentationen einen guten Einblick in die dortige Situation ermöglichen. Für Finnland stellte sich die Situation etwas hürdenreicher dar. Vor allem Konzeptpapiere oder praxisnahe Projektbeschreibungen waren nur in der Landessprache oder nur mit größerer zeitlicher Verzögerung in Englisch zugänglich, wodurch die Auseinandersetzung mit Versorgungskonzepten und -modellen in Finnland erschwert wurde.

4 In diesem Buch werden die Ergebnisse einer von der Robert Bosch Stiftung geförderten Untersuchung „Regional differenzierte Versorgung – eine international vergleichende Analyse ländlicher Versorgungs-modelle“ dargestellt, die von 2012 bis 2014 an der Universität Bielefeld in Kooperation mit der Charité-Universitätsmedizin Berlin durchgeführt wurde. Projektbeteiligte waren Prof. Dr. Doris Schaeffer, Prof. Dr. Kerstin Hämel, Janina Kutzner – alle Universität Bielefeld – und Prof. Dr. Michael Ewers von der Charité-Univer sitätsmedizin Berlin. Wir danken Janina Kutzner, die das Forschungsprojekt als wissenschaft-liche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld unterstützt hat, für ihr Engagement und die Mitarbeit an Teilkapiteln dieses Buches. Lena Werdecker, Rabea Graf und Jonas Vorderwühlbecke haben das Projekt als wissenschaftliche Hilfskräfte in verschiedenen Arbeitsphasen unterstützt. Beeindruckt haben uns Interesse und Gastfreundschaft der finnischen und kanadischen Kooperationspartner, die uns einen umfangreichen Einblick in die Ansätze und Herausforderungen der gesundheitlichen Versorgung in ihren Ländern er-möglicht haben. Unser Dank gilt auch Dr. Claudia Everling (London/Ontario) und Beate Mattey (Lahti/Finnland), die die Entwürfe aus der Insiderperspektive kommentiert haben.

1. Gesundheit und Versorgung in strukturschwachen und ländlichen Regionen 13

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• Felderöffnung/explorativeExperteninterviews: In einem zweiten Schritt wurden in bei-den Ländern leitfadengestützte telefonische Experteninterviews durchgeführt, um Modelle und Regionen für eine vertiefende Recherche identifizieren zu können. Rekrutiert wurden in der Literatur ausgewiesene Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen (Gesundheits-, Verwaltungs- und Sozialwissenschaften, Medizin, Pflegewissenschaft, Sozialarbeit), Füh-rungs kräfte im Gesundheitswesen und Verbands- oder Standesvertreter. Die Liste der Ex-perten wurde nach einem Schneeballsystem schrittweise ergänzt. Insgesamt wurden 15 Interviews durchgeführt und mit Blick auf den nächsten Arbeitsschritt inhaltsanalytisch ausgewertet. Auf Grundlage der Experteninterviews und ergänzender eigener Recherchen wurden regionale Entscheidungsträger und Akteure in der Gesundheitsversorgung beider Länder kontaktiert, um Zugang zu konkreten Projekten zu erhalten und die Stationen für die folgenden Forschungsreisen festzulegen.

• Exkursionen: In einem dritten Schritt wurden insgesamt fünf bis zu 14 Tage dauernde Forschungsexkursionen durchgeführt, drei in Kanada und zwei in Finnland. Durch leit-fadengestützte Experteninterviews mit Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen (Verwaltung, Einrichtungsleitung, praktizierende Gesundheitsprofessionen) und Vor-Ort-Begehungen wurden Informationen über die Umsetzung regional differenzierter Ver-sorgungsmodelle gewonnen. Je nach Situation wurden dabei die Interviewleitfäden den jeweiligen Gegebenheiten angepasst und um die Erfassung relevanter Strukturdaten und Hintergrundinformationen ergänzt. In Finnland wurden letztlich Einrichtungen in sechs Kommunen der Regionen Südkarelien (Lappeenranta, Sammonlahti) und Päijät-Häme (Assikala, Hollola, Nastola, Orimattila) und in der kanadischen Provinz Ontario Modelle und Einrichtungen in den sechs LHIN-Regionen Champlain, South East, Central East, Toronto Central, Waterloo Wellington und South West in die Exkursionen einbezogen. Mit ihnen wurden bewusst solche ländliche, teils strukturschwache städtische Regionen ausgewählt, die sich von der Situation in Deutschland (Siedlungs-/Altersstruktur) nicht allzu drastisch unterscheiden. Extrem dünn besiedelte und abgelegene ländliche Räume, wie sie im Norden Finnlands und Kanadas durchaus zu finden sind, wurden hingegen aus Gründen der besseren Übertragbarkeit ausgeklammert.

