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MARX FüR JEDERMANN Der erste Denker der Globalisierung KARL BERND ZIESEMER

Bernd Ziesemer marx · 2013-07-24 · Karls Mutter stammte aus einer leidlich wohlhabenden Familie in den Niederlanden. Ihre Schwester Sophie heira-tete den reichen Fabrikanten Lion

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marxfür jedermannder erste denker der Globalisierung

karl Bernd Ziesemer

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Bernd Ziesemer

Karl Marx für jederMann

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Bernd ZIeSeMer

Karl Marxfür jederMann

der erste denker der Globalisierung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bernd Ziesemer Karl Marx für jedermann Der erste Denker der Globalisierung

F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen GmbH Mainzer Landstraße 199 60326 Frankfurt am Main Geschäftsführung: Volker Sach und Dr. André Hülsbömer

Frankfurt am Main 2012

ISBN 978-3-89981-514-6

Bookshop und weitere Leseproben unter: www.fazbuch.de

Copyright F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen GmbH 60326 Frankfurt am Main Umschlag/Satz Anja Desch Titelbild © thinkstock Druck CPI Moravia Books s.r.o., Brnenská 1024, CZ-691 23 Pohorelice

Alle Rechte, auch des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.

Printed in EU

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Für Carl

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Inhalt

Einführung 9

I Das Leben eines Revolutionärs

1 drei leben in einem 14

2 das elend der emigration 33

3 das kurze jahr der revolte 49

4 Opus magnum, Opus malum 58

5 die großen alten 75

II Das ökonomische Werk

1 Globaler Kapitalismus 90

2 die Ware arbeitskraft 105

3 theorie des niedergangs 122

4 Utopie des Sozialismus 141

5 exkurs: engels anteil 149

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III Wirkung und Wahn

1 Ökonom ohne erben 160

2 reformer und revolutionäre 184

IV Was bleibt von Marx? 209

Literatur 219

Der Autor 221

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eInführUnG

„Es wird immer ein Fehler sein, Marxnicht zu lesen, ihn nicht wiederzulesen …“

Der französische Philosoph Jacques Derrida in seinem Buch „Marx’ Gespenster“

Am 18. Oktober 2008, auf dem Höhepunkt der globalen

Finanzkrise, erschien die britische Zeitschrift „The Econo-

mist“ mit dem Titelbild eines waidwunden Raubtiers,

durchbohrt von drei Pfeilen und offenbar dem schnellen

Tode geweiht. Auch die dazugehörige Schlagzeile „Capita-

lism at Bay“ (auf Deutsch ungefähr: Kapitalismus in der

Klemme) ließ keinen Zweifel über den Inhalt des Hefts

aufkommen: Ausgerechnet das liberale Zentralorgan des

angelsächsischen Kapitalismus, das seit 1843 unverdrossen

für freie Märkte gekämpft hatte, verkündete das baldige

Ende der erfolgreichsten Wirtschaftsordnung aller Zeiten.

Über diese Ausgabe des „Economist“ hätte sich ein treuer

Leser der Vergangenheit besonders gefreut: Karl Marx.

Ganze Jahrgänge der Zeitschrift hatte der deutsche Exilant

seit 1850 im Lesesaal des Britischen Museums in London

durchpflügt. Marx arbeitete sich am Manchesterliberalis-

mus des „Economist“ ab, um seine eigene ökonomische

Lehre zu begründen. Keine andere Publikation wird in

seinem 1867 erschienenen Hauptwerk „Das Kapital“ so

häufig zitiert. Und nun ausgerechnet in dieser Zeitschrift

dieser Artikel: Welch ein nachträglicher Triumph für den

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Propheten des kapitalistischen Untergangs, genau 125

Jahre nach seinem Tod!

Und welch eine abermalige, aberwitzige Wende der Geistes-

geschichte: Lange Zeit schien es so, als ob das wissenschaft-

liche Werk des großen Dialektikers tot und begraben wäre

wie sein Erfinder selbst. Seit 1883 ruht Marx auf dem Lon-

doner Friedhof Highgate (ironischerweise nur sechs Meilen

entfernt vom Redaktionsgebäude des „Economist“ in 25 St.

