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Skript vom 30. 11. 2009 Vorlesung: ‚Angewandte Ethik’ Dozent: Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin Lehrstuhl für Philosophie IV LMU München Tutorium und Skript: Isabella Bühl M.A. Rückfragen an: [email protected] In der vergangenen Vorlesung hat Julian Nida-Rümelin das kontraktualistische Paradigma
skizziert.
Einer der ersten Vertreter, Thomas Hobbes, macht zwei heuristische Annahmen (so gewählt,
dass am die Theorie am Ende aufgeht) über den Menschen.
1) Menschen verfolgen ihre eigenen Interessen.
2) Menschen sind rational, voraussehend, haben Angst und wollen ihr Leben erhalten.
Außerdem wollen sie ein gutes Leben. Dafür benötigen sie Ressourcen, die aber knapp
sind. Deshalb herrscht Konkurrenz (competition), die man zwar durch Kooperation
zum allseitigen Vorteil überwinden könnte. Doch die Menschen misstrauen einander
(diffidence) und fürchten ausgenutzt zu werden. Wenn sie das nicht fürchten, steht
ihnen die Ruhmsucht (glory) im Weg, denn am Ende bekommt nur einer die meisten
Lorbeeren. Diese missliche Lage entsteht nicht daraus, dass sich irgendwer irrational
verhält, sondern gerade daraus, dass sich die Menschen rational verhalten (nach
Hobbes’ Auffasssung von Rationalität). Diese Grundbedingungen führen ‚leges
naturales’ herbei, mit dem Zweck, dass nicht länger jeder den anderen bedroht (bellum
omnium contra omnes). Der Normenkomplex der ‚leges naturales’ wird nur befolgt,
wenn seine Nichtbefolgung sanktioniert wird. Das Normensystem ist legitimiert durch
gemeinsames Handeln, worin ‚uno actu’ alle Gewalt an den Souverän abgegeben wird.
Dessen Gewaltmonopol ist durch die Zustimmung aller legitimiert.
Diese Rechts-positivistische Auffassung wird von John Locke folgendermaßen korrigiert:
Er nimmt an, dass Menschen Naturrechte haben. Dazu zählen das Recht auf Leben,
körperliche Unversehrtheit und rechtmäßig erworbenes Eigentum. Diese Rechte werden nicht
erst durch den Gesellschaftsvertrag erschaffen.
Natürlich müssen partikuläre Uneinigkeiten durch den Rechtsstaat behoben werden können,
also muss es auch ein positives Recht geben.
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Jean-Jacques Rousseau fordert hingegen, dass die rechtsstaatliche Republik die ursprüngliche
Freiheit und Autarkie des Menschen durch einen ‚contrat social’ wiederherstellt. Jeder
Mensch hat zwei Aspekte: Einmal ist er ‚citoyen’ und als solcher an der Gesetzgebung
beteiligt, also souverän, dann ist er noch ‚bourgeois’ (nicht im marxistischen Sinn) und als
solcher den Gesetzen unterworfen. Um ein anständiger Bürger zu sein, muss er also den
individuellen Interessenstandpunkt überwinden. So wird er im Übergang zur Republik
‚versittlicht’.
John Rawls macht den Vorschlag, ein reflexives Gleichgewicht zwischen Theorie und Befund
über die Rechtsstaatlichkeit anzustreben. In ‚A Theory of Justice’ möchte er als Alternative
zum herrschenden Utilitarismus die Vertragstheorie erneuern. Weitere einschlägige Werke
sind seine ‚Decision Procedure for Ethics’ und ‚Justice as Fairness’.
Zu den ‚New Contractarians’ in seinem Fahrwasser gehören auch die Ökonomen Robert
Sugden und Ken Binmore.
Der Utilitarismus wird verworfen, weil er 1) alle individuell sinnstiftenden Projekte entwertet
(siehe letzte und vorletzte Vorlesung) und 2) scheitert er an der ‚separateness of persons’:
Meine Privatüberlegungen zur Nutzenoptimierung (für mich) lassen sich unmöglich auf die
Gemeinschaft übertragen. Bei der Vertragstheorie ist aber gerade entscheidend, dass alle
Individuen einer Setzung zustimmen können (nicht müssen).