• Auswertung: Die insgesamt 44 im Rahmen der Exkursionen durchgeführten und audio-technisch aufgezeichneten Experteninterviews wurden protokolliert, (teil-)transkribiert, inhaltsanalytisch ausgewertet und anschließend unter Einbezug von Literatur und wei-teren Dokumenten (z. B. Präsentationen, Jahresberichte, Broschüren, Evaluationen) zu Modell portraits verdichtet und durch Diskussionen im Projektteam und mit anderen Ex-pert en validiert.

14 Einleitung

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1. Gesundheit und Versorgung in strukturschwachen und ländlichen Regionen 15

In diesem Buch werden elf Versorgungsmodelle in Form von verdichteten Portraits dargestellt. Sie beginnen mit einer Einführung in den historischen Entstehungskontext. Anschließend werden wichtige konzeptionelle Elemente und Basisinformationen (Finanzierung, Organi-sationsstruktur, Qualitäts sicherung, Evaluation) erläutert. Dem folgen jeweils ein bis zwei Um-setzungsbeispiele. Abschließend erfolgt eine Diskussion möglicher Anregungen für die hiesige Versorgung.

Der Aufbau des Buchs stellt sich folgendermaßen dar: Die Versorgungsmodelle sind in vier thematischen Kapiteln zusammengefasst: Am Anfang stehen Modelle zur Primärversorgung, die einen niederschwelligen Erstkontakt mit dem Gesundheitssystem und zugleich eine um-fassende, wohnortnahe Grundversorgung unter den Bedingungen ländlicher Regionen sicher-stellen sollen. Hierzulande meist auf die hausärztliche Basisversorgung reduziert, überzeugen die internationalen Modelle durch ein breites, präventiv ausgerichtetes, multiprofessionelles Versorgungsangebot für alle Bevölkerungsgruppen, das durch Ressourcenbündelung, Teamarbeit und einen anderen Professionenmix gekennzeichnet ist. Während die kanadischen FamilyHealthTeams(Kap. 3) noch als eine multiprofessionelle Erweiterung klassischer Hausarztmodelle an-zusehen sind, beschreiten die NursePracititioner-LedClinics (Kap. 4) ganz neue Wege: Nicht zuletzt in Reaktion auf den Ärztemangel auf dem Land liegt dort die Primärversorgung vollstän-dig in Händen akademisch qualifizierter Pflegender. Die beiden folgenden Modelle stammen aus Finnland und machen ebenfalls die Pflege zum ersten Ansprechpartner bei gesundheitlichen Belangen. Die ursprünglich als „typisch urbanes“ Angebot gedachten und nun im ländlichen Raum erprobten Gesundheitskioske (Kap. 5) legen einen besonderen Schwerpunkt auf nieder-schwellige gesundheitsbezogene Information, Beratung und Bildung. Sie erweitern so die ge-sundheitliche Grundversorgung der Bevölkerung um Gesundheitsförderung und Prävention. Diese haben auch für die finnische Mallu-Klinik (Kap. 6) hohen Stellenwert. Deren besonderes Merkmal besteht jedoch darin, dass es sich um ein mobiles Primärversorgungsmodell handelt, das die Versorgung direkt zu der ländlichen Bevölkerung bringt und so die oft großen Distanzen überbrücken hilft. Auch bei diesem Modell werden also neue und für Deutschland in mancherlei Hinsicht anregende Wege in der Primärversorgung auf dem Land beschritten.