James’s Street). Und spätestens seit dem Untergang des

europäischen Kommunismus gut hundert Jahre später blieb

so gut wie nichts von dem großen Denker: Seine gesellschaft-

lichen Prophezeiungen widerlegt durch die Wirklichkeit,

seine ökonomischen Theoreme hundertfach falsifiziert, seine

politischen Schriften diskreditiert durch die Horrorgeschich-

te des Realsozialismus, sein gesamtes geistiges Erbe bis zur

Unkenntlichkeit dogmatisiert durch eine ebenso selbstgefäl-

lige wie sektiererische Linke, seine Gedanken fast völlig aus

dem öffentlichen Diskurs verschwunden. „Marx – ein toter

Hund?“ – das war (frei nach Marx selbst) im Februar 2009

das Motto eines Kongresses an der Universität Kassel. Krise

des Kapitalismus hin oder her: Niemand redet mehr ernst-

haft, wie noch 1968, über einen „Siegeszug des Marxismus“

durch die Welt.

Aber vielleicht ist es gerade deshalb vernünftig, sich Karl

Marx wieder zu nähern – was ganz im Sinne des dialekti-

schen Denkers selbst nur heißen kann: sich ihm neu zu

nähern. Der junge Philosoph wollte sein großes Vorbild

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Georg Friedrich Wilhelm Hegel „vom Kopf auf die Füße“

stellen. Vielleicht kann man auch Karl Marx erst jetzt –

nach dem Ende der Ideologien, nach seinem finalen Sturz

vom Sockel – produktiv lesen. Solange ihn die einen kano-

nisierten und die anderen dämonisierten, war eine produk-

tive Auseinandersetzung mit seinen ökonomischen Gedan-

ken nahezu unmöglich. Jetzt kann man in seinem labyrin-

thischen Werk ungehemmt auf Kaperfahrt gehen. Wer sich

nicht an das Ufer alter Glaubenssätze klammert, kann frei

nach Carl Schmitt einen ganzen Ozean aufregender Gedan-

ken entdecken.

Für mich persönlich war diese Abenteuerreise auch ein

Stück „Sentimental Journey“: Als Jugendlicher hatte ich

mich nach 1968, angesteckt vom rebellischen Wahn dieser

Zeit, schon einmal durch die „blauen Bände“ der Marx-

Engels-Gesamtausgabe gequält – immer auf der kurzatmi-

gen Suche nach praktisch verwertbaren Ideen für das, was

wir damals für revolutionäre Praxis hielten. Zu gern würde

ich die Bücher, die ich damals mit zahlreichen Unterstrei-

chungen und Randbemerkungen verzierte, noch einmal

durchblättern. Doch leider wurden sie allesamt in den

neunziger Jahren bei einer großen Rheinflut im Keller

meines Kölner Hauses vernichtet.

Nach meinem ganz persönlichen Abschied vom Marxismus

entdeckte ich Ende der siebziger Jahre die Welt der moder-

nen Ökonomie und der großen Theoretiker der Marktwirt-

schaft von Adam Smith bis Joseph A. Schumpeter. Aus dem

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jugendlichen Revolutionär wurde ein liberaler Konservati-

ver. Den „realen Sozialismus“, der sich auf Marx beruft,

konnte ich als Auslandskorrespondent in China und der

untergehenden Sowjetunion besichtigen. Und als Wirt-

schaftspublizist und später als Chefredakteur des Handels-

blatts kam ich mit faszinierenden Pionierunternehmern im

Sinne Schumpeters zusammen, die so gar nichts mit den

„kapitalistischen Charaktermasken“ zu tun hatten, die das

Werk Marx’ und mehr noch die Schriften seiner Epigonen

bevölkern. Diese Erfahrungen machten mich mehr als alles

andere zum überzeugten Marktwirtschaftler. Im Zweifel

vertraue ich heute auf den Markt, im Zweifel auf die Freiheit.