Das Argument vom ‚Schleier der Unwissenheit’ geht davon aus, dass niemand einer
Umverteilung von Ressourcen zustimmen würde, die von irgendjemandem gerechtfertigt als
unfair empfunden wird, wenn die Mitglieder der Gemeinschaft nicht wissen können, welchen
Platz sie in der Gemeinschaft einnehmen. (Es könnte ja sein, dass sie zu den unfair
Benachteiligten gehören.) Unfaire Umverteilungen wären unter dem Schleier der
Unwissenheit nicht vertragsfähig.
Rawls war kein radikaler Egalitarist. Wenn jeder besser gestellt wird, werden die Mitglieder
einer Gemeinschaft auch einer ungleichen Verteilung zustimmen. Die Verteilung muss also
möglichst neidfrei sein. Da die Zustimmung Rechtsfertigungsbedingung des Vertrages ist,
wird das Augenmerk auf die am schlechtesten Gestellten zuerst gerichtet, weil sie am ehesten
Anlass zur Unzufriedenheit haben, dann auf die zweitletzten in der Verteilungsordnung, usw.
(Differenzprinzip). Die Ökonomen Hammond und Sen haben das auf die Verteilung von
wirtschaftlichen Gütern übertragen (Leximin-Prinzip).
Unter den Rawlsianern gibt es Linke (Pogge, Beitz) und Rechte (Kersting).
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Einen Gegenentwurf zu Rawls bringt Robert Nozick ein. Seine Idee ist, dass Menschen sich
in Sicherheitsgemeinschaften vor gewalttätigen Übergriffen schützen und diese umso
effektiver sind, je größer sie sind. Der Staat soll zwar eine Schutzfunktion erfüllen, aber ein
Minimalstaat sein. Ein so verstandener Libertarianismus führt in der Realität zu
Monopolstrukturen, vgl. Mafia.
James Buchanan macht in ‚The Limits of Liberty’ den Vorschlag, bei Hobbes zu bleiben
(Menschen haben keine Naturrechte sondern Interessen). Konkurrenz führt zu einer
natürlichen Verteilung, die aber mitunter durch Mord und Totschlag zustande kommt. In
einem ‚constitutional contract’ wird auf Gewalt verzichtet, aus der Einsicht heraus, dass
Einzelne in einem Bündnis aus Schwächeren einem Stärkeren nicht länger ausgeliefert sind.
‚Post-constitutional contracts’ kommen aus der Einsicht zustande, dass nicht alle Güter auf
diese Weise gesichert werden können. Zum Beispiel kann Nachhaltigkeit, wie beim
Umweltschutz, dem einzelnen Interessenverfolger im Prinzip egal sein, ist aber ein Gut.
Ob der Staat dabei als ‚productive state’ agiert oder seinen Einfluss ganz an
Privatunternehmer abtritt, ist für Buchanan irrelevant. In der Realität führen beide Staats-
Konzepte in jeweiliger Ausschließlichkeit zu negativen Ergebnissen. Die Notwendigkeit der
allgemeinen Akzeptanz solcher Regelungen in der Vertragstheorie führt zum Konflikt
zwischen Demokratie und Kontraktualismus: Im Kontraktualismus müssen alle
Vertragspartner zustimmen können, aber wenn Entscheidungen von der Zustimmung aller
abhängen, haben Einzelne die Möglichkeit, die Gemeinschaft mit ihrem Veto zu erpressen.
Daher basiert Demokratie auf Mehrheitsbeschlüssen.
Im nächsten Tutorium lesen und diskutieren wir aus ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit’ von
John Rawls das erste Kapitel: ‚Gerechtigkeit als Fairness’. Das Buch steht im Handapparat,
bitte verwendet diese Ausgabe.