Im zweiten Themenblock werden integrierte,lokaleGesundheitszentren vorgestellt, die so-wohl in Finnland wie auch in Kanada bereits eine längere Tradition haben, hierzulande aber noch nicht zu finden sind. Die kommunalenGesundheitszentreninFinnland (Kap. 7) können auf eine besonders lange Entwicklungsgeschichte und flächendeckende Verbreitung blicken. Sie umfassen nicht nur ambulante und stationäre Versorgungsangebote, sondern auch ein brei-tes Spektrum an Gesundheitsprofessionen unter einem Dach, die in anderer Aufgabenteilung miteinander kooperieren als hierzulande üblich. Die regional differenzierte Ausrichtung der Gesundheitszentren und ihre starke kommunale Verankerung sind bemerkenswert. Ähnlich verhält es sich in den kanadischen CommunityHealthCentres(Kap. 8). Auch sie sind den Ideen von Alma-Ata zur umfassenden integrierten Primärversorgung verpflichtet und konzen-trieren sich dabei vor allem auf vulnerable Bevölkerungsgruppen sowie schwer zu versorgende städtische und ländliche Regionen. Bürgerbeteiligung, soziales Engagement und eine strikte

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16 Einleitung

Bezugnahme auf die Gemeinde und die dort lebenden Bevölkerungsgruppen sind kennzeich-nend für diese Versorgungseinrichtungen. Andere Akzente werden in den kanadischen LocalHealthHubs (Kap. 9) gesetzt: Campusähnlich sind verschiedene ambulante und stationäre Versorgungsangebote, soziale und sonstige Dienste um eine zentrale Einrichtung herum ange-siedelt. Durch die räumliche Integration wird die professionsübergreifende Kooperation und die Koordination des gesamten Versorgungsgeschehens gefördert.

Krankenhäuser sind ein wichtiger Bestandteil der Gesundheitsversorgung auf dem Land, zugleich aber besonders vom Strukturwandel bedroht. Der Verbesserung derKrankenhausversorgung wird somit ein eigener Themenblock gewidmet. Vorgestellt werden zwei kanadische Modelle, zunächst die VernetzungländlicherKleinkrankenhäuser (Kap. 10). Statt dem Trend zur Schließung und Konzentration zu folgen, wurde in Ontario darauf gesetzt, regionale Klein- und Kleinstkrankenhäuser zu erhalten und regionale Krankenhausverbünde zu bilden, die an die besonderen regionalen Bedingungen angepasst sind. So können sie eine abgestufte akutstatio näre Grund- und Notfallversorgung für ihre ländliche Region aufrechter-halten. Das zweite kanadische Modell HomeFirst(Kap. 11) zielt auf die Krankenhausentlassung und dabei auf die Reduktion von Schnittstellenproblemen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, die sich nicht allein in ländlichen Regionen stellen, hier aber besonders schwerwie-gend sind. Durch ein externes Überleitungsmanagement werden stationäre Aufenthalte so kurz wie möglich gehalten und erfolgt eine nahtlose Überleitung in die häusliche Versorgung.