Mit dieser Lebensgeschichte Marx noch einmal zu lesen, war

eine faszinierende Erfahrung. Vieles, was mich in seiner

Wortmächtigkeit als Jugendlicher begeisterte, erscheint mir

heute als hohle Phrase. Anderes, was ich damals völlig über-

las, beeindruckt mich nun umso mehr. Zu meiner großen

Überraschung entdeckte ich einen Karl Marx, der uns

immer noch viel zu sagen hat. Nicht den Propheten des

großen Kladderadatsches, in dem angeblich der ganze Kapi-

talismus enden sollte. Und schon gar nicht den Erfinder der

„Diktatur des Proletariats“, die so viel Unheil über Abermil-

lionen von Menschen gebracht hat. Sondern den Ökonomen

der weltumspannenden kapitalistischen Revolution, den

ersten wirklichen Denker der Globalisierung. Unter dem

Müll des Marxismus kann man Karl Marx neu entdecken.

Hamburg, im Sommer 2012 Bernd Ziesemer

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daS leBen eIneS reVOlUtIOnÄrS

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1 dreI leBen In eIneM

„Das bestätigt leider nur sehr die Meinung, welche ich trotz Deiner mancher guten Eigenschaften hege,

dass der Egoismus in Deinem Herzen vorherrschend ist.“

Heinrich Marx am 8.11.1835 an seinen Sohn Karl

dialektik einer Persönlichkeit

Karl Marx wollte vor allem anderen eines: die sozialen und

politischen Verhältnisse seiner Zeit umstürzen. Sein ganzes

Selbstbewusstsein wurzelte in seiner Geschichtsphiloso-

phie, lange bevor er nach den Gesetzen der Ökonomie

suchte. Revolutionär, Philosoph, Ökonom – Karl Marx

lebte mindestens drei Leben in einem. Doch diese drei

Stränge seines Lebens entwickelten sich weder gleichzeitig,

noch waren sie für ihn selbst gleich zu gewichten.

Karl Marx war Revolutionär, bevor er Geschichtsphilosoph

wurde – und Geschichtsphilosoph, bevor er sich in einen

Ökonomen verwandelte. Und sein engster, ja sein einziger

wirklicher Freund, Friedrich Engels, schrieb unmittelbar

nach seinem Tode 1883 völlig zu Recht über ihn: „Denn

Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser

oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft

und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzu-

wirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er

zuerst das Bewusstsein seiner eigenen Lage und seiner

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Bedürfnisse, das Bewusstsein der Bedingungen seiner

Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher

Lebensberuf. Der Kampf war sein Element.“

Aus dem Dreiklang seines Lebens – Politik, Philosophie

und Ökonomie – entstand sein epochales Werk, und ent-

standen zugleich die vielen großen Widersprüche eben

dieser Lebensleistung. Der Revolutionär Marx wollte den

Sozialismus zur Wissenschaft machen, aber machte damit

zugleich seine Wissenschaft zur Magd seiner sozialistischen

Politik. Seine teleologische Geschichtsphilosophie durch-

drang sein gesamtes ökonomisches Werk – in der Regel

nicht zu dessen Nutzen. Und aus dem allgemeinen Gesetz

der Hegelschen Dialektik, aus der stetigen Negation der

Negation, nicht aus der Ökonomie selbst, speiste sich letzt-

lich seine zentrale Idee vom unvermeidlichen Übergang des

Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus. In der

Ökonomie suchte er nur die praktischen Beweise für seine

große philosophische Gewissheit.