Der Neuorganisation der häuslichen Versorgung ist der letzte Themenblock gewidmet, denn sie ist wesentlicher Baustein einer ländlichen Versorgung, aber aufgrund der in vielen Ländern unzureichenden Kapazitäten und der Fragmentierung der pflegerischen Langzeitversorgung vor besondere Herausforderungen gestellt. In Ontario sind die CommunityCareAccessCentres (Kap. 12) ein Modell dafür, wie Zugangsprobleme zur (ambulanten und stationären) pflegeri-schen Langzeitversorgung überwunden und bestehende Koordinationsherausforderungen be-wältigt werden können. Das Aufgabenprofil dieser Einrichtungen bietet interessante Anregungen für die hiesige Debatte über Case Managementkonzepte und Informations-, Anlauf- und Ver-mittlungsstellen für chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen jeden Alters. Schließlich werden Entwicklungen in der häuslichenPflegeundVersorgunginFinnland (Kap. 13) und die darin erkennbaren Bemühungen um eine bedarfsgerechte Ausdifferenzierung der ambulanten Pflege vorgestellt. Dabei werden interessante und modellhafte Wege beschritten, um den meist komplexen Bedarfs- und Problemlagen in der häuslichen Pflege auch angesichts der schwierigen Bedingungen auf dem Land gerecht werden zu können.

Abschließend werden die wichtigsten Lehren aus den einzelnen Modellen zusammenfassend diskutiert (Kap. 14). Dabei werden Anschlussstellen und Anregungen herausgearbeitet, wie auch in Deutschland unter den Bedingungen des demografischen, epidemiologischen und ge-sellschaftlichen Wandels die Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen weiter-entwickelt werden kann.

Sicherlich hätten weitere Modelle aufgegriffen und andere Versorgungsbereiche in den Blick genommen werden können – so beispielsweise die stationäre pflegerische Langzeitversorgung

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1. Gesundheit und Versorgung in strukturschwachen und ländlichen Regionen 17

oder spezialisierte Angebote für Menschen mit besonderen Problem- und Bedarfslagen (z. B. am Lebensende). Mit der getroffenen Modellauswahl und den in den einzelnen Beiträgen zu fin-denden Resümees hoffen wir aber, in der Gesamtschau die Diskussion über eine bedarfsgerechte regional differenzierte Versorgung in Deutschland zu befördern.

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2. Drei Länder im Vergleich: Deutschland, Finnland, Kanada

Finnland und Kanada sind Flächenstaaten mit großen ländlichen und strukturschwachen Regionen, von denen sich viele, verglichen mit den Regionen Deutschlands, durch weitaus schwieri gere siedlungsstrukturelle und geografische Bedingungen auszeichnen. Doch sind alle drei Länder vor die Herausforderung gestellt, die Versorgung an gewandelte Bedarfslagen in-folge des demografischen und epidemiologischen Wandels anzupassen und hier speziell auch in „schwer zu versorgenden“ ländlichen und strukturschwachen Regionen eine bedarfsgerech-te Versorgung von Menschen mit chronischen Krankheiten, Multimorbidität und Hilfe- und Pflegebedürftigkeit auszugestalten. Im Folgenden werden die drei Länder anhand von Basis-informationen zum Gesundheitssystem, der regionalen Bevölkerungsstruktur und der regiona-len Versorgungsorganisation vergleichend vorgestellt.

Deutschland

• 80, 5 Millionen Einwohner1

• konservativ-korporatistisches Wohlfahrtsregime mit fragmentierten Zuständigkeiten im Ges und heitswesen

• Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt: 11,3 %• ca. 73 % der Gesundheitsausgaben finanziert über Sozialversicherungen• Anteil der 65-jährigen und älteren Menschen: 21 % im Jahr 2010, 33 % im Jahr 2050• hohe Siedlungsdichte: 223 Einwohner pro km2

• nur 18 % der Bevölkerung leben gemäß OECD-Klassifkation auf dem Land − auf 40 % der Landesfläche

• Stadt-Land-Unterschiede nehmen zu, sind aber noch wenig untersucht• Diskussion um Aufwertung der Rolle der Kommunen im Bereich Gesundheit und Pflege

und Stärkung der regionalen Versorgungsgestaltung

Deutschland gilt als Prototyp des konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaats (Esping-Anderson 1990). Charakteristisch ist, dass umfassende öffentliche Leistungen garantiert sind, die allerdings primär an die Beteiligung am Arbeitsmarkt gekoppelt und weniger universell gefasst sind. Im Unterschied zu den primär steuerfinanzierten Gesundheitssystemen Kanadas und Finnlands dominiert in Deutschland die Absicherung über ein hochentwickeltes Sozial-versicherungssystem. Die gesetzlichen und privaten Versicherungen (Kranken-, Pflege-,

1 Die Daten der vorangestellten Übersichten für Deutschland, Finnland und Kanada stammen aus: Statistische Ämter (Statistics Canada online; Statistics Finland online; Statistisches Bundesamt online - 4.7.2014); OECD 2011, 2013.

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22 Einleitung

Renten-, Unfallversicherung) agieren im Rahmen der Sozialgesetzgebung organisatorisch unab hängig. Dabei wird die Gesundheitsversorgung in einem pluralen Akteurssystem gesteu-ert (Kassenvielfalt, Selbstverwaltungsgremien der Leistungserbringer: GBA, KVen etc.). Hinzu übernehmen die Länder und Kommunen in Teilbereichen Planungsaufgaben, beispielsweise der Krankenhausplanung und der Pflegestrukturplanung. Während in Finnland und Kanada staatli-che bzw. kommunale Stellen eine zentrale Funktion in der Planung, Steuerung und Finanzierung innehaben, ist dies in Deutschland anders: Im korporatistischen System sind die Zuständigkeiten im deutschen Gesundheitswesen stärker fragmentiert und Abstimmungsprozesse komplex. Pluralismus gilt in Deutschland auch für die Leistungserbringer, wobei private Anbieter weit verbreitet sind und ihre Kapazitäten besonders in der Pflege, auch im Bereich der akutstatio-nären Versorgung ausgeweitet haben. Ambulant praktizierende Ärzte sind größtenteils freibe-ruflich tätig und agieren auf Einzelvergütungsbasis − erst in jüngerer Zeit gewinnt im Zuge des Fachkräftemangels auf dem Land die Option der Anstellung von Ärzten an Aufmerksamkeit, die z. B. in den finnischen kommunalen Gesundheitszentren Standard ist.

Größter Kostenträger im Gesundheitsbereich ist die gesetzliche Krankenversicherung, die etwa 57 % der Gesundheitsausgaben finanziert; rund 9 % werden von privaten Kranken- und Pflege versicherungen finanziert, etwas mehr als 7 % durch die soziale Pflegeversicherung. Die Ausgaben privater Haushalte (z. B. Arzneimittel, Zahnersatz, ambulante und stationäre Pflege) sind seit Jahren gestiegen und liegen bei knapp 16 % (Müller/Böhm 2009).

Nach der OECD-Klassifikation leben nur 18 % der Bevölkerung in ländlichen Regionen, 40 % der Landesfläche Deutschlands ist ländlich. Im Unterschied zu Finnland und Kanada gilt kei-ne dieser Regionen als abgelegen (OECD 2011). Dennoch sind auch in Deutschland typische Probleme in der ländlichen Versorgung vermehrt zu beobachten, und einige Regionen sind von Infrastrukturabbau, geringer Ausdifferenzierung des Angebots und Fachkräftemangel betroffen (SVR 2014). Die Beobachtung regionaler Unterschiede steht in Deutschland verglichen mit ande-ren Ländern noch am Anfang: Begonnen wurde, regionale Versorgungsunterschiede aufzuzeigen, allerdings liegen nur wenige Daten und Analysen zu Morbiditäts- und Mortalitätsunterschieden vor, auf deren Basis kleinräumige Entwicklungen und Stadt-Land-Unterschiede präzise dar-gestellt werden können. Die ungleichförmige Alterung der Regionen kann als Indikator für die künftig besonders stark steigende Morbiditäts- und Pflegelast in ländlichen Regionen Deutschlands herangezogen werden. Forschung und Entwicklung hier voranzutreiben ist auch daher besonders dringlich, weil Deutschland schon heute nach Japan und Italien weltweit den höchsten Anteil älterer Bevölkerung aufweist (OECD 2014).