Und wie sein Werk, so entwickelte sich auch die ganze Per-

sönlichkeit des Dr. Karl Marx schon in jungen Jahren als eine

einzige merkwürdige Vereinigung von Widersprüchen:

getaufter Jude und Antisemit, Privatgelehrter und Feuerkopf,

Bohemien und Geheimbündler, Verschwender und Bettler,

liebender Familienvater und eitler Einzelgänger, Vorkämpfer

und Verächter des Proletariats, Neidhammel und Großherz,

ein Bewunderer des Kapitalismus und zugleich sein schärfster

Kritiker, ein Meister des großen Wurfs und der kleingeisti-

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gen Intrige, begnadeter Polemiker und dröger Scholastiker,

Romantiker und Materialist, einer der größten Stilisten der

deutschen Sprache und einer ihrer peinlichsten Verdreher,

öffentlicher Sozialist und privater Bourgeois, Rebell und Ren-

tier, ewiger Deutscher und entwurzelter Emigrant, ein Mann

des Worts und ein Mann der Tat.

Doch trotz all dieser Widersprüche war Marx vor allem

eines: ein geistiger Gigant, dessen Einfluss in gewisser

Weise bis heute weltweit fortwirkt. Wie schrieb doch der

britische Marxist Terry Eagleton zu Recht: „Nur sehr weni-

ge Denker haben den Lauf der Geschichte so entscheidend

verändert wie der Autor des ‚Kapitals‘. Es gibt keine Kar-

thesianischen Regierungen, Platonistische Guerillakämpfer

oder Hegelianische Gewerkschaften. Nicht einmal die hart-

näckigsten Kritiker Marx’ können leugnen, dass er unser

Verständnis der menschlichen Geschichte verwandelt hat.“

die familie in trier

Und alles begann in der Kleinstadt Trier an der Mosel, die

Anfang des 19. Jahrhunderts gerade einmal zehntausend

Einwohner zählte. Am 5. Mai 1818 erblickte dort Karl

Heinrich Marx als zweites von neun Kindern des Rechtsan-

walts Heinrich Marx und seiner Frau Henriette das Licht

der Welt. Eine geordnete Familie – wohlsituiert, aber nicht

reich; arbeitsam und rheinisch liberal. Geistig herrschte in

dieser Familie das Ideal einer ganz klassischen deutschen

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Bildung, politisch jedoch die typische Atmosphäre der

nachnapoleonischen Zeit, in der die Ideale von 1789 noch

etwas bedeuteten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –

darauf konnte man sich auch in der Familie Marx im Zwei-

fel ehrlichen Herzens besinnen.

Karls Mutter stammte aus einer leidlich wohlhabenden

Familie in den Niederlanden. Ihre Schwester Sophie heira-

tete den reichen Fabrikanten Lion Philips, der mit seinen

Nachkommen den Grundstein für den heutigen Weltkon-

zern gleichen Namens legte. Für den erwachsenen Karl

Marx, der in ständigen Geldnöten steckte, wurde der Onkel

im fernen Gelderland zum harten Verhandlungspartner um

das Erbe seiner Mutter. Henriette Marx hatte ihren Schwa-

ger Lion als Testamentsvollstrecker eingesetzt – und ihr

Sohn bemühte sich schon vor ihrem Tode immer wieder

mit Briefen und persönlichen Besuchen in den Niederlan-

den, einen Teil des zu erwartenden Geldes vorzeitig loszu-

eisen. Doch meist scheiterten seine Bemühungen an der

Hartnäckigkeit von Onkel Lion.

Sein Vater Heinrich Marx stammte aus einer alteingesesse-

nen Familie von Rabbinern und war erst kurz vor der

Geburt seines Stammhalters Karl zum Protestantismus

konvertiert. Dabei ging es nicht um Religion, sondern

seine bürgerliche Existenz: Unter napoleonischer Herr-

schaft war Heinrich Marx zum Justizrat in Trier ernannt

worden. Um sein Amt auch unter preußischer Oberhoheit

behalten zu können, musste der Jude seinen Glauben auf-

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geben. Erst im August 1824 wurden auch seine Kinder

formlos in der elterlichen Wohnung getauft. Henriette

Marx trat erst viel später zum Christentum über: Erst als

ihr Vater gestorben war und sie nicht mehr den Zorn ihrer

jüdischen Verwandten in Holland fürchten musste. Nach

allem, was wir wissen, spielte Religion danach in der auf-

geklärten Familie des Advokaten Heinrich Marx keine

große Rolle mehr.