Im Zuge der vermehrten Aufmerksamkeit für regionale Unterschiede sowie Unter- und Fehl-versorgungs erscheinungen auf dem Land hat eine Diskussion über die Bedeutung der regio-nalen Ebene in der Versorgungsgestaltung begonnen. Dabei wird zum einen eine stärkere Ver-antwortung der Kommunen in der Gesundheitsversorgung angesprochen (Burgi 2013): So hatten die Kom munen im Bereich der Krankenversorgung (SGB V) bislang eine recht untergeordnete Be deutung (Ausnahme: Krankenhausträgerschaft), doch wurden ihre Beteiligungsmöglichkeiten zuletzt mit dem Versorgungsstrukturgesetz gestärkt. Demgegenüber kam den Kommunen tradi-

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2. Drei Länder im Vergleich: Deutschland, Finnland, Kanada 23

tionell in der Pflege und mit dem Auftrag zur kommunalen Bedarfsplanung große Bedeutung zu, die sie aber mit der Umsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes verloren haben. Heute werden auch hier intensiv neue kommunale Steuerungsaufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten disku-tiert. Im Bereich der Pflege geht es also um eine Wieder- oder Neuverpflichtung der Kommunen. Zum anderen ist die Entfaltung regionaler Versorgungsstrukturgestaltung angesichts des plu-ralen Akteurssystems im deutschen Gesundheitswesen auf eine Bündelung, Integration und Abstimmung der verschiedenen Kosten- und Leistungsträger angewiesen, um eine koordinierte und bedarfsgerechte regionale Versorgungsgestaltung zu befördern.

Finnland

• 5,4 Millionen Einwohner• „nordisches Modell“ − sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime: überwiegend steuerfinan-

ziert, universeller Zugang zur Gesundheitsversorgung• Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt: 9,0 %• ca. 78 % der Gesundheitsausgaben öffentlich finanziert• Anteil der 65 Jahre und älteren Menschen: 17 % im Jahr 2010, 27 % im Jahr 2050• geringe Siedlungsdichte: 15,5 Einwohner pro km2

• dezentrale Siedlungsstruktur: 62 % der Bevölkerung leben gemäß OECD-Klassifikation auf dem Land − auf 93 % der Landesfläche; 19 % der Menschen leben in abgelegenen Regionen

• Stadt-Land-Unterschiede sind gering, aber ihre Zunahme wird befürchtet• Kommunen sind Hauptverantwortliche für die Gesundheitsversorgung• Regionalisierung meint heute in Finnland: Zentralisierung und Bündelung von Versor-

gungsverantwortung in größeren regionalen Einheiten

Finnland steht in der Tradition der nordischen Wohlfahrtsstaaten und wird damit dem „sozi-aldemokratischen Wohlfahrtsregime“ (Esping-Anderson 1990) zugeordnet. Dabei spielen im Vergleich zu anderen skandinavischen Ländern in Finnland Elemente der Sozialversicherung und einkommensabhängigen Leistungsgewährung eine größere Rolle. Dennoch ist auch Finn-land durch einen universellen Zugang zu einem breiten Angebot an Diensten und weitreichen-de öffentliche Verantwortung für gesundheitliche und soziale Dienste und für Erziehung und Bildung gekennzeichnet (Colombo et al. 2011: 216ff.; Kokko 2009; Wahlbeck et al. 2008: 35ff.).

Die Gesundheits- und Sozialversorgung ist Aufgabe der Kommunen und Teil kommuna-ler Selbstverwaltung, d. h. sie kann vor Ort recht autonom ausgestaltet werden. Sie wird durch staatliche Rahmengesetze flankiert: Zentral sind hier der Health Care Act (2010) für die Primär- und Sekundärversorgung2 und der Social Welfare Act (1982), der soziale Dienstleistungen,

2 Vormals waren beide Versorgungsbereiche getrennt geregelt: Primary Health Care Act (1972) und Act on Specialized Medical Care (1989).

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24 Einleitung

ebenso Teile der Langzeitpflege regelt (AFLRA/Sutton 2011; Kokko 2010; Vuorenkoski 2008). Die Kommunen sind für die Planung, Steuerung und Finanzierung der Versorgung (Primär-versorgung, fachärztliche und akutstationäre Versorgung3, Langzeitversorgung, soziale Dienste) verantwortlich. Zugleich treten sie selbst als bedeutendster Träger von Diensten und Ein rich-tungen auf (Teperi et al. 2009: 15) – wobei die Verantwortung für die Durchführung der Ge-sund heits versorgung im Zuge der jüngsten Reformen zunehmend auf regionale Träger übertra-gen wird, die von mehreren Kommunen beauftragt werden. Für die ambulante fachärztliche und akutstationäre Versorgung haben sich die Kommunen in 20 Krankenhausdistrikten organisiert. Die stationäre Maximalversorgung liegt in Händen der fünf finnischen Universitätskliniken. Private Anbieter spielen hingegen – trotz Bedeutungsgewinn seit den 1990er-Jahren – eine eher untergeordnete Rolle und sind primär in den Städten, aber nur selten im länd lichen Raum an-zutreffen.

Der öffentliche Anteil an den Gesundheitsausgaben liegt in Finnland bei 78 %, wobei 61 % der Gesamtausgaben aus Steuern stammen (Vuorenkoski 2008: xvi). Finnland hat ein primär steu-erfinanziertes Gesundheitssystem, wobei die Steuerfinanzierung überwiegend für die kommu-nale Gesundheitsversorgung verwendet wird. Andere Leistungen, v. a. private und betriebliche Gesundheitsversorgung, ambulante Medikamente, Transportkosten und Krankengeld, werden über eine obligatorische nationale Gesundheitsversicherung aus Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert (17 % der Gesundheitsausgaben; Vuorenkoski 2008). Hinzu werden etwa 22 % der Gesundheitsausgaben privat finanziert.

Mit ca. 93 % ländlicher Fläche ist Finnland eines der am ländlichsten strukturierten Länder der OECD (OECD 2008: 32, 83; OECD 2011). Die große Bedeutung des ländlichen Raums wird dadurch unterstrichen, dass rund 62 % der Bevölkerung Finnlands in ländlichen Regionen leben (OECD 2011). Die Einwohnerdichte beträgt 15,5 Einwohner/km² und liegt damit höher als in Kanada aber deutlich geringer als in Deutschland (OECD 2011). Dabei ist der Süden Finnlands dichter besiedelt, wohingegen die westlichen und nördlichen Regionen – besonders die Region Lappland – abgelegen und ausgedünnt sind. Rund 17 % der Bevölkerung Finnlands sind 65 Jahre und älter (2010). Bis 2020 soll ihr Anteil Prognosen zufolge auf 23 % ansteigen, um schließlich 2050 bei ca. 27 % zu liegen (OECD 2013; Waldhausen 2013). Damit ist Finnland das gegenwärtig am schnellsten alternde Land Europas (ebd.).

Mit Blick auf die Bevölkerungsgesundheit und die Verfügbarkeit von Versorgungsleistungen weist Finnland unter den OECD-Ländern die niedrigsten regionalen Unterschiede auf. Die Versorgungsstandards in ländlichen Regionen gelten als international vorbildhaft (OECD 2008: 23). Trotz der dezentralen Siedlungs- und Infrastruktur hat der Trend zur Abwanderung der Bevölkerung in die Städte schon früh eingesetzt. Auch in Finnland nimmt die Bevölkerungs-dichte auf dem Land daher weiter ab. Dies ist nicht ohne Auswirkungen auf die Versorgung geblieben und hat zur Folge, dass heute vor allem die Bedarfslagen der älteren Bevölkerung das

3 Die ambulante fachärztliche Behandlung erfolgt in Finnland an Kliniken (Ausnahme: privates Facharzt-system).