Karl Marx selbst hat sich niemals zu dem opportunisti-

schen Religionswechsel seines Vaters geäußert. „Auch

wenn Karl Marx zeitlebens vom Judentum nichts wissen

wollte, bleibt es dennoch verwunderlich, dass er sich nicht

mit dessen Kultur und Geschichte beschäftigte, nicht ein-

mal das Alte Testament genauer kannte und im Briefwech-

sel mit Engels mit antisemitischen Sprüchen nicht hinter

dem Berg hielt“, schreibt sein Biograf Klaus Körner in

seiner 2008 erschienen Monografie. Juden waren für Marx

immer die anderen – auch wenn sie, wie er selbst, längst

getauft waren. In seinem privaten Briefwechsel belegte er

fast alle Juden, die ihm irgendwo in die Quere kamen, mit

unflätigen Beschimpfungen. Den Sozialisten Ferdinand

Lassalle, der mit Marx um die Führung der jungen deut-

schen Arbeiterbewegung wetteiferte, qualifizierte er in

seiner Korrespondenz nahezu durchgängig als „Jüdlein“

oder „jüdischen Nigger“ ab.

Zu einer der größten Merkwürdigkeiten seiner frühen geis-

tigen Entwicklung gehört die Tatsache, dass sich Marx

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offenkundig und ostentativ nicht für das Judentum interes-

sierte – ihm aber trotzdem eine seiner allerersten Veröffent-

lichungen widmete. Mit gerade einmal 25 Jahren verfasste

er den Aufsatz „Zur Judenfrage“, der im Herbst 1843 her-

auskam. Seit Jahrzehnten tobt unter Fachhistorikern und

unter Marxisten der Streit, ob man den im strengen Hege-

lianischen Ton verfassten Text als antisemitisch bezeichnen

muss oder nicht.

Eigentlich will Marx mit seinem Aufsatz nur nachweisen,

dass die Forderung nach einer vollständigen Emanzipation

der benachteiligten Juden in der bürgerlichen Gesellschaft

schon deshalb unsinnig sei, weil auch die Mehrheit der

Bevölkerung über keine wirkliche Freiheit verfüge. Erst

wenn die vollständige Trennung von Staat und Religion

überhaupt erfolgt sei, könne man über die Gleichberechti-

gung der Juden reden. Doch Marx versteigt sich in seinem

materialistischen Wahn, den jüdischen Glauben aus dem

Dasein des „Alltagsjuden“ erklären zu wollen, in eine dia-

lektische Phraseologie, die man wohl tatsächlich nur als

antisemitisch bezeichnen kann: „Welches ist der weltliche

Kultus des Juden? Der Schacher. Welcher ist sein weltli-

cher Gott? Das Geld.“ Das Geld sei der „eifrigste Gott

Israels“, schreibt Marx weiter. Und dieser Gott der Juden

habe sich „verweltlicht“ und sei gleichzeitig zum „Welt-

gott“ geworden. In Nordamerika könne man längst sehen,

dass die „praktische Herrschaft des Judentums über die

christliche Welt“ verwirklicht sei.

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Trotz dieser Entgleisungen kann man die These, Marx habe

durch die Zwangstaufe als Kind gelitten und seine demüti-

genden Erfahrungen als jugendlicher Konvertit möglicher-

weise in seinem späterem Leben durch eine antisemitische

Haltung überkompensiert, getrost bezweifeln. Sein großer

und nach wie vor grundlegender Biograf Richard Frie-

denthal schrieb 1981 treffend: „Marx hat an Selbsthass, ob

jüdischem oder sonstigem, weniger gelitten als irgendein

anderer bedeutender Mensch. Man kann ihm übertriebene

Selbstgefälligkeit zuschreiben, er hat nie an sich auch nur

im geringsten gezweifelt, nie auch nur die kleinste Kritik

an sich geübt oder hingenommen und nie auch seine

Abstammung von langen Rabbinerreihen bis weit hinein

ins 16. Jahrhundert als Belastung empfunden; er hat sie

einfach nicht erwähnt.“

Im erzkatholischen Trier blieb Marx aber selbst als Protes-

tant Angehöriger einer verschwindenden Minderheit in der

Stadt. Obwohl geachtet, integrierte sich seine Familie nur

wenig in das konservative Bürgertum. Am Gymnasium

fand sich für Karl, zumindest nach den spärlichen Hinwei-

sen seiner Biografen, offenbar nur ein sehr kleiner Zirkel

von Freunden. Der wichtigste Kamerad dieser Jahre war

Edgar von Westphalen, mit dem gemeinsam er auch sein

Abitur ablegte (beide mit mäßig gutem Notendurch-

schnitt). Marx ging im Haus seines Freundes ein und aus

und wurde zum Bewunderer dessen Vaters, des liberalen

preußischen Regierungsrats Ludwig von Westphalen.

Lange Gespräche bei Spaziergängen mit ihm waren ein

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Bildungserlebnis, ja ein Erweckungserlebnis für den jun-

gen Marx. Man sprach jedoch nicht über Politik, sondern

über Philosophie und schöne Künste. Bald fühlte sich der

junge Marx bei den Westphalens wohler als in der eigenen

Familie.

Schließlich verliebte sich Karl auch noch in die Schwester

Edgars, Johanna (genannt Jenny). 1836 verlobten sich die

beiden in Trier, aus Geldmangel konnten sie aber erst sie-

ben Jahre später heiraten. Bis zu ihrem Tode 1881 (zwei

Jahre vor Marx’ Tod) teilten die beiden stetig abwechseln-

de Phasen bitterster Not und plötzlichen verschwenderi-

schen Reichtums. Jenny Marx wurde zur wichtigen Mitar-

beiterin ihres Mannes und übertrug die fast unleserliche

Handschrift seiner Buchmanuskripte ins Reine. Sie lebte

an seiner Seite gezwungenermaßen das unstetige Leben

einer Revolutionärin, blieb aber immer stolz auf ihre hohe

Herkunft. Bei ihrer Ankunft im englischen Exil ließ sie

sich sogleich Visitenkarten drucken mit der Aufschrift:

„Mrs. Karl Marx, née Baroness Jenny von Westphalen“.

Die Erbstücke ihrer Vorfahren aus dem schottischen Hoch-

adel wanderten zwar immer wieder ins Pfandhaus, um

Geld zu beschaffen. Doch Jenny Marx legte größten Wert

darauf, sie auch immer wieder auszulösen, sobald etwas

Honorar in der Haushaltskasse klingelte.

Die Heirat mit Jenny von Westphalen bescherte der Welt-

geschichte einen ironischen Aperçu, wie er so typisch ist für

das ganze Leben Marx’: Der Halbbruder Jennys, Ferdinand

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von Westphalen, hetzte seinem Schwager Karl 1850 als

preußischer Innenminister die Geheimpolizei auf den Hals.

Der Erzkonservative galt streckenweise als einer der promi-

nentesten Widersacher der sozialistischen Arbeiterbewe-

gung in Deutschland. Die revolutionären Umtriebe seines

Schwagers missbilligte Ferdinand von Westphalen auf das

Schärfste. Und noch mehr verachtete er Karl Marx für das

Elend, in das er seine Halbschwester nach der Heirat stürz-

te. Den Bruder Edgar, der sich ebenfalls der sozialistischen

Sache verschrieben hatte und niemals ein bürgerliches Aus-

kommen fand, unterstützte er gelegentlich mit etwas Geld.

Gegenüber den Bettelbriefen der Familie Marx, die immer

mal wieder bei ihm eintrafen, blieb er dagegen bis zum

bitteren Ende hart.

Bonn und Berlin: die Studentenzeit

So akribisch Wissenschaftler und Marxologen auch das

Leben Marx’ durchforscht haben, letztlich konnten sie das

große Rätsel seines Lebens nicht lösen: Wir wissen nicht,

wann genau und vor allem warum der junge Mann aus

bürgerlichen Hause zu einem Revolutionär wurde. Wieso

verwandelte sich der Gedichte schreibende Liebling der

Familie Marx, der von seinen Schwestern verhätschelt und

von seinem Vater mit einem fürstlichen Stipendium ausge-

stattet worden war, in seinen Universitätsjahren mit

schnellen Schritten in einen notorischen Staatsfeind und

geschworenen Umstürzler?

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Als Karl 1835 ganz nach dem Willen des Vaters sein Stu-

dium der Jurisprudenz und Kameralistik an der nicht allzu

weit entfernten Universität Bonn aufnahm, müssen wir uns

ihn als klassisch gebildeten, hochbegabten, überaus wissbe-

gierigen und brandehrgeizigen Jüngling mit vielen Talen-

ten und ohne klares Ziel vorstellen. Ziemlich verzogen und

äußerst selbstbewusst für sein Alter, aber nicht wirklich

aufsässig oder gar politisch rebellisch. Zunächst besuchte er

brav die juristischen Vorlesungen, die sein besorgter Vater

ihm mit großer Akribie ausgesucht und angeraten hatte.

Sehr viel mehr wissen wir über seine beiden ersten Semester

in Bonn nicht.

Natürlich gärte es seit dem Hambacher Fest im Mai 1832

an allen deutschen Hochschulen. Die Forderungen nach

nationaler Einigung, bürgerlicher Freiheit und Demokratie

gingen unter den Studenten um. Aber der preußische Staat

kontrollierte die Universitäten stärker denn je. Und die

Universität Bonn war damals gewiss nicht als besonders

fortschrittlich bekannt. Ob sich Marx überhaupt den Unru-

hestiftern einer deutschnationalen Studentenverbindung

angeschlossen hatte, zum Beispiel der „Landsmannschaft

der Treveraner“ (Trierer), wissen wir nicht. Einiges spricht

aber dafür. Aktenkundig wird der Studiosus an der Univer-

sität Bonn nur ein einziges Mal: Weil die Behörden den

jungen Marx nach einem Kneipenbesuch mit einem Säbel

in der Hand aufgreifen, eröffnet die Universitätsleitung ein

förmliches Verfahren gegen ihn. Das Tragen von Waffen ist

Studenten untersagt. Doch ehe Marx für seine Untat (wahr-

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scheinlich eher ein Studentenulk als ein früher Ausweis

rebellischer Gesinnung) zur Rechenschaft gezogen werden

konnte, wechselte er bereits an die Universität Berlin.

Schon in Bonn war der Kontakt zum Elternhaus gestört,

nun riss er wochenlang völlig ab – und Heinrich Marx

beklagte sich bitterlich über den „Egoismus im Herzen“

seines Sohnes. Eigentlich geht es Karl jetzt in seinen Brie-

fen an Vater und Mutter nur noch darum, immer neue

Geldforderungen zu stellen und sich ansonsten lästige Fra-

gen über sein Studium vom Halse zu halten. An der Uni-

versität Berlin, wo sich der junge Marx am 22. Oktober

1836 immatrikulierte, verlor sich das Interesse an der

Jurisprudenz schnell, die seinem Vater doch so am Herzen

lag. Stattdessen schoben sich Philosophie und Geschichts-

wissenschaft, die seinem Vater als brotlose Kunst galten,

für Karl ganz in den Vordergrund. Aus ihnen leitete der

junge Marx eine immer radikalere Kritik am preußischen

Staat und an der christlichen Religion ab, auf die sich der

König in seinem Gottesgnadentum berief. Er verstand sich

spätestens jetzt als radikaler Demokrat und Freigeist.

Marx geriet in diesen Monaten unter den Einfluss der

sogenannten Linkshegelianer, die aus dem Werk des preu-

ßischen Staatsphilosophen Georg Friedrich Wilhelm

Hegel ganz andere Schlussfolgerungen zogen als die Alt-

hegelianer. Der erste Kontakt mit der Philosophie Hegels

kam offenbar über die Vorlesungen des Berliner Professors

Eduard Gans zustande, bei dem Marx Kriminalrecht und